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German Pages XIII, 619 [613] Year 2020
S T U D I E N Z U K I N D E R - U N D J U G E N D L I T E R AT U R U N D - M E D I E N 3
Petra Josting / Marlene Antonia Illies / Matthias Preis /Annemarie Weber (Hg.)
Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945
Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien Band 3
Reihe herausgegeben von Ute Dettmar, Frankfurt am Main, Deutschland Petra Josting, Bielefeld, Deutschland Caroline Roeder, Ludwigsburg, Deutschland
Die Kinder- und Jugendliteraturforschung hat sich seit ihrer Etablierung an den Universitäten in den 1960er-Jahren zu einer eigenständigen Disziplin der Literaturwissenschaft entwickelt. Angesichts der (inter- und trans-)medialen Entwicklungen im Erzählen und der zunehmenden Adaptionen kinder- und jugendliterarischer Stoffe (Filme, Serien, Hörbücher, Apps etc.) ist insbesondere auch eine (inter-)disziplinäre Weiterentwicklung in Richtung Medienwissenschaften notwendig. Die kulturwissenschaftliche Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften erfordert eine methodische Weiterentwicklung und eine konzeptionelle Öffnung des Forschungsfeldes, die aktuelle theoretische Positionen und Diskurse aufgreift. Die Reihe widmet sich diesen Forschungsfragen in Monographien und Sammelbänden. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16241
Petra Josting · Marlene Antonia Illies · Matthias Preis · Annemarie Weber Hrsg.
Deutschsprachige Kinderund Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945
Hrsg. Petra Josting Fakultät für Literaturwissenschaft und Linguistik, Germanistik Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland Matthias Preis Fakultät für Literaturwissenschaft und Linguistik, Germanistik Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland
Marlene Antonia Illies Fakultät für Literaturwissenschaft und Linguistik, Germanistik Universität Bielefeld Bielefeld, Deutschland Annemarie Weber Bielefeld, Deutschland
ISSN 2524-8634 ISSN 2524-8642 (electronic) Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien ISBN 978-3-476-05686-3 ISBN 978-3-476-05687-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlagabbildung: © akg-images/Interfoto Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Ohne die großzügige Förderung seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft über vier Jahre hinweg hätten unser Projekt und damit auch dieser Band nicht realisiert werden können. Ihrem Referenten, Herrn Dr. Thomas Wiemer, sei für vielfältige Unterstützung herzlich gedankt. Bedanken möchten wir uns aber auch bei vielen anderen, die die Projektarbeit in unterschiedlicher Weise unterstützten. An erster Stelle zu nennen ist die Universitätsbibliothek Bielefeld, namentlich ihre Direktorin Barbara Knorn und ihr Stellvertreter Dirk Pieper, ohne deren Kooperations- und Unterstützungsbereitschaft ein Projekt, das sich mit seinem Onlineportal den Digital Humanities geöffnet hat, nie zustande gekommen wäre. Die Zusammenarbeit begann im Zuge der Antragstellung, setzte sich nach der Bewilligung des Projekts fort mit der Entwicklung der Metadatenstruktur (Edith Rimmert) sowie parallel dazu mit der Konzeption und Entwicklung des Onlineportals, das vielfältige innovative Recherche- und Visualisierungsmöglichkeiten bietet. Das Engagement von Friedrich Summann, der als Leiter der LibTec-Abteilung neben seinen vielen Pflichtaufgaben immer für Gespräche bereitstand und das Portal programmierte, wissen wir zu schätzen! Für den erweiterten technischen Support seitens der Universitätsbibliothek gilt auch Artur Nold (Drupal-Systemadministration) und Sebastian Wolf (Web-Design) unser Dank. Für die Bereitstellung von Zeitschriften, Archivalien etc. danken wir drei Institutionen: dem Berliner Bundesfilmarchiv, der Deutschen Kinemathek in Berlin sowie insbesondere dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main, mit dem das Projekt kontinuierlich verbunden war. Frau Susanne Hennings unterstützte uns bei Recherchen im Schriftgutarchiv und mit Digitalisierungswünschen, Frau Marion Gillum und Dorothee Fischer stellten Audio-Kopien zur Verfügung, Frau Julia Weber half bei der Klärung der Nutzungsrechte. Das umfangreiche Quellenmaterial hätte von den Projektmitarbeiterinnen allein nicht bewältigt werden können. Bei dessen Digitalisierung, der Eingabe von Daten und deren Verknüpfung halfen uns deshalb als Hilfskräfte Dilek Çıkrıkcıoglu, Elham Moghadas, Jenny Petermann, Natalie Regier und Kevin Richardt. Unterstützung bei der Auswertung von Quellen leisteten die Mitarbeiterinnen Alina V
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Vorwort
Wanzek und Linda Schrader-Grimm. Annika Behler stieß im vierten Projektjahr als kompetente wissenschaftliche Mitarbeiterin dazu. Nachdem etwa zur Mitte der Projektzeit ausreichend Material vorlag, wandten wir uns an Kinder- und Jugendliteraturforscher/innen in Deutschland und in der Schweiz mit der Bitte, ausgewählte Medienverbünde auf einer gemeinsamen Tagung im Bielefelder ZiF vorzustellen und dazu später in unserem Band zu publizieren. Sie sagten zu, worüber wir sehr dankbar sind, denn als Projektteam allein wären wir mit dieser Aufgabe zeitlich überfordert gewesen. Die Kolleg/ innen mussten sich mit viel unbekanntem Material auseinandersetzen, sie suchten Filmarchive auf, forschten und präsentierten ihre ersten Ergebnisse in Form eines Vortrags. Die intensive Arbeitsatmosphäre und die gehaltvollen Beiträge sind uns gut in Erinnerung geblieben. Viele von ihnen reisten einige Monate später ein zweites Mal nach Bielefeld zum Austausch über Medientheorien an, um auf dieser Grundlage die Ergebnisse zu verschriftlichen. Ihnen allen ein großes Dankeschön! Kein Projekt und keine Tagung kommen ohne Sekretariatsunterstützung aus. Daher bedanken wir uns auch bei unserer Sekretärin Dorothea Meerkamp für ihr Organisationstalent und dafür, dass sie auch in hektischen Zeiten die Ruhe behält. Nicht zuletzt gedankt sei auch dem EDV-Support unserer Fakultät (Martin Schmitz), dem Tagungsbüro des ZiF (Trixi Valentin) und Larissa Jagdschian, die mit großem Engagement beim Redigieren der Texte half. Bielefeld, im März 2020
Petra Josting Marlene Antonia Illies Matthias Preis Annemarie Weber
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Begriffe, Korpus und Strategien der Medienverbundforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Petra Josting, Marlene Antonia Illies, Matthias Preis und Annemarie Weber Projekthorizonte: Hinführung und Überblick Der Kinder- und Jugendhörfunk von 1924 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Annemarie Weber Der Kinder- und Jugendfilm von 1900 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Marlene Antonia Illies Das Kinder- und Jugendtheater von 1900 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Marlene Antonia Illies Digitale Erkundungen historischer Medienverbünde. Grundrisse der Portalentwicklung in interdisziplinärer Perspektive . . . . 109 Matthias Preis und Friedrich Summann Pioniere erobern die neuen Medien Vom Kindertheater zum Film. Medienkonvergenz im frühen Werk von Fritz Genschow und Renée Stobrawa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Petra Anders Micky Maus. Eine (ur-)amerikanische Figur im Deutschland der 1930er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Johannes Krause Funkheinzelmann. Die multimediale Karriere einer Hörfunkfigur . . . . . . 181 Annemarie Weber
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Inhaltsverzeichnis
Bühnenkinder wandern zum Rundfunk und/oder Film Einmal zum Mond und zurück. Peterchens Mondfahrt und seine mediale Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Julia Benner Im Nimmer Nimmer Nimmer Land. Wie Peter Pan Buch-, Theater- und Filmgeschichte schrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Ulrike Preußer Urians Weltreise. Motivgeschichte und Medienadaptionen . . . . . . . . . . . . 269 Gina Weinkauff Märchen im Film und Rundfunk „Das war ein herrliches Märchen!“ Der fliegende Koffer von H. C. Andersen im Medienverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Annika Behler Mutabor! Kunstmärchen von Wilhelm Hauff im medialen Transfer . . . . 319 Ingrid Tomkowiak Klassiker in allen Medien Max und Moritz quer durch die Medien. Und insbesondere im Comic Strip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Bernd Dolle-Weinkauff Robinsonaden zwischen 1900 und 1945. Vom Stummfilmklassiker zum Radio-Robinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Sebastian Schmideler Schulgeschichten im Theater, Buch und auf der Leinwand Jenseits von Romy und Lilli. Christa Winsloes Pensionsgeschichte und ihre medialen Präsentationsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Gabriele von Glasenapp Traumulus. Vom naturalistischen Drama zur NS-Verfilmung . . . . . . . . . . 439 Petra Josting „Da stelle ma uns mal janz dumm“. Die Feuerzangenbowle – eine Medienverbundanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Heidi Nenoff
Inhaltsverzeichnis
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Verbrechen und Skandalöses auf der Leinwand Emotionalisierung zwischen Sexualität, Generationenkonflikt und Machtdiskurs. Die Steglitzer Schülertragödie als Medienverbund . . . . . . . 499 Marlene Antonia Illies Das Genresystem der frühen Leinwanddetektive. Zu den Medienverbünden um Sherlock Holmes, Nick Carter, Stuart Webbs und Joe Deebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Tobias Kurwinkel „Donnerwetter, das ist famos“. Mediale Mobilmachung im NS-Mädchenfilm Was tun, Sibylle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Caroline Roeder Politisches erobert Buch und Film Pazifistische Antikriegsfilme der präfaschistischen Ära. Der Medienverbund um Im Westen nichts Neues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Ricarda Freudenberg Jungensromantik in zeitloser Idylle? Entpolitisierende Unterhaltung am Beispiel von Alfred Weidenmanns Jakko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Winfred Kaminski
Autor/innenverzeichnis
Prof. Dr. phil. Petra Anders ist Hochschullehrerin für Deutschunterricht und seine Didaktik in der Primarstufe an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Filmdidaktik, Digitale Medien, inklusiver Deutschunterricht, Poetry Slam. Annika Behler (M. A.) war zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld im DFG-Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 tätig (Schwerpunkt: Filme) und arbeitet als freie Lektorin. Prof. Dr. phil. Julia Benner ist Professorin für Neuere deutsche Literatur/ Kinder- und Jugendliteratur und -medien am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Politische Aspekte von Kinder- und Jugendmedien, Exilliteratur, Kindheitskonzeptionen sowie Literaturtheorie. Dr. phil. Bernd Dolle-Weinkauff war Akademischer Oberrat und Kustos am Institut für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist Honorarprofessor an der J NE-Universität Kecskemét (Ungarn). Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Medien, Historisches Kinder- und Jugendbuch, Märchen, Bildgeschichte und Comic. Prof. Dr. phil. Ricarda Freudenberg ist Hochschullehrerin für Deutsche Literatur und ihre Didaktik an der Fakultät II/Deutsch der PH Weingarten. Forschungsschwerpunkte: Erwerb literarischer Kompetenzen, Ästhetische Erfahrung und Textrezeption, Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik, Medien im Literaturunterricht. Prof. Dr. phil. Gabriele von Glasenapp ist Hochschullehrerin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft an der Universität zu Köln sowie Leiterin der Arbeitsstelle für XI
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Autor/innenverzeichnis
Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI). Forschungsschwerpunkte: Kinderund Jugendliteratur (und -medien), Deutschsprachige jüdische (Kinder- und Jugend-)Literatur, Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. Marlene Antonia Illies (M. A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft/Germanistik. Ihr Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit Wilhelm Speyers Kampf der Tertia im Medienverbund. Forschungsschwerpunkte: Film, historische Kinder- und Jugendliteratur sowie kinderliterarische Medienverbünde. Prof. Dr. phil. habil. Petra Josting ist Hochschullehrerin für Germanistische Literaturdidaktik an der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, und Direktorin der Bielefeld School of Education (BiSEd). Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteraturforschung, Literatur- und Mediendidaktik. Prof. Dr. phil. habil. Winfred Kaminski war Hochschullehrer an der TH Köln, von 2004 bis 2015 geschäftsführender Direktor des Instituts für Medienforschung und Medienpädagogik. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur sowie Kinder- und Jugendmedien, zuletzt im Feld der digitalen Medien, insbesondere Computerspiele (Mitbegründer der internationalen ComputerspieleKonferenz Clash of Realities, seit 2006). Johannes Krause (M. Ed. in Germanistik und lateinischer Philologie) ist seit 2018 Lehrkraft für besondere Aufgaben (LfbA) an der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft/Germanistik im Arbeitsbereich Kinder- und Jugendliteratur, Literatur- und Mediendidaktik. Forschungsschwerpunkte: dystopische Kinder- und Jugendliteratur (im Medienverbund), Lesesozialisation, Neue Medien. Prof. Dr. phil. Tobias Kurwinkel ist Hochschullehrer für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Duisburg-Essen und Chefredakteur von KinderundJugendmedien.de. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Mediendidaktik, Kinder- und Jugendmedien (insbesondere Bilderbuch und Film), Theorie des Medienverbunds, Intermedialität und Transmedialität. Dr. phil. Heidi Nenoff war Lehrerin in Leipzig bis 2017; seitdem Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig im Bereich Grundschuldidaktik Deutsch für Seiteneinsteiger. Promotion 2015 über Naturrechts- und Religionsdiskurs in einer Romanutopie der Frühen Neuzeit. Forschungsschwerpunkte: Kinderund Jugendliteratur. Dr. phil. Matthias Preis ist Akademischer Rat an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft/Germanistik der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Digitale Kinder- und Jugendliteraturforschung, Ästhetische Bildung, Hörmedien/-didaktik, Literarisches Lernen unter den Bedingungen der Digitalität.
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Prof. Dr. phil. Ulrike Preußer ist Hochschullehrerin für Literaturdidaktik an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: u. a. literarästhetische Lernprozesse und Kinder- und Jugendliteratur (insbesondere Text-Bildmedien wie Bilderbuch und Comic). Prof. Dr. phil. Caroline Roeder ist Hochschullehrerin am Institut für Sprachen, Abteilung Deutsch, an der PH Ludwigsburg und dort Leiterin des Zentrums für Literaturdidaktik Kinder Jugend Medien. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur und ihre Medien in historischer (insbesondere DDR) sowie kulturwissenschaftlicher Perspektive (insbesondere Topographieforschung), Literaturkritik, politische Fragestellungen der Kinder- und Jugendliteratur. Dr. phil. Sebastian Schmideler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Kinderund Jugendliteratur am Institut für Pädagogik und Didaktik im Elementar- und Primarbereich. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Kinderund Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Wissensvermittlung, Wissenspopularisierung, Bild-Text-Analyse. Friedrich Summann arbeitet in der Universitätsbibliothek Bielefeld und ist Leiter der L ibTec-Abteilung. Aktuelle Arbeitsfelder: Digitale Informationsdienste, Suchmaschinentechnologie, Metadatenprocessing, Publikationsdienste, ORCID Support, Digital Humanities, Data Science, Monitoring Tools, Visualisierungstechniken. Prof. Dr. phil. habil. Ingrid Tomkowiak ist Hochschullehrerin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK), Abt. Populäre Kulturen der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Populäre Literaturen und Medien mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendmedien. Dr. phil. Annemarie Weber war wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 an der Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft/ Germanistik. Forschungsschwerpunkte: Rumäniendeutsche Literatur und Kulturgeschichte, Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, Medientheorien. Prof. Dr. phil. habil. Gina Weinkauff ist seit 1995 in verschiedenen Funktionen und Dienstverhältnissen in der Hochschullehre tätig. Unter anderem war sie über 20 Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und hatte Gast- und Vertretungsprofessuren an den Universitäten in Wien und Leipzig sowie an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kinder- und Jugendliteratur unter poetologischen, historischen und didaktischen Aspekten.
Einleitung: Begriffe, Korpus und Strategien der Medienverbundforschung Petra Josting, Marlene Antonia Illies, Matthias Preis und Annemarie Weber
Abstract This volume presents another innovative contribution to the history of children’s and adolescents’ literature which includes thorough research of the German children’s and adolsecents’ literature between 1900 and 1945 as well as its media networks and the development of an online portal for further research and visual analysis. Starting from films and radio broadcasts dealing with literary subject matter for children and adolescents, several media networks were identified in the period under investigation. This investigation also included those discourses and materials which relate to the production, transmission and reception of the media products in question. In this introduction, we provide an outline of our methodology, describing selection criteria for the individual media and pointing out key sources in that regard. As media theories are essential for analysing media networks, the following passages provide a sketch of the crucial ones. What follows is a description of the range of media networks identified and of the contributions contained in this volume. Part I comprises three overview
P. Josting (*) · M. A. Illies · M. Preis Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] M. A. Illies E-Mail: [email protected] M. Preis E-Mail: [email protected] A. Weber Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_1
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articles concerning the media radio, film and theatre for children and adolescents as well as one contribution on the conception and development of the online portal. Part II presents 18 contributions on specific media networks from the period under investigation. Mit der Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Medienverbünde im Zeitraum 1900 bis 1945 wurde der Versuch unternommen, einen innovativen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteratur zu leisten, die sich bislang maßgeblich auf das Medium Buch konzentrierte und damit inter- und transmediale Aspekte oft ebenso vernachlässigte wie den Blick auf die Beteiligten im sogenannten Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur, also die Produzent/ innen, Vermittler/innen, Rezipient/innen und Verarbeiter/innen. Ein erstes Ziel des Forschungsprojekts war es, möglichst vollständig jene Filme und Hörfunksendungen mit literarischen Stoffen zu erfassen, die in der Zeit von 1900 bis 1945 für Kinder und Jugendliche produziert und/oder für sie ausgewählt und/oder von ihnen rezipiert wurden. Ausgehend von diesen beiden neuen Medien ging es zweitens um eine möglichst umfangreiche Erfassung von Medienverbünden, maßgeblich unter Einbeziehung der epischen, aber auch dramatischen Literatur; d. h., es wurden nicht nur Romane, Erzählungen, Bildergeschichten oder Bilderbücher einbezogen, sondern auch Bühnenmanuskripte und Theateraufführungen. Drittens wurden jene Diskurse, Verlautbarungen, Bekanntmachungen etc. erfasst, die sich jeweils auf das Einzelmedium beziehen wie auch auf die an der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung des jeweiligen Medienangebots beteiligten Personen und/oder Institutionen. Parallel zu diesen Arbeiten erfolgte in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Bielefeld die Entwicklung eines Metadatenkonzepts, um auf dieser Basis ein Onlineportal aufzubauen, in dem sowohl miteinander verknüpfte Metadaten als auch Digitalisate gespeichert werden können. Erst die Verknüpfung der Metadaten ermöglicht einen umfassenden Blick auf die Entwicklung und Konstitution von Medienverbünden und generiert gleichzeitig neue Perspektiven auf das kinderund jugendliterarische Korpus. Im Folgenden werden hier in der Einleitung zunächst die Aufnahmekriterien für die Medien Kinder- und Jugendfilm, Kinder- und Jugendhörfunk, Kinder- und Jugendtheater sowie Printmedien, Schallplatten und Werbematerial dargelegt. Im Anschluss finden sich die theoretischen Rahmungen des Projekts und ein Überblick über die Medienverbünde des Untersuchungszeitraums, einschließlich einer kurzen Beschreibung des mit diesem Band präsentierten Beitragsspektrums. Das orientierende Einstiegskapitel enthält drei Überblicksartikel, in denen Annemarie Weber die Erkenntnisse zum Kinder- und Jugendhörfunk vorstellt und Marlene Antonia Illies die Entwicklung des Kinder- und Jugendfilms sowie Kinder- und Jugendtheaters beschreibt. Abschließend zeichnen Matthias Preis und Friedrich Summann in ihrem Beitrag Digitale Erkundungen historischer Medienverbünde. Grundrisse der Portalentwicklung in interdisziplinärer Perspektive nach, wie die Datenbank konzipiert und aufgebaut wurde, welche Präsentations-,
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Visualisierungs- und Recherchemöglichkeiten sie bietet.1 Nachfolgend versammelt der Band thematisch gruppierte Aufsätze zu spezifischen Medienverbünden aus dem Untersuchungszeitraum, die zum größten Teil auf die Bielefelder Projekttagung Lichtspiel – Hörspiel – Schauspiel vom September 2017 zurückgehen.
Aufnahmekriterien für Kinder- und Jugendfilme Film und Hörfunk sind die beiden Hauptmedien, die in der Datenbank erfasst wurden und den Großteil des Korpus’ bilden. Bei der Aufnahme mussten die technischen Dispositive, die Kommunikationsinstrumente und -modalitäten, die institutionellen Rahmungen der einzelnen Medien berücksichtigt werden. Beim Film handelt es sich um zumeist aufwendige Produktionen, die in der Regel auf Filmstreifen gut dokumentiert sind, denn Filme wurden gespeichert und vervielfältigt, was eine räumlich breite und zeitlich andauernde Distribution ermöglicht. Allerdings geben gerade die frühen Produktionen Forscher/innen heute Rätsel auf, da das Quellenmaterial oft nicht erhalten ist; etwa 80 % aller Stummfilme gelten als verschollen und damit für immer verloren. Grund dafür ist die Empfindlichkeit des bis etwa 1951 verwendeten Nitrofilms, der leicht entflammbar ist (zahlreiche Kinos, Lagerräume und ganze Filmarchive brannten ab) und sich zersetzt, wenn er nicht bei der richtigen Temperatur und Feuchtigkeit gelagert wird. Über Inhalt und Machart der nicht mehr erhaltenen Filme können deshalb nur Berichte und Meldungen von Zeitgenossen Aufschluss geben. Manchmal sichern umfangreiche Paratexte von Produktion und Rezeption Erkenntnisse, manchmal zeugt, gerade in den Anfangsjahren des Kinos, nur eine einzelne Werbeanzeige von der Existenz eines Films. Die Filmindustrie war privatwirtschaftlich organisiert, Politik und Gesellschaft versuchten, die Produktion und Publikation bzw. den Konsum der Filme seitens Kinder und Jugendlicher anhand von verbindlichen Regeln, Zensur, offenen oder versteckten Förderungen bzw. Behinderungen zu steuern. Im Untersuchungszeitraum durchlief die Filmzensur acht unterschiedliche Regularien – von einem Fehlen jeglicher Zensur bis hin zu Empfehlungen veritabler Kriegshandlungen (mit dem Prädikat jugendwert ausgezeichnet) für Minderjährige. Unabhängig davon belegen zeitgenössische Studien (vgl. Auer 1911; Dinse 1932; Kimmins 1919) und die Diskussionen in Film- und Tageszeitungen, dass Kinder ihren Weg ins Kino fanden, auch wenn ein Film nicht für sie freigegeben war. Diese das Mediensystem Film konstituierenden Komponenten haben die Aufnahmeregeln mitbestimmt. Die Erfassung basiert sowohl auf eindeutigen Entscheidungen auf der Distributionsebene – wie Jugendfreigaben, die Aufführung in Kinder-/Jugendvorstellungen oder das Prädikat jugendwert – als auch auf Indizien, die direkt auf die Rezeption seitens Kinder und Jugendlicher hinweisen, wenn z. B. Märchenfilme oder Dramenverfilmungen in Schülervorstellungen
1http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de
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gezeigt wurden (vgl. Theater), oder wenn Filme sich mit Jugendproblematiken beschäftigen und/oder von Jugendlichen handeln. Um klar zu kennzeichnen, wo eine Rezeption von Kindern und Jugendlichen seitens der Distribution intendiert oder durch Quellen faktisch belegt ist bzw. nicht, wurden die einzelnen Filme entsprechend der im kinder- und jugendliterarischen Diskurs gängigen Kategorien verschlagwortet. KJ-spezifischer Film bezeichnet alle Filme, die potenziell und von Beginn an für Kinder und/oder Jugendliche gedreht wurden; KJ-intendierter Film jene, die auf der Distributionsebene (via Zensur, Werbung, Aufführung in Kinder-/Jugendvorstellungen) an Kinder und Jugendliche adressiert waren. Die häufig benutzte Wendung Für Groß und Klein in Anzeigen ist ein Indiz dafür, bewusst Erwachsene (die das Kino bezahlen können) über ihre Kinder (die den Film sehen wollen) ins Kino zu locken. Darüber hinaus wurden auch Schulaufführungen und Filme, die in den nationalsozialistischen Jugendfilmstunden gezeigt wurden, als intendiert gekennzeichnet, da hier politische Instanzen die Filme als für Kinder/Jugendliche geeignet beurteilten oder sogar zum Besuch verpflichteten. Das Schlagwort faktische KJ-Nutzung wurde für alle Filme gewählt, die weder intendiert noch spezifisch für Kinder und Jugendliche geeignet erschienen, deren Rezeption jedoch anhand von Quellen gesichert ist. Für jene Produktionen, bei denen die Quellenlage noch keine eindeutige Aussage erlaubt, wird das Schlagwort KJ-Nutzung unsicher verwendet. Auf diese Weise mussten Zweifelsfälle nicht außen vor bleiben, und es konnte ein großes Korpus erhoben werden, das die Basis für weitere Forschungen bildet. Fehleinschätzungen sind selbstverständlich nicht auszuschließen. Mit Blick auf sich entwickelnde Medienverbünde wurden auch Neuverfilmungen literarischer Stoffe oder Remakes aufgenommen, d. h. nach 1945 produzierte Filme. Ausgehend von den wechselnden Zensurmaßnahmen des Untersuchungszeitraums sowie der sich wandelnden Einstellung gegenüber dem, was für Kinder und Jugendliche geeignet ist, wurden auch solche Stoffe umfassend berücksichtigt, die wenigstens einmal und gegebenenfalls erst nach 1945 als filmische Verarbeitung eine Jugendfreigabe erhielten. Aufgenommen wurden außerdem nicht ausschließlich Verfilmungen literarischer Stoffe, sondern auch eigenständige spezifische und intendierte Kinder- und Jugendfilme, um das gesamte Spektrum der Produktion für dieses Publikum zu erfassen. Filme waren damals und sind noch heute dominante Medien, die oft weitere Verarbeitungen nach sich ziehen; im simpelsten Fall folgt auf den Film die Filmkritik, häufig gingen der Aufführung von Filmen jedoch ausführliche Berichte über die Produktion voraus, manchmal folgt bereits im Untersuchungszeitraum das sogenannte Buch zum Film, auch so entstehen Medienverbünde. Ein bestimmter Film bildet jeweils einen Datensatz. Die Filmkritiken, Rezensionen, Zensurentscheidungen, diverse Belege für die Rezeption in unterschiedlichen Räumen und Kontexten (in der Regel Print (sekundär)) sowie Anzeigen (Werbematerial) werden mit diesem Datensatz verknüpft. Hauptquellen der Erfassung waren die Filmzeitschriften Der Kinematograph (1907–1934) und der Film-Kurier (1919–1945). Sie zählen zu den am weitesten verbreiteten Filmperiodika ihrer Zeit, decken gemeinsam einen guten
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Teil des Untersuchungszeitraumes ab und hatten darüber hinaus unterschiedliche Zielpublika. Der Kinematograph ist eine Filmfachzeitschrift, die sich als Interessenvertretung der deutschen Filmwirtschaft verstand. Die verschiedenen Fachredaktionen bedienten die Bereiche Filmpolitik, Rechtsberatung und Technik, Filmkritik und internationale Filmberichterstattung. Der Film-Kurier dagegen publizierte schwerpunktmäßig aktuelle Nachrichten aus dem Filmwesen, Filmkritiken und Spielpläne der Berliner Kinos. Das zeitweise täglich erscheinende Blatt war an ein breiteres Publikum, die potenziellen Besucher der Kinos adressiert. Darüber hinaus wurde die entsprechende Forschungsliteratur ausgewertet. Zurückgegriffen werden konnte auf einschlägige Lexika (Schäfer 1998 ff.), Almanache (Klaus 1988–2006; Lamprecht 1969), Chroniken (Birett 1980; Estermann 1965; Hembus/Brennicke 1983), Filmgeschichten (Faulstich/Korte 1994; Kreimeier 2012; Toeplitz 1975) und Überblicksdarstellungen (Faulstich 2005; Jacobsen/Kaes/Prinzler 2004; Schäfer/Wegener 2009). Aufschlussreiche Erkenntnisse über die Sehgewohnheiten der und die Filmproduktion für Kinder und Jugendliche finden sich in zeit-, themen- oder genrezentrierten Beiträgen zum Kino des Kaiserreichs (bspw. Müller 2008; Maase 2008; Töteberg 2008; Elsaesser 2002), der Weimarer Republik (bspw. Räder 2009; Stiglegger 2003; Crăciun 2018; Nowak 2018; Marzolph 2008), der NS-Zeit (bspw. Hobsch 2009; Strobel 2009; Belling/ Schütze 1975; Brücher 1995; Sander 1984; Stelzner-Large 1996), zum Märchenfilm (bspw. Höfig 2008; Pecher 2017; Schäfer 2017; Hartmann/Nölle 2017; Tomkowiak 2017; Schlesinger 2017) oder zur Zensur (bspw. Kopf 2003; Loiperdinger 2004; Kanzog 1994). Unter Zuhilfenahme von Forschungsliteratur zur Populärkultur und Trivialliteratur (bspw. Maase 2001; Kerlen/Rath/Marci-Boehncke 2005) konnte ein bedeutendes Korpus an faktischen Kinder- und Jugendfilmen erfasst werden.
Aufnahmekriterien für Kinder- und Jugendsendungen im Hörfunk Der Hörfunk war im Unterschied zur Filmindustrie durch staatliche Institutionen eng gerahmt.2 Da der Empfang nach einer kurzen Phase kontrollierbarer Saalvorführungen öffentlich und allgemein zugänglich wurde – wenn man ein entsprechendes Rundfunkgerät besaß und im besten Fall auch die Rundfunkgebühren bezahlte –, fand bereits in der Phase der Produktion eine vorgeordnete Zensur statt. Anstößige Sendungen wurden erst gar nicht produziert, der Hörfunk war demnach per se jugendfrei. Die Adressierung erfolgte in der Regel über eigens für das jeweilige Zielpublikum produzierte Sendungen, ihre altersgerechte zeitliche
2Vgl. dazu den Beitrag Der Kinder- und Jugendhörfunk von 1924 bis 1945 von Annemarie Weber in diesem Band.
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Platzierung im Tagesverlauf und ihre entsprechende Ankündigung in der Programmpresse. Ein weiterer Unterschied zum Film liegt in der Produktions- und Distributionstechnik: Hörfunksendungen wurden in den Anfangsjahren des Rundfunks live gesendet und bis 1929 nur in Ausnahmefällen archiviert, zu denen die KJ-adressierten nicht gehörten. Auch aus der Zeit danach sind verschwindend wenige Aufnahmen erhalten (vgl. Elfert 1985, 11 und 57). Die Erfassung basiert daher fast ausschließlich auf den Angaben der Programmzeitschriften, die systematisch ausgewertet wurden. In der Regel wurden für die Erfassungszeit mindestens zwei Publikationen parallel gesichtet, um Programmangaben überprüfen zu können und möglichst unterschiedliche Kommentare, Rezensionen, Verweise auf KJ-Sendungen und KJ-Sonderseiten ausfindig zu machen. Aus der Hörfunkproduktion lässt sich im Unterschied zum Film nur das dokumentieren, was in den spärlichen Programmangaben steht. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Film und Hörfunk liegt in der Publikationsform der beiden Medien, was zu unterschiedlichen Erfassungsmodalitäten führte. Während ein Film ein abgeschlossenes Werk ist und als solches vorgeführt wurde, demnach einen Eintrag in der Datenbank bekam, sind einzelne Hörfunksendungen oft Mischformen. Wenn z. B. in einer Sendung auf einen literarischen Teil eine Bastelanleitung folgte oder mehrere Märchen erzählt wurden, bekam den Eintrag in die Datenbank nicht die gesamte Sendung, sondern der literarische Beitrag daraus bzw. jedes einzelne Märchen, wobei zur Kontextualisierung das gesamte Programm der jeweiligen Sendung vollständig im Datensatz erfasst ist. Nur so lassen sich zum einen die Verarbeitungen des jeweiligen Stoffes in Film und Hörfunk vergleichen und zum anderen stoffbasierte Medienverbünde mit Druckwerken, Plattenaufnahmen, Theateraufführungen etc. herstellen. Ein konkreter Stoffbezug des jeweiligen Beitrags war Voraussetzung für seine Erfassung. Sendungen mit allgemein gehaltenen Angaben wie Fabeln, Sagen, Märchen o. ä. wurden in der Regel nicht berücksichtigt. Das Korpus im Bereich Hörfunk bildet demnach die an Kinder und Jugendliche adressierten Sendungen (KJ-Sendungen) bzw. Sendeabschnitte mit literarisch-unterhaltendem Anspruch ab, die von den öffentlich zugelassenen deutschsprachigen Rundfunksendern, einschließlich Österreichs und – soweit in der deutschen Programmpresse veröffentlicht – der Schweizer Sender Bern, Basel und Zürich – von den Anfängen 1924 bis einschließlich 1944 produziert und ausgestrahlt wurden: Für die letzten Kriegsmonate konnten keine relevanten Sendungen mehr nachgewiesen werden. Berücksichtigt wurden Sendungen, die entweder als KJ-adressiert ausgewiesen waren oder aufgrund anderer Merkmale (Indizien) deutlich als (auch) an Kinder bzw. Jugendliche gerichtet angenommen werden können. Dabei mussten mindestens zwei Indizien auf eine Adressiertheit hinweisen: etwa der Titel (uneindeutig, ob an Kinder oder Erwachsene adressiert) und die Sendezeit (vor dem Abendprogramm). Mit aufgenommen wurden zudem Sendungen aus dem Vorabendprogramm, die vor allem in der Weihnachtszeit für einen undefinierten Hörerkreis ausgestrahlt wurden und sich an Groß(e) und Klein(e),
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große und kleine Kinder, die ganze Familie u. ä. wandten. In diese Kategorie fallen Sendungen, die (auch) von Kindern und Jugendlichen rezipierte Bücher empfehlen, sich aber an ein erwachsenes (Käufer-)Publikum wenden. Bei der Aufnahme nach Indizien gibt es einen größeren Ermessensspielraum, der durchaus zu Fehleinschätzungen der erfassten bzw. nicht erfassten Sendungen führen kann. So wurden nicht alle Märchenprogramme der Sender erfasst, und zwar jene nicht, die im Abendprogramm, nur für ein erwachsenes Publikum, oft in Kombination mit klassischem Liedgut gesendet wurden. Sendungen, die nach Indizien und nicht nach Zielgruppen-Adressiertheit erfasst wurden, sind mit dem Vermerk nicht als KJ-Sendung ausgewiesen gekennzeichnet. Sendefolgen, die mindestens einmal als zielgruppenadressiert gekennzeichnet wurden, gelten insgesamt als zielgruppenadressiert und sind in der Regel mit dem obigen Vermerk markiert. Sendungen, deren Rezeption durch Kinder und/oder Jugendliche in zeitgenössischen Dokumenten belegt ist, wurden mit aufgenommen. Ein Beispiel ist die Komödie Flachsmann als Erzieher, die als Sendespiel von der Funk-Stunde Berlin am 11. Februar 1927 abends ab 20:30 Uhr übertragen wurde. Sie wurde von den Zöglingen eines Erziehungsheims – gemäß einem Bericht ihres Direktors – am Radio im Gemeinschaftsraum mit großem Interesse verfolgt (vgl. Rake 1927). Bei gemischten Wort- und Musiksendungen wurden nur die Wortbeiträge als separate Datensätze angelegt. Reine Lieder- bzw. Musiksendungen (einschließlich Oper, Operette u. ä.) wurden nicht erfasst, Ausnahmen sind aber sogenannte Schulopern. Ebenso wurden für die Unterstützung des Unterrichts produzierte Sendungen berücksichtigt – in der Regel als Schulfunk ausgewiesen, soweit sie thematisch und genremäßig den o. g. Erfassungskriterien entsprechen. Sendungen, die ausschließlich Sachthemen gewidmet waren (Hygieneberatung, Bastelarbeiten, Benimmfragen etc.), blieben unberücksichtigt. Dienten literarische Formen – etwa das Märchen oder die Sage – dazu, erzieherische Inhalte oder Wissensfragen zu vermitteln, wurden die Sendungen aufgenommen, so z. B. die Sendereihe der Funk-Stunde Berlin Onkel Doktor als Märchenerzähler oder die von der Mirag produzierten naturkundlichen Lehrspiele von Erna Moser. Zielgruppenspezifische Sendungen, die Film und Rundfunk thematisieren, wurden zur Kontextualisierung aufgenommen, auch wenn sie nicht auf literarische Inhalte ausgerichtet waren. Demnach sind nicht alle an Kinder und Jugendliche adressierten Sendungen erfasst, sondern nur solche, die den angeführten Kriterien und Einschränkungen entsprechen. Sendungen ohne Inhaltsangaben in den Programmzeitschriften wurden nur in Ausnahmefällen berücksichtigt, etwa bei den Projektschwerpunkten Funkheinzelmann und Kasperliaden; hingegen wurde die Stuttgarter Reihe’s Gretle von Strümpfelbach erzählt trotz zahlreicher Sendefolgen nicht verzeichnet, da sich in den Programmzeitschriften keine Angaben über deren Inhalt findet. Trotz aller Einschränkungen liegt mit diesem Projekt die erste umfassende Quellensammlung zum Kinder- und Jugendfunk der ersten Jahrhunderthälfte im deutschsprachigen Raum vor. Zur Erfassung der Sendungen wurden die Programmangaben/-hinweise transkribiert. Diese Programmhinweise sind gemäß einem auf die elektronischen
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Medien von Stanitzek (2005) abgewandelten Begriff von Genette Paratexte. Im Sinne von Elleström (2017) handelt es sich bei den Transkriptionen der Paratexte in die Datenbank um transmediale Repräsentationen der Hörfunkangebote. In dem von der Datenbank konstruierten und repräsentierten Medienverbund nehmen sie die Rolle von Platzhaltern für die von ihnen repräsentierten Sendungen ein. Paratexte, die sich auf die Hörfunkangebote beziehen, etwa (Kurz-)Rezensionen, Berichte, Teaser, Inhaltsangaben und Illustrationen, u. a. auf den zielgruppenorientierten Sonderseiten der Programmzeitschriften – Miszellen im Sinne von Stanitzek –, sind als separate Datensätze angelegt, als Print bzw. Bilder gekennzeichnet und verknüpft mit dem Hörfunkbeitrag, auf den sie referieren. Im Medienverbund erhalten sie damit den Platz von eigenständigen Medienangeboten im Sinne von Prozessresultaten aus der Interaktion der von Schmidt identifizierten vier Handlungsbereiche des Mediensystems: Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung (vgl. Schmidt 2008, 148). Hauptquelle der Erfassung war die überregionale und älteste, ab 1923 erscheinende Programmzeitschrift Der Deutsche Rundfunk (Berlin). Ergänzend herangezogen wurden einzelne Jahrgänge oder Nummern folgender Zeitschriften: Die Funk-Stunde, Funk-Woche, Die Sendung (alle Berlin), Die Funkwelt und Die Norag (beide Hamburg), Die Mirag (Leipzig), Die Werag (Köln), Die Sürag (Stuttgart), Radio Wien (Wien). Für die Zeit ab 1. Juni 1941, als die Programmzeitschriften ihr Erscheinen einstellen mussten (vgl. Bauer 1993, 209), wurde die Tageszeitung Völkischer Beobachter (Berlin) einbezogen. 1941–1942 veröffentlichte sie nur gelegentlich das Rundfunkprogramm, sodass für 1942 keine Beiträge erfasst sind. Erst 1943 und 1944 gab es eine tägliche Rundfunk-Rubrik, doch enthalten die knappen Angaben (ca. 10 Zeilen) keine Zielgruppenadressierung mehr. Die wenigen aus dieser Zeit ausgewählten Beiträge orientieren sich ausschließlich an Indizien – in der Regel handelt es sich um Märchenhörspiele bzw. -lesungen.
Aufnahmekriterien für das Kinder- und Jugendtheater Unter Kinder- und Jugendtheater wird die gesamte Bandbreite an szenischen Darstellungen von literarischen Stoffen für Kinder und Jugendliche verstanden (Puppen- und Figurentheater, Singspiel, professionelle Bühnendarbietung, Laienspiel, Schultheater etc.). Im Untersuchungszeitraum waren in allen großen Städten private Vereine und pädagogische Ausschüsse um schülergerechte Theateraufführungen bemüht, einige professionelle Theater gründeten eigene Jugendabteilungen. Obwohl der Fokus des Projektes auf Verarbeitungen im Hörfunk und im Film liegt, konnte das Theater nicht außen vor gelassen werden, da sich während des Untersuchungszeitraums große Verbundfelder entwickelt haben, in denen die Medien Film, Theater und Hörfunk auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind – z. B. in Hörspielbearbeitungen klassischer dramatischer Stoffe für den
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Jugendfunk oder in der herausragenden Rolle, die der Kasperle aus dem Puppentheater im Rundfunk spielte, in zahlreichen Dramenverfilmungen ebenso wie in dem Engagement des Kinder-Theaters Genschow-Stobrawa für den Film. Der Bereich Theater wurde in zwei Formen erfasst: Bühnenmanuskripte und regulär im Buchhandel verfügbare Theaterstücke wurden als Print (primär) angelegt und aus Zuordnungszwecken mit dem Schlagwort Theater versehen. Neben den Stücken, von deren Aufführungen für Kinder und Jugendliche zeitgenössische Quellen zeugen, wurden das Verzeichnis Für Fest und Feier (NSLB 1935) ausgewertet und die empfohlenen Stücke erfasst. Dieses baut auf dem Verzeichnis wertvoller Spiele für die Schul- und Jugendbühne (VDP 1932) auf und wurde gegenüber dem zuvor erschienenen in erster Linie um die Rubriken Sprechchor und Musik sowie Spiel und Bewegung erweitert, außerdem finden sich ns-konforme Neuerscheinungen. Da das Gros der Spiele in dieser Liste mit dem älteren Verzeichnis übereinstimmt (einschließlich der Annotationen), konnte so ein Textkorpus empfohlener Theaterstücke für Kinder und Jugendliche aufgebaut werden, das Geltung für die Weimarer Republik und die NS-Zeit hat. Aufführungen wurden als Datensatz Theater angelegt. Eine einzelne Inszenierung ist je nach Quellenlage unterschiedlich genau zu erfassen. Mal ist das zugrunde liegende Bühnenmanuskript samt Autor/in bekannt und erhalten, verraten Pressemeldungen und archivierte Theaterzettel die Namen der Regisseur/ innen, Schauspieler/innen und der übrigen an der Produktion beteiligten Personen. In anderen Fällen findet sich nur eine kurze Meldung: z. B. Schneewittchen wurde in einem bestimmten Theater als Weihnachtsmärchen für Kinder aufgeführt. Wo weitere Recherchen erfolglos verliefen, wurden diese Inszenierungen trotz der und mit den wenigen Informationen erfasst. Zur näheren Bestimmung des Zielpublikums wurde dieselbe Verschlagwortung wie beim Film genutzt: KJ-spezifisch, KJ-intendiert, faktische KJ-Nutzung und KJ-Nutzung unsicher. Neben Für Fest und Feier sind zeitgenössische Monographien (bspw. Röttger 1922, Stahl 1911, Kalk 1926) zum Themenbereich ausgewertet worden. Als besonders hilfreich erwiesen sich die Statistiken über Schülervorstellungen in verschiedensten Städten über einen langen Zeitraum (ab 1900) in Friedrich Bonns Jugend und Theater (1939). Sie ermöglichten die Erfassung zahlreicher, vor allem klassischer Stücke, die für Kinder und Jugendliche aufgeführt oder deren jeweilige Inszenierung zumindest für diese empfohlen wurden – neben Minna von Barnhelm, Götz von Berlichingen, den Räubern und der Jungfrau von Orleans nimmt hierbei Wilhelm Tell im gesamten Untersuchungszeitraum eine herausragende Stellung ein. Die Fachzeitschriften Das Puppentheater (1923‒1931) und Der Puppenspieler (1931‒1933) wurden systematisch ausgewertet und gaben Aufschluss über die Entwicklung des Marionetten-Theaters in Deutschland. Gesichtet wurde außerdem die Theaterzeitschrift Die Schaubühne, die von 1905 bis 1918 eine gute Quelle für Uraufführungen und die allgemeine Entwicklung der deutschen Theaterbranche bildet und immer wieder Informationen über Märchenstücke, Schüleraufführungen, überhaupt das Kinder- und Jugendtheater enthält. Ab dem 4. April 1918 firmiert die Zeitschrift unter dem neuen Namen Die Weltbühne und
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trägt damit einer Entwicklung Rechnung, die seit 1913 zu beobachten ist: Sie ist nicht mehr reine Theaterzeitschrift, sondern wendet sich immer mehr wirtschaftlichen und politischen Themen zu. Trotzdem wurde sie bis zur letzten Ausgabe 1933 untersucht, da sich weiterhin wichtige Hinweise aus der Welt des Theaters, der Literatur, des Films und des Rundfunks finden ließen. Auch die bereits genannten Film- und Rundfunkzeitschriften bereicherten das Theaterkorpus: Der Film-Kurier hatte eine eigene Theater-Rubrik, die gelegentlich auch Kinder- und Jugendtheaterstücke meldete und besprach; im Rundfunk wurden Theateraufführungen gelegentlich live übertragen.
Aufnahmekriterien für Printmedien, Schallplatten und Werbematerial Bücher, die in den Hörfunksendungen empfohlen oder vorgelesen wurden, sind möglichst in der verwendeten Ausgabe (soweit rekonstruierbar) als separate Datensätze erfasst und mit dem jeweiligen Hörfunk-Datensatz verknüpft. Ebenso Druckwerke, die als Vorlage für Filme, Hörspiele, Theateraufführungen oder sonstige mediale Verarbeitungen genutzt wurden. Bei allgemeinen Angaben der verwendeten Literatur (etwa die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm)3 haben wir versucht, die Erstausgabe aufzunehmen. Außer diesen als Primärliteratur gekennzeichneten Druckwerken wurde auch die gesamte im Projekt verwendete Sekundärliteratur in die Datenbank aufgenommen und mit den entsprechenden Stoffen, Medien und beteiligten Personen verknüpft. Unter Sekundärliteratur wurden vor allem wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit spezifischen (Primär-)Werken gefasst, aber auch sonstige Beiträge, Diskurse, und Verlautbarungen mit aufgenommen, sofern sie nicht eindeutig dem Bereich Werbetexte zuzuordnen waren. Erfasst wurden zeitgenössische Quellen aus dem Untersuchungszeitraum ebenso wie Forschungsliteratur vor und nach 1945. Zur Sicherung der bibliografischen Angaben wurden die Online-Kataloge der öffentlichen Bibliotheken über die Verbundzentrale des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV/VZG) bzw. der Karlsruher Virtuelle Katalog (KVK) genutzt. Die Suche nach Schallplatten gestaltete sich aufgrund fehlender Katalogisierung des Mediums als schwierig. Hinweise auf dieses damals relativ neue Speichermedium fanden sich aber in den ausgewerteten Rundfunkzeitschriften, da auch im Hörfunk für Kinder und Jugendliche Schallplattenaufnahmen gesendet wurden, die als selbstständiger Datensatz im Onlineportal verzeichnet sind. Das Korpus ist mit knapp 130 Datensätzen eher schmal und besteht überwiegend aus Märchenerzählungen, Märchenhörspielen, Kasperlespielen und Funkheinzelmann-
3Auf ein Verzeichnis der hier in der Einleitung genannten Primärliteratur und Filme wird verzichtet.
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Geschichten, aber auch Figuren wie Micky Maus und die aus dem Struwwelpeter eroberten die Schallplatte. Nach Elfert (1985, 110) handelt es sich nicht um originäre Produktionen der Plattenfirmen, sondern um erfolgreiche Beiträge, die zuvor im Hörfunk gesendet und anschließend auf Schallplatten wiederverwertet wurden. Pigorsch (2001) hingegen nimmt im Falle der Funkheinzelmann-Schallplatten an, dass man diese unmittelbar für das neue Speichermedium produzierte. Werbematerialien waren im Untersuchungszeitraum vor allem in gedruckter Form präsent. Den Großteil der hier erfassten Datensätze (insgesamt 1793) bilden Anzeigen, die in erster Linie für Filme geschaltet wurden und die selbstverständlicher Bestandteil der Branchenpresse waren. Auch Film- und Theaterplakate sowie Starpostkarten fallen in diesen Bereich. Das aufkommende Interesse der Spielwarenindustrie zeichnet sich in Puppen berühmter Medienpersönlichkeiten ab, wie dem Funkheinzelmann oder dem Kinderstar Shirley Temple, Brettspielen zu den Filmen Emil und die Detektive (1931) und F. P. 1 antwortet nicht (1932) oder einem Quartett zu den Doktor Dolittle-Filmen (1928) Lotte Reinigers.
Medienverbünde – Theoretische Rahmungen Medienkompaktbegriff nach Siegfried J. Schmidt Das Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 wurde nach dem Medienkompaktbegriff von Siegfried J. Schmidt modelliert (Schmidt/Zurstiege 2000; Schmidt 2008; vgl. auch Schmidt 1993, 2000 und 2012). Schmidt geht nicht von Einzelmedien aus, sondern entwirft ein komplexes Mediensystem, das durch vier aufeinander bezogene Komponenten strukturiert wird, die wiederum in vier Handlungsbereichen interagieren. Diese Komponenten sind 1) die Kommunikationsinstrumente, 2) die technischen Dispositive bzw. Medientechniken zur Herstellung, Verbreitung oder Rezeption einzelner Medienangebote, 3) die Institutionen zur Herstellung, Finanzierung, Vertretung etc. der Medienangebote und schließlich 4) die Medienangebote selbst, die aus der Interaktion der verschiedenen Komponenten hervorgehen. Die vier Komponenten interagieren in vier Handlungsbereichen: Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung (Abb. 1). Erklärungsbedürftig ist der Terminus Verarbeitung, unter dem „alle Prozesse [zu verstehen sind], in denen Medienangebote zum Gegenstand neuer Medienangebote gemacht werden“ (Schmidt 2012, 148), d. h. dazu gehören sowohl die vielfältigen Formen der Medienkritik (Rezensionen, Empfehlungen etc.) als auch alle Formen des von der klassischen Intermedialitätsforschung sogenannten Medienwechsels (Rajewsky 2002) – z. B. die Verfilmung eines Romans oder darüber hinaus auch Merchandisingartikel. Die Grundstruktur des Mediensystems lässt eine differenzierte Betrachtung einzelner Teilsysteme zu, wie etwa Hörfunk
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Abb. 1 Mediensystem nach Schmidt 2008, 149
oder Film. Es erlaubt ebenso die Beobachtung von unterschiedlichen Handlungsrollen in den verschiedenen Handlungsbereichen (etwa der Produktion und der Rezeption) und auch die Beschreibung ihrer Hybridisierung und Vermischung in der sogenannten. Medienkonvergenz (vgl. Josting 2014). Schmidt erweiterte später sein Medienkompaktmodell um den Begriff der Emotionen (vgl. Schmidt 2014, 134–147; vgl. auch Schmidt 2005). Dies sei unumgänglich, wenn man sich mit visuellen Medien beschäftige. Seinen Kubus reproduziert er zwar unverändert (vgl. Schmidt 2014, 161), auch wenn er ihn nun in einen größeren Quader setzt, den er als Medienkultur bezeichnet (den Kubus darin als Mediensystem). Am Wirkungszusammenhang von Emotionen und Medien seien vier „Ordner bzw. Attraktoren“ beteiligt: „Kognition, Emotion, Moral (normative Orientierung) und Empraxis (Einschätzung der lebenspraktischen Relevanz)“ (Schmidt 2005, 18). Gerade bei der Beobachtung des frühen Films und seiner Rezeption durch die Erziehungsberechtigten und das jugendliche Publikum ist die analytische Erweiterung des Medienkompaktmodells um den Emotionsbegriff zielführend.
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Grenzen des Schmidt’schen Medienkompaktmodells Schmidts systemtheoretischer Ansatz hat gegenüber einfacheren Modellen den Vorzug, dass es Akteur/innen, Handlungsrollen, gesellschaftliche Rahmungen, kulturelle Praxen, Technologien und Dispositive mit den einzelnen Medienerzeugnissen mitdenkt. Die heuristische Trennung z. B. der Handlungsbereiche Produktion, Publikation, Distribution und Verwertung sollte dabei nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass zwischen ihnen – zumal im digitalen Raum – keine Übergänge und Hybridisierungsformen bestünden (vgl. Schmidt 2008, 148). Das immer buntere Wechselspiel der Medienkonvergenz steht bei Schmidt allerdings weniger im Fokus: Was sind die Videos eines sogenannten Influencers? Produktwerbung oder Homestory? Unterhaltung oder Business? Was ist ein/e Influencer/ in? Ein Fan, ein Werbemodel oder ein/e Akteur/in in einer Reality Soap? Eher alles zusammen. Dazu vermischt und vereint er/sie in seiner/ihrer Person auch noch die Rollen Produzent/in und Autor/in mit der der/des Darstellenden und des dargestellten Charakters. Influencer/innen, die mediale Ereignisse bzw. Produkte bewerben, können selbst Ereignisse kreieren und Medienstars werden. Rollen und Handlungsebenen, so scheint es, sind vielerorts austauschbar geworden. Und auch die bei Schmidt noch deutlich unterschiedenen Kommunikationsgenres (z. B. Werbung, Literatur, Journalismus) verschmelzen häufig zu Mischgattungen. Schmidts Modell ermöglicht einen strukturierten Blick auf das mediale Gesamtsystem, löst jedoch nicht fein genug auf, wenn die Dynamik von Medienverbünden beschrieben werden soll. Was führte von der Sendung zur Serie? Warum wurde eine Figur populär, beherrschte den Medienmarkt und verschwand über kurz oder lang wieder? Es lohnt sich also, auch Modelle in den Blick zu nehmen, die auf andere Aspekte von medialen Entwicklungen abheben. Vor allem Modelle, die auf dem Konzept der Populärkultur (popular culture) basieren, rückten in den Forschungsfokus der Projektarbeit, darunter die Standardwerke von Henry Jenkins und Marc Steinberg, aber auch weniger bekannte Arbeiten, die sich kritisch mit den Genannten auseinandersetzen.
Populärkulturelle Netzwerk-Modelle Die populärkulturellen Medienmodelle sind ähnlich den systemtheoretischen ganzheitlich gefasst, sie integrieren also Medien im engeren Sinne mit ihren gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interaktionen. Sie kippen aber sozusagen Schmidts Kubus, sodass die Rezeption und Verwertung von Medienprodukten über ihrer Produktion zu stehen kommt. Damit befinden sich die Nutzer/innen der Medienprodukte an oberster Stelle der Hierarchie, und sie werden darüber hinaus mit Produzent/innen-Eigenschaften ausgestattet. Die Medienindustrie – so John Fiske (2011) – stellt mit dem Produkt nur das Rohmaterial zur Verfügung, erst die Nutzer/innen statten es durch seinen Gebrauch
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mit Bedeutung und Sinn aus. Popularität wird durch intensive Nutzung generiert. Die exzessivsten Nutzer/innen sind die Fans. Die eigenschöpferische Praxis der Mediennutzer/innen wird in diesem Modell gestärkt. Manche Kritiker/innen der Cultural Studies sehen darin eine „normative Privilegierung der Fan- oder NutzerPerspektive“ (Kelleter/Stein 2012, 262). Intensive Nutzung, extensive Verwertung und exzessive Fankultur sind Elemente, die dynamisierend auf die Entwicklung von Medienverbünden einwirken. Medienkonvergenz-Modell von Henry Jenkins Henry Jenkins, dem wohl bekanntesten Theoretiker der Populärkultur, ist ein Verbundmodell zu verdanken, das unter dem Namen Medienkonvergenz auch in der deutschen Fachdiskussion bekannt geworden ist. Jenkins (2006) beschreibt die zeitgenössische Medienwirtschaft nachgerade als Konvergenzkultur (convergence culture). In diesem Modell migrieren und multiplizieren sich die Medieninhalte auf verschiedenen Plattformen. Alte und neue Technologien konvergieren dabei. Autorisierte Produzent/innen und Nutzer/innen (Fans) tragen gemeinsam zu einer Geschichte bei, die transmedial und synergetisch erzählt wird. Und was befeuert diesen Prozess? Im Falle von Matrix, einem Verbund, den Jenkins exemplarisch beschreibt, war ein maßgeblicher Faktor der technologischsemantische Innovationsschub, der das Interesse der Nutzer/innen weckte: Die Wachowski-Geschwister hatten erstmals einen Film als komplette fiktionale Welt entworfen und diese im Zusammenwirken von vielen Kreativen in einem vielfältigen Produkt- und Medienangebot realisieren lassen (Jenkins spricht von the Matrix universe; the Matrix world). Damit wurden zeitversetzt verschiedene Märkte und Publika über unterschiedliche Kommunikationskanäle (Medien) bedient (Film-, TV-, Buch-, Comic-, Spielemarkt, die Fankommunikation über das Internet etc.). Handfeste wirtschaftliche Interessen der Medienunternehmen und die Marktinstrumente zu ihrer Realisierung (Stichworte: franchising, licensing) erwähnt Jenkins ausdrücklich, ohne ihnen indes analytische Aufmerksamkeit zu schenken. Jenkins kritische Rezeption Jenkins storyworld wurde umfänglich rezipiert, vielfach kritisiert, aber auch als Untersuchungsmodell von vielen Autor/innen genutzt, die darauf aufbauend zum Teil eigene Modelle entwickelten. Eine Zusammenfassung (vor allem der Blog-Rezeption) bietet Hanns Christian Schmidt (2014). In seiner Untersuchung amerikanischer TV-Serien beschreibt z. B. Jason Mittell (2014) Jenkins transmediale storyworld als eine von mehreren möglichen Erzählstrategien eines Medienverbundes. Mittell bezeichnet sie als kanonische Integrationsstrategie. Alle Beteiligten respektieren die Diegese; es entsteht eine kohärente Geschichte, deren Einzelerzählungen sich wie Puzzleteile zueinander verhalten. Heinz Hengst
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findet für diese Verbundstrategie den Begriff script (Drehbuch). Das script sei gleichermaßen „präskriptiv und gestaltbar“ (Hengst 2014, 152), es garantiere auf der Objektseite Kohärenz, ermögliche auf der Subjektseite Kreativität und diene allen Beteiligten als Handlungsanleitung. Demgegenüber gibt es Ausweitungen, die sich nicht an das script halten, sondern Alternativen, Neben- und Gegengeschichten entwickeln, die Figuren in ganz neuen Handlungszusammenhängen imaginieren. Jason Mittell spricht von What if?- versus What is-Strategien, performativen Rollenspielen versus koordinierter Arbeit am Kanon (vgl. Mittell 2014). What if?-Strategien würden eher die Fankultur charakterisieren, What is eher das lizenzierte franchising. In den genannten populärkulturellen Modellen werden Konvergenz, transmediales, synergetisches storytelling, kanonisches und subversives Erzählen, kurz Mittel und Methoden der Narration, als Erweiterungsstrategien von Medienverbünden herausgestellt.4 Wenn die Proliferation und Integration von Medienverbünden beschrieben werden soll, rücken in einigen wissenschaftlichen Arbeiten die handelnden Figuren in eine zentrale Position. Heinz Hengst bezeichnet den in der englischsprachigen Fachliteratur untersuchten character in Medienverbünden nachgerade als konkurrenzlosen Schlüsselbegriff. Marc Steinbergs Figuren-zentrierte Medienverbünde Zum Schlüsselbegriff gemacht werden characters in einer großen Studie von Marc Steinberg, den Heinz Hengst (2014) in dem genannten Aufsatz entsprechend würdigt. Steinberg (2012) beschreibt in Anime’s Media Mix, wie die Figuren eines japanischen Comics durch ihre Verwertung im Fernsehen als AnimeSerie zu dynamisierenden Integrationselementen eines großen Medienverbundes wurden; er nennt diese durch Figuren angetriebenen und zusammengehaltenen Medienverbünde character driven media environment oder character driven media mix. Nach Steinberg war es die technisch innovative Umsetzung von japanischen Comicfiguren in ein TV-Format und die damit geschaffene eigene Ästhetik, die diese Figuren anschlussfähig für weitere Medien machte. Zur Anschlussfähigkeit kam als drittes Element ein marktwirtschaftlicher Input hinzu. Osamu Tezuka, der Produzent, hatte seine Serie Tetsuwan Atomu der Fernsehanstalt tief unter Preis verkauft, sodass er, um seine Unkosten zu decken, ein Werbegeschäft mit einem Schokoladenhersteller einging. Um ihre Schokolade besser zu bewerben, produzierte die Firma Sticker (Klebebildchen) mit den Figuren der Anime-Serie, die sie der Verpackung beifügte. Mit den Stickern gelangten die Anime-Figuren in die Lebenswelt der Kinder und wurden omnipräsent. Bald wurde die Schokolade
4Transmediale Narration als Analysemodell für Medienverbünde war ein herausgehobenes Thema in dem Theorie-Workshop der Projektgruppe am 15.06.2018 (vgl. Meier 2020).
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zur Nebensache, man kaufte sie, um die Figuren zu sammeln. Eine Zeichentrickfigur wurde so zum konstitutiven und nodalen Element eines kommunikativen Netzwerks, des character networks. Steinberg vergleicht Tezuka mit Walt Disney, der als erster ein character merchandising betrieben hatte. Große Medienverbünde kommen ohne ein gutes Marketing ganz offensichtlich nicht zustande. Steinberg widmet ein ganzes Kapitel dem character business. Auch im Falle des von Jenkins analysierten Matrix-Verbundes gingen Kunst und Kommerz eine erfolgreiche Verbindung ein, die storyworld wurde professionell vermarktet. Die Gewinnerwartung der beteiligten Unternehmen und ihre Aktivitäten zur Gewinnmaximierung sind starke Motoren für die Entwicklung und Ausweitung der Medienverbünde.
Serialitätstheorien Einen weiteren beachtenswerten Ansatz, die Dynamik von Medienverbünden zu modellieren, bieten die Serialitätstheorien. Serialität gilt für einige ihrer Theoretiker/innen als die Eigendynamik der Populärkultur schlechthin. „Im Feld populärer Produktionen und Rezeptionen“ gebe es „kein Central Management“, so Kelleter/Stein (2012, 263). Bei der seriellen Proliferation handle es sich um einen Prozess (narrativer) Wucherung, der die Selbstserialisierung eingeschrieben sei und ebenso die Fähigkeit, durch Autoreflexion Variationen zu erzeugen. Das Modell der Eigendynamik von Serien ist faszinierend, doch beschreibt es eher, wie Popularität funktioniert (nämlich über Selbstserialisierung), nicht aber, wie ein mediales Produkt überhaupt populär bzw. serialisierbar wird oder warum seine Popularität (die Eigendynamik seiner Serialisierung) irgendwann versiegt. Den Anfang und das Ende von Serialität kann dieses Modell nicht erklären. Die in Kelleters Band Populäre Serialität (2012) versammelten Arbeiten vertreten unterschiedliche, teils einander widersprechende Ansätze. So differenziert Sabine Sielke in ihrem an der Schnittstelle zwischen Kognitions- und Kulturwissenschaft argumentierenden Beitrag (vgl. Sielke 2012, 383 ff.) zwischen Serialität einerseits und Netzwerk andererseits (die Kelleter/Stein zusammendenken). Serialität erlaube die Beschreibung von Prozessen, die auf Wiederholung und Differenz beruhen, das Netzwerk setze auf Inklusion. Der raumgreifenden Struktur des Netzwerkes stellt Sielke die temporale Dynamik von Echo, Mimikry und Anpassung entgegen. Die serielle Narration wird aus diversen Perspektiven in den Blick genommen. Hoppeler/Rippl operationalisieren den Begriff der continuity (vgl. Hoppeler/ Rippl 2012, 367 ff.), um den Zusammenhang und die zur Fortsetzung anregende Spannung zwischen den einzelnen Folgen einer Serie zu beschreiben. GanzBlättler analysiert eine Reality-Show unter dem Begriff des Kumulativen Storytelling (vgl. Ganz-Blättler 2012, 123 ff.). Denson/Mayer greifen den von Michael Chabon (2008) geprägten Begriff der storytelling engines auf, um die „Dynamik der unaufhörlichen Fortsetzbarkeit und Re-Inszenierbarkeit“ (Denson/ Mayer 2012, 187) von populären Serien herauszustellen.
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Etliche Arbeiten stellen die seriellen Figuren in den Fokus. Denson/Mayer konstruieren für die Medien des 19. und 20. Jahrhunderts zwei unterschiedliche Personen-Typen: serielle Charaktere und serielle Figuren. Während die Charaktere in einer linearen oder episodischen Erzählung eine Biografie und damit Vielschichtigkeit und Tiefe entwickelten, seien serielle Figuren grundsätzlich flach, plakativ, ohne psychologische Tiefe und biografische Kontinuität. Darauf beruhe nachgerade ihr Erfolg. Nur so könnten sie in immer neuen Kontexten und Medien eingesetzt werden. Es handle sich um liminale Figuren, Grenzgänger zwischen den Welten und den Medien. Ihre „entcharakterisierte Flachheit“ erlaube es ihnen, „leichtfüßig“ das Medium zu wechseln, sobald „die Grenzen eines bestimmten Formats ausgelotet“ seien (ebd., 194). Denson und Mayers serielle Figuren sind demnach Steinbergs characters verwandt.
Verbunddiskussion in der Kinder- und Jugendliteraturforschung Mit den in Kelleter (2012) publizierten Erkenntnissen zur Serialität populärkulturellen Erzählens haben sich in der KJL-Forschung u. a. Ute Dettmar (2016) und Markus Raith (2016) auseinandergesetzt. Der einschlägige Fachdiskurs der Kinder- und Jugendliteraturforschung rückt gern strukturtypologische Aspekte in den Fokus, die Modelle werden aber auch häufig in didaktischen Zusammenhängen diskutiert (vgl. Krumschlies/Kurwinkel 2019). Aus einer historischen Perspektive skizziert Heinz Hengst – Steinberg folgend – in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur eine historische Entwicklung von frühen hierarchisch-vertikalen Medienverbünden zu heutigen dynamischen Netzwerken, die mediale und nichtmediale Elemente integrieren. Diese Modellierung greift Tobias Kurwinkel (2017) auf. Darüber hinaus trennt Kurwinkel analytisch zwischen Medienverbünden einerseits und Produktverbünden andererseits und ergänzt sein Modell in Anlehnung an Deleuze und Guattari (1977) mit dem Bild rhizomatischer Wucherungen. Auch Birgit Schlachter (2016) rekurriert auf das Bild des Rhizoms und verknüpft es mit dem Serialitätsmodell von Umberto Eco (1989). Das Rhizom ist bei Deleuze und Guattari eine komplex gedachte philosophische Kategorie, deren Modellhaftigkeit für Medienverbünde zwar vielfach behauptet wurde, analytisch aber noch zu beweisen wäre. Die Metapher des Rhizoms, angewandt auf die Proliferation von Medienverbünden, suggeriert ein organisches, natürliches Wuchern und Wachsen, was für ein Phänomen, das von juristischen Regelungen, von Marktkräften, von sozialen und politischen Institutionen gerahmt ist und auf Menschen gemachten Kommunikationsplattformen stattfindet, Komplexität eher verdeckt als aufzeigen kann. Lässt sich das Beziehungsgeflecht großer Medienverbünde im Internetzeitalter nicht vielmehr mit sozialen Netzwerken wie Facebook oder Google vergleichen? Dafür haben die Wirtschaftswissenschaften bereits Wachstumskurven
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berechnet und mathematische Formeln gefunden. Eine davon besagt – nach einer Theorie von Barabási/Albert (1999) „das bevorzugte Anknüpfen“ genannt –, dass neue Verbindungen am ehesten dort entstehen, wo es bereits viele weitere Verknüpfungen gibt. Insgesamt gilt: Je größer ein Netzwerk, desto attraktiver wirkt es auf weitere potenzielle Nutzer/innen. Ab einer kritischen Masse beschleunigt sich sein Wachstum, die Wachstumskurve geht steil nach oben. In die Mediensprache übersetzt: Je populärer ein Medienverbund, desto höher seine Chancen, noch schneller noch populärer zu werden. Dieses Wachstumsmuster wurde als Facebook-Kurve bezeichnet (vgl. Heuser 2018).
Storytising als Markenmanagement Begriffe wie Marke und Merchandising fehlen heute in so gut wie keiner Analyse von Medienverbünden. Doch wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen fiktionalem Erzählen und der Werbewirtschaft, sodass populäre Produkte produziert, konsumiert und neue Angebote gemacht werden, also Medienverbünde entstehen? Diese Fragen lassen die meisten (literatur- und medienwissenschaftlichen) Arbeiten offen. Ein Blick in die Wirtschaftswissenschaften scheint deshalb unumgänglich. Ein Denkmodell, das die Fiktion und das damit verbundene emotionale Erleben mit den Fakten der Wirtschaft verknüpft, findet sich in einem Buch von 1999 mit dem Titel Dream society. Sein Autor, der Zukunftswissenschaftler Rolf Jensen, parallelisiert die Realität von Firmen mit der menschlichen Erlebnisrealität, die gleicherweise von rational erkennbaren stabilen Strukturen wie von emotionalen Höhen und Tiefen geprägt ist. Ein Management bzw. ein Marketing, das auf die Bedürfnisse der Marktteilnehmer adäquat reagieren wolle, müsse sich demnach auf die Emotionalisierung, auf das Erzählen von Geschichten (Storytelling) verlegen. Georgios Simoudis (2004) hat Jensens Theorie weiter entwickelt und die geschichtenzentrierte Markenkommunikation als zentrales Wertschöpfungsinstrument der postindustriellen Informationsgesellschaft ausgemacht. Für die Markenführung prägt Simoudis den Begriff Storytising (so der Titel seines Buches). Die Geschichte – die Story – steht im Mittelpunkt, Werbung geschieht quasi nebenbei. Jensen hatte sein theoretisches Konzept für eine in der Zukunft liegende wohlhabende Informationsgesellschaft entwickelt. Simoudis zeigt, dass Storytising auch schon bei älteren Marken (z. B. bei Lurchi) erfolgreich war. Aus einer anderen Richtung, der semiotischen Literaturtheorie, argumentiert Scolari (2009) sehr ähnlich: Transmedia Storytelling – so der Titel des Aufsatzes um Jenkins Konzept der informationsbasierten Medienverbünde – habe eine regelrechte Mutation in der werbebasierten Medienindustrie bewirkt: Es gehe nicht mehr darum, eine kommerzielle Marke durch Werbung in ein fiktionales Angebot einzubetten, sondern dieses (die transmedial erzählte Geschichte) werde selbst als Marke aufgebaut (vgl. ebd., 599). Obwohl Scolari die Parallelität der Medienindustrie zur Werbeindustrie anspricht, nutzt er sie nicht, um die tat-
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sächlichen Strategien aufzuzeigen, die beide Industrien zur Markenentwicklung verwenden. Er begnügt sich analytisch mit der Aufzeichnung einer Expansionskartografie, die er radial anlegt: Eine Kernerzählung wird durch Mikro-, Parallel-, Rand- sowie nutzergenerierte Geschichten von innen nach außen angereichert. Die kennzeichnenden Merkmale der Marke seien die Charaktere, die Motive und der ästhetische Stil der fiktionalen Welt, die transmedial transportierbar seien.
Marktwissenschaftliche Modelle Wie Marken funktionieren, gestaltet und ausgebaut werden, darauf geben spezialisierte Wirtschaftstheorien, z. B. die sogenannte identitätsbasierte Markentheorie, zielführende Antworten (vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005). Die sogenannte erlebnisorientierte Markenführung (vgl. Burmann/Nitschke 2005) gibt Aufschluss darüber, dass und wie Marken strategisch emotionalisiert werden. Sie zeigt auf, wie die emotionalisierende Kraft von Events, Fans und sogenannten Endorsern marktwirtschaftlich genutzt wird. Die story worlds und ihre characters sind auch in wirtschaftswissenschaftlichen Studien zu finden. Storytelling (Jensen 1999) und Storytising (Simoudis 2004) bezeichnen von der Werbewirtschaft aus betrachtet Erzählstrategien, mit denen eine Marke attraktiv gemacht werden soll; brand fiction ist ein Schlagwort des Marketings, mit dem sich auch medienwissenschaftliche Studien auseinandergesetzt haben (z. B. Scolari 2009). Ob die Story von einem Unterhaltungsmedium oder der Werbeindustrie generiert wird, ist aus der Marktperspektive letztlich nicht relevant. Bedeutsam ist die Funktion der Story, die darin besteht, die Marke stark zu machen, ihr Charakter, Persönlichkeit zu verleihen. Unter dem Titel Character-Oriented Franchise analysiert Jason Scott (2009) die frühen Medienverbünde der amerikanischen Unterhaltungsindustrie und zeigt, wie ihre zentralen Figuren (u. a. die Comic-Charaktere Felix the Cat, Mickey Mouse oder Woody Woodpecker) nach marktwirtschaftlichen Kriterien (nach dem Prinzip des franchising) medial proliferierten, wobei Serialisierung und Merchandising als gleichwertige Instrumente zur Profitmaximierung in den Blick genommen werden. Micky Maus und der Kater Felix waren auch in der Weimarer Republik bereits populär. Die frühe amerikanische Medienindustrie war ein großes wirtschaftliches Vorbild für die deutschen Medienunternehmer. Die modernen Markt- und Werbemechanismen waren in den 1920er-Jahren in Deutschland durchaus bekannt, und sie waren auch schon Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen (vgl. König 1924). Die oben skizzierten theoretischen Modelle wurden in einem Workshop im Juni 2018 den Beiträger/innen dieses Bandes als Anregung präsentiert und zur Diskussion gestellt. Unser besonderes Interesse galt den dynamischen Modellen, die aufzeigen, wie Medienverbünde funktionieren, expandieren und sich diversifizieren. Dabei haben wir systemtheoretische, populärkulturelle und wirtschaftswissenschaftliche Theorien in den Blick genommen. Die Beiträge dieses Bandes
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setzen sich mit einigen der angebotenen Modelle kritisch auseinander, andere werden genutzt, um das Korpus neu zu interpretieren.
Medienverbünde von 1900 bis 1945 Begriffsbestimmung Der Begriff Medienverbund findet sich nach bisherigen Erkenntnissen das erste Mal 1972 in einer Schrift zum Thema Öffentlichkeit und Erfahrung von Negt/ Kluge (1972), worauf Hengst aufmerksam machte (vgl. Hengst 2014, 144). Linken Strömungen der damaligen Zeit entsprechend, geht es den Verfassern maßgeblich darum, „einen Rahmen für eine Diskussion zu setzen, die die analytischen Begriffe der politischen Ökonomie nach unten, zu den wirklichen Erfahrungen der Menschen hin, öffnet“ (Negt/Kluge 1972, 16) und damit um die Dialektik von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Zur Vereinfachung ihrer Darstellung konzentrieren sie sich „auf zwei neuere Massenmedien, den Medienverbund und das Fernsehen“ (ebd.). Und wie in Diskurszusammenhängen der Frankfurter Schule und der von ihr vertretenen Kritischen Theorie damals üblich, ist es den Theoretikern ein großes Anliegen, die sogenannte Bewusstseinsindustrie zu entlarven (vgl. ebd., Kap. 5). Diese differenzieren sie in zwei Gruppen: zum einen „traditionelle Medien“, wie z. B. „Presse, Verlagswesen, Film, Volkshochschule, Rundfunk, Fernsehen“; zum anderen „fortgeschrittene, überwiegend privatwirtschaftlich organisierte Medien“, worunter „Kassettenindustrie, Bildplatte, Drahtfunk, Satellitenfunk, Datenbank, Medienverbund“ gefasst werden (ebd., 232 f.). Wenn derartige „technisch-organisatorische Neuentwicklungen“ zu einer „Veränderung der Unternehmensform“ führen, sprich zur Konzentration von Konzernen, die sowohl die traditionellen als auch die neuen Medien einsetzen, sprechen Negt/Kluge von „Medienverbund“ (ebd., 233). Eine große Gefahr sehen sie darin, dass die Unternehmen eines Medienverbunds „auf allen Kanälen und von allen Seiten durch Unterhaltung, Nachrichten, Bildungsprogramme“ (ebd., 250) auf den Einzelnen Einfluss nehmen. Bekanntermaßen hat sich die Bewusstseinsindustrie mittlerweile um ein Vielfaches potenziert, ihr Einfluss ebenfalls, auch wenn die Medienwirkungsforschung der vergangenen Jahrzehnte zeigen konnte, dass Rezipient/innen selbstbestimmte Subjekte sind, die aktiv mit Medien umgehen können bzw. sich Medieninhalte aktiv aneignen. Gleichwohl zeigt sich zunehmend, dass viele Menschen dazu nicht in der Lage sind, insbesondere auch Heranwachsende, die vor allem in den Bildungsinstitutionen an Fragen der Medienethik und Medienkritik herangeführt werden müssen. Diese Problematik umfassender zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Wichtig aber ist, sich der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs Medienverbund bewusst zu sein, der sich wie skizziert zunächst verkürzt auf die ökonomische Ebene bezieht und deshalb in Anlehnung an das Schmidt’sche
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Medienkompaktmodell (2008, 149) auch in seinen weiteren Dimensionen in den Blick zu nehmen ist. Er bezieht sich auf das gesamte Medienangebot, somit auch auf die Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung. Eine Erweiterung des Begriffsverständnisses, allerdings ohne eine exakte Bestimmung, findet sich gut 20 Jahre später in Werner Faulstichs Grundwissen Medien, das 1994 erstmals erschien. Im Kontext des Sachartikels zur Medienökonomie spricht Faulstich sowohl vom „Medienverbund auf Anbieterseite“ als auch von der „multimedial vernetzten Intensivmediennutzung“ (Faulstich 2000, 51). Und in der Auseinandersetzung mit der Mediengeschichte benutzt er den Terminus zur Beschreibung von Veränderungen zur Zeit der Reformation und Erfindung der Drucktechnik, als die „neuen Medien Flugblatt, Flugschrift/Heft und Buch […] im Medienverbund mit Menschmedien wie dem Sänger und Prediger“ (ebd., 35) auf den Markt kamen. Hengst, der sich im deutschsprachigen Raum seit ca. 25 Jahren mit Fragen des Medienverbunds beschäftigt, legt den Schwerpunkt auf die Medienkinderkultur und die Analyse von Medienverbünden für Kinder ab den 1970er-Jahren. Seine Suche nach Übersetzungen des Begriffs Medienverbund im englischsprachigen Raum führte zu den Termini „commercial supersystem, meta-media oder children’s global multi-media“ (Hengst 2007, 23; vgl. auch Hengst 2014, 144). Diese setzten zwar jeweils auf einen speziellen Akzent, seien aber brauchbar, sofern sie „auf Identität stiftende (strukturelle) Merkmale verweisen“ (Hengst 2007, 23). Damit fokussiert Hengst wie viele andere Theoretiker auf seit langem zu beobachtende ökonomische und globale Aspekte des Medienverbunds, berücksichtigt aber auch die Ebene der Rezipient/innen. In diesem Kontext führt er, wie oben in den theoretischen Rahmungen bereits vermerkt, den Begriff des „scripts“ ein, wozu „Angaben zu Plots bzw. narrativen Elementen, zu Protagonisten/ Akteuren, Bühnen, Kulissen und Requisiten“ zählen, die allesamt eine gewisse „Offenheit“ bzw. „Gestaltbarkeit“ ermöglichten (Hengst 2007, 23). Im script, einer Art Drehbuch, sieht er also das verbindende Phänomen eines Verbunds. Für die Analyse von Medienverbünden für Kinder und Jugendliche im Untersuchungszeitraum 1900 bis 1945 scheint diese Vorgehensweise brauchbar, doch sind Offenheit und Gestaltbarkeit eines scripts stets auch eingeschränkt, wie Hengst selbst bemerkt. Wir bevorzugen stattdessen – als heuristischen und im Sinne der Dateneingabe pragmatischen Orientierungspunkt – den weiter gefassten Begriff Stoff, um diverse Kompositionen von Medienverbünden zu unterscheiden.5 Unter Stoff verstanden sei die Hauptvorgabe für die Handlung eines erzählerischen Werks (in Literatur, Hörspiel, Drama, Film, Comic etc.). Diese Vorgabe ist nicht vom Autor selbst erfunden, sondern woanders vorgefunden worden: […] Als vorgeprägtes Set von Figuren, die bestimmte Eigenschaften haben, ihren Beziehungen und der Summe bestimmter Handlungen ist ein S. relativ konkret zu fassen, oft auch in seiner räumlichen und zeitlichen Situierung. […]. S. begegnen nicht in einer neutralen ›Grundform‹, sondern immer nur abhängig von
5Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass – wie oben dargelegt – in Medienverbünden nicht auch andere zentrale Einflussgrößen wie character, brand etc. von Bedeutung sein können.
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P. Josting et al. den Gestaltungskonventionen des Genres, in dem sie vorgefunden worden sind. Insofern bezeichnet ›S.‹, auch wenn der Begriff sehr gegenständlich erscheint, nichts Reales: Vom ›S.‹ einer künstlerischen Äußerung zu sprechen, heißt eine Modellbildung vorzunehmen, mit der die Inhalts- und Handlungsebene dieser Äußerung darauf reduziert wird, inwiefern sie als abhängig von der Inhalts- und Handlungsebene ihrer ›Quelle‹ betrachtet werden kann. (Schulz 2011, 312)
Das Kernelement Stoff verweist, wie oben zu lesen, auf die Abhängigkeit der „Gestaltungskonventionen des Genres“ (ebd.) und damit auch der Einzelmedien, deren jeweilige ästhetische Komponente eine zentrale Rolle spielt, worauf bereits Jutta Wermke aufmerksam machte (vgl. Wermke 1997, 100). Konkret ist somit von Medienverbünden auszugehen, „die unter einem Leitmedium ein ästhetisch identifizierbares Ensemble von Medienprodukten versammeln.“ (Ebd.) Und dabei ist nicht relevant, ob sich an ein erfolgreiches literarisches Produkt in Form des Mediums Buch, Film, eines Hörfunkbeitrags, Zeitschriftenartikels etc. Zweit, Dritt- oder Mehrfachverwertungen anschließen „oder ob von vornherein bei hoher Erfolgserwartung ein ‚Paket‘ auf den Markt gebracht wird.“ (Vgl. ebd., 67) Wir sprechen dementsprechend bereits von Medienverbund, wenn eine Zweitverwertung vorliegt, und ebenso ist es nicht von Belang, ob der Medienverbund innerhalb eines relativ kurzen überschaubaren Zeitraums auf dem Markt ist, sodass er den Rezipient/innen in seiner Gesamtheit zur Verfügung steht. Die Auseinandersetzung mit ca. 3000 Stoffen im Untersuchungszeitraum zeigt, dass es nicht möglich ist und verkürzt wäre, eine klar begrenzte Zahl von Medienverbundtypen ausfindig zu machen. Im Hinblick auf aktuelle Medienverbünde ist ein solches Vorgehen, wie es gegenwärtig vorzufinden ist (vgl. Krumschlies/ Kurwinkel 2019), noch fragwürdiger, da derartige Systematisierungsversuche auf einer viel zu kleinen empirischen Basis beruhen. Ausmachen lassen sich gleichwohl Polaritäten, die der orientierenden Beschreibung und – bei hinreichender Validität – auch einer zumindest näherungsweisen Einordnung dienen könnten. Dazu zählen antinomische Konstellationen wie synchrone vs. asynchrone Entstehung, nationale vs. internationale Verzweigung, Stoffzentrierung vs. Figurenzentrierung, serielle vs. nicht-serielle Fortschreibung, Zielgruppenkonstanz vs. Zielgruppenvarianz, zentristische vs. rhizomatische Expansion, leitmediale vs. plurimediale Konstitution, präindustrielle vs. kulturindustrielle Provenienz, hochkulturelle vs. populärkulturelle Domäne, ästhetischer vs. ökonomischer Impetus etc. Zu berücksichtigen ist, dass etliche der (heuristischen) Pole durchaus hybridisieren oder einander ablösen können, also auch in Übergangs- und Mischformen denkbar sind. Sinnvoll erscheint es vor diesem komplexen Hintergrund, zuvorderst dynamische Hotspots im Kontext von Medienverbünden aufzuzeigen, was aufgrund der Visualisierung der bibliografischen Daten (Digital Humanities) möglich ist. Hotspots meint die Anhäufung eines Stoffes auf der Ebene einer oder auch mehrerer mediale(n) Repräsentationsform(en) in einem überschaubaren Zeitraum von mehreren Jahren, und bezieht gleichermaßen die Ebene der Rezeption und Verarbeitung mit ein.
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Spektrum der Medienverbünde Das im Rahmen des Projekts erschlossene Material kann und will angesichts der begrenzten Forschungszeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wie oben in der Beschreibung des Vorgehens der Recherche im Hinblick auf Filmund Hörfunkdaten dargelegt. Gleichwohl ist mit der Konzeption und Einrichtung der Online-Datenbank6 die Voraussetzung geschaffen worden, das vorhandene Material zukünftig zu ergänzen und damit den aktuellen Forschungsstand zu erweitern. Die vielfältigen Visualisierungsmöglichkeiten der Daten bieten zum jetzigen Zeitpunkt somit einerseits vorläufige, andererseits aber auch schon aussagekräftige Erkenntnisse und damit Analysemöglichkeiten. Im Folgenden wird deshalb der Versuch unternommen, das Spektrum von Medienverbünden zu skizzieren und Entwicklungsdynamiken aufzuzeigen. Allgemein lässt sich festhalten, dass die Stoffe im Medienverbund auf eine breite Palette gängiger Gattungen und Themen der Kinder- und Jugendliteratur verweisen – auf Serielles wie Groschenhefte, aber auch auf Erwachsenenliteratur, die als Drama auf der Bühne, Klassiker, Bestseller oder Neuerscheinung vorwiegend von Erwachsenen rezipiert wurde, dann aber insbesondere im Zuge von Verfilmungen auch einem jüngeren Publikum zugänglich war, da die Zensur ihnen entweder keinerlei Altersbeschränkungen auferlegte oder Freigaben z. B. ab 14 Jahren vorsah. Für Kinder und Jugendliche spielen im Untersuchungszeitraum zunächst einmal jene Medienverbünde eine zentrale Rolle, deren Stoffe zumeist in gedruckter Form seit dem 19. Jahrhundert zum klassischen Repertoire der Kinder- und Jugendliteratur zählen, wie Märchen, Sagen, Robinsonaden oder auch Kasperliaden. Eine der berühmtesten Figuren des Puppentheaters ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Kasper, als Begründer der Kasperlekomödie als eigenständiges Genre der Kinderliteratur gilt Franz von Pocci mit seinem Neuen Kasperl-Theater (1855). Die meisten Kasperlestücke stehen zunächst stofflich und dramaturgisch in der Jahrmarktradition und spielen im Erwachsenenmilieu. Erst später etablierte sich das typische Figurenarsenal mit Polizist, Räuberhauptmann und Krokodil, wie es noch heute bekannt ist (vgl. Brunken 2008, 258 ff.) und sowohl Kinder als auch Erwachsene erfreut. Hotspots des Kasperle-Stoffes zeigen sich im Untersuchungsraum von 1924–1941: Fast jährlich werden neue Kasperlestücke veröffentlicht, parallel dazu beginnt der Auftritt der Figur im Rundfunk, vielfach in Form von Hörspielen, aber ebenso in Lesungen; im Jahr 1927 z. B. sind es 56, im Jahr 1938 52 Sendungen. Gleichzeitig erscheint in den 1930er-Jahren und bis 1944 eine Reihe von Animationsfilmen. Begleitet werden die unterschiedlichen Repräsentationen von Paratexten wie Kommentaren zu Hörfunksendungen oder Rezensionen von Filmen, außerdem Anleitungen zum Bau von Handpuppen wie dem Kasperle-Bastelbuch (1934).
6Vgl.
dazu den Beitrag von Matthias Preis und Friedrich Summann in diesem Band.
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Märchen gewinnen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung in der Kinder- und Jugendliteratur, werden sie doch als Privatlektüre empfohlen und in die Lehrpläne der Volksschulen aufgenommen. In größerem Umfang erscheinen sie auch in dramatischer Form als sogenannte Märchenspiele, überwiegend für die öffentliche Bühne verfasst. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass sie aufgrund ihrer vergleichsweise kurzen Textlänge nicht nur in Märchensammlungen erscheinen, sondern auch in Jahrbüchern, Kalendern und Anthologien sowie als Märchenbilderbücher. Insofern handelt es sich um eine Gattung, die sich früh als Medienverbund entfaltet. Wichtigste Vertreter sind die Brüder Grimm mit ihren Kinder- und Hausmärchen (1812/1814), aber auch Ludwig Bechstein, Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen sind von Bedeutung. Der Stellenwert des Grimm’schen Werkes zeigt sich im Untersuchungszeitraum nicht zuletzt darin, dass Stumm- und Tonfilm wie auch der Hörfunk sich gleichermaßen der Märchenstoffe bedienten.7 An die 50 Verfilmungen der Kinder- und Hausmärchen wurden ausfindig gemacht und in knapp 1300 Hörfunksendungen sind sie vertreten, vor allem in den Anfangsjahren; so z. B. 1929 mit 162 Sendungen. Hervorzuheben ist im Kontext von Rundfunk und Märchen die Schriftstellerin Lisa Tetzner, die in der Weimarer Republik als Märchenerzählerin durch die Lande zog, Märchensammlungen herausgab, 1927 Leiterin der Berliner Kinderstunde wurde und in dieser Funktion regelmäßig u. a. Märchen erzählte oder vorlas; insgesamt 116 Hörfunkbeiträge von ihr konnten eruiert werden. Antike und nordisch-germanische Götter- und Heldensagen sowie ortsund regional ausgerichtete Volkssagen hatten sich im 19. Jahrhundert fest im Kanon der (nicht nur) Kinder- und Jugendlektüre etabliert. So verwundert es nicht, dass auch die neuen Medien Film und Hörfunk ebenfalls gern auf diese Gattung zurückgriffen, wenn auch in geringerem Umfang als auf Märchen; deutlich ist zudem eine Präferenz auf Seiten des Hörfunks zu erkennen. Hier gab es regelmäßig Sendungen über Sagen, davon in großer Zahl regional gebundene, die meist von der Rundfunkanstalt des entsprechenden Sendegebiets ausgestrahlt wurden. Aus dem Reigen der Sagen sticht der Nibelungen-Stoff hervor, der mit seinem Helden Siegfried, der Rächerin Kriemhild, der stolzen Brunhild sowie dem kampfstarken Hagen zahlreich episch und dramatisch für Erwachsene bearbeitet wurde, von dem es aber auch seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts viele Bearbeitungen für die Jugend gibt (vgl. Krienke 2008). Zu den Repräsentationen in Büchern, Dramen und auf der Bühne kamen 1924 unter dem Titel Siegfrieds Tod und Kriemhilds Rache zwei Filme von Fritz Lang ins Kino, die große Erfolge feierten, wie den Rezensionen zu entnehmen ist. Hotspots im Radio sind innerhalb des Jugendfunks zwischen 1926 und 1929 mit knapp 20 Sendungen erkennbar, aber auch in den 1930er-Jahren waren die Nibelungen weiterhin präsent.
7Sowohl vom Film als auch vom Hörfunk wurde aber nur dann auf eine Grimm’sche Vorlage verknüpft, wenn es eindeutige Belege dafür gab; ansonsten nur auf den Märchenstoff, da zahlreiche Bearbeitungen zugrunde liegen könnten.
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Parallel zu diesem Stoff erlebte auch Münchhausen8 seit den 1870er-Jahren eine Popularisierung in der Kinder- und Jugendliteratur, was sich in Prosabearbeitungen, Bilderbögen und Bilderbüchern bemerkbar machte, aber auch in Merchandisingprodukten wie „Werbe-Sammelmarken, Kartenspiele[n], Glanzbilder[n] sowie Postkartenserien“ (Wiebel 2008, 756 f.) und somit den Beginn eines großen Medienverbundes für Heranwachsende markiert. Immensen Zuwachs fand der Stoff mit zehn Filmen zwischen 1920 und 1944 sowie ca. 50 Beiträgen im Hörfunk (1926–1940). Betrachtet man in der Datenbank die Stoffe mit Blick auf die größte Anzahl an verknüpften Datensätzen (Rangliste), die wiederum auf verschiedene Medien verweisen, kristallisieren sich neben den genannten weitere Medienverbünde heraus. Diese beziehen sich z. B. auf: serielle Figuren, die als Helden von Groschenheften das Publikum eroberten und anschließend in Stummfilmen begeisterten oder umgekehrt (z. B. Harry Piel oder Nat Pinkerton); Erwachsenenliteratur, die – wie oben angeführt – anschließend verfilmt wurde und Jugendliche ins Kino zog, darunter Internatsgeschichten mit dem seit der Jahrhundertwende in Epik und Dramatik berühmten Motiv des Schülerselbstmords; Klassiker wie die Lederstrumpf-Reihe James Fenimore Coopers oder der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; zeitgenössische Kinderliteratur wie Erich Kästners Emil und die Detektive oder auch historische Persönlichkeiten wie Otto von Bismarck und Fridericus Rex. Harry Piel ist gegenwärtig der Medienverbund mit dem umfangreichsten Datensatz. Er gilt als Medienpionier, der 1912 seinen ersten Film drehte und fortan als Regisseur, Schauspieler und Produzent in der Filmbranche tätig war, und zwar mit Detektiv-, Abenteuer- und Sensationsfilmen, die das Publikum mitfiebern ließen. Allein zwischen 1918 und 1933 ist er mit mindestens drei Filmen jährlich vertreten, 1919 erschienen sogar neun Harry Piel-Filme. Aufgrund dieses spektakulären Erfolgs veröffentlichte der Leipziger Speka-Verlag, bekannt für seine Heftchenliteratur mit Helden wie Sherlock Holmes oder Buffalo Bill, ab 1920 die als Schundliteratur verpönte Groschenheftreihe Harry Piel – der tollkühne Detektiv (vgl. Bleckman 1992, 91 f.). Die Heftchen, wie die Filme auch von Kindern und Jugendlichen geliebt, orientierten sich zunächst an alten Harry Piel-Filmen, die als Vorlage aber schon bald nicht mehr ausreichten, sodass nach bekanntem Muster weitere Harry Piel-Geschichten erfunden wurden (vgl. ebd., 91 ff.). Hotspots über einen langen Zeitraum hinaus im Bereich Film, in dem Piel durchgängig über das Jahr 1945 hinaus tätig war, werden begleitet von einer umfangreichen Heftchen-Produktion vor allem in der ersten Hälfte der 1920erJahre. Hotspots im Bereich der Rezeption, nicht weniger umfänglich, reichen von 1924 bis 1942. Ähnliche Berühmtheit in den genannten beiden Medien, wenn
8In der Forschungsliteratur wird Münchhausen unterschiedlichen Gattungen zugeordnet, dem Humoristischen oder der Schwank- und Lügendichtung, der Schelmenliteratur oder den Märchen, Fabeln oder Sagen (vgl. Wiebel 2008, 756).
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auch mit weniger Verfilmungen, aber dafür mit Inszenierungen im Theater und Rundfunk der Weimarer Republik präsent, erreichte lediglich bis heute andauernd Sherlock Holmes. Gleichwohl waren auch Detektive wie Nick Carter oder Nat Pinkerton und Abenteuerhelden wie Buffalo Bill Groschenheft- und Stummfilmfiguren, die ihr altersübergreifendes Publikum zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Atem hielten. An die hier zuletzt genannten Helden knüpft die von James Fenimore Cooper geschaffene Figur des Lederstrumpf insofern gut an, als auch sie Anfang der 1920er-Jahre den Groschenroman eroberte und seit langem zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur gehört. Wie Daniel Defoe seinen Robinson, so hatte auch Cooper seine fünf Lederstrumpf-Romane (1823–1841) für Erwachsene geschrieben. Im Mittelpunkt steht der Trapper Natty Bumpoo, auch Lederstrumpf genannt, der in der Prärie zwischen Siedlern und Indianern vermittelt. Da die Abenteuerliteratur für Jugendliche in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer beliebter wurde, kamen auch hier zunehmend gekürzte Fassungen für die Jugend auf den Markt. Bis 1900 sind mehr als 90 Bearbeitungen nachgewiesen (vgl. Pellatz-Graf 2008, 633), die zum Teil bis 1944 wieder aufgelegt wurden, denn auch die NS-Schrifttumswalter waren voll des Lobes für Lederstrumpf. So schrieb z. B. der preisgekrönte Jugendschriftsteller Fritz Steuben [d. i. Erhard Wittek], selbst Verfasser von Indianerromanen, auch in Coopers Romanen sei eine „nationalsozialistische, deutsche Haltung“ (ebd., S. 70) zu erkennen, „zwei Rassen“ stritten schicksalhaft „um ihr Lebensrecht“ (Steuben 1936, 70 f.), womit wieder einmal verdeutlicht wird, wie Literatur in der NS-Zeit vereinnahmt wurde. Was den Medienverbund dieses Stoffes im Untersuchungszeitraum betrifft, so sticht neben den vielen Bearbeitungen die mehrere hundert Heftchen umfassende Reihe Der neue Lederstrumpf hervor; ferner einige Stummund Realfilme sowie zahlreiche Sendungen im Hörfunk von 1926 bis 1936 in Form von Lesungen, Kinderdarbietungen, biografischen Informationen über den Autor und Hörspielen. Zu den bekanntesten Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur gehört Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), das in humoristischen Versen und karikaturistischem Illustrationsstil verfasste Bilderbuch mit den doppelbödigen und subversiven Geschichten von unartigen und bösen Kindern (vgl. Friese 1995). Mit dieser Kurzbeschreibung ist auch schon das seinerzeit Innovative des Hoffmann’schen Bilderbuches angesprochen, das zudem intermediale Bezüge zu den damals neuen optischen Medien wie Fotografie und Zauberscheibe aufweist. Die Beliebtheit des Buches, das – damals wie heute – auf positive und negative Kritik stieß, ist an den 132 Bearbeitungen abzulesen, die allein bis 1900 erschienen (vgl. Wilkending 2008, 30), d. h., der Struwwelpeter rief viele Autor/innen zur Nachahmung auf, was mit der Veröffentlichungen von Struwwelpetriaden bis in die Gegenwart anhält. So kamen zum Beispiel 1915 der Kriegs-Struwwelpeter auf den Markt, 1926 der Rundfunk-Struwwelpeter und der Struwwelhannes. Parallel zu diesen und anderen Struwwelpetriaden sowie Neuauflagen des Originals stieß der Stoff auch in der Filmbranche auf Interesse. Es war der Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor Fritz Genschow, der 1935 gleich fünf Filme drehte, und zwar
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Stummfilme, die den Zusatz „für das Heimkino“ tragen: 1. Der Struwwelpeter, 2. Der Suppenkaspar, 3. Der Daumenlutscher, 4. Der Zappelphilipp, 5. Hans guck in die Luft. Einen weiteren Struwwelpeter-Film drehte der für seine Naturfilme bekannte Hubert Schonger 1938. Hotspots zeigen sich im Hörfunk, der von 1925 bis 1940 zunächst nur Lesungen sendete, später aber auch Hör- und Singspiele. Im Untersuchungszeitraum wurde eine ganze Reihe von Filmen gedreht, die sich an Theaterstücke oder Romane für Erwachsene anlehnten; zum Teil waren es historische und sozialkritische Filme, beliebt waren auch Internatsgeschichten. Wie oben ausgeführt (vgl. Aufnahmekriterien für Kinder- und Jugendfilme), handelt es sich bei diesen und anderen um intendierte Kinder- und Jugendfilme. Mit der Einführung der Zensur wurden viele für jugendfrei erklärt oder sie erhielten den Vermerk für Jugendliche ab 14 Jahren. Oft konnten sie nicht nur im Kino rezipiert werden, sondern waren, wie im Falle besonderer staatlicher Auszeichnungen während der NS-Zeit, gewissermaßen Pflichtlektüre, weil sie in den sogenannten HJ-Jugendfilmstunden vorgeführt wurden, etwa die Schulgeschichte Traumulus (1935). Über den Hohenzollern Friedrich der Große, auch Fridericus Rex oder volkstümlich Alter Fritz genannt, sind viele Romane geschrieben worden, für Erwachsene und für Jugendliche. Schon in der Weimarer Republik gedruckte Bücher wie bspw. Friedrich der Große. Unser Held und Führer (1936) von Oskar Fritsch wurden im Nationalsozialismus neu aufgelegt und für die Jugend empfohlen. Zahlreich sind ebenso die Stumm- und Tonfilme, die sich mit diesem Herrscher beschäftigen: Großen Erfolg feierten die zu Beginn der 1920erJahre gedrehten Fridericus Rex-Filme, aber auch die in den 1930/40er-Jahren produzierten, von so bekannten Regisseuren wie Hans Steinhoff mit Der alte und der junge König (1935) oder Veit Harlan mit Der große König (1942). Auf die Aufnahme von Beiträgen zu Medienverbünden um Klassiker wie Emil und die Detektive oder Heidi, auf die sowohl in literaturwissenschaftlichen als auch literaturdidaktischen Abhandlungen mit Blick auf den Medienverbund gern zurückgegriffen wird, wurde in diesem Band bewusst verzichtet. Stattdessen richtete sich der Blick auf Medienverbünde, die bislang kaum oder wenig Beachtung fanden. Die in diesem Band versammelten Beiträge greifen einzelne Gattungen und Themen des skizzierten Spektrums an Medienverbünden auf, teilweise erweitern sie es und werden im Folgenden kurz vorgestellt, sortiert in sieben Kategorien: Pioniere erobern die neuen Medien – Bühnenkinder wandern zum Rundfunk und/oder Film – Märchen im Film und Rundfunk – Klassiker in allen Medien – Schulgeschichten im Theater, Buch und auf der Leinwand – Verbrechen und Skandalöses auf der Leinwand – Politisches erobert Buch und Film. Mit Pionieren, die auf ihre jeweils ganz eigene Weise die neuen Medien des Untersuchungszeitraums erobern – der Schauspieler, Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Fritz Genschow, die Disney-Figur Micky Maus und die Hörfunkfigur Funkheinzelmann aus der Feder des Rundfunkintendanten Hans Bodenstedt –, beschäftigen sich Petra Anders, Johannes Krause und Annemarie Weber. Petra Anders behandelt die Medienkonvergenz im frühen Werk von Fritz Genschow und Renée Stobrawa. Dabei geht sie u. a. auf Genschows Spielfilm Der Kampf um den Stiefen Ast ein, der von seinen Erfahrungen mit dem Kindertheater
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geprägt wurde und in der Buchfassung General Stift und seine Bande mündete. Des Weiteren wird grundlegend herausgearbeitet, wie das Ehepaar Genschow/ Stobrawa ein Konzept des Jugendfilmstudios entwickelte, das die Geschichtenwelt ihres vielfältigen, konvergenten und transfiktionalen Mediennetzwerks zusammenhielt. Deutlich wird aus der Perspektive des Stoffes, dass General Stift und seine Bande im Jahr 1937 fast zeitgleich als Film und Buch erschien, wobei Letzteres als Kinderroman mit Filmbildern folgte. Außerdem floss das einige Jahre zuvor erschienene Theaterstück Kinderraub in Sevilla mit ein. Das Motiv der Kinderbande migrierte somit vom Theater zum Film bzw. vom Film zum Buch. Statt fiktionaler Entitäten oder narrativer Bindeglieder sorgt vor allem das pädagogische Konzept von Genschow/Stobrawa für den Wiedererkennungswert der Machart des erzählten Stoffes. Hotspots um den General Stift sind lediglich 1937 im Bereich der Rezeption parallel zum Erscheinen von Buch und Film zu finden. Johannes Krause beschäftigt sich in seinem Beitrag Micky Maus – eine (ur-)amerikanische Figur im Deutschland der 1930er-Jahre mit der noch heute berühmten Micky Maus-Figur aus dem Hause Walt Disneys, die auch im Deutschland der 1930er-Jahre von einer Trickfilmfigur zur erfolgreichen Marke aufgebaut wurde. In der zeitgenössischen Rezeption findet sich im Zuge großer Bewunderung für die Filme auffällig häufig der Verweis auf Micky Maus als typisch amerikanische Figur. Was darunter zu verstehen ist und wie sich dieses Verständnis auf die Rezeption der Werke Disneys bzw. den produktiven Umgang mit ihnen auswirkte, ist Thema des vorliegenden Beitrags. Die Erkenntnisse bilden die Grundlage für die Analyse zweier produktiver Umsetzungen der Marke Micky Maus: Zum einen handelt es sich um den Comicsstrip Mickys Rosenmontag, zum anderen um einen Comicstrip aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, der die Maus zu einem Symbol für den Feind USA macht. Hotspots des Stoffes in Deutschland finden sich in den Jahren 1930 bis 1933 im Bereich Buch, Film und vor allem Hörfunk; erwähnenswert sind die beiden Schallplatten aus dem Jahr 1930, Micky Maus beim Hochzeitsschmaus und Micky Maus auf Wanderschaft. Eine intensive Auseinandersetzung mit der Figur und dem Disney-Imperium setzt dagegen erst 1935 ein und reicht bis zum Jahr 1940. Annemarie Weber analysiert den Funkheinzelmann – die multimediale Karriere einer Hörfunkfigur, die 1924 als Märchengestalt für die Kindersendungen der Norag (Nordische Rundfunk AG) in Hamburg vom Intendanten Hans Bodenstedt erfunden und in kurzer Zeit eine Marke des Senders wurde. Bodenstedt entwickelte die Figur für das neue Medium Rundfunk anhand von Geschichten, die er für die Sendungen größtenteils selbst schrieb, inszenierte und auch sprach. Funkheinzelmann vereint in seinem Namen und seinen Erzählungen das klassische Märchen (Heinzelmann) mit der modernen Übertragungstechnik (Funk) und dem Tempo der Zeit. Die Figur war schnell populär, eroberte über mehrere Jahre zur Weihnachtszeit die größten Theaterbühnen, wurde in Büchern verwertet, auf Schallplatten gepresst, und sogar ein gleichnamiges Kindermagazin sowie Funkheinzelmann-Schokolade erschienen für die Fans. Keiner der im Band analysierten Stoffe weist so viele Hotspots auf wie der Funkheinzelmann, die sich über die Jahre 1924 bis 1931 erstrecken.
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Eine ganze Reihe von Medienverbünden hat ihren Ursprung auf der Bühne mit erfolgreichen Theaterinszenierungen, weil ihre Protagonisten das Publikum begeisterten, seien es der Maikäfer Sumsemann, das ewige Kind Peter Pan oder Hans mit dem Hasen Trillewipp. Ihren Siegeszug traten sie von der Bühne aus an und eroberten auf ihre je spezifische Weise den Rundfunk und/oder Film, wie Julia Benner, Ulrike Preußer und Gina Weinkauff zeigen. Julia Benner setzt sich in ihrem Beitrag zu Peterchens Mondfahrt und seiner medialen Reise mit einem der bekanntesten deutschsprachigen Bühnenstücke auseinander und untersucht die unterschiedlichen Transformationen in der Zeit von 1911 bis 1945. Sie kommt zu dem Ergebnis, man müsse zwischen direkten und indirekten sowie retrospektiven und prospektiven Medienverbünden unterscheiden. Betrachtet man das von ihr verwendete Material wie auch ihre Erkenntnisse aus der Stoff-Perspektive, zeigt sich ein Medienverbund, dessen Anfänge in der Romantik liegen und der nicht zuletzt mit einer aktuellen Verfilmung bis in die Gegenwart reicht. Der Veröffentlichung des Märchenspiels im Jahr 1912 folgen etliche weitere Publikationen und parallel dazu Theateraufführungen bis 1942 in Berlin. Hervorzuheben sind die zahlreichen Sendungen im Rundfunk bis 1936, wobei für das Jahr 1925 gleich sieben nachgewiesen werden konnten, die mehrheitlich der Sender Breslau ausstrahlte. Peterchens Mondfahrt wurde entweder von Kitty Seifert als Kindermärchen erzählt, als Märchenspiel in sieben Bildern inszeniert oder in Ausschnitten den Hörer/innen unmittelbar vor Weihnachten präsentiert. Hotspots des Stoffes finden sich Mitte der 1920er-Jahre, vorrangig im Bereich Hörfunk. Ulrike Preußer untersucht das Nimmer Nimmer Nimmer Land und damit die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte von Peter Pan, dem ewigen Kind, bis in die Gegenwart. Während die Popularität der fantastischen Figur im angloamerikanischen Raum von Beginn an groß war, brauchte es in Deutschland wesentlich länger. Bis 1945 waren es vornehmlich das ins Deutsche übertragene Theaterstück, eine amerikanische Filmadaption und die Übersetzung einiger aus einem Roman ausgegliederter Kapitel, die unter dem Titel Peter Pan im Waldpark veröffentlicht wurden und die Geschichte bekannt machten. Der Beitrag widmet sich textorientiert der Anlage und Entwicklung der literarischen Figur Peter Pan als transworld identity. Peter Pan tritt das erste Mal in dem Erwachsenenroman The Little White Bird (Barrie 1902) auf. Einige ausgegliederte Kapitel erscheinen unter dem Titel Peter Pan im Waldpark (Barrie 1911) in deutscher Übersetzung. Dem deutschen Publikum ist der Stoff jedoch schon eher zugänglich, und zwar als Bühnenstück Peter Gerneklein (1910), das in einer veränderten Fassung unter dem Titel Peter Pan oder das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte 1943 erscheint. Als Stummfilm kommt Peter Pan 1924 in Amerika auf den Markt und 1925 unter dem Titel Peter Pan, der Traumelf in die deutschen Kinos, wo er auf viel Zuspruch der Kritiker stößt. Bei den Rundfunkmacher/innen weckte der Stoff kein großes Interesse: Lediglich im März 1930 wurden Auszüge aus dem Buch in den Sendern Königsberg und Danzig gelesen. Es liegt im Untersuchungszeitraum also ein Medienverbund vor, Hotspots finden sich nicht. Gina Weinkauff untersucht Urians Weltreise und damit den Hans Urian-Stoff. Unter dem Titel Hans Urian geht nach Brot. Eine Kindermärchenkomödie von
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heute (Béla Balász und Lisa Tetzner) erschien 1929 in Berlin eine erfolgreiche Kindertheaterinszenierung, die von einem hungrigen Arbeiterjungen handelt, der in Begleitung eines sprechenden und fliegenden Hasen um die Welt reist und dabei elementare Einblicke in die politische Ökonomie des Kapitalismus gewinnt. Der Erfolg zeigt sich auch in zahlreichen Adaptionen und Fortsetzungen, von denen die bedeutendste die Romanversion Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise von Lisa Tetzner zu sein scheint, die wiederholt veröffentlicht und in viele Sprachen übersetzt wurde. Eine Vielzahl von Rundfunksendern besprach 1931/1932 den Roman, 1932 las die Autorin sogar selbst in einem Schweizer Sender aus ihrem Buch vor, was ihr als erfahrene Märchenerzählerin und mehrjährige Leiterin der Kinderstunde im Berliner Rundfunk nicht schwer gefallen sein dürfte. Zudem entstanden – bis 1933 und dann wieder nach 1945 – weitere erzählende Kinderbücher, die die Handlung variierten, und ein Animationsfilm der DEFA. Der Beitrag beleuchtet die Entwicklung des Stoffes seit 1929, setzt sich aber auch mit seiner Vorgeschichte auseinander, indem er verschiedene Prätextreferenzen offenlegt. Dass sich um diesen Stoff im Untersuchungszeitraum zunächst kein größerer Medienverbund entwickeln konnte und somit keine Hotspots erkennbar sind, hängt mit der Verfolgung Lisa Tetzners und ihres Mannes Kurt Held zusammen, beide emigrierten 1933 in die Schweiz. Bereits angeführt wurde, dass Märchen seit dem 19. Jahrhundert oft auch als sogenannte Märchenspiele und nicht nur in Sammlungen, sondern ebenso in Jahrbüchern, Kalendern, Anthologien und Märchenbilderbüchern erscheinen. Wie sie schnell die neuen Medien Film und Rundfunk erobern und große Medienverbünde entstehen, zeigen Annika Behler und Ingrid Tomkowiak in ihren Untersuchungen. Annika Behler weist in ihrem Beitrag „Das war ein herrliches Märchen!“ – Der fliegende Koffer von H. C. Andersen im Medienverbund nach, dass das Märchen Der fliegende Koffer des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen Bestandteil eines umfangreichen Medienverbundes ist, indem sie den Stoff von Beginn seines Erscheinens bis in die Gegenwart in den Blick nimmt. Die Geschichte vom Scheitern eines Mannes an der eigenen Eitelkeit und dem Motiv des fliegenden Koffers, mit dem er reist, erfreut sich ungebrochener Popularität, national wie international. Dabei zeigt sich eine große Varianz in Bezug auf Aspekte wie Motive, Topografie, Figuren, Zielgruppen oder auch Lesarten des Märchens. Als gemeinsame Konstante bzw. Essenz des Medienverbundes fungiert das einprägsame Bild des fliegenden Koffers, eine chronologische Weiterentwicklung des Stoffes wird hingegen nicht deutlich. Für den Untersuchungszeitraum des Projekts konnten mehrere gedruckte Ausgaben, zahlreiche Rundfunksendungen und zwei Filme nachgewiesen werden. Die erste mediale Adaption stellt Lotte Reinigers gleichnamiger Silhouetten-Film aus dem Jahr 1921 dar, und auch in der NS-Zeit zeigte man Interesse an diesem Märchen, das noch 1944 als Kasperle-Film der Hohnsteiner Puppenspiele produziert wurde. Besonders interessiert an diesem Stoff war der Rundfunk mit insgesamt 17 Sendungen vor allem in der Weimarer Republik, z. B. im Rahmen der Sendungen Die Rundfunkprinzessin erzählt oder Die Stunde der Jugend sowie als Märchenhörspiel mit
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Musik. Und noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges strahlte man gleichnamige Hörspiele aus. Hotspots liegen im Hörfunk zwischen 1924 und 1939. Ingrid Tomkowiak beschäftigt sich mit den Kunstmärchen von Wilhelm Hauff im medialen Transfer, die zu den bekanntesten im deutschsprachigen Raum gehören. Zunächst als Trivialliteratur diskreditiert, wurden einige der Märchen Hauffs bald als Kinderliteratur kanonisiert und ab dem frühen 20. Jahrhundert zumeist als solche verfilmt. Der Beitrag stellt frühe Filmadaptionen von Hauffs Märchen Die Geschichte von dem kleinen Muck, Die Geschichte von Kalif Storch und Das kalte Herz vor und beleuchtet ihr zeitgenössisches Umfeld. Dabei werden je nach Quellenlage unterschiedliche Aspekte von Produktion, Distribution und Rezeption einbezogen. Die Filme adaptieren die Vorlagen auf ihre je spezifische Weise – historisierend, aktualisierend, ideologisierend, ästhetisierend, psychologisierend – und tragen so durch Expansion, Modifikation und Transposition zu ihrer Transformation bzw. zur innovativen Fortschreibung, Differenzierung und Diversifizierung des jeweiligen Ausgangstextes und seiner Bedeutungsebenen bei. Attestiert wird sowohl Hauffs Märchen selbst als auch einigen der frühen Verfilmungen, dass sie sehr viel mutigere Produktionen waren, als die neueren es sind – auf ästhetischer, technischer oder auch inhaltlich-gesellschaftsbezogener Ebene. Im Hinblick auf den Kleinen Muck z. B. gibt es Hotspots im Rundfunk von 1925 bis 1937, gewissermaßen gerahmt von den Verfilmungen 1912 und 1944 und auch von Theaterinszenierungen begleitet. Ähnliches gilt für das Kalte Herz und den Kalif Storch, wobei bei Letzterem die Verfilmungen zahlreicher sind. In Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur kommen menschliche Grundbedürfnisse und -konflikte in einfacher Form zum Ausdruck. Ihr Erzählschema folgt oft dem Muster Auszug, Kampf, Bewährung und Heimkehr. Es finden sich klare Oppositionen von Gut und Böse, Glück und Unglück, bevorzugte Orte sind unbegrenzte Fantasiewelten wie Höhlen, Wälder, Gärten oder Inseln, und stets laden ihre Protagonist/innen zum Bewundern oder Mitleiden ein. Wie die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur zeigt, haben solche Helden nicht nur die Herzen vieler Generationen erobert, sondern auch sämtliche Medien durchlaufen. Bernd Dolle-Weinkauff und Sebastian Schmideler zeigen das am Beispiel der Figuren Max und Moritz sowie Robinson. Bernd Dolle-Weinkauff arbeitet in seiner Untersuchung „Max und Moritz“ quer durch die Medien – und insbesondere im Comic Strip heraus, dass sich aus der Bubenstreichgeschichte Max und Moritz von Wilhelm Busch bis in die Gegenwart zahlreiche Anschlussprodukte entwickelten. Daran beteiligt sind neben dem Theater auch die nach der Jahrhundertwende aufkommenden neuen Medien Film und Rundfunk. Den Kern und Hauptträger der Entwicklung bilden allerdings die Printmedien – das Bilderbuch und die in Heften oder Periodika verbreiteten Bildgeschichten –, die neben hohen, in zahlreichen Sprachen verbreiteten Originalauflagen mit den sogenannten Buschiaden bestimmte Formen der Adaption und Parodie vorgeben, an denen sich die Hervorbringungen in allen anderen Medien orientieren. Die Wirkungsgeschichte von Max und Moritz beschreibt er deshalb als rudimentäres Medienverbundphänomen, das sich durch eine anhaltende Dominanz
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des Ausgangsmediums und des darin präsentierten Stoffs auszeichnet. Neben kontinuierlichen Auflagen von Büchern im Untersuchungszeitraum konnten zum einen bis 1941 immerhin 20 Filme nachgewiesen werden, wobei es sich mehrheitlich um Zeichentrickfilme, aber auch um Stumm- sowie Realfilme handelt. Zum anderen waren Max und Moritz von 1925 bis 1941 im Rundfunk sehr präsent: Hotspots in den Jahren 1928 bis 1934, in der Anfangsphase dieses neuen Mediums mehr als Lesung, insgesamt aber überwiegend als Hörspiel, und auch sogenannte Singspiele und Kinderdarbietungen sind zu finden. Sebastian Schmideler untersucht Robinsonaden zwischen 1900 und 1945 – Vom Stummfilmklassiker zum „Radio-Robinson“ und widmet sich damit dem Robinson-Stoff, der die inselhafte Abgeschiedenheit einer Person thematisiert und auf Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe aus dem Jahr 1719 zurückgeht. Durch die Präsenz des Stoffes von Robinson Crusoe in der Erwachsenenliteratur und die breite Rezeption der Robinsonaden auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur ist das Werk sowohl als Privat- und Familienlektüre als auch als Unterrichtsgegenstand und Schullesestoff seit dem 19. Jahrhundert sehr präsent. Der Beitrag geht auf zahlreiche Einzelmedien ein, stellt unterschiedliche Medienverbünde heraus und kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Modernisierungsprozess der Jahre 1900 bis 1945 in der Affinität zur Thematisierung innovativer Technik wie Telegrafie, Radio, Flugzeugbau, Kriegstechnik in literarisch-buchzentrierten Robinsonaden wie Radio-Robinson und Flieger-Robinson, aber auch in US-Filmparodien wie Mr. Robinson Crusoe zeige. Die Entwicklung traditioneller buchmedialer Robinsonaden (Abenteuertyp, Sachbuchtyp) ist trotz der gegenüber den neuen Massenmedien aufgeschlossenen Rundfunk- und Filmadaptionen quantitativ und qualitativ weitreichender als ihr qualitativer Innovationsgrad in der Verwertung im Medienverbund. Geht man davon aus, dass der Stoff in gedruckten Medien immer präsent war, zeigen sich Hotspots in der Kombination von Buch und Film in den Jahren 1913 bis 1924, in Kombination von Buch und Rundfunk in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre. Innerhalb der Schulgeschichten hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Pensions- oder Internatsgeschichte als jugendliterarisches Genre konstituiert, seit etwa 1900 kommt mit dem Motiv des Schülerselbstmordes ein neues, man kann sagen eigenständiges literarisches Genre hinzu. Bisweilen ist das Motiv zunächst auf der Bühne zu finden, oft aber auch in Romanen, wandert von dort aus auf die Leinwand. Wie sich um dieses Motiv und innerhalb des Genres Schulgeschichte Medienverbünde entwickelten, ist Thema der Beiträge von Gabriele von Glasenapp, Petra Josting und Heidi Nenoff. Gabriele von Glasenapp untersucht in ihrem Beitrag Jenseits von Romy und Lilli Christa Winsloes Anfang der 1930er-Jahre entstandene Erzählung, die unter dem Titel Mädchen in Uniform vermarktet wurde, im Hinblick auf ihren Medienverbundcharakter und auch in Bezug auf andere Medienverbünde. Stofflich geht es um Schülerinnenselbstmord im Internat und Schul- bzw. Gesellschaftskritik, gattungstypologisch handelt es sich um eine Backfisch- oder Pensionsgeschichte. Der Beitrag analysiert den Medienverbund der Jahre 1930 bis 1936, die transmedialen Erzählwelten seit den 1950er-Jahren wie auch
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intertextuelle und intermediale Bezüge innerhalb der Dramen-, Film- und Romanfassungen. Deutlich wird u. a., dass der in der Endphase der Weimarer Republik entstandene Stoff, der zunächst als Bühnenstück unter dem Titel Gestern und Heute und damit im Theater erschien, seinen Durchbruch erst mit der Verfilmung von 1931 schaffte, die den Titel Mädchen in Uniform trägt und leitend für die folgenden Medien wurde; so auch für den 1933 publizierten Roman der Autorin Das Mädchen Manuela. Der Roman von Mädchen in Uniform, der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Während die Aufführung des Films, produziert von Carl Froelich, in Deutschland weiterhin erlaubt und sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas sehr erfolgreich war, standen Winsloes Werke ab Mitte der 1930er-Jahre auf der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Den Hotspots dieses ersten Medienverbundes setzte die NS-Herrschaft somit ein Ende. Petra Josting widmet sich in ihrem Beitrag „Traumulus“ – vom naturalistischen Drama zur NS-Verfilmung dem Medienverbund Traumulus. Das 1905 erschienene Drama von Arno Holz und Oskar Jerschke gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den erfolgreichsten auf deutschsprachigen Bühnen. Knapp 800 Aufführungen sind allein in der Spielzeit 1904/05 zu verzeichnen. Bis weit in die 1940er-Jahre begeisterte man sich für das Stück und auch in der BRD brachte man es noch auf die Bühne. Stofflich geht es um Schülerselbstmord im Internat und Schul- bzw. Gesellschaftskritik an der Wilheminischen Ära. Diese Kritik griffen die NS-Machthaber auf und funktionalisierten sie für ihr großes Ziel um, den Aufbau eines neuen Reiches. Was Rang und Namen hatte, beteiligte sich an der Produktion des 1936 erschienenen gleichnamigen Films, z. B. der Produzent und Regisseur Carl Froelich sowie der Schauspieler Emil Jannings. Beide erhielten hohe Auszeichnungen für diesen Film, der im selben Jahr mit dem Prädikat staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll bedacht und auch Jugendlichen ab 14 Jahren vorgeführt wurde. Darüber hinaus stieß der Film auch im Ausland auf ein begeistertes Publikum und wurde am 5. April 1937 sogar vom Fernsehsender Paul Nipkow in Berlin-Witzleben ausgestrahlt. Hotspots dieses Stoffes zeigen sich zunächst mit der intensiven Berichterstattung von den Dreharbeiten im Herbst 1935, die bis ins Jahr 1942 reichen, weil man bis zu diesem Zeitpunkt noch den Film zeigte und auch das Drama inszenierte. Heidi Nenoff analysiert in ihrem Beitrag „Da stelle ma uns mal janz dumm“ den Medienverbund Die Feuerzangenbowle, eine Pennälergeschichte in der Wilhelminischen Ära mit den typischen, Komik erzeugenden Schülerstreichen, eingewoben eine Liebesgeschichte. So zumindest sind Stoff und Gattung noch heute im kulturellen Gedächtnis verankert, die gleichnamige Verfilmung von 1944 mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle hat nach wie vor Kultstatus. Die Anfänge der massenhaften Verbreitung liegen im Jahr 1933, als der erste Teil des Romans von April bis Mai in der liberalen Tageszeitung Der Mittag abgedruckt wurde. Die erste Verfilmung – ebenfalls mit Heinz Rühmann – erschien ein Jahr später unter dem Titel So ein Flegel, die zweite wie angeführt als Die Feuerzangenbowle gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und die dritte 1970. Der Beitrag konzentriert sich auf die Romananalyse und vergleichende Betrachtung der drei Verfilmungen und
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nimmt dabei die jeweils historischen Kontexte, Inhalte sowie Ton- und Bildebene genau in den Blick. Kennzeichnend für diesen Medienverbund ist seine anhaltende Popularität, sowohl vor als auch nach 1945. Der Rundfunk spielte dabei in der NS-Zeit keine nennenswerte Rolle, denn nur einmal, am 2. April 1934, strahlte der Sender Leipzig unter dem Titel Lausbubengeschichten aus der ‚Feuerzangenbowle‘ eine Lesung aus. Maßgeblich war schon damals die Erstverfilmung, mit der der Verkauf des Romans auf über eine halbe Million Exemplare stieg, während des Krieges gab es sogar Feldpost- und Wehrmachtsausgaben. Damit kann man von einer stabilen Präsenz von Buch und Film während der gesamten NS-Zeit sprechen, die durchgehend von Hotspots auf der Rezeptionsebene begleitet wird. Mord und andere Verbrechen, Kommissare und Detektive – die ältere Literatur kennt leider keine Frauen in diesen Funktionen – haben Leser/innen unterschiedlicher Altersgruppen und Milieus seit jeher begeistert. Die germanistische Literaturwissenschaft wandte bzw. wendet sich mehrheitlich eher verächtlich ab. In der Kinder- und Jugendliteratur treten Kriminalfälle zunächst in den Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts auf. Mit dem Aufkommen der Heftchen- und Kolportageliteratur, adressiert an Erwachsene, aber verschlungen auch von den Heranwachsenden, treten Helden wie Sherlock Holmes auf den Plan, die schnell im Film reüssieren. In den 1920er/30er-Jahren gesellen sich zu diesen Detektiven andere Personengruppen, aus dem wahren Leben z. B. oder aus der Mädchenliteratur, wie die Beiträge von Marlene Antonia Illies, Tobias Kurwinkel und Caroline Roeder zeigen. Marlene Antonia Illies beschäftigt sich unter dem Titel Emotionalisierung zwischen Sexualität, Generationenkonflikt und Machtdiskurs mit der Steglitzer Schülertragödie als Medienverbund, dessen Ausgangspunkt ein Kriminalfall ist: Ein 19-jähriger erschießt den Freund seiner Schwester und anschließend sich selbst. Ein Mitschüler des (Selbst-)Mörders wird der Mittäterschaft angeklagt, verbringt acht Monate in Untersuchungshaft, steht vor Gericht und wird freigesprochen. Stofflich geht es also um den Schülerselbstmord, der sich seit 1900 zahlreich in der deutschen Literatur findet. Exemplarisch wird im Beitrag aufgezeigt, wie dieser Fall erzählt, verarbeitet und verwertet wurde. Berücksichtigt werden die Vielzahl der medialen Erscheinungsformen sowie die intermedialen Bezüge, die auch auf weitere Medienverbünde verweisen; mediale (Neu-)Verarbeitungen gibt es noch nach der Jahrtausendwende. Die Konzentration des Beitrags liegt aber auf der Ebene der zeitgenössischen Verarbeitungen in den Jahren 1927 bis 1929. Der Stoff hinterließ seine Spuren vor allem in der Filmbranche; er weckte zum einen Interesse bei Produktionsfirmen, zum anderen wurden etliche Filme mit Verweis auf diesen Stoff beworben. So z. B. Primanerliebe, Frühlings Erwachen oder Die Siebzehnjährigen, aber auch auf der Bühne war dieser Stoff präsent. Hotspots finden sich 1927, direkt nach der Tat, sowie 1928 im Zuge der Prozessberichterstattung in der Presse, außerdem 1928/1929 mit Berichten über Pläne zur Verfilmung des Stoffes, die Realisierung derselben und schließlich massiv mit Erscheinen der Filmkritiken.
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Tobias Kurwinkel widmet sich dem Genresystem der frühen Leinwanddetektive und zeichnet die Geschichte der frühen Detektivfilme anhand ausgewählter Protagonisten wie Sherlock Holmes, Nick Carter, Stuart Webbs und Joe Deebs als Medienverbünde eines Genresystems nach. Er arbeitet heraus, dass mit den Anfängen des Detektivfilms im Jahr 1900 der Medienverbund um die Figur Sherlock Holmes durch intra- und intermediale Bezüge zwischen den Medienangeboten gekennzeichnet ist. Des Weiteren nimmt er für den Zeitraum bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs das filmische serielle Erzählen in den Blick und zeigt, das insbesondere die sogenannten Groschenhefte strukturell, inhaltlich und ebenso dramaturgisch die Basis für Filmreihen des Genres bildeten. Im Print- und Filmsektor zeigt der Medienverbund für Sherlock Holmes Hotspots in den Jahren 1910 bis 1917, für Nick Carter in den Jahren 1913 bis 1932. Im Falle von Sherlock Holmes konnten darüber hinaus für das Jahr 1906 drei Theaterinszenierungen ausfindig gemacht werden, und zwar eine im Wiener Bürgertheater und gleich zwei in Hamburg, die eine im Thalia Theater, die andere im Deutschen Schauspielhaus, was das Interesse auch bürgerlicher Kreise an der Gattung Detektivgeschichte und dem Stoff Verbrechen verdeutlicht. Caroline Roeder analysiert unter dem Titel Donnerwetter, das ist famos den Medienverbund Was tun, Sibylle? Literarische Vorlage für den Jugendfilm war das Mädchenbuch der Autorin Sofie Schieker-Ebe, das 1930 erschien und gleichnamig betitelt ist. Zentraler Handlungsort ist die Schule, es gilt, einen Diebstahl aufzuklären. Der Beitrag fokussiert auf die Darstellung der Konstruktion und Ausgestaltung von Mädchenfiguren im medialen Kontext, um das im Buch entworfene Mädchenbild in Beziehung zu den zeitgenössischen Figurenzeichnungen von Frauen und Mädchen zu setzen, die unter dem Schlagwort Neue Frau bzw. Neue Mädchen Eingang in die literatur- und kunstwissenschaftliche Forschung zur Neuen Sachlichkeit gefunden haben. Weiterhin wird die Verfilmung von 1938 mit dem Roman verglichen, um Veränderungen aufzuzeigen, die nicht allein der medialen Adaption geschuldet sind, sondern mögliche Verschiebungen bei der Bewertung von Geschlechterbildern und -arrangements aufzeigen– wobei letztere mit dem revanchistischen Frauenbild des Nationalsozialismus zusammenhängen. Ebenso werden andere ideologische Einschreibungen, Modernisierungen, Fragen der Pädagogik und Dramaturgie untersucht. Das Buch wurde in der NS-Zeit bis 1943 mehrfach wieder aufgelegt (wie auch in der BRD), der Film im besetzten Ausland gezeigt, wie z. B. in der Slowakei. Hotspots des Stoffes sind nur in wenigen Jahren nach 1938 auszumachen. Zwei auf den ersten Blick völlig konträre Stoffe stehen am Ende des Bandes. In dem einen Verbund geht es um Antikriegsfilme und Remarques noch heute berühmtes Buch Im Westen nichts Neues, im anderen um ein Jugendbuch des Nazi-Autors Alfred Weidenmann und dessen Verfilmung. Gemeinsam ist ihnen jedoch das Politische, wenn natürlich auch in völlig konträrer Form. Ricarda Freudenberg rekonstruiert unter dem Titel Pazifistische Antikriegsfilme der präfaschistischen Ära den Medienverbund um Erich Maria Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues. Im Zentrum stehen der Roman und die wenig später erschienene amerikanische Filmadaption All Quiet on the Western
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Front, die Analyse fokussiert auf Thema, Dramaturgie und Erzählperspektive, aber auch Fragen der Distribution, Rezeption und Verarbeitung werden detailliert einbezogen. Die synchrone Perspektive des Medienverbundes wird erweitert, indem ergänzend zwei nahezu zeitgleich produzierte deutsche Antikriegsfilme – Westfront 1918 und Niemandsland – hinzugezogen werden. In diachroner Perspektive wird deutlich, dass mediale Adaptionen und Transformationen bis heute auf den Markt kommen. Vergleichend wird aus diesem Verbund die vor wenigen Jahren erschienene, gleichnamige Graphic Novel herangezogen, die sich auf den amerikanischen Film bezieht. Insgesamt zeigt sich, dass die Verfilmung Ausgangspunkt eines Medienverbunds wurde, der sich inhaltlich zumindest in Teilen von der Romanvorlage entfernt. Da Pazifismus nicht ins Konzept der NS-Diktatur passte, verwundert es nicht, dass dieser Stoff in allen Medien mit Beginn der NSHerrschaft verboten wurde; seine 1929 beginnende große Verbreitung reicht nicht über das Jahr 1933 hinaus, Hotspots gibt es also nicht. Winfred Kaminski beschäftigt sich unter dem Titel Jungensromantik in zeitloser Idylle? mit dem Schriftsteller, Regisseur und Drehbuchautor Alfred Weidenmann und dessen Medienverbund Jakko. 1939 erschien der Roman (die gleichnamige Verfilmung 1941), dessen Hintergrundideologie sich mit dem Spruch „frangar, non flectar“ zusammenfassen lässt. Für die Verfilmung arbeitete Weidenmann mit dem ebenfalls in der NS-Zeit erfolgreichen Regisseur Fritz Peter Buch und dem Filmkomponisten Otto Borgmann zusammen. Der von der Zensur 1941 mit den Prädikaten staatspolitisch wertvoll, volkstümlich wertvoll und jugendwert ausgezeichnete Film zeigt wie die Romanvorlage eine Freundschafts- und Zirkusgeschichte; beide Medien sind nicht frei von Rassismus. Der Film wurde bzw. wird gern mit dem Hitlerjungen Quex (1933) nach der gleichnamigen Romanvorlage von Karl Aloys Schenzinger verglichen, weil sich auch der Protagonist Jakko letztlich der HJ zuwendet. Hotspots sind von 1940 bis 1942 zu erkennen, vor allem auf der Rezeptionsebene, denn schon die Filmarbeiten wurden rege von der Presse begleitet.
Literatur Auer, Fritz: Das Zeitalter des Films. Eine Kino-Umfrage. In: Der Kinematograph 5 (1911), 5–6. Barabási, Albert-László/Albert, Réka: Emergence of Scaling in Random Networks. In: Science (15.10.1999), https://science.sciencemag.org/content/286/5439/509 (07.01.2020). Bauer, Thomas: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941. Entstehung, Entwicklung und Kontinuität der Rundfunkzeitschriften. München 1993 (Rundfunkstudien; 6). Belling, Curt/Schütze, Alfred: Die Filmarbeit der Hitler-Jugend. In: Bredow, Wilfried von/Zurek, Rolf (Hg.): Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien. Hamburg 1975, 199–205. Birett, Herbert: Verzeichnis in Deutschland gelaufener Filme. 1911–1920. Entscheidungen der Filmzensur. München [u. a.] 1980. Bleckman, Matias: Harry Piel. Ein Kino-Mythos und seine Zeit. Düsseldorf 1992. Bonn, Friedrich: Jugend und Theater. Emsdetten 1939 (Die Schaubühne; Quellen und Forschung zur Theatergeschichte; 39).
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Projekthorizonte: Hinführung und Überblick
Der Kinder- und Jugendhörfunk von 1924 bis 1945 Annemarie Weber
Abstract So far, it has not fully been researched what exactly the radio had to offer for children and adolescents in the time of its emergence as a medium. Relevant studies on the radio of the Weimar Republic explicitly exclude broadcasts aimed at children and adolescents or they merely focus on specific broadcasting stations or authors, respectively. Therefore, the present contribution addresses a key desideratum and, with its digital database, attempts to provide the first fully fledged collection of children’s and adolescents’ radio broadcasts from 1924 to 1944. This overview article outlines institutional and technical developments of the new medium and additionally briefly addresses the relevant programmes of the individual broadcasters. In the beginning, the focus lay on reading aloud fairy tales. However, the broadcasters soon differentiated their programmes according to age groups (children vs. adolescents) and genres (fairy tales, rhyming stories, adventure narratives etc.). Additionally, they developed different forms such as the audio play, the improvisation and the adaptation of classic plays or more extensive narratives adjusted to the specific target group. Some innovative personalities of the early radio established new media-specific formats which gained popularity beyond the respective broadcast area. With the national socialist party seizing power in 1933, the innovative development of the radio in general and, consequently, also of childrens’ and adolsecents’ radio came to a halt. One the one hand, this was due to the fact that almost all intendants as well as many experienced authors and studio employees were dismissed. On the other hand, the broadcasters were put under state control and their programmes were forced
A. Weber (*) Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_2
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in line with the new political doctrine. All in all, under national-socialist rule, the adolescents’ broadcasts were revalued and politicised, the production of fairy tale readings and plays aimed at entertainment continued.
Forschungsstand und Desiderate Der frühe Hörfunk für Kinder und Jugendliche (1923–1945) ist bislang kaum erforscht, Überblicksdarstellungen für den Untersuchungszeitraum fehlen bis heute gänzlich. Die umfassende Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik (Leonhard 1997) spart die Kinder- und Jugendstunden aus, „da ursprünglich eigenständige Darstellungen dieser Programmsegmente geplant waren“ (ebd., 997, FN 3) und erwähnt sie nur vereinzelt in unterschiedlichen Zusammenhängen, so auch den Schulfunk. Konrad Dussels Deutsche Rundfunkgeschichte (Dussel 2010) bietet eine gute Übersicht über die institutionelle Entwicklung des Hörfunks, und auch die Programmstruktur wird ausführlicher im Hinblick auf die Unterhaltungsfunktion des Rundfunks beleuchtet. Kinderprogramme werden indes nicht berücksichtigt. Die einzige systematische Untersuchung zur Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks legte Brunhild Elfert (1985) vor. Ihre Datenerhebung bezieht zwar alle Sender der Weimarer Republik mit ein, strebt aber nur für die Berliner Funk-Stunde Vollständigkeit an. Im Falle aller anderen Sender berücksichtigt sie nur die zielgruppenadressierte dramatische Form (als Kinder- und Jugendspiel bezeichnet). Eine umfassende Hörspiel-Bibliografie (Strzolka 2010) beschränkt sich auf den gleichen Untersuchungszeitraum und berücksichtigt nur das Hörspiel. Wittenbrinks (2006) gut dokumentierte Aufstellung von Schriftsteller/innenauftritten im Rundfunk erfasst nur die selbst gesprochenen Sendetermine der aufgeführten Autor/innen und geht ebenfalls nicht über das Jahr 1932 hinaus. Zudem erscheint die Auswahl Wittenbrinks restriktiv, denn Namen wie Ingeborg Faber Du Faur (München), Rudolf Simon (Köln), Ursula Scherz (Deutsche Welle) oder Marion Lindt (Königsberg) fehlen. Zu einigen Persönlichkeiten des frühen Hörfunks liegen Untersuchungen vor: Walter Benjamins Arbeiten für den Rundfunk (einschließlich des an Kinder adressierten) sind mehrere Studien gewidmet (vgl. u. a. Schiller-Lerg 1984, Steinbach 2010, Nowak 2017). Günter Eichs Hörspiele im Rundfunk dokumentiert Wagner (1999), aber ohne eigene Quellenerhebung und somit unvollständig. Eine sorgfältig recherchierte Arbeit zu Hermann Kasacks Rundfunkarbeiten, einschließlich der KJ-adressierten, veröffentlichte Fromhold (1990; vgl. auch Besch 1992). Mit Lisa Tetzner als Märchenerzählerin (auch im Rundfunk) beschäftigt sich die Studie von Messerli (2008); Bolius (1997) legte eine eher konventionelle Biografie Tetzners vor, basierend allerdings auf z. T. unveröffentlichten Briefen und anderen Quellen. Eine komplette Radiografie von Max Ophüls (einschließlich seiner Kinderhörspiele) ist in der Biografie von Asper (1998) enthalten.
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Zu vielen prominenten Persönlichkeiten des frühen Kinder- und Jugendfunks gibt es indes so gut wie keine Forschungsliteratur. Hans Bodenstedt, einer der Mitbegründer des Hamburger Senders – der Erfinder, Verfasser und Sprecher des Formats Funkheinzelmann –, ist bislang mit einer einzigen kleinen Studie gewürdigt worden, die sich mit den erhaltenen Schallplatten beschäftigt (vgl. Pigorsch 2001). Gänzlich vergessen sind Autorinnen des Weimarer Kinderfunks wie Alice Fliegel oder die Leiterin des Kinderfunks in Köln, Els Vordemberge (1933 ein erstes Opfer der Säuberungsaktionen; vgl. Schütte 1971, 135), das Team des Dresdner Jugendfunks, bestehend aus Erna Moser (verh. Schirokauer, vgl. Heinze 1991), Herbert Roth und Kurt Arnold Findeisen (dessen Rundfunkarbeit kaum bekannt ist), die Münchner Gestalter/innen des Kinderfunks Ewis Borkmann, Otto Willner, Maria Devera und Teresa Roth. Auch die Arbeit von Ilse Obrig für den Weimarer, später den NS-Rundfunk, ist nur in Umrissen bekannt (vgl. Elfert 1985, 220; Münkel 1998, 88). Von der Forschung vernachlässigt wurden bisher auch die österreichischen und schweizerischen Radiosender, obwohl sie ein reichhaltiges Programmangebot für Kinder und Jugendliche bereitstellten. Das Forschungsprojekt kann all diese Lücken nicht schließen, stellt aber mit seiner Datenbank zum ersten Mal eine umfassende, auf Vollständigkeit zielende Quellenerfassung zur Verfügung. Die in diesem Band versammelten Beiträge setzen sich auf Basis der neuen Quellenlage mit Einzelphänomenen analytisch auseinander. Sie sind die ersten und hoffentlich nicht die letzten Studien, die auf die Datenbank zurückgreifen. Als Desiderat bleibt die systematische Erschließung der an Kinder und Jugendliche adressierten Presse bestehen, insbesondere der im Zusammenhang mit dem Hörfunk produzierten Sonderseiten in Programmzeitschriften sowie der Kindermagazine, die populäre Hörfunkformate begleiteten.
Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen des frühen Hörfunks Die Gründung des sogenannten Unterhaltungs-Rundfunks in Deutschland fiel in die letzte große Krise der Weimarer Republik. Separatistische Unruhen drohten das Land zu destabilisieren, die Inflation geriet nahezu außer Kontrolle (vgl. Großmann-Vendrey u. a. 1986). In dieser kritischen Situation wurde der Rundfunk unter staatlicher Kontrolle mit privatem Kapital aufgebaut. Die Vorbereitungen wurden an den Parlamenten vorbei vorgenommen, die Eröffnung geschah „Hals über Kopf“ (ebd., 12 f.), ohne Programmkonzept. Erklärtes Ziel der Gründer war es, dem Rundfunk als einem im Ausland bereits erfolgreichen Massenunterhaltungsmedium trotz chaotischer wirtschaftlicher und politischer Zustände in Deutschland möglichst rasch zum Durchbruch zu verhelfen und gleichzeitig eine politische Instrumentalisierung der neuen Technik zu verhindern (vgl. Bredow 1956, Bd. 2, 209 und 214). Vielmehr sollte durch das neue Medium der „Genuss
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von geistigen Gütern und Unterhaltung“ für breite Bevölkerungsschichten, auch die ärmeren, also „das deutsche Volk“, verfügbar gemacht werden (ebd., 217). Zur Verteidigung der anfangs umstrittenen Einrichtung wurde der Rundfunk mit viel symbolischem Kapital befrachtet: Er sollte ein Kulturfaktor nationalen Ranges sein, darüber hinaus durch Zerstreuung und Entspannung die Arbeitsfreude des Volkes steigern, ebenso ein bedeutender Wirtschaftsfaktor werden und Arbeitsplätze schaffen (vgl. ebd.). Die von oben verordnete Neutralität bezeichnen Großmann-Vendrey u. a. (1986, 13) als Handicap des neuen Mediums, weil dadurch politisch engagierte Journalist/innen nicht zum Zuge kamen und politische Auseinandersetzungen und sogar Tagesaktualität tabuisiert worden seien. Ebenso werden die zunächst hohen Empfangskosten und eine bürgerlich ausgerichtete Programmstruktur kritisiert, die den Arbeitern den Zugang zu dem neuen Medium erschwert bzw. ihre Bedürfnisse ignoriert hätten (vgl. ebd., 14). Die Regionalisierung des Rundfunks in Deutschland wurde laut Hans Bredow, dem vom Reichspostministerium (RMP) mit dem Aufbau des Sendernetzes beauftragten Staatssekretär, vom Land Bayern befördert, das die geplante Beschallung aus Berlin ablehnte, sodass 1922 mit der Deutschen Stunde in Bayern eine selbständige Programmgesellschaft gegründet wurde (vgl. Bredow 1956 II, 203). In der Folge wurde das geplante Radionetz in neun Sendebezirke mit eigenen Sendezentralen aufgeteilt. In Berlin wurde Ende September 1923 die Radiostunde AG (Zusammenschreibung gemäß Bredow 1956, 221) gegründet, die am 29. Oktober das erste Programm sendete, aber erst am 29.03.1924 unter dem Namen Funk-Stunde AG im Handelsregister eingetragen wurde (vgl. Elfert 1985, 54). Nach ihrem Organisationsmodell gingen 1924 acht weitere Sender an den Start (Sendebeginn nach Giesecke 1929, 35): Mitteldeutsche Rundfunk AG in Leipzig – Mirag (01.03.1924), Südwestdeutscher Rundfunk AG – SWR in Frankfurt a. M. (30.03.1924), Deutsche Stunde in Bayern GmbH in München (30.03.1924), Nordische Rundfunk AG – Norag in Hamburg (02.05.1924), Süddeutscher Rundfunk AG – Sürag in Stuttgart (10.05.1924),1 Schlesische Funkstunde AG in Breslau (26.05.1924), Ostmarken-Rundfunk AG – Orag in Königsberg (14.06.1924), Westdeutsche Funkstunde AG – Wefag in Münster (10.10.1924), ab 1926 mit Sitz in Köln. Die preußischen Sender gründeten eine zehnte, zentrale Sendegesellschaft (vgl. Giesecke 1929, 35), die Deutsche Welle GmbH mit Sitz in Berlin, die nach der verwendeten Sendeanlage auch Deutschlandsender genannt wurde (vgl. Halefeldt 1997, 127) und nach dem Senderstandort auch als Königswusterhausen in den Programmzeitschriften geführt wird (Sendebeginn: 07.01.1926). Die dezentralen Rundfunkanstalten wurden nach einem von der Post ausgearbeiteten Modellvertrag als Aktiengesellschaften mit privaten Kapitalgebern gegründet. Dabei behielt sich die Post 51 % der Aktien und damit die Kontrolle über die Sender vor. Dafür erlaubte sie den privaten Teilhabern über Nebengesellschaften Gewinne zu erwirtschaften – etwa mit dem Geräteverkauf oder der
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gemäß Grube 1976, 20.
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Herausgabe von Programmzeitschriften (vgl. Halefeldt 1997, 28 f.; Bauer 1993, 47). Die Reichspost erteilte die Sendelizenzen, stellte die Sendeanlagen zur Verfügung und gab zwei Drittel der erhobenen Rundfunkgebühren an die Sendegesellschaften weiter. Diese verpflichteten sich zu einem täglich mindestens zweistündigen Programm, für dessen Ausstrahlung sie in ihrem Sendebezirk das Monopol erhielten (vgl. Halefeldt 1997, 28 f.). Um notwendige technische Entwicklungen schneller durchsetzen und ihre gemeinsamen Interessen besser vertreten zu können, schlossen sich die Mirag, die Norag, der SWR, die Schlesische Funkstunde und die Orag 1925 zu einem von der Reichspost vorgeschlagenen Dachverband, der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (RRG), zusammen, dem im Laufe des Jahres auch die Berliner Funk-Stunde, die Wefag und die Sürag beitraten (vgl. Halefeldt 1997, 138 f.). 1926 übernahm die Post 51 % der RRG-Aktien, die damit ihre Kontroll- und Lenkungsmacht über die Sender stärkte (vgl. Bauer 1993, 50). Die Deutsche Stunde in Bayern trat der RRG nicht bei. Für die Hörer/innen machte sich der Verbund bezahlt: Die Konferenzschaltungen herausragender Sendungen und die anregende Wirkung der so ermöglichten Senderkonkurrenz wertet Lindemann (1980, 48) als besonders nutzbringend. Mitte 1926 gründeten die Sendegesellschaften einen gemeinsamen Programmrat (später neutraler Programmausschuss genannt – vgl. Bredow 1956 II, 270), in dem auch die Intendanten von Wien und Danzig als Gäste vertreten waren. Ziel war der notwendige Erfahrungsaustausch und die Abstimmung von gemeinschaftlichen Planungen (vgl. Lindemann 1980, 48 f.). Ein politischer Überwachungsausschuss (bestehend aus einem Vertreter der Reichsregierung und zwei der jeweiligen Landesregierung) sollte bei den Sendern für Überparteilichkeit sorgen, führte aber zu parteipolitischer Einflussnahme (vgl. Bredow 1956 II, 263 f.). Ein Kulturbeirat bzw. Beirat, den die Landesregierung „im Benehmen mit dem Reichsministerium des Inneren“ berief (Rieck 1927, 3246; vgl. auch Giesecke 1929, 87), sollte für die Qualitätssicherung im künstlerischen, wissenschaftlichen und volksbildnerischen Bereich sorgen (vgl. Richtlinien über die Regelung des Rundfunks 1927), war aber unter den Intendanten umstritten (vgl. Dichtung und Rundfunk 1930, 110). 1932 verlangte Hitler bei den Regierungsverhandlungen mit Franz von Papen ausdrücklich den Zugang zum Rundfunk (der der NSDAP und den Kommunisten bis dahin versperrt gewesen war). Eine erste Folge war die Einrichtung der für alle Sender verpflichtenden Stunde der Reichsregierung, einer täglich ausgestrahlten Propagandasendung (vgl. Lindemann 1980, 50). Für die Indoktrination der Jugend wurde die Stunde der Nation eingeführt, 1935 in Stunde der jungen Generation umbenannt (vgl. Stüven 1981, 42). 1933 übernahm das neu errichtete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) sämtliche Aktien und Anteile an den Rundfunkgesellschaften, die damit als eigenständige Unternehmen ausgeschaltet wurden (vgl. Bredow 1956, Bd. 2, 267; Bauer 1993, 213). Auch die RRG wurde vom RMVP übernommen und neu strukturiert. Als ihr politisches
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Führungsorgan wurde die Reichssendeleitung eingerichtet. Die Dezentralisierung des Programmbetriebs wurde beendet und auch die Sender wurden nach dem Modell der RRG nach dem Führerprinzip umgebaut (vgl. Schütte 1971, 129). Beginnend mit dem Ostermontag 1934 (2. April) wurden sie zu Reichssendern umbenannt (vgl. Hadamowsky 1934a). Danach gab es neun Reichssender: Berlin, Breslau, Frankfurt, Hamburg, Köln, Königsberg, Leipzig, München und Stuttgart. Die Deutsche Welle war bereits zum Jahresbeginn 1933 zum Reichssender Deutschlandsender umgebaut worden (vgl. Der neue Deutschlandsender 1932). Später kamen im Laufe der Gebietsveränderungen und kriegerischen Annexionen weitere Sendeanstalten hinzu: 1935 der Reichssender Saarbrücken, 1937 der Landessender Danzig (ab 1939 ebenfalls Reichssender). 1938 wurde die Ravag (Radio Wien) aufgelöst und die Wiener Sendeanstalt als Reichssender Wien dem RMVP unterstellt, 1939 wurde der Radiosender Praha II annektiert und zum Reichssender Böhmen (Prag) erklärt. Weitere kriegsbedingte Umstrukturierungen folgten. Nach der Machtübernahme seitens der Nationalsozialisten erfolgte eine groß angelegte Säuberungsaktion. Von April bis Juli 1933 tauschten die neuen Machthaber außer einem alle Intendanten aus, wie auch in großem Stil das Rundfunkpersonal. Wer blieb, wurde zwangsweise Mitglied der Reichsrundfunkkammer (RRK), die ebenfalls dem RMVP unterstellt war (vgl. Schütte 1971, 125). Darüber hinaus nahm die NSDAP auch über ihre Parteistrukturen Einfluss auf den Rundfunk. Die Funkwarte der Partei waren befugt, für die sogenannte Volksnähe der Rundfunkprogramme zu sorgen (vgl. ebd., 129 f.; Bauer 1993, 179). Wie Bredow (1956, 315) berichtet, bestand ihre eigentliche Aufgabe darin, die Sendeleiter zu bespitzeln. 1939 wurden einige der genannten Strukturen zur Lenkung und Überwachung des Hörfunks wieder zurückgebaut, die RRK aufgelöst, ihr Vermögen der RRG zugeschlagen, ihre Mitglieder auf die anderen Kammern aufgeteilt (vgl. Schütte 1971, 180). Unter den Nationalsozialisten wurde der Jugendfunk aufgewertet, der bei den einzelnen Sendern sowohl personell als auch hinsichtlich der Sendezeiten und Programmangebote erheblich ausgebaut wurde. Bereits 1934 gab es bei jedem Reichssender eine Abteilung Jugendfunk, auf die das Rundfunkamt der Hitlerjugend (HJ) durch personelle Verquickungen und vielfältige Maßnahmen massiv Einfluss nahm (vgl. Münkel 1998, 117–124). Das Programmangebot des Jugendfunks wurde thematisch und zeitlich erweitert und bekam – nach dem Modell der politischen NS-Organisationen – alters- und geschlechtsspezifische Abteilungen: Funk für das Jungvolk (10–14), HJ-Funk (14–18), Jungmädelfunk (10–14) und BDM-Funk (14–21). Einen Teil der Programme bestritten Rundfunkspielscharen der HJ und des BDM (vgl. ebd., 119).
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Technische Voraussetzungen der Rezeption Die Sender hatten anfangs geringe Reichweiten bzw. konnten mangels Verstärkerantennen nur in den jeweiligen Großstädten zufriedenstellend empfangen werden.2 Störgeräusche und technisch nicht ausgereifte Empfangsgeräte, die außerdem noch relativ teuer waren, machten aus dem Rundfunk zunächst ein Hobby für Bastler bzw. ein Privileg für Leute, die ihn sich leisten konnten (vgl. Sch. 1924). Allerdings ging vom neuen Unterhaltungsmedium eine große Faszination aus, sodass das Schwarzhörerphänomen enorme Ausmaße annahm (vgl. GroßmannVendrey u. a. 1986, 14). Die Reichspost reduzierte deshalb Anfang April 1924 die Nutzungsgebühr von 5 auf 2 Mark, sodass die Nutzerzahlen signifikant anstiegen (vgl. Bredow 1956, Bd. 2, 250), und tätigte gleichzeitig Investitionen in die Verbesserung der Sendetechnik. Dank der Serienproduktion konnten die Empfangsgeräte immer günstiger hergestellt werden (vgl. Breßler 2009, 54). 1926 tauschten die Sendeanstalten dank leistungsstarker Antennen und Kabelanschluss zwischen den Sendern und ihren Nebensendern bereits Programme aus, der Empfang von mehreren Sendern mit einem Gerät war jedoch technisch noch schwierig (vgl. Magnus 1929, 143). 1927 und 1928 wurde der Netzanschluss für Radios ermöglicht, vorher musste das Gerät mit drei verschiedenen Batterien betrieben werden (vgl. Rundfunk-Jahrbuch 1929, 264). Der Lautsprecher wird noch als Alternative, nicht als Standard beschrieben, die Gerätehersteller boten den Lautsprecher als Zusatzgerät an (vgl. Rundfunk-Jahrbuch 1929, 337).3 Ende 1928 waren rund 2,5 Mio. Rundfunkgeräte in Deutschland genehmigt (vgl. W. H. F. 1929). Das Verhältnis von Funkhörern zu Einwohnern in Deutschland betrug 4,1 % (vgl. Rundfunk-Jahrbuch 1929, 332) mit unterschiedlicher geografischer Verteilung. Die meisten Gebiete hatten einen Sättigungsgrad (SG) von 1–3 %, Berlin 13 %, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Leipzig, Frankfurt, Dortmund und München über fünf und unter 13 %. Ende 1933 hatte sich die Zahl der Rundfunkteilnehmer auf 5 Mio. verdoppelt (vgl. Stüven 1981, 105). Im Mai begann die Massenproduktion eines billigen Radios, des Volksempfängers, der zusammen mit flankierenden Maßnahmen (etwa Ratenzahlungen) den Rundfunk zu einem Massenmedium in Deutschland machen sollte (vgl. ebd., 6–11; Breßler 2009, 197–208). Empfangen werden konnten in Deutschland immer auch ausländische Sender, worauf die überregionalen Programmzeitschriften bereits ab September 1924 mit dem Abdruck von Programmhinweisen für Prag, England, später auch Zürich, Wien u. a. reagierten. Mit Kriegsbeginn wurde das Abhören ausländischer Sender strafbar, die Programmzeitschriften stellten den Abdruck ihrer Programme ein.
2Zur
milieu-abhängigen unterschiedlichen Nutzung des Radios vgl. Lenk 1997, 27–28. Entwicklung der Rundfunktechnik und der Radioapparate vgl. Grau/Keil 2005; Lenk 1997, 86–119. 3Zur
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Programmpresse Die regionalen Sendeanstalten legten sich eigene Programmzeitschriften über sogenannte Nebengesellschaften zu, in denen oft die gleichen Personen in den Leitungspositionen saßen wie in den Sendegesellschaften selbst (vgl. Ohse 1971, 312–319; Bauer 1993, 48–54). Auf diese Weise entwickelten sich die Programmzeitschriften zu profitablen Wirtschaftsunternehmen, auf dem Zeitungsmarkt erzielten sie die höchsten Werbeeinnahmen. Die Vorteile für die Werbebranche waren ihre hohen Auflagen, die ansprechende Aufmachung, die homogene Zielgruppe (die Radiohörer) und die relativ lange Nutzungsdauer – die Blätter lagen mindestens eine Woche lang aus (vgl. Bauer 1993, 297). Zu den Werbeeinnahmen kam die mehr oder weniger verdeckte Subventionierung seitens der Rundfunkgesellschaften. Diese stellten ihren ‚offiziellen‘ Organen, die bereits mit ihren Titeln ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Sender kundtaten, die Programmfahnen kostenlos zur Verfügung und außerdem Bild- und Textmaterial, das im weitgefassten Sinne im Interesse des Senders war. Aus diesen „Nebentätigkeiten“ erzielten die Führungskräfte „erkleckliche Einnahmen“ (ebd., 87). Zum Lektüreteil der Programmzeitschriften gehörten mitunter auch spezielle Angebote (Sonderseiten oder Rubriken) für Kinder und Jugendliche. Sie wurden von den Radiomachern in unterschiedlichem Maße dazu genutzt, ihre Sendungen mit Inhaltsangaben, Illustrationen und kleinen Text-Teasern zu bewerben und mit ihrem Zielpublikum durch Erzählwettbewerbe, Leserbriefe, Preisausschreiben in Interaktion zu treten.
Angebote für Kinder und Jugendliche im Hörfunk der Weimarer Republik Funk-Stunde AG Die deutschen Rundfunkanstalten nahmen von Anfang an in ihre Programme auch Sendungen auf, die explizit oder implizit an Kinder und Jugendliche adressiert waren (KJ-Sendungen). Den Anfang bildete die Funk-Stunde AG Berlin,4 die zunächst mehrmals wöchentlich 30-minütige Programme vom Ullstein-Verlag produzieren ließ (vgl. Elfert 1985, 65). Die Nähe zum Buchmarkt (Märchenvorlesungen) oder auch zum Schülertheater (klassische Dramen, für Jugendliche aufbereitet) bestimmten die ersten Programmangebote. Weiterhin wirkten sich die Reformbestrebungen seit der Jahrhundertwende (Jugend- und
4Für
einen Überblick über die einzelnen Sendeformate und Inhalte der ersten Sendejahre vgl. Pinthus [1926] 37–39 und [1928] 197–208. Zum Kinder- und Jugendfunk vgl. Elfert 1985.
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Jugendschriftenbewegung, Kunsterziehungsbewegung, Laienspielbewegung) prägend auf die Programmgestaltung aus (vgl. ebd., 18–22). Die in der Berliner Programmzeitschrift Der Deutsche Rundfunk ab 23. März 1924 angekündigten Sendungen geben noch keine konkreten Inhalte oder Stoffe preis, nur Aufschluss über die Genres der als Jugendvortrag ausgewiesenen Sendungen: Erfinder und Erfindungen (09.04.1924), Märchen und Schnurren (11.05.1924), Gedichtchen und Geschichtchen (13.04.1924), Vom Basteln und Bauen (26.03.1924), Exotische Geschichten (06.04.1924). Ab 24. September 1924 produzierte der Sender die Kinderprogramme selbst und führte ein von Adele Proesler gesprochenes Märchenformat namens Die Funkprinzessin erzählt ein, das ab Oktober zweimal wöchentlich (Sonntag und Mittwoch) gesendet wurde (vgl. ebd., 185). Jeden zweiten Mittwoch richtete sich die Sendung an eine Zielgruppe, die in der Programmankündigung als „unsere jüngsten Hörer“ (vgl. Fr. 1925), von Proesler selbst als die Gruppe der 6- (bzw. 5-) bis 10-Jährigen bezeichnet wurde (vgl. Proesler 1925b und 1925d, 1506). In der sendernahen Programmillustrierten Die Funk-Stunde erhielt Proesler Gelegenheit, die Programme relativ ausführlich anzukündigen und mit dem Zielpublikum über Fragen und Anregungen zu den Märchenerzählungen in Interaktion zu treten. So forderte sie z. B. die Kinder vor einer Lesung von Thea Harbou-Märchen auf, mit „Zeichenstift oder Pinsel“ (Proesler 1925c) die Handlung im Radio zu verfolgen; oder sie fragte, „warum am 100. Todestag von Dornröschens Zauberschlaf sich die Dornhecke so über und über mit Rosen bedeckte“ (Proesler 1925b), worauf sie eine Vielzahl von Fanbriefen erhielt, die sie im Sender vorlas (vgl. Fr. 1925). Doch kam es bald zum Bruch mit der Senderleitung. Proesler beklagte sich öffentlich, sie habe in ihren Sendungen nur trockene Wortdarbietungen „unter Ausschluß aller ‚Musike‘ und akustischen Clownspäße“ geben können, weil die „Direktion für Märchenrezitationen“ sich gegen die Finanzierung einer rundfunkgerechten musikalischen Unterstützung entschieden habe (Proesler 1925d, 1505). Ende April (nach nur sieben Monaten) wurden Proeslers Sendungen beendet, ihr wurde gekündigt (vgl. Proesler 1925a, 1199). Der Name der Sendereihe wurde noch bis Mitte 1928 für Märchen und Kindergeschichten wechselnder Autor/innen und Sprecher/innen verwendet (vgl. Elfert 1985, 95). Im März 1925 führte Alfred Braun eine Sendereihe unter dem Titel Jugend-Bühne ein, deren Inhalt klassische Dramen in einer (altersgerechten) Bearbeitung waren. Der Anfang wurde mit Schillers Räubern gemacht (28.03.1925). Es folgten Wilhelm Tell (04.04.1925), dann Prinz Friedrich von Homburg (18.04.1925) und Der zerbrochene Krug von Kleist (25.04.1925), Dramen von Goethe (Die Geschwister und Iphigenie auf Tauris), Lessing (Philotas und Nathan der Weise), Körner, Freytag, Gutzkow u. a. Diese Sendungen wurden 1928 drastisch zurückgefahren. Pinthus sah einen Grund dafür in der Tatsache, dass es sich dabei um simple „Vorlesungen von Stücken mit verteilten Rollen“ (Pinthus 1928, 208) gehandelt habe, ohne die damals bei Funkbearbeitungen für das Abendprogramm bereits eingesetzten technischen Möglichkeiten (Geräuschkulisse, Musik). Unter dem Titel Jugendbühne (Unterhaltungsstunde) firmierten 1926 und 1927 in den Programmzeitschriften auch Die Funkprinzessin erzählt-Sendungen.
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Ab 30. Oktober 1927 trat Alfred Braun am Sonntagnachmittag mit einer Kindersendung vor das Mikrofon, in der er als Kapitän Funk in Begleitung seines Hundes Crambambuli (Buli) auftrat und Abenteuer erzählte. Nach dem Vorbild des Hamburger Funkheinzelmann verarbeitete das Große Schauspielhaus in Berlin die Sendung zu einer Revue, die im Dezember 1927 an mehreren Terminen gespielt und am 4. Dezember per Liveschalte von der Berliner Funk-Stunde auch im Radio übertragen wurde. Auf Braun gehen auch die Kinderfeste in den Sommermonaten zurück, die statt des regulären Kinderprogramms produziert wurden, „unter Mitwirkung einer Anzahl von Kindern ‚geräuschvoll‘, hörbildartig mit Musikeinlagen, Rezitationen und Kasperltheater“ (Elfert 1985, 101). Im Juli 1925 wurde die Sendereihe Onkel Doktor als Märchenerzähler ins Programm genommen und bis 1927 in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt. In Märchenform wurden darin von einem Dr. med. E. Mosbacher Hygiene- und Gesundheitsthemen aufbereitet. Ab 1929 war Lisa Tetzner als freie Mitarbeiterin für die Märchensendungen zuständig (vgl. Elfert 1985, 172, 315). Sie reicherte diese mit neuen, gegenwartsbezogenen Stoffen an und beteiligte oft Kinder, was sie auch theoretisch begründete (vgl. Tetzner 1930). Ihre Formate bezogen die Kinder als Mitgestaltende ein, was bereits aus den Namen der Sendereihen hervorgeht: Kinder spielen für Kinder, Eine Geschichte ohne Ende, die die jungen Hörer und Hörerinnen zu einem guten Ende führen sollen (Letztere, mit Tetzners eigenen Texten, wurde auch von Frankfurt, Köln, München und Zürich übernommen). Ab 1. Oktober 1929 nahm Berlin täglich auch eine Jugendstunde in sein Programm auf (Jeden Tag Jugendfunk 1929; Tasiemka 1929). Ausgebaut wurden die Themenbereiche Technik, Sport, Musik und es wurde ein spezielles, der Stadt Berlin gewidmetes Format entwickelt, in der bekannte Persönlichkeiten über das Leben in der Metropole, ihre Geschichte, Originale und Besonderheiten sprachen, darunter Alfred Döblin und Walter Benjamin.5 Buchbesprechungen und -empfehlungen standen ab 1929 häufig im Programm der Jugendstunde. Ebenso wurden regelmäßig Schallplattenkonzerte für Kinder geboten, in denen Industrieschallplatten zum Einsatz kamen, u. a. mit Hörspielen von Otto Wollmann und Liesel Simon oder Märchenerzählungen von u. a. Adele Proesler oder Grete Maria Markstein. Die Namen und Inhalte waren durch den Rundfunk bekannt geworden, sie wurden von der Schallplattenindustrie verwertet und kehrten in einer weiteren Verwertung in den Rundfunk zurück.
5Die
Radiovorträge von Benjamin für den Kinderfunk in Berlin und Frankfurt wurden 1985 in Buchform publiziert (Benjamin 1985), eine Auswahl las Harald Wieser auf CD neu ein (Aufklärung für Kinder 2003).
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Nordische Rundfunk AG (Norag) Die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg profilierte sich mit dem Funkheinzelmann,6 aber auch mit Volksmärchen und volkstümlichen Dichtungen für Kinder; gelegentlich fanden auch plattdeutsche Märchenlesungen statt, oft in Kombination mit Liedern oder Instrumentalstücken. Auch die Nebensender Bremen und Hannover boten in ihrem Sendebereich Kindersendungen in der gleichen Mischung (Märchen und Lieder) an. Mit Kasperlestücken gab das Niederdeutsche Puppenspiel Kiel manchmal Gastspiele in der Norag. Funkheinzelmann, vom Programmdirektor des Senders Hans Bodenstedt erfunden und meist auch persönlich gesprochen, stieg schnell zu einem der populärsten Formate des neuen Mediums auf. Funkheinzelmann-Sendungen wurden bereits ab Herbst 1925 auch in der Berliner Funk-Stunde ausgestrahlt; sie wurden anscheinend abwechselnd in Hamburg und Berlin produziert und als Liveschalte auf den jeweils anderen Sender übertragen. Ab Mai 1926 übertrug man sie auch nach Stuttgart und auf die Mirag-Sender (Leipzig und Dresden). 1924 etablierte sich in der Norag eine Sendefolge von Alice Fliegel-Bodenstedt (der Ehefrau des Direktors), die Rezitatorin und Autorin von religiös-ökologisch motivierter Literatur war: Das musikalische Bilderbuch, offenbar eine literarische Bearbeitung der Libretti von berühmten Opern für ein jugendliches Publikum. Die Sendung rückte am 7. Januar 1925 mit Margarethe nach Charles Gounod ins Abendprogramm, der Zusatz „für die Jugend“ fiel weg. Fliegel gestaltete kurzzeitig auch eine speziell an Mädchen adressierte Sendereihe, Funkheinzelmanns Mädchenstunde (12 Folgen von September bis November 1926), mit hauptsächlich eigenen Erzählungen in musikalischer Umrahmung. 1928 nahm die Norag ein weiteres Zielgruppenformat ins Programm: die Deutsche Jugendstunde am Montagnachmittag mit unterschiedlichem Angebot, meist Lesungen von Abenteuer- und sonstigen Geschichten, für Kinder ab etwa zehn Jahren. Hier kamen auch Kinder mit eigenen Darbietungen (meist musikalischer Natur) zu Gehör. Eine Besonderheit der Norag waren die Aufsatzstunden von Wilhelm Lamszus, eigentlich eine kreative Schreibwerkstatt für Schülerinnen und Schüler, später unter Kindertheater im Rahmen der Deutschen Jugendstunde gesendet. Lamszus selbst verband damit nicht nur reformpädagogische Vorstellungen (vgl. Elfert 1985, 22), sondern durchaus die Ambition, „so etwas wie ein Kindertheater von unten“ zu entwickeln und dem Rundfunk einen „produktiven Nachwuchs zuzuführen“ (Lamszus 1930, 307).
6Vgl.
dazu den Beitrag von Annemarie Weber in diesem Band.
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Südwestdeutscher Rundfunkdienst AG (SWR) Der Frankfurter Sender Südwestdeutscher Rundfunkdienst AG (SWR)7 startete am 27.04.1924 eine sonntägliche Nachmittagssendung für Kinder unter dem Titel Der gute Märchenonkel, im Mai abgelöst von Kindernachmittag[en], jeweils ohne konkrete Inhaltsangabe in der Programmankündigung. Erst im Oktober 1925 etablierte sich im Frankfurter Studio an sechs Tagen der Woche eine Stunde der Jugend unter der Leitung des freien Mitarbeiters Karl Wehrhan, Rektor der VoltaMittelschule in Frankfurt und Lehrbuchautor (vgl. Diller 1975, 215). Er betreute unterschiedliche Themensendungen, davon eine rein musikalische und eine berufsorientierende Sendung pro Woche, ab 1926 auch eine Ratespielsendung (vgl. Wehrhan 1927). Es sind in dieser Zeit die einzigen Sendungen mit Altersempfehlungen im gesamten deutschen Rundfunkprogramm. Die Zuschreibungen Jugend und Kinder werden synonym gebraucht. Die Stunde der Jugend war an Kinder adressiert, die Altersspanne reichte von vier bis vierzehn Jahre.8 Wehrhans Sendereihen gehörten zu den langlebigsten im deutschen Rundfunk (sie sind bis Mai 1933 nachweisbar).9 Aus dem deutschen Märchenborn richtete sich an Kinder ab vier Jahren und beinhaltete die bekannten Märchenstoffe von Andersen, Bechstein, Grimm, Hauff, Reinheimer, gelegentlich aber auch moderne Stoffe zeitgenössischer Autoren wie die Industriemärchen von Heinrich Kautz oder die Maschinenmärchen von Ella Iranyi. Auch Lisa Tetzner bekam mit einem interaktiven Format, den Geschichten ohne Ende, hier einen Sendeplatz (aber auch bei den Sendeanstalten in Stuttgart, Köln, München und Zürich). Die Kinder wurden aufgefordert, sich ein Ende der jeweiligen Story auszudenken, es an den Sender einzuschicken; die besten Einsendungen wurden vorgelesen. Die Serie Aus dem Buch der Sage und Geschichte öffnete ein weites Spektrum von Stoffen, das von Münchhausen und Till Eulenspiegel bis zur Faustsage reichte, von Siegfried, dem Drachentöter, bis zu Gutenberg, dem Erfinder des Buchdrucks, von lokalen Frankfurter Sagengestalten bis zu Friedrich Ebert, unser erster Reichspräsident (04.06.1930). Die Kasperlestunde wurde von einem Gastensemble bestritten, und zwar von Liesel Simons Kasperltheater, einer kleinen Frankfurter Wanderbühne, die deutschlandweit unterwegs war. Liesel Simon war mit Bearbeitungen von Pocci, Grimm oder auch eigenen Stücken regelmäßig in
7Zu
den Strukturen und Entwicklungen des Frankfurter Rundfunks, insbesondere auch unter den Nationalsozialisten, vgl. Diller 1975. 8Auch andere Sender verwendeten die beiden Begriffe ohne Altersunterscheidung. So wird Bonsels Biene Maja 1927 von Radio Zürich zunächst unter der Spitzmarke Kinderstunde ausgestrahlt, wenige Tage später wird ein weiteres Kapitel in einer Jugendstunde vorgelesen. Königsberg sendete 1925 und 1926 Märchen für die jüngste Jugend und Erzählungen für die reifere Jugend. 9Wehrhan wurde 1933 in den Ruhestand versetzt, wegen eines Herzleidens, wie es im Lexikon westfälischer Autorinnen und Autoren heißt (vgl. https://www.lexikon-westfaelischer-autorinnenund-autoren.de/autoren/wehrhan-karl/#biographie, 26.03.2020).
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der Frankfurter Jugendstunde zu Gast. Ihre Popularität führte zu etlichen Schallplattenaufnahmen, die von allen deutschen Sendern gesendet wurden. Für die reifere Jugend sendete der SWR von September 1924 bis November 1927 regelmäßig am Samstagnachmittag eine Lesestunde, die ohne Zielgruppenadressierung bis November 1929 fortgesetzt wurde (vgl. Wittenbrink 1997, 998 f.) und in der Tier- und Abenteuergeschichten in z. T. monatelangen Serien gelesen wurden: z. B. Das Wirtshaus im Spessart von Hauff 1926/1927 in elf Wochen, Der Oberhof von Immermann 1927/1928 in 17 Folgen, Ivanhoe von Walter Scott sogar ein ganzes Jahr lang von Januar 1928 bis Januar 1929.
Süddeutsche Rundfunk A. G. (Sürag) Die Süddeutsche Rundfunk A. G. (Sürag) Stuttgart10 begann am 31. Mai 1924 mit einem zunächst nicht weiter spezifizierten musikalisch begleiteten Kindernachmittag, ab Ende August 1924 wurde der Inhalt der Sendung in der Regel mit Sagen, Märchen, Fabeln angegeben. Im Januar 1925 wurde für eine nun regelmäßige Samstagsendung die Erzählerfigur Gretle von Strümpfelbach eingeführt. Wer diese Figur spricht, wird nicht angegeben. Gemäß Elfert (1985, 299, FN 25) steckte hinter der Kunstfigur Sophie Tschorn, die unter eigenem Namen vor allem ab 1933 Kindersendungen gestaltete. In der Regel begnügte sich die Programmangabe mit dem Titel der Reihe,’s Gretle von Strümpfelbach erzählt. Belegt ist, dass Kinder ins Studio eingeladen wurden und gelegentlich eigene Beiträge vortragen konnten; auch Fanpost und schwäbische Märchen wurden vorgelesen (vgl. K. W. 1926). Andere, durch detailliertere Programmangaben dokumentierte Sendungen, die Tante Gretle als (Mit-)Gestalterin anführen, waren Mischformate, die man mit Wittenbrink (1997) unter dem Begriff Hörfolge zusammenfassen könnte: eine „Montage aus literarischen Zitaten, Musik und Reportage, durch einen thematischen sowie szenischen oder akustischen Rahmen zusammengehalten“ (ebd., 1033). Die Gewichtung zwischen fiction und faction schwankte. So überwogen in einer Sendung aus dem Cannstatter Freibad vermutlich die reportagehaften Elemente (Mutterle, darf i heut ens Schwemme? 17.07.1930), in einer Collage aus „wahren Storchengeschichten“ (Storch–Storch– Schnibel–Schnabel, 17.07.1929) vermutlich eher die fiktionale Narration. In der Darstellung des Senders handelte es sich bei diesem Format schlicht um eine fröhliche bzw. bunte Kinderstunde bzw. einen ebensolchen Kindernachmittag. Ein fester Mitarbeiter Gretles war Georg Ott,11 der selbst eine weitere zielgruppenadressierte Sendereihe der Sürag betreute, das Kasperltheater. Er bearbeitete bekannte Stücke von Pocci oder Märchen von Grimm, führte Regie und sprach
10Zur
politischen und strukturellen Geschichte der süddeutschen Sendergruppe bis einschließlich 1933 vgl. Grube 1976. 11Pseudonym, bürgerlicher Name Eugen Essig.
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den Kasperl. Als regelmäßiger Mitarbeiter der Kinderstunde ist Ott bis 1930 belegt (gelegentlich kommt er auch 1935 und 1937 vor); Halefeldt (1997, 75) behauptet indes, Ott habe den Sender bereits 1928 verlassen. Für eine weitere wöchentliche Jugendstunde werden nur die Namen der Gestalter – Elsa Pfeiffer und Karl Köstlin – angegeben, keine Informationen zum Programminhalt. Dass hier regelmäßig das Rundfunkorchester in den Programmangaben vorkommt, lässt auf ein eher musikalisches Format schließen. Ein ganzes Jahr lang (von Mai 1926 bis Mai 1927) übernahm die Sürag den sonntäglichen Funkheinzelmann der Norag, der über Berlin auf mehrere deutsche Sender (auch Dresden, Leipzig, Stettin, Deutsche Welle) übertragen wurde. Ab Ende November 1926 gingen weitere Sender der Sürag an den Start: Freiburg, Mannheim, Karlsruhe. Auch diese Nebensender produzierten gelegentlich an Kinder und Jugendliche adressierte Programme. Ab 1929 gab es dank einer damals vereinbarten engen Programmgemeinschaft zwischen SWR und Sürag regelmäßige gegenseitige Übernahmen auch von KJ-Sendungen (vgl. Halefeldt 1997, 148).
Deutsche Stunde in Bayern GmbH Die erste Zielgruppensendung des Münchner Senders Deutsche Stunde in Bayern GmbH stand unter Heitere Kindergedichte und lustige Märchen am 4. Juni 1924 im Programm. Weitere ähnliche, inhaltlich nicht weiter spezifizierte Angebote folgten in größeren Abständen und mit wechselnden Sprecher/innen. Ab Februar 1925 hieß die Sendung Für unsere Kinder, darauf folgte im Tagesprogramm in der Regel ein Sendeangebot für Eltern und Erzieher/innen. Am 15. September 1926 benannte man die Sendung in Stunde der Jugend um, ab 20. Oktober in Jugendstunde. Die Bezeichnungen wurden inklusiv gebraucht und bezeichneten nicht unterschiedliche Altersgruppen. Die KJ-Sendungen wurden Ende 1926 auf anderthalb, im Laufe des Jahres 1927 auf bis zu zwei Stunden ausgeweitet. Im Unterschied zu allen anderen Sendern gab die Münchner Deutsche Stunde bis Ende 1927 in den Programmzeitschriften auch die Sendezeiten der einzelnen Programmpunkte an. Über die Programmgestalter ist wenig bekannt. In einem wohlwollenden Artikel über Frau und Kind im Münchener Rundfunk wird „Onkel“ Otto Willner gelobt für seine „herzenswarme Art mit den Kleinen zu plaudern und zu zeichnen“, und die Vortragskunst der Märchenerzählerin Maria Devera (hier fälschlich als „Tantchen Denera“) als „unnachahmlich“ hervorgehoben (R. Z. 1926). 1929 wurde die Leitung des Frauen- und Kinderfunks Ewis Borkmann anvertraut, ab 1931 Marie Buczkowska (vgl. Elfert 1985, 316; Dinghaus 2002, 48). Borkmann hatte vorher den Frauenfunk geleitet, möglicherweise wurden die beiden Zielgruppenabteilungen 1929 zusammengelegt. Unter Borkmanns Leitung wurden beide Programmsparten ausgebaut (vgl. Dinghaus 2002, 230). Der Deutsche Rundfunk berichtete aus Anlass der Geschäftsübernahme von Borkmann – der Ehefrau des
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Intendanten, wie das Blatt hervorhebt – ausführlich über den Münchner Kinderfunk (vgl. Zoellner 1929). Sein Angebot war nach Altersgruppen und Genres diversifiziert: Am Anfang der wöchentlichen Sendung stand die Kinderstunde, es folgte die Jugendstunde. Die Kinderstunde wiederum war unterteilt in Sendezeit „für die Allerkleinsten“ und für Kinder von 7–12 Jahren. Die Jugendstunde war, so Zoellner, für die „heranwachsende Jugend“, d. h. die 12- bis 17-Jährigen intendiert (vgl. ebd.). Als Genres der Kinderstunde werden aufgezählt: Abzählreime, Lieder, Märchenspiele (mit Beteiligung der „Allerkleinsten“), Kasperlespiele, klassische Märchen, aber auch Erzählungen, die Alltagsthemen aufgreifen („Hygiene, anständiges Benehmen, Gefahren der Straße“) und Bastelstunden. Die Jugendstunde bot Hörspielbearbeitungen klassischer Literatur, Lesungen aus Reise-, Abenteuer- und Tiergeschichten, leichte, klassische Musikstücke, aber auch Berufsberatung. Der Artikel weist auf die Abschaffung der Geschlechtertrennung hin. Bis Oktober 1928 gab es zum Abschluss der Jugendstunde einen Schachfunk für Knaben und bis Mitte 1928 auch gelegentlich ein Mädchenkränzchen – aber ein „modernes Mädel“ habe heute kein Interesse mehr daran. Die Darbietungen („kleine Stücke, Gesänge und Tanzlieder“) der Schülerinnen einer Münchner Mädchenschule, unter Leitung ihrer Lehrerin Teresa Roth, wird extra hervorgehoben, ebenso das Kasperltheater von Otto Willner und Hauptlehrer Neuhäusler (der mit Kindern der Schwind-Schule etliche Darbietungen bestritt) sowie die „einfühlsamen“ Lesungen von Georg Gidalewitsch. Angekündigt werden drei neue Reihen, von denen jedoch nur Einzelsendungen nachweisbar sind: Helden von heute (eine Sendung, 03.07.1929) und Berühmte Menschen (kein Nachweis, die Reihe Aus dem Leben berühmter – bzw. erfolgreicher – Männer gab es bereits vor 1929) sowie die Jugendbuch-Reihe Jugendbücherfunk (eine Sendung, 29.05.1929), in der (auch) Schüler zu Wort kommen sollten. Gelegentlich produzierte auch der am 08.08.1925 eröffnete Nebensender Nürnberg die KJ-Mittwochprogramme, meist mit lokalem Schwerpunkt; sie wurden auch auf den Hauptsender übertragen.
Ostmarken-Rundfunk AG (Orag) Die Ostmarken-Rundfunk AG (Orag) Königsberg kündigte noch vor Sendebeginn (14.06.1924) in der Berliner Programmzeitschrift eine Nachmittagssendung mit Märchenerzählungen an, mit dem Vermerk „nicht täglich“ (Königsberger Vortragsfolgen 1924). Die erste nachweisbare Märchensendung steht am 2. August 1924 im Programm. Die weiteren Märchenerzählungen sind bereits zielgruppenadressiert, wobei die Formulierungen wechseln zwischen für unsere Kinder, für unsere Jugend, für die reifere Jugend, für die jüngste Jugend (womit Kinder im üblichen Sinne gemeint waren). Stoffe oder konkrete Inhalte wurden im ersten Jahr in der Programmpresse noch nicht mitgeteilt. Gesprochen wurden die ersten
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Sendungen von Joseph Christean, dem Leiter des Senders, im Wechsel mit Kurt Lesing, der im kleinen Anfangsensemble auch als Musiker im Einsatz war (vgl. Fünf Jahre Rundfunkleiter 1929). 1926 traten vielfach Hedi Kettner (die Frau Christeans) als Sprecherin und ab 1927 Walther Ottendorf, der literarische Leiter des Senders (vgl. Halefeldt 1997, 79), als Sprecher in Erscheinung. Ab August 1925 diversifizierte die Orag ihr Angebot mit einer Unterhaltungsstunde für die reifere Jugend (ohne weitere Angaben). Daraus wurde 1927 eine Jugendstunde, in der historische, Tier- und Abenteuererzählungen (u. a. von Freytag, Seton, Löns), vorgelesen wurden (Sprecher: Michael Pichon, Robert Marlitz, Paul Lewitt). Häufig nutzte man auch den alternativen Reihentitel Literarische Jugendstunde. Die Sendereihe wurde 1929 ausgebaut, u. a. mit der kleinen Unterreihe Der arbeitende Mensch in der erzählenden Literatur. 1930 wurde auch diese ursprünglich an die reifere Jugend adressierte Sendung für Kinder im Märchenalter geöffnet, vor allem durch die Sprecherin und Autorin Marion Lindt, die parallel dazu auch im Märchenfunk bzw. Kinderfunk der Orag sprach. Die ersten Hörspiele wurden von der Orag im November 1925 gesendet (Grimm-Bearbeitungen von Josef Bürkner). Die Kooperation mit den Königsberger Theatern war eng, nicht zuletzt, weil Christean selbst und seine ersten Mitarbeiter vom Theater kamen (vgl. Halefeldt 1997, 42). Im Dezember 1925 führten die Rundfunkkünstler/innen Robert Bürkners Schneeweißchen und Rosenrot zuerst in der Komischen Oper auf, danach erst bearbeiteten sie es für den Rundfunk (27.12.1925). Anfang 1926 wurden unter dem Reihentitel Jugendbühne auch drei klassische Dramen gesendet (ohne Angaben von Regie oder Sprecher): Lessings Nathan (12.01.1926), Goethes Götz (04.03.1926) und Grillparzers Sappho (18.03.1926). Die Hörspielreihe wurde 1927 nur zaghaft fortgesetzt, u. a. mit zwei weiteren Märchenbearbeitungen von Bürkner, 1928 dann stark erweitert und mit funkspezifischen Themen angereichert: Die abenteuerlichen Reisen des Freiherrn von Funkhausen von Arthur Lokesch (17.10.1928 und 04.11.1928). Der meist gespielte Autor bis 1932 war Otto Wollmann (mit Bearbeitungen von Grimm, Busch, Andersen, Storm u. a.), am häufigsten führte Kurt Lesing Regie. Da die „Pflege des Heimatsinnes zu den Hauptaufgaben des Provinzsenders“ (Kollatz 1925) gehöre, veranstaltete die Orag regelmäßig Sendungen (häufig humoristischer Natur) im ortsüblichen Dialekt; es wurden demzufolge auch Kindersendungen in ostpreußischer Mundart und Märchen von Dichtern aus der Region (z. B. Manfred Kyber) vorgelesen. Ende September 1926 ging in Danzig ein Nebensender der Orag an den Start, der zwei- bis dreimal wöchentlich eigene Programme produzierte, darunter auch eine Kinderstunde bzw. Märchenstunde, bestritten hauptsächlich von der Märchenfrau Elsa Faber von Bockelmann. 1928 wurde auch eine Jugendstunde eingeführt (mit Reise-, Jagd-, Abenteuererzählungen), 1931 kam eine Bastelstunde für unsere Kleinen hinzu.
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Schlesische Funkstunde AG (Breslau) Die Schlesische Funkstunde AG (Breslau)12 sendete laut Programmankündigung am Samstag, 14. Juni 1924, ihre erste Zielgruppensendung mit Märchen für Kinder. In unregelmäßigen Abständen folgten weitere Sendungen dieser Art. Die Ankündigung bleibt auch weiterhin bei dem generischen Titel und nennt keine Programmdetails. Von Juni bis August 1925 lief die von der Sprecherin Kitty Seiffert bestrittene Märchensendung unter dem Titel Im Hasenwunderland. Seiffert machte, wie auch Ilse Obrig in Leipzig oder Lisa Tetzner in Berlin, ab 1929 aus dem unilateralen Märchenerzählen eine interaktive Spiel-, Bastel- und Märchenstunde mit Kindern (ihrer Schar) im Studio. Weitere Gestalterinnen und Sprecherinnen der Märchenstunde mit häufiger Präsenz waren Christa Niesel-Lessenthien (1926–1931), Margot Eckstein (Ende 1927 bis 1932), der Märchenonkel Friedrich Reinicke (1925–1938) und Ludwig Barg (1926–1927). Außer den üblichen Märchen kamen 1927 an 16 Terminen Loftings Doktor Dolittle zu Gehör (gelesen von Kitty Seiffert), 1928 Kai in der Kiste von Durian (fünf Termine, gelesen von Friedrich Reinicke), 1929 Max Ophüls Fips und Stips auf Kinderwelle 325 in der Regie von Peer Lhot (zehn Termine; vgl. auch Asper 1998, 175–178, 687). Von 1926 bis 1931 betreute Reinicke die in lockerer Folge produzierte Sendereihe Funkkasperles Kindernachmittag (ohne Inhaltsangaben in der Programmzeitschrift). Im Dezember 1925 richtete man für 14- bis 16-Jährige eine literarische Jugendstunde ein, für deren Leitung der Studienrat Fritz Wenzel13 an den Sender geholt wurde (vgl. Elfert 1985, 316). Wenzel ließ Szenen aus volkstümlichen Werken (u. a. Faust, Rübezahl, Till Eulenspiegel, Schwänke von Hans Sachs) von einer sendereigenen Jugendspielschar aufführen und sprach dazu einführende Worte. Hinzu kam klassischer Schulstoff (u. a. Gryphius, Lessing, Hölderlin, Fontane). Hörspiele wurden ab Dezember 1925 produziert, als erstes Peterchens Mondfahrt14 von Bassewitz, das im Oktober an drei Sendeterminen zunächst erzählt wurde und ab Weihnachten an drei Tagen als Märchenspiel in der Regie von Friedrich Reinicke auf dem Programm stand. Ende Oktober 1926 kündigte der Sender eine neue Programmstruktur an, in der auch die zwei KJ-Zielgruppensendungen einen festen Sendeplatz bekamen: jeden zweiten Donnerstag die literarische Jugendstunde und am Freitag die Kinderstunde (vgl. H. U. 1926). Die Zielgruppensendungen wurden später um neue Formate und Charaktere und mehr Sendetage erweitert. Margot Eckstein
12Zum
Aufbau und zur Entwicklung des Senders aus der Perspektive der 1940er-Jahre vgl. die Dissertation von Elven 1945. 13Wenzel profilierte sich in Breslau vor allem als Sportredakteur und Reporter und leitete 1von 1929 bis 1935 die Aktuelle Abteilung des Senders (vgl. Halefeldt 1997, 84 f.). 1935 wurde er entlassen und kehrte in den Schuldienst zurück. In seiner Zeit galt er als „einer der besten Sportsprecher und Reportageleiter des deutschen Rundfunks“ Elven 1945, 28. 14Vgl. dazu den Beitrag von Julia Benner in diesem Band.
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erzählte von August 1928 bis August 1931 Geschichten vom Funkpurzel. Von September 1929 bis April 1931 gab es am Freitag eine Kinderzeitung mit den Protagonisten Schnuffibus und dem Zeitungsonkel (Peer Lhot und Ewald Fröhlich). Die Vorschauen lassen auf Reportagen zu Themen aus der Umwelt der Kinder schließen. Funkpurzel führte am 07.06.1931 in die Bleistiftfabrik, am 30.04.1931 durch die Ruinen des historischen Breslau, am 08.01.1931 in den Kinderhort und am 29.06.1931 empfing er Reiseberichte des Zeitungsonkels; dieser wiederum scheint an Neuigkeiten aus Sport, Theater und Film interessiert gewesen zu sein: Am 31.08.1931 besuchte er eine Kasperletheater-Werkstatt, am 28.02.1931 ein Sechstagerennen in der Sportarena und im Oktober und November stand Kater Micky im Fokus. Am 15. November 1925 wurde der Nebensender Gleiwitz eröffnet. Eine erste an Kinder adressierte Märchenstunde findet sich erst ein Jahr später im Programm des Gleiwitzer Senders (12.12.1926). Als Erzähler trat hier am häufigsten der Schriftsteller und Studioleiter Paul Kania in Erscheinung.
Mitteldeutsche Rundfunk AG (Mirag) Die Mitteldeutsche Rundfunk AG (Mirag) Leipzig begann ihr Kinderprogramm am Mittwoch, 9. Juli 1924, mit einem nicht weiter spezifizierten Märchennachmittag für Kinder. Erst 1926 wurden auch konkretere Programmangaben gemacht. 1927 erscheinen die Märchennachmittage zurückgedrängt zugunsten des neuen Sendeformats Aus dem Schatzkästlein für die Jugend. Es handelte sich um eine Mischform, die Elfert als Hörbild bezeichnet: eine thematisch zusammengehaltene „Kombination verschiedener Beiträge, z. B. Rezitationen, einleitende, überleitende oder kommentierende Vorträge, Kurzreportagen, Dialoge, kleinere Spielszenen, Geräuschkulissen sowie Musikeinspielungen“ (Elfert 1985, 213). Die Rahmenthemen hießen u. a.: Von tapferen Jungens (31.08.1927), Tiere und Menschen (14.09.1927), Von kleinen Ausreißern (01.06.1927). 1929 wurde das Angebot für Kinder und Jugendliche deutlich erweitert. Zur Mittwochsendung kam im Frühjahr eine samstägliche Bastelstunde hinzu, im Herbst wurde am Donnerstag eine Geschichten- und Liederstunde für die Jugend eingeführt. Die Mittwochsendung war öfter altersgerecht unterteilt in einen ersten Abschnitt Für die Kleineren, gefolgt von einem zweiten Teil Für die Größeren. Am Dienstag wurden im Zweiwochentakt, vor Feiertagen auch wöchentlich, einem erwachsenen Zielpublikum Jugendbücher vorgestellt und empfohlen. Ab November 1929 richtete sich diese Sendung nicht mehr an die Erziehungsberechtigten, sondern als Bücherstunde der Jugend direkt an die jugendlichen Hörer/innen. Die Planung der ersten sechs Folgen der Reihe sah folgende Genres vor: „12. Nov.: Neue Bilderbücher. 19. Nov.: Weihnachtsspiele. 26. Nov.: Bücher für Knaben. 3. Dez.: Märchen aus aller Welt. 10. Dez.: Bücher, die von Weihnachten handeln. 17. Dez.: Bücher für Mädchen.“ (Achtung! Achtung! 1929). Mitte Dezember beschloss der Sender, für die schulentlassene Hörerschaft eine
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weitere zweiwöchentliche Samstagsendung einzurichten, die sich unter dem Namen Stunde der Jugendlichen vor allem mit Themen der arbeitenden jungen Erwachsenen auseinandersetzen sollte (vgl. Findeisen 1929a). Parallel zur Erweiterung des Sendeangebotes für Kinder und Jugendliche führte die sendernahe Programmzeitschrift Die Mirag Anfang Oktober 1929 (Heft 39) eine Sonderseite unter dem Titel Jugend-Funk ein (später: Die Kleine Mirag, ab 1934 Die junge Front). Hinweise auf das Programm, kurze Auszüge aus bekannten Jugendbüchern, Illustrationen zu den Sendungen und eine Rubrik Briefkasten gehörten zum Profil der Seite. Den Leitartikel zur ersten Ausgabe schrieb Kurt Arnold Findeisen (1929c), der die Kinderseite zusammen mit Herbert Roth auch redaktionell betreute. Findeisen war hauptamtlich literarischer Leiter des Dresdner Studios (vgl. Halefeldt 1997, 79) und betreute (ähnlich wie Hans Bodenstedt, der künstlerische Leiter der Norag in Hamburg) die KJ-Sparte mit. In seiner führenden Position gelang ihm an der Mirag Ähnliches wie Bodenstedt in Hamburg: der Ausbau des KJ-Funks sowohl zeitlich als auch genre- und inhaltsmäßig und seine entsprechende Positionierung in einem begleitenden Printmedium. Seine künstlerischen Ansprüche als Schriftsteller und seine pädagogischen Erfahrungen als Volksschullehrer kamen auch den von ihm betreuten und z. T. selbst gestalteten Sendungen (Hörspiele, musikalisch-literarische Hörbilder, Buchempfehlungen, Schulfunkstunden etc.) zugute. Als Schriftsteller nutzte er – wie Bodenstedt – die Verwertungsmöglichkeiten beider Medien. Findeisen las und bearbeitete seine Bücher im bzw. für den Hörfunk (u. a. Klaviergeschichten, gedruckt 1920, mehrere Sendetermine 1929 und 1930; Der Sohn der Wälder, gedruckt 1922 und 1925, Lesungen am 07.05.1931 in Hamburg und am 08.07.1931 in München, als Hörbilderfolge am 28.02.1932 im Studio Dresden); umgekehrt verwertete er seine Sendungen in Buchform (Volksliedgeschichten, gesendet 17.04.1928, 05.12.1929, 13.11.1930, 30.06.1931, gedruckt 1932). Findeisen probierte sich auch als Hörspielautor, nicht zuletzt aus Enttäuschung über das Hörspielangebot der Sender. Das Genre sei noch immer zu sehr dem „überlieferten süßlich-kitschigen, zum mindesten romantisch-sentimentalen Stil“ verhaftet; das Hörspiel müsse endlich der Entwicklung der Jugendliteratur folgen und „der sportfreudigen, unromantischen, aktivistischen Einstellung der heutigen Jugend Rechnung tragen“ (Findeisen 1930). Als Gegenentwurf schreibt Findeisen ein modernes Schlaraffenlandspiel, das er im Jugend-Funk der Mirag vorstellt mit der rhetorischen Frage, ob es denn für die jungen Leute heute nicht wünschenswerter wäre, wenn „statt eines gepökelten Schweins ein zackiger vierzylindriger Opelwagen“ vorkäme und „statt gebratener Tauben Flugzeuge und Zeppeline die Luft durchschwirrten“. Und wäre „ein solides Drahtgitter um einen Tennisplatz oder eine Spielwiese […] nicht zum mindesten ebenso viel wert wie ein Zaun aus Bratwürsten?“ (Findeisen 1929b) Das Schlaraffenlandspiel wurde am 13.11.1929 in der Regie von Josef Krahé von der Mirag uraufgeführt, am 22.01.1930 wiederholt, am 26.04.1930 auch von Radio Wien gespielt und am 26.10.1931 von der Norag als Schülerdarbietung gesendet.
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Mit Hörspielbearbeitungen für ein junges Publikum und häufig als Regisseur stand auch Hans Peter Schmiedel, der literarische Leiter des Mirag-Hauptstudios Leipzig, im Programm. Eine Besonderheit des Mirag-Jugendfunks waren die naturkundlichen Hörspiele von Erna Moser (1929–1931), die ihre Themen (Zugvögel, Spinnen, Leben in Eis und Schnee, Amazonas) regelmäßig auch auf der Kinderseite der Programmzeitschrift vorstellte und bewarb. Ilse Obrig, die ab 1928 für die Mirag arbeitete (vgl. Halefeldt 1997, 310), entwickelte eine interaktive Spielstunde für Kinder, in der sie mit Kindern im Studio live über Bücher plauderte, turnte, bastelte, sang. Ein Teil der Sendungen waren als Stegreifspiele konzipiert, ihre Handlungsträger waren die zahleichen Mitglieder der Familie Fröhlich, deren Erlebnisse im Zoo, im Zirkus, in der Puppenschule und auf der Puppenhochzeit, beim Bau einer Zwergenstadt oder auf Weltreise im Wohnzimmer etc. aufgrund von Anregungen aus der Zielgruppe und unter Mitwirkung von Kindern entwickelt und produziert wurden (vgl. Obrig 1930).
Westdeutsche Funkstunde AG (Wefag) – Westdeutsche Rundfunk AG (Werag) Am 10. Oktober 1924 ging als letzter deutscher Regionalsender die Westdeutsche Funkstunde AG (Wefag) in Münster auf Sendung.15 Bereits am 5. November nahm sie eine regelmäßige Kinder(märchen)sendung ins Programm auf. Im September 1925 kamen die Wefag-Studios in Dortmund und Elberfeld mit eigenen Programmen dazu. Ab Oktober 1925 nahm das Elberfelder Studio Funkheinzelmann-Sendungen ins Programm auf, mit eigenen Sprechern (Carl Weinlein, später Rudolf Rauher); dazu spielte häufig das Funkheinzelmannorchester. Ein nicht näher spezifiziertes Mädchenkränzchen am Sonntag bestritt die auch mit Märchenvorlesungen und anderen Rezitationen im Programm anwesende Marta (Martha) Walter. Im August 1926 wurde der Sitz der Wefag von Münster nach Köln verlegt, wo ein sogenannter Großsender errichtet und Anfang 1927 eröffnet wurde. Gleichzeitig wurde der Sender Elberfeld geschlossen. Die Wefag wurde in Werag (Westdeutsche Rundfunk AG) umbenannt (vgl. Bierbach 1974). Im Januar 1927 übernahm der Pädagoge Rudolf Simon (Dozent für Sprecherziehung am Kölner Zentral-Institut für Erziehung und Unterricht) die wöchentliche Kinderstunde des Kölner Senders. Sein Konzept und die Struktur des Sendeprogramms erläuterte er ausführlich in der Programmzeitschrift des Senders. Das Angebot „muß nach Inhalt und Form literarisch und künstlerisch einwandfrei und wertvoll sein“ (Simon 1927), war sein an Wolgasts Forderung für das Kinderbuch erinnernde Credo. Eine kindertümliche Zurechtmachung des Stoffs
15Zu
der institutionellen Entwicklung von Wefag und Werag vgl. die in Först 1974 versammelten Beiträge, insbes. den von Bierbach; zu den Verflechtungen des Senders mit der Programmpresse vgl. Bauer 1993, 116–132, passim.
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lehnte Simon kategorisch ab: „Die Jugendstunde soll reine Freude bringen“ (ebd., Hervorh. i. O. unterstrichen). Die knappe Sendezeit von nur einer Stunde am Sonntagnachmittag war eingeteilt in einen Kinderfunk für das sogenannte Märchenalter (etwa bis zum 10. Lebensjahr) und einen Jugendfunk (bis zum 15. Lebensjahr) mit je einer halben Stunde Sendezeit. Um das Angebot zu diversifizieren, alternierten im Kinderfunk Märchen mit Schwänken und im Jugendfunk Abenteuerlektüre mit Sagen und Dichterporträts. Die entsprechenden Sendungen wurden von Anbeginn als Reihen konzipiert. Jeder zweite Sonntag war für beide Altersgruppen der Musik vorbehalten. Anfang 1929 führte Köln eine weitere (tägliche) Kinderspielstunde ein, geleitet von Els Vordemberge. Sie richtete sich vor allem an kleinere Kinder und bot hauptsächlich Spiele, Lieder, Basteln, Zeichnen, Plaudereien zu diversen Sachthemen und auch gelegentlich Kindergeschichten und Märchenerzählungen. Das populäre Kölner Hänneschen-Theater (eine Handpuppenbühne) gab gelegentlich Gastspiele in ihrer Sendung, die auch nach Vordemberges Entlassung 1933 aus dem Rundfunk (vgl. Schütte 1971, 135) bis 1937 nachweisbar sind. Der Schulfunk nahm im Programm der Werag mehr Raum ein als bei den anderen Regionalsendern, weil ihr durch eine Ausnahmeregelung auch die Belieferung der höheren Schulen mit schulunterstützenden Rundfunkprogrammen gestattet wurde, wofür ansonsten die Deutsche Welle zuständig war (vgl. Bierbach 1974, 210 f.). Literatur aus dem Schulkanon wurde im Deutschkundlichen Schulfunk zielgruppenadressiert und meist thematisch sortiert vorgestellt und gelesen, etwa zu den Themen Das Tier in der Dichtung (20.06.1931), Die Industrie in Kunst und Dichtung (06.12.1930), Sport als dichterisches Motiv (23.04.1932) oder Das Bild Napoleons im deutschen Gedicht (22.11.1930), jeweils für die Mittelstufe höherer Lehranstalten aufbereitet. Aufgegriffen wurden auch regionale Themen, etwa: Die Kölner Mundart (04.07.1931 – für die Oberstufe) oder Rheinische Landschaft vom Dichter gemalt (24.09.1932 – für die Mittelstufe).
Deutsche Welle GmbH Im Dezember 1927 richtete auch die Deutsche Welle16 (in der Programmpresse wie oben angeführt nach dem Standort der Sendeanlage mit Königswusterhausen angegeben) ein Kinderprogramm ein, das sechsmal die Woche (von Montag bis Samstag) zur gleichen Uhrzeit (14:20) als knapp halbstündige Sendung angeboten wurde. Drei Tage der Woche waren literarischen Themen gewidmet – am Montag Märchen für die kleineren Zuhörer, Mittwoch Hörspiele für die gleiche Zielgruppe und Donnerstag Abenteuer- und Reiseschilderungen für die größeren Kinder.
16Zur
Deutschen Welle vgl. die umfassende Studie von Rolfes 1992; vgl. auch Halefeldt 1997, 123–134.
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Natur, Basteln und Musik waren die Themenbereiche der übrigen Sendungen (vgl. Stiemer 1927; Ein Kinderfunk der „Deutschen Welle“ 1927). Die Deutsche Welle profilierte sich im Hörspielbereich mit den Märchenbearbeitungen ihres freien Mitarbeiters Otto Wollmann in der Regie des Hausregisseurs Konrad Dürre, oft mit Musik von Lilly Dürre. Konrad Dürre verantwortete bei der Deutschen Welle u. a. den Kinderfunk und die künstlerisch-literarischen Sendungen (vgl. Halefeldt 1997, 131). Von der Kritik hochgeschätzt (vgl. Günther 1931), erfreuten sich diese Hörspiele auch bei den anderen Sendern größter Popularität. Wollmann selbst war davon überzeugt, dass das Theater im Rundfunk für das Kind „etwas Großes und Ernstes“ sei (Wollmann 1930). Er bevorzugte die klassischen Märchenstoffe von Grimm, Hauff, Andersen, Märchen aus 1001 Nacht und bekannte Sagen (Rübezahl, Der Rattenfänger von Hameln, Reineke Fuchs, Loreley) und weitere populäre Stoffe der Kinder- und Jugendliteratur (Max und Moritz, Struwwelpeter, Pole Poppenspäler, Robinson Crusoe). Sechs Produktionen wurden von der Deutschen Grammophon auf Schallplatten aufgezeichnet (Aschenbrödel, Rotkäppchen, Die Bremer Stadtmusikanten, Froschkönig, Schneewittchen, Deutsches Weihnachtsspiel) und kamen über dieses Medium erneut in den Hörfunk. In der Jungmädchenstunde der Deutschen Welle (vgl. dazu Dinghaus 2002) bestritt Grete Maria Markstein 1930–1931 die Sendereihe Was wir lesen, in der sie sich mit der Lektüre junger Mädchen auseinandersetzte. Markstein war im Sender auch mit Märchenerzählungen vertreten, sei es live, sei es mit ihren Schallplattenaufnahmen (vgl. auch Elfert 1985, 110). Die Bastelstunden mit Ursula Scherz – Tante Ursula – waren überaus erfolgreich und wurden von der zeitgenössischen Presse entsprechend gelobt (vgl. Gomoll 1932). Scherz entwickelte spannende Erzählungen zu ihren Bastelarbeiten, die von Kindern kommentiert und weitergesponnen wurden. Die so entstandene Radioerzählung um Familie Tüchtig verwertete Scherz auch als Buch (Scherz 1930), das wiederum im Hörfunk vorgestellt (07.12.1930, Deutsche Welle) und auch von der Programmpresse rezensiert wurde (vgl. „Familie Tüchtig“ 1930).
KJ-Sendungen aus Österreich und der Schweiz Zum deutschsprachigen Programmangebot für Kinder und Jugendliche gehörten auch die einschlägigen Sendungen der Rundfunkanstalten Wien17 und Zürich, später auch Graz und Bern. Ihre Programmanzeigen wurden von der Berliner Programmzeitschrift Der Deutsche Rundfunk in extenso abgedruckt. Wien hatte anfangs regelmäßig zwei, Zürich drei Kindersendungen pro Woche. Vor allem die Zürcher Sendungen wurden in den ersten Jahren ausführlich in der Programmzeit-
17Zum
österreichischen Rundfunk bis 1938 vgl. Ergert 1974.
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schrift aufgeführt, mit der Programmstruktur, den Titeln der dargebotenen Texte bzw. Lieder und den Namen der beteiligten Personen. Radio Wien als Hauptsender der Radio Verkehrs AG (Ravag) begann mit einer halbstündigen zweiwöchentlichen Märchenstunde – auch mit dem Zusatz für Kinder (vgl. Ergert 1974, 70). Im Oktober 1926 wurde die Jugendbühne für ein jugendliches Zielpublikum eingeführt, mit Klassikern (Don Juan und Faust von Grabbe, 02.10.1926) und Märchenbearbeitungen (Schneewittchen, 23.10.1926). Der Spielplan sollte sowohl hohe Literatur als auch „Volksstück, Dichtung der Heimat und der Weltliteratur“ (Die Jugendbühne von Radio Wien 1926, 2308) berücksichtigen. Als Spielleiter wechselten sich Hans Nüchtern, Hermann Wawra und Aurel Nowotny ab. Ab 1927 wurde zwischen Kinderstunde (meist Märchen) und Jugendstunde (mit den Unterreihen u. a. Das Abenteuer, Märchen der Technik, Tiergeschichten) unterschieden. Radio Graz als Regionalsender der Ravag war öfter mit Hörspielproduktionen (auch für ein jugendliches Publikum) des Schauspielhauses unter Leitung von Anton Hamik und mit der Musikbegleitung der Kapelle Hüttl im Rundfunk präsent. Radio Zürich hatte Kinderstunden und Stunden für die Jugend (Zielgruppe 8–13 Jahre) im Programm. Märchen für kleinere Kinder, vielfach im regionalen Idiom, erzählte hauptsächlich Marie – Tante – Böschenstein, während Emilie Locher-Werling mit fremden und eigenen Geschichten auch größere Kinder ansprach. Radio Bern produzierte ein eigenes Kinderprogramm. Hier sprach Tante Röseli (Gilomen) zu den Kindern (zu nicht näher angegebenen Themen) und war auch mit Märchenbearbeitungen im Programm vertreten (z. B. Zwerg Nase, 31.12.1932; Rotkäppchen 18.05.1932).
Kinder- und Jugendsendungen ab 1933 und bis Kriegsende Entscheidend für das Medium und insbesondere auch für die an Kinder und Jugendliche adressierten Sendungen war die vom Chef der Reichssendeleitung, Eugen Hadamowsky, persönlich ausgegebene Order an die Rundfunkintendanten, vor allem Unterhaltung zu produzieren, „keinen Unterhaltungsrummel, sondern leichte, fesselnde und gute Unterhaltung“ (Hadamowsky 1934b; vgl. dazu Reiss 1979). Von den prominenten Autor/innen, die auch nach 1933 im Rundfunk präsent blieben, ist in erster Linie Otto Wollmann zu nennen, dessen Märchenhörspiele, von allen Sendern gespielt, bis 1940 nachweisbar sind. Günter Eich ist bis 1936 nachweisbar. Von Eich konnten mehr Sendungen erfasst werden, als bisher bekannt waren (vgl. Wagner 1999). Hörspiele der 1933 zur Emigration gezwungenen Lisa Tetzner wurden noch bis Ende 1934 von den deutschen Reichssendern produziert. Die Entlassung erprobter Autoren aus den Redaktionen und dem ständigen Schreiberstab der Sender (u. a. Hermann Kasack, Paul Kania, Alfred Braun und Hans Bodenstedt) machte sich jedoch bald bemerkbar. Das Hörfunkangebot für Kinder und Jugendliche wurde ab 1933 zunehmend mit Sendungen zu historischen Persönlichkeiten oder Ereignissen der Zeitgeschichte
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ausgebaut, deren Genre oft mit Hörspiel angegeben wurde. Etwa: HJ auf Fahrt durch den Harz (Leipzig, 12.06.1934) oder Der Hindenburgdamm wird gebaut (Hamburg, 15.06.1934). Es handelte sich dabei vermutlich um Darbietungsformen, die man heute als Dokudrama bezeichnen würde. Hinzu kamen zahlreiche HJ-Sendungen mit Themen wie Sport, Wandern, Kameradschaft, sogenannte Rassenkunde oder Blut und Ehre (die Bezeichnung einer Sendereihe von 1934), in denen die nationalsozialistischen Funktionäre zu Wort kamen. Auch literarische Persönlichkeiten wurden zunehmend für den NS vereinnahmt. Im Sommer 1934 wurde eine Schillerfeier (auch als „Schillersonnwendfeier“ bezeichnet) mit einem deutschlandweiten Staffellauf nach Marbach begangen, wohin Tausende Jugendliche aus ganz Deutschland „Urkunden“ bringen würden mit dem, „was die deutsche Jugend dem Geiste des großen Dichters zu sagen hat“ (Die deutsche Jugend huldigt Friedrich Schiller in Marbach 1934). In die Hörspiele kehrten bald die politischen Figuren der Zeit ein: Pimpfe, BDM-Mädel, Hitlerjungen. Ab 1936 setzten die Sender vermehrt auf den gegenseitigen Programmaustausch.18 Vor allem am Vormittag übernahmen bis zu fünf Sender einen Beitrag; oft liefen nur zwei Programme parallel auf allen zehn deutschen Sendeanstalten: Die hilfreichen Heinzelmännchen wurden z. B. am 22.06.1936 von Berlin auch auf Breslau, München, Stuttgart und Saarbrücken übertragen, gleichzeitig (10:00 Uhr) sendeten Frankfurt, Hamburg, Köln und Königsberg das von Leipzig ausgestrahlte Hörspiel für die Grundschule Das Spiel vom glücklichen Hans. Auch die Mehrfachverwendung der Beiträge nahm merklich zu. Der Deutschlandsender nutzte öfter das Hörspiel aus seiner Nachmittagsreihe Kinderfunkspiel in einem Grundschulfunk am Vormittag (z. B. Am Bahndamm entlang – als Kinderfunkspiel am 31.05.1936 gesendet und am 06.07.1936 im Grundschulfunk). Aufzeichnungen zirkulierten offenbar häufig zwischen den Sendern, dieser Austausch wurde aber nur selten kenntlich gemacht (z. B. Der Kampf um den Froschweiher wurde am 20.06.1936 von München gesendet, am 18.07.1936 von Breslau, am 22.08.1936 von Frankfurt). Ab 1937 ist die Tendenz festzustellen, Sendungen für Kinder und Jugendliche nicht mehr zu adressieren. Außer Hamburg, dessen sonntägliche Hörspielsendung konsequent unter dem Reihentitel Kinder, hört zu! angekündigt wurde, verzichteten die anderen Sender immer häufiger auf zielgruppenorientierte Zuschreibungen. Eine implizite Adressiertheit kann in diesen Fällen nur aus bestimmten Formulierungen (ein lustiges Spiel), dem Sendeplatz (am frühen Nachmittag) und nicht zuletzt aus den Stoffen selbst (bekannte Märchenstoffe, Kasperle, Heinzelmännchen etc.) geschlossen werden. Die Programmangaben werden in der Regel knapper. Es kam vermutlich öfter (als im Programm angegeben) vor, dass die Sender viel aus der Konserve
18Halefeldt
(1976, 22) zitiert eine Erhebung, wonach die Zahl der Sendungen von 2000 im Jahr 1933 auf 800 im Jahr 1936 fiel – bei gleichzeitigem Anstieg der Darbietungen von 230.000 auf 500.000, was er in den Zusammenhang des Programmaustauschs der Sender stellt.
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verwendeten bzw. ältere Sendemanuskripte leicht oder gar nicht umarbeiteten und unter neuen Verfassernamen ins Programm setzten. Beispiele: Schneewittchen und die sieben Zwerge wurde von Breslau am 21.04.1935 als Hörspiel von Erich Colberg mit Musik und unter der Regie von Heribert Grüger gesendet und am 26.12.1937 unter dem Titel Schneewittchen angeblich in der Autorschaft von Hans Herrmann, indes mit gleichem Namen für Musik und Regie wiederholt. Das tapfere Schneiderlein wurde 1935 und 1936 vom Deutschlandsender als Hörspielfassung von Otto Wollmann mehrfach gesendet. Für den gleichen Titel am gleichen Sender wird am 13.02.1938 Wollmann zwar als Regisseur genannt, aber als Verfasserin Charlotte Hundertmark angegeben. Mit Kriegsbeginn (September 1939) wurde der Rundfunk auf die Bedürfnisse der Kriegsführung umgestellt. Der Chefredakteur des Deutschen Rundfunk, Hans von Heister, beteuerte, der Unterhaltungsrundfunk werde trotz Einschränkungen weiterbestehen, denn „gerade in ernsten Zeiten [sind] Ablenkung und Aufmunterung von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die günstige Beeinflussung der seelischen Haltung des Volkes“ (Heister 1939). Die Rundfunkzeitschriften druckten indes fortan stark reduzierte Programme ab. Die Angaben sind wortkarg, lassen selten Stoffe erkennen und geben so gut wie keine der beteiligten Personen bekannt. Da das Abhören ausländischer Sender unter Strafe gestellt wurde, verzichteten die Programmzeitschriften auf den Abdruck der ausländischen Sendeprogramme (vgl. Warum keine Programme? 1939). Ab 9. Juni 1940 wurden die Sender gleichgeschaltet, sie sendeten nun alle das gleiche Einheitsprogramm und ihr Programmangebot wurde drastisch reduziert – es gab nunmehr nur ein einziges sogenanntes Reichsprogramm, das auf alle Sender übertragen wurde (vgl. Schütte 1971, 180). Dazu gab es einen geringen Anteil an Eigensendungen, wozu Kindersendungen gehörten, deren Inhalt aber nur noch in den seltensten Fällen in der Programmpresse ausgewiesen ist. Mit der Abschaffung der Programmpresse zum 1. Juni 1941 wird die Quellenlage äußerst prekär. Die hinfort in der allgemeinen Presse veröffentlichten Programmangaben verzichten auf Zielgruppenadressierungen. Märchensendungen bleiben aber nachweislich bis einschließlich 1944, vermutlich bis Kriegsende, im deutschen Rundfunk präsent.
Zusammenfassung Der Hörfunk in Deutschland wurde Anfang der 1920er-Jahre nach einem staatlichen Plan mit privatem Kapital regional organisiert. Es gab neun Sendegesellschaften, die jeweils in einem geografisch abgesteckten Sendebezirk das Monopol für ein selbst produziertes Radioprogramm zugesprochen bekamen. Hinzu kam als überregionaler Sender die Deutsche Welle. Die Infrastruktur sicherte das Reichspostministerium (RPM), das auch die Rundfunkgebühren einhob und anteilig an die Sender verteilte. Die Rundfunkanstalten wurden zur politischen Neutralität bzw. Ausgewogenheit verpflichtet und sollten Unterhaltung und Bildung
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bieten. Die Sender nahmen von Anfang an Angebote für Kinder und Jugendliche in ihre Programme auf, zunächst vor allem Märchenlesungen und Gedichtrezitationen, was der allgemeinen Orientierung des frühen Hörfunks am Buch entsprach (vgl. Wittenbrink 1997, 996). Erfolgreich waren interaktive Formate, die Kinder am Script beteiligten oder im Studio improvisieren ließen, etwa Lisa Tetzners Geschichten ohne Ende, die Aufsatzstunden von Wilhelm Lamszus oder die Bastel-Spielsendungen von Kitty Seiffert, Ilse Obrig und Ursula Scherz. Kreative Persönlichkeiten mit Entscheidungsmacht nutzten das neue Medium für technische Experimente und erarbeiteten funkspezifische Darbietungsformen, so Hans Bodenstedt in Hamburg, der das erste medienspezifische Märchenformat mit einer eigenen Erzählerfigur – Funkheinzelmann – entwickelte, oder Kurt Arnold Findeisen in Dresden, der sich bei der Mirag u. a. für ein zeitgemäßes Hörspiel starkmachte und die KJ-Sendungen durch eine Sonderseite in der sendernahen Programmzeitschrift bewarb, reflektierte und damit aufwertete. Ambitionierte Projekte, die nicht auch mit einer Machtposition im Sender verknüpft waren, scheiterten, so Die Funkprinzessin von Adele Proesler in Berlin. Den Bildungsauftrag an der jungen Generation versuchten die Sender mit der Vermittlung klassischer Literatur zu erfüllen. Dazu wurde einerseits das Format der Jugendbühne eingeführt, um Dramen von Schiller, Goethe, Kleist u. a. darzubieten, andererseits wurde der Schulfunk vielfach dazu genutzt, den literarischen Kanon der Lehrbücher in Lesungen, Analysen, Zusammenfassungen zu verbreiten. In späteren Jahren verblasste das schulbegleitende Profil der Schulfunksendungen, es wurden (vor allem von der Deutschen Welle) öfter Märchenhörspiele aus dem Nachmittagsprogramm übernommen. Die sogenannten Volksmärchen waren für den frühen Kinder- und Jugendfunk die sicherste und produktivste Stoffquelle, die alle konjunkturellen Schwankungen überdauerte, selbst die kriegsbedingte Verknappung der Sendezeit. Ein weiteres populäres und resistentes Sendeformat bildeten die Kasperlespiele, die alle Sender im Programm hatten, sei es in Eigenproduktionen oder über Gastspiele der Puppenwanderbühnen. Der Kasperl stand Pate auch bei der Entwicklung neuer medienspezifischer Charaktere, etwa des Funkkasperle in Breslau. Eine Konstante des Kinder- und Jugendfunks waren in den 1920er-Jahren auch regionalspezifische Stoffe (Märchen, Sagen, Schwänke), die von Autor/innen aus der Region, oft auch in Mundart, gesprochen wurden. In Stuttgart entwickelte Sophie Tschorn eine eigene schwäbische Sendereihe und Erzählerfigur, das Gretle von Strümpfelbach. In Hamburg wurden regelmäßig plattdeutsche, in Königsberg ostpreußische Märchen geboten, in Frankfurt und Köln gehörten regionale Sagen und Ortsgeschichten zum Repertoire. Im schweizerischen Hörfunk waren Sendungen in der Regionalsprache die Regel. In den 1930er-Jahren werden in den deutschen Sendern regional geprägte Inhalte zugunsten von nationaldeutschen mehr und mehr verdrängt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Neuorganisation des deutschen Rundfunks wurden die meisten Intendanten abgesetzt, ebenso viele etablierte Führungspersönlichkeiten, die auch für den Kinder- und Jugendfunk relevant waren, gekündigt, so Alfred Braun in Berlin, Hans Bodenstedt in
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Hamburg (trotz seiner Überanpassung an die nationalsozialistische Programmpolitik) oder Kurt Arnold Findeisen in Dresden (dessen Bücher indes weiterhin auf den NS-Empfehlungslisten geführt wurden; vgl. Hopster/Josting/Neuhaus 2001, 294 f.). Hingegen konnten weniger exponierte Rundfunkmitarbeiter, die anpassungsbereit waren, ihre Sendungen beibehalten – darunter viele Frauen, auch weil sie in machtrelevanten Führungspositionen unterrepräsentiert waren (vgl. Münkel 1998, 88). Unter den Nationalsozialisten wurden die Jugendsendungen aufgewertet und politisiert. Die unterhaltenden Märchenerzählungen und Märchenhörspiele wurden weiter produziert und von den Sendern untereinander ausgetauscht. In die Datenbank des Projektes aufgenommen wurden knapp 16.600 Hörfunkbeiträge. Die Zahl der damit verzeichneten Sendungen ist niedriger anzusetzen, weil jeder einzelne mit einem bestimmten Stoff verknüpfbare Teil der Sendung einen eigenen Datensatz zugewiesen bekam. Am ertragsreichsten erwies sich das Rundfunkjahr 1930 (rund 2.000 Einträge), gefolgt von 1931 (1.980) und 1929 (1.840). Die nationalsozialistische Gleichschaltung macht sich insofern deutlich bemerkbar, als von rund 1.500 Beiträgen im Jahr 1932 die Zahl der Datensätze 1933 auf rund 990 sinkt. In den Kriegsjahren 1940-1944 bleibt die Zahl der erfassten Beiträge in jedem Jahr unter 100. Etwa 5.300 Beiträge gehören zu ausdrücklich „Jugend“-adressierten Sendungen (Jugendstunde, Jugendfunk, Jugendbühne u. a.), ca. 4.750 zu „Kinder“-adressierten (Kinderfunk, Kinderstunde, Für die Kinder u. a.). Darüber hinaus wurden 800 Buchempfehlungen verzeichnet. Das Verhältnis zwischen den als Lesung bzw. als Hörspiel verschlagworteten Beiträgen beträgt etwa 1:2, ca. die Hälfte beider Darbietungsformen ist jeweils mit dem Schlagwort Märchen versehen.
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Der Kinder- und Jugendfilm von 1900 bis 1945 Marlene Antonia Illies
Abstract Children and adolescents have always been part of the cinematographic audience. They consumed all living images that crossed their vision. From 1905 onwards, cinemas commenced to settle and more and more film theaters established themselves as institutions. This resulted in a growing interest of educators, politicians and parents in the film consumption of the underage population. The demand for regulated film input and intake accelerated, fostering the rise of an instrument of control: censorship. Just like the medium in question, the understanding of censorship changed over the course of time. With regards to this, the article investigates the transformation of censorship and regulations from the German Empire to the Weimar Republic to the National Socialist regime. Ideas and regulations of what children and young people were allowed to view changed. But which films did adolescents actually consume in and despite the given regulations of the cinema? Which topics and genres interested them in particular? And how did a specific children’s and youth film establish itself gradually?
Forschungsstand und Desiderate Zu Beginn des Forschungsvorhabens lag eine gute Quellenlage bezüglich der Entwicklung des deutschen und internationalen Films sowie der Kinogeschichte vor. Die entscheidenden Wegmarken und Wendepunkte sind bereits erfasst, verschiedentlich
M. A. Illies (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_3
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ausgearbeitet und dargestellt, wie der folgende Überblick zeigt1: Das Kino nimmt seinen Anfang mit der ersten Aufführung sogenannter lebender Bilder, die Max und Emil Skladanowsky am 1. November 1895 im Berliner Wintergarten vorführten. Es folgen die Etablierung des Kinematografen mit der Apparatur der Brüder Lumière, die Entwicklung vom Wanderkino zum ortsfesten Kino, der kurze Seitenweg des nicht-mehr-stummen, deutschen Films mit Oskar Messters Tonbildern (ca. 1907 bis 1909, ein rein deutsches Phänomen), der Wandel vom Kino der Attraktionen zum Erzählkino, vom Kurz- zum Langfilm, die Explosion der deutschen Kinolandschaft im Ersten Weltkrieg, die Gründung der Ufa (1917), die Blütezeit des deutschen Films in der Weimarer Republik, inklusive der Diskussionen um eigene Filmwege versus Amerikanisierung, die technische Anpassung an den Tonfilm (ab 1927, in Deutschland 1928/1929), politische Instrumentalisierung und die Verstaatlichung der Filmindustrie unter den Nationalsozialisten, das langsame Aufkommen des Fernsehens – 1935, noch an öffentlichen Orten – und der beginnende Siegeszug des Farbfilms ab 1937.2 Aufgrund der bereits vorhandenen ausführlichen Darstellungen zu diesen Themen werden politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie technische Entwicklungen nur dort in diesen Beitrag einbezogen, wo sie für die Filmrezeption von Kindern und Jugendlichen relevant sind.3 Der Kinder- und Jugendfilm der Zeitspanne 1900 bis 1945 ist ebenfalls schon unter verschiedenen Aspekten betrachtet worden, mit Fokus auf spezifische Zeiträume bzw. politische Systeme, Genres, Themen, Pioniere des Kinderfilms (wie Lotte Reiniger und die Gebrüder Diehl) sowie die zuverlässig zu jeder Zeit geführte Debatte, was Kinder und Jugendliche nun überhaupt im Kino sehen durften und dürfen. Was fehlte, war ein Überblick über den gesamten Untersuchungszeitraum und ein Korpus, das – unabhängig von Kurz- oder Langfilm, Genre und Technik, spezifischer Produktion für Kinder und Jugendliche oder faktischer Nutzung durch dieselben – umfassend diese Filme erfasst. Die Uneinigkeit der Forscher/innen darüber, was als Kinder- oder Jugendfilm zu bezeichnen ist, manifestiert sich in der Diskussion um den frühen Märchenfilm. In der Stummfilmforschung wird mal konstatiert, dieser habe sich an ein erwachsenes Publikum gerichtet (vgl. Räder 2009), mal an ein kindliches (vgl. Höfig 2008), oder man argumentiert, er sei nicht ausschließlich Kinder-, sondern Familienfilm gewesen (vgl. Schmerling 2007). Die Wahrheit, sollte es sie geben, liegt wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Um diesen Fragen offen gegenüberzustehen, wurde in der Erfassung mit einem Verschlagwortungssystem gearbeitet und so ein reicher Schatz an spezifischen, intendierten und faktischen Kinder- und Jugendfilmen gehoben.4 Dort, wo eine Nachverfolgung 1Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich maßgeblich auf Elsaesser 2002, Garncarz 2008 sowie Jacobsen/Kaes/Prinzler 2004. 2Es gab schon viele frühere Versuche und Varianten des farbigen Films, begonnen bei handkolorierten Filmen Ende des 19. Jahrhunderts. 3Die verschiedenen Regularien der Zensur während des Untersuchungszeitraums werden in den die jeweilige Zeit betreffenden Abschnitten behandelt. Dabei galt eine Jugendfreigabe gemeinhin für Kinder ab 6 und Jugendliche bis (zu) 18 Jahren. 4Vgl.
die Einleitung in diesem Band.
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möglich war, wo Paratexte zur Produktion oder Nutzung existieren, sind auch KJspezifische Dokumentarfilme und Filme erfasst worden, die Kinder selbst hergestellt haben und die anschließend publiziert wurden. Goergen schlägt vor, zwischen zwei Arten des Kinos zu unterscheiden, dem sichtbaren und dem unsichtbaren (oder weniger sichtbaren), die er wie folgt beschreibt: [H]ier die wenigen Uraufführungskinos im Berliner Zentrum, dort die Masse der kleinen und Kleinst-Kinos. Die größeren Kinos in den Stadtteilen sind immerhin noch finanzstark genug, um in einigen Zeitungen, insbesondere den Stadtteil-Zeitungen, zu inserieren; die Masse der Kleinstkinos ist aber [auf] die Werbung an ihrer Außenfassade (ergänzt durch Ausrufer und Zettelverteiler) angewiesen. Während die Programme der Uraufführungskinos, zumindest was den Hauptfilm angeht, weitestgehend erfasst werden können, ist das Angebot der Ladenkinos um die Ecke wohl nicht mehr zu rekonstruieren. Die Reaktionen der großen Tageszeitungen auf die Filmpremieren wurden von der Filmbranche als hochwillkommenes Werbematerial eingesetzt, sowohl, um den einzelnen Film zu bewerben, zum anderen aber auch, um das gesellschaftliche Ansehen des Mediums herauszustreichen. So überlagern sich verschiedene Kino-Öffentlichkeiten zum gleichen Thema. Eine Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung von Kino und Film kommt an dieser Komplexität der vielfältigen cinema’s nicht vorbei; sie hat stets im Plural zu argumentieren. (Goergen 2008, 77)
Das unsichtbare Kino ist unsichtbar, weil es nur einen kleinen öffentlichen Bereich bedient, beispielsweise auf ein Dorf oder einen Stadtteil begrenzt ist. Selbst wenn diese Kinos ihre Programme annoncierten und die Presse von ihren Vorführungen berichtete, geschah dies nur in lokalen Publikationen. Genau dieses unsichtbare Kino wurde von den Kinoreformern für gefährlich gehalten (vgl. ebd., 67): Es fand relativ unkontrolliert statt und ist deswegen für diesen Forschungsbereich von besonderem Interesse, denn vor allem hier konnten Kinder und Jugendliche auch die Filme sehen, die eigentlich nicht für sie freigegeben waren. Das sichtbare Kino hingegen wurde öffentlich intensiv wahrgenommen, es war überwiegend in den Zentren von Großstädten angesiedelt, mit Uraufführungs- oder Erstaufführungstheatern, bekannten Programmen und prominenten Gästen. Seine Programme wurden rezensiert, es schaltete große Anzeigen in den Zeitungen und wird dadurch zu einem wichtigen Produzenten zeitgenössischer Quellen (vgl. ebd.).
Kinder- und Jugendfilm im Kaiserreich Der Film war zunächst ein mobiles Medium, ab 1896 tourten Vorführer der Brüder Lumière durch Deutschland. Beeindruckt von deren Erfolg, verlegte sich „eine ganze Anzahl von Schaustellern auf das Geschäft mit Zelt- und Wanderkinos“ (Elsaesser 2002, 18), sodass sich der Film zunächst als Jahrmarktsattraktion etablierte. Ab 1905 setzte sich das ortsfeste Kino durch, und das mit großem Erfolg: „Sie verbreiteten sich von den Zentren der Großstädte an die Peripherie und von den Großstädten über die Mittelstädte zu den Kleinstädten. Ihre Zahl nahm stetig zu; 1911 gab es bereits mehr als 2000 Kinos in Deutschland.“ (Garncarz 2008, 40) Einmal sesshaft geworden, mussten die Kinoprogramme umstrukturiert werden, denn anders als bei den mobilen Kinos, die nicht zu viel
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Zeit der Besucher in einer viele kurzweilige Attraktionen bietenden Umgebung in Anspruch nehmen durften, mussten die ortsfesten Kinos einen Unterhaltungsabend allein bestreiten. Statt bisher 15 bis 20 min dauerten die Programmzusammenstellungen nun 60 min oder länger; eine Zeitspanne, die einfacher mit längeren Filmen zu bestreiten war. So nahm die Entwicklung vom Kurz- zum Langfilm ihren Lauf: von ursprünglich 2 bis 3 min auf 10 min (ab etwa 1908), 30 min (ab 1911) und mehr (vgl. ebd., 38). Die zunehmende Länge ermöglichte andere Erzählweisen, das Drama erhielt Einzug in den Film (vgl. ebd., 39). Kinder und Jugendliche gehörten von Beginn an zum Publikum. Sie strömten in die Wanderkinos ebenso wie in die Lichtspielhäuser und sahen alles, was ihnen vor die Augen kam, unabhängig von Filmgenres und -gattungen, eine spezifische Kinder-/Jugendfilmproduktion gab es noch nicht. Eine Kinovorführung um 1907 unterschied sich noch stark von dem, was heute als kinotypisch wahrgenommen wird. Die Programme orientierten sich an der Varieté-Kultur und dem „ihr eigenen Ablauf von Attraktionen, die von Gags und komischen Sketchen über sentimentale Duos, akrobatische Einlagen und Zaubertricks bis hin zu Tänzen, Revuenummern und Solodarbietungen bekannter Stücke, Operetten und Opern reichen konnten.“ (Elsaesser 2002, 22) Bei der kurzen Vorführdauer konnten noch keine komplexen Geschichten erzählt werden, genau darum fanden schon früh kinder- und jugendliterarische Stoffe ihren Weg auf die Leinwand: Märchenstoffe und bekannte Charaktere wie Sherlock Holmes oder Max und Moritz waren filmisch darstellbar, sie hatten Wiedererkennungswert. Die länger werdenden Programme boten ein neues Spektrum an populären Filmthemen: Ansichten und Aktualitäten – später: Wochenschauen –, Detektivfilme und soziale Dramen, Familienmelodramen und historische Epen, romantische Komödien etc. (vgl. ebd., 19). Es ist davon auszugehen, dass Streifen jeder Art auch vor den Augen Halbwüchsiger liefen, denn eine Zensur, und damit auch Jugendfreigaben und Jugendverbote von Filmen, musste sich mit dem neuen Medium erst etablieren. Alle bisherigen kulturellen Institutionen „einer mit Aufführungen operierenden Unterhaltungsöffentlichkeit“ (Müller 2008, 109) kannten keine auf das Alter bezogenen Ausgrenzungen von Teilen des Publikums, die Filmzensur hatte also kein Vorbild. Gesetzliche Grundlage im Kaiserreich war das Preußische Landrecht, zuständig war die jeweilige Ortspolizei, die für die „Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ (Loiperdinger 2004, 256) sorgen musste. Zunächst funktionierte das über das Verfahren der Nachzensur: Wachtmeister besuchten die Vorstellungen der Wanderschausteller, später auch der ortsfesten Kinos, und prüften die gezeigten Filme auf ihre Unbedenklichkeit. Beanstandete Filme und Filmszenen mussten aus dem Programm genommen werden, was bei den Nummernprogrammen noch kein Problem darstellte, einzelne Filme konnten beliebig ausgetauscht werden (vgl. ebd.). Diese Nachzensur verlief jedoch chaotisch und uneinheitlich, die Polizei selbst war überfordert, Entscheidungen wurden regelmäßig in der Branchen- wie in der Tagespresse kritisiert, und schon 1907 formierten sich die Kinoreformer, die gegen den Schmutz- und Schundfilm zu Felde zogen. Die größte Angst bezüglich des neuen, so schnell um sich greifenden Mediums war, das Publikum könne durch entsprechende Darstellungen auf der Leinwand zu strafbaren oder moralisch fragwürdigen Handlungen verführt werden. Schon seit 1905, also seit dem Ein-
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zug stationärer Kinos in die Städte, ist das Bestreben zu beobachten, „den Kinobesuch Halbwüchsiger einzuschränken, möglichst pädagogisch zu lenken und auf jeden Fall streng zu überwachen.“ (Maase 2008, 137) Besonders an den Nachmittagen lagen die Filmtheater praktisch in der Hand der Kinder, der massive und noch unkontrollierte Filmkonsum führte zu Konflikten zwischen dem Kino und gesellschaftlichen Interessen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs entstand zwar keine reichsweite Regelung,5 sie war schlicht aufgrund der juristischen Grundlagen nicht möglich (vgl. Müller 2008, 109), die verschiedenen amtlichen Verordnungen, die ab ca. 1910 aufkamen, folgten jedoch im Wesentlichen zwei Modellen: Im einen war Kindern der Kinobesuch grundsätzlich verboten; als Kinder zählten Menschen bis zum 14., 15., 16. (der häufigste Fall) oder gar 18. Lebensjahr. Die einzige Möglichkeit, Filme zu sehen, bildeten für sie behördlich genehmigte Kindervorstellungen. Teilweise wurden die Programme von kommunalen Ausschüssen zusammengestellt, in denen Lehrer und Pfarrer den Ton angaben. Die weiter verbreitete Lösung sah so aus, dass die Kinobetreiber Programme für Kindervorstellungen einreichten, die von den Gemeinden, normalerweise von der Polizei, genehmigt werden mussten. […] Das andere Zulassungsmodell erlaubte Kindern den Kinobesuch in Begleitung Erwachsener (selbstverständlich nur, wenn die Filme für ihr Alter freigegeben waren); beide Einschränkungen wurden vielfach unterlaufen oder ad absurdum geführt. (Maase 2008, 137 f.)
Da eine Zensur dieser Art ein absolutes Novum war, kann dieser Umstand nicht überraschen, zumal die Einschränkungen des Kinobesuchs rechtlich noch auf schwachen Beinen standen. Sie konnten zumeist nur für Vorschulkinder und Schüler/innen erlassen werden, was mitunter zu der paradoxen Situation führte, „dass ältere Gymnasiasten nicht ins Kino durften, während gleichaltrige oder gar jüngere Besucher, die die Volksschule bereits absolviert hatten, freien Kinozugang hatten.“ (Müller 2008, 110) Die lokalen Polizeibehörden kamen als ausführender Arm des Gesetzes zudem nicht hinterher, entsprechend blieb die Filmrezeption Minderjähriger zentrales Diskursthema der Kinodebatte, diskutiert wurde überall. In Tageszeitungen und Zeitschriften, in Broschüren und Büchern, Autor/innen und Leserbriefschreiber/innen meldeten sich zu Wort, Pfarrer in der Kirche, Lehrer/ innen im Unterricht, Parlamententarier/innen aller Ebenen, Menschen in der Kneipe, auf der Straße, im Hausflur (vgl. Maase 2008, 138).6 Die lauten Stimmen
5Ein
erster Vorstoß in diese Richtung war die am 5. Mai 1906 in Berlin eingeführte Präventivzensur: Vor der ersten Vorführung eines Films musste die Erlaubnis des Polizeipräsidiums eingeholt werden, wo jeder Streifen vorab gesichtet wurde. Eine Zentralisierung dieser immer noch kleinschrittigen Entscheidungen fand durch den Erlass des Preußischen Ministers des Innern vom 16. Dezember 1910 statt, der anordnete, dass die für Berlin freigegebenen Filme in allen preußischen Provinzen gezeigt werden können, solange der Ortspolizei 24 h vor der Vorführung die Berliner Erlaubniskarte vorläge. Ein Erlass vom 7. Dezember 1912 ordnete außerdem an, dass eigene Zensurentscheidungen nach Berlin berichtet werden müssen (vgl. Loiperdinger 2004, 526 f.). 6Erst der Erste Weltkrieg milderte die Diskussionen, die Zensur wanderte in die Zuständigkeit der Armee, wurde aber häufig weiterhin von Polizeibehörden ausgeübt (vgl. Loiperdinger 2004, 527). Aus jenen Jahren übermitteln Werbeanzeigen aus heutiger Sicht fragwürdige Freigaben und Empfehlungen veritabler Kriegshandlungen für Kinder und Jugendliche, was sich im Zweiten Weltkrieg wiederholen sollte.
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der Besorgten, allen voran der sogenannten Schundbekämpfer/innen, überraschen dabei nicht, denn sie tauchen immer dann auf, „wenn ein neues Medium in den Alltag einzieht. Das Phänomen lässt sich vom Kino über das Fernsehen und die Videotechnik bis hin zum Internet verfolgen.“ (Vgl. Kaiser/Maurer/Richter 2001, 6) Die zeitgenössischen Debatten gingen selbstverständlich nicht an den Betroffenen, den Kindern und Jugendlichen, vorbei und erhöhten den Reiz des Kinos. Für sie war es ein umkämpftes Terrain, ein halbverbotenes Vergnügen, ein Ort der Emanzipation und der Rebellion. Wie sie sich dort verhielten, darüber gibt es die positivsten und die schlimmsten Schilderungen, Letztere überwiegen. Jede beschriebene Wahrnehmung ist jedoch stets von der Profession und den Zielen der Verfasser/innen beeinflusst. Zusammenfassend lässt sich konstatieren: „Wir haben uns das Kinderkino des frühen 20. Jahrhunderts über weite Strecken als eine gegen erwachsene Kontrolle sich abgrenzende Eigenwelt vorzustellen.“ (Maase 2008, 141) Angesichts dieser chaotischen Ausgangslage ist davon auszugehen, dass das gesamte Spektrum der produzierten Filme dieser Zeit auch von Kindern und Jugendlichen rezipiert wurde. Da die Erfassung aller auffindbaren Filme allerdings wenig zielführend ist, wurde nach Indizien für intendierte und faktische Kinderund Jugendfilme gesucht, die sich in den zeitgenössischen Filmzeitschriften auch finden ließen. Hilfreich waren dabei zum einen die Entscheidungen der Hamburger Lehrerkommission, die Filme für Kindervorstellungen empfahl. Hamburg lieferte 1908 – die eigentliche Bewegung begann 1906 – das früheste Modell zur Regulierung jugendlichen Kinokonsums, zudem ein äußerst liberales und – eine Seltenheit – ein positiv sanktioniertes. Hier mussten verpflichtend ab 1911 alle Filme, die in Hamburg aufgeführt werden sollten, einer Lehrerkommission vorgeführt werden, die geeignete Filme für Kindervorstellungen auswählte und diese empfahl (vgl. Müller 2008, 111).7 Diese Listen wurden regelmäßig im Kinematographen abgedruckt und standen somit zumindest deutschlandweit zur Verfügung.8 Das Vorgehen wurde als vorbildlich gelobt, galt aber als unübertragbar für andere Regionen; in Hamburg war es nur wegen „der gesetzgeberischen Autonomie der Hansestadt und der Initiative ihres rührigen Lehrervereins“ (vgl. ebd., 112 und 123) möglich. Die speziellen Hamburger Kindervorstellungen durften Kinder ohne Begleitung Erwachsener besuchen, reguläre Vorstellungen waren Kindern und Schüler/innen in Hamburg nur in deren Begleitung erlaubt. Trotz der Vorbildlichkeit hielt man sich auch in Hamburg bei weitem nicht allumfassend an diese Regelungen, in Kindervorstellungen liefen auch nicht genehmigte und sogar verbotene Filme, weiterhin besuchten Kinder und Jugendliche auch andere Vorstellungen (vgl. Maase 2008, 131 f.). Die Bedeutung der Kindervorstellungen für die Kinobesitzer ist gleichwohl nicht zu 7Vgl.
ausführlich auch Maase 2008. diesen Listen wurden nur jene Filme in die Datenbank (http://medienverbundportal.kjl. uni-bielefeld.de) aufgenommen, die auf einen literarischen Stoff verweisen – größtenteils Märchenstoffe – da diese in einen größeren Medienverbundkontext einzuordnen sind. Die Lehrerkommission empfahl auch viele Dokumentarfilme lehrreichen Inhalts. Die Spuren dieser Filme sind nur schwer oder gar nicht nachzuvollziehen und hatten unter dem Fokus des Projektes keine Relevanz.
8Aus
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unterschätzen. Töteberg berichtet beispielsweise von dem empörten Schreiben Eberhard Knopfs, Inhaber von Knopfs Lichtspielhaus,9 betreffs des Entzugs seiner Konzession für Kindervorstellungen. In seinem Schreiben vom 25. Juli 1910 an die Oberschulbehörde, die eng mit der Polizei zusammenarbeitete, erklärt er, die Entscheidung nicht hinnehmen zu können, weil damit sein Kino „finanziell und moralisch“ (Töteberg 2008, 94) geschädigt würde. Als im November 1911 gleich mehreren Theatern die Konzession entzogen wurde, wandten sich die betroffenen Besitzer/innen ebenfalls an die Behörde, mit der Erklärung [d]er durch den „Ausfall des Kinder-Entrees“ erlittene Verlust sei doppelt hoch, „weil naturgemäss die Kinder die beste Reclame bei ihren Eltern und sonstigen Angehörigen“ machten: „An Hand ihrer Einnahmelisten können dieselben [die gemaßregelten Theaterbesitzer] beweisen, dass nicht allein der Kinderbesuch, sondern auch der Besuch der Erwachsenen bedeutend zurück gegangen [sic!] ist.“ (Ebd., 98)
Das junge Publikum war also relevant. Es gehörte zum Stammpublikum speziell der Stadtteilkinos – also der unsichtbaren Kinos nach Goergen – und war für deren Betreiber/innen unverzichtbar, was diese wiederum dazu nötigte, mit den Behörden zusammenzuarbeiten (vgl. ebd., 97). Kindervorstellungen wurden auch vermarktungsstrategisch ausgewertet, manche Institutionen boten sich gar als zuverlässige Betreuungsinstanzen an: Obscöne [sic!] und Episoden realistischen Inhalts werden nicht vorgeführt. Schon aus diesem Grunde mögen Eltern mir ihre Kinder nur ruhig anvertrauen. Die kleinen Gäste sind bei mir in bester Obhut, da sie von extra dafür angestellten Damen zu ihren Plätzen geleitet werden, deren weitere Pflicht es ist, dafür aufzupassen, dass die Kinder sich artig und gesittet benehmen. (Zit. nach ebd., 98)
Auch unabhängig von solchen speziellen Vorstellungsformaten wurde die Jugendfreigabe eines Films als werbewirksam erkannt und in entsprechenden Anzeigen von Verleih- und Produktionsfirmen hervorgehoben, die eine weitere Quelle für von der Distribution intendierte und sogar spezifische Kinder- und Jugendfilme bilden, die besonders zur Adventszeit beworben wurden. Neben der Verfilmung von Märchen- und Sagenstoffen,10 die von Beginn an präsent waren und einen ästhetischen Höhepunkt während des Ersten Weltkriegs mit den Spielfilmen Paul Wegeners Rübezahls Hochzeit (1916), Hans Trutz im Schlaraffenland (1917) und Der Rattenfänger (1918) erlebten, bilden die Detektivund Abenteuer(serien)filme jener Jahre ein zweites wichtiges Genre.11 Indiz für diese faktischen und negativ sanktionierten Kinder- und Jugendfilme ist die zeit-
9Ein Hamburger Kino, das auf der von Kinotheatern dicht besiedelten Vergnügungsmeile Spielbudenplatz lag (vgl. Töteberg 2008, 94). 10Aufgrund der bereits erwähnten Diskussionen in der Stummfilmforschung wurden sie bewusst nicht generell mit KJ-spezifisch oder KJ-intendiert verschlagwortet, sondern nur bei entsprechenden Indizien. Viele Märchen- und Sagenverfilmungen dieser Zeit erhielten darum auch die Kennzeichnung KJ-Nutzung unsicher. 11Vgl. den Beitrag von Tobias Kurwinkel in diesem Band.
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genössische Schmutz- und Schunddebatte, in deren Zuge sich regelmäßig über den Konsum solcher Filme von Kindern und Jugendlichen beschwert und empört wurde (vgl. bspw. Hellwig 1975 [1911], Die Kinematographen und die Jugend 1907, Lemke 1907, Häfker 1908); Gleiches gilt für die Lektüre entsprechender Groschenromane (vgl. bspw. Bekämpfung der Schundliteratur 1911, Maase 2001, Maase 2008, Maurer 2001, Schiel 1917).12 Im Konsum beider Medien wurde die Gefahr der Entsittlichung und Kriminalisierung Halbwüchsiger gesehen, tatsächliche negative Auswirkungen konnten nie nachgewiesen werden. Der Jurist und Schundkämpfer Albert Hellwig musste selbst zugeben, nachdem er Kollegen – Amtsrichter und vor allem Jugendrichter – um Informationen gebeten hatte, dass es „nur in den seltensten Fällen möglich [ist], einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verbrechen und der Vorführung eines Schundfilms unzweifelhaft nachzuweisen“ (zit. nach Maurer 2001, 22). Dessen ungeachtet führten er und viele andere ihren Kampf gegen den Schund fort. Die beliebtesten Gegner im Film wie im Lektürebereich waren die Detektive Nick Carter und Sherlock Holmes, ebenso sind Joe Deebs, Nat Pinkerton, Stuart Webbs und Harry Higgs zu nennen, die alle in Serienformaten publiziert wurden. Einige von ihnen überlebten den Ersten Weltkrieg und wurden von einer neuen Generation Kinder und Jugendlicher in der Weimarer Republik entdeckt.
Kinder- und Jugendfilm in der Weimarer Republik Betrachtet man die Zensurinstanzen, so begann die Filmbranche der Weimarer Republik mit einem Freifahrtschein: Nach der Aufhebung jeglicher Zensur am 12. November 191813 brachte erst die Verabschiedung des Reichslichtspielgesetzes am 12. Mai 1920 eine deutschlandweite Zugangskontrolle für Kinder und Jugendliche zu Filmvorführungen. Vor der öffentlichen Vorführung mussten Filme nun überall von einer zentralen Prüfstelle genehmigt werden.14 Die gesetzlichen Einschränkungen für eine Jugendfreigabe besagten:
12Paratexte,
die sich mit Sorgen um eine mögliche Kriminalisierung, frühe Sexualisierung oder eine sonst wie mögliche Verderbnis der Kinder/Jugendlichen durch das Kino auseinandersetzen, wurden in der Datenbank (http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de) mit dem Schlagwort Entsittlichungsgefahr gekennzeichnet. Weitere etablierte Schlagwörter/-wendungen, die gleichzeitig einen Eindruck von den Diskussionen der Zeit ermöglichen lauten: Jugendverbot, Kinderverbot, Kinder im Kino, Kino-Theater-Konkurrenz, Kinoreformbewegung, Kinosteuer, Märchenfilme, Schmutz und Schund, Zensur. 13Regional und lokal blieb die Filmzensur auf dem Verordnungsweg oder durch Einschreiten der Polizei jedoch weiterhin möglich (vgl. Loiperdinger 2004, 527). 14Diese wurden in den Produktionszentren der deutschen Filmindustrie, Berlin und München, eingerichtet (vgl. Räder 2009, 23; zur Besetzung der Filmprüfstellen vgl. Loiperdinger 2004, 528).
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Bildstreifen, zu deren Vorführung Jugendliche unter achtzehn Jahren zugelassen werden sollen, [bedürfen] besonderer Zulassung. Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist. (Zit. nach Räder 2009, 24)
Die ausgestellten Zensurkarten mussten die Kinobesitzer der Ortspolizeibehörde vor den jeweiligen Vorführungen vorlegen, Gemeinden war es jedoch auch erlaubt, eigene Bestimmungen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen festzulegen.15 Kindern unter 6 Jahren war es prinzipiell verboten, einen Kinofilm anzuschauen, Filme ohne Jugendfreigabe durften erst ab dem 18. Lebensjahr besucht werden – eine Zensurregelung, die also dieselben Filme für 6- bis 17-jährige vorsah und heute wie eine Farce erscheint.16 Schulpflichtige Kinder und Jugendliche konnten entweder in erwachsener Begleitung Nachmittagsvorstellungen mit für sie freigegebenen Filmen sehen, zu geschlossenen Lehr- und Spielfilmvorführungen von Schulen und Verbänden oder in Kinder- und Jugendvorstellungen gehen. Trotz dieser nun verbindlichen Maßnahmen setzte sich die (Kinder-)Kinodebatte fort. Politiker/innen, Pädagog/innen und Eltern riefen aufgrund der möglichen negativen Begleiterscheinungen des immer noch als neu wahrgenommenen Mediums zur Vorsicht auf (vgl. ebd., 21). Als Dreh- und Angelpunkt des Diskurses wurde die Entsittlichungsgefahr von den „Bedenken über eine schädliche Wirkung der Filmbilder auf die geistige Entwicklung der Heranwachsenden“ (ebd.) abgelöst. Es wurde weiterhin kritisiert, dass es keine kindgerechten Streifen gäbe, und solange der Stummfilm federführend war, störte man sich an den Zwischentiteln, da Halbwüchsige die eingeblendeten Schrifttafeln angeblich nicht schnell genug erfassen könnten (vgl. ebd., 22 f.). Da Kinder und Jugendliche im Kino den halben Eintritt zahlten, lohnten sich spezifische Vorstellungen für diese Zielgruppe nur bei ausverkauften Sälen, weshalb „vorranging Abenteuergeschichten beliebter Helden gezeigt [wurden]. Detektiv- und Wildwestfilme aus Amerika waren insbesondere bei Jungen äußerst beliebt“ (ebd., 23) – die jugendlichen Trendgenres aus dem Kaiserreich setzen sich also fort. Sie hatten einen festen Publikumsstamm unter den Heranwachsenden, einige Lichtspielhäuser öffneten bereits um 10 Uhr morgens und zeigten ausschließlich die populären Filmreihen. Die niedrigen Eintrittspreise ermöglichten den jungen Zuschauern gleich mehrere Kinobesuche pro Woche (vgl. ebd., 25). Es war die Zeit amerikanischer Helden wie Buffalo Bill und Tom Mix, aus deutscher Produktion war die Stuart Webbs-Serie erfolgreich, und noch ein
15Dies führte in München zur Erhöhung des Mindestalters für einen Kinobesuch von 6 auf 14 Jahre (vgl. Räder 2009, 24). 16Die Filmbranche reagierte ebenfalls verschnupft, im Juni 1920 gab es eine große Protestversammlung der Filmschaffenden, die bekannte Schauspielerin und Sängerin Lotte Neumann argumentierte: „Ich war 15-jährig, als ich meinen ersten Film spielte, und habe keinen moralischen Schaden erlitten. Warum soll der Film jetzt die Moral der 16- und 17-jährigen gefährden?“ (Zit. n. Bleckman 1993, 91).
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deutscher Vertreter setzte seine schon im Kaiserreich begonnene fulminante Filmkarriere fort: Harry Piel. Dieser dient als gutes Beispiel, um die tatsächliche Durchsetzung der harten Zensurrichtlinien zu spiegeln. Harry Piel war seit 1912 ein umtriebiger Akteur der Filmbranche, als Regisseur, Schauspieler und Produzent in einer Person. Zwischen 1918 und 1933 war er jährlich mit mindestens drei Filmen pro Jahr vertreten, auch vier oder fünf waren keine Seltenheit, den Höhepunkt bildet das Jahr 1919 mit sieben Harry Piel-Filmen. Diese mediale Aufmerksamkeit wusste sich der Speka-Verlag zunutze zu machen, der ab 1920 Groschenromane mit dem Reihentitel Harry Piel – der tollkühne Detektiv herausgab (vgl. Bleckman 1993, 91 f.).17 Die Handlung der trivialen Geschichten orientierte sich zunächst an alten Piel-Filmen, deren Titel die einzelnen Hefte auch trugen. Da keine Drehbücher mehr existierten, mussten die Speka-Autoren18 sich Film für Film ansehen und Szene für Szene notieren, um sie dann im entsprechenden Kolportagestil wiederzugeben (vgl. ebd., 92 f.). Die Heftchen fanden so reißenden Absatz, dass die Titel der alten Piel-Filme bald erschöpft waren und frei erfundene Geschichten publiziert wurden.19 Sie galten als Schundliteratur und wurden von Kindern geliebt, wie der persönliche Feldzug des Journalisten Egon Jacobsohn (seit 1920 Herausgeber der Streitschrift Die Filmhölle) gegen Harry Piel dokumentiert. Jacobsohn berichtet am 9. Mai 1921 im Film-Kurier: Meine Angriffe gegen Harry Piel begannen im Februar 1921, als ich zum ersten Mal eine Anzahl sogenannter ‚Groschenschmöker‘ in den Händen eines Zwölfjährigen erblickte. […] Ich glaubte erst, dass es sich um einen Scherz handeln würde, weil ich nicht ahnte, dass ein ernsthafter Schauspieler […] seinen Namen für derartige Schundliteratur hergeben kann. Ich erfuhr, daß diese Schmökerserie mit ausdrücklicher Genehmigung des Herrn Harry Piel auf die (nach langem Kampf von der Sherlock-Holmes-Schundliteratur befreiten) Jugend losgelassen wurde. Damals kaufte ich mir alle Bände und las sie: […] Jeder dieser Schundschmöker enthielt, in jämmerlichem Deutsch verfasst, eine nicht endenwollende [sic!] Lobeshymne auf den persönlichen Mut des Filmdetektivs Harry Piel. (Jacobsohn 1921)
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Jacobsohns Empörung bereits zu einer öffentlichen Debatte entwickelt, mit Piel und Piel-Verteidiger/innen auf der einen, Jacobsohn sowie eine Reihe von Sittlichkeitsvereinen und deren Vertreter/innen auf der anderen Seite; dem Ruf Piels sollte sie allerdings nicht schaden. Thematisch
17Das
Leipziger Unternehmen war bereits mit Reihen von Abenteuern mehr oder weniger klassischer Helden erfolgreich, wie Sherlock Holmes, Buffalo Bill, Klaus Störtebeker oder John Kling (vgl. Bleckman 1992, 91 f.). 18Anscheinend handelt es sich dabei ausschließlich um Männer. Bleckman zählt Alfred Bienengräber, Karl Lütge, Lothar Knud Frederik und Victor Abel auf, die beiden letztgenannten schrieben ab 1921/22 auch Drehbücher für Piel (Bleckman 1992, 92 f.). 19Auflistung sämtlicher Titel bei Wanjek 1994. Harry Piel konnte noch eine zweite Serie beim Speka-Verlag unterbringen, Harry Piel – der Abenteuer-König und Verächter des Todes, die in 18 Bänden von 1920–1921 erschien und von 1922–1926 unter dem Reihentitel Harry Piel Abenteuer fortgesetzt wurde. Diese widmet sich, laut Bleckman, der Nacherzählung seiner neuen Filme (vgl. Bleckman 1993, 93).
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erfand Piel sich zu Beginn der 1920er-Jahre neu, er wechselte vom Detektiv- ins Abenteuergenre. Alle fünf Filme, die von und mit ihm im Jahr 1921 erschienen, erhielten ein Jugendverbot; diese Zensurentscheidung für seine Produktionen währte konstant bis zum Jahr 1929, in dem Sein bester Freund als erster Piel-Film eine Jugendfreigabe erhielt. Angesichts des intensiven Konsums der Groschenheftserie seitens der Kinder und der Präsenz des Multitalents als mediale Figur ließen seine Fans sich jedoch von keinem Tugendwächter und keiner Maßnahme aufhalten, im Gegenteil: Bei aller Vermarktung der „Legende“ Harry Piel, der inzwischen fast zur Kultfigur geworden ist, bilden aber die Filme selbst noch immer die Hauptattraktion, und sie finden Jahr um Jahr neue Anhänger; denn tritt ein Junge ins „gewisse“ Alter (von 7 oder 8 Jahren) ein, wird es für ihn ein Muss, Harry-Piel-Filme zu sehen – schon um bei den Freunden und Klassenkameraden mitreden zu können. Gelegenheit dazu bieten die Nachspieltheater und Vorstadtkinos, deren Besitzer sich wenig um das offizielle Jugendverbot der Piel-Filme scheren. Weshalb sollten sie auch, da sie Kontrollen kaum zu befürchten haben und die alten Harry Peel- und Unus-Streifen20 bei geringer Verleihmiete in den Nachmittagsvorstellungen noch immer volle Kasse machen. So werden alte Piel-Filme noch jahrelang bis zum Kopieverschleiß ausgewertet, und bei den Filmvorführern geht bald der „Anlieferungswitz“ um: „Hier haste die Kopie, Maxe, die Perforation kriegste nachgeliefert.“ (Bleckman 1993, 169 f.)
Dass Piel schon vorher ein Held der Kinder und Jugendlichen war, belegt Georg Herzbergs Kritik zum Piel-Film Panik (1928), in der er in verklärter Erinnerung von „unserem Harry Piel“ schreibt, „den wir auf der Schulbank wie einen Halbgott verehrten.“ (Herzberg 1928) Nach der Wende zum Tonfilm profitierte Piel von seinen alten, stummen Produktionen, die in vielen kleineren Kinos und vor allem in Jugendvorstellungen im Umlauf waren (vgl. Bleckman 1993, 224), und auch nach 1933 blieb er erfolgreich,21 der Besuch seiner Filme wurde nicht mehr negativ sanktioniert. In einer Rede zur Feier seines 100. Films, Artisten (1935, Jugendfrei ab 14 Jahre) ist sogar vom „erzieherischen Wert“ (ebd., 270 f.) seiner Produktionen die Rede. Piels Filme prägten gleich mehrere Generationen, den jugendfrei zensierten Streifen Der Dschungel ruft (1936) feierten viele Jungen und Mädchen, deren Eltern als Kinder bereits für Harry Piel geschwärmt hatten (vgl. ebd., 279).22 Nach 1945 gelang es Piel, seine alten Produktionen wieder ins Kino zu bringen, in kleinen Theatern und abermals größtenteils in Jugendvorstellungen (vgl. ebd., 354 f.). In einem Rundfunk-Interview von 1956 erklärt er seine Filme sogar als für die Jugend intendiert, der Interviewer formuliert daraufhin den Wunsch, „Piels Schaffen möge den Produzenten Anstoß geben, einen neuen deutschen Jugendfilm zu schaffen“ (zit. nach ebd., 361). Piels Filme bilden damit
20Beides
Filmserien Harry Piels. ordnete sich schnell unter, seine Groschenheftreihen standen allerdings auf dem Index. 22Piel war auch international erfolgreich. In Russland kam es 1928 sogar zu einem Schauprozess wegen seiner Filme, die verboten werden sollten, „da sie die Jugend verdürben, unsoziale Gefühle weckten, ihnen eine „anarchistische Weltanschauung“ zugrunde liege – zu den Verteidigern gehörten „Vertreter der Jugend“, die für ihr Idol plädierten (Bleckman 1993, 206). 21Piel
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ein beeindruckendes Beispiel für zunächst faktische Kinder- und Jugendfilme, die sich zur auf Distributionsebene intendierten entwickeln und rückblickend als spezifisch-produzierte wahrgenommen werden. Nach diesem Exkurs zurück zum Programm der Kinder- und Jugendvorstellungen der Weimarer Republik. Amerikanische Komödien waren beliebt, kurze Slapstickfilme von Buster Keaton, Harold Lloyd und Laurel und Hardy sowie dem in jeder Altersgruppe verehrten Charlie Chaplin. Mit dessen gefeiertem Film The Kid (1921, in Deutschland erst 1923) wurde der Kinderstar Jackie Coogan auch in Deutschland populär. Filme mit ihm – darunter einige Adaptionen literarischer Stoffe wie Oliver Twist (1922), Little Robinson Crusoe (1924), Tom Sawyer (1930) – erhielten nicht nur in der Regel eine Jugendfreigabe, sie wurden von Rezensent/innen auch herzlich für Kinder empfohlen. Ein heute vergessener Kinderstar dieser Zeit war Baby Peggy (eigentlich Peggy-Jean Montgomery, geb. 1918), die zwischen 1921 und 1926 eine ebenfalls international populäre Figur im Filmgeschäft war. Sie trat in zahlreichen (Kurz-)Filmen auf, darunter Märchenadaptionen, die auch in Deutschland erfolgreich und mit Jugendfreigabe liefen.23 Populär blieb außerdem der Märchenfilm, allerdings lösten sich jene Verfilmungen zeitweilig von dem Kinderstempel. Die Realverfilmungen weisen gerade in den frühen Jahren der Weimarer Republik viele frühexpressionistische Elemente auf (vgl. Räder 2009, 26), und mit Ludwig Bergers Der verlorene Schuh (1923) wurde ganz bewusst ein Märchenfilm inszeniert, der auch ein erwachsenes Publikum ansprechen sollte. Diese altersübergreifende Wahrnehmung des Zielpublikums löste sich spätestens „[m]it dem Bruch ästhetischer Traditionen durch die Einführung des Tonfilms“ (ebd., 26) auf, danach wurde der Märchenfilm nur noch als spezifische Kinderfilmproduktion betrieben. In Sachen Ästhetik und Abwechslungsreichtum ist zu dieser Zeit eine große Entwicklung zu verzeichnen. Maßgeblich dazu beigetragen hat die Scherenschnittkünstlerin Lotte Reiniger, die mit ihren Silhouettenfilmen den Märchen des Orients, der Gebrüder Grimm oder Wilhelm Hauffs eine ganz neue Form gab.24 Wohl unter diesem Einfluss war auch das Erstlingswerk der Brüder Paul, Hermann und Ferdinand Diehl – die späteren Pioniere des Puppentrickfilms – ein Silhouettenfilm: Kalif Storch (1930/1931).25 Historische und sozialkritische Filme etablierten sich zwar nicht als spezifische, doch als intendierte Kinder- und Jugendfilme, sie wurden regelmäßig von der Zensur für jugendfrei erklärt. Dies gilt für die beliebten Filme der Fridericus Rex-Reihe (1920–1923 erstmals mit Otto Gebühr als Friedrich der Große, viele weitere Filme folgten in unregelmäßigen Abständen) ebenso wie für die zweiteilige Sagenverfilmung Die Nibelungen (1922–1924). Auch Georg Wilhelm
23Von
den gefundenen 24 deutschen Filmtiteln konnte nur etwa die Hälfte den entsprechenden Originaltiteln zugeordnet werden. 24Vgl. den Beitrag von Annika Behler in diesem Band. 25Vgl. den Beitrag von Ingrid Tomkowiak in diesem Band.
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Pabsts Kameradschaft (1931), in dem Krieg und Völkerhass nach dem Ersten Weltkrieg durch die Solidarität zwischen Bergleuten in Deutschland und Frankreich überwunden werden, wurde für Vorführungen vor Schulkindern verwendet (vgl. ebd., 31). Stets erwähnt wird in der Aufzählung von Kinder- und Jugendfilmen dieser Zeit auch Die Unehelichen (1926), der in seiner Anklage an die Gesellschaft zwar eher an ein erwachsenes Publikum gerichtet war, dessen sensible Milieuzeichnung und drei kindlichen Hauptdarsteller/innen (zwischen 6 und 13 Jahren) „junge Zuschauer jedoch keineswegs aus[schlössen]“ (ebd.).26 Abgesehen vom Prädikat volksbildend konnte für diesen Film bisher keine Zensurentscheidung eruiert werden. Der Jugendfilm ist ein Phänomen, das besonders schwer zu erfassen ist. Noch für die Weimarer Republik konstatiert Stiglegger, dass die Produktionen nur zwei Märkte bedienten: die Familie mit Kindern und das erwachsene Publikum, was mit großer Wahrscheinlichkeit mit den Zensurbedingungen zusammenhing, die Kinder und Jugendliche über einen Kamm scherten. „Die Jugend war zwar als zahlende Masse präsent, wurde jedoch noch Jahrzehnte später kaum explizit als Publikum ernst- und wahrgenommen.“ (Stiglegger 2003, 312) Trotzdem gab es in der Weimarer Republik durchaus Jugendfilme bzw. Filme, die jugendliche Protagonist/innen haben und sich mit Problemen und Fragen der Jugend auseinandersetzen. Die Jugendfilme handeln meist von Schüler/innengruppen und betonen das Recht auf Rebellion der jungen gegen die alte Generation (vgl. Kracauer 1984, 169). Die Themen und Kampfschauplätze sind durchaus divers: Die Schüler/innen in Der Kampf der Tertia (1928, n. d. gleichnamigen Roman von Wilhelm Speyer, jugendfrei) kämpfen um das Leben bedrohter Tiere, in Die Räuberbande (1928, n. d. gleichnamigen Roman von Leonhard Frank, jugendfrei) rebelliert eine Bande 14-jähriger Schüler und Lehrlinge gegen sadistische Lehrer, ausbeuterische Lehrherren, die Eltern – letztlich gegen die Welt der Erwachsenen per se. Der gespiegelte Generationenkonflikt wird häufig mit einer Kritik am elterlichen wie schulischen Erziehungssystem kombiniert, so in Primanerliebe (1927), Der Kampf des Donald Westhof (1927) oder Frühlings Erwachen (nach Frank Wedekinds gleichnamigen Theaterstück, gleich zwei Adaptionen in der Weimarer Republik: 1923 und 1929). Melodramatische Filme von den Liebensnöten Jugendlicher – mal qualitativ gelungen, mal an der Grenze zur Kolportage – wie Der Geiger von Florenz (1926), Die Siebzehnjährigen (1929, nach Max Dreyers Theaterstück Die Siebzehnjährige) und Ariane (1931, n. d. gleichnamigen Roman Claude Anets) stehen neben ernsthaften sozialkritischen Filmen wie Tagebuch einer Verlorenen (1929, n. d. gleichnamigen Roman von Margarethe Böhme), Mädchen in Uniform (1931, nach dem Theaterstück Gestern und Heute/Ritter Nérestan von Christa Winsloe),27 Revolte im Erziehungshaus (1930, nach Peter
26„Die
Unehelichen [funktioniert] als veritables Sozialdrama: Dort herrscht der prägnante ater-Sohn-Konflikt vor, der sich im proletarischen Milieu zum oft brutalen Generationenkampf V ausweitet.“ (Stiglegger 2003, 313) 27Vgl. den Beitrag von Gabriele von Glasenapp in diesem Band.
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Martin Lampels gleichnamigen Schauspiel) oder der amerikanischen Verfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues (1929) mit dem Originaltitel All Quiet on the Western Front (1930).28 Diese Filme, die nicht selten keine Jugendfreigabe erhielten oder sogar wie die letzten beiden Beispiele von hohen Zensurauflagen belastet waren und ständig zwischen Freigabe und Verbot schwankten, setzen sich mit Themen auseinander, die konservative Denker/innen gerne von der Jugend ferngehalten hätten, die aber selbstverständliche Bestandteile jugendlichen Lebens waren: Liebe und Sexualität, Rebellion und Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und Erziehungsinstanzen, selbstverständlich auch der Erste Weltkrieg und seine Nachwirkungen.29 Schon bei dieser kurzen Aufzählung einiger Jugendfilme der Zeit fällt auf, dass viele von ihnen Romane und Theaterstücke adaptieren. Für den Kinderfilm sind solche Tendenzen auch jenseits von Märchenverfilmungen zu beobachten, etwa bei Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1926, n. d. gleichnamigen Kinderbuch von Waldemar Bonsels), bei den Doktor Dolittle-Filmen von Lotte Reiniger (1928, nach Hugh Loftings Kinderbuch The Story of Doctor Dolittle, das erstmals 1926 von Edith Jacobsohn ins Deutsche übersetzt wurde) und natürlich der Verfilmung von Erich Kästners Emil und die Detektive (1931). In der Filmkritik zum Baby Peggy-Film My Darling, die am 22. November 1924 (auf derselben Seite wird Jackie Coogans Oliver Twist besprochen) im Film-Kurier erschien, heißt es noch: Der Herr Generaldirektor des „Universalfilm“ hat unlängst in einem amerikanischen Fachblatt erklärt, daß uns Deutschen das Universalrezept zum richtigen Publikumserfolg fehle, während Amerika dieses Universalrezept besitze. Ich will also kurz definieren: dramaturgisch ist dieser Film hergestellt nach dem amerikanischen Universalrezept „Kinderfilm“. (H. 1924)
Profitierten Kinder- und Jugendvorstellungen gerade zu Beginn der Weimarer Republik noch enorm von den amerikanischen Produktionen, die auch weiterhin – solange es erlaubt war – gern und intensiv rezipiert wurden, so entwickelte sich in jenen Jahren langsam eine auch spezifische deutsche Kinder- und Jugendfilmproduktion. Die Rezeptionswege der Minderjährigen wurden dabei durchaus wahrgenommen und erhört.
28Sander
äußert sich in ihrer Studie zum Jugendfilm im Nationalsozialismus zum Filmbesuch Jugendlicher vor 1933 wie folgt: „Die linkspolitischen und ebenso die nationalen Jugendgruppen beschränkten sich dagegen im wesentlichen [sic!] auf den Filmbesuch ihr gemäßer Tendenzfilme („Im Westen nichts Neues“ die einen, „Fridericus Rex“ oder „Die Nibelungen“ die anderen)“ (Sander 1944, 23). Vgl. außerdem den Beitrag von Ricarda Freudenberg in diesem Band. 29Diesbezüglich muss Loiperdingers Beobachtung hervorgehoben werden, dass „die Zensoren der Film-Prüfstellen [der Weimarer Republik] auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge dafür umso scharfsichtiger“ waren (Loiperdinger 2004, 530). Verherrlichungen des Preußenkönigs Friedrich II. in den zahlreichen Fridericus Rex-Filmen stellten kein Problem dar, pazifistische und sozialistische Filme hingegen schon (vgl. ebd.).
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Kinder- und Jugendfilme in der NS-Zeit Das nationalsozialistische Regime wusste den Film für seine Zwecke zu nutzen. Hobsch konstatiert sogar, dass während der NS-Zeit „kein anderes Medium […] eine derart effiziente Indoktrination betrieben und damit so viele Menschen erreicht und lange Zeit auch geprägt [habe] wie der Film.“ (Hobsch 2009, 39) Direkt nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurden Einwirkungen auf die Filmbranche spürbar. Der spätere sogenannte Filmminister Joseph Goebbels bemühte sich um eine rasche Arisierung des gesamten Betriebs, die deutsche Filmindustrie wurde vor dem Import ausländischer Filme geschützt, zahlreiche aus unterschiedlichen Gründen unliebsame Filme – von pazifistischen oder kommunistischen Werken bis hin zur Beteiligung einer einzigen jüdischen Person – wurden in Säuberungsaktionen verboten (vgl. Loiperdinger 2004, 534 ff.). Bei den Film-Oberprüfstellen veränderte sich wenig, die obersten Filmzensoren hatten „sich auch nach nationalsozialistischen Maßstäben in der Vergangenheit bestens bewährt und [blieben] im Amt“ (ebd., 536). Auch das Reichslichtspielgesetz vom 16. Februar 1934 brachte zunächst keine großen Veränderungen: Filme, die vor Jugendlichen gezeigt werden sollten, mussten einer besonderen Prüfung unterzogen werden, die Förderung durch Prädikate, die in der Weimarer Republik begann, wurde gesetzlich verankert, wichtigste Neuerung war „die Einführung der Vorzensur durch das Amt des Reichsfilmdramaturgen, dem die Drehbücher aller Spielfilme zur Begutachtung vorgelegt werden müssen (§ 1, 2, 3 LSpG).“ (Ebd., 537) Da die Filmproduktion immer mehr in staatlicher Hand lag, wurden die Film-Prüfstellen nach und nach irrelevant, „ab Anfang 1942 [war] für die gesamte Produktionspolitik und für die Abnahme der fertigen Filme der Reichsfilmintendant zuständig.“ (Ebd., 357) Laut Hobsch wurden zwischen 20 und 30 % der deutschen Produktion für jugendfrei befunden, diese Aussage bezieht sich allerdings wieder nur auf lange Spielfilme. Schon damals stand zur Diskussion, ob jugendfrei auch jugendgeeignet bedeute – das Sonderprädikat jugendwert, das ab November 1938 eingesetzt wurde, sollte diese Lücke füllen (vgl. Hobsch 2009, 40). Da auch Filme, die dieses Prädikat nicht erhielten, in Jugendfilmstunden eingesetzt wurden, führte das Regime seine eigenen Maßstäbe ad absurdum. Reese hält fest, dass nur etwa 12 bis 15 Spielfilme in diesen Jahren für die Jugend produziert wurden (vgl. Reese 1984, I), eine äußerst geringe Anzahl spezifischer Kinder- und Jugend(spiel) filme also, bedenkt man die immense Bedeutung der Jugend in der NS-Ideologie. Die Anzahl der von Kindern und Jugendlichen rezipierten und auch der ihnen zugemuteten Filme ist weitaus größer. Zum einen sind zahlreiche Kurzfilme zu berücksichtigen, die in den üblichen Langfilmrechnungen nicht mitgezählt werden, außerdem die in den Jugendfilmstunden aufgeführten Filme, die – das soll an dieser Stelle noch einmal betont werden – in der Projekt-Datenbank als KJ-intendierte Filme gelistet sind.
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Zunächst soll ein Blick auf die „Erziehungsfilme“ (Hobsch 2009, 43) jener Jahre geworfen werden, die sich direkt an Kinder und Jugendliche richteten und ihnen die nationalsozialistische Ideologie filmisch vermitteln sollten. Der prominenteste Streifen dieser Art ist sicherlich die Adaption von Karl Aloys Schenzingers Roman Hitlerjunge Quex (1933), er ist jedoch bei weitem nicht der einzige, in dem die Jugendorganisation der Nationalsozialisten im Mittelpunkt steht. Der Film Die Bande vom Hoheneck (1934) wurde noch mit Pfadfindern gedreht und der Schluss unter Anpassungszwängen dahingehend geändert, dass die Darsteller nun in HJ-Uniformen auftreten (vgl. ebd., 41). In Kopf hoch, Johannes! (1941), Jakko (1941)30 und Jungens (1941) nimmt die HJ eine zentrale Rolle ein. Die jugendlichen Protagonisten von Jungens wurden sogar ausschließlich von Schülern der Adolf-Hitler-Schule in Sonthofen gespielt, sie waren auch bei der Uraufführung und bei Premieren anwesend, um von ihrem Leben an der Schule zu berichten (vgl. ebd., 41). Von diesen drei Filmen erhielt nur Jakko Prädikate – darunter auch jugendwert. Zur Mobilisierung der weiblichen Jugend erschien bereits 1934 Ich für Dich – Du für mich, ein Film über den weiblichen Arbeitsdienst, reine Propaganda. Der Film Zwei Welten (1940) handelt von der sogenannten Erntehilfe, der Film Hände hoch! (1942) widmet sich der Kinderlandverschickung, Junge Adler (1944) ist eine Hommage an Görings Fliegerjugend und warb für die Rüstungsindustrie, schon Himmelhunde (1942) widmete sich dem Thema Fliegen zu. Bravo, kleiner Thomas (1945) verpackt die moralische Indoktrination über Gemeinschaftswerte, Kameradschaft, Sportertüchtigung, Opferbereitschaft und Heldentum in eine Fußballgeschichte – dieser Film erhielt am 3. September 1954 auch die FSK-Freigabe Jugendgeeignet/ Jugendfördernd.31 Ein weiteres beliebtes Genre der Zeit sind Schulfilme. Zu ihnen zählen Reifende Jugend (1933) nach Max Dreyers Theaterstück Die Reifeprüfung (1929), der von der Jugend handeln soll, aber vor allem Autorität und Führertum thematisiert (vgl. ebd., 45). Gleichwohl feierte dieser Film auch in London Erfolge und wurde sogar mit Mädchen in Uniform verglichen (vgl. London meldet 1936). In Traumulus (1935) nach Arno Holz’ und Oskar Jerschkes gleichnamiger tragischer Komödie (1905) wird am Ende der Glaube an eine neue Jugend und eine neue Zeit propagiert.32 Weiterhin zu nennen sind So ein Flegel (1934), Die Feuerzangenbowle (1944)33 und Was tun, Sibylle? (1938).34 In Kindervorstellungen wurden gerne Komödien eingesetzt, beliebt war beispielsweise das dänische Komiker-Duo Pat und Patachon, das schon seit 1921
30Vgl.
den Beitrag von Winfred Kaminski in diesem Band. https://www.filmportal.de/film/bravo-kleiner-thomas_0175530d166a48bda9d43e2027e36d47 (01.04.2020). 32Vgl. den Beitrag von Petra Josting in diesem Band. 33Vgl. den Beitrag von Heidi Nenoff in diesem Band. 34Vgl. den Beitrag von Caroline Roeder in diesem Band. 31Vgl.
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für Lacherfolge sorgte. 1936 erlebten deren in Deutschland produzierten Filme Mädchenräuber und Blinde Passagiere ihre Uraufführung. Da das deutsche Märchen als Kulturgut begriffen wurde, spielte der Märchenfilm weiterhin eine große Rolle. Alf Zengerling, der seine Karriere in der Weimarer Republik begann, lieferte naturnahe Schauspielerfilme, Hubert Schonger produzierte mit seiner Naturfilmproduktion neben Märchen- und Kasperlefilmen rund 40 Kinderfilme, die er in Zusammenarbeit mit den Hohnsteiner Puppenspielen auf die Leinwand brachte (vgl. Hobsch 2009, 48). Die Gebrüder Diehl steuerten Puppentrickfilme bei, galten sogar als die Pioniere des Puppenfilms und lieferten auch zahlreiche Produktionen für den Schulunterricht. Fritz Genschow, der mit Kindern für Kinder produzierte, schuf neben Rotkäppchen und der Wolf (1937) nicht nur zahlreiche weitere Märchenfilme, sondern auch eine ganze Reihe an Kinderfilmen, die aufgrund ihrer Länge – besser: Kürze – nicht in den üblichen Spielfilmlisten auftauchen. Diese Kurzfilme, wie Die Mühle von Werbellin (1937) und Die Sänger von der Waterkant (1936), die zum Teil wie Jungjäger (1938) auch Dokumentarfilme sind, gehören zu den spezifischen Kinderfilmen dieser Zeit.35 Trotz deutlicher Einschränkungen des Filmimports liefen nicht ausschließlich deutsche Filme über die Leinwand. Der italienische Film Vecchia Guardia (1935) wird nach der Uraufführung in Rom noch abwertend besprochen: Das Beste an dem Film sei die Leistung von Franco Brambilla, der „einen begeisterten kleinen Faschisten spielt“, dessen Sterbeszene wirke jedoch „gestellt und unnatürlich“ (Vecchia Guardia 1935). Der Film habe zwar „großen Beifall gefunden“ für Deutschland käme er jedoch kaum in Frage, da man „bei uns einen Hans-Westmar-Film“ kenne, mit dem Vecchia Guardia nicht konkurrieren könne (ebd.). Erst 1937 kommt diese italienische Entsprechung des Hitlerjungen Quex in die deutschen Kinos – die Kritik ist vergessen, er ist jugendfrei und erhält die Prädikate staatspolitisch wertvoll und künstlerisch wertvoll (vgl. Zensierte Filme 1937). Der amerikanische Kinderstar Shirley Temple ist von 1934 bis 1939 mit insgesamt 16 Filmen in den Programmen vertreten, der Versuch, ihr mit der kleinen Traudl Stark ein deutsches Pendant entgegenzusetzen, wirkt im Vergleich bescheiden: Das Mädchen dreht insgesamt zehn Filme, vier davon (Seine Tochter ist der Peter (1937),36 Peter im Schnee (1937), Liebling der Matrosen (1937) und Prinzessin Sissy (1938)) erhielten eine Jugendfreigabe. Der Filmkonsum und -besuch wurden in der NS-Zeit deutlich gelenkt. Begonnen bei Tonfilmwagen, die von der Reichspropagandaleitung zur Verfügung gestellt wurden, um auch in Dörfern ohne Kinos für Filme zu sorgen, über die staatlichen Schulfilmveranstaltungen ab Oktober 1933 bis zur Einführung der
35Vgl.
den Beitrag von Petra Anders in diesem Band. Film erhielt nur die Freigabe Jugendfrei ab 14 Jahren, alle weiteren genannten waren schlicht jugendfrei.
36Dieser
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Jugendfilmstunden des Deutschen Reichs. Die Teilnahme von Jugendlichen daran wurde als „Jugenddienst“ (Hobsch 2009, 53) betrachtet.37 Es handelte sich dabei um groß angelegte Propagandaveranstaltungen und „Zwangsversammlungen“, die helfen sollten, in einer emotionalen Weise auf die Jugendlichen einzuwirken und somit die Filmvorführungen zu einem Gemeinschaftserlebnis zu machen. […] Der genau durchdachte Ablauf der Jugendfilmstunden und staatspolitischen Schulveranstaltungen in fahnengeschmückten Kinosälen unterlag einem festen Reglement, zu dem der geschlossene Einmarsch, Gesang usw. gehörten. (Ebd., 54)
Pflichtfilme für Jugendliche ist eine treffende Wendung für diese Einrichtung. Hier kamen Hitlerjungen, BDM-Mädchen und Pimpfe zusammen und sahen Filme, die zwar häufig nicht in erster Instanz für sie gedacht waren, die aber bewusst und nicht nur intendiert, sondern verpflichtend für sie gezeigt wurden. Reese weist außerdem darauf hin, dass gerade die Jugend aus ländlichen Gebieten und kinolosen Orten die Jugendfilmstunde aufsuchte – egal, ob die dort gezeigten Filme sie interessierten oder nicht –, weil es für sie keine andere Möglichkeit gab, einen Film zu sehen (vgl. Reese 1984, XXII). Das Gedankengut der nationalsozialistischen Welt- und Lebensanschauung sollte in die jungen Menschen gepflanzt werden. So erhielt beispielsweise der propagandistische Militärfilm Pour le Mérite (1938) im Jahr 1939 das Prädikat jugendwert und wurde in den Jugendfilmstunden eingesetzt. Die Reichsfilmkammer forderte „im Einvernehmen mit der Reichspropagandaleitung Film“ dazu auf, dass jene Filmtheater, die über eine Kopie des Films verfügen, sich „unverzüglich“ bei der „zuständigen Gaufilmstelle“ zu melden hätten, „zwecks Festsetzung der Jugendfilmstunde“ (Einsatz des jugendwerten Films „Pour le mérite“ 1939). Der antisemitische Propagandastreifen Jud Süß (1940) erhielt von der Zensur zunächst nur die Prädikate staatspolitisch wertvoll und künstlerisch wertvoll (vgl. Zensiert 1940), wurde aber 14 Tage später auch noch mit dem Prädikat jugendwert bedacht (vgl. „Jud Süß“ ebenfalls jugendwert 1940) und lief natürlich in den Jugendfilmstunden. Bei der Umfrage Anneliese Sanders unter Führer/innen der HJ und des BDM rangiert er trotzdem nur auf Platz 33 (vgl. Reese 1984, IX).38 Die neue Spielzeit der Jugendfilmstunden wurde jeweils im Herbst feierlich vom Reichspropagandaminister eröffnet, die ausführlichen Artikel darüber belegen, welche Filme warum ausgewählt wurden (vgl. bspw. Die Eröffnung der Jugendfilmstunden 1942/1943 1942).
37„An
diesen Veranstaltungen sollten alle Jugendlichen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr, aber auch die älteren Mitglieder der HJ teilnehmen. Ferner nahmen teil: die Jugendlichen der Napola und Lehrerbildungsanstalten, die Luftwaffen- und Marinehelfer aus den Reihen der HJ. Millionen von Jungen und Mädchen wurden durch die Jugendfilmstunden in die Filmtheater geführt.“ (Hobsch 2009, 53) 38Hartmut Reese hat die Studie Anneliese Sanders (publiziert 1944) 1984 analysiert und mit einem kritischen Kommentar neu herausgegeben.
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Ein Blick auf die Top Ten der nach Sanders’ Studie für gut befundenen Filme erläutert das Spektrum dessen, was Jugendlichen gezeigt wurde: 1. Der große König (1942, Fridericus Rex-Film, jugendwert), 2. Bismarck (1940), 3. Die Entlassung (1942, jugendwert), 4. Friedrich Schiller (1940, jugendwert), 5. Heimkehr (1941, jugendwert), 6. Ohm Krüger (1941, jugendwert), 7. …reitet für Deutschland (1941), 8. Andreas Schlüter (1942, jugendwert), 9. Stukas (1941, jugendwert), 10. Kadetten (1941) (vgl. Reese 1984, XXII). Thematisch werden größtenteils historische (Kriegs-)Filme genannt, die häufig um die (nationalsozialistische) Interpretation historischer Persönlichkeiten kreisen; viele Filme wurden mit dem Prädikat jugendwert ausgezeichnet, alle liefen in den Jugendfilmstunden. Um die tatsächliche Filmrezeption von Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit zu betrachten, sind solche Aussagen relevant, auch wenn diese Filme aus heutiger Sicht nicht mehr geeignete Kinder- und Jugendfilme darstellen. Reese konstatiert bezüglich dieser Spitzenliste: „Was besagt diese Liste […] über jugendlichen Filmbesuch und über jugendliche Wünsche an den Film? Es besagt wohl nicht mehr, als daß Jugendliche grundsätzlich die Filme konsumieren, die das allgemeine Kinoprogramm anbietet.“ (Ebd.) Wichtig ist außerdem festzuhalten, dass der spezifische NS-Jugendfilm keinen besonderen Stellenwert im Gesamtergebnis aufweist, unter den besten Platzierungen taucht er noch nicht mal auf. Für die Veranstaltungen wurden auch Filme empfohlen, für die ursprünglich mal ein Jugendverbot ausgesprochen wurde, z. B. Der Rebell (1932) und Morgenrot (1933). Zu berücksichtigen sind außerdem Dokumentarfilme mit Spielhandlung, die Sander zu den „Berichtfilmen“ zählt, in denen „weitgehend […] etwas wie eine politische Auftragsproduktion zu erkennen“ ist (ebd., VII). Sander unterscheidet wiederum drei Kategorien, a) die reportageartigen Verfilmungen bestimmter Ereignisse aus dem Leben der Jugend, b) wochenschauartige Überblicke aus dem Schaffen der Jugend und c) kultur-, unterrichts- oder forschungsfilmische Darstellungen (vgl. Sander 1944, 17). Berichtfilme der ersten Kategorie wurden in die Datenbank aufgenommen, bspw. Jungbann 2 (1936), der gleichzeitig Literaturverfilmung (basierend auf der Reihe Jungen im Dienst (1936–1938) von Alfred Weidenmann) und Dokumentarfilm ist, als Produktionsfirma zeichnet die Hitler-Jugend, Gebietsführung 20, Referat Film. Bei weitem nicht alle Berichtfilme aber haben eine Spielhandlung; als reine Dokumentar- und Propagandafilme kann man z. B. Der Marsch zum Führer (1940), Glaube und Schönheit (1940) und Soldaten von morgen (1941) betrachten, doch sie sind spezifische Kinder- und Jugendfilme, wurden für und teilweise mit der Jugend produziert (vgl. Reese 1984, VIII) und müssen dementsprechend im Korpus berücksichtigt werden. In Sanders zwar ideologischer und tendenziöser, aber auch heute noch aufschlussreichen Untersuchung wird außerdem unterschieden zwischen dem Kinderspielfilm, „in erster Linie für die Unter-Zehnjährigen“ (Sander 1984, 17) und dem Jugendspielfilm, der der Form nach dem Erwachsenenspielfilm parallel gesetzt werden könnte, aber niemals „Nur-Unterhaltung“ (ebd., 18) sein dürfte. Dies entspricht der Zensurpraxis während des NS-Regimes, die auch die Freigabe-Option Jugendfrei ab 14 Jahre kannte. Mit dieser Bestimmung wird aber in den letzten Kriegs-
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jahren insofern gebrochen, als aufgrund einer Sonderbestimmung bestimmte Filme mit dieser Freigabe für Jugendfilmstunden der Hitlerjugend ab 10 Jahren freigegeben wurden (vgl. ebd., 20).
Zusammenfassung und Ausblick Ziel im Bereich Film war es, unter Berücksichtigung der bisherigen Forschungsergebnisse den Blick für den Kinder- und Jugendfilm zu öffnen und basierend auf der zeitgenössischen Fachpresse Verfilmungen kinder- und jugendliterarischer Stoffe sowie faktisch von dieser Zielgruppe rezipierte Filme zu erfassen. Dabei wurde u. a. festgestellt, dass die Stummfilmzeit zwar stark von Märchen- und Sagenverfilmungen geprägt ist, dass hier aber auch der Beginn der Detektiv- und Abenteuerfilme und -serien zu verorten ist, die in der Erfassung berücksichtigt wurden. Die zeitgenössische Diskussion um das Thema Kind und Kino verdeutlicht immer wieder, dass gerade diese Filme ein junges Publikum anzogen. Diese als Schundfilme verschrienen Produktionen zeigen ganz unterschiedliche Beziehungen zur Literatur. Es gab Filme, die literarische Vorlagen verarbeiteten (z. B. Sherlock Holmes), solche, die Buchpublikationen nach sich zogen (z. B. Joe Jenkins) und wieder andere, die zu Groschenheftreihen inspirierten (z. B. Harry Piel). Unter Zuhilfenahme von Forschungsliteratur zur Populärkultur und Trivialliteratur konnte ein bedeutendes Korpus an faktisch von Kindern und Jugendlichen rezipierten Filmen erfasst werden. Das Interesse Minderjähriger an solchen Stoffen wurde letztlich im Verlauf der 1920er-Jahre nach und nach auch auf der Distributionsebene honoriert, neben amerikanischen erhielten auch deutsche Produktionen dieser Art immer häufiger eine Jugendfreigabe. Im Kaiserreich wurden außerdem zahlreiche (Versuche von) Verfilmungen dramatischer Stoffe publiziert, die aufgrund der durch Schüleraufführungen gesammelten Erkenntnisse über die intendierte Rezeption klassischer Dramen durch Kinder und Jugendliche in die Datenbank aufgenommen wurden, die faktische Nutzung durch Minderjährige ist an dieser Stelle jedoch meist ungesichert. Die Adaptionen von literarischen und dramatischen Stoffen in der Weimarer Republik sind zahlreicher als bisher dokumentiert, neben Komödien und amerikanischen Kinderstars ist in diesem Zeitraum die Geburtsstunde des deutschen Jugendfilms zu verorten, der sich – trotz ideologischer Prägung und fragwürdiger Produktionen – in der Distribution im Nationalsozialismus konstituierte; Jugendliche wurden als eigenes Publikum wahrgenommen, das von Kindern zu unterscheiden war. Der Märchenfilm entwickelte sich, wie die gesamte deutsche Filmproduktion, in dieser Zeit und wurde mit der Wende zum Tonfilm zu einem spezifischen Kinderfilmgenre. Animations- und Zeichentrickfilme zogen maßgeblich durch Walt Disney39 gegen Ende der 1920er-Jahre in
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den Beitrag von Johannes Krause in diesem Band.
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die deutschen Kinos. Einen ganz eigenen Weg ging die deutsche Filmproduktion dank der Scherenschnittkünstlerin Lotte Reiniger mit Silhouettenfilmen ein. Der Puppentrickfilm – ein spezifisches Kinderfilmgenre – etablierte sich erst in den 1930er-Jahren, maßgeblich mit den Produktionen der Gebrüder Diehl und Hubert Schongers. Von den experimentellen Jahren der Weimarer Republik, die zu einer Qualitätssteigerung nicht nur des deutschen Films ganz allgemein, sondern auch der spezifischen und intendierten Kinder- und Jugendfilmproduktion führte, profitierte das NS-Regime, das bei aller Tendenz und Ideologie zumindest ästhetisch und technisch gelungene Produktionen auf den Markt brachte und damit die zeitgenössische Jugend beeinflusste. Der Macht des Films waren die Nationalsozialisten sich sehr bewusst. Mithilfe der verschiedenen Quellen konnte ein Korpus erstellt werden, das über 1759 Titel umfasst und damit den bisherigen Forschungsstand enorm erweitert. 331 Filme im Kaiserreich, 818 in der Weimarer Republik und 532 während des Nationalsozialismus; 1000 Stummfilme, 532 Tonfilme. Im Zuge der Untersuchung der genannten Filmzeitschriften wurde eine Fülle an Materialien entdeckt und als medienverbundrelevante Paratexte ausgewertet: Filmbeschreibungen (Kaiserreich), Filmkritiken (Weimarer Republik) und -betrachtungen (NS-Zeit), Werbung, Meldungen, Notizen und begleitende Artikel zu Filmproduktionen, Empfehlungen für Kindervorstellungen, Kinoprogramme, Schauspielerporträts sowie die zeitgenössische Diskussion um das Thema Kind und Kino. Es wurden 1132 Spielfilme und 590 Kurzfilme erfasst, die bisher bei den meisten Untersuchungen zu diesem Thema außen vor blieben, gerade für das junge Publikum jedoch ein großes Korpus bilden. 1046 Realfilmen stehen 219 Animationsfilme gegenüber (davon 133 Zeichentrick-, 21 Scherenschnitt-, 30 Puppentrickfilme). 150 spezifische Kinder- und Jugendfilme stehen 228 faktische und 778 intendierte Kinder- und Jugendfilme gegenüber, die die größte Gruppe bilden. Fragezeichen stehen hinter 558 erfassten Filmen, deren Rezeption durch Minderjährige noch nicht gesichert werden konnte.
Literatur Filmografie … reitet für Deutschland (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Arthur Maria Rabenalt, Drehbuch: Fritz Reck-Malleczewen/Richard Riedel/Josef Maria Frank, Musik: Alois Melichar, Ufa. All Quiet on the Western Front (USA 1930) [Spielfilm]. Regie: Lewis Milestone, Drehbuch: Maxwell Anderson/Del Andrews/George Abbott, Universal Pictures. Nach dem Roman Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque [EA 1929]. Andreas Schlüter (D 1942) [Spielfilm]. Regie: Herbert Maisch, Drehbuch: Helmut Brandis/ Herbert Maisch, Musik: Wolfgang Zeller, Terra-Filmkunst GmbH. Nach dem Roman Der Münzturm [EA 1936] von Alfons von Czibulka.
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Ariane (D 1931) [Spielfilm]. Regie: Paul Czinner, Drehbuch: Paul Czinner/Carl Mayer, Musik: Leo Witt, Nero-Film AG. Nach dem gleichnamigen Roman von Claude Anet [EA 1924]. Artisten (D 1935) [Spielfilm]. Regie: Harry Piel, Drehbuch: Max W. Kimmich, Harry Piel, Musik: Fritz Wenneis, Ariel Film GmbH. Bismarck (D 1940) [Spielfilm]. Regie: Wolfgang Liebeneiner, Drehbuch: Rolf Lauckner/ Wolfgang Liebeneiner, Musik: Norbert Schultze, Tobis-Filmkunst GmbH. Blinde Passagiere (D 1936) [Spielfilm]. Regie: Fred Sauer, Drehbuch: Max Wallner/Georg Zoch, Musik: Walter Espe, Majestic-Film GmbH. Bravor, kleiner Thomas! (D 1945) [Spielfilm]. Regie: Jan Fethke, Drehbuch: Odo Krohmann, Musik: Oskar Wagner, Bavaria Filmkunst GmbH. Der Dschungel ruft (D 1936) [Spielfilm]. Regie: Harry Piel, Drehbuch: Georg Mühlen-Schulte/ Harry Piel, Musik: Fritz Wenneis, Ariel-Film GmbH. Nach dem Roman Die Buschhexe [EA 1930] von Georg Mühlen-Schulte. Der Geiger von Florenz (D 1926) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Paul Czinner, Musik: Giuseppe Becce, Ufa. Der große König (D 1942) [Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Veit Harlan, Musik: Hans-Otto Borgmann, Tobis-Filmkunst GmbH. Der Kampf der Tertia (D 1928) [Stummfilm]. Regie: Max Mack, Drehbuch: Max Mack/Axel Eggebrecht, Musik: Giuseppe Becce, Terra-Film AG. Nach dem gleichnamigen Roman von Wilhelm Speyer [EA 1927]. Der Kampf des Donald Westhof (D 1927) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Fritz Wendhausen, Musik: Artur Guttmann, Ufa. Der Marsch zum Führer (D 1940) [Dokumentarfilm]. Deutsche Filmherstellungs- und Verwertungs-GmbH. Der Rattenfänger (D 1918) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Paul Wegener, Projektions-AG Union (PAGU). Der Rebell. Die Feuer rufen (D 1932) [Spielfilm]. Regie: Kurt Bernhardt/Luis Trenker, Drehbuch: Robert A. Stemmle/Walter Schmidkunz/Henry Kosterlitz, Musik: Giuseppe Becce, Deutsche Universal-Film AG. Der verlorene Schuh (D 1923) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Ludwig Berger, Musik: Guido Bagier, Decla-Bioscop AG. Die Bande vom Hoheneck (D 1934) [Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Hans F. Wilhelm, Musik: Hans Ailbout, Czerny-Produktion GmbH. Die Biene Maja und ihre Abenteuer (D 1926) [Stummfilm]. Regie: Wolfram Junghans, Drehbuch: Curt Thomalla, Kulturfilm AG. Nach dem gleichnamigen Roman von Waldemar Bonsels [EA 1912]. Die Entlassung (D 1942) [Spielfilm]. Regie: Wolfgang Liebeneiner, Drehbuch: Curt J. Braun, Felix von Eckardt, Musik: Herbert Windt, Tobis-Filmkunst GmbH Die Feuerzangenbowle. Ein heiterer Film (D 1944) [Spielfilm]. Regie: Helmut Weiss, Drehbuch: Heinrich Spoerl, Musik: Werner Bochmann. Terra-Film. Nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Spoerl [EA 1933]. Die Mühle von Werbellin (D 1937) [Kurz-Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Fritz Genschow, Tobis-Meofilm GmbH. Die Nibelungen (D 1922–1924) [Stummfilm]. Regie: Fritz Lang, Drehbuch: Thea von Harbou, Decla-Bioscop AG. In zwei Teilen, 1. Siegfried/Siegfrieds Tod, 2. Kriemhilds Rache. Die Räuberbande (D 1928) [Stummfilm]. Regie: Hans Behrendt, Drehbuch: Leonhard Frank/ Franz Schulz/Hans Behrendt, Felsom-Film GmbH. Nach dem gleichnamigen Roman von Leonhard Frank [EA 1914]. Die Sänger von der Waterkant (D 1936) [Kurz-Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Fritz Genschow, Musik: Walter Ulfig, Fritz Genschow-Filmproduktion/Tobis-Melofilm GmbH. Die Siebzehnjährigen [Stummfilm] (D 1929). Regie: Georg Asagaroff, Drehbuch: Fritz Falkenstein, Musik: Guiseppe Becce, Terra-Film AG. Nach dem Theaterstück Die Siebzehnjährige [EA 1904] von Max Dreyer.
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Die Unehelichen (D 1926) [Stummfilm]. Regie: Gerhard Lamprecht, Drehbuch: Luise Heilborn-Körbitz/Gerhard Lamprecht, Gerhard-Lamprecht-Film Produktion. Doktor Dolittle und seine Tiere (D 1928) [Silhouetten-Animationsfilm]. Regie: Lotte Reiniger, Comenius-Film GmbH/I. G. Farbenindustrie AG. Nach dem Kinderbuch The Story of Doctor Dolittle [EA 1920] von Hugh Lofting. Emil und die Detektive (D 1931) [Spielfilm]. Regie: Gerhard Lamprecht, Drehbuch: Billy Wilder, Musik: Allan Gray. Nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner [EA 1929]. Friedrich Schiller (D 1940) [Spielfilm]. Regie: Herbert Maisch, Drehbuch: Walter Wassermann/ Lotte Neumann, Musik: Herbert Windt, Tobis-Filmkunst GmbH. Frühlings Erwachen [Stummfilm] (D 1923). Regie: Jakob Fleck/L. Kolm, Drehbuch: Jakob Fleck/Adolf Lantz, Wiener Kunstfilm. Nach dem Bühnenstück Frühlings Erwachen [EV: 1891, EA: 1906] von Frank Wedekind. 1928 vertrieben unter dem Titel Frühreife Jugend. Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie [Stummfilm] (D 1929). Regie: Richard Oswald, Drehbuch: Friedrich Raff/Herbert Rosenfeld, Musik: Walter Ulfig, Hegewald-Film. Nach dem Bühnenstück Frühlings Erwachen [EV: 1891, EA: 1906] von Frank Wedekind. Glaube und Schönheit (D 1940) [Kurz-Dokumentarfilm]. Regie: Hans Ertl, Deutsche Filmherstellungs- und Verwertungs-GmbH (DFG). Hände hoch! (D 1942) [Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Alfred Weidenmann, Musik: Horst Hanns Sieber; Deutsche Filmherstellungs- und Verwertungs-GmbH. Hans Trutz im Schlaraffenland (D 1917) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Paul Wegener, Projektions-AG Union (PAGU). Heimkehr (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Gustav Ucicky, Drehbuch: Gerhard Menzel, Musik: Willy Schmidt-Gentner, Wien-Film GmbH. Himmelhunde (D 1942) [Spielfilm]. Regie: Roger von Norman, Drehbuch: Philipp Lothar Mayring, Musik: Werner Bochmann, Terra-Filmkunst GmbH. Hitlerjunge Quex. Ein Film vom Opfergeist der deutschen Jugend (D 1933) [Spielfilm]. Regie: Hans Steinhoff, Drehbuch: Bobby E. Lüthge, Musik: Hans-Otto Borgmann, Ufa. Nach dem gleichnamigen Roman von Karl Aloys Schenzinger [EA 1932]. Ich für Dich – Du für mich (D 1934) [Spielfilm]. Regie: Carl Froelich, Drehbuch: Hans Gustl Kernmayr, Musik: Hansom Milde-Meißner, Froelich-Film GmbH. Jakko (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Fritz P. Buch, Musik: Hans O. Borgmann, Tobis-Filmkunst GmbH. Jud Süß (D 1940) [Spielfilm] Regie: Veit Harlan, Drehbuch: Veit Harlan/Eberhard Wolfgang Möller/Ludwig Metzger, Musik: Wolfgang Zeller, Terra-Filmkunst GmbH. Jungbann 2 (D 1936) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Alfred Weidenmann, HJ, Gebietsführung 20, Referat Film, Stuttgart. Basierend auf der Trilogie Jungen im Dienst [EA: 1936– 1938] von Alfred Weidenmann. Junge Adler (D 1943/44) [Spielfilm]. Regie: Alfred Weidenmann, Drehbuch: Alfred Weidenmann/Herbert Reinecker, Musik: Hans O. Borgmann, Ufa-Filmkunst GmbH. Jungens (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Robert A. Stemmle, Drehbuch: Otto Bernhard Wendler/ Horst Kerutt/Robert A. Stemmle, Musik: Werner Egk, Ufa. Nach dem Roman Die 13 Jungens von Dünendorf [EA 1941] von Hans Kerutt . Jungjäger (D 1938) [Kurz-Dokumentarfilm]. Regie und Drehbuch: Fritz Genschow, Musik: Walter Ulfig, Tobis-Filmkunst GmbH. Kalif Storch (D 1930/31) [Silhouetten-Animationsfilm]. Regie: Ferdinand Diehl, Gebrüder Diehl-Filmproduktion. Kadetten (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Karl Ritter, Drehbuch: Felix Lützkendorf/Karl Ritter, Musik: Herbert Windt, Ufa. Kameradschaft (D/F 1931) [Spielfilm]. Regie: G. W. Pabst, Drehbuch: Peter Martin Lampel/ Ladislaus Vajda/Gerbert Rappaport/Karl Otten, Musik: G. von Rigelius, Nero-Film AG/ Gaumont-Franco-Film Aubert. Kopf hoch, Johannes! (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Viktor de Kowa, Drehbuch: Toni Huppertz/ Wilhelm Krug/Felix von Eckardt, Musik: Harald Böhmelt, Majestic-Film GmbH.
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Liebling der Matrosen (AT 1937) [Spielfilm]. Regie: Hans Hinrich, Drehbuch: Karl Peter Gillmann/Detlef Sierck, Musik: Willy Schmidt-Gentner, Mondial Internationale Filmindustrie AG. Little Robinson Crusoe (USA 1924) [Stummfilm]. Regie: Edward F. Cline, Drehbuch: Willard Mack, Jackie Coogan Productions. Nach Motiven des Romans Robinson Crusoe [EA 1719] von Daniel Defoe. Mädchen in Uniform (D 1931) [Spielfilm]. Regie: Leontine Sagan, Drehbuch: Christa Winsloe/F. D. Andam, Musik: Hansom Milde-Meißner, Deutsche Film-Gemeinschaft GmbH. Nach dem Theaterstück Gestern und Heute/Ritter Nérestan [EA und EV 1930] von Christa Winsloe. Mädchenräuber (D 1936) [Spielfilm]. Regie: Fred Sauer, Drehbuch: Max Wallner, Musik: Walter Ulfig, Majestic-Film GmbH. Morgenrot (D 1933) [Spielfilm]. Regie: Gustav Ucicky, Drehbuch: Gerhard Menzel, Musik: Herbert Windt, Ufa. The Darling of New York (USA 1923) [Stummfilm]. Regie: King Baggot, Drehbuch: King Baggot/Adrian Johnson/Raymond L. Schrock, Universal Pictures. Ohm Krüger (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Hans Steinhoff, Drehbuch: Harald Bratt/Kurt Heuser, Musik: Theo Mackeben, Tobis-Filmkunst GmbH. Nach dem Roman Ein Mann ohne Volk [EA 1934] von Arnold Krieger. Oliver Twist (USA 1922) [Stummfilm]. Regie: Frank Lloyd, Drehbuch: Frank Lloyd/Harry Weil, Jackie Coogan Productions. Nach dem gleichnamigen Roman von Charles Dickens [EA 1837–1839]. Panik (D 1928) [Stummfilm]. Regie: Harry Piel, Drehbuch: Herbert Nossen/Harry Piel, Ring-Film AG. Peter im Schnee (AT 1937) [Spielfilm]. Regie: Carl Lamač, Drehbuch: Paul Hörbiger/Carl Lamač, Musik: Willy Schmidt-Gentner, Mondial Internationale Filmindustrie AG. Pour le Mérite (D 1938) [Spielfilm]. Regie: Karl Ritter, Drehbuch: Fred Hildebrandt/Karl Ritter, Musik: Herbert Windt, Ufa. Primanerliebe (D 1927) [Stummfilm]. Regie: Robert Land, Drehbuch: Alfred Schirokauer/Curt Wesse, Musik: Walter Ulfig, Domo-Strauß-Film GmbH. Prinzessin Sissy (D 1938) [Spielfilm]. Regie: Fritz Thiery, Drehbuch: Friedrich Forster/Rudolf Brettschneider, Musik: Willy Schmidt-Gentner, Mondial Internationale Filmindustrie AG. Reifende Jugend (D 1933) [Spielfilm]. Regie: Carl Froelich, Drehbuch: Robert A. Stemmle/ Walter Supper, Musik: Walter Gronostay, Froelich-Film GmbH. Nach dem Theaterstück Die Reifeprüfung [EA 1929] von Max Dreyer. Revolte im Erziehungshaus (D 1929) [Stummfilm]. Regie: Georg Asagaroff, Drehbuch: W. Solsky/Herbert Rosenfeld, Musik: Werner Schmidt-Boelcke, Grohnert-Film-Produktion. Nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Peter Martin Lampel [EA: 1928, EV: 1929]. Rotkäppchen und der Wolf (D 1937) [Spielfilm]. Regie und Drehbuch: Fritz Genschow/Renée Stobrawa, Musik: Kurt Heuser, Tobis-Melofilm GmbH. Rübezahls Hochzeit (D 1916) [Stummfilm]. Regie und Drehbuch: Paul Wegener, Projektions-AG Union (PAGU). Sein bester Freund. Ein Abenteuer mit 15 Hunden (D 1929) [Stummfilm]. Regie: Harry Piel, Drehbuch: Hans Rameau/Harry Piel, Ariel-Film GmbH. Seine Tochter ist der Peter (AT 1937) [Spielfilm]. Regie: Heinz Helbig, Drehbuch: Erich Ebermayer, Musik: Willy Schmidt-Gentner, Mondial Internationale Filmindustrie AG. Nach dem Roman Und seine Tochter ist der Peter [EA 1935] von Edith Zellweker. So ein Flegel (D 1934) [Spielfilm]. Regie: Robert Adolf Stemmle, Drehbuch: Hans Reimann, Musik: Harald Böhmelt, Cicero-Film GmbH. Nach dem Roman Die Feuerzangenbowle [EA 1933] von Heinrich Spoerl. Soldaten von morgen (D 1941) [Kurzfilm]. Regie und Drehbuch: Alfred Weidenmann, Musik: Horst Hanns Sieber, Deutsche Filmherstellungs- und Verwertungs-GmbH (DFG). Stukas (D 1941) [Spielfilm]. Regie: Karl Ritter, Drehbuch: Karl Ritter/Felix Lützkendorf, Musik: Herbert Windt, Ufa.
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Tagebuch einer Verlorenen (D 1929) [Stummfilm]. Regie: G. W. Pabst, Drehbuch: Rudolf Leonhard, Musik: Otto Stenzeel, Hom-Film AG/Pabst-Film GmbH. Nach dem gleichnamigen Roman von Margarete Böhme [EA 1905]. The Kid (USA 1921) [Stummfilm]. Regie, Drehbuch und Musik: Charlie Chaplin, Charles Chaplin Productions. Tom Sawyer (USA 1930) [Spielfilm]. Regie: John Cromwell, Drehbuch: Grover Jones/William Slavens McNutt/Sam Mintz, Musik: John Leipold/Ralph Rainger, Paramount Pictures. Nach dem Roman The Adventures of Tom Sawyer [EA 1876] von Mark Twain. Traumulus (D 1935) [Spielfilm]. Regie: Carl Froelich, Drehbuch: Robert A. Stemmle/Erich Ebermayer, Musik: Hansom Milde-Meißner, Froelich-Film GmbH . Vecchia Guardia (I 1935) [Spielfilm]. Regie: Alessandro Blasetti, Drehbuch: Alessandro Blasetti/ Livio Apolloni, Musik: Umberto Mancini, Fauno Film. Was tun, Sibylle (D 1938) [Spielfilm]. Regie: Peter Paul Brauer, Drehbuch: Wolf Neumeister/Heinz Bierkowski, Produktion: Ufa. Nach dem gleichnamigen Roman von Sophie Schieker-Ebe [EA 1930]. Zwei Welten (D 1940) [Spielfilm]. Regie: Gustaf Gründgens, Drehbuch: Felix Lützkendorf, Musik: Michael Jary, Terra-Filmkunst GmbH.
Sekundärliteratur vor 1945 „Jud Süß“ auch jugendwert. In: Film-Kurier 22 (1940) 228 vom 28.09., 3. Bekämpfung der Schundliteratur mit einer Zusammenstellung der bisher getroffenen Maßnahmen. Berlin 2011. Die Eröffnung der Jugendfilmstunden 1942/43. Ansprachen von Reichsminister Dr. Goebbels und Reichsjugendführer Axmann. In: Film-Kurier 24 (1942) 251 vom 26.10., 1–2. Die Kinematographen und die Jugend. In: Der Kinematograph 1 (1907) 36 vom 04.09., 3–4. Einsatz des jugendwerten Films „Pour le mérite“ in den Jugendfilmstunden der Hitlerjugend (HJ). In: Film-Kurier 21 (1939) 3 vom 04.01., Mitteilungsbl. 1. H.: My Darling (Filmkritik). In: Film-Kurier 6 (1922) 276 vom 22.11., 2. Häfker, Hermann: Für Kinder! In: Der Kinematograph 2 (1908) 72 vom 13.05., 5–6. Herzberg, Georg: Panik (Filmkritik). In: Film-Kurier 10 (1928) 48 vom 24.02., 2. Jacobsohn, Egon: Mein Kampf gegen Harry Piel. In: Film-Kurier 3 (1921) 107 vom 09.05., 3. Lemke, Hermann: Die Kinematographische Reformpartei, ihre Aufgaben und Ziele. In: Der Kinematograph 1 (1907) 42 vom 16.10., 3–5. London meldet: „Reifende Jugend“ erfolgreich. In: Film-Kurier 18 (1936) 18 vom 22.01., 3. Schiel, Adelbert: Im Kampf gegen Schmutz und Schund in der Jugendliteratur. Halle 1917. Vecchia Guardia (Alte Garde). In: Film-Kurier 17 (1935) 22 vom 26.01., 3. Zensiert. In: Film-Kurier 22 (1940) 216 vom 14.09., 3. Zensierte Filme vom 5. bis einschließlich 10. April 1937. In: Film-Kurier 19 (1937) 96 vom 26.04., 4.
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Das Kinder- und Jugendtheater von 1900 bis 1945 Marlene Antonia Illies
Abstract A stage manuscript can be the starting point or, more specifically, the guiding medium for a media network. It can also be just one of the many ways of processing a certain subject matter. In comparison to film and radio, theater represents an old, long-established medium in the period in question. It saw itself threatened by both emerging entertainment sectors, but ultimately blended into productive coexistence with them. It remains unique in its stage productions, the non-conservable live experiences; consistent and intergenerational in its printing, especially in the classics, which children, parents and grandparents consumed as school reading alike. The article focuses on the connection theater has made with film and radio and shows how media associations have developed through, around and in accord with dramatic texts and productions.
Das gedruckte Theaterstück ist ein Medium, das Raum und Zeit überschreitet. Es wird immer wieder neu inszeniert, interpretiert und verarbeitet; es wird auf öffentlichen Bühnen oder auch Schulbühnen lebendig, zieht in Filme und Hörspiele, in Bilderbücher und Graphic Novels ein. Klassische Dramen wie Goethes Faust sind seit Generationen Schullektüre, ein zeitlos populäres Kindertheaterstück wie Peterchens Mondfahrt von Bassewitz wird seit seiner Entstehung vor mehr als 100 Jahren regelmäßig zur Weihnachtszeit aufgeführt.1 1Vgl.
den Beitrag von Julia Benner in diesem Band.
M. A. Illies (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_4
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Eine einzelne Inszenierung aber ist flüchtig und nicht konservierbar. Eine Kamera, die den Schauspieler/innen auf der Bühne folgt oder ein Mikrofon, das jedes gesprochene Wort aufnimmt und speichert, kann nur einen Teil dieses Erlebnisses auffangen, kann nicht den unmittelbaren Blick der Zuschauer/innen von ihren jeweiligen, meist statischen Plätzen auf die Bühne, nicht die Dynamik zwischen Publikum und Schauspieler/innen einfangen. Denn Theater vollzieht sich öffentlich, ist doch eine Aufführung ohne Publikum kein Theater, und besitzt transitorischen Charakter, d. h. es ist immer gegenwärtig und konstituiert sich nur im Vollzug – eine Theateraufführung ist einmalig, unwiederholbar und unkonservierbar, das „Theaterbild zeigt sich als flüchtiges Gebilde, das sich vor den Augen und Ohren des Zuschauers ereignet und sich im Augenblick des Erscheinens wieder verflüchtigt.“ Eine Theateraufführung stiftet „eine soziale Gemeinschaft auf Zeit […], die heterogen oder homogen strukturiert sein kann“, sodass auch „die Erfahrungen von Zuschauern Teil der Aufführung sind und zwar nicht nur solche, die den vermeintlichen Intentionen eines Regisseurs entsprechen.“ (Steiner 2011, 146 f.)
Die Theateraufführung ist ein Live-Erlebnis, selbst bei einer sorgfältig dramaturgisch entwickelten Inszenierung unterscheidet sich jede einzelne Vorstellung ein bisschen von der anderen. Und erst recht unterscheiden sich die Inszenierungen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Deshalb galt es, nicht nur Bühnenmanuskripte zu erfassen, sondern auch einzelne Inszenierungen, mit anderen Worten Kontinuität und Variation, was in der Datenbank (http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de) über die Verankerung der gedruckten Stücke im Medium Print und der Inszenierungen im Medium Theater erfolgt ist. Die Beziehungen zwischen Bühne und Film waren stets von Konkurrenzkampf geprägt. Bevor das Kino sesshaft wurde, war es eine Jahrmarktsattraktion und verdrängte das alteingesessene Kasperletheater von den Rummelplätzen. Technische Innovationen in der Filmproduktion sorgten regelmäßig für dystopische Vorhersagen eines Theatersterbens. Stattdessen entwickelte sich jedoch die scheinbare Konkurrenz für die Beteiligten zur einander befruchtenden Koexistenz. Stücke, die fürs Theater geschrieben wurden, boten Filmdrehstoffe, Schauspieler/innen und Regisseur/innen wechselten von der Bühne ans Set und umgekehrt. Das ähnelte dem Rundfunk, der anfangs auch in Verdacht stand, der Bühne den Garaus machen zu wollen. Später konkurrierten Funk und Theater um die besten Sprecher/innen. Auch etliche der populären Stummfilm-Darsteller/innen wurden vom Rundfunk angeworben, enttäuschten jedoch, weil ihre Stimme nicht den Anforderungen des neuen Mediums entsprach. Große Verbundfelder, in denen die Medien Film/Kino, Theater und Hörfunk auf vielfältige Weise miteinander verwoben sind, entwickeln die über pädagogischdidaktische Diskurse konstituierten literarischen Stoffe. Klassische Dramen, die in der Schule unterrichtet wurden, gehörten zu den ersten Verfilmungen und waren im frühen Hörfunk präsent. Doch während die Verfilmungen kaum das Interesse der Lehrerschaft weckten, allenfalls ein eher kritisches (vgl. Schmerling 2007), richtete der Hörfunk schon früh Sendereihen ein, wie die Jugend-Bühne, wo über Jahre der dramatische Lehrstoff des Literaturunterrichts in Hörspielform abgearbeitet wurde. Alfred Braun, der Initiator und Regisseur dieser Sendereihe in der Berliner
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Funk-Stunde, stellte sie in die Tradition der Klassikeraufführungen des Berliner Schiller-Theaters (vgl. Braun 1968), ein Anspruch, der von den Zeitgenossen ernst genommen und kritisch hinterfragt wurde (z. B. von Hermann Kasack in Dichtung und Rundfunk 1930). Aus Statistiken der Schillertheater-AG (vgl. Bonn 1939), den Hamburger Empfehlungslisten wie dem Verzeichnis wertvoller Spiele für die Schulund Jugendbühne (VDP 1932) u. ä. ließ sich ein Korpus der als für Schüler/innen geeignet angesehenen oder für sie bearbeiteten Klassiker eruieren. Neben Minna von Barnhelm (14 Inszenierungen, 7 Hörfunkdatensätze und ein Film, auf den sich der Großteil der 76 Paratexte sowie die 8 Werbematerialien und 7 Bilder beziehen), Götz von Berlichingen (7 Inszenierungen, 5 Hörfunkdatensätze, 2 Filme), den Räubern (8 Inszenierungen, 5 Hörfunkdatensätze und 3 Filme, auf die sich der Großteil der 83 Paratexte sowie die 29 Werbematerialien und 3 Bilder beziehen) und Faust (21 Hörfunkdatensätze, 12 Inszenierungen und 10 Verfilmungen, meist einzelner Motive) nimmt vor allem Wilhelm Tell (25 Inszenierungen, 20 Hörfunkdatensätze, 52 Paratexte, 9 Verfilmungen, 9 Printdatensätze und eine Schallplatte) im gesamten Untersuchungszeitraum eine herausragende Stellung ein. Das Kinder-Theater Genschow-Stobrawa kann beispielhaft und gut veranschaulichen, wie eng die Akteur/innen und Institutionen von Funk, Film und Theater oft miteinander verbunden waren: Renée Stobrawa war in den 1920erJahren Sprecherin der Kindersendungen im Berliner Rundfunk. Ihr späterer Lebensgefährte Fritz Genschow war Schauspieler u. a. an der Volksbühne und am Theater am Schiffbauerdamm, in den 1930er-Jahren spielte er in zahlreichen Filmproduktionen der Ufa, war als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent tätig. Stobrawa und Genschow begannen ihre Zusammenarbeit 1929 am Theater am Schiffbauerdamm mit der Umsetzung eines von Lisa Tetzner bearbeiteten Andersen-Märchens (Der große und der kleine Klaus). Auch Tetzner war in den 1920er-Jahren Mitarbeiterin der Berliner Funk-Stunde, las Märchen vor und produzierte Sendungen für und mit Kindern. Zusammen mit Stobrawa brachte Genschow an ihrem 1930 in Berlin institutionalisierten Kinder-Theater neben den typischen Märchenstoffen (Hänsel und Gretel 1933; Schneewittchen 1935) aktuelle Kinderliteratur auf die Bühne. Genau wie Tetzner ließen sie Kinder für Kinder spielen, was wiederum die Aufmerksamkeit der Film-Industrie nach sich zog. Der bekannteste Film von Stobrawa und Genschow ist übrigens Rotkäppchen und der Wolf von 1937. Die vielfältigen Verbindungen auf personeller, institutioneller, stofflicher und medialer Ebene erschließen sich in diesem wie in zahlreichen anderen Fällen erst durch die Mitberücksichtigung der Bühne. Zur Ausweitung des Fokus auf das Medium Theater zwangen nachgerade zwei Genres, die vornehmlich in den Kindersendungen des Rundfunks im Untersuchungszeitraum große Stoffverbünde produzierten: das Puppentheater und das Kasperletheater. Zu nennen ist an dieser Stelle das Kölner Hänneschen-Theater; eine Kölner Institution, eine Puppenbühne, die am Tage für Kinder, abends für Erwachsene spielte (vgl. Lindner-Leuschner 1930) und die Ende der 1920er-Jahre auch in den Kinderprogrammen der Werag präsent war. Die Rundfunkbeiträge werden erst verständlich und es erschließt sich ihre stoffliche Fülle nur, wenn ihr Ursprungsmedium – die Bühne – mit in die Recherche einbezogen wird.
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Aufschluss darüber geben die Beiträge in der Fachzeitschrift Das Puppentheater (1923–1931) bzw. Der Puppenspieler (1931–1933), die systematisch ausgewertet wurden. Eine herausragende Figur des Puppentheaters war seit dem 19. Jahrhundert das Kasperl oder Kasperle. So verwundert es nicht, dass auch das neue Medium Hörfunk sich dieses Stoffes annahm und Kasperletheater produzierte. Eine sehr produktive Regisseurin und Sprecherin des Kasperletheaters war Liesel Simon (1887–1958), die in ihrer Frankfurter Wohnung ein der Tradition von Pocci verpflichtetes Erstes Münchner Kasperltheater gründete. Später inszenierte sie eigene Stücke und tourte damit durch Deutschland. Ihre Produktionen bekamen einen festen Sendeplatz im Südwestdeutschen Rundfunk Frankfurt und die Deutsche Grammophon nahm 16 Kasperlestücke auf Schellackplatten auf. Die Rundfunkbeiträge der ab 1933 aus der Öffentlichkeit verdrängten und 1941 ins Exil gegangenen Autorin sind heute völlig unbekannt, ebenso der Zusammenhang zwischen der Bühnen-, Rundfunk- und Plattenproduktion. Mit dem Stoff Kasperliaden sind 44 weitere Stoffe verknüpft (basierend auf einzelnen KasperlGeschichten von Pocci und anderen), 89 Printbearbeitungen, 18 Filme, 11 Schallplatten, 9 Inszenierungen und beeindruckende 740 Hörfunkdatensätze. Das bislang kleine Korpus an Theaterstücken (237) und Inszenierungen (637) ist längst nicht vollständig und kann es auch nicht sein. Berücksichtigt wurden vor allem Texte und Aufführungen, die Medienverbundcharakter aufweisen. Hier konnte ein erster Aufschlag zur Erfassung gemacht werden, ausführlicher scheint dies nur in Zusammenarbeit mit Theatern und mit einer kleinschrittigen Recherche in diversen – auch lokalen – Tageszeitungen möglich zu sein.
Literatur Bonn, Friedrich: Jugend und Theater. Emsdetten 1939 (Die Schaubühne; Quellen und Forschung zur Theatergeschichte; 39). Braun, Alfred: Achtung, Achtung, hier ist Berlin! Aus der Geschichte des Deutschen Rundfunks in Berlin 1923–1932. Berlin 1968. Dichtung und Rundfunk: Reden und Gegenreden, Verhandlungsniederschrift der Arbeitstagung „Dichtung und Rundfunk“ in Kassel-Wilhelmshöhe am 30. September und 1. Oktober 1929. Berlin 1930. Lindner-Leuschner, Hedda: Vom Wesen des Puppenspiels: Zur Wiedergeburt des Kölner Hänneschen-Theaters. In: Das Puppentheater (1930), 181–183. Schmerling, Alice: Kind, Kino und Kinderliteratur. Eine Untersuchung zum Medienumbruch in der Kinderkultur der Kaiserzeit und der Weimarer Republik. Köln 2007. Steiner, Anne: Klassenzimmertheater – Chance oder Hindernis für den Erwerb theatraler Rezeptionskompetenz? In: Bönninghausen, Marion/Paule, Gabriele (Hg.): Wege ins Theater: Spielen, Zuschauen, Urteilen. Berlin 2011 (Forum SpielTheaterPädagogik; 4), 141–166. Vereinigte Deutsche Prüfungsausschüsse für Jugendschrifte (VDP) (Hg.): Verzeichnis wertvoller Spiele für die Schul- und Jugendbühne. Hamburg 51932.
Digitale Erkundungen historischer Medienverbünde Grundrisse der Portalentwicklung in interdisziplinärer Perspektive Matthias Preis und Friedrich Summann
Abstract This article outlines the interdisciplinary development process of an online portal for the DFG-funded project Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945. The focus is on the literary and information technology perspectives, which are traced in their interplay from the definition of an initial metadata set to more complex requirements for data evaluation and visualization. The aim is not only to explain the strategic challenges and solutions in dealing with complex media connections, but also to present concrete application scenarios for the use of the developed search engine environment and the visualization techniques. Furthermore, it will be discussed how an explorative approach in the context of Digital Humanities reshapes the subject area, i. e. not only brings new methods to bear on established questions in literary studies, but also generates new questions and thus potentially contributes to a broadening of the scientific horizon.
Einleitung Es wird viel gestritten um eine digitale (Neu-)Akzentuierung der Literaturwissenschaft, die an den konzeptionellen Grundfesten vertrauter Gegenstandsbereiche und Methoden rüttelt (vgl. Lauer 2019). Eine Erweiterung bzw. M. Preis (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Summann LibTec, Universitätsbibliothek Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_5
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Transformation der Philologien im Sinne der Digital Humanities erfordert ein verändertes fachliches und überfachliches Grundwissen, eine erheblich gesteigerte interdisziplinäre Offenheit, nicht zuletzt: explorative Courage jenseits stabiler und bewährter Forschungspfade. Gerade die Textpraxen des close und distant reading werden dabei häufig für wenig konstruktive Polarisierungen vereinnahmt, wo der Gewinn der computergestützten Methodik doch zweifellos in der strategischen Verschränkung beider Perspektiven besteht (vgl. Schwandt 2018, 134; Weitin 2017). Bei einem Projekt, das mit dem literarischen Medienverbund überaus komplexe netzwerkartige Strukturen ins Zentrum stellt, liegt auf der Hand, dass konventionelle (analoge) Methoden schon ob des schieren Umfangs der zu bewältigenden Datenmenge in ihrer Reichweite begrenzt bleiben. Hier sind neue Untersuchungsstrategien im digitalen Raum gefragt. Dieser Beitrag beschreibt den im Rahmen des DFG-Projekts Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 beschrittenen Weg von der Entwicklung eines ersten Metadatenkonzepts bis zur strukturellen Ausgestaltung eines Onlineportals1, wobei rückblickend auch auftretende Umsetzungsprobleme und korrespondierende Lösungsansätze thematisiert werden. Auf die Wünsche, Ideen und Erfordernisse der Literaturwissenschaft folgen im dialogisch-interdisziplinär organisierten Hauptteil jeweils die informationstechnischen Antworten. Es schließt eine Diskussion konkreter Anwendungsszenarien an, die exemplarisch die methodische Erweiterung des Fachs demonstrieren, indem sie innovative und traditionelle Perspektiven auf den Gegenstand integrieren. Der Beitrag endet mit einem interdisziplinären Fazit zur Projektarbeit, die als Kooperation der Bielefelder Germanistik und Universitätsbibliothek angelegt war.
Ziele und Herausforderungen Die Aufarbeitung historischer Verbundphänomene unter digitalem Vorzeichen ist an eine Vielzahl von theoretischen, materialspezifischen und technologischen Maßgaben geknüpft, die das Bedingungsfeld präformieren. Bereits frühe Entscheidungen darüber, in welcher Granularität Daten erfasst werden sollen, stellen entscheidende Weichen für spätere Beobachtungs- und Analysespielräume. Sie bilden in diesem Sinne durchaus „einen ersten hermeneutischen Akt“ (Scheuermann 2016, 61), der in die Verfahrenssequenz der Erfassung, Aufbereitung und Analyse von Daten hineinwirkt (vgl. Reiche/Becker/Bender/Munson/Schmunk/ Schöch 2014, 6). Ein zentrales Ziel des Projekts im Hinblick auf die Datenerfassung besteht in der Definition einer differenzierten Metadatenstruktur, die zum einen den bibliografischen Anforderungen der unterschiedlichen Medientypen, zum anderen der Komplexität ihrer intermedialen Referenzen gerecht wird. Zugleich müssen diese Strukturen konsistent mit dem theoretischen Unterbau 1Das
Onlineportal zum Projekt ist zugänglich via: http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de (01.08.2020).
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des Projekts sensu S. J. Schmidt2 bleiben. Es gilt ferner, erfasste M etadatensätze mit vorhandenen Digitalisaten anzureichern, um sie später, sofern urheberrechtlich realisierbar, öffentlich zugänglich zu machen. Die Aufbereitung der Daten soll es erlauben, einerseits eine definierte Suchmaschinenumgebung zu speisen und andererseits eine für variable Formen der Visualisierung anschlussfähige Systematik zu schaffen. Die Verknüpfung einer mehr oder weniger konventionellen Katalogrecherche mit weiterführenden projektspezifischen Analyseoptionen darf dabei als zentrale Herausforderung gelten. Die Analyse der Daten schließlich soll es erlauben, Medienverbünde in ihrer Konstitution zu profilieren, d. h. multimediale Expressionen eines literarischen Stoffes einschließlich sämtlicher involvierter Aktanten abzubilden. Zu erschließen ist dabei die zeitgleiche Expansion eines Verbundes über diverse Medienformen, aber auch dessen chronologische Entwicklung im gewählten Untersuchungszeitraum 1900–1945 (sowie in Einzelfällen darüber hinaus). Für den Datenpool sind insbesondere solche Visualisierungsstrategien zu verfolgen, die Vergleiche von Medienverbünden auf quantitativer und qualitativer Ebene erlauben und damit u. a. zur Weiterentwicklung der bisher kaum systematischer fundierten Medienverbundtheorie(n) beitragen. Funktionell stehen Optionen einer explorativen Analyse im Vordergrund, die nach „latenten Strukturen, Mustern, Trends, Singularitäten oder sonstigen Auffälligkeiten“ (Jannidis/Kohle/ Rehbein 2017, 332) sucht und darüber – nicht zuletzt – Wieder- und Neueinstiege in textnahe, hermeneutische Deutungshorizonte anbahnt.
Von der Theorie zur Metadatenstruktur Konzeptionelle Überlegungen Am Anfang einer jeden Datenbank steht die Erhebung der spezifischen Anforderungsstruktur, die sich logisch aus a) der theoretischen Einbettung des leitenden Forschungsinteresses und b) den Erwartungen an die spätere Analysemöglichkeiten inkl. Präsentationsschicht (Suchmaschine; Visualisierung) ergibt. Zudem sollte sie sich im Sinne einer bestmöglichen Nachnutzbarkeit der Daten grundlegenden bibliothekarischen Standards – etwa dem Regelwerk Resource Description and Access (RDA) – verpflichten, zumindest was die bibliografischen Kernelemente der Datensätze betrifft. Für die Medienverbundforschung zentral ist darüber hinaus die relationale Ebene des Datenbankmodells, das die Zuweisung facettenreicher Attribute für Datensatzverknüpfungen gestatten muss. Jeder Datensatz soll zudem über die Möglichkeit verfügen, korrespondierende Digitalisate (PDFs, TIFs, AVIs, MP3s usf.) zu verlinken und externe URLs zu referenzieren. Anders als bei Forschungsvorhaben, die lediglich auf einen Medientyp (z. B. Printliteratur, Bilder usf.) fokussieren, besteht die besondere Herausforderung im 2Vgl.
die Einleitung in diesem Band.
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Abb. 1 Systematik des entwickelten Metadatensets
Falle des Medienverbundprojekts darin, individuelle Datenstrukturen für unterschiedliche mediale Repräsentationsformen zu definieren. Als Medienangebote im Sinne S. J. Schmidts (2008/2012) unterschieden wurden hierbei: Primärliteratur, Sekundärliteratur, Film, Hörfunk, Theater, Bild, Schallplatte, TV und Werbematerial.3 Verbindendes Kernelement ist der Stoff, der als rein schematischer Referenzpunkt selbst keine medienspezifische Ausprägung beinhaltet. Die diversen Aktanten der medialen Handlungsbereiche wurden als Objekttyp Person, institutionelle Einrichtungen bzw. Organisationen (Sender, Verleihfirmen usf.) als Körperschaft disponiert. Die z. T. sehr unterschiedlichen medienspezifischen Spielarten von Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung erforderten eine Metadatenstruktur, die diesen Ausprägungen gerecht wird, ohne darüber ein Mindestmaß an deskriptiver Konformität einzubüßen. Medienübergreifend sollten daher grundlegende Publikationsdaten zu einzelnen Verarbeitungen (Abb. 1, Punkt 1) aufgenommen werden, etwa Titel, Untertitel, Gesamttitel, Entstehungs- bzw. Veröffentlichungsangaben (z. B. Ort, Verlag, Datum), Ausgabevermerke sowie die Zählung fortlaufender Ressourcen. Ergänzend hinzu traten, soweit rekonstruierbar, Angaben zur intendierten Zielgruppe. Möglichst nuanciert waren ferner die Handlungsbereiche Produktion und Distribution (Abb. 1, Punkt 2/3) anhand geeigneter Kategorien abzubilden. Eine medienübergreifend verbindliche Vorgabe konnte hierbei nicht zugrunde gelegt werden, da die Produktions- und Verbreitungswege zwischen Film, Hörfunk, Printliteratur etc. stark divergieren. Im Beispiel: Waren für die Distribution von Filmen Schlüsselkategorien wie Verleih, Vertrieb, Zensur usf. auszudifferenzieren, spielten beim Hörfunk gänzlich andere Distributionswege eine Rolle, etwa in Gestalt senderübergreifender Parallelausstrahlungen oder anderer Muster der Mehrfachverwertung. Naturgemäß divergent fiel auch die Granularität der Daten im Bereich Publikation aus: Wo z. B. beim Hörfunk dezidierte Sendungsdaten der Erstpublikation (Sendedatum/-zeit/-dauer) via Programmheft vorlagen, musste im Bereich Print oder Film in der Regel sehr viel unschärfer auf Ebene der Erscheinungsjahre operiert werden. Die Heterogenität der damit generierten Daten sollte an späterer Stelle verschiedene Abstraktionsund Normalisierungsprozesse in der Datenaufbereitung erforderlich machen 3Zur
näheren Profilierung vgl. die Einleitung sowie die vorangehenden Beiträge von Illies und Weber in diesem Band.
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(vgl. hierzu die Funktion der Timeline im Abschn. Suchmaschinenumgebung und Visualisierung). Erweiterte deskriptive Metadaten wurden für die inhaltlichen und formalen Merkmale eines Medienangebots mittels der Rubrik Beschreibung (Abb. 1, Punkt 4) erhoben: Auf inhaltlicher Ebene sollten hier eine Genrezuordnung, eine aussagekräftige Verschlagwortung und eine optionale Inhaltsangabe abgebildet sein. Soweit in Programmheften, Ankündigungen o. ä. verfügbar, wurden detaillierte Programmangaben – verstärkt etwa im Falle des Hörfunks – auch wörtlich transkribiert. Die formalen Merkmale ergänzen das deskriptive Datenset um Informationen zur technischen Beschaffenheit der Medienangebote und rangieren von Angaben zum Bild- und Tonsystem bis hin zur materialen Beschaffenheit (Filmdauer, Schriftumfang, Bildmaße etc.). Medienübergreifend homogen lässt sich demgegenüber die Rubrik zur relationalen Dimensionierung der Datenstruktur, der Verbundbereich, denken (Abb. 1, Punkt 5): Konstitutiv war hier zunächst die Verlinkung zum Stoff als neuralgischem Punkt eines jeden Medienverbunds. Ein weiteres Feld dient der freien Verknüpfung zu jedem beliebigen Datensatz bzw. Objekttyp, wobei die Relation mit einem Attribut versehen und bei Bedarf hinsichtlich konkreter Verweisstellen (z. B. Seitenzahlen) präzisiert werden kann. Die Attribute zur Beziehungskennzeichnung – z. B. literarische Vorlage, Rezension etc. – sollten zunächst bidirektional ausdifferenziert sein, d. h. zwischen Hin- und Rückrichtung (auch sprachlich) unterscheiden. Dieses Konzept ließ sich angesichts des Umfangs und der Komplexität der Verbunddaten allerdings nicht konsequent umsetzen, sodass einer einfachen Relationierung der Vorzug gewährt wurde. Ebenfalls zum Verbund-Bereich zählen die an einem Medienangebot beteiligten Personen, deren Rollen mittels einer flexibel erweiterbaren Taxonomie auszuweisen waren (Autor/ in, Regisseur/in, Illustrator/in etc.). Analoges gilt für die in Beziehung stehenden Körperschaften, wobei das Spektrum möglicher institutioneller Funktionen (Theater, Sender, Verlag etc.) auf die unterschiedlichen Medienangebote bzw. Objekttypen zugeschnitten sein musste. Die Schmidt’sche Ebene der Rezeption ging konzeptionell in einem freien Kommentarbereich auf (Abb. 1, Punkt 6); thematisch relevante (Rezeptions-) Dokumente der Zeit wurden zudem über Literaturverweise bzw. verlinkte Digitalisate in der Sektion Referenzen adressiert. Letztere enthält neben der Möglichkeit, relevante Titel der Sekundärliteratur zu verlinken, eine Option zur umfänglichen Quellenangabe. Ferner können Externe Links mit Titel und URL eingepflegt werden. Die hier ebenfalls integrierte Mediathek bietet die Möglichkeit, unbegrenzt Bild-, Text- und Tondokumente in unterschiedlichen Formaten zu hinterlegen (Abb. 1, Punkt 7). Der urheberrechtliche Status etwaiger Schriftstücke, Filmausschnitte und Tonaufzeichnungen kann dabei über ein für jede Datei verfügbares Beschreibungsfeld dokumentiert werden. Für den späteren öffentlichen oder internen Zugang zum Portal erwiesen sich solche administrativen Markierungen aufgrund ggf. noch laufender Urheberrechte als unerlässlich. Eine wesentliche Anforderung an die softwareseitige Umsetzung bestand im flexiblen Umgang mit Taxonomien, d. h. den Begriffslisten für Rollen, Funktionen,
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Beziehungen etc., die im Verlauf der Dateneingabe von den Mitarbeiter/innen nach Bedarf ergänzt und modifiziert werden sollten. Für viele Felder wurde zudem die Option gewünscht, Mehrfacheinträge in Form von Wiederholungsfeldern vorzunehmen, etwa was beteiligte Personen, Quellenangaben und Kommentare, insbesondere aber die Verknüpfungen mit anderen Medien bzw. Objekttypen betrifft. In diesem Zusammenhang spielte angesichts der Dichte an intermedialen Verweisen die automatische Rückverlinkung eine wichtige Rolle. Wurde also z. B. ein Roman als literarische Vorlage für einen Film gekennzeichnet, sollte dies automatisch nicht nur im Datensatz des Romans, sondern auch des Films ersichtlich sein, um doppelte Referenzierungen im Eingabeprozess auszuschließen. Eine Besonderheit im Hinblick auf den Bereich Print (primär und sekundär) bestand in der Anforderung, eine basale Importfunktion zu implementieren, um bestehende Datensätze aus Katalogdaten via Citavi (CSV- bzw. BibTex-Format) einzeln oder gruppiert in den Projekt-Pool zu übernehmen. Ein weiteres Werkzeug, das sich für die Eingabeumgebung als unentbehrlich herausstellte, war eine Suchfunktion mit frei konfigurierbaren Facetten. Ermöglicht werden sollte damit ein gezielter Zugriff auf eingegebene Daten entlang der Titel, Stoffe, Medientypen, Erscheinungsdaten etc., aber auch im Hinblick auf administrative Rahmendaten wie Erstelldatum, Änderungsdatum oder letzte(r) Bearbeiter/in eines Datensatzes. Mit zunehmender Komplexität des Datenpools zeichnete sich der Bedarf ab, eine automatisierte Dublettenkontrolle einzurichten – umgekehrt fand auch die Option, beliebige Datensätze zu duplizieren, um die Eingabe verwandter Ausgaben/Sendungen, serieller Formate etc. zu beschleunigen, Berücksichtigung. Die skizzierte Metadatenstruktur wurde für alle Medien- bzw. Objekttypen a priori durchkonfektioniert. Gleichwohl bahnten sich zahllose Modifikationen und Ergänzungen erst im Zuge der computationalen Umsetzung ihren Weg. Die enge Verzahnung von literatur- und informationswissenschaftlicher Perspektive stellte sich dabei als interdisziplinär fordernd und arbeitsreich, aber auch als sehr gewinnbringend heraus. Schon auf Ebene der Dateneingabe musste also einem ständigen Äquilibrierungsprozess zwischen Wünschbarkeit und Machbarkeit hinreichend Raum gegeben werden, wie ein Einblick in die softwareseitige Umsetzungsstrategie illustriert.
Technische Realisierung In der frühen Konzeptionsphase des Projekts sind mehrere potenzielle Systemumgebungen für die technische Umsetzung diskutiert und näher betrachtet worden. Ein wichtiger Aspekt dieser Evaluation war, dass die Mittel für die technische Infrastruktur vergleichsweise überschaubar kalkuliert wurden, u. a. da bereits vorhandene Systembestandteile zum Einsatz kommen sollten. Für dieses Arbeitspaket ist die Universitätsbibliothek verantwortlich, die im
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Kontext verschiedener Projekte und Vorhaben – durchaus mit Bezug zum Thema Digital Humanities – eine breite Expertise im Bereich digitaler Instrumente und Anwendungen aufgebaut hat. Dazu gehören insbesondere die Bereiche Digitalisierung von bibliografischen Objekten, Suchtechnologien, Forschungsdatenmanagement sowie auch Datenaufbereitung und -präsentation. In der Konzeptions- und Startphase war die Digitalisierungsplattform der UB (auf Basis der dafür eingesetzten Goobi-Software)4 als technische Umgebung vorgesehen, die auf der Grundlage eines umfangreichen bibliografischen Metadatenformats (MODS) eine Präsentationsoberfläche für digitale Medien bereitstellt und zudem eine konfigurierbare Datenerfassung erlaubt. Bei näherer Prüfung schien es aber nicht realistisch, die sich rasch entwickelnden Anforderungen an das Metadatenformat in vertretbarem Rahmen abzubilden. Neben der Digitalisierungsplattform wurde auch das Publikationsmanagementsystem der UB5 geprüft – vor allem, da diese Anwendung in einer internationalen Entwicklungspartnerschaft (mit den Universitätsbibliotheken Lund und Gent) entwickelt wurde und dadurch entsprechendes Know-How für flexible Anpassungen vorhanden ist. Auch diese Option wurde verworfen, denn die Anforderungen an die Umstrukturierung der Oberfläche zur Datenerfassung und des dabei zugrundeliegenden Metadatenformats hätten über die Konfiguration hinaus erheblichen Entwicklungsaufwand bedeutet. Unter Berücksichtigung dieser Vorüberlegungen wurde daraufhin das Drupal-System6 näher betrachtet, das die UB in geisteswissenschaftlichen Projekten (in den Bereichen Soziologie und Geschichtswissenschaft) für ähnliche Anforderungen verwendet. In diesem Kontext sind technische Systemkenntnisse und die notwendige Erfahrung für Konfiguration, Betrieb und Anpassungen aufgebaut worden, die nachgenutzt werden können. Letztlich war die freie Definition des Erfassungsschemas bzw. das breite Spektrum an Konfigurationsund Erweiterungsmöglichkeiten ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten von Drupal. Hinsichtlich der technischen Infrastruktur fand Drupal entlang eines weiten Funktionsspektrums Verwendung: • webbasierte Datenerfassung • Design der Datenbankstruktur (relationale MySQL-Datenbank im Hintergrund) • Definition der Medien- bzw. Objekttypen und ihrer Attributstruktur inkl. flexibel anpassbarer begrifflicher Taxonomien • Gestaltung der Eingabe-Oberfläche (zur Unterstützung des Erfassungsprozesses) • Implementierung zahlreicher Drupal-Zusatzmodule, um den komplexen Anforderungen des Projektes gerecht zu werden Als besonders wichtig erwies sich hierbei das breite Angebot an optional zu installierenden Modulen, mit denen spezielle Anforderungen bearbeitet werden
4Vgl.
https://www.intranda.com/digiverso/goobi (20.03.2020). https://pub.uni-bielefeld.de (20.03.2020). 6Vgl. https://www.drupal.org (20.03.2020). 5Vgl.
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können und die im Projektverlauf bedarfsorientiert in den Fokus gerieten. Dazu gehören die Ergänzungen Suche, Biblio, Taxonomy, Backlinks, Entity Reference, Autocomplete, Feed Import, Multifield, Node Clone, Unique Field und eine Vielzahl weiterer Lösungen für spezifische Aufgaben. Während des gesamten Projektverlaufes kam es zu Nachinstallationen aufgrund gewünschter erweiterter Anwendungsoptionen seitens des literaturwissenschaftlichen Teams. So übernimmt das Biblio-Modul die Erfassung bibliografischer Metadaten, während Backlinks Anzeige und Abruf von Rückwärtsverknüpfungen ermöglicht. Node Clone gestattet das Kopieren vorhandener Sätze zur effizienten Neuaufnahme ähnlicher Satzinhalte und Unique Field eine Dublettenkontrolle auf Basis definierter Felder. Sowohl das Drupal-Basissystem als auch die Zusatzmodule setzen umfangreiche Konfigurationsaktivitäten voraus. Als besonders komplex erwiesen sich dabei die Anpassungen des Autocomplete-Moduls, das über eine automatische Vervollständigung relevante Datensätze zur Verknüpfung während der Eingabe anbietet – wobei neben dem vorgeschlagenen Schlüsselbegriff weitere Attribute zur Unterscheidung ähnlicher Zielsätze angezeigt werden sollten. Auch die Unterstützung des automatischen Imports von Metadaten zu Hörfunksendungen, die in der Startphase des Projekts zunächst per Literaturverwaltungsprogramm (Citavi) erfasst worden waren, bedurfte erheblicher zeitlicher Ressourcen. Für das hochkomplexe Datenschema insbesondere dieses Objekttyps war eine vergleichsweise aufwändige Lösung zu entwickeln: Citavi-Exportsätze wurden mittels eines programmierten Skripts importiert, das die manuelle Eingabe und damit die komplexe Datenstruktur in Drupal simuliert. Da hierbei auch die vollständige HTML-Formularstruktur und die Drupal-Zugriffskontrolle berücksichtigt werden mussten, gestaltete sich die Implementierung nicht trivial. Ein grundlegendes Konfigurationsproblem, das es darüber hinaus zu bewältigen galt, waren die Web-Limitationen für die Parameterübertragung von Formulardaten – angesichts der teilweise sehr umfangreichen Beschreibungsdaten, z. B. im Falle von Film-Datensätzen, stieß das System hier bisweilen an seine Grenzen. Die Kernfunktionalität des Drupal-Systems besteht wie beschrieben in der Erfassung der Daten; dabei liegt ein besonderes Augenmerk auf den vorliegenden Relationen zwischen den Medienverbund-Objekten. Mit Hilfe von webbasierten Eingabeformularen, deren Ausgestaltung mit Drupal definiert worden ist, erfassen die Projektmitarbeiter/innen manuell die Metadaten der Medienverbund-Objekte. Diese werden gespeichert und stehen somit für die interne und externe Weiterverarbeitung zur Verfügung. Als Endpunkt der Datenerfassung auf Basis von Drupal dient ein Datenbankdump (relationales Backend: PostgreSQL), der die erfassten Metadaten zur Weiterverarbeitung bereitstellt. Der Dump-Abzug wird frühmorgens per täglichem cronjob erzeugt und die Datei mit anschließendem Kopiervorgang in die Suchmaschinenumgebung transferiert, um dort als Grundlage für alle weiteren Anforderungen der finalen Präsentationsschicht (Oberfläche zur Recherche, Analyse etc.) zu dienen.
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Suchmaschinenumgebung und Visualisierung Konzeptionelle Überlegungen Im Projektverlauf stellte sich heraus, dass sich die konzeptionellen Arbeiten an einer wissenschaftlich zielführenden Nutzeroberfläche ressourcenintensiver gestalteten als ursprünglich angenommen. Zwar konnte man vor allem im Bereich der Suchmaschinenumgebung auf die bewährte Expertise seitens der Bibliothek zurückgreifen. Eine Herausforderung bestand allerdings darin, mit recht begrenzten personellen Mitteln nicht nur bestehende Ansätze zu adaptieren, sondern speziell im Bereich der Netzwerkvisualisierung auch gänzlich neue zu entwickeln. Der ritualisierte interdisziplinäre Austausch zwischen den involvierten Akteur/innen erwies sich dabei als experimenteller Prozess, der immer wieder neue Perspektiven auf das Datenmaterial eröffnete, wenngleich fraglos auch Irrwege in Kauf zu nehmen waren. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive essenziell stellte sich zunächst eine basale Suchmaschinenumgebung dar, die eine Textrecherche im Rahmen einer konventionellen OPAC-Funktionalität ermöglicht. Zu denken ist hier an die globale Volltextsuche sowie eine fokussierte Suche nach Titeln, Personen und Erscheinungsjahren. Als zuschaltbare Selektionskriterien mussten neben dem Medientyp (inkl. Stoff) weitere Spezifika zur Vorauswahl adressierbar sein (etwa: verwendete Filmtechnik, Genre etc.), um so die Suchergebnisse bei Bedarf medienspezifisch auszurichten. Neue Recherchehorizonte eröffnete die nachträglich implementierte Option, nicht nur nach manifesten Datensätzen, sondern auch nach deren spezifischer Relation zu suchen. Die generierte Ergebnisliste an Kurztiteln sollte ferner über eine Facettierung eingeschränkt werden können, wobei u. a. die numerische Verteilung der Suchergebnisse auf Erscheinungsjahre und unterschiedliche Medientypen projektrelevant erscheinen. Ein Klick auf einen ausgewählten Kurztitel gewährt Einblick in den vollständigen Datensatz – einschließlich externer Referenzen, digitaler Anhänge aus der Mediathek und sonstiger Verweise oder Kommentare, die jeden via Drupal eingegebenen Datensatz begleiten. Eine einfache Navigationsfunktion für die Kurzanzeige (vor, zurück, Anfang, Ende) ermöglicht das kursorische Durchschreiten umfangreicherer Ergebnislisten. Die beschriebenen Funktionen zur Metadatenrecherche genügen, solange nur die typischen RDA-Kernelemente, d. h. basale deskriptive Daten in Kurz- oder Einzelansicht, dargestellt werden sollen. Unproblematisch lassen sich hierbei auch personen- und körperschaftsbezogene Verknüpfungen integrieren und anzeigen. Bei der Darstellung der oftmals gegebenen komplexen intermedialen Verbundstrukturen allerdings stößt die bloße Textrepräsentation – auch in Gestalt denkbarer Hypertexte – an ihre Grenzen. Es musste daher eine Visualisierungsstrategie entwickelt werden, die Textinformation und grafische Elemente so miteinander
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verbindet, dass die Nutzer/innen möglichst unkompliziert zwischen dem big picture des Gesamtverbundes und der Einsicht in differenzierte Einzeltitelangaben wechseln können. Erste Entwürfe offenbarten schnell die Kernproblematik dieses Vorhabens: Anders als bei Visualisierungen von Netzwerkdaten, wie sie z. B. bei der Erforschung von Korrespondenznetzen (vgl. Biehl/Lorenz/Osierenski 2015), der sozialen Netzwerkanalyse literarischer Figuren (vgl. Dimpel 2018) oder auch der Darstellung intertextueller Bezüge (vgl. Schubert 2018) in den Digital Humanities vorgelegt wurden, bestand die besondere Herausforderung darin, verhältnismäßig viel Text in grafischen Elementen (Ellipsen, Kreise o. Ä.) unterzubringen. Essenziell war etwa die vollständige Angabe des Titels oder der Personennamen – besonders im Falle von Filmproduktionen trat erschwerend hinzu, dass die Anzahl an mitwirkenden Personen (Schauspieler/innen etc.) sich schnell im höheren zweistelligen Bereich bewegen konnte. Eine hybride Darstellung aus Text- und Bildelementen gerät hier, selbst bei ausgefeilter Zoom-Funktionalität, unausweichlich an ihre Grenzen. Der letztlich verfolgte Ansatz ergab sich aus einem Perspektivwechsel, wie er in verwandter Art von der Funktionalität des Online-Kartendienstes Google Maps bekannt ist: Statt aus olympischer Position – dem topografischen Regelfall entsprechend – von oben auf das Netzwerk zu blicken, wurde die Strategie entwickelt, sich gewissermaßen in das Netz hineinzubegeben. Google Maps erlaubt das analoge Verfahren, indem man den sogenannten Yellow Man auf der Karte platziert und damit in die subjektive Sicht des Street Views wechselt. Sichtbar sind nun die nächsten Straßen bzw. Verbindungen gleichsam aus der Ego-Perspektive, nicht mehr aber das Netzwerk in seiner komplexen Ganzheit (Abb. 2).
Abb. 2 Analogie der Perspektiven: Google Street View und Medienverbund-Navigator. (Kartendaten © 2020 Google sowie © 2020 Geo-Basis-DE/BKG)
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Abb. 3 Textbox mit Satzanzeige (Teilansicht) und Medienverbund-Navigator
Der in diesem Sinne entworfene Medienverbund-Navigator agiert von einem beliebigen Startpunkt aus und zeigt alle mit diesem Zentrum verknüpften Einträge gruppiert nach unterschiedlichen Objekt- bzw. Medientypen an.7 Der Mittelkreis und die Facetten in der Peripherie bieten dabei hinreichend (Text-)Raum, um aussagekräftige bibliografische Kurzinformationen (Titel, Erscheinungsdatum, Verfasser/in o. Ä.) auszuweisen. Komplementiert wird die Ansicht von einer seitlich platzierten Textbox, die weitere Details des jeweils zentralen Datensatzes darstellt. Analog zum Straßennetz in Google Street View kann nun flexibel im Medienverbund navigiert werden: Interessiert man sich z. B. ausgehend von einem bestimmten Stoff für die korrespondierenden Filmproduktionen, wählt man zunächst die entsprechende (hellgrüne) Gruppenfacette Film (Abb. 2), woraufhin alle relevanten Filme in der Peripherie aufgeführt werden. Klickt man nun auf die Facette eines konkreten Film-Datensatzes, rückt dieser ins Zentrum und die Peripherie passt sich augenblicklich dem gewählten Filmtitel an – d. h., sie zeigt Medientypen, Personen etc., die mit diesem Datensatz verknüpft sind; auch die Informationen in der Textbox aktualisieren sich. Die spezifische Relation zwischen Zentrum und Peripherie, beispielsweise zwischen einem Film und einem verknüpften Sekundärtext, wird on the fly eingeblendet, während man die Maus über die einzelnen Facetten bewegt (z. B. als Rezension, wiss. Aufsatz, Verweis etc.; Abb. 3). Der Medienverbund-Navigator verbindet demnach eine vertikale und eine horizontale Bewegungslogik: Vertikal wechselt die Peripherie bei konstantem Zentrum zwischen der gruppierten Überblicksansicht (also den ‚Schubladen‘ für verknüpfte Medientypen, Personen, Körperschaften etc.) und der Auflistung
7Jedem
Objekttypen wurde eine Farbe zugewiesen, die in den unterschiedlichen Darstellungsmodi des Portals konsequent Verwendung findet: Stoff (hellorange); Film (hellgrün); Theater (dunkelgrün); TV (aquamarin); Bild (hellblau); Körperschaft (dunkelblau); Print primär (orange); Print sekundär (dunkelorange); Hörfunk (rot); Schallplatte (dunkelrot); Werbematerial (hellviolett); Person (lila).
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Abb. 4 Timeline-Darstellung am Beispiel Robinsonaden
konkreter Datensätze zu einem gewählten Typ (entsprechend einer ‚geöffneten Schublade‘, z. B. alle Datensätze im Register Theater). Horizontal besteht die Möglichkeit, bei einer hohen Anzahl an Verknüpfungen des gleichen Objekttyps mittels der dunkelgrauen Navigationspfeile durch die Ergebnisse zu blättern. Da die Anzeige des Navigators lediglich zwölf Facetten bietet, wurden hier bei sehr hohen Verknüpfungszahlen auch automatische Zwischengruppierungen implementiert – etwa eine Sortierung nach Jahreszahlen, Alphabet oder Personenrollen. Mit der gewählten Strategie konnte die hohe Komplexität der Medienverbundstrukturen reduziert und ein intuitives, zielgenaues Erschließen der Einzelnetzwerke ermöglicht werden. Dies geschah um den Preis einer orientierenden Gesamtperspektive, etwa hinsichtlich der so wichtigen zeitlich-historischen Entwicklungsdynamiken. Der Navigator musste folglich um eine Art Zeitstrahl erweitert werden, der komplexe temporale Verlaufsstrukturen abbildet – variable Ausprägungen der unterschiedlichen Medientypen sollten dabei auf einen Blick nachvollziehbar sein. Aus der Vielzahl an möglichen Timeline-Tools und Visualisierungstechniken fiel die Wahl auf eine Bubble Chart, die auf der Y-Achse nach Medientypen differenziert und entlang der X-Achse den Untersuchungszeitraum in Jahreszahlen auffaltet (Abb. 4). Der Radius der aufgetragenen Kreise spiegelt die Anzahl der Medienangebote pro Jahr. Veröffentlichungsfrequenzen zeichnen sich damit medienübergreifend und auch über längere Entwicklungszeiträume hinweg sehr plastisch ab. Lagen die Erscheinungsdaten relevanter Publikationen jenseits des Untersuchungszeitraums – man denke an die Grimm’schen Märchen als beliebten stofflichen Referenzpunkt – werden die betreffenden Jahre links oder rechts unmittelbar angehängt. Eine Fold-Funktion sorgt optional dafür, dass Jahrgänge ohne jegliche mediale Manifestation eines Stoffes aus der Timeline verschwinden, d. h., eine Faltung bzw. Stauchung des Zeitstrahls stattfindet. Intermediale Entwicklungsdynamiken mit größeren zeitlichen Leerstellen (Latenzzeiten) werden damit im Sinne der Musteranalyse deutlich leichter überschaubar. Softwareseitig gewünscht war ferner eine grafische Snapshot-Option: Einmal für einen Stoff erstellte Timelines sollten als hochauflösende PNG-Datei heruntergeladen und archiviert werden können. Die Timeline-Funktion arbeitet notwendigerweise stoffzentriert, d. h., sie ist aus dem Navigator heraus nur abrufbar, sofern ein ausgewählter Stoff im Mittelpunkt steht. Eine Integration der Perspektiven – sprich des Raumaspekts (Navigator) und
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des Zeitaspekts (Timeline) – liefern die einzelnen Bubbles in der Zeitstrahl-Ansicht: Wählt man einen der Farbkreise via Mausklick an, wechselt die Anzeige zurück in den Navigator, der nun in der Peripherie sämtliche Manifestationen des Stoffes für die gewählten Koordinaten aus Erscheinungsjahr und Medientyp anzeigt. Im Falle der Werbematerialien ist zudem eine spezielle Mouse-Over-Funktion integriert, die der medialen Heterogenität dieses Objekttyps Rechnung trägt: Berührt die Maus eine der violett gefärbten Kreisformen, wird die interne Verteilung auf unterschiedliche Werbematerialien (Print, Film, Fanartikel etc.) in Gestalt eines kleinen Tortendiagramms angezeigt. Auf diese Weise bleibt der Werbebereich von genuinen stofflichen Adaptionen wie Film- oder Hörspielfassung unterschieden, büßt jedoch seine mediale Diversität nicht ein. Neben den beschriebenen explorativen Kernelementen wurden für das Portal weitere statistische und bibliografische Sonderfunktionen entwickelt, die andere (Teil-)Aspekte der aufgenommenen Medienverbünde beleuchten. Eine Art verbundspezifischer Fußabdruck ließ sich anschaulich mittels stoffbezogener DonutDiagramme realisieren (Abb. 5). Das mediale Spektrum eines Medienverbunds wird hier in prozentualer Verteilung farbig illustriert – in Klammern finden sich hinter jedem Medientyp zudem die absoluten Zahlenangaben, wobei sämtliche Manifestationen (ggf. auch jenseits des fokussierten Untersuchungszeitraums 1900–1945) berücksichtigt werden. Eine zweite globale Perspektive ergibt sich über eine netzwerkbezogene Rangliste der Medienverbünde (Abb. 6): Alle aufgenommenen Stoffe werden hier nach der Gesamtzahl an Verknüpfungen (exkl. Personen und Körperschaften) sortiert. Die mehrfarbigen Balken weisen dabei in seitlich gestaffelter Form auf die Anteile der unterschiedlichen Medientypen am Verbund hin. Die einzelnen Verbünde wie auch ihre medienspezifischen Facetten sind aus der Liste heraus direkt adressierbar bzw. via Link mittels des Navigators näher in Augenschein zu nehmen. Eine weitere Zusatzfunktion betrifft ausschließlich den Bereich der Personen, der ebenso wie die Körperschaften in den primär medienorientierten Statistiken
Abb. 5 Medienverbundprofil im Donut-Diagramm
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Abb. 6 Rangliste der Medienverbünde (Auszug)
Abb. 7 Chronologische Verbundliste zu Quax, der Bruchpilot (Auszug)
nicht näher berücksichtigt wurde: Für jede in der Datenbank registrierte Person kann automatisiert eine Publikationsliste ausgegeben werden, die nach Medientypen ausfacettiert erscheint und die jeweilige Rolle der Person (Autor/in, Produzent/in etc.) mit aufführt. Auch hier besteht von jedem einzelnen Datensatz aus ein direkter Link zum Navigator, d. h., die angegebenen Einzelpublikationen können umstandslos im Kontext ihrer intermedialen Verflechtung eingeordnet werden. Eine andere Variante dieser Listen-Funktion besteht in der chronologischen Ausgabe sämtlicher Publikationen, die medienübergreifend zu einem bestimmten Stoff veröffentlicht wurden. Aufgrund der unterschiedlichen Granularität der Daten (vgl. oben; Erscheinungsjahr vs. Sendetag/-zeit) ist die Genauigkeit der Reihenfolge hierbei begrenzt. Gleichwohl wird auf Grundlage der bestehenden Daten die sukzessive Entwicklung eines Medienverbunds sehr systematisch dokumentiert (Abb. 7). Wie generell auf allen Visualisierungsebenen verfügen die Einzeleinträge zu Beginn über eine farbliche Markierung, die auch in kursorischer Lektüre eine schnelle Zuordnung zu den unterschiedlichen Medientypen ermöglicht.
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Der kombinierte Zugriff der Darstellungsmodi Navigator, Timeline, wie auch der unterschiedlichen Listen- und Überblicksfunktionen, gestattet eine Recherchepraxis, die versatil zwischen Mikro- und Makroperspektive wechselt. Die erforschten intermedialen Verweisstrukturen sind dabei per se zunächst nicht mehr als Zwischenergebnisse, die in den Gesamtprozess des scalable readings eingehen (vgl. Mueller 2012; Weitin 2017), d. h. komplexe Verbindungen illustrieren, (un-) erwartete Dynamiken offenbaren, weiteren Präzisierungsbedarf anzeigen, kurzum: über fruchtbare Irritationen neue Erkenntniswege und -prozesse anstoßen (vgl. Schwandt 2018, 125). Einige mögliche Anwendungsszenarien zur Medienverbundforschung wird in diesem Sinne der gleichnamige Abschnitt skizzieren. Vorab sei jedoch der informationstechnische Hintergrund der Suchmaschinenumgebung respektive des Visualisierungskonzepts eingehender beleuchtet.
Technische Realisierung Die Datenerfassung mittels des Drupal-Systems und dessen differenzierte Konfigurationsmöglichkeiten sind oben bereits umfassend erläutert worden. Der dort als Endpunkt der Drupal-Domäne angeführte Datenbankdump dient allen weiteren Verarbeitungs- und Aufbereitungsprozessen als Basis. Zunächst findet er Verwendung, um mit Hilfe eines Crosswalk-Skriptes den Datentransfer des SQL-Exportformates in die für die Indexierung benötigte JSONDatei vorzunehmen. Für die flachen Feldstrukturen und die Taxonomie-Werte ist die Umsetzung mittels einer Mapping-Tabelle vergleichsweise einfach. Anspruchsvoller gestaltet sich die Verarbeitung der komplexen Verbundfelder mit hierarchischen Strukturen, die zur Vorbereitung der Indexierung im Hinblick auf die Indexstruktur in ein geeignetes Format umgesetzt werden müssen. An diesem Punkt empfiehlt es sich zugleich, über die für die Anzeige notwendigen Datenstrukturen auf Satzebene nachzudenken und eine effiziente Anlieferung der Datensätze in der Präsentationsschicht zu implementieren. Ein konkretes Beispiel dafür ist die interne Liste der Verknüpfungssätze, die bei jedem Eintrag um relevante Feldinhalte des Zielsatzes (Titel, Satz-Id, Medientyp, Verknüpfungsart, Erscheinungsdatum) ergänzt wird; umgekehrt sind hierbei auch die entsprechenden Rückwärtsverknüpfungen zu berücksichtigen. Darüber hinaus werden im Skript zu diesem Zeitpunkt aber auch schon Schritte vorgenommen, um komplexe Einzelaspekte der späteren Datenvisualisierung zu unterstützen. So wird die Timeline-Datenmatrix aus den Verknüpfungsinformationen von Medientyp und Erscheinungsjahr berechnet und zur effizienten Visualisierung beim Satz abgelegt. Auch eine Liste der Verknüpfungshäufigkeiten von Medientypen findet hier ihre frühe Form, um daraus das erwähnte Verbundprofil als Donut-Diagramm zu erzeugen. Ziel dieser Strategie ist es, auf Satzebene nach Möglichkeit die notwendigen Daten komplett vorzuhalten und damit eine Datenergänzung durch Nachladen aus dem Index weitgehend zu vermeiden.
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Abb. 8 Datenfluss von der Erfassung bis zur Visualisierung
Konkret verläuft der Datenfluss vom Drupal-System bis hin zur visuellen Präsentation der Daten über eine mehrstufige Kombination aus Suchindex und Javascript-Framework (Abb. 8): Aus der Drupal-Umgebung werden die erfassten Daten als Datenbankdump exportiert und per Skript für die Indexierung vorbereitet. Mit dem von der UB eingesetzten Catmandu-Framework wird dann ein Lucene-Index aus den extrahierten Metadaten produziert, der als Einstiegspunkt zur Nutzung der Datenbasis dient und damit eine webbasierte Such- und Navigationsumgebung bereitstellt. Die Anzeige der Suchergebnisse (für Liste und Einzeltreffer) ist per HTML-Templates flexibel definiert. Bei der Einzelsatzanzeige wird neben der textuellen Ausgabe der Metadaten an dieser Stelle zudem ein JavaScript-Framework zur Daten-Präsentation (D3.js = Data-Driven Documents)8 eingebunden, das die dynamischen visuellen Animationen im Browser steuert. Die gesamte Bereitstellung der technischen Infrastruktur nutzt dabei die Expertise, die über einen längeren Zeitraum in der UB in den Arbeitsfeldern bibliografische Suchumgebungen und Forschungsdatenmanagement aufgebaut worden ist und in dieser Umgebung nachgenutzt wird. Die drei Grundpfeiler der Implementierung, Drupal (Datenerfassung), Catmandu-Framework (Datenvorbereitung und Suchtechnologie) und das D3.js-Framework (insbesondere mit dem Fokus Visualisierung) sind in der UB bereits zuvor in anderen Projektkontexten eingesetzt worden. Daher stand für die zahlreichen notwendigen Ergänzungen und Anpassungen eine solide Know-How-Basis zur Verfügung. Abb. 9 zeigt konkret die einzelnen Schichten der technischen Infrastruktur (Spalte 1), die eingesetzten Techniken (Spalte 2) und die Anforderungen an den dabei von der UB erbrachten technischen Aufwand (Spalte 3); die für die einzelnen Schritte notwendige Art der Expertise ist daraus unmittelbar einsehbar. Für den Bereich Suchindex und die webbasierte Suchumgebung wird von der UB das Catmandu-Framework eingesetzt. Dabei handelt es sich um eine auf Lucene und Elasticsearch basierende Programmbibliothek, die von der
8Vgl.
https://d3js.org (20.03.2020).
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Abb. 9 Technische Infrastruktur und Anforderungsbereiche
UB Bielefeld in Kooperation mit den Universitätsbibliotheken Lund und Gent seit 2010 weiterentwickelt wurde. Insbesondere für die flexible Konfiguration und Erstellung eines Suchmaschinenindex kommt als Programmierschnittstelle die Catmandu-API zum Einsatz. Sie diente zugleich dem Ziel, eine universelle Produktions- und Präsentationsumgebung zu schaffen, mit deren Hilfe sich individuell angepasste Suchumgebungen für text-orientierte Datenbanken einrichten lassen. Das Tool ermöglicht einerseits, aus dem beim Datentransfer erzeugten Datenformat eine geeignete Indexstruktur zu definieren und somit vorliegende Metadaten in den Index zu laden. Andererseits werden die Rahmenbedingungen einer Endnutzeroberfläche für die KJL-Medienverbunddatenbank vorgegeben. Hierzu findet das vordefinierte Datenformat Verwendung, um per Template die Feldinhalte anzuzeigen. Dabei werden die Indexdaten zu den Ergebnissätzen in einer komplexen, aber in der Programmierung üblichen Satzstruktur bereitgestellt und können in Kombination mit Kontrollanweisungen und HTML-Definitionen verwendet werden. Die BES-Suchumgebung stellt eine Mischung aus Suchmaske, Kurztitel- und Einzelsatzanzeige mit Navigationsunterstützung bereit, die darüber hinaus Zusatzfunktionen wie Sortierung, Facettierung, Markierung von Sätzen, Export und Zitatengine-Einbindung bietet. In bisherigen Nutzungsszenarien wurden mit dieser Datenbankumgebung ausschließlich textbasierte, bibliografische Datenbanken erstellt. Im Fall der KJL-Medienverbunddaten allerdings zeichnete sich früh ab, dass neben diesen Grundfunktionen eine Erweiterung in Richtung einer vielschichtigen Visualisierung von Netzstrukturen inklusive einer Navigationsumgebung geschaffen werden musste. Visualisierungstechniken spielten in verschiedenen IT-Kontexten der Universitätsbibliothek eine Rolle, meist um Auswertungen für Infrastrukturen vorzunehmen und darzustellen. Nach verschiedenen Vorarbeiten in der Vergangenheit mit unterschiedlichen Softwarepaketen wurde in den letzten Jahren insbesondere mit D3.js gearbeitet, daher konnte für diese
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Technologie eine umfangreiche Expertise aufgebaut werden. D3.js ist ein weit verbreitetes Javascript-Framework auf Open-Source-Basis, das für die Nutzung von SVG-Ressourcen im HTML5-Kontext zahlreiche Funktionen und unzählige, gut dokumentierte, nachnutzbare Anwendungsbeispiele bereitstellt. Auf der Grundlage dieser technischen Infrastruktur ist die Benutzeroberfläche umgesetzt worden. Die textbasierten Suchmöglichkeiten werden über zwei Suchmasken realisiert: einerseits ein einfacher Suchschlitz für eine Suche über alle Felder und andererseits eine erweiterte Suchmaske, die ausgewählte Indexfelder (Titel, Verfasser, Erscheinungsjahr, Medientyp, Relation etc.; vgl. oben) separat anspricht. Vokabularbasierte Felder wie der Medientyp oder die Relation (d. h. das Verknüpfungsattribut) werden für die Nutzung per Dropdown-Menü unterstützt. Der Übergang zwischen den Basisfunktionen Suche einschließlich Ergebnisanzeige und der Navigation erfolgt aus der Einzeltrefferanzeige. Die Feldinhalte aus dem Index für den jeweiligen Satz werden intern vollständig beim Template-Aufruf bereitgestellt und stehen damit sowohl für die Textboxausgabe als z. B. auch für die Beschriftung von grafischen Elementen zur Verfügung. Dabei wird die bibliografische Textinformation (Titel, Autoren, Erscheinungsjahr etc.) als statischer HTML-Code via Template erzeugt und im linken Teilblock als Ergebnisliste ausgegeben. Ergänzt wird die Ergebnisanzeige durch die Auswahl von Facetten einzelner Indexfelder, die der gezielten Ergebnisfilterung (search refinement) dienen. Bei der ausführlichen Einzelsatzanzeige erfolgt die bibliografische Beschreibung im linken Block (Textbox) in Form einer Listenausgabe der relevanten Felder. Für den rechten Block, der insbesondere die Visualisierungselemente wie Navigatorund Timeline-Anzeige enthält (Abb. 3), wird der Javascript-Sourcecode im Template definiert. Dieser steuert die grafische Darstellung und realisiert zudem auch die dynamischen Aktionen im Browser, wie z. B. das Verändern von Teilbereichen bei der Timeline-Anzeige inkl. Fold/Unfold-Funktion oder die eingesetzte Mouse-Over-Technik. Zur Implementierung wurden zahlreiche Open-Source-Beispiele nachgenutzt und angepasst, etwa bei den Donut-Diagrammen zur Darstellung von verbundspezifischen Verteilungen (Abb. 5). Wie oben skizziert, wird die im Zuge des Datentransfers vorbereitete Datenbasis aus dem Suchindex verwendet, um die zahlenbasierten Informationen, wie Anzahl der Verknüpfungen pro Medientyp, im Navigator oder in der Timeline-Matrix auszugeben. Diese liegen im Satz vordefiniert und somit in der Datenstruktur für die Template-Ausgabe vor und können damit unmittelbar und ohne weitere Aufbereitung in eine Grafik umgesetzt werden. An technischen Lösungen zur Visualisierung komplexer Netzwerke auf Basis sehr unterschiedlicher Frameworks und Tools herrscht kein Mangel. Zahlreiche Beispiele wurden im Projektkontext betrachtet – gerade auch unter dem Aspekt der ressourcensparenden Ableitung einer ausgereiften Lösung, die den Anforderungen in hohem Maß entsprechen sollte. Eine nicht unwesentliche Prämisse war, dass die jeweilige Realisierung mit der gegebenen technischen Infrastruktur und der vorhandenen Expertise in Einklang stehen musste. Die präferierte Umsetzung ist aus technischer Sicht daher vor allem pragmatisch und funktional gedacht. So werden z. B. Standard-Graphik-Elemente wie Kreise, Kreisabschnitte oder Rechtecke verwendet, um das Navigationsuniversum zu veranschaulichen. Dabei ist
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die Anzahl der jeweils dargestellten Verknüpfungsebenen auf zwei beschränkt (Zentrum vs. Peripherie in Abb. 2), und die Erschließung weiterer Zusammenhänge erfolgt durch die per Link realisierte Navigationsfunktion, die sich der auf Satzebene abgelegten und damit direkt verfügbaren Verknüpfungsinformationen bedient. Standard-Techniken wie Mouse-Over und Tooltips werden eingesetzt, um on the fly Zusatzinformationen für den Betrachter ein- und auszublenden. Bei Werk- und Verbundliste sowie der Rangliste der Medienverbünde (Abb. 6 und 7) reicht die Satzebene nicht aus. Hier müssen daher über zusätzliche Indexanfragen benötigte Informationen zusammengetragen, ausgewertet und dann für die Ausgabe ergänzt werden. Die Rangliste der Medienverbünde analysiert sämtliche Sätze des Medientyps Stoff in der Datenbasis – da dieser Schritt einige (Rechen-) Zeit in Anspruch nimmt, wird aus Performance-Gründen täglich frühmorgens eine aktuelle Liste erzeugt, die dann tagesaktuell eingeblendet werden kann. Aus der Implementierungsperspektive ist im Projektverlauf eine umfangreiche Systemumgebung entstanden, die basierend auf vorhandenem Know-How permanent weiterentwickelt wurde. Standen zu Beginn die Anforderungen an die Datenstruktur und ihre Umsetzung in den Eingabeformularen bei der Datenerfassung im Fokus, verschoben sich die Diskussionen im Laufe der Entwicklung in Richtung Präsentationsschicht. Insbesondere im entscheidenden Bereich der Datenvisualisierung ist mit der gewählten Mischung aus Suchtechnologie und Javascript-Anwendungen eine flexible Implementierungsumgebung entstanden, die weitreichende Möglichkeiten der Umsetzung und Nachnutzung erlaubt. Die zusammengetragene Expertise wird sich, und das ist auch eine starke Motivation für das Engagement der Universitätsbibliothek, auf andere digitale Services positiv auswirken und zukünftige Angebote (nicht nur) in den Digital Humanities unterstützen können. Einige anwendungsorientierte Spielräume seien abschließend anhand dreier schlaglichtartiger Nutzungsszenarien in der Portalumgebung skizziert.
Anwendungsszenarien Die durch das Portal bereitgestellten Werkzeuge zur Exploration von Medienverbünden eröffnen ein weites Spektrum an Analyse- und Suchstrategien. Häufig ist eine geschickte Kombination der unterschiedlichen Zugriffsweisen gefragt, um die Recherche zielführend anzulegen oder auch einfach unsystematisch (nach dem Serendipitätsprinzip) durch das Netzwerk zu schweifen. Zu den typischen Anwendungsmustern, die sich im Zuge der Projektarbeit wie auch der Portalentwicklung bewährt haben, zählen:
(Un-)Konventionelle Suchanfragen Die Suchfunktion dient im gängigsten Fall dem schnellen Auffinden spezifischer Stoffe, Medienangebote, Personen oder Körperschaften. Über die Facettierung der
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Abb. 10 Erweiterte Suche und kursorische Verbundsichtung
Ergebnisse lassen sich auch umfangreichere Listen schnell einengen und fokussieren, etwa hinsichtlich ausgewählter Erscheinungsjahre, einzelner Medientypen etc. (vgl. oben). Aufschlussreich kann aber auch die Suche ohne jede Eingabe konkreter Titel, Personen oder Erscheinungsjahre sein: Lässt man sämtliche Textfelder frei und wählt aus dem Dropdownmenü lediglich einen Objekttyp – beispielsweise Film – zeigt die Ergebnisliste alle Film-Einträge der Datenbank, wobei die Verteilung auf die unterschiedlichen Erscheinungsjahre direkt ersichtlich wird. Entscheidet man sich für einen konkreten Datensatz, wechselt die Darstellung zur Navigator-Ansicht und zeigt den entsprechenden Filmtitel in seiner Verbundstruktur. Die Trefferliste der ursprünglichen Suche bleibt dabei stets hinterlegt und ist im Hintergrund adressierbar. Daraus resultiert die Option, sich auch direkt in der Navigatoransicht mittels übergeordneter Pfeiltasten entlang der Suchergebnisse zu bewegen: Optisch stellt sich dies sehr eindrücklich da, indem die äußeren, bunten Facetten der Navigatoranzeige je nach Filmtitel und medialem Vernetzungsgrad wechselnde Aktivierungsmuster zeigen (Abb. 10). Auf analoge Weise lassen sich selbstredend Ergebnislisten für Stoffe, Primärliteratur, Hörfunksendungen etc. erkunden. Leitendes Prinzip ist hier die schweifende Sichtung von verbundspezifischen Verbreitungsmustern – bei gleichzeitiger Ansicht der vollständigen Titeldaten und der Möglichkeit, via Navigator nach Bedarf vertiefend in Einzelverbünde einzusteigen. Eine Besonderheit der Suchfunktion besteht darin, nicht nur nach manifesten Datensätzen zu verschiedenen Objekttypen zu recherchieren, sondern dabei auch die Relationen zwischen diesen Datensätzen ins Spiel zu bringen. Sucht man also z. B. nach allen Literaturverfilmungen im Untersuchungszeitraum, erhält man über die Kombination aus Objekttyp/Film und Relation/literarische Vorlage die entsprechende Übersicht. Das Vorgehen lässt sich leicht auf andere Fragestellungen übertragen und ermöglicht sehr interessante, z. T. durchaus ungewöhnliche Perspektiven auf das plurimediale Korpus. Denkbare Kombinationen wären z. B. alle Rezensionen zu Hörfunksendungen, alle aufgenommenen Illustrator/innen für Printliteratur, alle Ankündigungen für Filme etc. Eine flexible Einschränkung der Suche über zusätzliche Angaben in einzelnen Textfeldern (Titel etc.) ist dabei selbstredend möglich. – Erkennbar wird in einer solchen Flexibilisierung der Suchfunktion, dass sie nicht nur dazu taugt, bestehende Fragen via Recherche zu beantworten, sondern auch neue Fragen an das Korpus zu generieren.
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Doppelte Optik mit Timeline und Navigator Die Darstellungsmodi des Onlineportals besitzen unterschiedliche Stärken und Schwächen und sind daher in der Anwendung komplementär zu denken. Der Navigator zeigt intermediale Verknüpfungen quasi aus nächster Nähe, bietet die vollständigen Informationen aller Datensätze und weist zudem die Einzelrelationen im Verbund aus – zeitliche Dynamiken vermag er aber kaum adäquat abzubilden. Die Timeline kann nicht mit komplexen Relationen und nuancierten Datensatzinformationen aufwarten, profiliert dafür aber intermediale Expansionsbewegungen, Ballungen, Latenzzeiten eines Verbundes u. v. m. Betrachtet man exemplarisch die Timeline zum Medienverbund von Schneewittchen (Abb. 11), lässt sich nachvollziehen, wie solche dynamischen Verbundprofile zu lesen sind bzw. – viel wesentlicher – welche analytischen Suchbewegungen sie auslösen: Natürlich ist der Zeitstrahl zunächst medienspezifisch, d. h. zeilenweise, lesbar. Erkennbar wird im Fall des sehr populären Märchenstoffes dann z. B. die Vielzahl an gedruckten Editionen von den frühen Ausgaben Anfang des 19. Jahrhunderts, zunächst noch unter dem Titel Sneewittchen bzw. Schneeweißchen (1812), über diverse illustrierte Ausgaben bis hin zu dramatisierten Fassungen. Auch die Frequenzen für Theater- oder Filmaufführungen des Märchens sind, soweit sie der Recherche zugänglich waren, schnell zu überschauen. Sehr schön bildet sich im Falle des Hörfunks ab, dass der Stoff recht unmittelbar nach der Aufnahme des deutschen Sendebetriebs im Oktober 1923 seinen Weg ins Radio fand und dort die kommenden Jahre mit bemerkenswerter Konstanz prominent vertreten blieb. In den Jahren 1934–1939 kommen, bei leichtem Rückgang der Radiopräsenz, mannigfache Film- und Theateraufführungen hinzu; auch der Printbereich zeigt sich weiterhin agil, und vereinzelte Werbematerialien sind zu verzeichnen. Am auffälligsten ist sicherlich der immense Zuwachs an Referenzen aus dem Bereich Sekundärliteratur, wozu im weiteren Sinne u. a. Ankündigungen, Besprechungen in einschlägigen (Programm-)Zeitschriften, z. B. aber auch in Tageszeitungen gezählt seien. Der Navigator gibt hierbei sehr konkret Aufschluss über die verhandelten Medienangebote; zugleich ermöglicht er aber auch in vielen Fällen mittels interner und externer Links (Bestände der UB Bielefeld, DNB etc.), entsprechende Dokumente direkt als Digitalisate einzusehen. Schnell wird nun der Grund für die Umtriebigkeit ab Mitte der 1930er-Jahre ersichtlich:
Abb. 11 Medienverbund zu Schneewittchen in der Timeline-Ansicht
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Ein Walt Disney-Film für 2 Mio. Mark findet sich im Film-Kurier vom 02.12.1936 für das Folgejahr angekündigt, und auch die Filmlänge ist bereits bekannt: „etwa 2200 m“ (Ein Walt Disney-Film für 2 Mio. Mark 1936, 3). Auf die korrigierten und ergänzten Eckdaten zum Film stößt man im Folge-, dem Erscheinungsjahr: Von „3 Mio. Mark“ Produktionskosten ist nunmehr die Rede, von „570 Zeichnern“, „230.000 Zeichnungen“ und einem numinosen Papierbogenverbrauch „in einer Gesamtlänge von 556 englischen Meilen“ („Schneewittchen“ in Hollywood aus der Taufe gehoben 1937, 3). Wenige Wochen später wird sich Klaus Mann aus Hollywood zu Wort melden und von den „reizvollen Perspektiven“ der Disney’schen Ästhetik, von „Wirkungen ganz ungeahnter Art“ zu berichten wissen: „Was für Landschaften gibt es da nicht zu entdecken: groteske, spukhafte, wilde, verwunschene Landschaften: E. T. A.-Hoffmann-Landschaften, Kubin-Landschaften, surreale Gegenden.“ (Mann 1938, 3) Mit nur drei Klicks ist in diesem Beispiel die Brücke vom distant viewing zum close reading geschlagen, lassen sich (in hier allenfalls angedeuteter Form) übergeordnete mediale Entwicklungsdynamiken, produktionstechnische Bedingungen und rezeptionsästhetische Wirkungen in ihrer wechselseitigen Verflechtung ergründen. Die Visualisierung fungiert dabei primär als Koordinatensystem bzw. Navigationsinstrument, das ein gezieltes Zoom-In bzw. Zoom-Out unterstützt und damit neue Perspektiven auf das literarische Handlungssystem eröffnet.
Medienverbünde im Profil Im Hinblick auf eine Systematisierung der Theoriebildung bleibt in der Medienverbundforschung noch manches zu tun. Diverse Ansätze ganz unterschiedlicher Provenienz liegen inzwischen vor, die sich der Entwicklungsdynamik und/oder Typologisierung medialer Verbunderscheinungen widmen.9 Es mangelte dabei bisher an Möglichkeiten, eine größere Anzahl an Verbünden miteinander zu vergleichen, um so – jenseits der kanonisch bemühten aktuelleren Beispiele von Matrix über Harry Potter zu Star Wars, den Pokémons, Superman und Biene Maja – neue Einblicke in mediale Verbreitungsmechanismen zu erhalten. Die im Portal bereitgestellten Werkzeuge können diese Arbeit erleichtern, wenngleich sie eine Detailanalyse transmedialer Wirkungs- und Wandlungsprozesse nicht ersetzen. Die oben bereits umfänglich besprochene Timeline-Darstellung ermöglicht Musteranalysen, in denen die zeitliche Expansion der Medienverbünde ablesbar wird. Dynamiken eines schneeballartigen Wachstums (Ursprungsmedium, dann sukzessive transmediale Verbreitung) werden dabei potenziell ebenso ersichtlich wie das konzertierte Einsetzen transmedialer Verbundstrukturen (simultaner pluri-
9Für
eine Überblicksdarstellung vgl. die Einleitung in diesem Band.
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medialer Ursprung; vgl. Ryan 2013, 363). Die Granularität der Darstellung kann hierbei aufgrund der verfügbaren Veröffentlichungsdaten die jährliche Skalierung nicht überschreiten. Zieht man ergänzend die ebenfalls verfügbare Verbundliste in Textform hinzu, lässt sich die Chronologie der Ereignisse – etwa bezüglich einzelner Hörfunksendungen, Theateraufführungen, Werbeannoncen etc. – jedoch weiter ausschärfen. Um Wechselwirkungen im Verbund nuancierter zu verfolgen, müssen die konkreten Relationen allerdings in jedem Einzelfall recherchiert bzw. auf Grundlage vorliegender Digitalisate rekonstruiert werden. Schon bei einer einfachen Literaturverfilmung kann dies – mehrere Textfassungen eines Stoffes vorausgesetzt – rasch umfänglichere Recherchearbeiten erfordern, die während der Dateneingabe allenfalls exemplarisch mit zu leisten waren. Das Portal birgt in dieser Hinsicht also beträchtliche transmediale Schätze, die in der (Nach-)Nutzung durch die Forschungscommunity noch zu heben sind. Eine weitere interessante Perspektive auf Gesamtverbünde eröffnen die ihrer Natur nach resümierenden Darstellungsmodi des Portals: Die oben erwähnte Rangliste gewährt dabei nicht nur (numerischen) Einblick in den Grad der Vernetzung eines Medienverbunds, sie relationiert auch dessen quantitatives und qualitatives Profil – einerseits, indem in der Liste (un-)mittelbare Nachbarn ähnlicher Größenordnung als historische Vergleichsfolie dienen, andererseits, indem auch die mediale Binnenstruktur der Verbünde mittels Stapeldiagramm kontrastiv abgebildet wird. Während etwa einer der Spitzenreiter, der Funkheinzelmann, als ursprünglich serielles Hörfunkformat rund zwei Drittel seiner stofflichen Expression aus diesem Bereich bezieht und mannigfache Referenzen zu Theater, Printbereich und Werbung aufweist, stützt sich ein ebenfalls populärer Stoff wie Sherlock Holmes zuvorderst auf printmediale Manifestationen, den Film und zahlreiche Werbetexte. Der Vergleich fördert die hier komplementäre Konstitution der Verbünde zutage: Der Funkheinzelmann meidet erkennbar die filmische Domäne, Sherlock Holmes dringt im Untersuchungszeitraum – abgesehen von einer singulären Ausnahme am 22.05.1929 – nicht in den Hörfunk vor. Recht plakativ zeigen sich entsprechende Unterschiede auch im Fußabdruck der Verbünde mittels Donut-Diagramm (Abb. 5). Es liegt auf der Hand, dass eine Makro-/ Metaanalyse entsprechender Verteilungsmuster neue Ansätze für die typologische Ausdifferenzierung von Verbundphänomenen ermöglicht. Dabei dürften in diesen frühen Formen die Dynamiken unterschiedlicher Leitmedien, medienüberschreitend wirkender Aktanten, werbestrategischer Multiplikation u. v. m. in den Fokus rücken.
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Resümee Die interdisziplinäre Kooperation im Rahmen des DFG-Projekts Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur 1900–1945 war ein gleichermaßen herausfordernder und konstruktiver Prozess, in dem über die Zeit zunächst ein gemeinsames Vokabular gefunden werden musste. Das beständige Austarieren zwischen literaturwissenschaftlicher und informationstechnischer Perspektive setzte Grenzen, es erweiterte aber zugleich den beidseitigen Erkenntnishorizont. Das Hineinwirken digitaler Strukturierungs- und Visualisierungsformen in die Literaturwissenschaft erschöpft sich dabei nicht in der (durchaus zu begrüßenden) Erleichterung quantifizierender Verfahren – vielmehr trägt gerade auch das explorative Moment der Projektarbeit dazu bei, grundlegend andere Forschungsfragen als die fachlich etablierten zu entwickeln (vgl. Herrmann/Lauer 2018, 131). Die Dynamik des digital gestützten Forschungsprozesses verläuft dabei, analog der bisweilen vertrackten Konstitution seines Gegenstands, eher vernetzt und rekursiv statt linear: Wenn etwa auf Ebene der Visualisierung plötzlich Defizite im Metadatenschema augen- und damit sinnfällig werden, wenn in der Dateneingabe unverhoffte Fundstücke aufscheinen, die quer zum bestehenden Kategoriensystem stehen, sind die Projektkoordinaten möglicherweise schnell auf mehreren Ebenen nachzujustieren. Ein solches Vorgehen fordert Flexibilität und Frustrationstoleranz bei allen Beteiligten; es belohnt aber mit einer zunehmend exakten, validen und facettenreichen Erschließung des Gegenstandsfeldes. Perspektivisch lässt sich an die im Beitrag skizzierten Vorarbeiten in mancherlei Hinsicht anschließen: Im Sinne einer möglichst breiten Nachnutzbarkeit wäre eine umfangreiche(re) Exportfunktion beliebig selektierbarer (Teil-)Korpora anzustreben. Auch die Ausgabe einzelner oder kombinierter Medienverbünde in einem GEPHI-kompatiblen Format ließe sich umsetzen und damit eine flexible Visualisierungsfunktionalität alternativ z. B. zur Funktion der Timeline oder des Navigators bereitstellen. Als urheberrechtsbedingt anhaltende Baustelle dürfte sich die Einspeisung öffentlich zugänglicher Digitalisate erweisen. Langfristig wäre hier u. a. an die direkte Verfügbarkeit gerade auch erhaltener Primärwerke (Bücher und Artikel im Volltext, Filme etc.) zu denken, sodass der Navigator potenziell bis ins close reading auch dieser Texte bzw. Medien trägt. Im Hinblick auf eine weiterführende Medienverbundforschung post 1945 sollte das bestehende Metadatenschema als zentrales Heuristikum eingehen. Die sich eingedenk vor allem des Fernsehens, des Internets etc. im 20. Jahrhundert paradigmatisch ändernden medialen Handlungspraxen versprechen die Topografie der Verbundforschung freilich abermals zu modulieren. Was Felix Stalder als ein Hauptcharakteristikum der Digitalisierung ausweist, die „Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten“ (Stalder 2016, 10), gilt auch für die wissenschaftlichen Möglichkeiten respektive die Digital Humanities. Das Feld ist weit, das Vorgehen bisweilen etwas tastend und nicht immer scheint vorhersehbar, „wie sich Fragestellungen, Methodik und Gegenstandsbereich zueinander verhalten“ (Herrmann/Lauer 2018, 148). Dass diese Ungewissheit
Digitale Erkundungen historischer Medienverbünde
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eine produktive sein kann, hofft der vorliegende Beitrag gezeigt zu haben – nicht zuletzt in dem Anliegen, mit dem öffentlichen Launch des Onlineportals den explorativen Geist des Projekts in einer größeren Forschungscommunity fortzuschreiben.
Literatur Primärliteratur Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Sneewittchen (Schneeweißchen). In: Dies.: Kinder- und HausMärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm, Bd. 1. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1812, 156–163.
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M. Preis und F. Summann
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Pioniere erobern die neuen Medien
Vom Kindertheater zum Film Medienkonvergenz im frühen Werk von Fritz Genschow und Renée Stobrawa Petra Anders
Abstract The German post-war writer, filmmaker and actor, Fritz Genschow, is well-known as the teller of fairy tales at the West-Berlin Radio station RIAS. In addition, he was the first filmmaker who used color in his film Rotkäppchen (1937), even before the legendary use of Technicolor in The Wizard of Oz (1939). In the article by Petra Anders, new perspectives on Genschow are elaborated on the basis of his early work: First, his feature film Der Kampf um den Stiefen Ast (1937) is one of the rare and hitherto unmentioned original films in early days of children’s and youth film that were released prior to the book version in the early days of children’s and youth film. Secondly, in cooperation with his partner Renée Stobrawa, Genschow developed the innovative educational concept of a studio of the youth film that held together the Storyworld of the diverse, convergent and transfictional media network of Genschow productions of children's theatre, film and book (General Stift und seine Bande, 1937). Thirdly, based on reviews by the contemporary daily German film magazine Film-Kurier, it can be outlined that although Genschow’s films initially belonged to the genre of Kulturfilm of the nineteen-thirties they were soon devalued by the Youth Film Head Office in the Reich Propaganda Headquarters of the NSDAP.
P. Anders (*) Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_6
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Einleitung Fritz Genschow (1905–1977) hat sich vielfältiger Medien bedient, um sich künstlerisch auszudrücken. Er war Theater- und Filmschauspieler, führte Regie, produzierte eigene Theaterstücke und Filme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und war u. a. auch als Märchenerzähler Onkel Tobias im Rundfunk (RIAS Berlin) tätig. Die vorliegende Darstellung betrachtet vor allem den Zeitraum der 1930er-Jahre seines Schaffens. Der Beitrag folgt in seinem Aufbau dem Medienkompaktmodell von Schmidt (2008): Zunächst wird der historische Bedingungsrahmen für Genschows Werk nachgezeichnet, anschließend die auf sein Werk bezogenen Handlungsbereiche der Produktion und Distribution sowie der Rezeption. Diese Gliederung ermöglicht es, zunächst beschreibend vorzugehen und erst am Ende die eigene Darstellung mit dem Forschungsstand zu vergleichen. Allerdings zeigte sich bei diesem Vorgehen auch die Grenze des Medienkompaktbegriffs, denn das Werk von Genschow ist durch dynamische Prozesse geprägt: An der Biographie von Fritz Genschow lässt sich die Entwicklung von der Bühne zum Kino exemplarisch nachvollziehen. Er wird in seinen Filmen immer wieder auf Methoden des Theaters zurückgreifen. Genschow wechselt zwar das Medium, aber über die Arbeitsweise entsteht Kontinuität. Er nutzt den Film weniger als Vermittler eines künstlerischen Ausdrucks, sondern [...] als Theater mit anderen Mitteln, [um] Botschaften zu transportieren. (Scherer 2005, 26)
Der wichtige Handlungsbereich der Verarbeitung, zu dem nach Schmidt auch Medienwechsel gehören, ist angesichts dieser Dynamik nicht von dem Bereich der Produktion (Kap. 3) zu trennen. Genschows Werk zeichnet sich vielmehr durch inhaltliche Konvergenz aus. Dies wird anhand des Theaterstücks Kinderraub in Sevilla aus dem Jahre 1934 und dem Medienverbund zu General Stift und seine Bande (1936/1937) deutlich. Der Markenkern1 Genschow durchzieht, wie im Folgenden zu sehen ist, alle Medien, die er zusammen mit seiner Frau Renate (Renée) Stobrawa in den 1930er-Jahren für die Produktion nutzte. Renée Stobrawa (1897–1971) war Schauspielerin und Drehbuchautorin und maßgeblich an allen im Folgenden genannten Produktionen beteiligt, z. B. als Leiterin des Kindertheaters und Schauspielerin. Zur Rekonstruktion von Genschows Filmografie erwies sich neben Sigrid Scherers fundiertem Ausstellungskatalog (2005) der Film-Kurier als ergiebige Quelle. Diese politisch und fachlich2 nicht ganz unproblematische Ressource war von 1919–1945 das führende deutsche Fachblatt zum Film, das täglich erschien.
1Die
Anregung zu diesem Begriff erhielt ich aus Julia Benners Vortrag 2017 auf der Bielefelder Tagung zum DFG-Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, die dieser Publikation vorausging. 2Der Film-Kurier enthält sachliche Fehler: Der Film Der Kampf um den stiefen Ast wurde zwei Mal falsch betitelt (Kampf um den großstarken Act/Der Kampf am tiefen Ast), was zur Folge hatte, dass die Information über die Prädikatisierung an verschiedenen Tagen insgesamt drei Mal gemeldet worden ist, bis der Titel schließlich stimmte.
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Neben dem Film wurde auch über Theater, Kunst, Varieté und den Rundfunk berichtet. Das Fachblatt gab den Zeitgenossen u. a. Auskunft über Termine von Kinovorstellungen und Entwicklungslinien des deutschen und internationalen Films und bietet somit Anhaltspunkte für die Gestaltung von Übergängen zwischen Theater und Film sowie die Ausdifferenzierung spezieller Filmgenres.
Historischer Rahmen Deutschland war seit 1933 „ähnlich wie die USA, Großbritannien, Frankreich und andere Industrienationen auf dem Wege zu einer modernen Mediengesellschaft“ (Zimmermann 2005a, 69). 1937 gab es in den großen Städten Berlin und München einen neuen Besucherrekord in den Kinos (vgl. G. H. 1937a). Die Presse wertete diesen Rekord als Zeichen dafür, dass die Filmtheater „alles getan haben, um den herausgekommenen Filmen würdige Aufführungsmöglichkeiten zu geben“ und „die Produktion durchaus in der Lage ist, dem Filmgeschmack der großen Masse zu entsprechen“ (ebd.). Kommerziell erprobte Unterhaltungsangebote zur Konsumbefriedigung waren für die Nazis weit wichtiger als völkische Propaganda (vgl. Zimmermann 2005a, 69). Trotzdem beklagte Goebbels 1933 den „Mangel an volkstümlichen Stoffen“ und die „mangelnde Wirklichkeitsnähe“ des deutschen Films (ebd., 70). Film sollte unter Goebbels „zeitnahe Tendenzkunst aus nationalsozialistischem Geist“ (ebd., 71) sein. Da die Nazis ihre Ziele „trotz umfassender Kontroll- und Lenkungsmaßnahmen in der kapitalistisch organisierten und profitorientierten Filmindustrie bis 1937 nicht durchsetzen konnten“ (ebd.), plädierte Goebbels 1937 erneut für die „künstlerische Gestaltung zeitnaher Probleme aus nationalsozialistischem Geiste“ (ebd.). Auf der Jahrestagung der Reichsfilmkammer am 05.03.1937 gab er bekannt, dass statt plumper Propaganda-Filme die Propaganda eher als „Tendenz, als Charakter, als Haltung im Hintergrund“ bleiben solle (Goebbels 1937; zit. nach Albrecht 1979, 48). Dafür kamen unterschiedliche Genres in Frage, vor allem aber der Kulturfilm, der zum „Medium wahrer deutscher Wesensschau und Sinnstiftung stilisiert worden war“ (Zimmermann/ Hoffmann 2005c, 46). Eine exakte Definition des Kulturfilms ist weder für die damalige Zeit noch heute zu (re-)konstruieren. Der Kulturfilm war schon in den 1920er-Jahren „strittiges Gelände“ (Günther 1924, 42 f.); die Bezeichnung wurde meist „als Oberbegriff für die unterschiedlichen dokumentarischen Filmformen benutzt“ (Zimmermann/Hoffmann 2005b, 26). Vor dem Ersten Weltkrieg waren dokumentarische Subgenres wie Aktualitäten, Reisebilder, Industriebilder eher dem Abbilden verpflichtet. Sie wollten, so Gunning (1986), dem Publikum weniger etwas sagen, sondern vor allem etwas zeigen (vgl. Zimmermann 2005b, 15). 1932 unterscheidet dann Schmitt den Spielfilm als „Film mit Handlung“ vom Kulturfilm als Film, „der kulturelle, pädagogische oder wirtschaftliche Zwecke verfolgt“ (Schmitt 1932, 37), wobei der Kulturfilm aber zunehmend
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in Handlungen eingebettet werde. Während kurze pädagogisch ambitionierte Kulturfilme in den 1930er-Jahren als Vorfilme im Kino gezeigt wurden, schien die Produktion längerer Kulturfilme zurückzugehen. Die Rolle des Kulturfilms als Beiprogramm sorgte nach Meinung des Film-Kuriers für eine Entwertung des Kulturfilms. Daher wurde 1937 von der Deutschen Gesellschaft für Ton und Film e. V. (kurz: Degeto)3 ein eigener Kulturfilm-Verleih gegründet. Damit sollte die wirtschaftliche Existenz freier Kulturfilm-Produzenten gesichert und die Produktion abendfüllender Kulturfilme angekurbelt werden (vgl. Degeto startet mit 17 Filmen 1937). Von den sogenannten Groß-Kulturfilmen versprach man sich eine größere Zielgruppe, d. h. Personen zu erreichen, die sich eher für die „bildenden, erziehenden und unterhaltenden Werte des Kulturfilms“ (ebd.) begeisterten und deswegen das Kino aufsuchten. Die Zeit sei dafür günstig, da der „Kulturfilm zur Zeit im Brennpunkt des öffentlichen Interesses, des Publikums sowohl wie der Theaterbesitzer“ (ebd.) stehe. Außerdem hoffte man auf Impulse des Kulturfilms auf die Spielfilmproduktion: Der Kulturfilm sei „nicht selten der künstlerische Bahnbrecher des Spielfilms“ gewesen, die „großen Pioniere der Filmkunst“ seien aus dem Kulturfilm hervorgegangen (ebd.). Die Degeto hatte 1937 17 „große Filme aus der deutschen und ausländischen Produktion“ im Verleih, die „besondere Beachtung“ als Kulturfilme verdienten, und zwar wegen ihrer „künstlerischen, kulturellen oder allgemein menschlichen Werte“ (ebd.). Darunter fielen durchaus verschiedene Genres, u. a. der in der Südsee spielende Abenteuerfilm Tabu (1929/1930) von Murnau, eine Mischung aus Spielfilm und ethnografischer Studie,4 zahlreiche Expeditionsfilme und Propaganda-Filme. Zur Kinder-Kulturfilm-Reihe gehörten auch Genschows Filme Ikaruskinder (1938) und Rotkäppchen und der Wolf (1937) (vgl. Degeto startet mit 17 Filmen 1937).
Genschows Produktionen Bühne und Film in den 1930er-Jahren Genschow lebte in Berlin bzw. nach 1945 im späteren West-Teil der Stadt. Er begann als Theaterschauspieler, u. a. bei Erwin Piscator (vgl. Scherer 2005, 8). Er war sowohl auf der Bühne als auch bereits 1928 im Film erfolgreich, erhielt Rollen in über dreißig Filmen (vgl. ebd., 15). So überzeugte er z. B. durch sein
3Die
Deutsche Gesellschaft für Ton und Film (kurz: Degeto Film GmbH) ist heute die Filmeinkaufsorganisation der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD). 4Vgl. Tabu. In: Filmlexikon, https://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach=titel&w ert=36650 (19.08.2019).
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„temperamentvolles“ Spiel 1936 in dem Berlin-Spielfilm Gleisdreieck, der „in der unmittelbaren Gegenwart“ spielt (Schwark 1937, 2). Neben vielen anderen Theaterrollen trat er zeitgleich 1937 als Bühnenschauspieler neben Heinrich George im Schiller-Theater in der Alt-Berliner Posse Ehrliche Arbeit in der Rolle eines „prächtigen“ Bäckermeisters auf (vgl. Schuhmacher 1937a). Parallel zu seiner eigenen Schauspielkunst inszenierte Genschow mit seiner ersten Ehefrau Renée Stobrawa Kindertheaterstücke, wie z. B. 1929 ein Stück von Lisa Tetzner im Theater am Schiffbauerdamm (vgl. Scherer 2005, 10). Ab 1931/1932 betrieben sie gemeinsam ein eigenes Kindertheater, zu dem auch eine Kindertheaterzeitung gehörte, in der die Kinder die Autoren waren (vgl. ebd., 11). Genschow und Stobrawa waren für ihre Märchenschauspiele in Berlin bekannt. Sie bespielten (vor allem in der Vorweihnachtszeit) das Theater am Nollendorfplatz und die Komische Oper mit deutschsprachigen Märchen und boten ein einschlägiges Kinderprogramm (vgl. Bühnen-Notizen 1936), das, wie in der folgenden Rezension deutlich wird, auch dem Schauspieler und nationalsozialistischen Generalintendanten Eugen Klöpfer gefiel: Der Jubel und der Beifall der Kinder galt dem schönen Nachmittag, den Künstlern, die so schön spielten, und auch dem guten Onkel Eugen Klöpfer, der als Generalintendant sicher gesagt hat, „man soll was Schönes für die Kinder spielen!“ (Schuhmacher 1936b)
Ebenso wie Genschows eigene Karriere durch ein Nebeneinander von Bühne und Film geprägt war, zeichnet sich eine Konvergenz in Genschows Arbeiten im Bereich der Kindermedien ab. Laut einer kleinen Notiz im Film-Kurier hatte das Kindertheater Stobrawa den Stoff der Fortsetzungsserie Kai aus der Kiste von Wolf Durian (Roman 1926) als Theaterstück adaptiert, die filmische Aufzeichnung des Theaterstücks erschien 1932 als pädagogischer Kulturfilm in einer Wochenschau (vgl. Kai aus der Kiste 1932). Wer die Filmaufzeichnung gedreht hat, ist nicht bekannt. Die Verbindung zwischen Kindertheater und Kinderfilm ist 1934 mit dem Kurzfilm Mit dem Kindertheater durch Deutschland evident (vgl. Abschn. Kinderund Jugendfilm im Kaiserreich). Es folgt dann 1935 eine „ganze Serie von Märchenfilmen“ für den Schmalfilmvertrieb von Agfa (vgl. Schuhmacher 1936a, 1), das waren sieben zwölf- bis 30-minütige Schwarz/Weiß-Stummfilme zu Märchenstoffen (Rumpelstilzchen, Schneewittchen, Die Prinzessin auf der Erbse, Hänsel und Gretel) sowie sechs- bis siebenminütige Filme zu Geschichten aus dem Bilderbuch Der Struwwelpeter (Zappelphilipp, Der Suppenkaspar, Der Struwwelpeter) (vgl. Genschow-Film.de). Diese Stummfilme sind keine als Dramenfilm zu bezeichnende Mitschnitte von Theateraufführungen (vgl. Kepser 2012), vielmehr sind sie eigenständig mit einem Drehbuch gedreht worden.5
5Diesen
Hinweis verdanke ich Martina Maas, Inhaberin von Genschow-Film.de.
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Mit dem Kindertheater durch Deutschland (1934) Dem Kurzfilm Mit dem Kindertheater durch Deutschland (1934) liegt das Theaterstück Abenteuer deutscher Jungen im Ausland (oder: Der Kinderraub von Sevilla) zugrunde, das 1934 im Selbstverlag erschien. Genschow hat in diesem Stück die „Gedanken und Ideen über das Auslandsdeutschtum“ von Dr. Karl König, dem ehemaligen Direktor der Deutschen Schule in Sevilla, „in dramatische Form gebracht“ (Genschow/König 1934, Beiblatt). In dem Stück geht es, wie später auch in General Stift, um Kinderbanden, genauer um eine Kinderräuberbande namens Mafa. Sie raubt in Sevilla ein Mädchen aus einer deutschen Schule und wird letztendlich von der Gegenbande mit Anführer Jochen überführt. Seine Bande ist streng hierarchisch organisiert und benennt Jochen als einen Führer, dem alle bedingungslos zu folgen haben. Viele Stellen des Stückes demonstrieren die deutschnationale Verachtung des Versailler Vertrags und enthalten emotionale Äußerungen über (ehemalige) Gebiete und die Verherrlichung des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland (VDA) mit Sitz in Berlin. Genschow und König legen vor allem der Figur des Direktors Lobreden auf den Führer Adolf Hitler in den Mund. Direktor: Adolf Hitler ist nicht nur der Führer des neuen Deutschland. Sein Name war der Weckruf für das deutsche Volk. Sein Name ist dem neuen Deutschland ein Begriff wie eine Religion. Sein Name ist Kampf, Kampf für das Deutschtum in der ganzen Welt. Wißt ihr, was er selbst über Euch schreibt in seinem Buch „Mein Kampf“?: „Nur wer selber am eigenen Leibe fühlt, was es heißt, Deutscher zu sein, ohne dem lieben Vaterlande angehören zu dürfen, nur der vermag die tiefe Sehnsucht zu ermessen, die zu allen Zeiten im Herzen der vom Mutterlande getrennten Kinder brennt.“ (Genschow/König 1934, 77)
Der Direktor hält darüber hinaus Überzeugungsreden dafür, dass die Kinder einen Kampf für Deutschland aufnehmen sollen. In dem Zusammenhang wird auch der deutschen Muttersprache gehuldigt, die der Direktor in Gefahr sieht. Das Stück zählt zudem zahlreiche Orte in Deutschland auf (vgl. ebd., 79). Das Happy End besteht darin, dass Pläne für eine Deutschlandreise geschmiedet werden: Die im Ausland (Sevilla) lebenden deutschen Kinder sollen dadurch ihre Heimat kennenlernen bzw. wiedersehen. Eine dieser Fiktion ähnliche Deutschlandreise setzt Genschow mit Renée Stobrawa im selben Jahr, also 1934, in die Tat um: Der VDA schickt sie mit einem Bus und 24 Personen, darunter zwölf Kinder, quer durch Deutschland in 70 Städte; ein Lehrer begleitet die Gruppe und erteilt unterwegs Schulunterricht (Schumacher 1936a) (Abb. 1). Das Stück wirbt damit, dass Schauspieler mitwirkten, die bereits aus Hitlerjunge Quex bekannt seien (vgl. Genschow/König 1943, Beibl.). Die Theatergruppe spielt vor Ort das eben skizzierte, im Film sogenannte „romantische Jugendstück“ Der Kinderraub in Sevilla. Im Zuge dieser Tour entsteht eine Programm-Zeitschrift Der Theaterautobus mit Kinderaufsätzen und einem Briefwechsel zwischen den Spielern und den jugendlichen Theaterzuschauern (vgl. Schuhmacher 1936a, 1). Der 11-minütige Stummfilm Mit dem Kindertheater durch Deutschland (Agfa Film) dokumentiert die Reise. Ob Genschow selbst Regisseur war, geht aus dem Filmmaterial nicht hervor.
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Abb. 1 Theaterbus in Mit dem Kindertheater durch Deutschland (1934) (03:57)
Abb. 2 Freies Spiel in Mit dem Kindertheater durch Deutschland (1934)
Der Film zeigt kurz zu Beginn Anwerbungsszenen für das Kindertheaterprojekt. Eine Schrifttafel zeigt die Frage: „Wer hat Lust mitzufahren?“ Sie untertitelt nicht nur den Filmausschnitt, sondern adressiert diese Frage indirekt an die potenziellen Zuschauer. Im Film informieren sich die Kinder in den Rolands-Blättern – der NS-nahen Jugendzeitschrift des VDA – über das Theaterprojekt. Es folgen Probeszenen, durchweg von Jungen gespielt. Der Kinderschauspieler Waldemar Kupczyk (Künstlername Drops, Abb. 2, dritter v. r.) kommt in diesem Film scheinbar als neuer Schauspieler zur Schauspielgruppe hinzu und wird auch später im Film als Publikumsliebling gezeigt. Er spielte bereits die Rolle des Gerold in Lamprechts Emil und die Detektive (1931) und ist auch in Genschows Ikarus sowie Drops wird Flieger zu sehen.
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Während das Spiel der Jungen in den Proben recht frei wirkt, zeigen die wenigen kurzen Szenebilder aus dem dann vor Publikum gespielten Theaterstück eher Ausstattungs- und Kostümtheater. Sie nehmen nur 30 s des Gesamtfilms ein. Es überwiegen Stadt- und Landschaftsaufnahmen, darunter der Dresdener Zwinger, der Hamburger Hafen, der Kölner und der Aachener Dom. Insgesamt stellt der Film die Reise als besonders positives Ereignis dar: Die Jugendlichen werden als lustige Burschen gezeigt, die überaus viel Spaß auf der Reise durch Deutschland haben, sehr gut von Quartierseltern verpflegt werden, sportlich aktiv sind und mit dem Theaterbus „überall freudig begrüßt“ (07:21) werden. Die Schrifttafeln im Film betonen die herzliche Aufnahme des Kindertheaters in den Städten: „Die Schulen marschieren geschlossen mit ihren Lehrern zur Vorstellung.“ (08:44). Die jungen Schauspieler werden auf der Straße gefeiert. Eine Perspektivierung aus Sicht der Kinder gibt es jedoch nicht. Der Film bleibt nullfokalisiert, d. h., der Betrachter hat durch die Schrifttafeln einen Wissensvorsprung vor den jugendlichen Protagonisten. Insgesamt changiert dieser Kurzfilm zwischen pädagogischem Kulturfilm und dem damals beliebten Städtefilm. Der Tenor des zugrundeliegenden Theaterstückes, der VDA als Sponsor und die Schrifttafel Propagandafahrt in einer Rheinstadt verweisen darauf, dass es sich um einen Film mit propagandistischer Absicht handelt. Der Film bewirbt einerseits das eigene Kindertheater, andererseits aber auch den VDA und das „schöne Deutschland“ (vgl. Schrifttafel am Filmende, 10:59).
Genschows Studio des Jugendfilms Ein weiterer Hinweis dafür, wie Film und Theaterarbeit bei Genschow ineinander übergingen, ist die Gründung seiner sogenannten Arbeitsgemeinschaft Film und Theater, das Studio des Jugendfilms. Er fand damit eine eigene Antwort auf die sogenannte Autoren-Debatte, die der Film-Kurier angesichts des Mangels an Filmautoren führte. Mit dem Titel Fördern? Fördern! gab Horst Feldt, ein angehender Filmautor, zu bedenken, dass alle an der Filmproduktion Beteiligten quasi von einem Medium ins andere wechseln könnten – nur der Filmautor nicht: Jeder andere Filmschaffende bringt eine feste Grundlage künstlerischen oder technischen Könnens mit, auf der er seine filmische Tätigkeit nun aufbauen und festigen kann. Ob das der Darsteller, der Regisseur, Komponist, Operateur, Architekt, Beleuchter oder der Vorführer ist, sie alle brauchen ihre Kenntnisse mehr oder weniger nur auf filmgemäße Arbeit umzustellen und zu erweitern. Und doch sind für jeden von ihnen Möglichkeiten zur speziellen Weiterbildung notwendig – und auch vorhanden. Nur der Filmautor, bei dem alle Fäden vielseitigster Filmgestaltung zusammenlaufen sollen und müssen, bleibt auf seine literarischen Fähigkeiten angewiesen und nun heißt es, darstellerische und technische Mittel des Filmes restlos beherrschen! (Feldt 1937)
Zur Weiterbildung fordert Heldt für die Filmautoren mehr praktische Erfahrungen mit dem neuen Medium Film, das nach eigenen Gesetzen funktioniere:
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Vielleicht kommt er durch eine „Verbindung“ auch mal ins Atelier und sieht und hört dort manches für ihn Nützliche. Beherrscht er damit die Ausdrucksmittel des Filmes? Vor fast einem Jahr hat der Nachwuchs an dieser Stelle sehr klar präzisierte Forderungen gestellt: Gebt ihm die Möglichkeit, nennenswerte und beispielhafte Filme kostenlos (und am besten mehrmals) zu sehen. Laßt ihn an geeigneter Stelle in der Produktion volontieren, damit er die besondere Eigengesetzlichkeit und Mittel des Filmes an Ort und Stelle kennen und beherrschen lernt Laßt den Nachwuchs am Drehbuch des soviel gescholtenen Kurzfilmes mitarbeiten. (Dieser könnte damit manches wieder gut machen.) Führt den Nachwuchs, soweit er sich zu einer überwiegenden Tätigkeit auf filmischem Gebiet entschlossen hat, in einer Arbeitsgemeinschaft zusammen und laßt berufene Kräfte zu ihm sprechen. Wie gesagt, diese Forderungen sind nicht neu; sie wurden vor Jahresfrist gestellt. Was ist inzwischen geschehen? Nichts! Nur der Ruf nach begabtem Autorennachwuchs will nicht verstummen. Aber wo viel verlangt wird, muß etwas geboten werden! (Ebd.)
Fritz Genschow setzte mit seinem Konzept eines Studios für den Jugendfilm eine solche Arbeitsgemeinschaft und Arbeitsweise um und verband das Theater und den Film produktiv miteinander: Es gibt immer noch Leute – so sagt Fritz Genschow –, die Theater und Film auf ihrer künstlerischen Basis gleichsam feindlich trennen wollen – wozu? Ist das Theater nicht die Mutter des Films aus der Ehe mit dem Giganten Technik? (Schuhmacher 1936a, 1)
Der Begriff des Studios leitet sich aus dem Italienischen ab und bedeutet Arbeit, Mühe, Eifer. Es kann eine Künstlerwerkstatt oder Versuchsbühne gemeint sein oder auch ein Aufnahmeraum für audiovisuelle Medien. Als Studio sollte das Kindertheater ständig gemeinschaftlich mit dem Film praktische Schulungsarbeit in den Bereichen Regie, Darstellung und Dichtung betreiben (vgl. ebd., 2). Ein Merkmal des Studios war, dass Genschow mit einer festen Gruppe an Kinderschauspielern zusammenarbeitete, die er vermutlich vom Kindertheater in den Film mitnahm; die Rede ist von einem „kessen Stamm der iGenschow-Jungensfilme“ (Schuhmacher 1937b). Genschow nannte die Kinder nicht bei ihrem echten Namen, sondern führte Spitznamen ein, z. B. der kleine Drops, Kai Tüte, Semmel, Spitzmaus, Brille, Strammer Hund, Mungo (vgl. ebd.), weil es nicht sein Anliegen war, Star-Kult zu erzeugen (vgl. Scherer 2005, 12). Der Künstlername Drops taucht auch als Name einer der Protagonisten im Roman General Stift und seine Bande auf; es handelt sich um den jüngsten in der fiktiven Bande, dem sogar ein eigenes Kapitel gewidmet ist; 1938 trägt Genschows Großfilm Drops wird Flieger den Namen sogar im Titel. Ein weiteres Merkmal von Genschows Produktionen ist die Arbeit mit der gleichen Filmcrew, u. a. in den Filmen Sänger von der Waterkant, Die Pfennigschlacht, Die Mühle von Werbellin, Ikaruskinder und vermutlich auch in Der Kampf um den Stiefen Ast. Das waren der Kameramann Fred Fuglsang, auch genannt Mister Fu, und der Tonmeister Walter Ulfig. Renée Stobrawa war ebenfalls immer an den Dreharbeiten beteiligt: Sie übernahm den Filmschnitt oder war in der weiblichen Hauptrolle der Erwachsenen zu sehen. Die männliche
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auptrolle der Erwachsenen spielte Fritz Genschow meist selbst. Den Ansatz H seiner Filmproduktion beschreibt Genschow 1936 in Der deutsche Film wie folgt: Es gäbe für ihn nichts Schöneres als mit Kindern zu spielen. Für Filme mit Kindern suche er solche, die einen unbezähmten Lebenswillen zeigten. Bei der Film- oder Theaterarbeit wolle er auf das persönliche Empfinden der Kinder eingehen. Sein Theater solle keine Dressuranstalt, keine Theaterschule sein; die Kinder sollen nicht das Berufsziel Schauspieler mitbringen, vielmehr suche er natürliche Talente. Eine seiner Methoden, um das herauszufinden, sei der Zirkus Knorke: Hier dürfe jeder Junge mal Direktor sein und andere Kinder anleiten und präsentieren (Genschow 1936; zit. nach Hobsch 2009, 50 f.)
Von Genschows Konzept erhoffte man sich „bedeutende Anregungen – ja die Öffnung ganz neuer Stoffgebiete“ (Schuhmacher 1936a, 2) für den Jugendfilm: „Platz für den Jugendfilm! Das deutsche Märchen auf der Leinwand“ (ebd., 1). Nicht nur den Jugendfilm, sondern auch den Märchenfilm sollte Genschow so gestalten, dass er sich von Disney-Märchenfilmen abhebe. 1937 drehte Genschow mit Renée Stobrawa Rotkäppchen und der Wolf (1089 m) als den „ersten deutschen farbigen Märchen-Tonfilm“ (Lydor 1937). Bei diesem Film experimentierten sie mit dem Farbfilm auf eine Weise, dass sie ihn – noch vor dem US-amerikanische Film Wizard of Oz (1939) – sinntragend als deutlichen Kontrast zum Schwarzweißfilm einsetzen. So erläutert Genschow: Wir haben, um auch den Zuschauer allmählich an die Farben zu gewöhnen, eine moderne Rahmenhandlung geschaffen, die schwarz-weiß gedreht wurde. Vom realen, heutigen Geschehen blendet allmählich das Bild zur unwirklichen, bunten Märchenwelt über und kehrt dann wieder zurück in die rauhe, farblose Wirklichkeit. (Ebd.)
Die Märchenfilmproduktion setzt Genschow aber erst 1953 intensiv fort (vgl. weiterführend Wiedemann 2017). Von 1936 bis 1938 widmete er sich intensiv dem Jugendfilm: Er drehte Die Sänger von der Waterkant (1936), Die Mühle von Werbellin (1937, 624 m), Die Pfennigschlacht (1937, 916 m) (vgl. Zensierte Filme 1937), Die Schlacht am Stiefen Ast (1937). Der Film-Kurier kündigt bereits im Mai 1937 weitere Filmprojekte von Fritz Genschow an: Ikaruskinder, dann Filme über „Internationalen Kinderaustausch“, über „Berufserziehung“ und über die „Tierliebe der Kinder“ (vgl. Die Filmschaffenden 1937). Die Filme Drops wird Flieger (995 m) und die kürzere Version Ikaruskinder realisiert Genschow 1938. Es folgt im selben Jahr noch der Film Wilderer im Jagen 161 (1164 m). Alle Filme erhielten die geforderten Prädikate, d. h., sie passierten die Zensur der Nationalsozialisten erfolgreich. Seine Tätigkeit als Kinder- und Jugendfilmproduzent in der NS-Zeit endete aber 1938. In Genschows Nachlass ist eine Stellungnahme zu finden, in der er angibt, er habe die Produktion eines Auftragsfilms mit dem Titel Marsch der H. J. zum Führer abgelehnt (Scherer 2005, 20).
Der Stoff General Stift und seine Bande (1937) Der Stoff General Stift und seine Bande liegt als Film und Buch vor. Er unterteilt sich in einen ersten Teil Der Kampf um den Stiefen Ast und in einen zweiten Teil Die Pfennigschlacht. Der gesamte Film, der dann den Titel Der Kampf um
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den Stiefen Ast trägt, ist mit einer Länge von 1633 m Genschows längster und bekanntester Film. Er enthält beide Teile (also auch Die Pfennigschlacht) und kam im Dezember 1937 in die Kinos. Der nur kurze, halbstündige Film Die Pfennigschlacht wurde im Sommer 1936 gedreht und ging bereits im April 1937 durch die Zensur (vgl. Scherer 2005, 63). Die Buchausgabe erschien 1937 unter dem Titel General Stift und seine Bande und der Angabe: „Nach dem gleichnamigen, mit dem Prädikat volksbildend ausgezeichneten Film, mit vielen Fotos aus dem Film“. Es handelt sich folglich um ein Buch zum Film, das nach dem Film veröffentlicht worden ist. Es weicht teilweise von der Filmhandlung ab. Es richtet sich an Knaben und Mädchen ab acht Jahre. Fritz Genschow war der Autor des Buches und des Drehbuches, er führte in dem Kurz- wie Großfilm Regie und spielte gleichzeitig den erwachsenen Protagonisten im Film. In einem Telefoninterview, das Renée Stobrawa (im Interview irrtümlich „Ilse“ genannt) mit dem Film-Kurier führte (Am Telefon 1937), spricht sie von der Pfennigschlacht als Film in „zwei Fassungen, dem Groß- und dem Kurzfilm“. Auch sie hat in beiden Filmen mitgespielt, und zwar in der Rolle der Schwester Inge Beyer (vgl. Filmportal.de). Im ersten Teil des Films, der im Sommer 1937 in Berlin-Grunewald gedreht worden ist (vgl. Scherer 2005, 63), geht es um den Kampf um eine Ruine mit dem befremdlichen Namen Der Stiefe Ast. Der Tonfilm beginnt mit einem starken Musikeindruck und knüpft damit vermutlich an die musikalischen Filmkomödien an, die international boomten. Jungen im Alter von ca. acht bis zehn Jahren singen gemeinsam Berliner Lieder bzw. Volkslieder, z. B. Als unser Mops ein Möpschen war und Die Eisenbahn in Tempelhof – ähnlich dem Tempelhoflied von Alexander Flessburg. Das Insert Gehört den Rüben prankt an der alten Fabrikhalle. Aus dem Buch erfährt man, dass der Name der Ruine, Stiefer Ast, dem Kindermund des jüngsten der Bande, Drops, entsprungen sei und so viel bedeuten soll wie schiefer, verwahrloster Ast. Dieser rankt sich durch eben diese verfallene Fabrikhalle, möglicherweise als Symbol des Neubeginns. Der Film benutzt als bedeutsamen Ort der Jungen das Motiv des verlassenen Platzes, das in zahlreichen späteren Kinder- und Jugendromane und -filmen auch auftaucht und Handlungs- und Ausgestaltungsmöglichkeiten für Kinder symbolisiert: Das, was andere Generationen nicht mehr nutzen, kann für die eigene Entfaltung und den eigenen Platz im Leben wichtig werden. Die Jungen werden oft aus einer leichten Froschperspektive aufgenommen. Sie sehen dadurch größer aus und rücken als Akteure in den Vordergrund; der Zuschauer nimmt sie als bedeutsam wahr. Die Perspektive der Kinder rückt jedoch nicht durchgängig in den Fokus. Es gibt zwar einige Passagen der internen Fokalisierung, in denen der Betrachter nur das weiß, was die Jungen auch wissen und dadurch ihre Perspektive verstärkt wird. Beispielweise beobachtet ein Späher die Szenerie durch ein Fernglas; den Zuschauern ist durch diesen Effekt auch nur die Sicht auf die Szene durch die Fernglas-Perspektive des spähenden Jungen ermöglicht, was einen kurzen Moment interner Fokalisierung zulässt. Es gibt jedoch eine Mehrzahl an Szenen mit Nullfokalisierung, der dominanten Form narrativen Erzählens im Spielfilm (vgl. Kuhn 2013, 133). Die Kamera als Erzählerin beobachtet die Figuren, behält alles im Blick und weiß schon mehr als die jugendlichen Protagonisten. So z. B. wenn das Spiel der Jungen in Kampfszenen übergeht: Die Volkslieder wechseln zu Spottliedern; eine der beiden
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Abb. 3 Aufsicht auf den Kampf der Kinderbanden in Der Kampf um den Stiefen Ast
Banden greift an, die Jungen tarnen sich im Gras, Barrikaden sind aufgebaut. Es entspinnen sich Wasser- und Schlammschlachten, die in Aufsicht zu sehen sind und das ganze Bild einnehmen (Abb. 3). Die Schlachten werden durch Gejohle und Musik (u. a. Panflöte) begleitet. Die Aufsicht wird von einer Totalen abgelöst, die vor allem die Vielzahl der Jungen als Gruppe verdeutlicht. Im Film kommt bei Filmmeter 240 recht unvermittelt ein alter Panzer ins Bild gefahren. Im Buch wird diese Szene sehr ausführlich vorbereitet: Die Kinder der einen Bande wollen mit dem Panzer in einem Überraschungsangriff die Fabrikhalle der anderen Kinder einnehmen. Parallel zu dieser Filmhandlung ereignet sich in diesem ersten Teil des Films ein Motorradrennen von Erwachsenen. Rudi Meißner, gespielt von Fritz Genschow, wird in der Rolle des Motorradrennfahrers als Held etabliert. Beide Handlungsstränge verschränken sich dann: Der Panzer der Jungen rückt mit lauter Musikbegleitung in die Schlacht der Kinder. Rudi Meißner fährt rasant mit dem Motorrad los. Zwei Jungen aus der Bande, die vom Panzer angegriffen wird, rennen zu Inge Beyer, der großen Schwester eines Bandenmitglieds, und organisieren heimlich eine Wäscheleine. Eine Nachbarin belehrt die Jungen, dass sie nicht das teure Wasser verspritzen sollen. Hier erhalten wir den ersten Hinweis darauf, dass sich die Filmhandlung eher in einem Milieu abspielt, in dem Geld und Ressourcen knapp sind. Die beiden Jungen spannen die Leine über die Straße, da sie den Panzer damit stoppen wollen. Statt des Panzers kündigt sich jedoch durch lautes Motorengeräusch das Motorrad an, das direkt in die Absperrung der Jungen hineinfährt. Nach diesem bösen Unfall herrscht im Film erstmals Stille. Das Motorrad brennt aus. Dieser Vorfall, als ein treibendes Moment der Filmhandlung, hat zwei historische Bezüge: Zum Einen spielt er auf das zur damaligen Zeit bedeutsame Sujet des Motorsports an. Autobahnen, Autorennen und Motorsport waren sehr populäre Themen des Kulturfilms – der Historiker Uwe Day spricht gar von einer „automobilen Welle“, die auf das Kinopublikum zurollte (vgl. Day 2005, 266). So arbeitete Bob Stoll von der TOBIS-Kulturfilmproduktion an dem „großen Sportfilm über sämtliche internationale Autorennen 1937“ (Spannung in Sekunden
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1937), mit dem „die rasenden Rennwagen modernsten Typs […] zu rasenden Filmstars [werden], die in allen Ländern der Welt Zeugnis für deutschen Sportgeist, deutsche Einsatzbereitschaft und für die deutsche Technik abgelegen“ (ebd.). Ein Filmteam sollte dazu auch Rennen auf der damals neuen Rooseveltbahn in New York aufnehmen (G. H. 1937b, 2). In Genschows Kampf um den Stiefen Ast geht es weniger um die Technik, die ja sowieso durch Rudis Unfall versagt, als eher um das „Publikumsbegehren nach Tempo, räumlicher und mentaler Befreiung und nationaler Erbauung“, die das Kino auf der virtuellen Erlebnisebene erfüllen konnte (vgl. Day 2005, 266). Rudi steigt beruflich erst dann auf und rehabilitiert sich zum Helden, als sein Motorrad wieder repariert ist. Zum anderen gab es genau in dem Zeitraum von 1934 bis 1938 eine kriminelle Bande – die Gebrüder Götze –, die in Berlin durch Straßenraub mittels Autofallen ihr Unwesen trieb. Im Grunewald, wo Fritz Genschow wohnte (Königsallee 35, Berlin-Grunewald) und den Film im Sommer 1937 drehte, fanden sie ihre ersten Opfer; es meldeten sich fast täglich Geschädigte. Die Gebrüder Götze bauten Barrieren für motorisierte Fahrzeuge, vor allem indem sie Schnüre und Kabel über Straßen spannten und so ihre Opfer teilweise köpften. Goebbels untersagte den Medien die dazugehörige Berichterstattung, um den Ruf Berlins nicht vor der Austragung der Olympischen Spiele zu schädigen. Die Gebrüder Götze wurden schließlich wegen Raub in 157 Fällen angeklagt, hatten 16 Fälle schwerer Körperverletzung und zwei Morde zu verantworten. Ihre Taten waren der Anlass für das Reichsautofallengesetz vom 22. Juni 1938, das rückwirkend zur Verhängung der Todesstrafe für die Götze-Brüder führte und u. a. von Roland Freisler durchgesetzt wurde.6 Das Gesetz missachtete den rechtstaatlichen Grundsatz, dass Strafgesetze nicht rückwirkend sein dürfen, und ging als Lex Götze in die Kriminalgeschichte ein. Dieses nationalsozialistische Strafgesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen gilt mit einigen Änderungen auch heute: Nach dem StGB droht für einen „räuberischer Angriff auf Kraftfahrer“ eine Mindeststrafe von fünf Jahren. Für Genschow und das Filmpublikum waren diese Kriminalfälle vermutlich sehr präsent. Die Verarbeitung dieser Vorfälle im Film hat zu dem von Goebbels geforderten Alltagsbezug deutscher (Kultur-)Filme und dem L okalkolorit des Jugendfilms beigetragen. Die im Film inszenierten Reaktionen auf den Motorrad-Vorfall sind unterschiedlich: Die Schwester Inge Beyer straft die Jungen zwar, indem sie einem von ihnen eine Ohrfeige gibt, sie mit „Ihr Faulpelze“ beschimpft und ihnen durch Schuldzuweisung ein schlechtes Gewissen macht: „Ihr habt eine Lebensstellung vernichtet“. Sie weiß bereits, dass Rudi vor einer Probefahrt als Kurier bei einem Unternehmen stand. Nun ist das Fahrzeug ausgebrannt und die Chance auf die unbefristete Stellung verwirkt. Fritz Genschow, der die Rolle des Rudi Meißners ja selbst spielt, inszeniert sich als Kinderfreund und Pädagoge. Er krault dem Anführer General Stift den Kopf. „Wir haben alle Pech gehabt – ich hätte vorsichtiger fahren sollen“ ist sein Kommentar zum
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Hinweis verdanke ich dem Juristen Tom Braegelmann.
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Abb. 4 Wachen in Der Kampf um den Stiefen Ast (aus Genschow 1937, 48)
Unfall. Der erwachsene Zuschauer ahnt, dass Rudi Glück im Unglück hatte: Inge Beyer und Rudi Meißner scheinen sich zu verlieben; die Mis-en-scène zum Abschluss des Films erzeugt schließlich das Bild einer harmonischen Großfamilie. Bei den Jungen bewirkt der Unfall ein Umdenken: Statt sich als Banden zu bekämpfen, wollen sie nun mit vereinten Kräften helfen und Geld für die komplette Reparatur des Motorrads aus eigener Kraft, d. h. durch Hilfsarbeiten, beschaffen. Die Schlacht um die Fabrikruine Stiefer Ast verwandelt sich zur sogenannten Pfennigschlacht. Damit beginnt der zweite Teil des Films und des Romans. Als die Kinder die Idee für die Pfennigschlacht entwickeln, wird der Zuschauer bewusst außen vor gehalten – er „wartet“ mit den zwei Wachen vor der Fabrikhalle, bis die Idee publik wird (Abb. 4). Hier lösen sich die Nullfokalisierung und die interne Fokalisierung kurz zugunsten eines externen Fokus auf. Das unterstützt die Wirkung, dass die Jungen sich die Pfennigschlacht selbst ausgedacht haben. Es kommt quasi ganz ursprünglich von ihnen, ohne Einfluss von außen. Anstatt dass die Jungen also ein Gebiet in wilder Schlacht (um den Stiefen Ast) erobern, denken sie über effektive Organisationsstrukturen (die Pfennigschlacht) für wirtschaftlichen Erfolg nach. Trotz des kompletten Verfalls (Stiefer Ast) und der Zerstörung (Motorrad) wird der Neuanfang gewagt. Will man die Film- und Romanhandlung politisch interpretieren, dann drängen sich folgende Parallelen auf: Nachdem Deutschland vermeintlich durch den Versailler Vertrag Verluste hinnehmen musste, wird mit dem Nationalsozialismus ein systematisch organisierter Neuanfang suggeriert. Als Ideale gelten – im Film wie in der damaligen Gesellschaft – der Zusammenhalt der Jungengruppe, innovative Ideen zur Erwirtschaftung von Geld und präzise Zusammenarbeit. Eine Szene auf Filmmeter 248 zeigt den Gemeinschaftsdruck deutlich: Alle Jungen grölen zustimmend, als General Stift fragt: „Wer macht mit?“ Der einzige Junge, der Kritik äußert, ist Knieß. Er wird in der Buchausgabe aus der Jungengruppe ausgeschlossen und erst viel später von dem Jungen namens General Stift wieder aufgenommen.
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Der General glänzt durch sein Organisationsgeschick: Filmisch realisiert sich die Pfennigschlacht in einer seriellen Anordnung von Hilfsarbeiten. 22 kurze Szenen zeigen auf jeweils ca. sechs Metern Film die Ideen der Jungen, schnelles Geld zu verdienen: Beim Postamt auf Fahrräder aufpassen (Meter 271–277), Wasser pumpen (Meter 277–283), Hund ausführen (Meter 283–290), Tasche tragen, einkaufen, Hilfe bei der Stadtbesichtigung („Hallo Herr Ausländer, How do you do?“), Regenwürmer zum Angeln sammeln, Roller reparieren, Besichtigungstour durch den Stiefen Ast führen, Kuhfladen in Dünger verwandeln, auf Habseligkeiten am Strand aufpassen, Sonnenschirm verleihen, Zeitungen verkaufen, Sticker tauschen, Würstchen ausrufen, für andere in der Theaterschlange stehen, Rattenjagd, Schriftenmalerei, Werbung für das Union-Theater ausrufen, Sportstunden geben, Volkslieder vorsingen (Am Brunnen vor dem Tore) und schließlich Brennholz für Kartoffelschalen tauschen. Als das Geld nicht reicht, binden die Jungen einige Mädchen in die Pfennigschlacht ein. Die Mädchen erfahren im Film jedoch keinerlei Hintergrundinformationen, d. h., sie werden mit viel Engagement gezeigt, ohne zu wissen, wofür sie überhaupt arbeiten. Ihre Aufgaben wirken eher stereotyp: Beeren pflücken, Tassen abwaschen, Babysitting, Strümpfe stopfen, Blumen verkaufen. Während die Jungen bei ihrer Arbeit auch sprechen, sind die Passagen der Mädchen ohne Worte, stumm, lediglich mit Musik unterlegt. Am Ende des Films kann Rudi Meißner schließlich mit seinem reparierten, von den Jungen bezahlten Motorrad die Probefahrt absolvieren. In der Menge sind nur die Jungen zu sehen, die ihm die Daumen drücken. Die Mädchen – außer Inge Beyer – spielen keine Rolle mehr. Die Szenen der Pfennigschlacht knüpfen eng an den Berliner Alltag an. Als offizieller Drehort ist Berlin-Köpenick angegeben (vgl. Scherer 2005, 63). Tatsächlich sind weitere Orte zu sehen. An manchen lässt sich die Kamera Zeit, um dem Zuschauer eine Sehenswürdigkeit ausgiebiger zu zeigen: am Strandbad Müggelsee, an der Oberbaumbrücke, am Olympiastadion, und an einem Theater (nicht näher identifizierbar), wo die Jungen für andere Personen in der Schlange anstehen. Hier fängt die Kamera in der Umgebung Hakenkreuzfahnen ein. Der Film scheint zeitgenössisches Berliner Leben zeigen zu wollen; die Nähe zum Kulturfilm ist deutlich. Die Pfennigschlacht ging bereits im April 1937 durch die Zensur. Der Film hatte ohne die vor- und nachbereitende Spielfilmnarration auch alleine Bestand und erschien, vermutlich als Kulturfilm, ab Januar 1938 als Beiprogramm zu Petermann ist dagegen (Regie: Wisbar 1938) (ebd.). Beide Filmteile unterscheiden sich in ihrer Zielgruppe: Während der Kampf um den Stiefen Ast das Jungenspiel thematisiert, verhandelt Die Pfennigschlacht eher den Berliner Alltag der Erwachsenen. Auch die Liebesgeschichte, die sich zwischen Rudi und Inge entfaltet, adressiert ein erwachsenes Publikum – der Film scheint nach heutigen Maßstäben ein mehrfachadressierender Familienfilm gewesen zu sein. Die Buchausgabe, die nach dem Film erscheint, deckt sich weitgehend mit der Filmhandlung des Gesamtfilms. Die bereits für den Film skizzierten Themenschwerpunkte werden in den insgesamt 30 Kapiteln intensiviert: Wie auch der Film, so ist der Roman durch Nullfokalisierung geprägt: Der Erzähler, der
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alles im Blick hat, vorausdenkt und teilweise altklug und politisch fragwürdig kommentiert, weiß mehr als die Figuren und konkretisiert auch den regionalen Bezug. So sind neben den im Film gewählten Berliner Orten auch explizit der Alexanderplatz (Genschow 1937, 62) und der Molkenplatz (ebd., 105) im Text als Ortsangaben benannt. Weiterhin trägt der Berliner Dialekt zum Lokalkolorit bei, z. B. „Ei wei wie“ (ebd., 13), „Aus dem ff“ (ebd., 13), „Kieke“ (ebd., 20). Die Sprache wirkt aus heutiger Sicht an der Stelle befremdlich, an der das gegenseitige Beschmutzen der Jungen in der Schlammschlacht mit „zu Negern machen“ (ebd., 26) bezeichnet wird. Die Darstellung der Mädchen hebt der Autor Genschow deutlich von der der Jungen ab, indem er die Trennung der Geschlechter durch Strichlinien im Fließtext markiert. Der Erzähler wiederum bezeichnet die Mädchen als „Gummipuppen“ mit „langhaarigem Verstand“ (ebd., 99) und kommentiert: „Das schönste für ein Mädel ist, helfen zu können“ (ebd., 103). Während im Film Rudi Meißner Reflexionen über Ehre und Männlichkeit in den Mund gelegt sind, übernimmt im Buch der Erzähler diese Anmerkungen zur Männlichkeit (ebd., 75), auch erfahren wir von ihm als Weisheiten über das Jungenspiel verpackte politische Äußerungen, die den damaligen Leser abzuholen scheinen: „Was nützt es, etwas aufzubauen, wenn das durch Feinde bedroht ist“ (ebd., 15). Der Roman vergleicht die Aktivitäten der Jugendbande mit einem „Ameisenhaufen“ und huldigt dem „Staatsrad“ (ebd., 61); die Jungen seien „kleine Rädchen im großen Getriebe“ (ebd., 61), davon ausgeschlossene Menschen seien dagegen „schädlich“ (ebd., 62). Die Kriegsthematik zeigt sich im Buch noch deutlicher als im Film: Der Erzähler vergleicht den Bandenkampf der Jungen mit der Schlacht bei Waterloo (ebd., 96), bezeichnet den Panzer als trojanisches Pferd (ebd., 29); insgesamt sind die Übergänge zwischen dem Spielen und der Kriegshandlung fließend: „Zum Kriegführen gehört Material, besonders im Zeitalter der Technik“ (ebd., 23). Der Führerkult ist unübersehbar in folgende Äußerungen angelegt: „Es ist nicht schwer, alles nachzurufen, was der Redner spricht“ (ebd., 16); „Sie fragen nicht lange, ob es gut ist, was der General sagt (ebd., 22)“. Der Autor greift auch bei der Darstellung des Kampfes auf die oben genannten Strichlinien zurück, um Handlungen wie im Film zu montieren: So werden die Fronten durch Strichlinien markiert (ebd., 12 f.) und Parallelhandlungen durch Strichlinien abgegrenzt (ebd., 50). Man könnte sagen, der Autor erzählt hier im Roman mit filmischen Elementen. Auch ist die Nullfokalisierung, die eher typisch für den narrativen Spielfilm ist, in beiden Medien, Film und Buch, dominant. Zeitgenössische Bezüge finden sich in intertextuellen Anspielungen: So knüpft der Autor an das beliebte, aus dem Film bekannte dänische Komikerduo Pat und Patachon an (ebd., 87), erwähnt Robinson Crusoe (ebd., 24) und zieht berühmte Persönlichkeiten aus Sport, Theater und Film als Vergleich heran: „Max Schmeling würde auch nicht gegen Heinz Rühmann boxen“ (ebd., 21). Im Vergleich zum Film entfaltet sich die Handlung im Buch sehr viel nachvollziehbarer und wirkt kohärent und auf damalige Heranwachsende vermutlich durchaus spannend. Der Film dagegen wirkt vor allem anfangs bei der Darstellung der Bandenkämpfe eher zusammenhanglos. Ohne vorherige Lektüre
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des Buches sind die ersten Filmpassagen kaum verständlich. Es entsteht der Eindruck, Genschow wollte als Filmemacher eher das freie Spiel der Jungen einfangen als strukturiert erzählen. Am Schluss des Buches findet der Leser jedoch eine überraschende Wendung: Statt wie der Film mit dem harmonischen Bild von Rudi, Inge und der Kinderschar zu enden, lässt der Erzähler im Buch seine Kinderbande unter der Führung von General Stift die sogenannte Heimat aufbauen: „Wir haben Arbeit genug. Meldet Euch bald. Wir können jeden gebrauchen“ (Genschow 1937, 144). Das Ende des Buches stützt somit die oben genannte These, die Filmhandlung zeige ein verharmlosendes Bild der politischen Situation Deutschlands in den 1930er-Jahren.
Zeitgenössische Rezeption von Genschows Werk Genschows Film Der Kampf um den Stiefen Ast ging Anfang November 1937 in die für die damalige Zeit übliche Zensur (G. H. 1937a). Bereits wenige Tage später, am 09. November 1937, verkündet der Film-Kurier (vgl. Ganz kurz 1937) die erfolgreiche Prädikatvergabe, allerdings wurde der Filmtitel fehlerhaft geschrieben. Die Zeitung wiederholte daher diese Nachricht am 11.11.1937, wobei der Titel des Films korrekt geschrieben wurde. Das dem Film vergebene Prädikat volksbildend war (neben den Prädikaten künstlerisch und Lehrfilm) bereits in der Weimarer Republik gängig, als sich Regisseure auf Antrag um ein solches Prädikat bemühten, um den Film von der Vergnügungssteuer ganz (Prädikat künstlerisch) oder teilweise (Prädikat volksbildend) befreien zu lassen, was versprach, dass die Kinos eher bereit waren, diese Filme in ihr Programm aufzunehmen. Mit dem Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934 erfolgte die Vergabe der Prädikate nicht auf freiwilliger Basis, sondern war Teil des ohnehin stattfindenden Zensurverfahrens. Die Filmprüfstelle als Zensurbehörde übernahm die Prädikatisierung. Das Prädikat volksbildend bedeutete zu dieser Zeit, dass die Filme „in einwandfreier Weise“ das Wissen der Zuschauer zu bereichern versprachen. Von einer besonderen nationalsozialistischen Färbung zeugt dieses Prädikat nicht. Der Film kam 1937 als Tobis-Kulturfilm-Produktion bei der Degeto in den Verleih und wurde als Kulturfilm rezipiert. Wann der Film Premiere hatte, geht aus den Ankündigungen des Film-Kuriers nicht hervor. Er wurde am ersten Weihnachtsfeiertag in der Nachmittagsvorstellung des Regina-Kinos Spandau gezeigt (vgl. Was spielt Berlin? 1937). Zeitgenössische Rezensionen im Film-Kurier heben an Genschows Kindertheater und an seinen Jugendfilmen durchgehend positiv hervor, dass seine Themenwahl eng an die Lebenswelt der Jugendlichen anschloss und er ein besonderes Geschick im Umgang mit den Kinderschauspielern hatte. Genschow und Stobrawa wussten Kinder zu führen und in das Kinderspiel „erzieherisch-ethisches Gewicht“ zu legen (Schuhmacher 1936c sowie Schuhmacher 1937c zu Die Mühle von Werbellin; Schuhmacher 1937d zu: Ikaruskinder). Diese Charakterisierung kann als Markenkern der Produktionen von Genschow und Stobrawa bezeichnet werden. Es durchzieht die Theater- wie Filmproduktionen.
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Filmästhetische Aspekte wurden in keiner Rezension des Film-Kuriers explizit genannt. Allerdings wurde stets hervorgehoben, dass die Kamera gut mitspiele. Dies ist bereits eine wertende Aussage, denn filmtechnisch war es schwierig, Alltag einzufangen: Die Kameras waren schwer und brauchten ein Stativ; das Filmmaterial war wenig lichtempfindlich, sodass nur an Sonnentagen gedreht werden konnte (Zimmermann/Hoffmann 2005b, 28). Dass Kinder bzw. Jugendliche in Genschows Der Kampf um den Stiefen Ast quasi wie in einem Dokumentarfilm natürlich vor der Kamera agierten, kann daher auch als besonderes filmästhetisches Merkmal betrachtet werden. Vermutlich half es den Kindern auch, dass sie in einer festen Schauspielgruppe und Filmcrew arbeiteten. 1938 beurteilt Dr. Eckhardt von der Degeto Genschows Jugendfilme in einem ausführlichen Beitrag im Film-Kurier als solche, die tatsächlich die Jugend berührten (Eckardt 1938). Der Ansatz, dass Kinder für Kinder spielten und Genschows Filme der Vorstellungswelt von Kindern entsprächen, wird jedoch nicht etwa in Hinblick auf die Kreativitätsförderung oder Persönlichkeitsentwicklung betrachtet, sondern politisch instrumentalisiert: Derartige Jugendfilme können so manche staatspolitische Erziehungsaufgabe der Jugend nahebringen, die ihr auf keine andere Weise so unmittelbar lebendig zum Erlebnis werden würde. Daher ist auch die deutsche Jugendführung am Ausbau dieser neuen Sparte deutschen Filmschaffens lebhaft interessiert. (Ebd.)
Der Bannführer Alfred Schütze, Leiter der Hauptstelle Jugendfilm in der Reichspropagandaleitung der NSDAP, wertete die Filme Genschows in seinem Beitrag über die Rolle der Hitlerjugend (HJ.) vier Tage später dagegen ab: Ohne der freien künstlerischen Initiative im geringsten entgegentreten zu wollen, müssen wir feststellen, daß es die Jungen, die uns beispielsweise im „Kampf um den Stiefen Ast“ entgegentreten, heute in Deutschland nicht mehr gibt. Die Jungen, die sich austoben wollen, haben in den Zeltlagern der HJ. und auf den Fahrten bessere Möglichkeiten, als sich im Straßenschlamm zu sielen und nach dem Muster des bekannten amerikanischen Jugendfilms „No more glory“ Straßenschlachten zu organisieren. Wir sind auch der Meinung, daß Jugendfilme aus der Jugend heraus wachsen müssen und nicht vom grünen Tisch aus gestaltet werden sollen. Gerade darum dürfen wir uns wohl die Frage erlauben, ob man glaubt, daß z. B. der Film „Drops wird Flieger-General“ von den vielen tausend Hitlerjungen richtig verstanden wird, die in den Fliegerscharen der HJ. unter dem Einsatz ihrer Jugend der deutschen Fliegerei dienen? Für diese Art von Jugendfilmen mag der Hinweis genügen, daß die HJ. den gezeigten guten Willen anerkennt, ohne aber mit diesen Filmen einverstanden zu sein. (Schütze 1938, 2)
Schütze ging es um die inhaltliche Mitbestimmung der Hitlerjugend. Er hob in seinem Beitrag zwar die besondere Bedeutung des Medium Films für die HJ. hervor: „Die deutsche Jugend hat sich durch die HJ zum Filmschaffen als zu einer der schönsten und stärksten Ausdrucksform gegenwärtigen Kunstschaffens bekannt“ (ebd., 1). Als Bannführer insistiert er jedoch auf den Einfluss der HJ: Es mag daher an dieser Stelle nachdrücklichst betont werden, daß die Marschrichtung, die der Jugendfilm nimmt, ausschließlich von der HJ. bestimmt wird, denn 90 Prozent der Jungen und Mädel, für die diese Filme gedreht werden, marschieren heute in den Reihen der HJ. (Ebd., 1)
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Der nationalsozialistische Propagandafilm diente Schütze als Maßstab für den Jugendfilm; ihm zufolge kenne die HJ „nach der Machtübernahme nur einen einzigen Jugendfilm: den Hitlerjungen Quex“ (ebd.). Ein weiteres „Musterbeispiel eines Jugendfilms“ war Schütze zufolge der dokumentarische Schmalfilm Feindliche Ufer (1938, Länge: 715 m, vgl. Bundesarchiv), der im Zeltlager des Bremer Jungvolks „aus den Formationen der HJ. heraus“ entstanden war. Dieser Film sei „neu und eigenartig“: Er stelle das Zeltlager, also einen „Stoff, der zur Vorlage für hundert ähnliche Schmalfilme wurde“; so „ganz aus dem Empfinden der Jugend“ dar (Schütze 1938, 2).
Fazit Scherer wirft mit Blick auf Genschow die Frage auf, warum sich progressive Tendenzen in der Kinderkultur, die es damals in Ansätzen und auch in der Zeit vor 1933 längst gab, nicht durchsetzen konnten (Scherer 2005, 7). Für sie ist Genschow ein „Besessener, der von einer großen Improvisationsgabe zehrt, ein Macher und ein Unermüdlicher“, der „großes pädagogisches Sendungsbewusstsein“ hatte (ebd.). Gleichzeitig kritisiert sie: Bei der Beobachtung der Figuren auf der Bühne oder im Film sollen die Kinder die vorgeführten Normen und Wertvorstellungen übernehmen. Sie wenden sich nicht gegen die Erwachsenen, greifen ihre Autorität nicht an, sondern füllen den Raum, den die Erwachsenen für die Kinder abstecken. (Ebd., 41)
Schneider verwies schon 1982 darauf, dass der ästhetische Raum, den Genschow in seinen Jugendfilmen schuf, durchaus „den ideologischen Anforderungen in ihrem Hitler-Realismus“ genügte (vgl. Schneider 1982, 22). Brill (2011) zählt Genschows Buch General Stift und seine Bande gar zu den Lesebüchern mit ideologisch geprägtem Stoff und einer abenteuerlich anmutenden Geschichte, die im Nationalsozialismus der Erziehung zur Wehrwilligkeit für sogenannte Hilfsschüler, also Schüler mit Förderbedarf, gedient hätten. Die obigen Analysen zeigen, dass Genschow in den für diesen Beitrag ausgewählten Werken auf inhaltlicher Ebene den Anforderungen des Kulturfilms nach Goebbels entsprach. Die mit den Filmen korrespondierenden schriftlichen Werke – das Theaterstück Kinderraub in Sevilla und der Roman General Stift und seine Bande – sind dabei ebenfalls dem nationalsozialistischen Denken verpflichtet. Die oben genannte Kritik von Scherer bestätigt sich durch die hier vorgelegten Analysen: Die Erzählweisen im Medienverbund zu General Stift und seine Bande zeigen deutlich, dass kaum aus einer genuin kindlichen Perspektiven erzählt wird. Trotzdem wird Genschows Arbeit aus Sicht der Nationalsozialisten als „freie künstlerische Initiative“ (Schütze 1938, 2) betrachtet und daher abgelehnt. Im Rahmen der „Filmarbeit“ (ebd.) der Hitlerjugend wurden Filme wie Feindliche Ufer von den „Formationen der Hitlerjugend“ (ebd.) mit Schmalfilm-Kameras gedreht – vermutlich sogar mit den leichtgängigen 8 mm-Amateurkameras wie
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der Agfa Berlin: Movex 8, die 1937 auf den Markt kamen; es kann aber nicht angenommen werden, dass die Heranwachsenden dabei inhaltliche und ästhetische Gestaltungsfreiheit hatten. Genschow sowie seine Partnerin und Kollegin Renée Stobrawa können in der Hinsicht als Pioniere bezeichnet werden, als sie mit dem Studio des Jugendfilms eine innovative Arbeitsweise geschaffen haben und in den 1930er-Jahren mit ihrem Werk einen Medienverbund schufen, der durch Konvergenz zu charakterisieren ist: Das freie Kinderspiel, das im Kurzfilm Mit dem Kindertheater durch Deutschland (1934) in den Anfangsszenen dokumentiert ist und das ein Merkmal des Kindertheaters Genschow-Stobrawa war, wird zum Ausgangspunkt des Studios des Jugendfilms und ist auch in Filmszenen in Der Kampf um den Stiefen Ast (1937) zu sehen; Inhalte des Kindertheaters, die bereits als Printprodukte vorlagen, finden sich in Kurzfilmen (Kai aus der Kiste 1932, Mit dem Kindertheater durch Deutschland 1934) wieder; sogenannte Groß-Filme orientierten sich an Märchenstoffen (Märchenfilme seit 1935) und der Stoff um General Stift und seine Bande wird zeitgleich als Kurz-Film (Die Pfennigschlacht 1936/1937), Groß-Film Der Kampf um den Stiefen Ast 1937) und Kinderroman mit Filmbildern (General Stift und seine Bande 1937) verarbeitet. Als sogenannte Kulturfilme greifen Mit dem Kindertheater durch Deutschland und Der Kampf um den Stiefen Ast zudem explizit regionale Bezüge auf (z. B. Sehenswürdigkeiten, Berliner Alltagsleben, Kriminalfall Goetze), mit denen die Storyworld erweitert wird. Mit dem Phänomen Drops schaffen Genschow und Stobrawa eine Art Transfiktion: Der Künstlername Drops eines der Kinderschauspieler, der in Mit dem Kindertheater durch Deutschland als vermeintlich neuer Schauspieler in die Kindertheatergruppe eingeführt wird, taucht in den Credits des Films Der Kampf um den Stiefen Ast auf und wird zur fiktiven Figur im Kinderroman General Stift und seine Bande sowie zur titelgebenden Hauptfigur von Genschows Kurz-Film Drops wird Flieger (1937/1938). Die Medieninhalte, z. B. das Motiv der Kinderbande, migrierten bei Genschow und Stobrawa vom Theater zum Film bzw. vom Film zum Buch. Sie schafften mediale Netzwerke, die durch den oben skizzierten Markenkern Genschow und Stobrawa, der in den zeitgenössischen Rezensionen immer wieder aufgerufen worden ist, zusammengehalten wurden. Neben fiktionalen Entitäten und narrativen Bindeglieden sorgt im Frühwerk Genschow/Stobrawa vor allem ein pädagogisches Konzept (Theaterproben, Studio des Jugendfilms) für einen hohen Wiedererkennungswert.
Literatur Primärliteratur Genschow, Fritz: General Stift und seine Bande. Berlin: Schneider, 1937.
Vom Kindertheater zum Film
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Filmografie Feindliche Ufer [Kurzfilm] (Bremen 1938), https://www.bundesarchiv.de (20.02.2020). Der Kampf um den Stiefen Ast [Spielfilm] (D 1936/37). Regie: Fritz Genschow, Tobis-Melofilm GmbH Berlin. Die Pfennigschlacht [Kurz-Spielfilm] (D 1937). Regie: Fritz Genschow, Tobis-Melofilm GmbH Berlin. Mit dem Kindertheater durch Deutschland [Kurzfilm] (D 1934). Regie: Fritz Genschow, Agfa Film.
Theatrografie Genschow, Fritz/König, Karl: Abenteuer deutscher Jungens im Ausland (Kinderraub in Sevilla). Stück für die Jugend. Romantisches Schauspiel in vier Akten. Berlin: Selbstverlag, 1934 (79 Seiten mit Beiblatt Mit dem VDA durch Deutschland).
Sekundärliteratur vor 1945 Am Telefon: Ilse Stobrawa im Wintergarten. In: Film-Kurier 19 (1937) 122 vom 29.05., 2. Günther, Walther: Kulturfilm und Jugend. In: Beyfuss, Edgar/Kossowsky, Arthur (Hg.): Das Kulturfilmbuch. Berlin 1924, 42–59. Bühnen-Notizen. In: Film-Kurier 18 (1936) 255 vom 30.10., 2. Degeto startet mit 17 Filmen. In: Film-Kurier 19 (1937) 235 vom 09.10., Beibl. 1. Eckardt, Dr.: Filme für die Jugend. In: Film-Kurier 20 (1938) 35 vom 11.02., 1–2. Die Filmschaffenden. In: Film-Kurier 19 (1937) 106 vom 10.05., 2. Feldt, Hans: Fördern? Fördern! In: Film-Kurier 19 (1937) 78 vom 05.04., 3. G. H.: Berliner Zahlen für September. In: Film-Kurier 19 (1937a) 255 vom 02.11., 1. G. H.: Filmkameras auf der Avus. In: Film-Kurier 19 (1937b) 122 vom 29.05., 1–2. Ganz kurz. In: Film-Kurier 19 (1937) 261 vom 09.11., 2 Jugend und Film gehören zusammen. In: Film-Kurier 23 (1941) 54 vom 05.03., 2. Kai aus der Kiste. In: Kinematograph 26 (1932) 39 vom 25.02., 3. Lydor, Waldemar: Rotkäppchen bunt in schwarz-weißem Rahmen. In: Film-Kurier 19 (1937) 280 vom 02.12., 2. Schmitt, Walter: Das Filmwesen und seine Wechselbeziehungen zur Gesellschaft. Versuch einer Soziologie des Filmwesens. Freudenstadt 1932. Schütze, Alfred: HJ. bestimmt Marschrichtung des Jugendfilms. In: Film-Kurier 20 (1938) 39 vom 16.02., 1–2. Schuhmacher, Hans: Platz für den Jugendfilm! Das deutsche Märchen auf der Leinwand. In: Film-Kurier 18 (1936a) 51 vom 29.02., 1–2. Schuhmacher, Hans: Theater am Nollendorfplatz (Volksbühne). „Rumpelstilzchen“. In: FilmKurier 18 (1936b) 287 vom 08.12.1936, 2. Schuhmacher, Hans: Alt-Berliner Posse im Schiller-Theater. „Ehrliche Arbeit“. In: Film-Kurier 19 (1937a) 78 vom 05.04., 3. Schuhmacher, Hans: Ikaruskinder am Teufelssee. Genschow dreht Jungens-Film im Grunewald. In: Film-Kurier 19 (1937b) 131 vom 09.06., 3. Schuhmacher, Hans: Neue Tobis-Kulturfilme. In: Film-Kurier 19 (1937c) 82 vom 09.04., 4. Schuhmacher, Hans: Ikaruskinder am Teufelssee. Genschow dreht Jungens-Film im Grunewald. In: Film-Kurier 19 (1937d) 131 vom 09.06., 3.
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Micky Maus Eine (ur-)amerikanische Figur im Deutschland der 1930er-Jahre Johannes Krause
Abstract Shortly after Mickey Mouse’s „birth“ in 1928 Walt Disney started to export the cartoons all over the world and in this way also to the Weimar Republic. The movies attained and inspired the German audience in no time. At least when German companies took in Mickey Mouse for marketing and merchandising, it transformed from a character into a brandmark, which gathered a tremendous media network around itself in Germany. In the context of this development, there was an extensive reception of Disney’s movies and characters, which was expanded by productive approaches to this subject. Most strikingly, contemporary print media frequently mixed up admiration for Mickey Mouse’s movies with references to Mickey as a ‚typical American‘ character, which is sometimes in opposition to German movie comprehension. The present paper focusses on this aspect and how it influenced the reception of Walt Disneys work and productive approaches to it.
Einleitung und Vorüberlegungen Disney als einen der, wenn nicht gar den größten Player der Unterhaltungsbranche unserer Zeit zu bezeichnen, dürfte wohl kaum übertrieben sein. Spätestens mit dem Erwerb der 21st Century Fox sowie der Rechte am Star Wars-Universum mit seinen Bestandteilen aus dem Film-, Buch- und Merchandisingbereich wurde ein zwischenzeitlicher Höhepunkt der Marktmacht von Disney erreicht. Der
J. Krause (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_7
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Grundstein für die Omnipräsenz wurde in der Frühzeit des Disney-Unternehmens durch die Umtriebigkeit seines Gründers gelegt, denn schon früh erkannte Walter Elias Disney das Potenzial einer medienübergreifenden Vermarktung seiner Stoffe. Die klassischen Disneyfiguren der 1920er-/1930er-Jahre gründeten jede für sich eigene kleine Vermarktungs-Imperien, die die Bekanntheit der Figuren zum einen stetig steigerten und zum anderen im Gegenzug von dieser profitieren konnten. Mit dem wachsenden Erfolg des Unternehmens stieg auch die Anzahl an Figuren und Stoffen, um die sich ein unendliches Sammelsurium an Umsetzungen in verschiedensten Medien und auch Vermarktungsstrategien bildete. Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre griff die Disney-Begeisterung mit der Etablierung der Micky Maus vom amerikanischen Kontinent auf Europa über und wurde von der deutschen Bevölkerung begierig rezipiert. Die Maus wurde als Markenzeichen des Konzerns auch in Deutschland wahrgenommen und gefeiert. Die Begeisterung führte dazu, dass sich hier ein eigener Medienverbund um die kleine Maus und ihre Freunde entwickeln konnte. Daneben bediente sich Disney gerade in der Anfangszeit gerne der deutschen Märchen, um sie dann für seine Trickfilme nutzbar zu machen. Sowohl im Bereich der Kurzfilme als auch in seinen Langfilmen – z. B. Snow White and the seven Dwarfs (1937) – waren es besonders die Märchen der Brüder Grimm, die dem noch recht jungen Studio einen Fundus an Geschichten boten, um neues Filmmaterial zu erschließen und umzusetzen. Es lässt sich also schon bei oberflächlicher Betrachtung feststellen, dass die Werke Disneys in Deutschland einen mächtigen Eindruck machten und die deutsche Kultur ihrerseits im Gegenzug deutlich sichtbare Spuren im Disney-Konglomerat hinterließ. Diesen Spuren soll ein Stück gefolgt und die Rezeption von Disneys Werken in Deutschland vor 1945 näher betrachtet werden. Dazu werden die im Rahmen des DFG-Projekts Kinder und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 an der Universität Bielefeld digitalisierten zeitgenössischen Filmzeitschriften gesichtet. Ergänzt wird dieses Material durch diverse Comicstrips, Merchandisingkataloge und Quellen aus dieser Zeit. Es werden sowohl schriftliche Zeugnisse aus der (Fach-)Presse der damaligen Zeit als auch unterschiedliche Umsetzungen der Micky Maus für den deutschen Markt mit in die Untersuchung einbezogen und ausgewertet. Besonders gewinnbringend kann dafür auf einen Begleitband zu einer Ausstellung des Filmmuseums Potsdam (Storm/Dreßler 1991) zurückgegriffen werden, der die Rezeption Mickys und anderer Figuren in unzähligen medialen Formen zusammenfasst. Auffällig ist schon beim bloßen Überfliegen des Materials, dass viele der untersuchten Filmzeitschriften dieser Zeit – zunächst häufig in Nebensätzen – die Sehnsucht nach einer ähnlich erfolgreichen deutschen Trickfilmproduktion wie die der Disney-Studios erkennen lassen. Dabei ist immer wieder von typisch amerikanischen Eigenschaften oder einer „amerikanischen Formung“ (Frühling an der Donau 1935, Abb. 1) bestimmter Stoffe die Rede. Deshalb soll die Frage im Mittelpunkt stehen, worin dieses in der deutschen Medienlandschaft der 1930er-Jahre häufig benannte Amerikanische der Disney-Figuren besteht und wie es in der deutschen Fachpresse wahrgenommen und genutzt wurde. Im Einklang mit der Medienverbundforschung
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Abb. 1 Frühling an der Donau (1931), aus: Film-Kurier 17 (1931) 125, 2
beschäftigt sich der Beitrag sowohl auf der Rezeptions- als auch auf der Produktionsebene mit dieser Fragestellung, um ein möglichst breitgefächertes Bild zu geben. Deshalb werden neben der Darstellung der Rezeption der Disney- und vor allem Micky-Maus-Filme in den gesichteten Filmzeitschriften zwischen 1930 und 1942 auch zwei konträre Beispiele für produktive Auseinandersetzungen mit der Filmfigur der Micky Maus untersucht. Als Beispiele werden Darstellungsformen der Micky Maus zu Unterhaltungs- sowie (Gegen-)Propagandazwecken während des nationalsozialistischen Regimes herangezogen. Bevor auf die Produktions- und Rezeptionsebene des Medienverbundes der Micky Maus eingegangen wird, soll zunächst einmal exemplifiziert werden, was in den folgenden Ausführungen unter dem Medienverbund verstanden und subsumiert wird. Der Medienverbund wird entsprechend der allgemeinen Auffassung zunächst als Phänomen betrachtet, bei dem „ein und derselbe Inhalt in unterschiedlichen Medien auftaucht, wobei jedes Medium seine spezifische Funktion behält“ und eine ökonomische Ausrichtung hat, die auf eine „möglichst lange Vermarktungskette“ abzielt, (Möbius 2014, 224; vgl. auch Frederking/Josting 2005, 8; Hengst 2014, 144; Josting 2018, 392). Die Forschung im Medienverbundbereich umfasst sowohl einen rein rezeptiven als auch einen produktiven Bereich, anhand derer sich der Umgang der Rezipient/innen mit dem Verbund beschreiben lässt. Der Stoff ist dabei das Element, das gleichsam das tertium comparationis bildet und den Medienverbund zusammenhält. Die Untersuchung des Micky Maus-Verbundes bezieht außerdem die Theorien der brands und characters mit ein, um einen Medienverbund als solche tertia comparationis zu beschreiben. Beide Begriffe bezeichnen Figuren, die im Zentrum eines Medienverbundes stehen können. Ein character ist eine Figur, die „Gesicht und Körper ha[t]“ und „immer in enger Beziehung zur Narration steh[t]“ (Steinberg 2012, 191; zit. nach Hengst 2014‚ 153). Das heißt: Der Charakter einer Figur manifestiert sich innerhalb der Handlung, der story, einer Narration. Brands sind hingegen abstraktere Figuren, die eher über „Zeichen“ und „Logos“ wirken (ebd., 2014, 153), also – wie die Übersetzung schon sagt – eher einem Markenzeichen gleichen, das nicht mehr nur für eine einzelne, konkrete Figur, sondern für eine bestimmte Markenidee steht und diese verkörpert. Beide Begriffe können einen Medienverbund begründen und zusammenhalten. Ausgehend von diesen theoretischen Grundgedanken gliedert sich die vorliegende Untersuchung in drei Schritte. In einem ersten Schritt wird definiert, woran die zeitgenössische deutsche Presse das typisch Amerikanische an den
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Zeichenfiguren festmachte. Danach wird dies auch auf der produktiven Seite anhand zweier Beispiele nachvollzogen. Die drei Bedeutungskomplexe sollen Aufschluss darüber gegeben, wie die amerikanische Art Disneys in Deutschland rezipiert wurde. Leitend sind dabei diese Fragen: 1) Wie wird der Begriff der amerikanischen Formung in der deutschen zeitgenössischen Filmpresse definiert und bewertet? 2) Inwiefern wurde die Figur der Micky Maus für die deutsche Unterhaltung angepasst? 3) Wie wurde die Micky Maus als Marke während des Krieges zur deutschen Gegen-Propaganda genutzt? Da die Rezeption Mickies seitens des Kinopublikums sowie seine Beliebtheit in der deutschen Bevölkerung schon recht umfassend bekannt und erforscht sind (vgl. u. a. Fuchs 1998a, Koebner 2002, Platthaus 2001, Sackmann 2015b, Seßlen 1998, Tomkowiak 2017), soll es dabei explizit um die Rezeption durch die Fachpresse und der produktiv tätigen Künstler/innen gehen.
Micky Maus als Marke im Deutschland der 1930er-Jahre Micky Maus ist mehr als eine reine Comicfigur, sie ist vielmehr ein „richtiges“ Symbol, „überzeitliche religiöse Erfindung, aber vollkommen profanisiert“ (Mickey Mouse wird 70 1998). Das Geschick beim Aufbau solcher ikonischen Figuren1 war (und ist) einer der Garanten für Disneys andauernden Wohlstand und bereitete gleichzeitig den Weg für innovative Filmprojekte (vgl. Koebner 2002, 656; Tomkowiak 2017, 123). Bis dahin dauerte es allerdings fünf Jahre: von der Gründung der DisneyStudios am 16. Oktober 1923 bis zur Etablierung der Micky Maus als das Gesicht der Disney-Welt. Veränderungen von außen begegnete Walt Disney stets mit der ihm eigenen Flexibilität, um sein Unternehmen und vor allem die Figuren, die ihm den Erfolg sicherten, stetig auszubauen: Aus Oswald, der Glückshase – selbst sehr stark von Felix, der Kater, inspiriert – wurde so nach einem Urheberrechtsstreit mit der Verleihfirma eine „in einfachen Strichen modellierte, aufrecht gehende und mit vierfingrigen Greifhänden ausgestattete Maus mit runden Ohren und einem gewinnend frechen Grinsen“ (Seßlen 1998, 211). Disney gab ihr den Namen Mortimer Maus, änderte ihn aber auf Anregung seiner Frau schnell in Michael (Kurzform: Micky) um: Am 10. März 1928 war Micky Maus geboren (vgl. Fuchs 1998a, 219 f.). Die Filmkarriere der anthropomorphisierten Maus begann mit dem am 18.11.1928 erschienenen und schnell zum Klassiker avancierten Kurzfilm Steamboat Willie (1928), dem bereits dritten abgedrehten,2 aber als ersten ausgestrahlten Film mit Micky Maus, der seinen Siegeszug quer durch die USA antrat (vgl. Platthaus 2001;
1Neben
Micky Maus ist hier vor allem Donald Duck zu nennen. und Iwerks drehten die Micky-Filme parallel zu den weiterhin erscheinenden OswaldProduktionen zum großen Teil abends in ihrer Freizeit, um dem bestehenden Vertrag nachzukommen, aber auch um die sichere Einnahmequelle zu haben und sich gleichzeitig für die Zukunft aufzustellen (vgl. Fuchs 1998a, 219 f.). 2Disney
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Seßlen 1998; Fuchs 1995, 1998a; Tomkowiak 2017). Micky Maus ist – neben Donald Duck als weitere ikonische Figur von Disney – die wohl größte Marke des Unternehmens und gleichzeitig bis heute das Gesicht des Disney-Imperiums, weil sie im weltweiten Gedächtnis als vermeintliches Gründungsmitglied die zentrale Figur des Disney-Universums darstellt. Auch im Bereich der Vermarktung lernte Disney aus den Erfahrungen mit früheren Figuren, um dann zu Zeiten der Micky Maus zu einer gewissen Perfektion zu gelangen. Bereits bei Oswald erkannte der Unternehmer das Potenzial einer vollumfänglichen Figurenvermarktung, denn in mannigfaltigen Bereichen setzte er Oswald als Werbeträger ein. Erstmals kamen auch Merchandisingprodukte wie Figuren oder lizensierte Alltagsgegenstände zum Einsatz; sei es, um einen bereits erschienenen oder bald fertiggestellten Film im Vorhinein zu bewerben, oder um der Figur des Glückshasen im Allgemeinen weitere Popularität zu verleihen (vgl. Platthaus 2001, 37). Ob Disney schon zu diesem frühen Zeitpunkt die Errichtung eines ganzen Imperiums, das bis hin zur Eröffnung riesiger Freizeitparks reichen sollte,3 auf der Grundlage einer (Marken-)Figur – ob sie nun Oswald oder Micky hieß – zumindest im Hinterkopf hatte, bezweifelt Fuchs (1998a, 223). Zuzutrauen wäre es dem Mann aus Chicago allerdings, betrachtet man das stets ebenso weitblickende wie risikofreudige Genie, das ihm inhärent war. Unbestritten bleibt allerdings, dass bei der Figur Oswald die ersten Gehversuche auf dem Terrain der weitergehenden Vermarktung und Geldakquise abseits filmischer und narrativer Umsetzungen zu finden sind. Nach und nach erweiterte Disney das Konzept des medienumspannenden und auch dem Ursprungsmedium entfliehenden Figurenkults um immer weitere Facetten. Das selbst in den Anfangstagen ausufernde Merchandisingimperium Disneys auch nur annähernd beschreiben zu wollen, würde jeglichen Rahmen sprengen. Neben Micky sorgten auch Disneys weitere Stammfiguren wie Pluto, Donald und Co., „also die individualistischen Cartoons, die auf mittlerweile perfekt entwickelten Figuren beruhten, […] für gewaltige Nebeneinnahmen im Lizenzgeschäft“ (Platthaus 2001, 103). Disneys Gespür für die weitreichenden Vermarktungsmöglichkeiten zeigte sich in seiner Kreativität in allen Geschäftsbereichen. So verkaufte er ab 1937 sogar die scheinbar wertlosen Cels – Celluloide, die zum Animieren der Figuren für die Trickfilme benutzt wurden – erst an Mitarbeiter/innen, nachdem er erkannt hatte, dass sie für weitere Filme nicht wiederverwertet werden konnten, und dann an Fans der Filme. Später schuf er eine eigene kleine Abteilung, die er nach der Abschaffung der Cels für die Filmdrehs künstliche Bildchen zur Vermarktung herstellen ließ, die dann als Teil der Produktion an Fans verkauft wurden. Diese Erfolgswelle, auf der sich auch die Micky Maus scheinbar spielerisch zu bewegen verstand, beschränkte sich von Anfang an nicht auf die Vereinigten Staaten, sondern schwappte zunächst durch die Micky Maus-Trickfilme auch zum Alten Kontinent hinüber. Dabei spielten wie in Amerika die neue Technik des
3Zum
Entstehen der Freizeitparks vgl. Fuchs 1998a, 223.
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„Tonfilm-Wunder[s]“ (Sackmann 2015b, 65) und die Schwäche der Wirtschaft, „in der die Menschen nach Zerstreuung […] suchten“ (Fuchs 1998a, 220 f.), eine entscheidende Bedeutung für die massenhafte Begeisterung, die die Trickfilme beim deutschen Kinopublikum auslösten. Auch der Aufbau der Figur Micky selbst trug zum massiven Welterfolg bei. Georg Seßlen beschreibt Micky als Figur, die ohne einen „Kulturcode“ (Seßlen 1998, 211) verstanden werden kann. Das heißt, sie funktioniert auch außerhalb ihrer Herkunft aus dem amerikanischen Kulturkreis genauso: „Überall wo Mickey ist, ist er ein anderer und zugleich derselbe; über Zeiten und Länder hinweg wandelt er sich, um er selbst zu bleiben.“ (Ebd.) Dies ist zumindest für den zentraleuropäischen Kulturkreis und damit auch für den Anfang der 1930er-Jahre weitgehend gültig. Micky wurde zu einer Ikone der (Pop-)Kultur, die sich geschickt zwischen den verschiedenen Kulturen und Systemen bewegt und in nahezu jeder Situation ihren Platz finden kann. Sie vagabundiert nicht nur zwischen den Medien und den Märkten, sondern auch zwischen den Kulturen und Systemen, ist durch ihre Wandelbarkeit in diverse Zusammenhänge eingebettet (vgl. ebd.). Im Laufe der Zeit hat sie die unterschiedlichsten Rollen eingenommen und verschiedenste Stoffe adaptiert; sie wurde in einen neuen Kontext gestellt, ohne ihren Markenkern, ihren abstrakten Bedeutungsgehalt, zu verlieren (vgl. Palme 1998, 204). Die Zuschauenden wussten, was sie erwartete, wenn sie einen neuen Film mit Disneys Maus vor sich hatten. Micky übersprang auch in Deutschland als bereits erfolgreiche Filmfigur schnell und leichtfüßig die Mediengrenzen, diverse Produkte verbreiteten sich in der deutschen Bevölkerung. Die Begeisterung für die Figur war im Deutschland der Vorkriegszeit „ein Nährboden für allerlei Derivate wie Postkarten und Nippes.“ (Sackmann 2015b, 65) Interessant ist, die Wechselwirkung zu beobachten, die dafür sorgte, dass sich innerhalb Deutschlands ein eigener Medienverbund mit der Figur Mickys im Zentrum herausschälte. Auf den durchschlagenden Kinoerfolg in Deutschland reagierten geschäftstüchtige deutsche Filmemacher mit eigenen Versionen von Micky Maus-Filmen, die sie unlizenziert, also als Plagiate, in die deutschen Kinos brachten (vgl. ebd.). Der Verbund erstreckt sich außerdem von Comicumsetzungen in deutschen Tageszeitungen über Merchandisingprodukte bis hin zur Propagandamaschinerie der späten 1930er- und 1940er-Jahre, die in Deutschland einen ganz eigenen – und auch zwiespältigen – Umgang mit den Disneyfiguren im Allgemeinen und der Micky Maus im Speziellen hervorbrachte (Abb. 2). Zurückzuführen ist die Verbreitung auf die groß angelegten Vermarktungsstrategien und -settings. Disney besaß zum einen mehrere Vermarktungszentren in Europa, die mit heutigen Merchandise-Shops vergleichbar sind. Es gab T-Shirts, Figuren und viele weitere Fanprodukte, im Weihnachtsgeschäft z. B. 230.000 Micky Loks. So entstand eine Wechselwirkung zwischen Fanprodukten und Zeichentrickfilmen, die sich gegenseitig befruchteten (vgl. Koebner 2002, 656 f.). Zum anderen hatte Disney aber auch ein Interesse daran, in Europa entwickelte Merchandisingprodukte zu importieren und in Amerika zu vertreiben. Lizenzen für die Disney Produkte wurden damals in Europa von den Agenturen George Borgfeldt & Co. und William Banks Levy vertrieben. Bereits nach einem
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Abb. 2 Micky Maus als Werbefigur. Paradies der Hölle (1930), aus: Kinematograph 24 (1930) 270 vom 18.11., 6
Vierteljahr der Zusammenarbeit konnte man in Deutschland 28 Lizenzen vorweisen, darunter Zahnbürsten, Kerzen, Postkarten, Kalender, Figuren, Porzellanartikel, Seifenmodelle, Taschentücher, Tapeten und Bücher. Jede Firma wollte ein Stück vom Kuchen haben. Diese Form des Lizenzgeschäfts hielt allerdings nur ein knappes Jahr an. Probleme entstanden aufgrund der mangelnden Koordination zwischen Borgfeldt und Levy, aber auch weil viele der Arbeitsproben, die an die Disney-Brüder geschickt worden waren, in keiner Weise deren hohen Qualitätsansprüchen genügten und daher abgelehnt wurden. Aus diesem Durcheinander zogen viele Produzenten Profit und produzierten ihre eigenen Produkte, ohne Lizenzen zu beantragen (vgl. Storm/Dreßler 1991, 172 ff.). Deshalb begann Disney schon früh, seine Rechte auf Lizenzgebühren gerichtlich durchzusetzen. In Deutschland gab es wegen des freizügigen Umgangs mit den urheberrechtlichen Bestimmungen sprichwörtlich massenhaft Gerichtsprozesse, die bedingt durch ihre Größe teilweise in Kinos und Theater ausgegliedert werden mussten. Diese
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Härte beim Lizenzschutz zeigt die Bedeutung, die Walt Disney dieser Form der Vermarktung für den Erfolg seines Unternehmens zumaß. Allerdings taten selbst die gerichtlichen Maßnahmen der Popularität Disneys im Allgemeinen und Micky Maus im Speziellen keinen Abbruch (vgl. Fuchs 1998a, 221). Die deutschen Firmen, die in den Genuss kamen, von Disney mit den Originallizenzen bedacht zu werden, warben extensiv damit. Sie kamen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Produktion, dementsprechend vielfältig war das oben bereits angedeutete Spektrum an filmfremden Produkten, die den Medienverbund in Deutschland um viele Stücke erweiterten. Aus Werbeanzeigen in Spielwarenprospekten kann auf diverse Figuren und Spielzeugpuppen geschlossen werden. Die Firma Heinz & Kühn z. B. vertrieb Micky- und Minnie-Kostüme für Faschingsfeiern. Bekannte Firmen wie die Südfilm AG stellten Broschen und Spangen her, Steiff und Schuco beteiligten sich ebenfalls an dem lukrativen Geschäft mit den Mäusen. Ungezählt sind auch die Porzellanerzeugnisse wie Teller, Tassen, Eierbecher oder Salzstreuer. Dies sind nur einige Beispiele aus dem umfangreichen Portfolio, das hier nicht zur Gänze aufgeführt werden kann.4 Auch einige Tageszeitungen nutzen Micky Maus als Werbefigur, denn die bekannte Marke versprach eine Vermehrung der Verkaufszahlen (vgl. Sackmann 2015b, 72). Der Starstatus der Maus ging in Deutschland teilweise so weit, dass Micky Maus beispielsweise persönliche Weihnachtsgrüße an die Leserschaft adressierte. Einer Zeitung aus Gera lag an Weihnachten 1930 ein Brettspiel bei, beworben mit dem Satz „als komme Micky Maus in persona nach Gera.“ (Ebd., 72 f.). In der deutschen Filmfachpresse finden sich einige interessierte Perspektiven auf den Verlauf des Merchandisings sowohl in Deutschland als auch im Ausland. Beispielhaft soll hier ein Artikel aus dem Film-Kurier vom 23.09.1936 genannt werden, in dem der Verlauf der Disney’schen Lizenzvergaben weltweit sowohl mit Bewunderung als auch Verwunderung nachgezeichnet und dann konstatiert wird, dass „ein Erzeugnis nur dadurch zu einem ‚bestseller‘ [sic!] […] wird, daß ihm beispielsweise die Bezeichnung ‚Micky-Maus-Taschenuhr‘ zugelegt wird.“ (Dies und Das 1936, 3) Der Markt, der von Disneys Werken bisher erschlossen wurde, sei schlicht nicht zu überblicken. Beim Versuch der Auflistung käme man „vom Hundertsten ins Tausendste“ (ebd.). Die Figur bzw. der brand der Micky Maus funktionierte also auch in Deutschland ohne den Kontext einer spezifischen Erzählung. Sie entfaltet hier ihre Wirkung, indem sie ihr Antlitz von „Packpapier, Kartons, […] Porzellan, Boxhandschuhe[n], Puppenstuben, Spielzeug, vom kleinsten bis zum größten“ (ebd.) strahlen lässt. Die umfassende Durchdringung wirklich aller Lebensbereiche durch eine Zeichentrickfigur scheint zumindest in diesem Ausmaß neu gewesen zu sein. Sogar „Windeln (!)“ (ebd.), bemerkt der Film-Kurier und bringt sein Erstaunen
4Eine
sehr große Sammlung an Merchandisingartikeln inklusive umfangreichen Bildmaterials findet sich in dem Band zu einer Ausstellung im Filmmuseum Potsdam (vgl. Storm/Dressler 1991, 152–206).
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über dieses Kuriosum mit einem Ausrufezeichen zum Ausdruck, seien mit Micky Maus-Bild zu haben. Aus diesen zwei Bestandteilen – der faktischen Menge der im zeitgenössischen Deutschland erhältlichen Merchandisingprodukte und der bewundernden Aufzählung der mannigfaltigen Produkte im Film-Kurier – kann geschlossen werden, dass Micky Maus es auch in Deutschland geschafft hatte, ein Markenzeichen, ein brand, zu werden. Daraus ergibt sich seine große Relevanz für die Filmwelt in der Weimarer Republik bis hin in die NS-Zeit, in der die Figur Micky Maus eine große Anzahl von Menschen erreichen und auch beeinflussen konnte.
Disney-Trickfilme in der deutschen Fachpresse: typisch amerikanisch! Im Folgenden soll untersucht werden, worin die verschiedenen Printmedien die wiederholt genannte amerikanische Attitüde in den Disney-Werken mit Micky als Repräsentationsfigur sehen und warum dieser Aspekt immer wieder Erwähnung in den Besprechungen der einzelnen Filme findet. Besonders der amerikanische Humor steht bei den Autoren im Mittelpunkt der Betrachtung, da dieser einen großen Teil des Erfolgs der Marke ausmachte. Die Motivation für diese Betrachtungen wird stellvertretend in einem Artikel des Film-Kuriers aus dem Jahr 1935 beschrieben: „Wenn die Rede auf den gezeichneten Film kommt, dann heißt es sofort: ‚Ja, das können wir nicht so gut wie die Amerikaner – die sind uns da weit voraus.‘“ (Edmund Smith schafft einen ernsten Trickfilm 1935, 1). Dieses Minderwertigkeitsgefühl durchzieht beinahe die gesamte Berichterstattung der 1930er-Jahre. In vielen Artikeln ist vom amerikanischen Humor oder „amerikanische[r] Formung“ (Frühling an der Donau 1935) die Rede, ohne dies jedoch näher zu bestimmen (vgl. auch Film-Kabarett in Hamburg 1938, 3). Interessant sind einige Beiträge in Filmzeitschriften aus dem Jahr 1935, die sich mit der Entwicklung des deutschen Trickfilms, u. a. am Beispiel des Trickfilmers Edmund Smith, bzw. der Analyse der Schwäche der deutschen Trickfilmwirtschaft im Vergleich mit den Disney-Filmen beschäftigen. Dabei vergleicht der Film-Kurier zumindest immanent die Arbeitsweise des deutschen Trickfilms mit der des amerikanischen. Es werden zwei Begriffe gegenübergestellt, die die fundamentalen Unterschiede des deutschen und amerikanischen Zeichentrickfilms verdeutlichen: Differenziert wird zwischen dem „ernsthafte[n] Zeichenfilm“ auf der einen und dem „grotesken“ auf der anderen Seite (Ernsthafter Zeichenfilm 1935). Edmund Smith wird attestiert, endlich einen Zeichenfilm gemacht zu haben, der sich von der heiteren Stimmung der Disney-Produktionen absetze (vgl. ebd.). Auch Lotte Reiniger, die heute noch bekannt ist als Produzentin berühmter Scherenschnittfilme der Weimarer Republik, äußerte sich dazu. Neben dem ökonomischen Abstand zu den amerikanischen Produktionen, der Grund dafür sei, dass „Amerikas Micky Maus bekannter ist“, sieht sie einen „Mentali-
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tätsunterschied“ zwischen dem deutschen und amerikanischen Trickfilm; während der deutsche ernsthafter und tiefer im Gefühl sei, bilde der amerikanische die „Naturburschen- und Jungenhaftigkeit dieses Amerikaners“ ab, sprich: Er ist insgesamt heiterer und weicher, während der deutsche Humor als schwermütiger, aber auch tiefsinniger gilt (Lotte Reiniger sprach über ihre Arbeit 1935, 3). Hinweise auf diese Diskussion finden sich zudem neben der Ankündigung des Films Snow White and the seven dwarfs (Walt Disney verfilmte Schneewittchen 1935) in einer Ausgabe des Film-Kuriers aus dem Jahre 1935, in der im Hinblick auf amerikanische Militärpropaganda-Filme vom „typisch amerikanischen Humor“ die Rede ist, dieser sei „bissig“, selten „zynisch“, aber nie „staatsfeindlich“ (USASpielfilm als Werber 1935, 1).5 Was die künstlerische Qualität Disneys betrifft, so wird diese stets hervorgehoben und explizit gelobt. In einer Besprechung der Lustigen Menagerie, einer traditionell zu Weihnachten aufgeführten Zusammenstellung von sieben Disneyfilmen an einem Kino-Abend, finden sich zunächst das Lob der Qualität des Produkts und auch der Verweis auf die positive Reaktion des Publikums. Anschließend geht es wieder darum, dass man sich eine deutsche Entsprechung wünsche, in diesem Fall eine Menagerie der Kurzfilme und Sketche des deutschen Komikers Karl Valentin, die sicherlich sehr erfolgreich wäre (vgl. „Lustige Menagerie“ – Sieben Disney-Filme in der „Kurbel“ 1936). Kritisiert werden aber vor allem die ökonomischen Bedingungen der Trickfilmproduktion in Deutschland. Wie Lotte Reiniger sind andere Kenner der Szene ebenfalls der Ansicht, im Vergleich zu den Amerikanern fehle es in Deutschland im Bereich des Trickfilms an Finanzen, was die Qualität schmälere. So auch der Trickfilmzeichner Kurt Wolfes in einem Vortrag an der Berliner Hochschule im Frühjahr 1937, über den der Film-Kurier berichtet. Wolfes fordert wegen der amerikanischen Übermacht die Abgrenzung vom großen Bruder aus den USA. Die technische Gleichwertigkeit sei wegen des ökonomischen Unterschieds nicht erreichbar, was aber auch gar nicht nötig sei. Man solle sich auf die inhaltliche Weiterentwicklung konzentrieren (vgl. Wirkliche Unwirklichkeit 1937). Mit dem zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten auf den Filmbetrieb veränderte sich die Diskussion in den folgenden Jahren. In einem Beitrag über den deutschen Film in Bukarest finden sich Ausführungen über den Rückgang des Publikumsinteresses in Rumänien an deutschen Produktionen. Man erklärt es vor allem mit dem „Einfallen“ amerikanischer Filme in den rumänischen Markt; tendenziös heißt es, der deutsche Film sei „sorgfältiger ausgearbeitet“ und „besser durchdacht“, also insgesamt von höherer künstlerischer Qualität (Deutscher Film in Bukarest 1937). Außerdem träfen die amerikanischen Filme aufgrund ihrer
5Mehr
zufällig, aber durchaus bezeichnend stößt man in der gleichen Zeitung auf einen Artikel der sich Gegen alte Filme mit nichtarischen Darstellern (Gegen alte Filme mit nichtarischen Darstellern 1935) richtet. Eine Aufführung solcher Filme, besonders derer mit nachgewiesenen Emigranten in den Hauptrollen, werde verboten. Hier deutet sich eine Entwicklung an, die auch in der Rezeption der Disney-Filme zunehmend sichtbar werden wird.
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mangelnden Tiefe besser den Geschmack des eher anspruchslosen Publikums in Rumänien, die tiefgründigeren deutschen Filme „würden hier auch wenig Verständnis finden“ (ebd.). Auch Antisemitismus tritt unverhohlen zutage, wenn die angebliche Dichte an jüdischen Mitarbeitern im rumänischen Verleihwesen und der ihnen nachgesagte Deutschenhass für den Boykott deutscher Filme verantwortlich gemacht werden. Ein weiteres Beispiel ist der 1937 erschienene Langfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge, mit dem sich die deutsche Fachpresse intensiv auseinandersetzte, nicht zuletzt, weil man die Grimm’schen Märchen als sogenanntes deutsches Kulturgut für sich reklamierte. Walt Disney war von Beginn an fasziniert von den Märchenstoffen der Gebrüder Grimm (vgl. Platthaus 2001, 29). Schon für sein allererstes Werk im Rahmen der Laugh-o-grams6 (Little Red Riding Hood, 1922) wählte er Rotkäppchen als Vorlage. Er hatte die Relevanz der Gattung für den europäischen Markt erkannt und folgerichtig als wichtigen Faktor eingeplant. Was lag also näher, als populäre Märchenstoffe zu benutzen, um das Publikum durch Vertrautes enger an das Animationsstudio zu binden.7 Mit seinem ersten Langfilm führte Disney das inzwischen schon fast zur Tradition gewordene Konzept der Märchenverwendung fort. Snow White and the Seven Dwarfs wurde ein durchschlagender Erfolg, der den Siegeszug der Langfilme aus dem Hause Disney begründen sollte (vgl. Fuchs 1998a, 223). Der äußerst kurze Original-Märchenstoff wurde dabei auf die Länge eines Langfilmes ausgedehnt, indem der Stoff mit hollywoodtypischen Elementen wie Melodram oder Slapstick angereichert wurde, aber auch die Figuren erfuhren eine Veränderung. Im Falle von Snow White and the Seven Dwarfs bekamen die Zwerge jeweils eigene Charakterzüge, die sie zu den heimlichen Stars des Films werden ließen (vgl. Tomkowiak 2017, 124). Mehr und mehr passte Disney auf diese Weise Figuren und Handlung den amerikanischen Sehgewohnheiten an: „Individualismus, Arbeitsethos, Optimismus, Unschuld, das Streben nach Glück“, aber auch „romantische Liebe und der Sieg des Guten über das Böse, dies alles wohlgemerkt innerhalb der Regeln einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft“ (ebd., 130) finden sich in dem Film wieder. Obwohl im NS-Deutschland die Märchen der Gebrüder Grimm hoch im Kurs standen, fiel die Disneyverfilmung von Schneewittchen bei den zeitgenössischen Kritikern mehr oder weniger durch und durfte nicht gezeigt werden (vgl. Schlesinger 2017, 147 f.).8 Es wird angezweifelt, ob der deutsche Märchen-
6Eine
komplette Übersicht findet sich bei Tomkowiak 2017, 122 f. setzt sich in der Stoffauswahl der folgenden Jahre durchgängig fort: Es folgte The Four Musicians of Bremen (1922), den Disney sofort nach der Fertigstellung von Little Red Riding Hood begann. Nach zwei amerikanischen Geschichten – Jack and the Beanstalk (1922), und Goldie Locks and the Three Bears (1922) – wendete sich Disney mit Puss in Boots (1922) und Cinderella (1950) wieder den klassischen europäischen Märchenstoffen zu (vgl. Platthaus 2001, 28 f.). 8Eine umfangreiche Zensurliste der Disney-Filme findet sich bei Storm/Dreßler 1991, 148–151. 7Dies
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stoff tatsächlich dazu geeignet ist, die Handlung für einen auf Humor ausgelegten Zeichentrickfilm zu liefern, und man sei froh, mit deutschen Trickmärchenfilmen Alternativen zu haben (vgl. Ein kleiner gemalter Märchenfilm 1938). Ein zentraler Vorwurf lautete, Schneewittchen sei „entgruselt“ (Schneewittchen entgruselt 1937) worden. An Beispielen wurde aufgezeigt, wie besonders grausame Szenen entfernt wurden, man kritisierte gleichfalls die „optimistische Lockerung“ (ebd.) anstelle des düsteren Endes, woran die amerikanische Vorgehensweise deutlich werden würde, nämlich die Umschiffung düsterer Themen.9 Diesem „Optimismus um jeden Preis“ müsse „unser“ Schneewittchen nun „Tribut […] zollen“ (ebd.). Auch andere Autoren bezeichneten diese Verfilmung als „banales Rührstück“ (Tomkowiak 2017, 126), das die Erhabenheit des Ausgangsstoffes inadäquat darstelle. Die angeführten zeitgenössischen Kritiken vermitteln ein relativ einheitliches Bild der Schneewittchen-Rezeption: zu wenig Grusel, zu viel Optimismus. So verwundert es nicht, dass auch Micky Maus-Filme verändert wurden, indem man Liedeinlagen „zum Glück“ (Filmtheater in Ostafrika 1937) teilweise kürzte. Was Kritiker für gut oder schlecht befanden, stimmt oft nicht mit dem Publikumsgeschmack überein. Optimismus und Heiterkeit, die in der Figur oder vielmehr der Marke Micky Maus zusammentrafen bzw. zusammentreffen, sprechen universell das Publikum an.
Micky Maus in den Comicstrips der deutschen Tageszeitungen Nicht nur auf der Ebene der Rezeption im engeren Sinne, sondern auch im Bereich des produktiven Umgangs mit dem Medienverbund soll der Frage des Einflusses der Marke Micky Maus auf die deutsche Kulturlandschaft nachgegangen werden. Zwei Beispiele wurden ausgewählt, die einander diametral gegenüberstehen und die oben bereits beschriebene Opposition von Verehrung der Maus einerseits und ihrer Rezeption als triviales und typisch amerikanisches Kulturgut andererseits verdeutlichen. Anhand der Umsetzung der Figur in Comicstrips in Deutschland Anfang der 1930er-Jahre geht es im Folgenden um diese Produktionsebene. In den USA hatte die Maus gerade unter der Federführung des Zeichners Floyd Gottfredson den Sprung aus dem Trickfilmbereich in die Comicsparte und damit ins Zeitschriftenregal geschafft (vgl. Seßlen 1998, 213), als deutsche Verleger begannen, ihre Zeichner für Studienaufenthalte in die USA zu schicken, um die neuesten Entwicklungen zu beobachten und sich Inspirationen zu holen (vgl. Scholz 2014, 67). Während im restlichen (West-)Europa die Form der Comic-Strips10 langsam einen festen Platz im Zeitungswesen einnahmen, wollten
9In
England wurde der Film interessanterweise wegen Grausamkeit erst ab 16 Jahren freigegeben (vgl. Man hört und liest 1938). 10Kurze, sketchartige Comicreihen bestehend aus einigen wenigen Bilderfolgen.
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in Deutschland nur wenige Blätter auf diesen Zug aufspringen, da die deutsche Öffentlichkeit seriellen Erscheinungsformen eher skeptisch gegenüberstand (vgl. ebd.). Das mag erstaunen, denn entgegen der landläufigen Ansicht gelangte die in den USA entstandene Comickultur nicht erst durch die amerikanische Besatzungsmacht nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den deutschen Kulturraum. Bereits seit der deutschen Revolution 1848/1849 sind „karikaturistische, erzählerische Bildgeschichten“ bekannt, die die „Vorläufer des Comics in Deutschland darstellten“ (Fuchs 1998b, 249). Eine Übertragung der in Amerika äußerst erfolgreichen Comicstrips auf das deutsche Zeitungswesen muss man dennoch mit der Lupe suchen (vgl. ebd., 65).11 „Die Arbeiter Illustrierte Zeitung (1930) kann es für sich verbuchen, Mitte 1930 den ersten ‚Micky Maus‘-Zeitungsstrip in Deutschland veröffentlicht zu haben.“ (Sackmann 2015b, 65; vgl. auch Scholz 2014, 67 f.) Die ersten Strips erschienen dabei unregelmäßig und mit großen Abständen zueinander. Bereits hier zeigt sich das auch später in anderen Zeitungen praktizierte Schema, amerikanische Comicstrips zu adaptieren und einfach mit deutschem Text abzubilden. Trotz der Bekanntheit der Maus in Deutschland war den Zeitungsstrips nicht gerade ein großer Erfolg beschieden, was u. a. darauf zurückgeführt wird, dass das Schema des seriellen Comics in Deutschland, wie oben erwähnt, noch nicht weit verbreitet war (vgl. Sackmann 2015b, 65). Eventuell waren aber auch die Abstände zwischen den einzelnen Episoden in der lediglich wöchentlich erscheinenden AIZ zu groß, um dem seriellen Format gerecht zu werden und Leser/innen zu binden. Für diese Erscheinungsform kamen auf dem deutschen Markt eher die Tageszeitungen als Medium infrage. Die Erfurter Allgemeine Zeitung (Thüringer Zeitung) wagte diesen Schritt und veröffentlichte ebenfalls im Jahr 1930 eine Folge einer Original Comicstrip-Reihe. Das bedeutete in diesem Fall nicht eine reine Übersetzung in die deutsche Sprache, sondern auch eine Anpassung der alle zwei Tage an unterschiedlichen Stellen der Zeitung erscheinenden Comicstrips an die Gewohnheiten der deutschen Leserschaft. Da in Deutschland Sprechblasen noch nicht üblich waren, wurden die Texte in einen Fließtext unter das Bild gesetzt (vgl. ebd., 69 f.). Allerdings änderte sich Ende 1930 der Umgang mit den Sprechblasen. Waren sie zunächst noch entfernt worden, wurden sie später sowohl mit Ausrufe- und Fragezeichen gefüllt, als auch für gesprochene Sprache nach dem Vorbild der amerikanischen Originale genutzt. Es erfolgte also gewissermaßen eine erneute Amerikanisierung des eingedeutschten, ursprünglich amerikanischen Mediums. Sackmann stellt zusätzlich interessanterweise fest, dass die Sprache im Deutschen weit weniger „elaboriert“ (ebd., 70) war und vermutet als Gründe entweder einen anderen Adressaten-
11Die Erhebungen Eckart Sackmanns im Rahmen der Deutschen Comicforschung, auf denen diese Darstellung weitgehend beruht, bieten zu diesem Thema einen detaillierten Einblick, wenngleich Sackmann eingesteht, dass die Forschung in Bezug auf die Comicstrips schwierig zu realisieren und gleichzeitig zu einem großen Teil vom Zufall geprägt ist.
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bezug (Kinder) oder Rücksichtnahme auf die ungewohnte Literaturform, die die deutschen Leser/innen nicht überfordern sollte (vgl. ebd., 70 f.). Die zweite Tageszeitung, die Sackmann als Verbreitungsmedium von Micky-Comicstrips ausmacht, ist die Kölnische Illustrierte Zeitung. Ab dem 27. Dezember 1930 veröffentlichte sie in regelmäßigen Abständen amerikanische Originalstrips in deutscher Bearbeitung. Die Originaltreue ging so weit, dass die Originalsignatur Walt Disneys beibehalten wurde (vgl. Scholz 2014, 67). Die Kölnische Illustrierte Zeitung stellte beim Bewerben der Comicstrips auf Mickys Kinoerfolg ab und nutzte diesen, um auch die gedruckte Variante zu bewerben: „Nun sollte ein ,Abglanz ihrer schwarz-weißen Existenz auf der Leinwand‘ auch auf Zeitungspapier erscheinen.“ (Ebd.) Den kolportierten Medienwechsel der Micky Maus thematisierte die Zeitung dabei selbst in ihrem Werbetext. Weiter heißt es: Auch hier tummelt sich ihre quicklebendige, echt maushafte Beweglichkeit, ihr phantastisches Spiel mit der Realität; auch hier begeben sich die heroischen Kämpfe, die sie, ein kleiner David mit Mäuseohren, gegen die Goliathmächte der Menschen und Maschinen und der großen bösen Tiere ausficht, und die tollen Tänze, die der geniale Zeichenstift ihrer Schöpfer Walt Disney und seiner zwölf Mitarbeiter für sie improvisiert. […] Micky macht alle Völker der Erde lachen. Gäbe es einen Nobelpreis für die Spaßmacher der Welt, Micky Maus müsste ihn haben. (zit. nach Storm/Dreßler 1991, 196)
Die Tageszeitung bewies dabei ein umfassendes Bewusstsein für die bereits erlangte Bekanntheit der Figur, aber auch für die Hürden, die sich deutschen Leser/innen entgegenstellen konnten. Das Cover der Zeitung zeigte einen großen Micky vor dem Foto einer Menge, die in einen Kinosaal strömt. Als Erläuterung lieferte man in der ersten Ausgabe neben dem Comicstrip eine Abhandlung über amerikanische Comics, um das deutsche Publikum über das noch wenig bekannte Medium aufzuklären und die Leser/innen gleichsam hin zum Comiclesen zu sozialisieren (vgl. Sackmann 2015b, 66). Aber auch diesen Veröffentlichungen war nur ein kurzer Erfolg beschieden, denn nach gut einem Jahr erschienen keine Comicstrips mehr (vgl. ebd., 72). Im Jahr 1931 fanden insgesamt 24 Streifen den Weg in die Kölnische Illustrierte Zeitung. Die Serie endete mit dem Beginn der Bankenkrise und den daraus folgenden finanziellen Problemen im Zeitungssektor (vgl. Scholz 2014, 68). Allerdings findet sich während dieser kurzen Veröffentlichungsphase auch eine Neuerung: Erstmals – und gleichzeitig zum letzten Mal (vgl. Storm/Dreßler 1991, 196 f.) – wurden nicht nur die Original-Comicstrips verwendet, sondern eine eigene Kreation eines deutschen Zeichners, in diesem Fall Frank Behmaks, veröffentlicht. Der Strip12 besteht aus acht Einzelbildern, die Micky Maus zeigen, wie er an einer Faschingsfeier teilnimmt. Im ersten Bild steht die Maus am Eingang des Tanz-Palais und sagt mit der ihr eigenen Heiterkeit: „Ich gehe in meinem Originalkostüm. Das macht mir keiner nach.“ Dass sie dabei nicht verkleidet ist und nur ihr Maus-Kostüm trägt, verleiht der Szene den Micky-Maus-typischen schelmischen Witz. Als er jedoch in den Saal eintritt
12Abgedruckt
in Storm/Dreßler 1991, 197.
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(Bild 2), kehrt sich diese freche Idee um und erwischt die Maus selbst. Jeder Teilnehmer der Feier ist als Micky oder Minnie Maus verkleidet, das Original schlicht nicht mehr unterscheidbar. Micky versucht daher, mit einem Tanztrick – er kordelt seine Beine gewissermaßen zusammen und lässt sich dann schnell herumwirbeln – seine Einzigartigkeit unter Beweis zu stellen (Bilder 3–6). Schließlich wird er vom Schutzmann Kater Karlo unter dem tosenden Gelächter der anderen hinausgeworfen, nicht ohne einen lockeren Spruch auf den Lippen zu haben (Bilder 7–8). Während die Handlung in die Weimarer Republik verlegt wurde, wird auch das Amerikanische des Comics deutlich erkennbar: Behmak schuf eine Symbiose aus dem amerikanischen Original und seiner deutschen Bearbeitung, indem er nicht nur den Stil Disneys imitierte, sondern auch den Schriftzug „frei nach Walt Disney“ vom Schriftbild her an das Original anpasste. Ebenso benutzte er früh die klassischen Sprechblasen, was die Nähe zum Amerikanischen zeigt. Auch orientierte er sich formal sehr stark an den amerikanischen Originalstrips, indem er den Stil und die Figurenzeichnung der Micky Maus übernahm, den Inhalt aber an das deutsche Publikum anpasste: Der Strip handelt von Rosenmontag mit Micky Maus (vgl. Lettkemann 2011, 61 f.). Micky hat sein bekanntes Aussehen, wie er auch selbst feststellt, behalten und spricht mit der ihm eigenen Heiterkeit. An dieser Stelle mischen sich die beiden Sphären: Die deutsche Tradition der Verkleidungspflicht am Rosenmontag umgeht der findige Schelm, indem er seine Einzigartigkeit einsetzt und mit seiner angeblichen Verkleidung darauf rekurriert. Allerdings wird er von seiner eigenen Bekanntheit, symbolisiert durch die Verkleidungen aller Gäste als Micky Maus, ausgebremst und landet schließlich auf der Straße. In der nicht zu beweisenden Originalität der Micky Maus wird eine Karikatur auf die vielen Nachahmer deutlich, die optisch zwar der Micky Maus entsprechen, keineswegs aber ihre Fähigkeiten besitzen – nur das Original kann den speziellen comichaften Tanz durchführen. Auch das Überangebot der Micky Maus in den Kinos der Weimarer Republik ist hier sicher wiedererkennbar, der Saal ist überfüllt mit Micky Mäusen. Das Happyend wiederum – Micky ist nicht etwa entmutigt und enttäuscht, sondern macht vielmehr noch eine freche Bemerkung, kaum ist er auf dem Asphalt aufgeschlagen – entspricht dem oben festgestellten amerikanischen Optimismus. Es lässt sich also in diesem Comicstrip die Nutzbarmachung der Micky Maus für deutsche kulturelle Zwecke nachvollziehen. Zum einen wird die Popularität genutzt, um die Auflagen zu steigern, zum anderen wird die bekannte amerikanische Form der optimistischen und positiven und zugleich heiteren Figur der Micky Maus genutzt, um in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession die Leserschaft zu erfreuen. Die Figur wurde – hier stellvertretend für viele andere Produkte13 – den deutschen Bedürfnissen angepasst, bot somit eine bekannte Erheiterung im deutschen Gewand. Seine amerikanischen
13Beispielhaft
können noch der Film Das Micky-Maus-Girl von 1930 (vgl. Deutscher Tonfilmerfolg in Wien 1930) oder das Konkurrenzprodukt Krazy Kat (vgl. Paradies der Hölle 1930) angeführt werden.
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Eigenschaften überstehen dabei den Wechsel in den neuen Kulturkreis und vermählen sich gewissermaßen mit den deutschen Anteilen des Comicstrips. An dieser Stelle endet aber auch schon die Aufnahme der Micky Maus in deutschen Tageszeitungen jener Zeit. Eckhart Sackmann weiß derzeit von keiner weiteren Veröffentlichung der Micky Maus-Abenteuerstrips in Tageszeitungen des deutschen Sprachraums zu berichten, was „aber nicht heißen muss, das [sic!] es so etwas nicht gab“ (ebd., 73). Storm/Dreßler (1991) konnten allerdings zumindest noch ein paar Zeitschriften ausfindig machen, die Micky Maus-Comicstrips auch Mitte der 1930er-Jahre noch abdruckten (vgl. ebd., 197 f.).14 Mit der immer größeren Kontrolle, die der Nationalsozialismus auf das Leben der Menschen ausübte, gingen Restriktionen gegen das amerikanische Comicwesen einher. Zwar lehnten die Nationalsozialisten die amerikanischen Comics nicht per se ab, doch passte der amerikanische Humor immer weniger zum „deutschen Wesen“ (Scholz 2014, 76) und die Veröffentlichungen verliefen deswegen wohl im Sand.
Die deutsche Gegen-Propaganda Als sich die politische wie auch gesellschaftliche Situation in Deutschland im Zuge der NS-Machtergreifung drastisch änderte, wurde Micky Maus gemeinsam mit anderen Disney-Figuren zu (Gegen-)Propagandazwecken missbraucht. Interessanterweise versuchten die NS-Machthaber zunächst, Disney mit Verweis auf seine angeblich deutsche Abstammung für ihre Zwecke zu vereinnahmen, später behauptete man jedoch, er gehöre dem Judentum an (vgl. Fuchs 1995, 376). Die Liebe zur Micky Maus hielt aber auch beim Publikum in Deutschland an und sowohl Hitler als auch Goebbels und Mussolini schwärmten für Disneys Maus, ließen sich aus den besetzten Gebieten Micky Maus-Filme bringen,15 obwohl die deutsche Propaganda Disney zu diesem Zeitpunkt längst als Beispiel eines „jüdischen Ungeistes“ (Platthaus 2001, 177) diskreditiert hatte. Es ist nicht verwunderlich, dass die nationalsozialistische Regierung Comics zu ihren propagandistischen Zwecken instrumentalisierte. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg waren Comics und Karikaturen im amerikanischen Raum nämlich als probates Mittel für Propagandazwecke eingesetzt worden (vgl. Sackmann 2015a, 56). Diese Technik wurde mit dem Eintritt der USA in den Krieg von diesen wieder aufgegriffen (vgl. Scholz 2014, 83). Neben den weitläufig bekannten amerikanischen Propagandafilmen und -comics gegen den deutschen Feind16 (vgl. 14Es
werden lediglich die Orte des Erscheinens genannt, weitere Informationen werden nicht geliefert. Auf eine Auflistung soll an dieser Stelle daher verzichtet werden. 15Siehe dazu auch Koop 2015. Hier findet sich eine umfangreiche Auflistung über den Filmgeschmack der Führungselite im Dritten Reich. Darin sind durchaus auch zu späteren Kriegszeiten nicht wenige Disney-Filme zu finden. 16Eine Legende besagt, der Disney Film Victory Through Air Power (1943) habe sogar Churchill dazu bewegt, die Amerikaner im Luftkrieg zu unterstützen (vgl. Platthaus 2001, 176 f.).
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ebd., 77) wurden auch auf deutscher Seite Disney-Figuren genutzt, um die eigene Bevölkerung zu beeinflussen. Im Jahr 1941 gab die amerikanische Führung unter dem Eindruck eines äußerst erfolgreichen Propagandafilms für die Kanadier einen eigenen Film in Auftrag, der die Bürger von der Notwendigkeit einer neuen Steuer zur Kriegsfinanzierung überzeugen sollte. Die Figuren traten in den USA in „auf das spezifisch amerikanische Interesse der Kriegszeit (und später auch der Nachkriegszeit)“ (ebd.) ausgerichteten Filmen auf. Der durchschlagende Erfolg dieser Propagandamaßnahmen gab in Deutschland den endgültigen Startschuss für die Verknüpfung mit der Person Walt Disney und der amerikanischen Kultur (vgl. Platthaus 2001, 178 f.). Als die Amerikaner dann begannen, die Disneyfiguren als Maskottchen für ihre Kampfflugzeuge einzusetzen, wendete sich das Blatt endgültig. Die Deutschen starteten ihrerseits eine Art „Gegen-Propaganda“ (ebd., 177), sodass Micky mehr und mehr Zielobjekt der deutschen Polemik wurde (vgl. Fuchs 1998a, 220). Viele deutsche Zeichner hatten sich vor dem Zweiten Weltkrieg in den USA aufgehalten und waren mit den Zeichnungen und Comics Disneys vertraut. Das so erworbene Wissen nutzten sie zu Beginn des Krieges zur Unterstützung der Propaganda deutscher Interessen und bedienten sich dabei des bekannten Figurenrepertoires Walt Disneys. Nun wurden die Figuren, zu denen auch Micky gehört, entgegen ihrer sonstigen globalen Wirkung wieder auf ihre Funktion als Bedeutungsträger der amerikanischen Kulturgemeinschaft und somit auf ihre amerikanische Markenrolle reduziert. Die unterschiedlichen Autoren stellten in ihren Comicstrips die Disney-Figur Micky, aber auch Donald, Goofy und Pluto als Bombenwerfer dar, die deutsche Städte bombardierten (Abb. 3). Ein eindrückliches Beispiel für diese Gegen-Propaganda findet sich in der seit Ende der 1930er-Jahre nationalistisch ausgerichteten Zeitschrift Kladaradatsch aus dem Jahr 1942, für die der Zeichner Gerhard Brinkmann arbeitete (vgl. Sackmann 2016, 84; zur Biografie Brinkmanns vgl. Sackmann 2011). Micky Maus sitzt fröhlich auf einem amerikanischen Militärboot, das von einer eintreffenden deutschen Granate zerstört wird, und landet im Meer. Kurz verwirrt (Fragezeichen in Bild 4) kommt er in seiner typischen Art aber schnell zu einer Lösung. Er rekrutiert Bild für Bild die Meeresbewohner als Soldaten, um die USA im Krieg gegen Deutschland zu unterstützen. Diese folgen seinem Aufruf und bringen die Waffen wie Panzer und Gewehre an die Front. Die Meerjungfrauen retten die havarierten Seeleute und werden schließlich von ihnen wie Ehefrauen getragen. Brinkmann greift hier die bereits genannte Optik der amerikanischen Micky-Comicstrips auf. Micky ist wie üblich ein heiterer Zeitgenosse, hat immer ein Lächeln auf den Lippen, resigniert nicht. In dieser Hinsicht entspricht er Behmaks Micky auf der Rosenmontagsfeier, der sich ebenfalls von seinem Rausschmiss nicht in seiner Heiterkeit bremsen lässt. Außerdem glänzt er mit unkonventionellen Ideen und bringt die anthropomorphisierten (ebenfalls typisch für Disney) Meeresbewohner dazu, ihm bei der Aufrüstung zu helfen. Der Comic wird hier zurückgeführt auf seine uramerikanische Form. Selbst die Seemänner sehen aus wie Abziehbilder aus einem amerikanischen Propagandafilm für die Navy, werden allerdings der Lächerlichkeit preisgegeben, da die Meerjungfrauen zunächst sie tragen und nicht umgekehrt. Brinkmann nimmt auf diese Weise die Vereinnahmung der Disney-
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Abb. 3 Micky Maus (1942), aus: Kladderadatsch 95 (1942) 40 vom 04.10., 7 f., https://digi. ub.uni-heidelberg.de/diglit/kla (25.03.2020)
Figuren seitens der Propaganda der USA aufs Korn. Lächerlichkeit, fehlende Logik und auch Unangemessenheit der amerikanischen Rekrutierungscomics werden vom Autor herausgestellt. Im Vergleich zu Behmak wird Micky hier nicht positiv, sondern unangemessen heiter besetzt, obwohl er ähnliche Eigenschaften besitzt. Die deutschen Interessen werden nicht nur durch Verschmelzung mit, sondern auch durch Abgrenzung von der typisch amerikanischen Figur bedient. Wieder ist Micky aktiv als die Marke, die er darstellt: Er repräsentiert das von den Nationalsozialisten verhasste Amerika, das es zu bekämpfen gilt. Mithilfe einer Comicmaus versuchten demnach beide Seiten, mobil zu machen.
Schlussbemerkungen Was ist nun das typisch Amerikanische der Micky Maus, das von den hier untersuchten Medien auf verschiedene Arten rezipiert und produktiv umgesetzt wird? Zunächst ist festzuhalten, dass in den untersuchten deutschen Filmzeitschriften das typisch Amerikanische der Disney-Produkte im Allgemeinen und der – auch deutschen – Marke Micky Maus im Speziellen vor allem in dem heiteren, aber naiv wirkenden Optimismus zu finden ist, der den Zeichentrickfilmen und
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anderen Ausdrucksformen Disneys inhärent ist. Diese Eigenart wurde in den Filmzeitschriften zunächst neutral als amerikanisch bezeichnet, dann aber mit zunehmender Einflussnahme der Nationalsozialisten mehr oder weniger explizit negativ bewertet. Man stellte die Überlegenheit des deutschen Filmgeschmacks immer mehr heraus, ohne jedoch die Qualität der Disney-Filme ernsthaft infrage zu stellen. Diese ambivalente Rezeption der amerikanischen Zeichentrickkultur konnte auch anhand der zwei Beispiele auf produktiver Ebene des Umgangs mit dem Medienverbund nachvollzogen und erweitert werden. Der den deutschen Bedürfnissen angepasste Comicstrip Mickys Rosenmontag nutzte die auch in Deutschland erfolgreiche Marke der Micky Maus, indem er an ihre bekannten Fähigkeiten und Späße sowie ihre Beliebtheit in Deutschland anknüpfte, sie aber in einen neuen Kontext setzte. Die amerikanische Figur verschmolz sozusagen mit der deutschen Geschichte des Comicstrips. Eine ganz andere Stimmung findet sich in der Nutzung Mickys für die Gegenpropaganda der Nationalsozialisten. Die Figuren Disneys, in diesem Fall die Micky Maus, werden in dem untersuchten Beispiel Brinkmanns zurückgeworfen auf einen anderen Aspekt ihres brands: Ihr heiterer Witz und Optimismus repräsentieren nun den prototypischen amerikanischen Feind, dessen (mangelnde) Kultur weit von der vermeintlichen geistigen Tiefe des deutschen Volkes entfernt war. Auf ironische Art und Weise konnte so mit den bekannten Comicklischees der Micky Maus gespielt, der amerikanische Feind diskreditiert werden. Insgesamt lässt sich eine sehr vielseitige Rezeption der amerikanischen Seite der Disneyfigur Micky nachzeichnen. Das Amerikanische hielt in unterschiedlicher Form Einzug in die deutsche Kultur und wurde in den verschiedenen Ausprägungen der Marke für deutsche Interessen genutzt. Dieser kurze Einblick in die Umsetzung ist in keiner Weise als vollständig zu betrachten, sondern kann nur einen schlaglichtartigen Blick auf einen noch umfangreicher zu bearbeitenden Themenbereich innerhalb der Medienverbundforschung über Micky Maus und andere Disney-Produkte bieten. Im Rahmen dieses Beitrags standen lediglich die Fachpresse und die Künstler/innen im Fokus. Dass im Alltag der deutschen Bevölkerung dieses Bild der Micky Maus nicht der Realität entsprechen musste, versteht sich daher von selbst. Allein durch den immer größer werdenden Druck der Nationalsozialisten musste die Presse systemkonformer erscheinen als es vielleicht in allen Teilen der Bevölkerung, besonders im Unterhaltungsmarkt, notwendig war. Die Restriktionen nahmen in diesem Bereich zu, doch war Micky Maus noch bis Anfang der 1940er-Jahre in den deutschen Kinos erfolgreich vertreten (vgl. Der Januar in Hamburg 1941) oder wurde für Lehrfilme verwendet (vgl. Polizeifilme werben 1942). Auch in den Kinderzimmern dürfte es ambivalent zugegangen sein. Micky Maus hatte sich in die Herzen (nicht nur) der Kinder gespielt, und daher war es sicher nicht unüblich, dass auch vom Nationalsozialismus begeisterte Jugendliche Micky-Maus-Accessoires in ihren Zimmern stehen hatten (vgl. Platthaus 2001, 177.). Die Maus wurde zwar zur Propaganda benutzt, letztlich konnte aber auch ein faschistischer Staat mit Verboten die Begeisterung für die uramerikanischste und gleichzeitig wandelbarste aller Trickfilmfiguren nicht vollkommen brechen.
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Sekundärliteratur vor 1945 Der Januar in Hamburg. In: Film-Kurier 23 (1941) 35 vom 11.02., 1. Deutscher Film in Bukarest. Die Ursachen der rückläufigen Entwicklung. In: Film-Kurier 19 (1937) 74 vom 31.03., 1–2. Deutscher Tonfilmerfolg in Wien. In: Kinematograph 24 (1930) 230 vom 02.10., 5. Dies und Das. In: Film-Kurier 18 (1936) 223 vom 23.09., 3. Edmund Smith schafft einen ernsten Trickfilm. In: Film-Kurier 17 (1935) 178 vom 02.08., 1–2. Ein kleiner gemalter Märchenfilm. In: Film-Kurier 20 (1938) 286 vom 07.12., 2. Ernsthafter Zeichenfilm. In: Film-Kurier 17 (1935) 137 vom 15.06., Beiblatt, 2. Film-Kabarett in Hamburg. In: Film-Kurier 20 (1938) 303 vom 28.12., 3. Filmtheater in Ostafrika. Reiseeindrücke vom Roten Meer bis Kapstadt. Kinos in Kenya. In: Film-Kurier 19 (1937) 100, Beibl. 1–2. Frühling an der Donau. In: Film-Kurier 17 (1935) 125 vom 31.05., 2. Gegen alte Filme mit nichtarischen Darstellern. In: Film-Kurier 17 (1935) 136 vom 14.06., 1. Lotte Reiniger sprach über ihre Arbeit. In: Film-Kurier 17 (1935) 68 vom 21.03, 3–4.
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„Lustige Menagerie“ – Sieben Disney-Filme in der „Kurbel“. In: Film-Kurier 18 (1936) 279 vom 28.11., 2. Man hört und liest. In: Film-Kurier 20 (1938) 32 vom 08.02., 3. Paradies der Hölle [Anzeige]. In: Kinematograph 24 (1930) 270 vom 18.11., 6. Polizeifilme werben. In: Film-Kurier 24 (1942) 42 vom 19.02., 3. Schneewittchen entgruselt. In: Film-Kurier 19 (1937) 232 vom 06.10., 3. USA-Spielfilm als Werber In: Film-Kurier 17 (1935) 136 vom 14.06., 1–2. Walt Disney verfilmt „Schneewittchen“. In: Film-Kurier 17 (1935) 136 vom 14.06., 1. Wirkliche Unwirklichkeit. Filmkunst des Tricks. In: Film-Kurier 19 (1937) 59 vom 11.03., 1 und 4.
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Funkheinzelmann Die multimediale Karriere einer Hörfunkfigur Annemarie Weber
Abstract Funkheinzelmann was one of the most outstanding characters of the early German radio broadcast system. The name was coined in 1924 by Hans Bodenstedt, the leading personality of the Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg at the time. Bodenstedt also developed the character of Funkheinzelmann and the radio format that hosted it as a special radio program for children. As the name indicates, Funkheinzelmann was a Heinzelmann, one of the invisible fairy tale night workers, and, at the same time, a person from the radio broadcast – Funk. The stories told on Sundays by Funkheinzelmann-Bodenstedt combined classic narrative elements with the content and figures of the modern world. Funkheinzelmann became one of the most popular figures of the time and expanded from the radio to print media. It also attained a considerable amount of success in Revue-shows of the greatest German theatre of the time, Großes Schauspielhaus Berlin. Anchored in the brandmarketing and seriality theories (especially related to popular culture), this article investigates the rise and fall of Funkheinzelmann as an early model illustrating the complex dynamics of the media convergence phenomenon.
Vorbemerkungen Funkheinzelmann war eine für die Kindersendungen im jungen deutschen Rundfunk 1924 erfundene Figur und zählte bald zu den populärsten Helden der deutschen Populärkultur. Mit Old Shatterhand und Felix the Cat eroberte Funkheinzelmann das
A. Weber (*) Bielefeld, Deutschland [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_8
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Abb. 1 Timeline des Medienverbundes Funkheinzelmann
Berliner Revuetheater und wurde zur Titelgestalt einer Kinderzeitschrift. Die mit und für Funkheinzelmann ersonnenen Märchen wurden auf Schallplatten gepresst und in Büchern veröffentlicht, Funkheinzelmann wurde zur Identifikationsfigur von jugendlichen Peergroups und zur Werbemarke des deutschen Rundfunks. Nach rund vier Jahren erlosch die Produktivität der Figur, die heute vergessen ist. Der multimediale Prozess, der Funkheinzelmann zu einem großen Medienverbund (Abb. 1) anwachsen ließ,1 kann in seiner auf- und absteigenden Dynamik, seinem Werden und Vergehen mit dem Konzept der Serialität beschrieben werden, wie es z. B. die Autor/innen des von Frank Kelleter (2012b) herausgegebenen Sammelbandes für die Populärkultur variantenreich modelliert haben. Die Serialität, aus der sich die Popularität des Funkheinzelmann speiste und vermehrte, fand in kommerziellen und halbkommerziellen Kontexten statt, die sich eine gewisse Zeit lang gegenseitig dynamisierten, wobei die „narrative Wucherung“ (Kelleter 2012a, 31) der Figur hauptsächlich auf dem freien Markt unter den hier herrschenden Wettbewerbsbedingungen stattfand. Es liegt deshalb auf der Hand, zur Beschreibung der seriellen Proliferation des Stoffes Funkheinzelmann auch die Erkenntnisse des Marken-Marketings und der Werbekommunikation zu nutzen.
1Die
Datenbank des DFG-Projekts Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 (http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de) verzeichnet weit über 900 Datensätze zum Stoff Funkheinzelmann, davon an die 700 Hörfunkbeiträge.
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Die Wirkungsmechanismen der Werbung waren Anfang des 20. Jahrhunderts in groben Zügen bekannt. 1924 konnte der damals bedeutendste deutsche Werbepsychologe Theodor König bereits zahlreiche einschlägige experimentelle Studien zusammenfassen (vgl. König 1924), die eine ausgeprägte Professionalisierung der amerikanischen, aber auch schon der deutschen Werbewirtschaft bezeugen. Der Aufbau einer Marke, die Positionierung eines Produkts im Markt, die Kundenbindung waren Strategien, die von den erfolgreichen Akteuren des Medienmarktes beherrscht und zum Teil virtuos genutzt wurden.
Die Radiofigur Funkheinzelmann – Aufbau einer Marke Bereits am 4. Mai 1924, zwei Tage nachdem die Nordische Rundfunk AG (Norag) in Hamburg erstmals auf Sendung gegangen war, findet sich der Funkheinzelmann der Norag im Programm. Sowohl der Name (ab Juni ohne den Zusatz „der Norag“) als auch der Sendeplatz werden später unverändert beibehalten, was auf eine langfristig angelegte Planung schließen lässt. In den ersten beiden Monaten wird die Sendung mit wechselnden Autoren und Sprecherinnen gestaltet, die Inhalte lassen noch kein einheitliches Konzept erkennen. Es werden meist ohne Bezug zu einer Figur oder einem Erzähler namens Funkheinzelmann Lieder und Märchen vorgetragen, aus der bekannten Märchenliteratur, aber offenbar auch eigens für den Rundfunk geschriebene Texte, etwa von Alice Fliegel, der Ehefrau und Mitarbeiterin Hans Bodenstedts. Ab 6. Juli 1924 erscheint Hans Bodenstedt als Autor der FunkheinzelmannGeschichten. Funkheinzelmann wird als fiktionaler Erzähler eingeführt, der die Geschichten, die er vorträgt, auch selbst erlebt. Bodenstedt war einer der beiden Direktoren der Norag-Sendegesellschaft, außerdem der künstlerische und wissenschaftliche Leiter des Programms, zudem einer der beiden Herausgeber der Programmzeitschrift des Senders, Die Norag. Funkheinzelmann stand demnach von Anbeginn das größtmögliche Kapital zur Verfügung: alle technischen und programmgestalterischen Möglichkeiten wie auch das symbolische Kapital seines Erfinders. Nach nur zwei Monaten war die Marke Funkheinzelmann gefunden und in ihrer Persönlichkeit bereits konturiert: Funkheinzelmann war gleichzeitig eine Sendung für Kinder, ein Erzähler und eine Märchenfigur. Zu jenem Zeitpunkt veröffentlichte die Programmzeitschrift der Norag bereits die erste Fanpost an den Funkheinzelmann (vgl. Ein Lob dem Funkheinzelmann 1924).2 Nach der identitätsbasierten Markentheorie von Burmann/Meffert (2005) sind wesentliche Attribute einer starken Marke: Individualität, Konsistenz, Kontinuität und die sogenannte Wechselseitigkeit, womit verkürzt das Image einer Marke benannt werden kann. Funkheinzelmann bekam durch seinen Erzähler und Autor
2Weitere Briefe wurden veröffentlicht in den Nummern 14 (An den Funkheinzelmann 1924) und 16 (Funkheinzelmann 1924).
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Hans Bodenstedt und dessen leitende Position im Sender die unverwechselbare Individualität, die durch Hörerbriefe und Umfrageergebnisse3 mit einem entsprechenden Image verstärkt wurde und eine gewisse Konsistenz gewährleistete. Der feste Sendeplatz, die relative Regelmäßigkeit der Sendetermine und nicht zuletzt die Serialität des Programms und des Hörerfeedbacks sicherten ihm die nötige Kontinuität. Die Wechselseitigkeit der Marke (ihr Image) wurde vom Sender gezielt modelliert. Im April 1925 richtete sich die Norag mit einem Preisausschreiben an ihr jugendliches Publikum und bat um Zeichnungen zur FunkheinzelmannSendung. Der Erfolg war selbst für den Sender überraschend groß. Viel Post (mit Zeichnungen, aber auch Fanfiction) lief aus dem ganzen Empfangsgebiet ein (vgl. St. 1925b). Zum ersten Geburtstag der Norag am 2. Mai 1925 waren unzählige Fanartikel, kunstvolle Bastelarbeiten – von Decken und Anzügen bis zu Körbchen und Flugzeugen – dem Sender zugeschickt worden (vgl. St. 1925c, 1264). Die identitätsbasierte Markenführung unterscheidet zwischen Inhalten, die Marken generieren (Brand Generated Content), und solchen, die von Nutzern geschaffen werden (User Generated Content) (vgl. Burmann/Halaszovich/Schade/Piehler 2018, 222). Die Norag verstand es, im Rahmen der damaligen zu heute relativ beschränkten Möglichkeiten beide Formen im Sinne einer konsistenten Markenkommunikation zu nutzen. Das Sendeformat Funkheinzelmann wurde als Mischgattung aus Märchen, Umweltgeschichte, aus Prosa, Lyrik und Dramatik, aus gesprochenem Text mit Geräuschkulisse und musikalischer Untermalung entwickelt. Die Sendungen waren – soweit man das aus den Programmangaben und den erhaltenen Plattenaufnahmen schließen kann (Sendeaufnahmen haben sich keine erhalten) – wie Bühnendarbietungen durchkomponiert; das Format nutzte alle sinnlichen und emotionalen Möglichkeiten des Mediums. Wie Bodenstedt in einem Aufsatz über die Methoden der musikalischen Illustration und der Lautmalerei im Rundfunk 1925 berichtet, hatte er die Kindersendung auch als Experimentierlabor für das Abendprogramm genutzt. Die Erfahrungen mit Funkheinzelmann seien u. a. den Inszenierungen von Goethes Faust und Ibsens Peer Gynt zu Gute gekommen (vgl. Bodenstedt 1925a; Wochenvorschau der Norag 1925). Funkheinzelmann, der Abenteurer und Improvisator, wurde auch zur Symbolfigur des noch in den Kinderschuhen steckenden, aber sich rasch und experimentell entwickelnden neuen Mediums Hörfunk. Die Wirkung der Figur beschränkte sich durchaus nicht auf ein kindliches Publikum; sie belebte ebenso die Fantasie einer erwachsenen Hörerschaft und faszinierte offenbar auch die Rundfunk-Mitarbeiter. Ein Norag-Autor thematisiert in einer Glosse sein Lampen3Am
10. April 1925 veröffentlichte die Norag Zwischenergebnisse einer Umfrage zu ihrer Programmgestaltung. Nach Auswertung der ersten tausend Zusendungen fiel die Bilanz positiv aus, wobei der Funkheinzelmann „fast in keiner Zuschrift unerwähnt geblieben ist. – Nicht nur den Kleinsten und Kleinen, auch den im praktischen Leben Stehenden hat er ‚mehr Entspannung von der Wochenarbeit gebracht als alle Tanzturnierkapellen!‘ – wie ein Hörer aus Hannover schreibt.“ (Unsere Vertrauensfrage an die Hörer 1925, 1 f.).
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Abb. 2 Hans Bodenstedt und seine Märchenfiguren. Oben, dicht am Mikrofon Funkheinzelmann, aus: Die Funk-Stunde (1926) 11, 253. (© bpk/Staatsbibliothek zu Berlin/Dietmar Katz)
fieber vor dem Mikrofon und zitiert darin mit einem aufmunternden Zuspruch „Direktor Bodenstedt, de[n] Funkheinzelmann“ (Müller-Förster 1925). Ein Heinz Funkemal richtet eine launig in Gedichtform adressierte Bitte an den Funkheinzelmann, er möge ihn doch kostengünstig nach Wien oder London „per Radio versenden“ (A. M. F. 1925). Ein Wellenmann (vermutlich ein Insider des Senders) beklagt sich bei Funkheinzelmann über die Gnomen und Elfen, die im Senderaum Schabernack treiben (vgl. Lieber Funkheinzelmann! 1925). Diese Art von Fanfiction thematisiert die Märchengestalt in den Zusammenhängen der erwachsenen Welt, wobei sie auch hier wie in der Märchenfiktion zur Lösung von Problemen – Lampenfieber, Geldnot, Störanfälligkeit des Senders – oder zur Projektion von Träumen und Wünschen genutzt wird. Funkheinzelmann war zunächst ein Medienprodukt des Rundfunks, das von dessen technischen Dispositiven (Aufnahmetechnik, Sender, Empfangsgeräte), dessen institutionellen Rahmungen (wöchentliche Sendezeit, staatlich sub-
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ventionierte und kontrollierte Produktionsbedingungen), dessen Kommunikationsinstrumenten (gesprochene Sprache, Musik, Geräusche) und schließlich von den gesendeten Inhalten selbst geformt worden war (Modellierung gemäß Schmidt 2000, 94 f.). Der Radio-Funkheinzelmann wurde in periodisch gesendeten Geschichten seriell entwickelt. Was die Serie zusammenhielt, waren die innovative Figur des nicht sichtbaren, nur hörbaren Erzählers und die reale Persönlichkeit Hans Bodenstedt (Abb. 2), die sie im Rundfunk sprach und ihre Geschichten interpretierte.
Event-Marketing Die führenden Köpfe der Norag, allen voran Hans Bodenstedt, begannen früh, den Rundfunk unters Volk zu bringen, emotionale Bindungen zur Hörerschaft aufzubauen, sei es durch Life-Schaltungen von Open-Air-Veranstaltungen oder von Abenteuerreisen mit ausgesuchter Fangemeinde und Presse an ungewöhnliche Orte (auf den Brocken im Harz, den Meeresgrund vor Helgoland), sei es durch die Inszenierung von großen Hörerfesten – Events im heutigen Sprachgebrauch. In der identitätsbasierten Markentheorie ist die Event-Kommunikation ein wichtiger Faktor zur Emotionalisierung der Marke und zur Erhöhung ihres symbolischen Nutzens: Das „Erleben der Markenwerte und Markenpersönlichkeit bei einem Event“ bewirke „eine starke Identifikation der Nachfrager mit der Marke“, gleichzeitig „erfolgt ein Imagetransfer vom Event auf die Marke.“ (Burmann/Nitschke 2005, 394). Das erste in ihrer Programmzeitschrift dokumentierte Hörerfest der Norag – ein Open-Air-Event – fand am 27. Juni 1925 im Hamburger Zoo statt. Die Zahl der Teilnehmer wurde auf rund 60.000 geschätzt (vgl. Siegeslauf des „Funkheinzelmann“ 1925). Dabei trat auch der Funkheinzelmann in der Rolle der Losfee auf. Von einem Schauspieler in entsprechendem Kostüm dargestellt, wurde aus der Stimme Funkheinzelmann eine gegenständliche Figur (vgl. St. 1925d). Im Hamburger Zoo vollzog Funkheinzelmann demnach einen entscheidenden Medienwechsel: Die Rundfunkfigur wechselte aus dem Hörfunk in das Medium der theatralischen Darstellung. Aus marktstrategischer Sicht hatte die Norag damit eine Markenexpansion vorgenommen, die Erweiterung ihrer Marke Funkheinzelmann um ein weiteres Produkt. Burmann/Meffert (2005, 83 f.) beschreiben vier Varianten von Markenexpansionsstrategien: die geografische Expansion, die Markenerweiterung, die Markenausdehnung (Line Extension) und den Markentransfer (Category Extension). Letzteres bezeichnet die Expansion in neue, nicht verwandte Produktkategorien. Der Erfolg des Hörerfestes in Hamburg führte zu seiner Wiederholung bereits am 1. August in Harburg. In der Vorankündigung nimmt der Funkheinzelmann einen zentralen Platz ein, es werden Programmdetails zu seinem Auftritt mitgeteilt – ein regionalspezifisches „Heide- und Haake“-Funkheinzelmann-Märchen soll aufgeführt werden, dargestellt „von allen Noragkünstlern“ (Die Norag geht nach Harburg 1925; Noragfest in Harburg 1925). In einer späteren Ausgabe der Programmzeitschrift wird der Programmpunkt mit Funkheinzelmann dann als
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„Heide- und Haake-Pantomime von Hans Bodenstedt“ (Die Norag in der Goldenen Wiege 1925) vermerkt – ohne Übertragung im Rundfunk naturgemäß. Aus der knappen Programmangabe kann geschlossen werden, dass es sich entweder um eine völlig stumme Darbietung handelte oder um eine eher körperbetonte, dem Live-Publikum zugewandte Darstellung, ungeeignet zur Sprachaufnahme. Anlässlich des Harburger Festes 1925 wird in der Hamburger Programmzeitschrift von einer „Gemeinde“ der Norag-Hörer berichtet, die das erste Volksfest in Hamburg angeblich im „Streben auf Vertiefung und Veredelung des Lebens“ zusammengeschweißt habe. Die erwarteten Norag-Künstler werden als „unsere beliebten Freunde“ angekündigt, an erster Stelle steht der Funkheinzelmann, der „seinem Freundeskreis“ Märchen erzählen werde, Direktor Bodenstedt habe zugesichert, „mit all den Seinen“ nach Harburg zu kommen, wo sie eine „sehr große Anhängerschaft“ erwarte (Noragfest in Harburg 1925). Mit der Ausdehnung des Hörfunks in den Eventbereich erweiterte und stärkte die Norag ihre Fangemeinde und intensivierte gleichzeitig die Emotionalisierung der Marke Funkheinzelmann.
Geografische Expansion und Programmdiversifikation Die geografische Ausdehnung des Produktes Funkheinzelmann-Sendung beginnt mit der Übernahme des Formats bzw. der Inhalte seitens der Westdeutschen Funkstunde AG (Wefag) in Münster. Unter dem Programmtitel Der Hamburger Funkheinzelmann erzählt werden vom 21. Dezember 1924 bis 26. Juli 1925 gemäß Programmpresse insgesamt elf Sendungen ausgestrahlt, wobei die meisten der Schauspieler Heinz Halban spricht. Später nehmen die Wefag-Regionalstudios in Elberfeld4 und Dortmund5 Funkheinzelmann-Sendungen in ihr Programm auf. Elberfeld baute den Regisseur und Sprecher Carl Weinlein als Funkheinzelmann auf, der Dortmunder erscheint nicht namentlich, es war laut Programmpresse Hermann Probst (W. V. 1926). Eine weitere geografische Expansion der Marke Funkheinzelmann wird in den Monaten August und September 1925 geplant und durch ein entsprechendes Marketing vorbereitet. Es handelt sich um die Expansion auf den größten und bedeutendsten deutschen Medienmarkt: Berlin. Pünktlich zum Auftakt einer Serie von Funkheinzelmann-Sendungen in der Berliner Funk-Stunde, dem Sender mit dem damals reichsweit größten Radiopublikum,6 druckt die Programmzeitschrift
4Vom 30. September 1925 bis zur Abschaltung des Senders Ende 1926 konnten in der Programmpresse 51 Sendungen nachgewiesen werden. 5Zwischen dem 6. Dezember 1925 und dem 7. Juli 1927 konnten 56 Sendungen in der Programmpresse nachgewiesen werden. 6Am 1. Oktober 1925 waren im Sendegebiet Berlin 375.481 Rundfunkteilnehmer gemeldet (vgl. die Übersicht über die Zahl der Rundfunkteilnehmer nach dem Stand am 1. Oktober 1925).
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des Berliner Senders ein kunstvoll komponiertes Atelierfoto ab, das Bodenstedt als jovialen Herrn mit Rundglasbrille zusammen mit einer Funkheinzelmann-Puppe zeigt (vgl. Die Funk-Stunde 1925, 40, 803) – weitere ähnliche Fotos werden in den folgenden Ausgaben abgedruckt. Hinzu kommt eine ganzseitige Vorstellung in Text und Bildern des Berliner Märchenbrunnens in Friedrichshain, einer weiträumigen Brunnenanlage mit Skulpturen der bekannten Grimmschen Märchenfiguren, der Bodenstedt in seiner ersten Berliner Sendung Reverenz erweist: Funkheinzelmann unternimmt laut Programmtext eine „Mondfahrt“ zum Märchenbrunnen. Der Hamburger Direktor und bereits im gesamten Deutschen Reich berühmte Funkheinzelmann-Autor sollte in der Reichshauptstadt die Sendungen persönlich gestalten und sprechen und wird vom Berliner Sender mit dem entsprechenden Werbeaufwand präsentiert. Nach Elfert (1985) hat Bodenstedt vom 4. Oktober 1925 bis zum 27. März 1927 allsonntäglich persönlich den Funkheinzelmann im Berliner Sender gesprochen. Diese Annahme konnte ich nicht verifizieren, einige Indizien sprechen aber dafür. Ab 6. Dezember 1925 liefen die Funkheinzelmann-Sendungen am Hamburger und am Berliner Sender gleichzeitig (jeweils Sonntag, ab 15.30 Uhr). In Hamburg fehlt eine genaue Programmangabe, sodass man auf eine Übernahme von einem auf den anderen Sender schließen könnte. Ab Januar 1926 gibt es auch für Hamburg Programmangaben, und sie unterscheiden sich von den Berlinern. Wenn Bodenstedt die Berliner Sendung sprach, konnte er nicht gleichzeitig die unterschiedliche Hamburger Sendung sprechen. Wurden Tonaufzeichnungen genutzt? Bereits im August 1925 war in den USA ein elektromagnetisches Aufnahmeverfahren für die Schallplattenindustrie entwickelt worden. Damit konnten qualitativ hochwertige Aufnahmen auf Platten mit bis zu 40 min Spieldauer kostengünstig hergestellt werden. Die Phonographische Zeitschrift in Berlin berichtet darüber sofort, wenn auch noch skeptisch (vgl. Eisler 1925). Das amerikanische Konsortium bewarb seine Technik offensiv in Deutschland und versuchte über besondere Werbemaßnahmen ausdrücklich auch die Rundfunkverantwortlichen dafür zu interessieren (vgl. K. W. 1926). Anfang 1928 experimentierte der Südwestdeutsche Rundfunk (SWR) mit dem Tri-Ergon-Verfahren (Tonaufnahmen auf Film) und erzielte laut zeitgenössischen Berichten damit Aufzeichnungen von außerordentlicher Qualität (vgl. dr. H. B. 1928; Bagier 1928). Nicht nur in Frankfurt, auch in Stuttgart und Hamburg wurde damit gearbeitet (vgl. Mühl-Benninghaus 1999, 69). Möglich, aber nicht belegbar ist, dass Funkheinzelmann-Sendungen auf diese Weise aufgezeichnet wurden und zirkulierten. Denkbar ist auch die frühe Verwendung von Wachsplatten oder die elektromagnetische Speicherung auf Tonband. Auch diese beiden Verfahren waren bereits früh bekannt. Ab 1927 ließ sie die RRG auf ihre Praxistauglichkeit testen (vgl. Führer 1997). Die Funkheinzelmann-Sendungen der Norag und der Funk-Stunde wurden mit Beginn des Jahres 1926 zunehmend auch von anderen Sendern mit übertragen. Im März 1926 schätzte die Norag den ständigen Funkheinzelmann-Hörerkreis bereits auf rund 750.000 Familien (vgl. Übersicht über die Tätigkeit der
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Nordischen Rundfunk Aktiengesellschaft 08.03.1926). Vermutlich überschätzte sie ihn,7 was indes die gefühlte Popularität des Formats innerhalb der Norag belegt.8 In Berlin profitierte Funkheinzelmann zudem von einer indirekten vergleichenden Werbung mit der sogenannten Funkprinzessin der Berliner Funk-Stunde, die in der kritischen Presse mit dem Hinweis auf das angeblich bessere Hamburger Vorbild abgewertet worden war.9 Die Funkprinzessin war darauf beschränkt zu rezitieren, ohne Musik und Klangkulisse, was die Interpretin Adele Proesler der Geringschätzung des Formats seitens der Direktion anlastete (vgl. Proesler 1925). Nach nur sieben Monaten wurde die Funkprinzessin durch wechselnde Sprecher einer profillosen Märchenstunde ersetzt. Die meisten Sender investierten weniger in ihre Kindersendungen als die Norag. Einzig die Sürag in Stuttgart versuchte mit ihrem Gretle aus Strümpfelbach eine eigene, allerdings regional eingeschränkte Erzählerfigur zu etablieren.10 Die wechselseitigen Programmübernahmen der Sender bekamen Mitte 1926 einen institutionellen Rahmen durch den Programmrat der Reichs-RundfunkGesellschaft (RRG), den Friedrich Georg Knöpfke, Direktor der Funk-Stunde Berlin, und Hans Bodenstedt leiteten. Keine Frage, dass ihre Erfahrungen in der Koordination u. a. der Funkheinzelmann-Übertragungen und ihr Erfolg damit sie nicht nur in ihrer weiteren Zusammenarbeit bestärkte, sondern auch den nötigen Vertrauensvorschuss bei den anderen Sendern für größere Projekte sicherte. Funkheinzelmann war neben den populären Sportübertragungen11 gewissermaßen ein Pilotprojekt für die umfassende Vernetzung der deutschen Sender.
7Anfang 1926 waren in ganz Deutschland 1.022.299 Rundfunkteilnehmer gemeldet (vgl. Braun 1968, 81). 8Als ein Beispiel dafür, wie „volkstümlich“ (St. 1925a) die Sendung sei, führt der Berichterstatter der Norag im Deutschen Rundfunk die Tatsache an, dass Schüler der Bremer Domschule als Aufsatzübung Briefe an den Funkheinzelmann schreiben. 9„Die ‚Funkprinzessin‘ ist eine sehr unnatürliche Tochter des Hamburger Funkheinzelmanns, und kein Denkender vermag zu erraten, warum die Märchenerzählerin ‚gefürstet‘ wurde“ (J. L. 1924). Als Mitte 1925 die Sprecherin der Funkprinzessin Adele Proesler den Sender verlassen musste und das Format eingestellt wurde, gab es noch einmal Kritik an der „süßlichen und kitschigen Spitzmarke“ (J. L. 1925). In der Programmzeitschrift Der Deutsche Rundfunk wurde Proesler hingegen stets in den höchsten Tönen gelobt (vgl. Berliner Bericht 1925a, b). 10Nach Elfert (1985, 229, FN 25) verbarg sich hinter der Kunstfigur die Schriftstellerin und Sürag-Mitarbeiterin Sophie Tschorn, die 1927 auch das die Sendung flankierende Kindermagazin Hallo! Gretle von Strümpfelbach erzählt herausgab, das allerdings nach nur 19 Ausgaben eingestellt wurde. 11Am 27. Juni 1926 übertrug die Norag ein Pferderennen von der Hamburger Rennbahn. Zwölf weitere deutsche Sender waren live zugeschaltet. Die Übertragung wurde in der Berliner Programmpresse als technisch einwandfreies, unterhaltsames Event gefeiert (vgl. Egl. 1926).
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Markenausdehnungen Um Pfingsten 1925 wird der Sonntagstermin von Funkheinzelmann mit einer kleinen Mittwochserie ergänzt: Die Blumenmärchen vom Funkheinzelmann – vier Folgen, nur von der und für die Norag gesendet. Von Januar bis März 1926 wird am Sonntag die achtteilige Serie Goldhärchen und Funkheinzelmann von der Funk-Stunde und der Norag ausgestrahlt; am selben Tag, zur selben Uhrzeit, aber nicht dieselbe Folge wird (laut Programmankündigung) in Berlin und in Hamburg gesendet. Im Oktober folgt die von der biblischen Schöpfungsgeschichte inspirierte Miniserie Funkheinzelmanns Schöpfungsgeschichte – derselbe Tag, dieselbe Uhrzeit und dasselbe Programm in Hamburg und in Berlin (sechs Folgen bis 7. November 1926). Wurde sie in Hamburg oder in Berlin produziert? Am Mittwoch, 13. Januar 1926, wird in Hamburg – mit Übertragung auch auf den SWR und die Mirag – ein neues Format eingeführt: Funkheinzelmanns Kindertheater. Funkheinzelmann wird nun nicht mehr nur erzählt, sondern mit verteilten Rollen als Hörspiel aufgeführt. Bis zu 15 Sprecher pro Sendung sind im Einsatz. Gesprochener und gesungener Text wechseln einander ab, Komponist der Lieder ist Carl Krüger. Die sieben Bilder der Serie finden sich mit nahezu identischen Titeln als sieben Märchen im Textbuch des Rufu-Verlags (vgl. Bodenstedt/Krüger 1926) wieder. Es handelt sich vermutlich um die erste Hörfunkadaption einer Vorlage, die bereits Ende 1925 für Bühnendarbietungen im Gespräch war (vgl. rb. 1925). Nach vier Folgen wird das Format Funkheinzelmanns Kindertheater mit anderen Inhalten fortgesetzt (Stücke von Görner, Pocci, insgesamt 38 Folgen). Anfang 1928 startete Bodenstedt in Berlin eine neue Hörfunk-Serie, die diesmal auch thematisch an Berlin und den Diskurs der Zeit12 gebunden war. Funkheinzelmanns Großstadtmärchen (insgesamt 14 Sendungen) widmen sich – wie aus den spärlichen Programmangaben vorsichtig geschlossen werden kann – der Infrastruktur einer modernen Großstadt: dem Straßenbahnverkehr, der Elektrizität, der Beleuchtung.13 Im Juli wird aus aktuellem Anlass eine Ozeanüberquerung thematisiert. Es war die Zeit großer Schiffsbauten auf den Werften von Hamburg und Bremen.14 Auch die Großstadtmärchen werden mal von Hamburg, mal von Berlin aus gesendet und meist auch von anderen Sendern übernommen.
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waren Fritz Langs Metropolis und Walther Ruttmanns Berlin, die Symphonie der Großstadt erschienen, zwei Filme, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema der Großstadt auseinandersetzten und medial verschiedentlich reflektiert wurden. Bilder aus Metropolis waren ohne Nennung des Films auch in der Zeitschrift Funkheinzelmann verwendet worden (vgl. Weber 2017). 13Die moderne Beleuchtungstechnik war ein großes Thema der Zeit. Im Oktober 1928 wurde in Berlin ein Lichtfest veranstaltet, das alle technischen Möglichkeiten der modernen Beleuchtungsindustrie drei Nächte lang in den Geschäftsstraßen Berlins zum Erlebnis machen sollte (vgl. Dominik 1928). 14Wenige Wochen später wird Bodenstedt mit seinem Team aufsehenerregende Reportagen vom Stapellauf der Europa bzw. Bremen senden, zwei der größten Passagierdampfer jener Zeit. Die Sendungen werden von der Werag, der Sürag (Stuttgart und Freiburg) und der Ostmarken Rundfunk A. G. (Orag) übernommen (vgl. Aktuelle Hamburger Woche 1928).
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Weitere Ausdehnungen der Marke Funkheinzelmann sind nicht mehr direkt an den Namen Hans Bodenstedt gebunden, wie Funkheinzelmanns Mädchenstunde (12 Folgen von September bis November 1926). Kernstück der mit Liedern und Instrumentalstücken gerahmten Sendung ist die Erzählung Die Zwillinge der Försterin von Alice Fliegel (1926), die zuvor in elf Folgen der Zeitschrift Funkheinzelmann erschienen war und in fünf Sendefolgen von der Autorin selbst vorgelesen wird. Funkheinzelmanns literarische Jugendstunde stellt mit einem Lebensbild und einer Textauswahl einzelne Schriftsteller vor. Der Sendetermin am Samstagnachmittag und die musikalische Rahmung deuten auf einen gewissen Bildungsanspruch (acht Sendetermine von Oktober 1926 bis Februar 1927). Ab Oktober 1927 werden unter dem Titel Funkheinzelmanns Märchenstunde Märchen unterschiedlicher Autoren (nicht von Bodenstedt) im Hörspielformat oder als Lesung gesendet. Hans Freundt führt bei den meisten Sendungen Regie. Die neuen Formate entfernen sich von der Stammsendung (Märchen von und mit Bodenstedt) und zielen auf teils andere Zielgruppen. Doch diese Ausweitungen können die Marke nicht verwässern, denn ihr Träger und Endorser Bodenstedt ist weiterhin mit eigenen Formaten im Rundfunk präsent.
Die Schallplatte Zwischen 1927 und 1930 brachte das Plattenlabel Homocord insgesamt sieben Funkheinzelmann-Platten auf den Markt. In der Vorweihnachtszeit 1929 steht zum ersten Mal eine dieser Plattenaufnahmen ausdrücklich im Rundfunkprogramm (am 13. Dezember Ein Weihnachtstraum in der Berliner Funk-Stunde). Bei der Vielzahl der Funkheinzelmann-Sendungen, von denen es keine detaillierten Programmanngaben gibt, ist indes nicht auszuschließen, dass die Aufnahmen von den Sendern auch unangekündigt genutzt wurden. Pigorsch (2001) nimmt an, dass die ästhetisch relativ aufwändig gestalteten Platten eigens produziert wurden und nicht Verwertungsprodukte der Sendungen waren. Das eine schloss jedoch das andere nicht aus. Homocord ermöglichte eine mediale Expansion der Hörfunkgeschichten, was nicht mit einer Zweitverwertung (dieselben Inhalte in anderer medialen Form) zu verwechseln ist. Nicht die Sendung, sondern ihre Serialität wurde im Medium Schallplatte reproduziert: Funkheinzelmann, Ticketick, Gnome, Feen, Nixen, Rübezahl, das Christkind – die Figuren, von denen die drei- bis vierminütigen Geschichten erzählen, bevölkerten auch die Sendungen, sie entstammen zum größten Teil der populären Märchenkultur und wurden von Bodenstedt als narrative Versatzstücke immer neu variiert und iteriert. Funkheinzelmann und Co. waren typische serielle Figuren (vgl. Denson/Mayer 2012), die Geschichten am laufenden Band produzieren konnten, wobei keine besonders originell sein musste oder durfte. Um als Serie zu funktionieren, mussten die Geschichten vielmehr ihr eigenes Muster in wechselnden Inszenierungen reproduzieren. Wesentliche Bestandteile des
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Hör-Funkheinzelmann waren außer der Narration auch die Stimme (und Persönlichkeit) Bodenstedts mit ihrer Musikalität und ihrem spezifischen Singsang, die Alternanz von rhythmischem Sprechen, Musik und Toneffekten, der spielerische, humorvolle Mix von traditionellen Motiven und ihrer modernen Interpretation, die Spannung zwischen alten Märchenmotiven und neuer Technik.
Die Revue Parallel zur Hörfigur expandierte in Berlin auch die Bühnenfigur Funkheinzelmann. Zusammen mit einem der erfolgreichsten Unterhaltungsregisseure der Zeit, Erik Charell,15 entwickelte Hans Bodenstedt im Herbst 1925 am damals größten Theater der Hauptstadt (und Deutschlands), dem Großen Schauspielhaus,16 eine sogenannte Revue. Das Genre der Revue mit seinen lose aneinandergereihten Nummern war in den 1920er-Jahren in der damaligen Vier-Millionenstadt Berlin äußerst populär – die opulenten Inszenierungen zogen bis zu 11.000 Zuschauer täglich an (vgl. Lethen 1986). Die Funkheinzelmann-Revue von Charell und Bodenstedt wird mit dem besten Event-Termin des Jahres verknüpft: Weihnachten. Funkheinzelmanns Weihnachtsmarkt wird für insgesamt 15 Vorstellungen (vom 14. November bis 30. Dezember) angekündigt. Die offizielle Programmzeitschrift der Funk-Stunde wirbt mit ganz- und halbseitigen, teils bebilderten Anzeigen für die Vorstellungen. Die Verbindung zum Berliner Hörfunk war durch einen starken Endorser gesichert: Alfred Braun. Der wohl beliebteste Sprecher, darüber hinaus Hauptregisseur und Leiter der Hörspielabteilung sowie Initiator und Leiter der sogenannten Jugend-Bühne des Senders, einer Hörspielreihe für ein junges Publikum, spielte den Weihnachtsmann in der Revue. In den Werbeanzeigen steht sein Name fett in einem Rahmen hervorgehoben mit dem Vermerk: „Unter persönlicher Mitwirkung von Alfred Braun“ (vgl. Ich, der Funkheinzelmann 1925). Die Revue war in sechs Bilder gegliedert, die eine abwechslungsreiche Abfolge von unterschiedlichen Themen und Schauplätzen ermöglichten. Die Überschriften sprechen für sich: Heiligabend, Funkheinzelmann, Im Theater, Im Kino, Im Circus, Unterm Christbaum (vgl. ebd.). Damit sind einige der für Kinder und ihre erwachsenen Begleiter attraktivsten Orte und Themen der Zeit benannt. Das Kino gehörte dazu. Bereits am 20. November, nach nur zwei Vorstellungen, zieht die Norag eine erste Bilanz über „Funkheinzelmanns Siegeslauf“ (rb. 1925) in Berlin.17 Sie
15Zu
Charell und den Berliner Revuetheatern vgl. Jansen/Laade 1987. Großen Schauspielhaus Berlin vgl. z. B. Dömeland 2004; Hostetter 2003; Buzwan 2013, 175–190. 17Der Erfolgsbericht wird nachgedruckt vom Deutschen Rundfunk (vgl. Siegeslauf des „Funkheinzelmann“ 1925). 16Zum
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Abb. 3 Titelblatt des Kindermagazins Funkheinzelmann: Es bewirbt die FunkheinzelmannRevue im Berliner Großen Schauspielhaus. (© bpk/Staatsbibliothek zu Berlin/Dietmar Katz)
berichtet von ausverkauften Vorstellungen und zitiert die Berliner Presse, die vom „jauchzenden“ kleinen Publikum geschwärmt und sich sogar zu der Behauptung aufgeschwungen hatte, Funkheinzelmann sei bei den Kindern heute so bekannt wie früher Rübezahl oder das Rumpelstilzchen.18 Doch wird gleichzeitig auch die Modernität der Figur betont. Funkheinzelmann sei „mit allen Eigenschaften aus[gestattet], die das Kind unserer Zeit von einem Wesen verlangt, das ihm den Alltag märchenhaft verklären will“, und es darüber hinaus befähige, „das Tempo der Dinge zu meistern“. Funkheinzelmann mache „die technischen Errungenschaften des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts märchenreif“: „Telephon und Eisenbahn, Luftschiff und Dampfkran wanderten
18Unerwähnt
bleiben kritische Rezensionen. Die Vossische Zeitung schrieb distanziert: „Eine Parodie auf die Parodie einer Revue. Kinder wollen jauchzen, der den klugen Erwachsenen nachgeahmte Beifall allein ist kein Jauchzen“ (erle 18.11.1925).
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in die fantastische Welt und füllten sie mit neuem Leben“ (Siegeslauf des „Funkheinzelmann“ 1925). Tempo, ein Modewort der Zeit, und Technik werden hier hervorgehoben als für das Kind der 1920er-Jahre notwendige und wichtige Zugangsformen zur modernen Welt. Der Kassenerfolg am Berliner Schauspielhaus führte unweigerlich zu einer weiteren Expansion – einer geografischen – des Produkts Bühnendarbietung. Etliche Provinztheater wollten das Stück in eigenen Inszenierungen und Adaptionen auf die Bühne bringen (in Bremerhaven war das Weihnachtsspiel als Osterspiel geplant). Charells Revue, eigens für das Berliner Große Schauspielhaus geschrieben, war auf die Provinzbühnen nicht exportierbar, indes deren Vorlage: Das „eigentliche von Hans Bodenstedt dramatisierte Märchen vom Funkheinzelmann, zu dem Carl Krüger die Musik geschrieben hat“ (rb. 1925), war von den städtischen Theatern in Stettin, Altona und Bremerhaven erworben worden, wie die Norag berichtet. Der Rufu-Verlag veröffentlichte das Textbuch (Bodenstedt/Krüger 1926) als billiges Heftchen, vermutlich noch vor Mitte des Jahres 1926 – es enthält auch eine Werbung samt Bestellschein für die Funkheinzelmann-Zeitschrift 1926.19 Und selbstverständlich wurde die Dramatisierung auch im Radio verwertet. Als Mittwochserie (Funkheinzelmanns Kindertheater) gingen die Bilder des Märchenspiels ab 13. Januar 1926 in der Norag auf Sendung. Revue, Textbuch und Hörspiel – in wenigen Monaten hatte die Marke Funkheinzelmann eine dreifache Brand Extension erfahren. Die Revue von Charell und Bodenstedt wird ein Jahr später in Berlin unter dem Titel Funkheinzelmanns Märchenreise neu inszeniert. Den Funkheinzelmann verkörpert diesmal die Schauspielerin Alexa Porembski.20 Als Hauptdarsteller angekündigt wird aber auch diesmal Alfred Braun, der als Zauberer Merlin durch die Handlungsepisoden führt. In einer werbenden Rezension in der Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk („Funkheinzelmanns Märchenreise“ 1926) werden außer Funkheinzelmann, dem Zauberer Merlin und Nikolaus zwei weitere offenbar populäre Figuren erwähnt: der Karl-May-Held Old Shatterhand sowie Felix der Kater, der „[i]m Zwischenspiel […] seine lustigen Streiche auf der flimmernden Leinwand vor[führt].“ Der in Deutschland bereits bekannte amerikanische Filmheld Felix the Cat21 wurde zum einen als Endorser verwertet – in zwei Bildern der Revue ist er die Hauptgestalt. Darüber hinaus scheint mit Felix auch sein Ursprungsmedium, der (stumme) Zeichentrickfilm, als Live-Vorführung in die Revue integriert worden zu sein. Eine überraschende Multimedialität. Sie war indes keine Seltenheit, sondern nachgerade die Regel in den Theatern 19Das
einzige auffindbare Exemplar des Textbuchs befindet sich im Besitz des Deutschen Rundfunkarchivs in Frankfurt am Main, eine Kopie wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. 20Auch in der Schreibweise Porembsky. 21Felix the Cat war bereits in den frühen 1920er-Jahren in den USA so populär, dass die Figur einen merchandise craze hervorrief: Es gab Felix-Handtücher, Felix-Spielzeug, Felix-Porzellan. Und schließlich wurde Felix von seinem Zeichner Otto Messmer auch als Comicstrip in den Zeitungen vermarktet (vgl. Scott 2009). Auch in Deutschland wurden Felix-Trickfilme gezeigt.
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und Kino-Palästen jener Zeit (vgl. Berg 1989). Die Heterogenität der Themen und Darbietungen (Artistik, Pantomime, Musik, Film) erlebte das Publikum als Sensation. Zum sinnlichen Theatererlebnis gehörten außerdem auch kleine Aufmerksamkeiten, etwa Tee und Gebäck in den Pausen oder kleine Geschenkfigurinen beliebter Darsteller. Möglicherweise wurde in der Weihnachtsrevue Funkheinzelmann-Schokolade an das Publikum verteilt. Dass sie hergestellt wurde, ist belegt. Darüber unten mehr. Die Werbung für das Anfang Dezember 1926 gleichzeitig in Hamburg-Altona und in Hannover, also im Sendegebiet der Norag, erstaufgeführte Märchenspiel vom Funkheinzelmann wird in den zwei Norag-nahen Printmedien, der gleichnamigen Programmzeitschrift und dem Kindermagazin Funkheinzelmann, parallel und zielgruppenadressiert betrieben. Dabei werden alle Formen einer markenstrategisch erfolgreichen Pressearbeit genutzt: die Bildwerbung (Fotos der Hauptdarstellerin), die Information (zum Ticketverkauf), das Storytelling – die Vorbesprechung der Bühnenshow (vgl. Esmarch 1926a), die Rezension der Premiere (vgl. Esmarch 1926b), ausgewählte Pressezitate (vgl. Was sagt die Presse zum Funkheinzelmann 1926). Am 20. Dezember wird das Altonaer Märchenspiel im Rundfunk übertragen. Die Norag bringt eine ausführliche Programmankündigung mit der Aufzählung aller Handlungskapitel, aller Rollen und ihrer Darsteller. Die plurimediale Verwertung des dramatisierten Stoffes Funkheinzelmann war in Hamburg markenstrategisch genauso geschickt realisiert worden wie ein Jahr zuvor in Berlin: Es wurde erneut der Zeitpunkt Weihnachten gewählt, und wieder war die Markenkommunikation in der Presse, im Rundfunk und auf der Bühne differenziert, zielgruppenfokussiert und perfekt aufeinander abgestimmt. Auch 1927 (vom Carl-Schultz-Theater in Hamburg) und 1928 (in Berlin) wird Funkheinzelmann in der Weihnachtszeit als Revue vermarktet. Während die Hamburger Inszenierung auf die bekannten Märchenstoffe setzt (Funkheinzelmanns Bilderbuch 1927), zeigt die Berliner Revue ein Jahr später deutliche Aktualisierungstendenzen. Das Medium Film steht prominent im Titel der Show, die im Berliner Capitol aufgeführt wird: Funkheinzelmann filmt! Die damals neu in die Funkheinzelmann-Sendungen eingeführte Figur Brennecke kommt neben dem obligaten Weihnachtsmann auf die Bühne, auch „eine exzellente Indianertruppe“ tritt auf und wird vom kindlichen Publikum – wie der Hauskritiker des Deutschen Rundfunk, Hans Tasiemka begeistert berichtet – stürmisch gefeiert. Die Hausleitung lässt die üblichen kleinen Aufmerksamkeiten unter dem Publikum verteilen, die der Rezensent beiläufig erwähnt: „Die kleinen Jungen und Mädels waren nicht wenig stolz auf die Indianerfedern, die ihnen die Direktion des Capitol als Präsent überreichte. Sie hätten sich wohl eher die Schokolade wegnehmen lassen als die bunten hübschen Federn“ (Tasiemka 1928). Aber auch die aktuellsten technischen Innovationen werden in der Show gefeiert. Die Sensation des Jahres 1928 – der erste Amerikaflug des Luftschiffs Graf Zeppelin am 11. Oktober 1928 – lag erst anderthalb Monate zurück und schon baute sie Bodenstedt als Geschichte eines blinden Passagiers in die Revue ein. Als Veranstaltungsort diente ein Berliner Kino – die Location passte zum Titel der Revue und traf die Begeisterung des jungen Publikums für den Film. In der
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ausführlichen Chronik der Vossischen Zeitung vom 03.12.1928 wird die Zwitterhaftigkeit und damit die breite Anschlussfähigkeit von Funkheinzelmann deutlich (vgl. Funkheinzelmann filmt 1928). Er ist nicht nur eine Märchenfigur mit fantastischen Fähigkeiten, sondern er agiert ebenso im Umfeld der Kinder und erfüllt ihnen – zumindest in der Fiktion – die Konsumversprechen der modernen Welt: einen Überseeflug im Zeppelin und ihren persönlichen amerikanischen Wohlstandstraum. Für sein Hörfunk-Publikum arbeitete Bodenstedt auch diese Revue zu einem Hörspiel um, das am 4. Januar 1929 von der Norag gesendet wurde. Für die Weihnachtssaison des Jahres 1929 wird das FunkheinzelmannMärchen Die wunderschöne Goldenhaar in der Inszenierung von Alfred Maak im Hamburger Theater des Westens aufgeführt. Die mutmaßliche Uraufführung am 17. November wird von der Norag im Radio live übertragen. Das 1926 zum ersten Mal produzierte Funkheinzelmann-Märchenspiel mit Musik von Carl Krüger wird 1928 und 1929 in der Adventszeit bzw. zu Weihnachten erneut für den Hörfunk bearbeitet. 1931 werden beide Märchenspiele von der Norag neu inszeniert und gesendet – am 1. November, also außerhalb der (Vor-)Weihnachtszeit das Märchenspiel und am 18. Dezember Goldenhaar.
Die Märchenbücher Ab Mitte Oktober 1924 kündigt die Programmzeitschrift die sonntägliche Funkheinzelmann-Stunde als Sendung „Aus dem Märchenbuch des Funkheinzelmanns“ an, dessen Erscheinen für Weihnachten angezeigt wird. Die Werbung für das Buch als Weihnachtsgeschenk begleitet nun – mit jeweils aktualisiertem Text – jede Ankündigung der sonntäglichen Funkheinzelmann-Sendung, die als Hörfunkserie der Buchkapitel präsentiert wird. Noch vor Erscheinen der Printversion (Bodenstedt 1924) begann demnach die Rückverwertung der Buchtexte zu Sendungen. Markenstrategisch betrachtet, bereitete das Produktions- und Sendeunternehmen der Norag durch eine Aktualisierung der Sendung die Line Extension der Marke Funkheinzelmann in den Printmarkt vor und stärkte damit gleichzeitig die Kernmarke. Im Jahr darauf wird die offenbar erfolgreiche Buchzur-Sendung-zum-Buch-Strategie wiederholt. Für den 29. November 1925 wird – diesmal im Programm der Berliner Funk-Stunde – das erste Märchen aus „dem neuen Märchenbuch des Funkheinzelmanns“, Funkheinzelmann der Wanderbursch (Bodenstedt 1925b), angekündigt. In der Vorweihnachtszeit werden Verkaufsanzeigen für das neue wie für das erste Funkheinzelmann-Märchenbuch geschaltet, gleichzeitig wird die Funkheinzelmann-Revue im Großen Schauspielhaus in ganzseitigen Anzeigen beworben. Die Berliner Programmzeitschrift wird damit als Werbemedium für den prosperierenden Funkheinzelmann-Medienverbund genutzt bzw. profitiert ihrerseits vom Erfolg seiner plurimedialen Verwertung und Verbreitung.
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1929 verwertet Hans Bodenstedt die Goldhärchen-Hörfunkserie des Jahres 1926 in einem weiteren Buch: den Harz-Märchen (Bodenstedt 1929), die im Funkheinzelmann-Verlag Karl Welchert in Thale (Harz) erscheinen. Illustriert wird mit Foto-Montagen von H. Haas. Eine zeigt Bodenstedt umringt von Kindern mit Kopfhörern. Die meisten Fotos nutzen eine Funkheinzelmann-Plastik (blank poliert, evtl. Bronze), die vor unterschiedlicher Kulisse (Natur, Großstadt) platziert erscheint. Dieselbe Plastik war auch schon im Kindermagazin Funkheinzelmann abgebildet worden (vgl. Funkheinzelmann-Rademacher-Preis 1926) als Preis für Bestleistungen im Schwimmen (benannt nach dem populären Sportschwimmer Erich Rademacher). Buch, Sendung, Revue, Textwerbung, Zeichnungen und Fotos ergänzten und verstärkten sich gegenseitig und alle zusammen die Marke Funkheinzelmann.
Merchandising-Artikel Bekmeyer-Feuerhahn (2013) definiert Merchandising als „Sekundärvermarktung populärer Erscheinungen“ zum Zweck der Emotionalisierung und Kundenbindung. Sie beobachtet Merchandising in Korrelation zum Event-Marketing. Die Merchandising- oder Fan-Artikel sind dementsprechend Gegenstände, die als Erinnerungsstücke (Reminder) das Erlebnis des Marken-Events auffrischen, soziale Relevanz für die Konsumenten suggerieren (Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Trendsettern) und die Werbekosten für das eigentliche Produkt reduzieren. Das erste bekannte Merchandising-Produkt der Marke Funkheinzelmann ist die bereits erwähnte Funkheinzelmann-Puppe. Sie scheint ein Nebenprodukt der Werbeaufnahmen Bodenstedts für seine Berliner Sendungen gewesen zu sein. Eine Puppe, die im Atelier kostümiert und vom Fotografen in verschiedenen Posen im Gegenüber zu ihrem Autor Hans Bodenstedt aufgenommen wurde. Knapp zwei Monate nach dem Berliner Debüt, am 20. November, kündigt die Norag bereits den in Kürze möglichen Erwerb der Funkheinzelmann-Puppe in allen Spielzeugläden an (vgl. Siegeslauf des „Funkheinzelmann“ 1925). Ein weiteres Merchandising-Produkt war die erwähnte Figurine (Rademacher-Preis, später als Buchschmuck verwertet). Wer sie entworfen und gestaltet hat und zu welchem ursprünglichen Zweck oder Anlass, konnte ich nicht eruieren. Die Schokolade mit Funkheinzelmann-Motiven war hingegen ein eigenes Produkt der Norag, das sie kräftig bewarb. Ende März 1926 veröffentlichte sie in der Programmzeitschrift eine Werbeanzeige, die sich an die Einzelhändler richtet. Sie bietet ihnen Funkheinzelmann-Schokolade an „mit den Bildern aus den Märchen des Funkheinzelmann und großen Prämien für fleißige Sammler“.22 „Gratisreklame
22Als
Hersteller wird die Exqisit-Schokoladenfabrik in Berlin-Weißensee angegeben. Vgl. Gratisreklame für Detaillisten 1926.
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Abb. 4 Werbung für Funkheinzelmann-Schokolade im gleichnamigen Kindermagazin. (© bpk/ Staatsbibliothek zu Berlin/Dietmar Katz)
für Detaillisten“ sei diese Schokolade (Gratisreklame für Detaillisten 1926). Freilich begünstigte das Geschäftsmodell wohl eher die Norag, deren Verkaufsstrategie auf die emotionale Bindung der Fans zur Marke (das Marken-Involvement) setzte und durch Sammelbildchen die Kauffreudigkeit zu animieren und den Umsatz des Merchandising-Produktes Schokolade zu steigern versuchte. In der Kinderzeitung wird die Schokolade bereits ab der ersten Nummer (Ende April 1926) und bis zu ihrer Einstellung beworben (Abb. 4). Im Begleittext wird in fetter Schrift auf die „Serien-Bilder“ hingewiesen und auf das „für nur 30 Pfennige“ erwerbbare „Funkheinzelmann-Schokolade-Sammel-Album“. Eine Sammelprämie wird versprochen (vgl. Funkheinzelmann-Schokolade ist die beste! 1926). In Nr. 3 der Zeitschrift wird berichtet, dass der Funkheinzelmann auf einem Berliner Kinderfest „eine ganze Menge“ (Eine frohe Mitteilung! 1926) FunkheinzelmannSchokolade verschenkt habe.23 Die Funkheinzelmann-Schokolade konnte sich indes auf dem Markt nicht als selbständige Ware durchsetzen (Vgl. Elfert 1984, 108, FN 12), war demnach als Category-Extension der Marke Funkheinzelmann gescheitert.
23Die
Schokoladen-Werbung wird in elf der insgesamt 43 Ausgaben des Kindermagazins geschaltet. Anzeigen für die Funkheinzelmann-Schokolade erscheinen im Mai und Juni 1926 auch in der Programmzeitschrift der Berliner Funk-Stunde.
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Funkheinzelmann – das Kindermagazin Eine zweite Category-Extension, die nahezu zeitgleich auf den Markt gebracht wurde, war die Zeitschrift namens Funkheinzelmann. Sie erschien in einem obskuren Berliner Verlag, der Filmbücherei GmbH. Verantwortlicher Redakteur war Artur Lokesch.24 Ihre Ankündigung in der Norag (vgl. FunkheinzelmannBund 1926) macht deutlich, dass sie als Mitgliedermagazin, als Mitteilungsblatt der Marken-Community gedacht war. Sie sollte dem Funkheinzelmann-Bund als Organ dienen. Die Jugendbünde waren eine modische Zeiterscheinung. Sie erfüllten eine ähnliche Rolle wie die heutigen Internet-Communities: die Pflege eines starken Gemeinschaftsgefühls und das Schaffen von sozialer Identität für die Mitglieder sowie die scharfe Abgrenzung und Unterscheidung gegenüber Außenstehenden. In der Begründung der Norag für das Erscheinen der Zeitschrift wird die Funkheinzelmann-Community mit ethisch-sozialen Argumenten (inklusiv) und mit emblematischen Merkmalen (distinktiv) beschrieben: Die Freunde des Funkheinzelmanns haben einen Bund gegründet, dem jeder angehören kann. Er will die Hilfsbereitschaft pflegen und die Höflichkeit fördern. Jeder Bundesbruder oder jede Bundesschwester bekommt ein Abzeichen. Die Bundesmitglieder in allen Städten grüßen und helfen sich, soweit es in ihren Kräften steht. (Ebd.)
Die Wertegemeinschaft, die hier suggeriert wird, war aus marktwissenschaftlicher Sicht eine Marken-Community. Diese zeichnet sich durch die enge Bindung ihrer Mitglieder an die Marke aus. Daraus ergeben sich zwei markenstrategisch wertvolle Nebeneffekte: erstens der direkte und persönliche Kontakt zur Zielgruppe und zweitens die (positive) Beeinflussung des Konsumverhaltens durch die Gruppe selbst (vgl. Burmann/Halaszovich/Schade/Piehler 2018). Die dem Bund mit der Gründung eingeschriebene Hilfsbereitschaft wird zu größeren Spendenaktionen und Benefizveranstaltungen ausgeweitet. Anfang 1927 findet eine große Spendenaktion zugunsten bedürftiger Großstadtkinder im Namen des Funkheinzelmann statt, die Zeitschrift veröffentlicht in vier aufeinander folgenden Ausgaben lange Spenderlisten. Auch die Weihnachtsrevuen 1926 und 1928 sind mit Wohltätigkeit verbunden (Kinderhilfe, Künstler in Not). In der Logik der Märkte ist Fundraising keine desinteressierte Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern immer auch ein Instrument des Relationship Marketing, das dazu dient, die Beziehung zur Zielgruppe zu pflegen, ihr Vertrauen in die
24Der
Verlag ist weder 1927 noch 1928 im Verlagsregister von Sperlings Zeitschriften- und Zeitungsadressbuch verzeichnet, gab also keine weiteren Periodika heraus. Im Berliner HandelsRegister (1931) wird als Gründungsjahr des Verlags 1926 angegeben, als Geschäftsführer Gustav Karstädt. Im Berliner Adressbuch taucht die Firma erst 1927 als Verlagsbuchhandlung auf und ist 1932 nicht mehr verzeichnet (vgl. Berliner Adreßbuch 1927, 1932). Als Buchverlag trat die FilmBücherei GmbH mit offenbar nur einer einzigen Publikation in Erscheinung, dem Textbuch eines Ufa-Aufklärungsfilms (vgl. Thomalla 1926). An der gleichen Adresse befand sich zu dieser Zeit der Eigenbrödler Verlag, als dessen Geschäftsführer 1921 derselbe Artur Lokesch verzeichnet ist.
200
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Marke zu festigen (vgl. Bruhn 2016, insbes. 393–401). Der Kontakt zur Zielgruppe wurde bereits im Vorfeld der Magazin-Gründung aufgenommen. Ende 1925 war in der Norag ein Weihnachtswunsch des Funkheinzelmann erschienen: „er wünscht sich nichts, als von jedem seiner kleinen Hörer eine Photographie […] damit er weiß, wem er seine Märchen erzählt“ (Funkheinzelmanns Weihnachtswunsch 1925). Auf dem Foto sollte Name und Alter vermerkt werden. Ziel der für die angesprochene Personengruppe aufwändigen und auch nicht kostenneutralen Aktion (Fotos wurden von/beim Fotografen gemacht, die Eltern mussten Foto und Postspesen bezahlen) war offensichtlich eine Community-Maßnahme, die der Fanpflege diente. Die Magazinmacher nutzten die Einsendungen umgehend zur personalisierten Kundenansprache: Auf der Titelseite der Kinderzeitschrift wird in jeder der ersten elf Ausgaben ein Hörerporträt (nur Jungen) abgedruckt. Auch andere Strategien, die bei dem Transfer der Radiofigur Funkheinzelmann in den Zeitschriftenmarkt genutzt wurden, lesen sich wie aus dem Lehrbuch der Werbewirtschaft. Im Standardwerk von Kroeber-Riel/Esch (2015, 139) heißt es: „Markenname und Markenzeichen müssen dem Konsumenten unübersehbar vor Augen geführt werden. […] Aus diesem Grund ist es am wichtigsten, die Marke selbst lebendig und unterhaltsam zu inszenieren.“ In die Titelschrift der Kinderzeitschrift integriert steht lässig auf das Namenskapitälchen gestützt eine Pierrot-ähnliche Figur im schwarzen Wams mit weißer Halskrause und beinfreien Pluderhöschen, die Füße in roten Ballettschühchen, die langzipflige Mütze wie ein Winke-Tüchlein in der ausgestreckten Hand. Androgyn und unbestimmten Alters, öffnet sich die Titelfigur der Mehrdeutigkeit und anschlussfähigen Unbestimmtheit – typische Eigenschaften, für populäre Figuren (vgl. Fiske 2011). Auf dem Zeitschriftenmarkt dominierte Mitte der 1920er-Jahre das Segment des populären Kindermagazins Der heitere Fridolin, verlegt von Ullstein, ebenfalls in Berlin. Die bunten Fridolin-Hefte wurden von den einflussreichen Pädagogen der Zeit in die Schund-und-Schmutz-Ecke gestellt, herablassend kritisiert und weitgehend ignoriert,25 was ihren Erfolg bei der jugendlichen Leserschaft nicht im Geringsten schmälerte. Funkheinzelmann kopierte das Erfolgsrezept des Fridolin in vielerlei Hinsicht und versuchte, das Vorbild mit markttypischen Instrumenten zu überbieten. Als erstes kann der Preis genannt werden: 15 Pfennig kostete ein Fridolin-Heft, 10 Pfenning war der Einführungspreis des Funkheinzelmann. Etliche Protagonisten und Formate der neuen Zeitschrift weisen deutliche Ähnlichkeiten mit Fridolin auf. Das Comicpaar Laatsch und Bommel aus Fridolin gab vermutlich die Folie ab für Plumm und Plautz im
25„Was
hier der Jugend als Geist und Witz geboten wird, das ist zuweilen so hanebüchen dumm, daß es selbst die jugendlichen Leser merken und sich über die Zeichner und Schriftsteller amüsieren, die da zu ihrem Amüsement sich närrisch gebärden“ Fronemann (1925, 80). John Fiske, dem die Kulturwissenschaft den objektivierenden Blick auf Pop und Boulevard verdankt, beschreibt 1992 die Wirkung des tabloid journalism mit ähnlichen Worten wie Fronemann 1925, aber ohne dessen negative Wertung: „One of its most characteristic tones of voice is that of a sceptical laughter which offers the pleasures of disbelief, the pleasures of not being taken in.“ Fiske (1992, 49).
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Funkheinzelmann, der Comic-Hund Schlupp (Fridolin) für den Comic-Hund Fox (Funkheinzelmann), Rätselonkel Ben (Funkheinzelmann) erinnert an den Erfinderonkel Otto (Fridolin). Selbst die gezeichneten Titelschriften des Funkheinzelmann weisen stilistische Ähnlichkeiten zu Fridolin auf. Auch die Mehrfachverwertung der Marke wurde bereits von Fridolin praktiziert. Zu Weihnachten 1926 etwa werden die von Walter Trier illustrierten Fridolin-Bilderbücher empfohlen sowie der Fridolin-Abreißkalender für 1927, dem auch ein Tuschkasten beigegeben war. Die Wiederholung und die Anpassung an das Modell (Fridolin) sind heute zwar beobachtbare Strategien, wurden bei der Entwicklung des Produkts Funkheinzelmann aber nicht ausgestellt, vielmehr wurden Differenzmerkmale überbetont: die erste Funk- und Film-Jugend-Zeitung der Welt (so der Untertitel) erhob Anspruch auf Einmaligkeit und Besonderheit. Über das Format (doppelte Blattgröße) und die aufwändige Aufmachung (gezeichnete Titelschriften, grafisch anspruchsvolles Layout und sparsamer Farbdruck – eine, später zwei Farben) versuchten die Herausgeber, das Magazin aus dem Schatten des billigen Boulevards zu lösen, und orientierten sich damit an anderen auf dem Markt existierenden Vor-Bildern – nämlich den als wertvoll empfohlenen Periodika (vgl. Thalhofer 1924; Thalhofer/ Antz 1925). Die Identifikationsfigur des Fridolin wurde im neuen Titel durch die des Funkheinzelmann einerseits kopiert, andererseits überboten. Funkheinzelmann war nicht nur eine fiktive Figur des Printmediums, sondern bereits sowohl eine fiktive wie auch eine reale plurimediale Figur (der Erzähler Bodenstedt im Radio, der Schriftsteller Bodenstedt, der Schauspieler Hans Thiemig als Funkheinzelmann im Großen Schauspielhaus Berlin etc.). Die Marke Funkheinzelmann profitierte bei der Einführung auf dem Printmarkt von ihrer Serialität im Rundfunk. Ihre Popularität war gerade in den letzten Monaten durch die vom Berliner Sender live übertragenen Funkheinzelmann-Märchen noch einmal sprunghaft gestiegen. Hans Bodenstedt war die führende Persönlichkeit der Norag. Angefangen hatte er seine berufliche Laufbahn als Journalist und Verleger.26 Er beherrschte das Medium Print demnach und mag auf der Erfolgswelle seiner Rundfunkfigur Funkheinzelmann an einer gleichnamigen Zeitschrift durchaus interessiert gewesen sein. Inwieweit er tatsächlich an der Herausgabe und an dem Ertrag der Zeitschrift beteiligt war, ist unklar. Indizien sprechen dafür. Der Aussage von Pigorsch (2001, 9), die Mitarbeit von Bodenstedt an der Zeitung sei „wenn überhaupt, nur in den ersten Nummern erkennbar“, ist indes ausdrücklich zu widersprechen. Bis einschließlich zur Nummer 15 erschien die Serie Die Abenteuer des Funkheinzelmann unter der Autorschaft Bodenstedts. In den folgenden Nummern wird als
26Hans
Bodenstedt (geb. 25.10.1887 in Magdeburg) hatte bis zu seiner Karriere im Hörfunk bereits eine beeindruckende journalistische Laufbahn zurückgelegt. Er fing 1905 beim Harzer Kurier an, ging dann nach Berlin, wo er als Redakteur u. a. bei Zeit im Bild und Berliner Illustrirte Zeitung, nach dem Ersten Weltkrieg bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung arbeitete. Zum Hörfunk kam er über die Hamburger Nachrichten, wo er 1923 die erste Rundfunkbeilage redigierte (vgl. Sie 29.11.1930).
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Postanschrift des Funkheinzelmann sogar Bodenstedts Privatadresse angegeben: Heimhuderstraße 80 in Hamburg (vgl. Hamburger Adressbuch 1927, IV, 441). Als gesichert kann die Beteiligung des Rufu-Verlags gelten, der die Programmzeitschrift Die Norag ab 1926 herausgab: Das Erscheinen der jeweiligen Nummer der Kinderzeitschrift wird in der Norag regelmäßig angekündigt und beworben (ab Nr. 3 mit dem Abdruck des Zeitungskopfs). Aber erst ab 15. Oktober (Heft Nr. 12) erscheint Funkheinzelmann offiziell im Rufu-Verlag (vgl. Unseren kleinen Freunden 1926). In Heft 13 wird als Anschrift für die Fanpost Binderstraße 28 in Hamburg angegeben. Hier, (Hausnummern 26–30), befand sich gemäß Hamburger Adressbuch von 1926 (IV, 100) die Oberpostdirektion und gleichzeitig die Redaktion. Es ist anzunehmen, dass die Redaktion des Funkheinzelmann die Räumlichkeiten der Norag mietfrei nutzen durfte und von den institutionellen Verflechtungen auch einige weitere Mitarbeiter der Norag profitierten. Alice Fliegel, Kurt Esmarch und Rudolf Damm arbeiteten auch bzw. hauptsächlich für den Sender, veröffentlichten in der Programmzeitschrift und waren auch in der Kinderzeitschrift präsent. Das Kindermagazin erscheint somit wie ein Nebenprodukt der Programmzeitschrift. An deren Reingewinn war, wie Bauer überzeugend nachweist (1993, 88 f.), Bodenstedt mit 15 % beteiligt. Die Programmzeitschrift wurde von der Sendergesellschaft großzügig finanziert, selbst das Gehalt des Schriftleiters der Norag habe der Sender gezahlt. Die Überschüsse konnte sie bzw. der herausgebende Verlag größtenteils behalten, nur 10 % davon gingen an den Sender zurück. Anzeigen für die Kinderzeitschrift wurden auch in der Werag geschaltet (vgl. Funkheinzelmann – Diese reich illustrierte Kinderzeitung 1927). Die Programmzeitschrift des Westdeutschen Rundfunks gehörte ebenfalls dem Rufu-Verlag (vgl. Bauer 1993, 117). Eine geografische Expansion der Kinderzeitschrift war damit eingeleitet worden und sollte nach den Plänen des Verlags „auf ganz Deutschland“ ausgeweitet werden.27 Die Zeitschrift Funkheinzelmann wurde nach nur 43 Nummern Ende 1927 eingestellt. Möglicherweise hatte sich der Verlag verrechnet und konnte durch den Verkauf die Kosten für die aufwändige Aufmachung und den Farbdruck nicht decken.
27In
einem ungezeichneten und undatierten, vermutlich Anfang 1927 abgefassten „Exposé“ zur Rufu-Verlagsgesellschaft m.b.H, das sich im Bestand des Staatsarchivs Hamburg befindet, wird die Herausgabe der Funkheinzelmann-Zeitschrift mit der Popularität der Figur begründet und als Werbemaßnahme für den deutschen Rundfunk generell dargestellt: „Die im Hamburger Sender für die Kinderwelt am Rundfunk geschaffene Figur des ‚Funkheinzelmann‘ hat ständig eine Unmenge an Zuschriften gebracht. Um nun dieses Interesse der kommenden Generation für den Rundfunk zu fördern, ist eine Kinderzeitschrift, der ‚Funkheinzelmann‘, ins Leben gerufen worden, die heute wohl die schönste Zeitschrift auf diesem Gebiete darstellen dürfte. […] Von besonderer Wichtigkeit ist, daß diese Kinderzeitschrift über ganz Deutschland verbreitet werden soll und zum Teil bereits verbreitet wird, so daß die in der Zeitschrift liegenden Werbemittel dem ganzen deutschen Rundfunk zugutekommen.“ (Exposé über die Rufu-Verlagsgesellschaft m.b.H., Hamburg 1927).
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Eine zaghafte Wiederbelebung versuchte die Norag 1933. Funkheinzelmanns Kinder-Norag wurde als wöchentliche Kinder-Sonderseite der Programmzeitschrift eingerichtet. Hauptbestandteil der Seite ist jeweils ein von A. W. Oldage gezeichneter Comic mit Knittelreimen im Stil von Wilhelm Busch, dessen Geschichten auch einige Figuren entlehnt sind (Fips der Affe, der Rabe, der hier Johnny heißt). Es gibt kaum Bezüge zum Rundfunk. Ab Nr. 13 erscheint die Seite nur mehr alle zwei Wochen. Ab Nr. 26 wird der Name Funkheinzelmann aus dem Titel getilgt. Das Schicksal des Funkheinzelmann-Begründers und Intendanten Hans Bodenstedt war zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt: Er wurde zum Rücktritt und zum Verlassen der Rundfunkanstalten gezwungen.
Der Autor als Motor der Serialität Hans Bodenstedt entwickelte seine Sendung als Autor, Regisseur und Produzent und wurde ihre Identifikationsfigur als Sprecher/Akteur. Der Erfolg im Hörfunk war, wie bereits aufgezeigt, der Motor zu immer neuen Episoden und Serien. Es folgte die Verwertung der Sendung auf dem Buchmarkt und die Rückverwertung der Bücher in der Sendung. Das Hamburger Sendeformat exportierte Bodenstedt nach Berlin. Hier expandierte seine Marke auf den Revue-Markt. Auch der Bühnen-Funkheinzelmann erfuhr daraufhin eine geografische Expansion. Schließlich expandierte Funkheinzelmann auch auf den Zeitschriftenmarkt, wo der Content von Sendung, Büchern, Revue noch einmal verwertet und für die Pflege und Erweiterung der Fanbase genutzt wurde. Geschicktes Marketing, hohe Produktivität, kluge Markenexpansion, die Umtriebigkeit und öffentliche Position ihres Schöpfers waren wichtige Faktoren, die zur Popularität der Marke Funkheinzelmann beitrugen. In den nicht öffentlichen Diskursen jener Zeit wurde das Rundfunkformat indes durchaus kontrovers bewertet. Im Politischen Überwachungsausschuss der Norag lobte der Kieler Landrat Adler 1927 den Funkheinzelmann dafür, dass er es verstehe, „in solch launiger fröhlicher Weise mit den kleinsten Kindern zu plaudern“, in scharfem Kontrast zu „tendenziösen“ Märchen, die einseitig gewisse Gesellschaftsschichten kritisierten (Bedenken gegenüber einseitig „proletarischen“ Märchen 14.–18.07.1927).28 Hingegen verlangte der Rundfunk-Ausschuss des Hamburger Jugendamtes glattweg die Entfernung der „ganz unkünstlerischen Funkheinzelmanndarbietungen“ aus dem Programmangebot der Norag. Die Funkheinzelmann-Märchenstunden würden sich „durchweg mit solchen Märchen befassen, die wir heute vom Standpunkt der geistigen Jugendpflege ablehnen müssen; die zumindest aber so gebracht werden, daß sie nicht als jugend-
28Gemeint
waren vor allem Märchen der ungarischen Autorin Maria Szucsich, die von der Norag in einem Kindercamp gesendet werden sollten, aufgrund der Intervention Adlers aber von Bodenstedt aus dem Sendeprogramm entfernt wurden.
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erzieherisch zu werten sind“ (Vorschläge des Rundfunk-Ausschusses beim Jugendamt Hamburg 15.12.1927). Auch wenn die Sendung polarisierte, Bodenstedt wurde mit ihr identifiziert. Selbst der Völkische Beobachter, der sich Ende 1931 um die politischen Verhältnisse bei der Norag sorgte, erklärte seinen Lesern die Identität Bodenstedts mit der Klammer: „bekannt in ganz Deutschland als ‚Funkheinzelmann‘“ (In Funkheinzelmanns Reich 01.12.1931). Zu diesem Zeitpunkt investierte Bodenstedt längst nicht mehr in die Entwicklung seiner Marke, ebenso wenig die Norag. Bereits 1930 fallen die sonntäglichen Funkheinzelmann-Sendungen öfter ersatzlos aus; mehr Raum (auch in der Programmzeitschrift der Norag) nimmt die Deutsche Jugendstunde am Montag ein (mit unterschiedlichem Programm und Programmgestaltern); der Name Bodenstedt erscheint ab 1930 in der Programmpresse nicht mehr im Zusammenhang mit den Funkheinzelmann-Sendungen. Das Sendeformat Funkheinzelmann wurde aufgegeben, die Serie wurde aufgelassen. Damit ereilte sie dasselbe Schicksal wie alle populären Serien: Populäre Serien enden häufig gar nicht im anspruchsvollen Sinn des Wortes, sondern sie verschwinden einfach. Darin zeigen sie sich als das, was sie ihrer Materialität nach sind: massenhaft reproduzierte Industriewaren, deren Produktion ab einem bestimmten Punkt nicht mehr lohnt oder aus anderen Gründen unmöglich wird. (Kelleter 2012a, 27)
Als die einst im ganzen Deutschen Reich erfolgreichen FunkheinzelmannMärchenspiele in der (Vor-)Weihnachtszeit 1931 noch einmal in das Programm der Norag aufgenommen wurden, gab es nur noch hämische Kritik. Der Funkheinzelmann habe „sich durch seine allzu häufige Mitwirkung bald verausgabt“ und „sich dann in peinlichen Sentimentalitäten und naiven Banalitäten“ verloren, schreibt der Deutsche Rundfunk (K. Tgt. 1931). Die Abwertung der Figur durch die Berliner Programmzeitschrift macht aber nicht vor dem Sendeformat halt, sondern demontiert auch die Person des Autors und Intendanten Bodenstedt. Seine Neuinszenierungen in der Weihnachtszeit werden nicht nur als von niedrigem Niveau abgewertet, ihm wird auch unterstellt, „mit seiner Gattin Alice Fliegel“ quasi einen Familienklüngel am Sender zu Lasten der Qualität zu betreiben. Dabei war Alice Fliegel an keiner dieser Sendungen beteiligt. Bodenstedt versuchte 1933 noch einmal ein Comeback. Mit seinem untrüglichen Gespür für den Zeitgeist erkannte und nutzte er als erster Rundfunkintendant im Deutschen Reich das Potential der nationalsozialistischen Wende 1933. Bereits am 4. April setzte er eine Kollage unter dem Titel Das Hakenkreuz. Eine deutsche Passion ins Abendprogramm. Am Vorabend des 1. Mai, der kurz zuvor von den Nationalsozialisten als Tag der nationalen Arbeit zum Feiertag erhoben worden war, führte Bodenstedt eine sonntägliche Stunde der Hitler-Jugend ein, deren Leitung er sich mit dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach teilte. Trotz Überanpassung musste er indes bereits Ende Juni nicht
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nur seinen Intendantenposten aufgeben, sondern auch den Sender verlassen (vgl. Intendant Bodenstedt ausgeschieden 28.06.1933).29 1984 erinnerte die Hamburger Presse an die vor 60 Jahren auf Sendung gegangene Norag. Auch die populäre Kindersendung wird erwähnt, doch war ihre Identifikationsfigur im Gedächtnis der Zeitgenossen bereits so verblasst, dass die Zeitung vom „Funkheinzelmännchen“ berichtet (Wauschkuhn 28./29.04.1984) und die angebliche Ansage der ersten Sendung ganz ungeniert aus dem Märchenbuch von 1925 herausschreibt. Der Mythos hatte die Geschichte endgültig abgelöst.
Literatur Primärliteratur A. M. F.: Heinz Funkemal an Funkheinzelmann. Aus der Serie der groben Unfunklieder auf der mit der Antennenlitze bespannten Gitarre zu singen [Fanfiction]. In: Die Norag (1925) 20, 12. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann der Wanderbursch. Neue Märchen. Berlin: Springborn, 1925b. Bodenstedt, Hans/Krüger, Carl: Funkheinzelmanns Kinderlieder. Hamburg: Libellen [1927]. Bodenstedt, Hans: Die Abenteuer des Funkheinzelmann. In: Funkheinzelmann 1 (1926), 1–15, [o. S.]. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmanns Harz-Märchen. Ein Buch von Freude und Sonne für klein und groß. Thale (Harz): K. Welchert, 1929. Bodenstedt, Hans: Märchen vom Funkheinzelmann. Hamburg: Walther von Danckelman, 1924. Der heitere Fridolin. Halbmonatsschrift für Sport, Spiel, Spass und Abenteuer. Berlin 1921–1928. Fliegel, Alice: Die Zwillinge der Försterin. Erinnerungen eines Wickelkindes. In: Funkheinzelmann 1 (1926) 1–11, [o. S.]. Funkheinzelmann. Erste Funk- u. Film-Kinderzeitung der Welt, [ab Nr. 2:] Erste Funk- u. Film-Jugendzeitung der Welt! Berlin 1926 (1–11); Hamburg 1926 (12–17) und 1927 (1-26).
Audiografie Bodenstedt, Hans: Aus dem Märchenbuch des Funkheinzelmanns. Für die Kinder erzählt, die es noch nicht gehört haben. I. Die Glockenblumenkönigin. Musikalische Illustration durch das Norag-Orchester. Norag Hamburg 19.10.1924, 16:30. Quelle: Die Norag 1924, 23, 2. Weitere Folgen: Funkheinzelmann im Vogelland, 26.10.1924; Funkheinzelmann im Riesenreich, 02.11.1924; Funkheinzelmann im Riesenland, 09.11.1924; Funkheinzelmann im Schlaraffenland, 16.11.1924; Funkheinzelmann im Nixenreich, 23.11.1924; Funkheinzelmann in Indien, 21.12.1924.
29Ab
1933 arbeitete Bodenstedt für verschiedene Verlage in Berlin und übersiedelte während des Krieges ins damalige Sudetenland, heute Tschechien. 1945 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er erneut für den Rundfunk und die gedruckte Presse arbeitete. Unter anderem schrieb er für die Kinderillustrierte Der Knattermax. Er starb 1958 in Bayern, wo er zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Hanna die letzten fünf Jahre seines Lebens verbrachte (vgl. Bodenstedt 13.02.1966).
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Bodenstedt, Hans: Das Funkheinzelmann-Märchenspiel. Musik von Carl Krüger. Norag Hamburg, 16.12.1928, 14:00. Quelle: Die Norag 5 (1928) 50, 2. Bodenstedt, Hans: Das Funkheinzelmann-Märchenspiel. Musik von Carl Krüger. Musikalische Leitung: Fritz Gartz. Norag Hamburg, 25.12.1929, 14:30. Quelle: Die Norag 6 (1929) 51, 8. Bodenstedt, Hans: Das Funkheinzelmann-Märchenspiel. Musik von Carl Krüger. Musikalische Leitung: Fritz Gartz. Regie: Hans Freundt. Norag Hamburg, 01.11.1931, 16:50. Quelle: Die Norag 8 (1931) 44, 16. Bodenstedt, Hans: Das Hakenkreuz. Eine deutsche Passion. Funkbuch von Hans Bodenstedt. Deutsche Hymne: Horst Platen. Norag Hamburg, 04.04.1933, 20:00. Quelle: Die Norag 10 (1933) 14, 27. Bodenstedt, Hans: Die Blumenmärchen vom Funkheinzelmann. I. Die Rose. Norag Hamburg 13.05.1925, 18:00. Quelle: Die Norag (1925) 19, 4. Weitere Folgen: Die Tulpe, 20.05.1925; Das Veilchen, 27.05.1925; Das Vergißmeinnicht, 03.06.1925. Bodenstedt, Hans: Die wunderschöne Goldenhaar. Ein Funkheinzelmann-Märchen in fünf Bildern. Musik und musikalische Leitung: Horst Platen. Regie: Hans Freundt. Norag Hamburg, 18.12.1931, 17:00. Quelle: Die Norag 8 (1931) 50, 39. Bodenstedt, Hans: Die wunderschöne Goldenhaar. Märchen. Musik von Horst Platen. Musikalische Leitung: Erwin von Clarmann. Regie: Alfred Maak. Übertragung aus dem Theater des Westens. Norag Hamburg, 17.11.1929, 16:00. Quelle: Die Norag 6 (1929) 46, 2. Bodenstedt, Hans: Ein Weihnachtstraum, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. [Programmpunkt in der Sendung:] Um Weihnachten herum (Stunde für Kinder, Schallplatten). Funk-Stunde Berlin, 13.12.1929, 14:00. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 7 (1929) 49, [o. S.]. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann begegnet dem Märchendichter Hans Bodenstedt, der ihn den Berliner Kindern zum ersten Male vorstellt. Er erzählt: „Funkheinzelmann am Märchenbrunnen“. Eine Mondfahrt durch den Friedrichshain. Funk-Stunde Berlin, 04.10.1925, 15:30. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 40, 2576. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann filmt! Ein Filmfunkfabelspiel in 15 Bildern. Musik von Hermann Erdlen. Norag Hamburg, 04.01.1929, 16:15. Quelle: Die Norag 5 (1928) 52, 12. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann im Vogelland. Ein fröhliches Märchen. Musikalische Illustrationen von Paul Hagemann. Norag Hamburg, 06.07.1924, 17:00. Quelle: Die Norag (1924) 8, [1]. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann, der Wanderbursche. Aus dem neuen Märchenbuch des Funkheinzelmanns von Hans Bodenstedt. Funk-Stunde Berlin, 29.11.1925, 15:30. Quelle: Die Funk-Stunde 1925, 48, 1001. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmann. Märchenspiel. Musik von Carl Krüger. Musikalische Leitung: Fritz Gartz. Norag Hamburg, 20.12.1926, 16:00. Quelle: Die Norag 3 (1926) 51, 4. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmanns Kindertheater. Lieder von Carl Krüger. 1. Bild: Die Glockenblumenkönigin. Norag Hamburg, 13.01.1926, 17:00. Quelle: Die Norag 3 (1926) 2, 5; Übertragung auch auf Frankfurt, Kassel, Leipzig und Dresden. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 4 (1926) 2, 120–122. 2. Bild: Ein Kind fällt vom Himmel, 20.01.1926; 3. Bild: Frau Holle, 4. Bild: Im Riesenland, 5. Bild: Im Schlaraffenland, 27.01.1926; 6. Bild: Die Quellnymphe, 7. Bild: Im Märchenland, 03.02.1926. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmanns Schöpfungsgeschichte: Als Gott das Licht schuf. Norag Hamburg, 03.10.1926, 15:30. Quelle: Die Norag 3 (1926) 39, 11; u. d. T.: Als Gott das Reich schuf. Funk-Stunde Berlin, 03.10.1926, 15:30. Quelle: Die Funk-Stunde (1926) 40, 1053. Übertragung auch auf Leipzig und Dresden „von Hamburg über Berlin“. Quelle: Die Mirag 3 (1926) 40, 3. Weitere Folgen (gleiches Programm in Hamburg und Berlin, mit Übertragung auch auf Deutsche Welle, Mirag und Sürag): Als Gott Himmel und Erde schuf, 10.10.1926; Als Gott die Bäume und Blumen schuf, 17.10.1926; Sonne, Mond und Sterne, 24.10.1926; Adam und Eva, Als Gott die Tiere schuf, 31.10.1926; Das Engelfest im Paradies, 07.11.1926. Bodenstedt, Hans: Goldhärchen und der Ticketick. Funk-Stunde Berlin, 10.01.1926, 15:30. Quelle: Die Funk-Stunde (1926) 2, 31 – Norag Hamburg, 17.01.1926. Quelle: Die Norag
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3 (1926) 2, 8. Weitere Folgen: Prinz Wassertröpfchen trägt das Glück. Berlin, 17.01.1926 – Hamburg, 24.01.1926; Goldhärchen in der großen Stadt. Berlin, 24.01.1926 – Hamburg, 31.01.1926; Korinthchen und Rosinchen. Berlin, 31.01.1926 – Hamburg, 07.02.1926; Schutzengleins Schloß am Abendstern. Berlin, 07.02.1926 – Hamburg, 14.02.1926; Holper, Stolper, Pürzelchen. Berlin, 14.02.1926 – Hamburg, 21.02.1926; Goldhärchen und Goldkäferchen. Nur Hamburg, 28.02.1926; Goldhärchens Hochzeit. Berlin, 28.02.1926 – Hamburg, 07.03.1926. Bodenstedt, Hans: Funkheinzelmanns Großstadtmärchen: Brennicke beschwört den Maschinenkarl. Funk-Stunde Berlin, 05.02.1928, 15:30. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 6 (1928) 6, 374; Übertragung auch auf Stettin und Deutsche Welle (ebd., 375). Weitere Folgen (mit Übertragung auf die gleichen Sender): Der Straßenbahnschaffner fängt den Funkenpuck, 12.02.1928; Haus im Licht, 26.02.1926; (u. d. Serientitel) Funkheinzelmanns Großstadtmärchen: 11.03.1928; 26.03.1928; 22.04.1928; 29.04.1928; 06.05.1928; 13.05.1928; 14.10.1928; von Hamburg aus mit Übertragung auch auf die Funk-Stunde, Deutsche Welle und die Sürag: Brennecke fährt nach Amerika, 22.07.1928; Brennecke flieht zu den Tieren, 19.08.1928; Brennecke entdeckt Berlin, 02.09.1928; Brennecke und der Erdgeist, 16.09.1928. Fliegel, Alice: Funkheinzelmanns Mädchenstunde: Die Zwillinge der Försterin. Gelesen von der Dichterin. Norag Hamburg, 29.09.1926, 17:15. Quelle: Die Norag 3 (1926) 39, 6; [fortgesetzt am 06.10., 13.10., 20.10. und 29.10.1926]. Funkheinzelmann der Norag [erste angekündigter Sendung]. 1. Funkheinzelmann erzählt. 2. Kinderlied (Hans Bodenstedt), Engelbert Humperdinck. Aus dem Manuskript gesungen von Fräulein Falck. 3. Hänsel und Gretel, aus dem Hausmärchen der Brüder Grimm, mit Motiven aus Engelbert Humperdincks Oper. Erzählt von Lotte Klein. Gesungen von Fräulein Helene Falck und Frau Aida Gotthart-Montes. Norag Hamburg, 04.05.1924, 17:00. Quelle: Die Funkwelt (1924) 4, [o. S.]. Stunde der Hitler-Jugend. Erster Nachmittag: Vater und Sohn. Leitung: Baldur von Schirach und Hans Bodenstedt. Norag Hamburg, 30.04.1933, 15:00. Quelle: Die Norag 10 (1933) 18, 15. Übertragung der Glocken der St. Michaelis-Kirche in Hamburg. Choral der Turmbläser des Norag-Orchesters. Funkheinzelmann hebt das neue Jahr aus der Taufe. Norag Hamburg, 31.12.1924; 24:00. Quelle: Die Norag (1924) 33, 6.
Diskografie Das Abenteuer des kleinen „E“ [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen. Musik. Illustr. von A. Bortz, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2663, Seite B). Das gefangene Lied [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2661, Seite B). Der Grillengeiger [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2662, Seite A). Der singende Baum [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt, mit Gesang von Kurt Rodeck. Berlin: Homocord (4-2362, Seite B). Der Singepuck [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2662, Seite B). Der Vogelpeter [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2661, Seite A). Die güldene Trompete [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Mus. Ill. Fritz Gartz. Berlin: Homocord (4-2361, Seite A). Ein Weihnachtstraum. [Schallplatte] (1928). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Berlin: Homocord (4-2663, Seite A).
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Funkheinzelmann beim Ticketick [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Mus. Ill. Fritz Gartz. Berlin: Homocord (4-2360, Seite B). Funkheinzelmann im Glockenland [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Mus. Ill. Fritz Gartz. Berlin: Homocord (4-2361, Seite B). Funkheinzelmann stellt sich vor [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Mus. Ill. Fritz Gartz. Berlin: Homocord (4-2360, Seite A). Johannismännchen [Schallplatte] (1930). Erzählt vom Funkheinzelmann [Hans Bodenstedt]. Homocord-Orchester und Kinderchor. Berlin: Homocord (H-62836). Johannisnacht – ein neues Fest [Schallplatte] (1930). Erzählt vom Funkheinzelmann [Hans Bodenstedt]. Homocord-Orchester und Kinderchor. Berlin: Homocord (H-62837). Wenn das Fräulein Violine Hochzeit macht [Schallplatte] (1927). Funkheinzelmann-Märchen, erzählt vom Funkheinzelmann Hans Bodenstedt. Mus. Ill. Fritz Gartz. Berlin: Homocord (4-2362, Seite A).
Theatrografie Bodenstedt, Hans/Krüger, Carl: Das Funkheinzelmann-Märchenspiel. Musik von Carl Krüger. Hamburg: Rufu 1926. Die wunderschöne Goldenhaar (Uraufführung?). Regie: Alfred Maak. Theater des Westens Hamburg 17.11.1929. Funkheinzelmann filmt! (Uraufführung). Regie: Luis Gutmann. Capitol Berlin. 01.12.1928. Funkheinzelmanns Bilderbuch (Uraufführung). Carl-Schultze-Theater Hamburg, 08.12.1927. Funkheinzelmanns Märchenreise (Uraufführung). Regie: Eric Charell. Großes Schauspielhaus Berlin. 06.11.1926. Funkheinzelmanns Märchenspiel (Erstaufführung). Regie: Martin Gien. Deutsches Theater Hannover. Anfang Dezember 1926. Funkheinzelmanns Märchenspiel (Erstaufführung). Regie: Robert Bürkner. Stadttheater Altona. 05.12.1926. Funkheinzelmanns Weihnachtsmarkt (Uraufführung). Regie: Eric Charell. Großes Schauspielhaus Berlin. 14.11.1925.
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Bühnenkinder wandern zum Rundfunk und/oder Film
Einmal zum Mond und zurück Peterchens Mondfahrt und seine mediale Reise Julia Benner
Abstract Peterchens Mondfahrt (Little Peter’s Journey to the Moon/Peter and Anneli’s Journey to the Moon/Peter in Magicland) is one of the most popular German stage productions for children. It depicts the adventurous journey of two siblings and an anthropomorphized cockchafer to the moon, where the companions hope to regain the beetle’s sixth leg. The play premièred in 1911; the script was first published in 1912. Since then, the story has undergone many transformations. Sometimes the whole story was adapted into a different medium, while at other times only single narremes were transformed. This article explores the transformations of Peterchens Mondfahrt published, shown or broadcasted between 1911 and 1945. It raises the question how the different versions of Peterchens Mondfahrt are linked to each other. In doing so, it examines different possibilities of describing these connections and questions the applicability of existing terminologies such as Medienverbund, multimedia franchise, commercial supersystem and rhizome. As all of these might function as combining points, the article touches aspects of popularity, mediality, sensuality, economy, time and space. In the end, the article argues that already existing terms are not able to describe the connections between the different Peterchens Mondfahrt versions sufficiently. Thus, this text argues for a differentiated terminology and hence for a distinction between direct and indirect as well as retrospective and prospective Medienverbünden.
J. Benner (*) Institut für Deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_9
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Vorgeschichte: Einleitung Peterchens Mondfahrt gehört zu den bekanntesten Unbekannten der deutschsprachigen Kinderliteraturgeschichte, wie auch Hans-Heino Ewers feststellt, wenn er schreibt: „Selten ist ein Publikumserfolg von Forschung und Kritik so vollständig ignoriert worden“ (Ewers 2006, 74).1 Umso bemerkenswerter ist die Langlebigkeit des aus Kinderzimmern, Fernsehern und Schauspielhäusern bis heute nicht wegzudenkenden Peterchens Mondfahrt, zu der zweifelsohne die verschiedenen medialen Transformationen maßgeblich beigetragen haben. Die story des von der Romantik geprägten, märchenhaften Erzählstoffs Peterchens Mondfahrt2 fokussiert einen rundlichen Maikäfer mit dem Namen Herr Sumsemann, dessen sechstes Beinchen zusammen mit dem für den Beinverlust verantwortlichen, frevelhaften Holzfäller von einer Fee auf den Mond verbannt worden ist. Gemeinsam mit dem Geschwisterpaar Peterchen und Anneliese will Herr Sumsemann nun sein fehlendes Bein zurückerobern und macht sich auf den abenteuerlichen Weg zum Mond. Dieser Beitrag begibt sich wiederum auf die mühsame Reise zur Beantwortung der folgenden, mit einander verwobenen Fragen: Ausgehend von dem Verständnis eines Medienverbunds als ein System von durch ein Copyright zusammenhängender (media mix/Franchising/ commerical supersystem, Produktverbund) oder gemeinsam rezipierbarer Einzelmedien,3 wird eruiert, ob es sich bei dem vorliegenden Material um einen Medienverbund handelt. Andernfalls soll festgestellt werden, wie sich dieses Phänomen beschreiben lässt. Geklärt werden soll außerdem, in welchem Abhängigkeitsverhältnis die verschiedenen Einzelmedien von Peterchens Mondfahrten4 zueinander stehen, durch welche „interne[n] Verfahren“ die Einzeltexte „eine
1In
den 1970/1980er-Jahren wurde vermehrt Kritik an Peterchens Mondfahrt geübt (vgl. dazu Schedler 1972; Jahnke 1977; Bauer 1980; vgl. auch Ewers 2008). Neben den genannten Beiträgen von Ewers wurde im 21. Jahrhundert bislang kaum über Peterchens Mondfahrt geforscht (eine Ausnahme stellt z. B. Steinlein 2008 dar). Allerdings wird der Stoff in allen einschlägigen Einführungen sowie relevanten Handbüchern und Lexika stets benannt. 2Gerdt von Bassewitz’ zweites Kinderbuch Pips der Pilz (1916) ähnelt Peterchens Mondfahrt. Auch hier geht es um eine Reise und auch hier sind eine Fee, die Natur und das Weihnachtsfest bedeutsam. 3Zur deutschsprachigen Forschungslage s. z. B. Kümmerling-Meibauer 2007; Frederking/Josting 2005; Hengst 1994; Josting/Maiwald 2007; Josting 2013; Kruse 2014; Maiwald 2007 und 2010; Kurwinkel 2017; Meier 2020; Renner 2013. Es geht mir in dem Beitrag nicht um eine ausführliche Diskussion des Begriffs Medienverbund im Allgemeinen, weshalb die Forschungslage zum Medienverbund hier auch nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt wird, wodurch außerdem Redundanzen innerhalb des Bandes vermieden werden können. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage nach der Anwendbarkeit des Begriffs in Bezug auf das konkrete, mir vorliegende Material. Von darüber hinausgehendem Interesse ist die Frage, wie bzw. durch was die Einzelelemente miteinander verbunden sind. 4Da die im Folgenden betrachteten Medien unterschiedlicher Natur sind, werden sie wahlweise als Einzelmedien oder als Peterchens Mondfahrten bezeichnet, um eine möglichst neutrale Bezeichnung zu wählen.
Einmal zum Mond und zurück
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Beziehung zu anderen Texten entwickeln“ (Meier 2020, 77) und ob sie zeitgenössisch potenziell gemeinsam rezipiert werden konnten. Der besagte Stoff ist, soviel sei vorab verraten, bereits in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in unterschiedlichen medialen Varianten verfügbar, doch erschließt sich auf den ersten Blick nicht, wie sich diese aufeinander beziehen, was also den Kitt zwischen ihnen ausmacht. In den meisten Versionen untergliedert sich die Mondreise von Peter, Anneliese und Herrn Sumsemann – wie dieser Beitrag – in mehrere Stationen, die zudem der Anzahl der Maikäferbeine entsprechen: sechs. Den Ausgangspunkt der Erzählung bildet die Kinderstube von Peter und Anneliese, in der die Geschwister auf den unglücklichen Herrn Sumsemann treffen. Die Gefährten gelangen von dort aus zur Sternenwiese, wo sie dem Sandmann und den Sternchen begegnen, während ich im zweiten Abschnitt die Aspekte Autorschaft, Text und Popularität thematisieren werde. Weiter geht es zur Milchstraße und damit zur visuellen Gestaltung. Im Anschluss treffen sich im Schloss der Nachtfee Naturgeister zum Klönen, wobei im entsprechenden Abschnitt Klanglichkeit, Akustik und Musik im Vordergrund stehen sollen. Auf dem Großen Bären reitend, gelangen die Kinder und der Maikäfer zur Weihnachtswiese – also dem Ort schier unendlichen Konsums, der mich hier beschäftigen wird. Mit einer Kanone werden Peterchen und Anneliese schließlich zum Mond geschossen, wo sie sich mit dem gefräßigen Mondmann auseinandersetzen müssen, um das sechste Beinchen zurückzuholen. An dieser Stelle werde ich die Aspekte Zeit und Raum behandeln. Am Ende kehren die Reisenden nach Hause zurück, während dieser Beitrag theoretische und methodische Überlegungen anstellen und dabei versuchen wird, die Ausgangsfragen zu beantworten.
Die Kinderstube: Ausgangspunkt Unsere Reise beginnt … ja, wo eigentlich? Schon den Ausgangspunkt dieses variantenreichen Stoffes zu bestimmen, erweist sich als schwierig. So wurde Peterchens Mondfahrt zunächst bekannt als „Märchenspiel“,5 von Ewers „Unterhaltungsrevue“, „Weihnachtsmärchen“, „Kinderschauspiel“, „humoristische Parodie der Märchentradition“ (Ewers 2006, 74) und „moderne Märchenrevue“ (Ewers 2008) genannt. Peterchens Mondfahrt war beim Publikum außerordentlich beliebt und avancierte, laut Taube, zum meistgespielten Kinderstück des 20. Jahrhunderts (vgl. Taube 2000, 576). Bassewitz schrieb den Text im Jahr 1911 während eines Kuraufenthalts in dem berühmten Königsteiner Sanatorium von Oskar Kohnstamm, dessen Kinder Peter und Anneliese offenbar in den gleichnamigen Hauptfiguren verewigt sind
5So
ist es in den Anschlägen und in den Untertiteln der ersten Veröffentlichungen zu lesen.
218
J. Benner
(Terhorst 2013). Diese Form des Textentstehungsmythos und damit einhergehend der Autorschaftsinszenierung ist für Kinderliteratur geradezu prototypisch. Viele oftmals als Klassiker bezeichnete Bücher sind der jeweiligen Erzählung nach aus einem Spiel von und mit Kindern entstanden; man denke beispielsweise nur an A. A. Milnes Winnie the Pooh oder J. M. Barries Peter Pan, wobei auffallend ist, dass auch diese zentralen Figuren (Christopher-Robin sowie Peter, George, John und Michael Nicholas) nach reallebenden Personen benannt sind. 1912 wurde Peterchens Mondfahrt bei Rowohlt in Leipzig als Bühnenmanuskript, bestehend aus vier Bildern, erstveröffentlicht. Dieser frühe Text von Bassewitz ist zu einem Großteil in zuckrigen und etwas ungelenk daherkommenden Versen verfasst worden, weshalb es wenig verwundert, dass die anderen Werke von Bassewitz, der sich eigentlich als Autor der Erwachsenenliteratur etablieren wollte, von der Kritik beinahe einhellig geschmäht wurden (vgl. Stupperich 2017, 1). Während sich seine übrigen Bücher als Ladenhüter erwiesen, wurde Peterchens Mondfahrt schon innerhalb desselben Jahres in fünf Auflagen gedruckt. Ab der vierten Auflage erschien der nun erweiterte Text im Münchner Verlag der Weißen Bücher mit dem Zusatz ein Märchenspiel in sieben Bildern. Die um 1915 bei Kurt Wolff veröffentlichte, von Kriegssparsamkeit gezeichnete Ausgabe ist ebenfalls in sieben Bilder unterteilt, wobei die Nebentexte deutlich knapper ausfallen. Spätere Fassungen sind oftmals in sechs Bilder gegliedert. Der Text wurde also mehrfach verändert und in der Zeit vor 1945 konnte sich keine dominante oder gängige Variante durchsetzen. Der Zeitpunkt der Uraufführung im Alten Stadttheater Leipzig am 7. Dezember 1912 ist bereits ein Hinweis darauf, dass es sich bei Peterchens Mondfahrt in erster Linie um einen Erzählstoff im Kontext von bürgerlicher, vorweihnachtlicher Unterhaltung handelt (vgl. Schmidt 2017). Kinder einer Ballettschule führten dabei Tänze auf und die musikalische Leitung lag bei Josef Achtélik. Die Weihnachtsrevue unter der Regie von Paul Prina war beim Publikum sehr beliebt und wurde allein in Leipzig einhundertachtzig Mal gespielt (Kaiser 2014). Doch die Kritik war auch hier nicht immer gnädig, wobei sie in bürgerlichen Kreisen insgesamt sehr viel positiver ausfiel als beispielsweise in sozialdemokratischen (vgl. Stupperich 2017, 13 f.). Ohne Peterchens Mondfahrt direkt zu erwähnen,6 ereifert sich der zeitgenössische und offenkundig in der Tradition Heinrich Wolgasts stehende Kritiker Jacob Löwenberg in seinem kurz nach der Erstaufführung veröffentlichten Beitrag mit dem Titel Das Elend unseres Weihnachtsmärchens (Januar 1913) generell über diese Kunstform, die er abschließend als „bessere Schundliteratur“ (Löwenberg 1913, 155) bezeichnet: All ihre [der Schundliteratur; Anm. JB] Merkmale finden sich hier: die Sucht nach dem Abenteuerlichen, die Lust nach Sensation, an den unmöglichen Situationen, der Mangel an jeglicher Psychologie und eine Sprache, die jedem feiner Empfindenden
6Es
ist davon auszugehen, dass der offenbar in Norddeutschland lebende Löwenberg das Stück zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen hatte.
Einmal zum Mond und zurück
219
Backenstreiche gibt. Nur das gebe ich zu, eins fehlt vielleicht – die Absicht, auf die rohen Instinkte zu wirken, und also mildere ich mein Urteil und sage, sie gehören zur besseren Schundliteratur. (Ebd.)
Löwenberg bemängelt, dass die Produzent/innen von Weihnachtsmärchen Kinder nicht als anspruchsvolles Publikum wahrnähmen und daher auch nicht bemüht seien, Kunst zu schaffen. Er glaubt, hier keine ansprechende literar-ästhetische Gestaltung vorzufinden, sondern sieht in den Weihnachtsmärchen ein eklektisches Wirrwarr voll „blöde[r] Clownspäße, die eines guten Zirkus unwürdig sind“ (ebd., 150). Außerdem stört er sich an den seiner Meinung nach unnötigen und für Kinder unverständlichen Allegorien und nicht zuletzt am Ballett: Dieses entartete Kind des Tanzes, dieses Zwitterding von Unkultur und Überkultur! Nichts unnatürlicher, nichts widerwärtiger und unkindlicher als ein Ballett im Märchen. […] Aber im Märchen tanzt eben alles: Schneemänner und Nußknacker, Störche und Eiskristalle, und damit der Unsinn seinen Siedepunkt erreiche, tanzt der Gefrierpunkt ein Solo. (Ebd., 152)
Abseits der durchaus amüsanten Polemik lässt sich in diesen Zeilen Löwenbergs erkennen, dass sich viele inhaltliche (z. B. Anthropomorphisierung von Naturphänomenen) wie gestalterische Parallelen (z. B. Ballett) zwischen Peterchens Mondfahrt und anderen Weihnachtsmärchen dieser Zeit ziehen lassen. Doch anders als die übrigen deutschsprachigen Stücke ist Peterchens Mondfahrt bis heute bekannt, beliebt und viel aufgeführt. Das verleitet zu der Frage, was das Besondere an diesem Stoff ausmacht. So folgten auch unmittelbar nach der gelungenen Premiere in Leipzig zahlreiche Aufführungen, wobei vor allem denen in Berlin eine große Bedeutung zukam. Bassewitz selbst schreibt darüber: Das Stück ist in Berlin im Theater an der Weidendammer Brücke, das damals leer stand und zu diesem Zwecke von Freunden meiner Arbeit gemietet wurde, gegeben worden und zwar unter Beteiligung von Schauspielern aller großen Berliner Bühnen und des Orchesters des kgl. Opernhauses unter Schmalstichs Leitung, der mir eine sehr nette Begleitmusik für die Lieder geschrieben hatte. Das Stück wurde dann vom Künstlertheater (Nürnbergerstr.) unter Grunwalds Leitung übernommen und in der Saison 1913– 14 am Berliner Theater gegeben. (Bassewitz 1917, 8 f.)
Diese Inszenierung unter der Regie von Friedrich Zelnitz an der Weidendammer Brücke (13. Dezember 1913), also im Deutschen Schauspielhaus in Berlin,7 ist von der damaligen Kritik viel gelobt worden. Clemens Schmalstich, der nun die Musik komponierte und die musikalische Leitung übernahm, war von 1919–1920 Chorrepetitor und Kapellmeister an der Königlichen Oper (vgl. DBE 2008, 4). Das Bühnenbild wurde von dem vor allem für seine sozialkritischen Kunstwerke und als Mitglied der Berliner Secession bekannten Maler Hans Baluschek gestaltet. 19168 erschien der Text in der Prosafassung unter dem Titel Peterchens Mondfahrt – Ein Märchen in Berlin-Grunewald bei der Verlagsanstalt Hermann
7Heute
die Komische Oper. den Bibliotheken wird hier 1915 in eckigen Klammern – also als geschätztes Jahr – angegeben, Bassewitz selbst schreibt aber 1916. 8In
220
J. Benner
Klemm mit Illustrationen von Hans Baluschek. Dieser Text ist noch heute im Handel erhältlich, teilweise mit den Bildern Baluscheks, teilweise mit anderen Illustrationen versehen. Auch die Partituren von Clemens Schmalstich finden sich in einigen Ausgaben neben dem Text. Zur Zeit des Nationalsozialismus ebbte der Erfolg nicht ab, obwohl der Name Hans Baluschek nun etwas in den Hintergrund trat. Baluschek, dessen Bilder auch in den zur Zeit des NS-Regimes veröffentlichten Buchausgaben zu finden sind, war maßgeblich am Erfolg von Peterchens Mondfahrt beteiligt (s. u.), wurde aber vom nationalsozialistischen Regime als Marxist – er war Sozialdemokrat – und Schaffer sogenannter entarteter Kunst geächtet. An seiner statt wurde nun Clemens Schmalstich, der die Musik für das Theaterstück von 1913 komponiert hatte, in Rezensionen vermehrt genannt (vgl. z. B. Herzberg 1937),9 was wenig verwundert, da er seit 1932 NSDAP-Mitglied war (vgl. Klee 2007, 527).10 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Aufführungen des Stückes, das seine Erfolgsgeschichte bis heute fortsetzt; weitere mediale Adaptionen und Transformationen gesellten sich hinzu. So kam der erste Peterchens Mondfahrt-Film, bei dem es sich um einen live-action-Fernsehfilm in Schwarzweiß handelte, 1959 in die Kinos. Regie führten Gerhard F. Hering und Hein Heckroth. Die Eingangssequenz zeigt eine ältere Dame mit Dutt, die in der Nachfolge Perraults aus einem Märchenbuch vorliest, und verweist damit interessanterweise eindeutig nicht auf das Theaterstück, sondern auf das Märchenbuch. Allerdings hält sie nicht das Buch mit dem Prosatext und den Bildern von Baluschek in der Hand, sondern ein eigens für den Film hergestelltes Requisit. Da es sich um einen Realfilm handelt, werden übernatürlich-wunderbare Elemente – wie der anthropomorphisierte Maikäfer – vor allem durch aufwendige Kostümierung, bemalte Leinwände als Hintergrund und Mechanik hergestellt,11 was dazu führt, dass Parallelen zu Theateraufführungen und der Ästhetik der Pantomime/des Weihnachtsmärchens nicht von der Hand zu weisen sind. Des Weiteren erinnert der Film durch diese Ausstattung und die thematische Verwandtschaft teilweise an Géorge Méliès Le Voyage dans la Lune (dt. Die Reise zum Mond) von 1902. 1990 kam überdies ein animierter Film unter der Regie von Wolfgang Urchs in die Kinos, für den der für seine Filmmusik (z. B. Das Boot, Tatort, Die unendliche Geschichte) bekannte Klaus Doldinger auf Basis der Kompositionen von Schmalstich die Musik arrangierte. Der Film, bei dem es sich um die international oftmals einzig breiter bekannte Variante von Peterchens Mondfahrt handelt, wurde kurz
9Auf
die Beliebtheit der Kompositionen von Schmalstich zu dieser Zeit weist auch ein Aufruf in einer Exilzeitschrift hin. 1946 fragte Lydia Petrowa aus Mexiko in Aufbau: „Wer kann mir zwecks Inszenierung für jüdische Hilfszwecke Peterchens Mondfahrt von Schmalstisch [sic!] beschaffen?“ (Petrowa 1946). 10Schmalstich komponierte Musik für Theater, Oper und in den 1930/1940er-Jahren für den Film und war gerade zu dieser Zeit viel gefragt; 1933–1945 war er gar Professor an der Berliner Musikhochschule (DBE 2008, 4). 11Der Eisbär ist zum Beispiel eine Puppe, die auf einer Schiene befestigt wurde.
Einmal zum Mond und zurück
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darauf um einige Szenen erweitert, als fünfteilige TV-Serie (1992) ausgestrahlt.12 Im Mai 2019 wurde zudem die von Little Dream Entertainment produzierte „moderne Variante des Märchen-Klassikers“13 (Regie: Ali Samadi Ahadi) auf dem Internationalen Trickfilmfestival in Stuttgart aufgeführt.14 Auch Spiele existieren: Ein Brettspiel aus dem Jahre 1967 referiert dezidiert auf „das Märchen von Gerdt von Bassewitz“, das im Schachteltext nacherzählt wird; die Bilder von Bassewitz wurden zur visuellen Gestaltung des Spielplans und der Karten verwendet. Ein Legespiel-Set aus dem Pestalozzi Verlag besteht hingegen aus drei neu gefertigten Bildern, die zeigen, wie die Kinder zusammen mit dem Maikäfer aus dem Fenster ihrer Kinderstube fliegen. Auch die Schlittenfahrt auf der Milchstraße und der Besuch bei der Nachtfee sind zu sehen. Die Figuren sind rundlicher und wirken verniedlicht, doch lässt sich auch hier der Einfluss von Baluschenk deutlich erkennen, was insbesondere mit Blick auf das Schlittenfahrt-Bild evident wird. Schon jetzt wird deutlich, dass es sich bei Peterchens Mondfahrten um ein Thema mit vielen Fragezeichen handelt: Es könnte behauptet werden, dass die Verse von Gerdt von Bassewitz, also der originäre Text, den Startpunkt der medialen Reise von Peterchens Mondfahrt markieren. Allerdings stellt sich die Frage, ob dadurch nicht unzulässigerweise der Text privilegiert würde, bezieht sich doch nachfolgend keine Variante des Stoffes direkt auf diese Verse. Argumentieren ließe sich, dass die Aufführungen in Leipzig den Ausgangspunkt bilden, aber es könnte auch die Meinung vertreten werden, dass erst die Berliner Aufführungen, an denen Schmalstich und Baluschek beteiligt waren, Peterchens Mondfahrt wirklich populär gemacht haben. So beziehen sich die späteren Transformationen – wie bereits angedeutet – oftmals auf Baluscheks Bilder und/ oder Schmalstichs Musik. Wie aber lässt sich eine nicht aufgezeichnete Aufführung überhaupt auffassen und legt sie wirklich den Grundstein für die weiteren Medien? Wäre es dann nicht konsequent – und ich würde mich ausdrücklich nicht dafür aussprechen – das Spiel von Bassewitz und den Kindern Peter und Anneliese Kohnstamm als Ausgangspunkt aufzufassen? Darüber hinaus ließe sich argumentieren, dass es sich bei der Prosa-/Bilderbuchfassung um die insgesamt aus zeitlicher und räumlicher Sicht am weitesten verbreitete Variante handelt, auf die sich gerade spätere Transformationen primär zu beziehen scheinen. Es bieten sich also mehrere Ausgangspunkte des möglichen Medienverbunds an. Damit scheinen sich die Peterchens Mondfahrten vorerst als transmedial (vgl. u. a. Meier 2020; Rajewsky 2001) und rhizomatisch beschreiben zu lassen, in dem Sinne, dass ein „Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General“ (Deleuze/Guattari 1992, 36) darstellt. Diese von Deleuze und Guattari eingeführte Denkfigur bildet ein Gegenmodell zu hierarchisch-feststehenden Beziehungs- und Kommunikationsmodellen, die durch
12Es
gibt einige Ausnahmen, auf die im Folgenden weiter eingegangen wird. (12.03.2019). 14https://www.itfs.de/event/neuerzaehlung-von-peterchens-mondfahrt/ (26.06.2019). 13http://www.littledream-entertainment.com/filme/peterchens-mondfahrt/
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den Baum versinnbildlicht werden. Anders als der Baum gibt es im Rhizom keine feste Form oder Ordnung, sondern ein polyzentrisches und möglicherweise subversives Geflecht.15 Die Bestimmung eines originären Ausgangspunktes kann dadurch als obsolet betrachtet werden. Weiterhin interessiert jedoch, ob und wie diese einzelnen Medieneinheiten miteinander verknüpft sind und ob daraus tatsächlich ein rezipierbarer Verbund oder ein eben solches System entsteht. Dazu werden im Folgenden Aspekte untersucht, die als verbindendes Moment möglich zu sein scheinen und in der Forschungsliteratur häufig im Zusammenhang mit Medienverbünden genannt werden. Dementsprechend wird es nun darum gehen, die Grenzen des Medienverbunds auszuloten.
Die Sternenwiese: Autor und Text Der Name des Autors Gerdt von Bassewitz-Hohenluckow ist heute nur noch wenigen Menschen bekannt. Allerdings dürfte der Nachname dem einen oder der anderen schon einmal im Zusammenhang mit der Geschichte Deutschlands begegnet sein, da Bassewitz aus einem Adelsgeschlecht stammt, das in vielerlei Hinsicht politisch und kulturell bedeutend war und sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt.16 Biografisches über Gerdt von Bassewitz ist hauptsächlich aus seiner Selbstdarstellung zu erfahren, die er an den Pädagogen Franz Brümmer schrieb, der Schriftstellerbiografien für Lexika zusammentrug (vgl. Bassewitz 1917; s. auch Stupperich 2017). Mit anderen Quellen verglichen, erweckt diese Selbstdarstellung allerdings den Eindruck, geschönt zu sein. Jedenfalls schlug Bassewitz seinem Stande gemäß zunächst eine Offizierslaufbahn ein; es zog ihn jedoch immer zum Theater und – wie er an Brümmer schreibt – zur Astronomie, wodurch eine Begeisterung für die in Peterchens Mondfahrt hervorgehobenen Sterne deutlich wird (vgl. ebd., 5). Bassewitz arbeitete zunächst als Theaterkritiker und war später als „Regisseur und Intendanturassistent“ (ebd., 7) im Kölner Schauspielhaus beschäftigt. Er veröffentlichte einige Theaterstücke und einen Gedichtband, blieb damit jedoch erfolglos. Mehrfach hielt er sich zu Kurzwecken in verschiedenen Heil- und Kuranstalten auf, woraus hervorgeht, dass sein physischer
15Heute wird der Begriff Rhizom meist zur Um- bzw. Beschreibung von Hypertextualität verwendet. Auch wenn ich im Folgenden mit diesem Begriff arbeiten werde, möchte ich anmerken, dass ich ihm in zweierlei Hinsicht kritisch gegenüberstehe: Zum einen ist es aus meiner Sicht immer problematisch, Begriffe aus der Biologie zur Beschreibung von kulturellen Aspekten zu verwenden. Zum anderen hat sich der Begriff mittlerweile von seiner ursprünglichen Verwendung bei Deleuze und Guattari, die ihn in erster Linie im Kontext von Erkenntnisprozessen und Wissenssystemen verwendeten, weit entfernt. 16Es lassen sich hier Parallelen zum Maikäfergeschlecht der Sumsemanns ziehen (s. auch Ewers 2006).
Einmal zum Mond und zurück
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und/oder psychischer Zustand labil gewesen ist. Am 6. Februar 1923 beging Gerdt von Bassewitz Selbstmord, nachdem er bei einer Veranstaltung in der Villa Siemens am Wannsee aus Peterchens Mondfahrt gelesen hatte; in Sichtweite des Ortes, an dem sich seinerzeit auch der vielfach verehrte Heinrich von Kleist das Leben nahm. Über die Gründe für seinen Suizid kann allerdings nur spekuliert werden und so heißt es in dem Lexikon-Eintrag von Amrei Stupperich: Ob dies eine Folge der mangelhaften Anerkennung seiner Werke im Deutschland der Weimarer Zeit und etwa damit fortdauernder und während der Inflation sicher verschärfter finanzieller Sorgen oder der labilen gesundheitlichen Verfassung geschuldet war, ist bis heute nicht erforscht. (Stupperich 2017, 8)
Der Idee nach kann die Autorinszenierung zur medialen Ausweitung eines Werkes beitragen, vor allem, wenn der Schreibende zu einer Art Kultfigur avanciert, wie dies beispielsweise mit Edgar Allan Poe geschehen ist. Bassewitz war ein Mann aus einer prominenten Familie, der sich recht spektakulär das Leben nahm und der laut Zeitgenossen auch stattlich ausgesehen haben muss, wie aus Zeugnissen von Franz Kafka und Otto Klemperer hervorgeht (vgl. Kafka 1976, 407; Weissweiler 2010, 85 f.), sodass ein gewisses Rezeptions-Potenzial vorhanden war. Jedoch berichtete die damalige Presse so gut wie nicht über ihn und selbst sein Suizid schaffte es nicht in die Zeitung. Eine mediale Ausbreitung über die Rezeption des Autors kann also nicht verzeichnet werden. Genauso wenig konnten mediale Verbindungen, die über die Hauptfiguren verlaufen, nachgewiesen werden. In dem Untersuchungszeitraum gibt es weder ein Sumsemann-Spin-off noch eine Maikäfer-Puppe17 – und erst recht keine Merchandise-Artikel mit den blass gezeichneten Kindern Peterchen und Anneliese.18 Wenngleich der Maikäfer oft auch als Frühlingsbote galt, der besonders an Pfingsten Glück bringen sollte, und in der Literatur und Kultur – gerade in der Kinderliteratur – damals bekanntlich schon einen festen Platz hatte, galt er Anfang des 20. Jahrhunderts in landwirtschaftlichen Betrieben als Ungeziefer und Schädling (vgl. Zimmermann 2010, 157 ff.). Ewers erkennt in Herrn Sumsemann übrigens eine Parodie des Adels, der im Zeitraum nach Veröffentlichung des Märchenbilderbuchs bekanntlich deutlich an Popularität verlor und in diesem Zuge kann auch auf den Maikäferbund von 1848 verwiesen werden. Die Adeligkeit von Herrn Sumsemann und Herrn Bassewitz könnten somit ihrer Popularität
17Nicht
einmal der Name Sumsemann wird in allen Einzeltexten beibehalten. und Anneliese sind in Geschlechterstereotypen erstarrte Kindfiguren. Die Darstellung ihrer Charaktere bleibt also in Klischees verhaftet. Wie Peterchen recht treffend zusammenfasst: „Anneliese träumt immer von Schafen, Und ich viel lieber von Pferden und Grafen Und von Prinzen und Soldaten Und von Bonbons und Kuchen und Braten Und von…“ (Bassewitz 1912, 9) Womit denke ich auch geklärt wäre, warum es Peterchens Mondfahrt und nicht Peterchens und Annelieses Mondfahrt oder Herr Sumsemanns Mondfahrt heißt: hier träumt Peterchen. 18Peterchen
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im Wege gestanden haben. Insgesamt kann also die historische Situation (mit)verantwortlich gemacht werden für das Fehlen eines „character-driven media environment“ (Steinberg 2012, 19). Es ist mithin weder ein autorzentriertes verbindendes Merkmal wie bei Poe noch ein figurenzentriertes wie bei Spongebob Schwammkopf (vgl. Steinberg 2012; Bertetti 2014) und auch keine Kombination aus beidem wie bei J. K. Rowling und Harry Potter zu verzeichnen. Vielmehr wurden die an sich populäre story bzw. einige Narreme in verschiedenen Formen und Varianten mehrfach umgesetzt. Mitverantwortlich für deren Popularität scheinen ihre Anbindbarkeit an die Vorweihnachtszeit sowie die ihr inhärenten Verweise auf andere Künste (s. u.) gewesen zu sein. Jedenfalls greift hier der Begriff Transfiktionalität, der laut Marie-Laure Ryan passenderweise „die ‚Wanderung‘ fiktionaler Größen durch verschiedene Texte“ (Ryan 2013a, 92) beschreibt, am ehesten (vgl. auch Ryan 2013b; Saint-Gelais 2005, 613).
Die Milchstraße: Visuelle Gestaltung Es ist anzunehmen, dass der Illustrator und Bühnengestalter Hans Baluschek für die Popularität und die fortbestehende Rezeption von Peterchens Mondfahrt insgesamt bedeutender war als der Autor, was unter anderem die häufige Verwendung des Begriffs Bilderbuch für die Buchfassung von 1916 veranschaulicht. Baluschek unterhielt enge Beziehungen zur Kunst- und Literaturszene und war bekannt für seine sozialkritische Großstadtkunst. Er fertigte nicht nur die Illustrationen für das Buch an, sondern auch die Ausstattung für das im Deutschen Schauspielhaus aufgeführte Bühnenstück, wie Lothar Schirmer (2000) ermittelt hat.19 Einige Kostümund Bühnenbildentwürfe sind im Stadtmuseum Berlin erhalten und verdeutlichen im Vergleich mit den späteren Buchillustrationen, dass sie nicht unmittelbar zusammen entstanden sind, obwohl sich einige Figuren in den beiden Varianten gleichen. Bemerkenswert ist vor allem die Ähnlichkeit der Eismaxe-Darstellungen (Bühnenentwurf und Buch). Die Kleidung ist beinahe identisch und auch die Milchflasche ist in beiden Versionen vorhanden. Im Buch wurde jedoch der Eisbär hinzugefügt, während der Eismaxe auf dem Bühnenentwurf noch eine Glocke in der Hand hält (Abb. 1 und 2). Bezeichnenderweise lobten die zeitgenössischen Kritiken die Aufführung, waren aber besonders von Baluscheks Ausstattung angetan (Abb. 3a). So wurde im Berliner Tageblatt über eine „raffinierte[n] Ausstattungskunst“ berichtet, hinter der „die anspruchslose, aber anmutige Dichtung Gerdt von Bassewitz’ fast ein wenig zurücktrat.“ (zit. nach Schirmer 2000, 52) Auch die Tägliche Rundschau lobte „Baluscheks farbenprächtige und gemütvolle Bühnenbilder“; Bassewitz wird
19Auch
für die Bühnenfassung von Bassewitz’ Pips der Pilz (1916) fertigte Baluschek übrigens die Kostüme.
Einmal zum Mond und zurück
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Abb. 1 Hans Baluschek: Peterchens Mondfahrt, 13.12.1913. Aquarell, Deckweiß, Bleistift; 65,50 cm × 69,00 cm. Inv.-Nr.: TA 99/2054,3 Hz. (© Stiftung Stadtmuseum Berlin. Reproduktion: Oliver Ziebe, Berlin)
hingegen allein als „junger Dichter“ benannt (1913 war er bereits 35 Jahre alt), der Text verhalten als „volkstümlich“ beschrieben (Aus dem Kunstleben 1914). Dem Ausgeführten gemäß hat Baluschek nicht erst mit den Illustrationen für die Prosafassung an der Erfolgsgeschichte von Peterchens Mondfahrt mitgewirkt, sondern war schon viel früher daran beteiligt (vgl. Schirmer 2000, 52), wobei unklar bleibt, wie früh er tatsächlich involviert war. Auffallend ist jedenfalls, dass Baluschek das Motiv des schemenhaften Holzfällers im Mond vom Einband der Erstausgabe bei Rowohlt für seine Einbandillustration des Märchenbilderbuchs übernommen hat (Abb. 3b), was ein Hinweis darauf sein könnte, dass er tatsächlich auch schon vor der Berliner Aufführung beteiligt war.20 Es handelt sich bei 20Die
späteren Buchillustrationen unterscheiden sich deutlich von den Bühnenentwürfen und sind dementsprechend nicht zusammen entstanden.
226
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Abb. 2 Illustration aus: Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans: Peterchens Mondfahrt – Ein Märchen. Berlin-Grunewald: Hermann Klemm 3[1917], 79. (Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, BIV 2b, 875 )
der Illustration um ein raffiniertes Vexierbild, das – je nach Blickwinkel – das Gesicht des Mondes oder den dorthin verbannten Holzfäller zeigt.21 Wie auch die Erzählung spielt das Bild damit auf tradierte Märchen an, in denen ein Holzdieb zur Strafe auf den Mond verbannt und so zum Mann im Mond wird (vgl. Uther 2000, 77; Goldberg 1999).22 Im Gegensatz zum Text, der oftmals etwas abfällig rezensiert wurde, fand die Kritik für Baluscheks Bilder in der Prosafassung erneut nur Lob. Die Illustrationen wurden 1924 sogar im Original auf der Großen Berliner Kunstausstellung, die
21Der
Illustrator/die Illustratorin des frühen Einbandentwurfs ist jedenfalls nicht verzeichnet. entsprechendes Märchen mit dem Titel Das Märchen vom Mann findet sich in Ludwig Bechsteins Deutschem Märchenbuch. Auch Johann Peter Hebels Der Mann im Mond kann hier angeführt werden. 22Ein
Einmal zum Mond und zurück
227
Abb. 3 a Einband der „Märchenspiel“-Fassung von 1912 und b Märchenbilderbuch-Fassung [um 1917]
Baluschek von 1929 bis 1933 leitete, ausgestellt. Das ist umso erstaunlicher, als zwischen der Erstveröffentlichung und der Ausstellung immerhin acht Jahre lagen, was dafürspricht, dass diese Bilder als künstlerisch herausragend rezipiert wurden.23 Obwohl Ausstellungen für die Verbreitung und Rezeption von Medien bzw. einzelnen Stoffen eine große Rolle spielen, was beispielsweise mit Blick auf die aktuellen Harry Potter-Exhibition evident wird, wurden sie bislang in der Forschungsliteratur über Medienverbünde und Transmedialität vernachlässigt.24 Ähnlich wie Spiele animieren Ausstellungen die Besucher/innen zur Auseinandersetzung mit Kunst und gerade heute darüber hinaus zum aktiven Mitgestalten und Ausprobieren, womit der Erzählkosmos erweitert wird.
23Der
Verlag Hermann Klemm hatte auf der Ausstellung eine eigene Station in der Rubrik Das illustrierte Buch, in der neben den Bildern von Baluschek auch Illustrationen von Otto Engel zum Grünen Heinrich, Walter Klemm zu Don Quixot und Ekkehard und andere zu sehen waren (Grosse Berliner Ausstellung 1924, 86). Baluschek war zudem im Saal Filmkunst. Entwürfe und Modelle und mit seinem Bild Großstadt in der Rubrik Verein Berliner Künstler vertreten. Bei dem Film wird es sich wahrscheinlich um den Zille-Film Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) handeln, der unter dem Protektorat von Käthe Kollwitz und Hans Baluschek stand (vgl. Gandert 1993). Baluschek war Mitbegründer des Bundes für proletarische Literatur und im Filmprüfungsausschuss. 24Das gilt insbesondere für die Kinder- und Jugendliteraturforschung, museumsdidaktische Publikationen sind hingegen vorhanden (s. z. B.: Mateos-Rusillo/Gifreu-Castells 2018).
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Nach Hans Baluschek versuch(t)en sich verschiedene Künstler/innen an der visuellen Umsetzung von Peterchens Mondfahrt, wobei sich viele von ihnen an den Bildern des bekannten Malers orientierten. Diesbezüglich sind in der Zeit vor 1945 in Deutschland vor allem Theaterplakate relevant, die unter anderem von Künstler/innen wie Ingrid Wullenweber (1937)25 und Remigius Geyling (1926)26 angefertigt wurden.27 Aufschlussreich sind darüber hinaus einige Übersetzungen, die stets mit anderen Illustrationen versehen wurden. Der bedeutende Stockholmer Traditionsverlag Bonniers veröffentlichte das Buch 1930 mit Illustrationen von John Jon-And (Abb. 4) und später noch einmal 1955 in einer Übersetzung von Ellinor von Goette und Illustrationen von Torsten Århem auf Schwedisch. Der vom Kubismus und insbesondere von Kandinsky beeinflusste Illustrator John Jon-And war interessanterweise ebenfalls Szenograf bei der Kungliga Operan (Königlichen Oper), die das Stück 1934 aufführte. 1956 gab es zudem eine erwähnenswert ungewöhnliche isländische Ausgabe mit Illustrationen von Freysteinn Gunnarsson, in der Fotos einer Aufführung zu finden sind.28 Darüber hinaus führte 1930–1933 eine Künstler/innengruppe um Madge Atkinson Peterchens Mondfahrt im Prince’s Theatre und in der Milton Hall in Deansgate (beides in Manchester) auf. Durch die Bestände des Natural Movement Archive im National Resource Centre for Dance Archive der University of Surrey wird nachvollziehbar, dass das Stück Peter and Anneli’s Journey to the Moon lose auf dem bei Klemm erschienenen und von Baluschek illustrierten Buch basiert. Es wurde, so das Programmheft, von Madge Atkinson „frei adaptiert“ und zwar nach dem „Deutschen von Gert [sic!] von Bassewitz“ (eigene Übers.), wobei auch andere Quellen Verwendung fanden (NM/E/4/4). Ob aber die historischen Zuschauer/ innen Bezüge zu dem Text von Bassewitz herstellen konnten, ist mehr als fraglich, da erst im Jahr 2007 ein englischsprachiges Buch erschienen ist. Der Stoff Peterchens Mondfahrt konnte also nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Die Gruppe um die Choreografin Atkinson schuf für diese Inszenierung besondere Kostüme, die eine Symbiose mit der Tanzkunst bilden sollten. Die Künstler/innen suchten nach neuen Wegen, um sich auszudrücken und wollten dabei im Sinne des Natural Movements naturverbundene Kunst kreieren, wozu sie auch Ideen der Arts and Crafts-Bewegung aufgriffen, also bemüht waren, Handwerk und Kunst in Einklang zu bringen. Dabei entstanden Werke, die
25http://www.bildindex.de/document/obj04040932?part=0&medium=kg3219023,
Stöges (bunte Litographie, Süterlin, 1924. http://www.bildindex.de/document/obj14031054?part=0&medium =kb4357_050) (12.03.2019). 26Litographie, http://www.bildindex.de/document/obj16304377?part=0&medium=on2560097 (12.03.2019). 27http://www.bildindex.de/document/obj16304377?part=0&medium=on2560097 (12.03.2019). 28Neben den schwedischen Ausgaben konnten nach 1945 noch zwei englische (2007, 2008) sowie jeweils eine chinesische (2016), eine koreanische (2001), eine niederländische (2004) und eine georgische (2014) Ausgabe ermittelt werden, wobei unklar ist, warum das Buch im 21. Jahrhundert plötzlich mehrfach und in ganz unterschiedliche Sprachen übersetzt wurde.
Einmal zum Mond und zurück
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Abb. 4 Einband von John Jon-And: Lille Petters resa till Månen. (von Bassewitz © Bonniers: Stockholm, 1930)
Choreografie, Naturphilosophie, Töpferei, Körper und Mode ineinander vereinten. Es wurde, verkürzt gesagt, in der Natur getanzt und das in Kleidung, die sich an natürlichen Materialien und Mustern orientierte, wodurch das innere Wesen im tanzenden Körper gefunden werden sollte (vgl. Fensham 2015, 355). Die entsprechende Musik stammte von unterschiedlichen Künstler/innen, jedoch nicht von Achtélik oder Schmalstieg.29 Ohne den Titel wäre auf den Fotos der Aufführung von Atkinson und ihrer Truppe allerdings nicht zu erkennen, dass es sich um eine Adaption/Transformation von Peterchens Mondfahrt handelt; es könnte sich genauso gut um ein anderes Märchen von Sonne, Mond und Sternen handeln.
29Carroll,
Mendelssohn, Grieg, Swinstead, Heller, Tyrer und Howell. Manchester, den 3. Dezember 1932. http://www.dance-archives.ac.uk/media/1088 (10.03.2018) „Peter and Ann's Journey to the Moon“ (1930), Natural Movement: NRCD. URL: http://www.dance-archives. ac.uk/media/1088 [August 29, 2017] (12.03.2019).
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Auch finden sich neben Peter, Ann und dem so benannten Mr. Beetle zahlreiche weitere Figuren wie Schmetterlinge. Jedoch verdeutlicht das Programmheft, dass sich die Struktur an dem Text von Bassewitz orientiert und einige der Stationen (Schlafzimmer, Sternenwiese, Schloss der Nachtfee, Mond) übernommen worden sind. Auch in der Königlichen Oper in Stockholm wurde, wie bereits bemerkt, Peterchens Mondfahrt 1934 als Tanzstück aufgeführt. Vor 1945 waren viele der Aufführungen also besonders bewegungsintensiv, was nicht nur in der Tradition der bürgerlichen Weihnachtsmärchenrevue begründet ist, sondern auch mit dem fantastischen Reisemotiv korrespondiert. Unterschiedliche Künstler/innen stellten sich den Herausforderungen, die der Text mit Blick auf eine visuelle Umsetzung mit sich bringt, offenbar gerne und experimentierten dabei mit verschiedenen Stilen und Formen. Die bildliche Gestaltung von Peterchens Mondfahrt war demzufolge keineswegs einheitlich, sondern passte sich verschiedenen Trends und Strömungen an. Interessant ist darüber hinaus, dass sich die Mondfahrt-Elemente in Deutschland – abgesehen von der Berliner Ausstellung – jeweils an Kinder richten und als kinderspezifisch rezipiert werden. Bei den ausländischen Medienelementen scheint dies jedoch nicht immer der Fall zu sein, sodass nicht nur eine räumliche Ausweitung, sondern auch eine der Zielgruppen zu verzeichnen ist.
Das Schloss der Nachtfee: Klanglichkeit und Musik Wie in den vorherigen Ausführungen bereits angeklungen ist, spielen die akustisch-musikalischen Komponenten in Peterchens Mondfahrt und seinen Transformationen eine wichtige Rolle. Fast alle späteren Versionen machen sich die Tatsache zunutze, dass im Text Lieder vorhanden sind und für die Bühnenfassung Musik existiert. Darüber hinaus werden nicht nur im Ausland vor allem tänzerische Aspekte in Aufführungen betont, auch die Uraufführung involvierte Ballett. In allen späteren Filmen wird viel gesungen und aktuell sind auffällig viele Audiomedien und Medienkombinationen von Peterchens Mondfahrt auf dem Markt, die teilweise im Medienverbund mit bestimmten Filmen oder Serien produziert werden oder den Erzähltext als Hörbuch oder Hörspiel adaptieren. Die Musik zur Uraufführung schrieb Josef Achtélik, doch galten die Noten bis vor einigen Jahren als verschollen. Wie der MDR berichtet, entdeckte sie der Enkel des Komponisten auf dem Dachboden und so konnte der Kinderchor des MDR das Stück passend zum 100-jährigen Jubiläum im Jahr 2012 aufführen (vgl. Terhorst 2013, 77). Allerdings ist, wie erwähnt, bis 1945 die Musik von Clemens Schmalstich zentral gewesen und wurde auch für Hörspiele und Filme nach 1945 verwendet. Darüber hinaus ist in allen verfügbaren Varianten des Stoffes die lautmalerische Sprache der Mondbewohner/innen umgesetzt, die zu einer Adaption in einem akustischen Medium geradezu verleitet. So sagt der Donnermann immer „Potz Donner“, der Regenfritz lässt fortwährend das lautmalerische „Drüppelü –
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tüp – tüp“, die Blitzhexe „Sirrr, sirrr“ und der Sturmriese „Hu – hu“ in die Rede miteinfließen. Der Wassermann blubbert zwischendrin: „Putsch – patsch – blubber – quax!“ (Bassewitz 1912, 69) und der militärische Eismax berlinert. Die direkte Rede der Elementgeister findet sich auch in der Prosafassung in Versform wieder. Diese Onomatopoetik macht den Text besonders attraktiv zum Vorlesen, weshalb es kaum verwundert, dass Peterchens Mondfahrt sehr früh im Rundfunk umgesetzt wurde, nämlich 1925, als das Radio als Unterhaltungsmedium sich gerade erst zu etablierten begann. Bei den 1925 ausgestrahlten Sendungen handelt es sich vorwiegend um Märchenspiele, die manchmal auch nur einen Teil des gesamten Stückes umfassen. In der Nordischen Rundfunk AG (Norag) wurde beispielsweise Die Weihnachtswiese aus Peterchens Mondfahrt im Rahmen einer Weihnachts-Märchenstunde aufgeführt, in der neben Musik auch Gedichte von Theodor Storm und Richard Dehmel zu hören waren. Außerdem wurde z. B. im Schlesischen Rundfunk eine Fortsetzungsreihe von Peterchens Mondfahrt gesendet. Bedenkt man, wie wenige Radiosender damals existierten und darüber hinaus, wie wenige Kinderfunksendungen, die erst Jahre zuvor initiiert wurden (vgl. Wicke 2016), zu diesem Zeitpunkt ausgestrahlt wurden, so beeindruckt die Tatsache, dass es 1925 gleich drei Rundfunkadaptionen von Peterchens Mondfahrt gab.30 Es lässt sich also festhalten, dass musikalische und visuelle Komponenten für die verschiedenen Umsetzungen bedeutsam sind. Bezüglich Text, Musik, Performanz und Illustrationen gibt es dominantere Varianten, die Gestaltung wechselt aber sehr oft. Zudem kann man sowohl das Theaterstück als auch das Märchenbuch, das nicht ohne Grund mal Prosafassung, mal Bilderbuch genannt wird, wie auch alle anderen vorgestellten Varianten als Medienkombination auffassen. Jede einzelne Peterchens Mondfahrt hat damit ein besonders großes Potenzial, weitere Medien(-kombinationen) anzuregen.
Die Weihnachtswiese: Konsumorientierung und Branding Peterchens Mondfahrt weist insgesamt eine hohe Konsumorientierung auf. Schon die ersten Zeilen der Bühnenfassung beschreiben ein mit damaligen Luxusgütern ausgestattetes, großbürgerliches Kinderzimmer. Dort heißt es: Peterchens und Annelieses Schlafzimmer. In der Ecke links ein großes Bett mit bunten Vorhängen. Vorn links ein Spielzeugschrank, eine Puppenstube und ein Schaukelpferd. In der Mitte des Zimmers ein breiter, niedriger Kindertisch. Rechts vorn eine Tür hinter geblümten Vorhängen. Neben der Tür ein Kleiderschränkchen, Badewanne, Waschtischchen mit zwei Schüsselchen und eine bunte Kommode mit Bilderbüchern darauf. Im Hintergrunde breites Fenster mit Vorhängen und Blumen. (Bassewitz 1912, 7)
30Vgl. die Online-Datenbank des DFG-Projekts Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 (http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de).
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Die Reise führt die Kinder durch von Überfluss gekennzeichnete Landschaften, die an das Schlaraffenland erinnern: Bereits in der ersten Bühnenfassung ist die Weihnachtswiese zu finden, auf der das ersehnte Spielzeug in Hülle und Fülle wächst. Auch endet die Geschichte mit einem Weihnachtsfest, bei dem die Kinder reich beschenkt werden. In späteren Fassungen tauchen zudem ein Osternest und eine Fahrt mit dem Sandmann zur Nachtfee auf, die vorbeiführt an Milchbäumen mit Milchstraßenhonig, an Himmelsziegen, die den Mondspinat abgrasen, an einem Tausee mit Irrlichterfischen, an Himmelskühen und Mondkälbern und an einer Sternschnuppenwolke, aus der sich Sternschnuppenschneebällchen herstellen lassen.31 Damit wird der Schlaraffenlandcharakter, das Sinnliche und Überbordende, verstärkt. Nicht geworben wird in den Texten jedoch für andere Produkte aus einer Peterchens Mondfahrt-Reihe und so verleiten die Werke weder zum Kauf anderer Produkte noch zum Konsum weiterer Medien. Allerdings hatte die Herausgabe von Peterchens Mondfahrt als bebildertes Märchenbuch bzw. Märchenbilderbuch sicherlich nicht nur künstlerische, sondern auch ökonomische Gründe. Als Reklame im weiteren Sinne lässt sich zudem die Große Berliner Ausstellung auffassen, da hier die Bilder für das Buch werben. Ansonsten scheint es aber keine weiteren ökonomischen Verbindungslinien gegeben zu haben – auch in Rezensionen der Theaterstücke wird z. B. nicht auf das Buch verwiesen. Ein Marketing mit den Figuren oder den Illustrationen, wie es beispielsweise häufig mit den Bildern von Elsa Beskow betrieben wird, findet bis heute so gut wie nicht statt – oder es bezieht sich auf den Film von 1990.32 Ein episodenhafter und damit expansiver Charakter ist am ehesten in der Geschichte selbst angelegt, die in verschiedene Bilder untergliedert ist. Demzufolge lässt sich das Theaterstück in mehreren Bühnenbildern aufführen, die Geschichte abschnittsweise nacheinander vorlesen; und das macht wiederum z. B. Hörspielproduktionen in Fortsetzung besonders einfach. Weder die Musik von Achtélik noch Schmalstieg, weder die Bilder von Bassewitz noch John Jon-And zielen auf eine trashig-kommerzielle, wenn man so will massenkulturelle, Vermarktung ab. Vielmehr suggerieren sie wie auch der Text, dass ihr Zielpublikum aus Bürgerlichen und Adeligen besteht; das es wohlhabend und gebildet ist. Somit ist Peterchens Mondfahrt sozusagen das populäre Gegenprogramm zum Groschenheft, auch wenn Löwenberg dem Weihnachtsmärchen eine große Nähe zu diesen als Schund verschrienen Heften attestiert. Peterchens Mondfahrt betont seinen Kunstcharakter und verwehrt sich damit – zumindest vor 1945 – einer billigen Reproduzierbarkeit, die von Kritikern wie Benjamin und Adorno beklagt wurde.
31Außerdem
wird der Ritt mit dem großen Bären ausführlicher geschildert. gibt es zum Beispiel ein Schlafkissen: https://www.amazon.de/Kleines-SchlafkissenLavendel-f%C3%BCr-Kinder/dp/B06XV1JCJX/ref=sr_1_50?ie=UTF8&qid=1503473637 &sr=8–50&keywords=%22peterchens+mondfahrt%22 (12.03.2019).
32Hierzu
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Nebeneinandergestellt erschließt sich z. B. bei der Prosa-Ausgabe mit den Bildern von John Jon-And und den Bühnendekorationen von Baluschek auf den ersten Blick keine offensichtliche Verbindung. Assoziationen zu anderen Kunstgegenständen, Bildern, Erzählungen etc. sind nicht weniger naheliegend als die zu Bassewitz’ Peterchens Mondfahrt, was die Frage aufwirft, ob sie überhaupt als miteinander zusammenhängend rezipiert worden sind. Was unterscheidet also Peterchens Mondfahrten von Mickey Mouse-Medienelementen, die – so würde ich behaupten – auch schon vor 1945 als miteinander verbunden erkennbar waren? Anders als andere fiktionale Kinderliteraturtiere wie Mickey Mouse oder die Tigerente ist Herr Sumsemann nie zu einer kulturellen Ikone geworden. Wie Douglas B. Holt gehen viele Wissenschaftler/innen, die sich mit Werbestrategien und Branding befassen, davon aus, dass die Reduktion auf ein bestimmtes Symbol sowie die Verbindung des Produkts mit einer Person bzw. Figur mit einem konkreten Wertekanon bedeutsam für die Werdung und Wahrnehmung als kulturelle Ikone ist (vgl. Holt 2004, 1). Vor allem sei entscheidend, „that icons come to represent a particular kind of story – an identity myth – that their consumers use to address identity desires and anxieties“ (ebd., 2). Literatur (im weiten Sinne) eignet sich offensichtlich hervorragend, um Identitätsmythen und Wertesysteme zu verbreiten und um an Emotionen zu appellieren. In Peterchens Mondfahrt werden diese Aspekte sogar besonders plakativ herausgestellt. Was dem Peterchens Mondfahrt-Stoff allerdings fehlt, sind „material marker“ (ebd., 3) wie ein Logo und ein bestimmtes akustisches und/oder visuelles Design, die eine Wiedererkennbarkeit garantieren. Anders als im Fall von vielen nicht-literarischen Produkten existiert hier also eine story, aber keine Marke (vgl. ebd., 3; s. auch Radtke 2014 u. Szabo 2009). Insofern ist die mediale Ausbreitung von Peterchens Mondfahrt über eine lange Zeit und einen großen Raum umso beachtenswerter.
Der Mond: Zeit und Raum Zeit und Raum sind für verschiedene Systeme, darunter auch Literaturen, zentrale Größen. Zusammengenommen ist heute eine beträchtliche Anzahl von Peterchens Mondfahrten vorhanden, doch liegt zwischen den verschiedenen Elementen oftmals viel Zeit und teilweise auch ein für damalige Verhältnisse großer Raum, wofür es mehrere Gründe gibt, die nicht nur mit den damals teilweise längeren Produktionszeiten zusammenhängen. Doch spielen diese historisch bedingten Schwierigkeiten für die zeitlichen Lücken zwischen den einzelnen Peterchens Mondfahrten eine große Rolle: Zunächst verhinderten der Erste Weltkrieg und damit der Kriegsdienst sowie der Zusammenbruch von Gerdt von Bassewitz, ein schnell anschließendes weiteres Produkt/Medium. Zwischen der Herausgabe der Prosafassung und der Großen Berliner Ausstellung lagen wieder acht Jahre, die eventuell mit dem Tod von Bassewitz oder auch mit dem Niedergang des Kaiserreiches – bei der Familie von Bassewitz handelt es sich immerhin um sogenannten Alten Adel – zusammenhängen könnten. Bald darauf folgten
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Rundfunkumsetzungen und 1930 die schwedische Ausgabe. Für Kontinuität in diesem Untersuchungszeitraum sorgten das Prosa- bzw. Bilderbuch sowie das Theaterstück, doch handelt es sich bei Letzterem um eine sehr flüchtige Variante, die an Ort und Zeit gebunden und nicht mehr abrufbar ist – schließlich wurden Theateraufführungen nicht aufgezeichnet und schon gar nicht ins Internet gestellt. Dasselbe gilt für die Radiosendungen. Damit ist schwer vorstellbar, dass mehr als zwei Peterchens Mondfahrt-Medien vor 1945 zur selben Zeit von einer signifikanten Anzahl von Menschen rezipiert worden sind. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob dieses Rezeptionspotenzial ausreicht, um die Peterchens Mondfahrten als Medienverbund zu charakterisieren. Wie Holt herausstellt, ist es für den Brandingprozess bedeutsam, dass die story kollektiv rezipiert wird: „what makes a brand powerful is the collective nature of these perceptions“ (Holt 2004, 3). Anders gesagt: das Erleben des Produkts muss geteilt und erneuert werden können. Dies setzt jedoch voraus, dass es kontinuierlich verfügbar ist, was im Übrigen nicht nur für das aus Holts Sicht besonders erfolgreiche Cultural Branding wichtig, sondern auch für andere Brandingformen zutreffend ist. Die kontinuierliche Anwesenheit ist also grundlegend dafür, dass – je nach Brandingmodell – ein bestimmter Mythos performt, eine positive Assoziation oder eine tiefe emotionale Bindung hergestellt oder einfach eine massenhafte Aufmerksamkeit für das Produkt erzeugt werden kann (vgl. ebd., 14).
Zurück in der Kinderstube: Theoretische und methodische Überlegungen oder die Reise zum Medienverbund Wie festgestellt werden konnte, besteht zwischen den vor 1945 existierenden Peterchens Mondfahrten kein Markenzusammenhang und damit auch kein kommerzieller Medienverbund. Obwohl der Autor Bassewitz und der Künstler Baluschek für die ersten Expansionen verantwortlich zeichnen, fehlt eine Markenidentität genauso wie eine Markenlizenz, was dazu führt, dass sehr unterschiedliche Peterchens Mondfahrt-Medienvarianten existieren, die jedoch nicht unbedingt auf Anhieb als solche erkennbar sind, sondern stattdessen als eigenständige künstlerische Produkte wahrgenommen werden können. Es stellt sich also die Frage, ob die „Ähnlichkeitsbeziehung“ (Meier 2020, 83) der Einzelelemente stark genug ist, denn die Einzelelemente kommen keineswegs als Serie daher und nicht nur die visuelle Gestaltung, sondern auch der Titel wurde teilweise verändert, ja sogar der Name des Autors anders geschrieben. Zudem liegt zwischen den einzelnen Elementen ein teilweise so großer Zeitraum, dass das Zielpublikum nicht mehr als ein Medium rezipiert haben dürfte: Wer als Sechsjährige 1912 die Erstaufführung gesehen hat, wird sich 1916 – also als Zehnjährige – eventuell nicht mehr für das Märchenbilderbuch interessieren und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person im Alter von neunzehn Jahren gebannt auf die Hörfunkumsetzung gerade dieses Stoffes wartete, ist noch geringer.
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Somit werden Unterschiede offensichtlich zwischen Peterchens Mondfahrten und bekannten großen Medienverbünden, die beispielsweise von Marvel- oder Disney (wie z. B. Avengers, Star Wars) produziert werden. Da diese Unterschiede eklatante Auswirkungen auf die Rezeption haben, halte ich es insgesamt für sinnvoll, zwischen lizensierten und nicht-lizensierten Medienverbünden sowie direkten und indirekten Medienverbundbeziehungen zu differenzieren. Dies scheint über die Peterchens Mondfahrten hinaus auch mit Blick auf Nachahmungen relevant zu sein. Es kristallisiert sich also heraus, dass die Definition eines Medienverbunds durch ein Copyright die einfachste und pragmatischste Begriffsbestimmung ist. Allerdings birgt die Limitierung auf die durch ein Urheberrecht verbundenen Medienelemente die Gefahr, der ökonomischen Komponente übermäßig viel Bedeutung einzuräumen und Forschungen eher in den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich zu verlegen. Wenn aber die Medienelemente nicht durch ein Copyright zusammenhängen und auch nicht deutlich wird, auf welche Mondfahrt-Variante sie sich beziehen, stellt sich die Frage, wie dann eine Verbundenheit der einzelnen Elemente erzeugt wird. Diesbezüglich hat sich herausgestellt, dass die verschiedenen Peterchens Mondfahrt-Elemente in erster Linie durch einzelne und zugleich variierende Narreme zusammenhängen. Diese Verbindungen sind lose und unsystematisch, die einzelnen Elemente können nicht im Sinne einer Baum-Ordnung hierarchisiert werden. Vielmehr liegt es zunächst nahe, die (Un)Ordnung als rhizomatisch zu beschreiben. Dafür spricht auch, dass einzelne Kommunikationswurzeln gekappt werden können und das System trotzdem weiterwuchern kann. Es scheint für den Fortbestand von Peterchens Mondfahrt in dem von politischen, kulturellen und ästhetischen Umbrüchen gekennzeichneten Untersuchungszeitraum von Vorteil zu sein, dass an den Scharnierstellen der Umsetzungen Künstler/innen verschiedener sozialer Herkunft, ästhetischer Heimat und politischer Auffassung mitgewirkt haben. Allerdings würde ich nicht so weit gehen, die Verbindungen als hierarchiefrei zu bezeichnen. In dem Untersuchungszeitraum sind einige Varianten eindeutig dominanter und einige Künstlernamen sehr viel präsenter als andere. In den meisten Peterchens Mondfahrten und den entsprechenden Rezensionen taucht beispielsweise der Name Gerdt von Bassewitz auf, andere Mitwirkende – wie die Maskenbildner/innen oder die Schauspieler/innen – bleiben jedoch ungenannt. Zudem scheint in der historischen Situation die generelle Verknüpfbarkeit – und damit zusammenhängend eine generelle Rezipierbarkeit – der einzelnen Elemente nicht gegeben zu sein. Dieses „Prinzip der Konnexion und Heterogenität“ stellt nach Deleuze und Guattari jedoch eine Grundvoraussetzung eines rhizomatischen Modells dar: „Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muß mit jedem anderen verbunden werden“ (Deleuze/Guattari 1992, 11). So gesehen braucht es eine kontinuierliche und/oder breite Verfügbarkeit des Stoffes, um von einer rhizomatischen Verbreitung sprechen zu können – und auch zum direkten Medienverbund fehlt sozusagen das sechste Beinchen. Die aus heutiger Sicht vorhandene Materialfülle verführt schnell dazu, nachträglich enge Verknüpfungen genauso wie ein breites Referenzsystem anzunehmen, das sich in der historischen Situation jedoch nicht herstellen ließ, da die einzelnen Elemente örtlich und zeitlich zu weit
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voneinander entfernt waren. Damit wird auch die Beschreibung des Materials als Medienverbund fragwürdig, denn der Begriff Medienverbund wird verwendet zur Charakterisierung eines Systems mehrerer Einzelmedien und er zielt dabei vor allem auf die Rezeption dieses Systems ab, sei es mit Bezug auf Konsum, sei es mit Bezug auf Didaktik. Die Sichtung des Materials zu den verschiedenen medialen Transformationen von Peterchens Mondfahrt hat jedoch ergeben, dass eine zusammenhängende Rezeption mehrerer Elemente in der Zeit vor 1945 sehr unwahrscheinlich ist. Zwar können die verschiedenen Medien nachträglich im Medienverbund unterrichtet werden, abgesehen davon ist es jedoch kaum denkbar, dass sie zusammen rezipiert werden bzw. worden sind. Grund dafür ist nicht nur die fehlende Marke und damit die aus Marketingsicht verknüpfte Hoffnung, dass ein Kind nach der Lektüre von Peterchens Mondfahrt darauf drängt, dass ein passendes Brettspiel gekauft werden muss, bzw. aus didaktischer Sicht, dass ein Weihnachtsstück zur Lektüre des Textes anregt, sondern vor allem der Faktor Zeit, gekoppelt mit dem Faktor Ort. Hinsichtlich der Rezeption müsste der Begriff Medienverbund also historisch und räumlich (retrospektiv/prospektiv) gerahmt werden. Außerdem stellt sich die Frage, welche Elemente noch zu einem Medienverbund zählen können. Wo entfernt sich der Stoff so weit von vorausgegangenen Medien und Materialitäten, dass er ausgeschlossen werden sollte? Umgekehrt: Kann beispielsweise ein Tee Teil eines Medienverbundes sein? Ist er es nur dann, wenn auf der Packung ein entsprechender Text gedruckt ist oder können wir davon ausgehen, dass der Tee Peterchens Mondfahrt der Firma Tee-Maass die Weihnachtswiese auf olfaktorischer und geschmacklicher Sicht sinnlich erlebbar machen soll?33 Handelt es sich hier andernfalls nur um ein einfaches Zitat, das in einem anderen Kontext verwendet wird und daher nicht weiter beachtet werden sollte? Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es aus methodischer Sicht Sinn ergibt, sich zu Beginn zu fragen, was untersucht werden soll und zu welchem Zweck. Ansonsten entstehen bestenfalls allein phänomenologisch orientierte Arbeiten und es besteht die Gefahr, fleißig zu sammeln, ohne jedoch am Ende eine Erkenntnis gewonnen zu haben. Eine Forschung über das multimedial sinnliche Erleben könnte das zunächst eher abwegig erscheinende Tee-Produkt möglicherweise miteinbeziehen (vgl. dazu Slothower/Susina 2009). Systeme sind ausweitbar und verengbar. Daher ist sozusagen eine Kanone vonnöten, die gleichzeitig weit und präzise genug schießt. Und so ist es von Bedeutung, den Rahmen des Untersuchungsfeldes von vornherein festzulegen.
33Auf
der Webseite wird folgendermaßen für den Tee geworben: „SCHWARZTEE – PETERCHENS MONDFAHRT Eine der fantastischsten Geschichten die es gibt. Peterchens Mondfahrt fasziniert und begeistert jeden der das Buch in die Hand nimmt. Dieser schönen Geschichte ist diese leckere Schwarztee-Komposition gewidmet. Eine traumhafte Mischung mit Zimt-Anis Geschmack.“ Damit weist die Werbung eindeutig auf eine Buchversion von Peterchens Mondfahrt hin. Der Schwarztee kann zudem mit Nacht, die Gewürze mit Weihnachten in Verbindung gebracht werden. Tee-Maas: Peterchens Mondfahrt: https://www.tee-maass.de/html/peterchensmondfahrt/item-1-21242.html (12.03.2019).
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Wie aber sind so medial, gestalterisch und inhaltlich unterschiedliche Elemente wie die Aufführung in Leipzig, der isländische Erzähltext und die Radiosendung in der Norag miteinander verbunden? Es hat sich gezeigt, dass die Verbindungen zwischen den einzelnen Peterchens Mondfahrt-Elementen genauso wenig konkret sind, wie die Milchstraße ein betonierter Weg ist. Wir finden keine durchgezogenen Verbindungslinien vor, sondern allenfalls gestrichelte. Auch sind nicht alle der hier vorgestellten Elemente miteinander unter- oder überirdisch verbunden wie bei einem Rhizom. Vielmehr scheinen einige, um aller Skepsis diesen gegenüber bei den Naturmetaphern zu bleiben, durch Sporen befruchtet und gleichen damit den Pilzen. Die Einzeltexte stammen zwar von anderen ab, doch ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, von welchem. Überdies werden von Pilzen meist nur die Fruchtkörper wahrgenommen, die sich in verschiedenen Zeitintervallen und an mehreren Orten (z. B. Hexenringen) ausbilden können, während sich der eigentliche Pilz unbemerkt unterirdisch ausbreitet. Hier ist also keine leicht erkennbare Ordnung vorhanden und es gibt keine graden und genauen Linien, die von Element A zu Element B führen (vgl. Deleuze/Guattari 1992, 14). Die Elemente referieren erkennbar aufeinander, doch entzieht sich dies der flüchtigen Betrachtung, die hinsichtlich von Aufmerksamkeit und damit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Produkt gekauft und rezipiert wird, entscheidend ist. Des Weiteren kann mit Bezug auf Peterchens Mondfahrt festgestellt werden, dass es medienübergreifend wiederkehrende Narreme gibt und dass sich zur Beschreibung der hier untersuchten Phänomene der Begriff Transfiktionalität anbietet. Die Intermedialität der frühen Medienkombinationen und die synästhetischen Qualitäten des Textes, seine musikalischen Erzählformen und seine bildliche Sprache führen darüber hinaus dazu, dass sich die Narreme gut und einfach transmedial verbreiten und performen lassen. So wurde Peterchens Mondfahrt vergleichsweise schnell in den neuen Medien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umgesetzt. In den verschiedenen Medienkombinationen gehen Sprache, Bild und Musik eine symbiotische Beziehung ein, wobei mit unterschiedlichen Materialien und Ausdrucksformen gespielt wird. Deutlich wird also, dass der Bassewitzsche Text auf mediale Entgrenzung angelegt ist. Es ist ein in jeder Hinsicht sinnlicher Text, der auf eine mehrsinnige Rezeption und eine intensive Performanz abzielt. Es werden dabei Farben, Formen, Räume, Musik, Gesang und Tanz benannt, sodass teils pompöse Umsetzungen in Bild, Tanz, Oper, Ballett und Hörspiel nicht verwundern, sondern im Gegenteil vom Text geradezu gefordert werden. Darüber hinaus ist an Peterchens Mondfahrt besonders bemerkenswert, dass sich der Stoff über verschiedene Wege (Wurzeln und Sporen) weiterverbreitete und damit politische Umwälzungen, Trends und Modeerscheinungen sowie kultur- und marktspezifische Unterschiede überstehen konnte. Am Ende dieser Mond- und Medienverbundreise kann jedenfalls festgestellt werden, dass aufgrund der historisch bedingten Materialknappheit viele Fragen leider nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. So scheint der Weg zum Mond fast einfacher zu sein als der zum Medienverbund, doch gilt vielleicht auch hier, dass viele Wege am Ende zum Ziel führen.
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Literatur Primärliteratur Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans (Ill.): Pips der Pilz. Ein Wald- und Weihnachtsmärchen. Berlin-Grunewald: Hans Klemm, 1920. Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans: Peter and Anneli’s journey to the moon. A fairy tale. Übers. Marianne H. Luedeking. Great Barrington, MA: Bell Pond Books, 2007. Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans: Peter, Anneliese and Mr Sumsemann fly to the moon. Übers. von Yvonne Stadler. West Hobart, Tas.: Y. Stadler, 2008. Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans: Peterchens Mondfahrt und Prinzessin Huschewind. Berlin: Deutsche Buchgemeinschaft, 1932. Bassewitz, Gerdt von: Lille Petters resa till Månen. Übers. Ellinor von Goette. Bearb. von Stig Kassman. Ill. John Jon-And. Stockholm: Bonniers, 1930. Bassewitz, Gerdt von: Lille Petters resa till Månen. Übers. Ellinor von Goette. Bearb. von Stig Kassman. Umschlagillustration von Torsten Århem. Bonniers: Stockholm, 1955. Bassewitz, Gerdt von/Baluschek, Hans: Peterchens Mondfahrt – Ein Märchen. Berlin-Grunewald: Hermann Klemm, 3[1917]. Bassewitz, Gerdt von: Ferþin til tunglsins. Übers. von Freysteinn Gunnarsson. Reykjavík: Ísafoldarprentsmiþja, 1954. Kafka, Franz: Tagebücher 1910–1923. Hg. von Max Brod. Frankfurt a. M.: Fischer, 1976. Uther, Hans-Jörg (Hg.): Die schönsten Märchen von Sonne, Mond und Sternen. München: Knaur, 2000.
Filmografie Le Voyage dans la Lune (dt. Die Reise zum Mond) (F 1902). Regie und Drehbuch: Géorge Méliès. Peterchen’s Mondfahrt (BRD 1959). Regie: Gerhard F. Hering, Drehbuch: Gerhard F. Hering und Hein Heckroth. Peterchens Mondfahrt (TV-Serie): Regie und Drehbuch: Wolfgang Urchs. ZDF 25.12.1992– 26.12.1992. Peterchens Mondfahrt (D 1990). Regie und Drehbuch: Wolfgang Urchs.
Audiografie Bassewitz, Gerdt von: „Peterchens Mondfahrt“. Kindermärchen, erzählt von Kitty Seiffert. Schlesische Funkstunde Breslau: 11.10.1925; 18.10.1925; 25.10.1925; Quelle: Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 41, 2644; Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 42, 2716; Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 43, 2788, Uhrzeit: 16:00–16:30. Bassewitz, Gerdt von: Die Weihnachtswiese aus „Peterchens Mondfahrt“. Weihnachts-Märchenstunde. Mitwirkende: Gertrud Stolzenbach und das Kammerorchester der Norag. Ernst Koedel. Norag-Orchester. Quelle: Die Norag (1925) 51, 5, Uhrzeit: 16:15. Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel in sieben Bildern. Spielleitung: Friedrich Reinicke Schlesische Funkstunde Breslau: 20.12.1925; 25.12.1925; 31.12.1925;
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Quelle: Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 51, 3368; Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 51, 3388, Der Deutsche Rundfunk 3 (1925) 52, 464, Uhrzeit: 16:00. Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel in 7 Bildern. Norag Hamburg für alle Noragsender: 26.12.1926. Musik von Clemens Schmalstich. Dirigent: Fritz Gartz. Regie: Hermann Beyer. Quelle: Die Norag (1926) 51, 11, Uhrzeit: 16:30.
Theatrografie Anna-Lisa i Lille Petters resa till månen (1934), http://www.dansportalen.se/111/-fler-artiklar/ nyhetsarkiv/2010-09-17-ellen-rasch-jubilerar.html (03.02.2019). Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel. Musik von Clemens Schmalstich. Leipzig: Rowohlt, 1912. Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel. Musik von Clemens Schmalstich. Berlin: Drei Masken, 1916. Peterchens Mondfahrt (Uraufführung). Regie: Paul Prina. Altes Theater (Leipzig). 07.12.1912. Peterchens Mondfahrt (Erstaufführung). Regie: Friedrich Zelnitz. Theater an der Weidendammer Brücke. 13. Dezember 1913.
Andere Medien Große Berliner Ausstellung: Katalog 1924, https://doi.org/10.11588/diglit.12825#0093 (03.02.2019). Hof-/Staatstheater Stuttgart: Aufführungsakten 1922. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, E 18 VIII Hof-/Staatstheater, http://www.landesarchiv-bw.de/ plink/?f=2-34750-1 (03.02.2019). Kungliga Operan auf Facebook, https://www.facebook.com/KungligaOperan/ videos/10153476927934818 (03.02.2019). Kungliga Operan, http://www.dansportalen.se/111/-fler-artiklar/nyhetsarkiv/2010-09-17-ellenrasch-jubilerar.html (03.02.2019). Peterchens Mondfahrt – die aufregende Suche nach dem 6. Beinchen [Brettspiel]. Nürnberg: J. W. Spear Verlag 1967 (03.02.2019). Peterchens Mondfahrt Pestalozzi Legespiel Nr. 6895. Fürth/Bay: Pestalozzi [o. J.], https:// www.booklooker.de/Spiele/Peterchens-Mondfahrt-Pestalozzi-Legespiel-Nr-6895/id/ A0015VTc41ZZZ (03.02.2019). Peterchens Mondfahrt, Veranstaltungsplakat, Hg.: Operettentheater Leipzig. Leipzig, 11.1946, Deutsches Historisches Museum, Berlin, DG 90/4395. Peterchens Mondfahrt: Inszenierung: Wilhelm Speidel, Bühnenbild: Eduard Schmidt, Kostüme: Ernst Pils. Laufzeit: 4. Dezember 1938. Stuttgart, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, [E 18 III Bü 318], https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/ item/D4Z375KTPOQ7723SDXD7ANB2USPQKOUV?isThumbnailFiltered=true&query=p eterchens+mondfahrt&rows=20&offset=120&_=1503063279601&reqType=ajax&viewTyp e=list&firstHit=5YDT4MIYKOFWTN74UQPYCX3XZUZWLEWT&lastHit=lasthit&hitN umber=132 (03.02.2019). Schlafkissen „Peterchens Mondfahrt“, Amazon, https://www.amazon.de/Kleines-SchlafkissenLavendel-f%C3%BCr-Kinder/dp/B06XV1JCJX/ref=sr_1_50?ie=UTF8&qid=1503473637 &sr=8-50&keywords=%22peterchens+mondfahrt%22 (03.02.2019). Tee-Maas: Peterchens Mondfahrt, https://www.tee-maass.de/html/peterchens-mondfahrt/item-121242.html (03.02.2019).
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Einmal zum Mond und zurück
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Im Nimmer Nimmer Nimmer Land Wie Peter Pan Buch-, Theater- und Filmgeschichte schrieb Ulrike Preußer
Abstract Peter Pan has always been a popular subject matter in the Anglo-American area. In Germany, on the other hand, it took much longer for him to gain popularity. In this article, the history of Peter Pan’s origins and distribution is traced. Until 1945, it was primarily the theatre play translated into German, a film adaptation and the translation of some chapters from a novel published under the title Peter Pan im Waldpark that found their way into the German public. For this reason, this contribution also provides an outlook on the publication situation after 1945. The contribution does not take a biographically oriented perspective, but rather a textoriented one, from which the structure and development of the literary figure Peter Pan as a „transworld identity!“ (Doležel 1998, 17) repeatedly comes into view.
Einleitung So bekannt der Stoff auch heute zu sein scheint – Peter Pan brauchte lange, um in Deutschland Fuß fassen zu können. Bis 1945 waren es vornehmlich das ins Deutsche übertragene Theaterstück, eine Filmadaption und die Übersetzung einiger aus einem Roman ausgegliederter Kapitel, die unter dem Titel Peter Pan im Waldpark (Barrie 1911) veröffentlicht worden waren und ihren Weg zum deutschen Publikum fanden. Grund dafür könnte die äußerst verschlungene Entstehungsgeschichte sein, der der mediale Transfer im Sinne von „interliterarischen
U. Preußer (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_10
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Adaptionen“ (Schrackmann 2009, 30) bereits eingeschrieben ist und die in diesem Beitrag nachvollzogen wird. Dabei wird kein biografisch ausgerichteter Blickwinkel eingenommen, sondern ein textorientierter, aus dem die Anlage und Entwicklung der literarischen Figur Peter Pan als „transworld identity“ (Doležel 1998, 17) immer wieder in den Blick genommen wird.
Ein Roman für Erwachsene und ein Kinderbuch, das aus einigen seiner Kapitel besteht: The Little White Bird (1902) – Kleiner weißer Vogel (2010) und Peter Pan in Kensington Gardens (1906) – Peter Pan im Waldpark (1911) James M. Barrie ließ Peter Pan das erste Mal in einem Roman für Erwachsene auftreten – in The Little White Bird (1902). Als Kleiner weißer Vogel (Barrie 2010) wurde der Roman erst über hundert Jahre später den deutschsprachigen Leser/innen in einer Übersetzung von Michael Klein zugänglich gemacht und ist inzwischen vergriffen, ohne dass es zu einer zweiten Auflage gekommen wäre. Im Roman nimmt Peter Pan nur einen kleinen Teil des gesamten Geschehens ein, bildet eine Episode, die der Ich-Erzähler Captain W. dem kleinen Jungen David erzählt, den er für sich gewinnen möchte. Captain W. ist ein Beobachter, verfolgt mit Inbrunst und gleichzeitig ironischer Distanz das Leben der jungen Mary, die sich in einen Künstler verliebt und mit ihm ein Kind bekommt – den kleinen David –, nach dessen Gesellschaft sich Captain W. fortan immer sehnt. Es kommt zu einem Zusammentreffen, und schließlich eint die beiden eine Freundschaft, die im Roman in mehreren kleinen Anekdoten ihren Niederschlag findet. Die unverkennbar biografische Prägung des Romans, die auffällige Parallelen zu Barries eigener Bekanntschaft mit der kinderreichen Familie um Baron Arthur Llewelyn Davies aufweist und – wie es vom Autor bekannt ist – eine große Affinität zu Kindern, zu ihren Spielen und Denkweisen erkennen lässt, soll hier nicht weiter zurückverfolgt werden, da es an anderer Stelle hinlänglich geschehen ist.1 Vielmehr soll Peter Pans erster Auftritt in den Fokus genommen werden – hier in der bereits erwähnten Übersetzung von Michael Klein am Ende des dreizehnten und zu Beginn des vierzehnten Kapitels: Hier in der Nähe beginnt die Serpentine. Das ist ein hübscher See, und sein Grund besteht aus einem versunkenen Wald. Wenn du über den Rand schaust, siehst du all die Bäume verkehrt herum in die Tiefe wachsen, und man sagt, nachts seien darin auch ertrunkene Sterne zu sehen. Falls das so ist, sieht Peter Pan sie, wenn er mit seinem Drosselnest über den See segelt. Lediglich ein kleiner Teil der Serpentine liegt im Park, denn rasch verläuft sie unter einer Brücke hindurch in die Ferne, wo jene Insel liegt, auf der all die Vögel
1Zu
den biografischen Bezügen vgl. u. a. Birkin 2003, 46–55; Grieser 1987, 54–57; Green 1954, 13–28.
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geboren werden, die mal kleine Jungs und Mädchen werden. Kein Mensch, abgesehen von Peter Pan (der ja nur zur Hälfte ein Mensch ist), gelangt zu dieser Insel, aber man darf auf ein Stück Papier schreiben, was man sich wünscht (Junge oder Mädchen, dunkel oder blond), es zu einem Schiffchen falten und es zu Wasser lassen, und nach Einbruch der Dunkelheit erreicht es Peter Pans Insel. […] Wenn du deine Mutter fragst, ob sie als kleines Mädchen Peter Pan kannte, wird sie sagen: „Natürlich, Kind“, und wenn du sie fragst, ob er damals auf einer Ziege geritten sei, antwortet sie: „Was für eine dumme Frage, selbstverständlich.“ Wenn du anschließend deine Großmutter fragst, ob sie als kleines Mädchen Peter Pan kannte, wird sie ebenfalls sagen: „Natürlich, Kind“, wenn du sie jedoch fragst, ob er damals auf einer Ziege geritten sei, antwortet sie, von einer Ziege hätte sie nie etwas gehört. Mag sein, dass sie es vergessen hat, wie sie manchmal deinen Namen vergisst und dich Mildred nennt, wie deine Mutter heißt. Andererseits könnte sie schwer eine so bedeutsame Sache wie die Ziege vergessen. Infolgedessen gab es keine Ziege, als deine Großmutter noch ein kleines Kind war. Das zeigt uns, dass es ziemlich töricht wäre, die Geschichte von Peter Pan mit der Ziege zu beginnen (wie es die meisten Leute tun), derart töricht, als zögen wir die Jacke vor dem Hemd an. Es zeigt uns auch, dass Peter Pan schon sehr alt ist, aber er hat stets dasselbe Alter, so dass das nicht im mindesten etwas ausmacht. Sein Alter ist unveränderlich eine Woche, und obwohl er bereits vor langer Zeit geboren wurde, hat er niemals einen Geburtstag erlebt, noch besteht die geringste Möglichkeit, dass er je einen erleben wird. Der Grund dafür ist, dass er vor dem Menschendasein flüchtete, als er sieben Tage alt war; er flüchtete durchs Fenster und flog zurück in den Kensington Park. (Barrie 2010, 99–102)
Die Charakteristika, die bei dieser Einführung der literarischen Figur augenfällig werden, seien hier kurz zusammengefasst. 1) Der sprechende Name: Peter Pans Name erregt als Alliteration – und insofern als Aspekt der Verfremdung2 – Aufmerksamkeit und kann ein hohes Maß an Einprägsamkeit für sich beanspruchen. Die Zusammenführung eines geläufigen, häufig genutzten Vornamens mit der Bezeichnung eines Gottes stellt darüber hinaus auch noch ein Oxymoron dar. Dieser bereits in seiner Bezeichnung angelegte Widerspruch, seine – so könnte man es nennen – binäroppositionell angelegte Gestaltung, findet auch in seinem Wesen Niederschlag, was im Verlauf der Betrachtung der verschiedenen Adaptionen noch bedeutsam werden wird. Der im Namen angelegte Verweis auf den Gott des Weidelandes Pan, der neben seinen vielen weiteren Eigenschaften (die an geeigneter Stelle aufgeführt werden) als Beschützer (Hirte) der Schafe und Ziegen in die antike Mythologie eingegangen ist und mit seinen kleinen Hörnern und den Bocksfüßen markante äußerliche Merkmale mit diesen Tieren teilt (vgl. Grant/Hazel 1995, 318), wird durch die Erwähnung der Ziege auf der Textoberfläche expliziert. Darüber hinaus fokussiert auch der direkte Verweis auf Peter Pans halbe Menschlichkeit („der ja nur zur Hälfte ein Mensch ist“) seine übernatürliche, halb göttliche Wesensart. 2) Märchenhaft oder fantastisch: Nachdem Peter Pan zunächst unmittelbar, quasi wie ein alter Bekannter, in den Text Einzug hält, wird die Konzentration auf seine Geschichte nicht direkt, sondern indirekt vorgenommen, während dabei seine Existenz gleichzeitig beglaubigt
2Hier und im Folgenden werden die Begriffe Verfremdung, Autofunktionalität und das Vorherrschen der Konnotation ebenso wie semanalytische Grundlagen verwendet nach Link 2004.
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und desavouiert wird. Die Kapitel, die den Kensington Park thematisieren, sind wie weite Teile des Romans mehrfachautorisiert und -adressiert, denn es ist sowohl der als Erzählerfigur etablierte Captain W., der sich an David richtet (im Sinne eines generellen erzählerischen Vermittlungskonzepts), als auch ein fiktiver Autor, der sich an einen fiktiven Leser wendet, was aus der isolierten Lesbarkeit der Peter-Pan-Kapitel in Kleiner weißer Vogel immer wieder deutlich hervorgeht. Indem der fiktive Leser (bzw. David) dazu aufgefordert wird, seine Mutter bzw. Großmutter nach Peter Pan zu fragen, wird dieser zu einer Figur mit Tradition und Geschichte. Die über Generationen verbürgte Bekanntheit lässt dabei jedoch im Unklaren, ob Peter Pan als immer schon fiktive oder als reale (bzw. real-fiktionale) Figur in das kulturelle Gedächtnis der Protagonisten (oder der Leser/innen?) eingegangen ist. Darüber hinaus muss der Argumentation des fiktiven Autors (bzw. Captain W.s) kein Glaube geschenkt werden, da er sich an vielen Stellen des Textes als unzuverlässiger Erzähler erweist und er auch an dieser einräumt, dass die Großmutter die Ziege auch hätte vergessen können. Während er die An- oder Abwesenheit der Ziege letztlich aus dem gesunden Menschen- bzw. Kinderverstand heraus erklärt, kann die verschiedenartige Tradierung auch darin ihre Ursache haben, dass der Stoff um Peter Pan immer schon ein Märchen war, dessen Fortleben sich aus unterschiedlichen Quellen und damit aus unterschiedlichem Hörensagen speist. 3) Herkunft und Ablehnung des Menschendaseins: Peter Pan wohnt, darüber gibt seine erste Erwähnung im dreizehnten Kapitel Auskunft, im Kensington Park am Serpentine-See, den er mit einem „Drosselnest“ überqueren und mit dem er die Insel der Vögel, „die mal kleine Jungs und Mädchen werden“, besuchen kann. Hier wird bereits deutlich, dass kleine Kinder ihrem Wesen nach keine Menschen, sondern Vögel sind – eine Verwandtschaft, die im weiteren Verlauf des Romans noch vertieft wird. Peter Pan, seiner binäroppositionellen Anlage gemäß, ist nicht nur Mensch und Göttliches, nicht nur Mensch und Vogel, sondern auch jung und alt zugleich. Er wurde „bereits vor langer Zeit geboren“, hat aber „stets dasselbe Alter“ von sieben Tagen, „hat niemals einen Geburtstag erlebt“ und wird auch nie einen erleben. Der eigentliche Grund für seine in Folge angedeutete Flucht aus dem „Menschendasein“ wird ebenfalls erst im Verlauf der weiteren Kapitel expliziert. 4) Mütter und ihr Verhältnis zu ihren Kindern: Interessanterweise empfiehlt Captain W. (bzw. der fiktive Autor) ausschließlich, die weiblichen Verwandten nach Peter Pan zu fragen – die männlichen finden keine Erwähnung. Hiermit wird bereits implizit (durch Auslassung) Peter Pans Verhältnis zu Mädchen und Frauen – und zu Müttern im Speziellen – angedeutet. Peter Pans Geschichte entspannt sich in den folgenden Kapiteln zwischen den o. g. vier Eckpunkten: Aufgrund seiner Vogelherkunft jucken dem sieben Tage alten Kind die Schultern, es steigt auf das Fenstersims seines Schlafzimmers und fliegt zurück in den Kensington Park. Dabei ist es der festen Überzeugung, ein Vogel zu sein, und nur diese Überzeugung lässt es tatsächlich fliegen: Es ist ein Segen, dass er es nicht begriff [dass er kein Vogel war; U. P.], denn sonst hätte er das Vertrauen in seine Fähigkeit zu fliegen verloren, und im selben Moment, in dem man daran zweifelt, fliegen zu können, hört man für alle Zeit auf, es zu können. Der Grund, warum Vögel fliegen können und wir nicht, ist schlicht der, dass sie völliges Vertrauen haben, und völliges Vertrauen verleiht Flügel. (Barrie 2010, 105 f.)
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Die Vermittlungsstrategie des Erzählers ist dabei stets daran orientiert, Peter Pan – so wie alles Übernatürliche – zu plausibilisieren: Während eine märchenhafte Betrachtungsweise voraussetzen würde, dass man es mit einer in sich geschlossenen Sekundärwelt zu tun hat, in der nichts erklärt werden muss, weil eine solche ihren eigenen Regeln unterliegt, lässt Barrie seinen Erzähler immer wieder Vergleiche mit der real-fiktionalen, empirisch nachvollziehbaren Welt anstellen, die eine Durchlässigkeit zwischen Primär- und Sekundärwelt erzeugen.3 Die ständige Inbezugsetzung von Primär- und Sekundärwelt erzeugt dabei eine Auflösung der Frage nach Märchenhaftem oder Fantastischem in einem allegorisch-poetischen Blick auf die Alltagsrealität: Mit den Sinnen eines Kindes wahrnehmend ist zunächst alles wahr, was denkbar im Sinne eines „wilden Denkens“ (Lévi-Strauss) oder auch von „Egozentrizität“ (Piaget) ist (Rank 2002, 102).4 Nachdem die Elfen im Kensington Park alle vor Peter Pan Reißaus nehmen, fliegt er auf die Serpentinen-Insel zu Solomon Krächz, der ihm sein wahres Wesen enthüllt. Als „ein Dazwischen-und-nichts-Richtiges-und-nichts-Ganzes“ (Barrie 2010, 107) mit der äußeren Gestalt eines Menschen und dem Herzen eines Vogels, kann Peter Pan nach Gewahrwerden dieser Einsicht nicht mehr fliegen, muss sich mit seiner Eigenschaft als Halbwesen auseinandersetzen und richtet sich darauf ein, die Serpentinen-Insel nie mehr verlassen zu können. Da Solomon ihn aber alles zu lehren bereit ist, was ein Vogel weiß, eignet er sich ihren sorglosen Frohsinn an. Ausdruck seiner steten Freude ist Gesang – doch da er keine Stimme wie ein Vogel hat, bastelt er sich eine Flöte, auf der er seiner Unbeschwertheit Ausdruck verleiht. Das macht er mit einer solchen Inbrunst, dass alle Tiere der Insel geradezu verzaubert sind – ähnlich, wie auch der Gott Pan mit seiner Flöte zu verzaubern weiß (vgl. Grant/Hazel 1995, 318 f.). Bald befällt Peter jedoch eine große Sehnsucht danach, im Kensington Park zu spielen. Und tatsächlich gelingt es ihm, mit Hilfe eines Drosselnests als Boot und seinem Kindernachthemd als Segel die Insel zu verlassen. Die beiden Hilfsmittel, die Ausdruck seines Halbwesens zwischen Vogel und Mensch sind, verhelfen ihm auch zur Freundschaft mit den Elfen, die des Nachts – während der Schließzeiten – das Regiment über den Kensington Park führen. Es sind die weiblichen Feen, die voller Mitleid für Peter sind und ihn mit ihrer Fürsorge trösten wollen, da er trotz seiner Jugend mutterlos ist. In Folge verbringt Peter die Tage auf der Insel und die Nächte im Kensington Park, da er als Halbwesen nicht von den Menschen gesehen werden darf. Langsam keimt in Peter ein neuer Wunsch – er will seine Mutter
3Zum
Fantastischen im Peter Pan-Stoff allgemein vgl. Schrackmann 2009, 12–20. wird hier an Bernhard Rank und seine einigende Sichtweise auf die Ansätze von Gerhard Haas und Wolfgang Meißner: Beide legten zur Definition des kinderliterarischen Fantastischen ein „außerliterarisches Kriterium“ zugrunde. Bei Haas handele es sich um Claude Lévi-Strauss’ Ansatz des mythischen Denkens, bei Meißner um Jean Piagets spezifische Sicht des Kindes auf die es umgebende Welt (vgl. Rank 2002, 102). Trotz der daraus resultierenden unterschiedlichen Bestimmung des Fantastischen ist beiden Ansätzen zu eigen, ein spezifisch kindliches Denken als Triebfeder (und Muster) des Fantastischen anzunehmen, was sich an Barries Darstellung der Peter Pan-Figur nachvollziehen lässt.
4Angeknüpft
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besuchen, deren unverbrüchlichen Liebe er sich stets bewusst ist. Die Elfen helfen ihm bei der Umsetzung seines Wunsches, indem sie ihn eines Nachts zum Schlafzimmerfenster seiner Mutter fliegen lassen. Peter geht davon aus, dass es stets für ihn offensteht, da er überzeugt ist, dass seine Mutter ihn vermisst und auf seine Rückkehr wartet. Dem ist auch tatsächlich so, doch bei ihr angekommen, lässt er sie schlafen, da er sich nicht entschließen kann, endgültig bei ihr zu bleiben. Nach seiner Rückkehr in den Park schiebt er die Entscheidung für ein Leben bei seiner Mutter Tag um Tag weiter auf, bis er sich eines Nachts doch dazu bereit fühlt. Als er jedoch ihr Fenster erreicht, ist es verschlossen, „mit Eisengittern davor, und als er ins Innere spähte, sah er seine Mutter friedlich schlafen, und sie hatte ihren Arm um einen anderen kleinen Jungen gelegt.“ (Barrie 2010, 130). Barrie lässt die Lesenden durch die Vermittlung seines Erzählers wissen, dass Peters Erfahrung eine allgemeingültige Wahrheit in sich birgt, dass es nämlich „keine zweite Chance [gibt], nicht für die meisten von uns. Wenn wir das Fenster erreichen, ist Schließzeit, und die eisernen Stäbe sind vor uns aufgestellt fürs Leben“ (Barrie 2010, 130). Für Peter, Barries oder besser Captain W.s Protagonisten, geht durch diese Erfahrung die Gewissheit der bedingungslosen Mutterliebe verloren. Schlimmer noch: Die Mutter verrät ihren Sohn, indem sie sich einem anderen Kind zuwendet. Der damit markierte Verlust ist es, der Peters Verhalten nachhaltig prägt. Und das gilt weniger für seine weitere Ausgestaltung in Kleiner weißer Vogel als vielmehr für sein neuerliches Auftreten in vielen folgenden Adaptionen (vgl. Schrackmann 2009, 131–132). Im siebzehnten Kapitel trifft Peter Pan im Kensington Park mit Maimie Mannering zusammen, die ihrerseits die Geschichte von Peter Pan bereits kennt (vgl. Barrie 2010, 133). Maimie wird von ihrem Kindermädchen im Park vergessen und dort eingeschlossen und erlebt eine spannende Nacht in der belebten Natur, bis sie ein Gespräch mit Peter führt, aus dem sein Dasein als „Dazwischen-und-nichts-Richtiges-und-nichts-Ganzes“ (Barrie 2010, 147) in mehrfacher Hinsicht deutlich hervorgeht. Damit erklärt er zunächst Maimie seine Nacktheit, die ihr fremd und verwunderlich vorkommt. Indem er sich ihr nicht als Junge vorstellt, sondern als das Wesen, als das Solomon Krächz ihn bezeichnet, räumt er ihr gegenüber zunächst seine Halbwesenhaftigkeit ein. Aus dem Gespräch wird weiterhin deutlich, dass Peter Vorstellungen von menschlichem Verhalten, insbesondere von menschlicher Sprache und menschlichem Spiel besitzt, die stark von der durch Maimie verkörperten real-fiktionalen Welt abweichen. Peter erkennt Spielzeuge als das, was sie sind, er nutzt sie aber auf gänzlich andere Weise. Darüber hinaus weiß er nicht, was er mit einem Taschentuch anfangen soll, und als ihm Maimie schließlich einen Kuss geben will, hält er in Erwartung eines Gegenstands die Hand auf. Um Peter nicht zu verletzen, reicht sie ihm einen Fingerhut, den er sich sogleich aufsteckt – die späteren, zwischen beiden ausgetauschten Küsse werden infolge dieser bewusst herbeigeführten Verwechslung zu Fingerhüten. Die faktische Substitution und die Neukonstruktion des sprachlichen Zeichens verleihen der Beziehung zwischen Peter und Maimie einen besonderen Stellenwert. Unter anderem führen sie dazu, dass Peter Maimie heiraten will, auch wenn ihm nicht ganz klar ist, was das eigentlich genau bedeutet.
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Maimie aber kann sich nicht von ihrer Mutter lösen und Peter deshalb nicht auf die Serpentine-Insel begleiten – auch nicht, nachdem er sie über das Wesen der verräterischen Mütter aufklärt. Und doch hält Maimie Peter die Treue, indem sie ihn regelmäßig beschenkt, u. a. mit einer erfundenen Ziege, die die Elfen des Nachts zum Leben erwecken, damit Peter auf ihr durch den Park reiten kann. Maimie wird zur faszinierenden, die Mutter ersetzenden und überhöhenden Mädchenfigur, an die sich Peter immer wieder zurückerinnert. In ihr liegt seine Faszination für das Weibliche begründet, die Begegnung mit ihr erklärt, warum nur die weiblichen Familienangehörigen nach Peter Pan gefragt werden. Maimie ist es, die Peter zum einen zeigt, wie die Menschenwelt aussehen kann, die sich gleichzeitig auf ihn einlässt und ihm außerdem das Interesse und die Fürsorge entgegenbringt, die er von seiner verlorenen (und verräterischen) Mutter nicht mehr bekommen kann. Bereits 1906, nachdem das Theaterstück Peter Pan in England große Erfolge feiern konnte (vgl. Schrackmann 2009, 30), wurden die Kap. 13 bis 18 aus The Little White Bird unter dem Titel Peter Pan in Kensington Gardens mit nur geringfügigen Änderungen separat publiziert und dabei von Illustrationen von Arthur Rackham begleitet. Die Ausgabe richtete sich – und das war neu – dezidiert an Kinder. Schon 1911 wurde der Band (in freier Übersetzung von Irmgard Funcke) auch in Deutschland im Kiepenheuer Verlag veröffentlicht. Die sich gleichfalls an Kinder richtende Ausgabe enthielt nicht alle, aber 16 ausgewählte Illustrationen Rackhams. Erst 2011 wurde eine Neuausgabe unter dem Titel Peter Pan in Kensington Gardens in der Übersetzung von Selma Urfer publiziert. In dieser befinden sich 50 Illustrationen von Arthur Rackham (Barrie 2011). Diese Illustrationen führen vor Augen, was sich imaginativ bereits beim Lesen der ersten Vorstellung Peter Pans vergegenwärtigen lässt: Er ist in seinem äußeren Erscheinungsbild ein eine Woche alter Säugling und Arthur Rackham stellt ihn auch genau so dar. Das bedeutet, dass Peter, sofern er fliegt, mit einem Hemd bekleidet dargestellt wird – dem Hemd, das ihm beim späteren Durchqueren des Serpentine-Sees als Segel dienen wird – und, sowie er sich im Kensington Garden befindet, völlig nackt ist. Diese Vor- und Darstellung Peter Pans wird sich mit dem Bühnenstück grundlegend ändern. Doch bevor zu diesem übergegangen werden kann, muss noch ein weiterer Text zumindest kurze Erwähnung finden, der die Weiterentwicklung der Peter-Pan-Figur beeinflusst hat. Er trägt den Titel The Boys Castaways of Black Lake Island und wurde von Barrie 1901 während eines gemeinsamen Urlaubs mit der Familie Llewellyn Davies für die Kinder verfasst und in einer Auflagenhöhe von zwei Exemplaren gedruckt (vgl. Green 1954, 20–28). Ein Exemplar ging 1902 während einer Zugfahrt verloren, das andere befindet sich im Besitz der Beinecke Rare Books & Manuscript Library.5 Der Text
5Vgl. https://beinecke.library.yale.edu/collections/highlights/jm-barries-boy-castaways (16.09.2019). Die Angaben der Beinecke Rare Books & Manuscript Library der Yale University für die Erzählung The Boys Castaways of Black Lake Islands weichen damit von den Angaben ab, die KümmerlingMeibauer (2004, 72) in Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon macht.
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ist zwar ohne die literarische Figur Peter Pan gestaltet, und es kommen auch keine Elfen in ihm vor, doch speist er sich aus motivischen Versatzstücken, die im späteren Bühnenstück zentral werden: Piraten, Indianer, einsame Inseln und Schiffe und Schiffswracks (vgl. Green 1954, 20).
James M. Barries Peter Pan: Das englische und das deutsche Bühnenstück – Peter Pan, or the Boy Who Would Not Grow Up (1904/1928) – Peter Gerneklein (Der Knabe welcher nicht gross werden wollte) (1904/1910) – Peter Pan, oder Das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte (1952) Das Bühnenstück Peter Pan, or the Boy Who Would Not Grow Up wurde am 27.12.1904 am Duke of York’s Theatre in London uraufgeführt (vgl. Green 1954, 83), zum ersten Mal schriftlich jedoch erst 1928 publiziert (vgl. Schrackmann 2009, 31). Während die Übertragung von The Little White Bird ins Deutsche über hundert Jahre dauerte, wurde die Bühnenfassung von Peter Pan sehr viel schneller ins Deutsche übersetzt und – entgegen der im deutschsprachigen Raum stark variierenden Angaben – bereits am 23.12.1905 (also ein knappes Jahr nach der Uraufführung in London) unter dem Titel Peter Gerneklein (Der Knabe welcher nicht gross werden wollte) am Stadttheater Mainz uraufgeführt. Wie der Theaterzettel zeigt (Abb. 1), stammt die Übersetzung, auf deren Grundlage die Aufführung stattfand, von Berta Pogson. Unter dem abweichenden Titel Peter Gerneklein’s [sic] erster Christbaum. Weihnachtsmärchen mit Gesang und Tanz wurde diese Übertragung um 1910 bei Felix Bloch publiziert, doch ist inzwischen keine Ausgabe dieser offensichtlich ersten deutschsprachigen Übersetzung mehr erhältlich – die Staatsbibliothek zu Berlin meldet den Band als Kriegsverlust6 und auch dem Theaterverlag Felix Bloch Erben liegt keine Fassung mehr vor. Bereits die Abänderung des Titels von Peter Pan in Peter Gerneklein verspricht jedoch, einen neuen Einblick in die Rezeption des Textes im deutschsprachigen Raum zu gewinnen. Der sprechende Name, den Pogson verwendet, betont schließlich Peters Flucht vorm Erwachsenwerden und verstellt gleichzeitig den Blick auf das Halbwesenhafte der Figur, das bereits in The Little White Bird eine so zentrale Rolle spielt. Inhaltlich ist das Bühnenstück, das in England in der Tradition der Christmas Pantomimes steht und im deutschsprachigen Raum oft und gern (auch noch nach 1945) als Weihnachtsmärchen in großen Theatern aufgeführt wurde und wird, an dem orientiert, was Barrie für Kinderträume und -fantasien hielt, wie es Klaus Doderer zusammenfasst (vgl. Doderer 1995, 139). Im deutschsprachigen Raum ist die Beliebtheit des Bühnenstücks als eher mäßig einzustufen (vgl. Günther 2006, 63). Aktuell erscheint es immer mal wieder
6Vgl.
http://stabikat.de/DB=1/LNG=DU/CLK?IKT=12&TRM =443338787) (16.09.2019).
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Abb. 1 Ankündigung des Bühnenstücks Peter Gerneklein (Der Knabe welcher nicht gross werden wollte). Theaterzettel Mog: 2°/43, 1905/1906, im Besitz der Bibliotheken der Stadt Mainz – Wissenschaftliche Stadtbibliothek
auf dem Spielplan größerer Theater (insbesondere die Flugnummern und die vielen, auch stummen Rollen setzen ein gut ausgestattetes Haus und ein großes Ensemble voraus), doch führt dieser Umstand nicht dazu, dass eine prominente oder etwa mehrere verschiedene Übersetzungen problemlos greifbar wären.7
7Wenn im Folgenden aus der deutschen Übersetzung des Bühnenstücks zitiert wird, wird der Übersetzung von Erich Kästner gefolgt, die erst 1952 entstand. Dieter Petzold verweist noch auf eine weitere Übersetzung aus dem Jahr 1948, die von „K. Janecke und G. Blöcker“ stamme, aber „als unverkäufliches Bühnenmanuskript“ (Petzold 1994, 83) nicht zugänglich ist. Es existiert noch eine weitere deutsche Übersetzung von Bernd Wilms. Die Ausgabe ist als Schultheatertext ausschließlich über den Verlag der Autoren im pdf-Format beziehbar (vgl. SCHULTHEATERTEXTE.DE, https://www.schultheatertexte.de/peter-pan-oder-der-junge-der-nicht-erwachsen-werdenwollte, 16.09.2019); sie ist (vor allem in den Nebentexten) gekürzt und weist insgesamt einige
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Das in fünf Akte gegliederte Bühnenstück gilt als „richtungsweisend für die Dramaturgie“ der „Traum-Abenteuer-Spiele“ (Doderer 1995, 139), wie Manfred Jahnke (vgl. Jahnke 1977, 169 f.) Theaterstücke für Kinder ähnlichen Aufbaus nennt. Das Traum-Abenteuer-Spiel löst „als neuer dramaturgischer Typus“ (ebd., 169) das Weihnachtsmärchen auf deutschen Bühnen ab. Es unterscheidet sich von ihm im Wesentlichen darin, dass es konsequent die Perspektive des Kindes einnimmt und ist insofern Ausdruck des zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt einsetzenden reformpädagogischen Denkens (vgl. ebd., 170). Der erste Akt spielt im Haus, vornehmlich im Kinderzimmer, der Familie Darling: Die Kinder Wendy, John und Michael werden von ihren Eltern und dem Kindermädchen Nana – einer Neufundländerhündin – ins Bett gebracht. Während die Eltern eine Dinnerparty besuchen, kommt Peter Pan heimlich ins Zimmer der Kinder geflogen, um seinen Schatten zu suchen, den er bei einem vorangegangenen Besuch verloren hatte. Als er in Tränen ausbricht, weil er es nicht vermag, sich seinen Schatten wieder anzuheften, wacht Wendy auf. Nachdem sich die beiden einander vorgestellt haben und Wendy im sich anschließenden Gespräch erfährt, dass Peter keine Mutter hat, will sie ihn tröstend in den Arm nehmen, was dieser jedoch nicht zulässt: „Du darfst mich nicht anfassen […] Niemand darf mich anfassen“ (Barrie 1969, 271). Warum er unberührbar ist, weiß Peter selbst nicht – es handelt sich dabei aber um eine Aussage, die gemäß Regieanweisung auch tatsächlich im Stück umgesetzt werden soll und Peter damit eine Aura des Unnahbaren verleiht, die sich u. a. in seiner Halbwesenhaftigkeit ausdrückt. Wendy kennt sich in Sachen Schatten aus und weiß, dass Peters wieder angenäht werden muss, da andere Befestigungsmethoden nicht funktionieren werden. Indem sowohl Peter als auch Wendy in ihrer Eigenschaft als Kinder nicht nur an die Eigenständigkeit und Belebtheit von Schatten glauben (davon sind zumindest zum Teil auch die erwachsenen Darlings überzeugt), sondern an all die Entitäten und Zusammenhänge, die ihnen intuitiv (und nicht rational-kausal) wahr erscheinen, vermögen sie es, die Regeln einer rationalen Weltordnung außer Kraft zu setzen und an ihre Stelle das „wilde Denken“ – im Sinne von Haas’ Verständnis der Lévi-Straussschen Kategorie (Haas 1978, 349–350) – treten zu lassen. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn Peter Wendy erklärt, warum Feen existieren und wie sie sterben: Das ist so, Wendy: Als das allererste Baby zum allerersten Male lachte, zersprang das Lachen in tausend Stücke. Sie hüpften auf und davon. Und seitdem gibt es Feen. Auch heute noch wird aus dem ersten Lachen jedes Babys eine Fee. So müßte es eigentlich für jeden Jungen und jedes Mädchen eine Fee geben. […] Aber nein. Die Kinder sind so gescheit! Sie glauben an keine Feen mehr, und jedesmal, wenn ein Kind sagt: „Ich glaube nicht an Feen“, fällt irgendwo eine Fee tot um. (Barrie 1969, 272–273)
Abweichungen vom Ausgangstext auf. Wilms geht übertragungstechnisch anders vor als Kästner, z. B. belässt er die Namen im englischen Original und nennt das Land Nirgendwo (Never Land) „Niemalsland“ (Barrie 2008, 10). Ein Vergleich beider Übersetzungen steht noch aus und bietet großes Potenzial für eine tiefergehende Textexegese.
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Dass beide über Fähigkeiten verfügen, die dem anderen übernatürlich anmuten, ist ihnen noch nicht bewusst und wird zu Beginn des Gesprächs ausschließlich aus den Nebentexten des Bühnenstücks ersichtlich. Während Peter ungläubig darauf reagiert, dass Wendy durch das Betätigen eines Schalters Licht erzeugen kann – „Sie dreht am Schalter, und zu Peters Erstaunen wird es hell.“ (Barrie 1969, 271) –, weist die nullfokalisierte Erzählinstanz, die aus der entsprechenden Regieanweisung erkennbar wird, darauf hin, dass Peters Fähigkeit fliegen zu können, wiederum Wendy in Fassungslosigkeit versetzen wird: „Wahrscheinlich flöge er Wendy etwas vor, wenn er wüßte, daß Fliegen etwas Besonderes ist“ (Barrie 1969, 271).8 Im Gespräch zwischen Wendy und Peter erschließen sich außerdem einige Hintergründe zu Peters Lebensumständen, und es werden Einblicke in seine Weltsicht gewährt: Seine – wie in Kleiner weißer Vogel selbst gewählte – Mutterlosigkeit, seine Verbindung zu Feen und seine Unantastbarkeit wurden bereits erwähnt; darüber hinaus geht aus dem Dialog der beiden hervor, dass Peter bei den „verlorenen Jungens“ (Barrie 1969, 274) wohnt, die zu den Kindern gehören, „die aus dem Kinderwagen fallen, weil das Kindermädchen nicht aufpaßt. Wenn sie nach einer Woche nicht abgeholt worden sind, werden sie ins Land Nirgendwo geschickt“ (Barrie 1969, 274). Erich Kästner übersetzt das von Barrie noch so bezeichnete „Never Land“ (Barrie 1928, 34) in „das Land Nirgendwo“ und betont in dieser Überführung ins Deutsche stärker den Ort („Land“ und „-wo“), während die später gebräuchlichere Übersetzung „Nimmerland“ ein Kompositum darstellt, das Zeit und Ort miteinander verschmelzen lässt. Diese spätere Übertragung passt deutlich besser auf Peters Sichtweise auf sein selbst gewähltes Zuhause: Er vermag auf Wendys Nachfrage, wo er denn wohnen würde, zwar zu beschreiben, wie er – Raum und Zeit verknüpfend – dort hinkommt, nicht jedoch eine topologisch korrekte Lage oder gar eine Adresse anzugeben: „Second to the right and then straight on till morning.“ (Barrie 1928, 28) bzw. „Die zweite rechts und dann geradeaus bis morgen.“ (Barrie 1969, 270). Peters Begleiterin, die Fee Tinker Bell, die von Erich Kästner neologistisch-reduplikativ mit „Klingklang“ und noch nicht, wie in vielen späteren Übersetzungen, mit „Glöckchen“ übersetzt wird, ist nahezu untrennbar mit ihm verbunden, was bereits durch Mrs. Darlings erstes Gewahrwerden markiert wird: Der Junge war das erste Mal nicht allein. Mit ihm kam ein – ich weiß nicht, ob ich’s dir beschreiben soll, - eine kleine leuchtende Kugel, nicht größer als meine Faust, aber sie bewegte sich im Zimmer wie ein Lebewesen. (Barrie 1969, 264)
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Auffälligkeit des Bühnenstücks Peter Pan besteht im Verhältnis der Haupt- und Nebentexte zueinander und in ihrer speziellen Gestaltung, was aus den oben zitierten Textstellen bereits ansatzweise deutlich geworden sein wird. Klaus Doderer präzisiert diese Beobachtung wie folgt: „Auffallend an Barries Stück sind die ausführlichen Regieanweisungen des Autors, die weit über das übliche Maß von Bühnenbild- und Kostümvorstellungen oder sachlichen Hinweisen zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren hinausgehen. Der Nebentext gibt nicht nur Hintergrundsinformationen [sic!] zur Psychologie und zur sozialen Situation der Figuren, sondern dient vor allem der Ausmalung der atmosphärischen Grundstimmung, in die die Handlung eingebettet ist.“ (Doderer 1995, 140).
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Klingklang ist es, die Eifersucht ins Spiel bringt und das erste Zusammentreffen von Peter und Wendy diesbezüglich emotional auflädt. Wie in Kleiner weißer Vogel versucht Wendy im Bühnenstück, Peter zu küssen bzw. Peter dazu zu bewegen, sie zu küssen, was ihr jedoch nicht gelingt: PETER einlenkend: Was ist ein Fingerhut? WENDY: Es geht so … Sie beugt sich vor, aber irgendetwas hindert ihre Gesichter daran, sich zu berühren. PETER befriedigt: Soll ich dir jetzt einen Fingerhut geben? WENDY: Bitte sehr. Ehe er ihr nahekommen kann, schreit sie auf. PETER: Was hast du? WENDY: Mich hat wer an den Haaren gezogen! PETER: Das muß Klingklang gewesen sein! So frech war sie noch nie! Klingklang bimmelt. Sie steckt wieder in dem Krug. WENDY: Was hat sie gesagt? PETER: Sie wird dich jedesmal, wenn ich dir einen Fingerhut geben will, an den Haaren ziehen. WENDY: Warum denn? PETER ebenso ahnungslos: Warum denn, Klingklang? Sie klingelt, er übersetzt. Sie sagt schon wieder „Dummkopf“ zu mir. (Barrie 1969, 274 f.)
Wendy und Peter wissen weder, warum Klingklang Wendy an den Haaren zieht, noch warum sie Peter als Dummkopf beschimpft. Die Eifersucht wird insofern aus der Situation rekonstruierbar, als Klingklang sie mit ihrem Verhalten als solche markiert. Den Kindern, zumindest jedoch Peter, bleibt dieser unterschwellig erotische Aspekt ihres Zusammentreffens verborgen. Wendy allerdings, die sich von Peter einen als Fingerhut bezeichneten Kuss einfordert, lässt erkennen, dass sie durchaus ein an zwischenmenschlicher Nähe orientiertes Interesse an Peter hat. Indem sich Peter und Wendy hinsichtlich ihres animistischen Denkens grundsätzlich ähneln, sich durch ihre oppositionellen Welterfahrungen aber unterscheiden, gleicht ihre Figurenkonstellation der von Peter und Maimie in The Little White Bird nicht nur im Hinblick auf die übernommenen Geschehensmomente und Ereignisse (wie z. B. der Austausch von Fingerhüten und Küssen), sondern auch strukturell: Zwar wird im Bühnenstück ein anderer Handlungsraum etabliert (u. a. Innen- statt Außenraum), doch bleiben die Äquivalenzen und Oppositionen zwischen der fantastischen Figur Peter und dem ihm begegnenden, mit überwiegend real-fiktionalen Eigenschaften ausgestatteten Mädchen gleich. Peter will mit einer ungeheuerlichen Dringlichkeit Geschichten hören. Aus diesem Grund ist er überhaupt regelmäßig als unentdeckter Gast bei den Darlings zu Besuch. Diese Geschichten können Peters Auffassung nach nur weibliche Wesen erzählen – entweder Wendys Mutter oder Wendy selbst. Aus diesem Grund will er sie mit ins Land Nirgendwo nehmen. Dass Wendy ihre Brüder mitnehmen will, ist Peter egal – da sie es wünscht, zeigt er nicht nur ihr, sondern auch Michael und John wie man mit Hilfe von Feenstaub und glücklichen Gedanken fliegen kann. Gemeinsam machen sie sich auf ins Land Nirgendwo, wo Wendy zur Mutter von Peter und seinen verlorenen Jungs werden soll.
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Während Peter in Kleiner weißer Vogel und Peter Pan im Waldpark noch als Säugling dargestellt wird und außerdem so zurückgezogen lebt, dass er seinen Park niemals verlässt, haben sich diese beiden Merkmale im Bühnenstück geändert. Peter Pan sucht ein Haus auf und entführt die in ihm lebenden Kinder – er wird also aktiv. Äußerlich ist er nur wenig kleiner als die zwölfjährige Wendy und ist mit „Herbstblätter[n] und Spinnweben“ (Barrie 1969, 69) bekleidet. Später heißt es, er trüge einen „Laubanzug“ (Barrie 1969, 272). Ihr detaillierteres Erscheinungsbild, dass die Figur mit ihrem hohen Wiedererkennungswert ausstattet, wird sie aber erst im Laufe der zahlreichen Bühneninszenierungen und im Rahmen anderer medialer Bearbeitungen gewinnen (vgl. Klein 2010, 270) – im Wesentlichen also nach 1945. Im zweiten Akt schließlich gelangen die vier ins Land Nirgendwo, wo Peter bereits von den sechs verlorenen Jungs erwartet wird. Während die Lost Boys im englischen Original „Toodles“, „Slightley“, „Curly“, „Nibs“ und „First Twin“ und „Second Twin“ (Barrie 1928, 47–48) heißen, werden sie von Kästner zu „Tütchen“ (Toodles), „Bißchen“ (Slightley), „Löckchen“ (Curly), „Spitzchen“ (Nibs) und „Zwilling I“ und „Zwilling II“ (Barrie 1969, 279–280) gemacht. Die sechs verstecken sich, als der Piratenkapitän Hook – von Kästner mit einem erneut sprechenden Namen als „Haken“ (Barrie 1969, 281) ins Deutsche übertragen – mit seiner Mannschaft auftaucht, der stets auf der Suche nach Peter ist, um sich für die von ihm im Kampf abgeschlagene Hand (samt Armbanduhr) zu rächen, die ein gefährliches Krokodil aufgefressen hat. Das Krokodil verfolgt nun Hook seinerseits, um ihn vollends zu fressen und wird von diesem immer anhand seines tickenden Mageninhalts erkannt. Haken und seine Mannschaft ergreifen die Flucht, sowie sie des tickenden Krokodils gewahr werden. An ihrer Stelle treten die Schönheitskönigin der Indianer, Tigerlilly, und ihr Rotzbubenstamm auf und kurz darauf wieder ab. In der Zwischenzeit überzeugt Klingklang die verlorenen Jungs davon, dass Peter wünscht, dass sie den herannahenden vermeintlichen weißen Vogel – es handelt sich dabei um Wendy – mit Pfeil und Bogen abschießen. Tütchen kommt dem Wunsch nach und Wendy stürzt ab. Eine Eichel, die Peter ihr zuvor beim Austausch von Fingerhüten und Küssen geschenkt hat, rettet ihr das Leben. Peter verbannt daraufhin Klingklang für eine Woche und fordert die verlorenen Jungs auf, ein Haus um die bewusstlose Wendy herum zu bauen. Als sie erwacht, erklärt sie sich bereit, als ihre Mutter bei ihnen zu bleiben, wobei Peter die Vaterrolle übernehmen wird. Klingklangs intrigantes Verhalten verstärkt den Aspekt der Eifersucht aus dem ersten Akt. Mit Tigerlilly tritt zudem noch eine weitere weibliche Person auf, die um Peters Zuneigung buhlen wird und die alle „zur Frau“ (Barrie 1969, 285) wollen – mit Ausnahme von Peter selbst, dem erotische Gefühle völlig fremd sind. Er sehnt sich – wie auch später im dritten Akt die erwachsenen Piraten – nach einer Mutter. In diesem Wunsch und in Wendys Bereitschaft, als eine solche zu fungieren, obwohl sie „doch selber noch ein Kind ist“ (Barrie 1969, 292), zeigt sich deutlich, wie „[d]ie Rolle der Geliebten und liebenden Frau, der
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Sexualpartnerin, die sonst zumindest als eine natürliche Zwischenstufe zwischen Mädchen- und Mutterrolle angesehen wird“ (Petzold 1977, 18) in Barries Stück übersprungen wird. Der dritte Akt spielt am „Nixensee“ (Barrie 1969, 293) und konzentriert sich im Wesentlichen auf ein Gefecht zwischen Kapitän Haken und seiner Mannschaft und Peter und den verlorenen Jungs. Nachdem die Piraten Tigerlilly gefangen genommen und auf einem Felsen festgebunden haben, auf „dem sie bei steigender Flut ertrinken soll“ (Schrackmann 2009, 159), befreit Peter sie wieder, indem er der Piratenmannschaft unter Nachahmung von Hakens Stimme befiehlt, sie loszubinden. Als der Piratenkapitän hinter das Verwirrspiel kommt, verunsichert Peter ihn aus dem Verborgenen heraus weiter, indem er fortfährt, Hakens Stimme zu imitieren, bis der nicht mehr weiß, wer er ist. Als er jedoch Peter entdeckt, kommt es zu einem Gefecht, bei dem Wendy und Peter auf dem Felsen zurückbleiben, auf dem sie zu ertrinken drohen. Wendy kann sich mit Hilfe eines Papierdrachens retten, Peter kann im Nest eines großen Vogels entkommen, das an sein Fortbewegungsmittel in The Little White Bird erinnert. Indem Peter durch die Imitation der Stimme Hakens Identität annimmt, wird auf die Spiegelung beider Figuren hingedeutet, die sich auch an anderen Textstellen nachweisen lässt, worauf schon Schrackmann (2009, 50–52) hinweist. Zwar sind beide Figuren binäroppositionell angelegt (z. B. erwachsen vs. kindlich, groß vs. klein, männlich vs. asexuell), sie zeigen aber auch deutliche Äquivalenzen, wie z. B. ihre nicht eindeutig positive bzw. negative Konnotation. Darüber hinaus spiegeln sie sich handelnd, wenn Peter zeitgleich mit Haken – nur von der entgegengesetzten Seite kommend – den Felsen erklimmt: „Haken klettert auf den Felsblock, um zu verschnaufen. Im gleichen Augenblick kommt, neben Wendy, Peter von der anderen Seite. […] Jetzt stehen sie einander Auge in Auge gegenüber.“ (Barrie 1969, 299) Am Ende des Bühnenstücks, nachdem Haken durch den Sprung in den Krokodilsrachen gestorben ist, wird Peter sogar seine Funktion als Piratenkapitän, seine Insignien und seine Haltung übernehmen: „Der Vorhang fällt und geht wieder auf, um Peter als Sieger zu zeigen. Er steht auf dem Achterdeck mit Hakens Hut und Doppel-Zigarre und – mit einer kleinen eisernen Klaue.“ (Ebd., 325). Klingklang, Wendy und Tigerlilly – drei weibliche Wesen – buhlen letztlich um Peters Zuneigung, während er – ganz Kind – davon nichts bemerkt und im Bereich des Asexuellen verbleibt (vgl. Schrackmann 2009, 48–49). Gleichzeitig übernimmt Peter an Wendys Seite die Vaterrolle für die verlorenen Jungs: „JOHN: Darf ich auf Peters Stuhl sitzen? / WENDY: Auf Vatis Stuhl? Natürlich nicht!“ (Barrie 1969, 303 f.) und scheint dadurch indirekt doch beide Funktionen für sich zu beanspruchen – die des Sohns und des Ehepartners. Er hat allerdings keine Vorstellung von der übernommenen Rolle als Vater und muss sie erst von den anderen Kindern erlernen. Dass tatsächlich keine persönliche oder gar bedürfnisgeleitete Idee von Peters Seite dahintersteckt und vielmehr Wendy diejenige ist, die Peter auch als Partner (und weniger als Sohn) für sich gewinnen will, macht ein Dialog zwischen beiden zu Beginn des vierten Aktes deutlich:
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WENDY: […] Wendy und Peter sind am Feuer allein. […] Sie liebt ihn zu sehr, um nicht zu wissen, daß er sie weniger liebt. Sie zögert wie jemand, der, ohne gefragt zu haben, die Antwort des anderen bereits kennt. Was ist mit dir, Peter? PETER beunruhigt: Wir tun doch nur so, als sei ich der Vater? WENDY enttäuscht: Ja, ja. Er seufzt, ohne Rücksicht auf ihre Gefühle, erleichtert auf. WENDY: Und sie sind doch deine und meine Kinder! PETER auf Tatsachen erpicht: Aber nicht richtig! WENDY: Wenn du nicht magst, nein. PETER: Ich mag nicht! WENDY weiß, daß sie es lassen sollte, aber etwas in ihr gibt keine Ruhe: Und magst du mich, Peter? PETER wie im Klassenzimmer: Ja. Wie ein Kind seine Mutter. WENDY wendet sich ab: Das dachte ich mir! PETER: Ihr seid so komisch. Mit Tigerlilly ist es genauso. Die möchte auch immer irgendetwas von mir sein, sagt sie. Bloß nicht meine Mutter. WENDY lebhaft: Da hast du’s! PETER: Aber was denn sonst? WENDY: Darüber spricht man als Frau nicht. Klingklangs Vorhang öffnet sich ein wenig. Sie hat zweifellos gelauscht, und nun lacht sie wütend. PETER irritiert: Vielleicht will die meine Mutter sein! Klingklangs Antwort lautet: „Dummkopf!“ (Barrie 1969, 306 f.)
Der Ausschnitt zeigt zum einen, dass alle drei weiblichen Wesen um Peter zumindest näherungsweise erotische Gefühle für ihn hegen, zum anderen, dass Peter überhaupt keine Vorstellung davon hat, was das sein könnte: „Die möchte auch immer irgendetwas von mir sein […] Bloß nicht meine Mutter.“ (Ebd., 306) Gleichzeitig zeigt Wendy, indem sie Peter eine Erklärung verweigert, dass Peter seinerseits seine Gefühle für sie entdecken muss, denn es handelt sich bei diesen um etwas Unaussprechliches, vielleicht auch Unanständiges, zumindest jedoch um etwas Unschickliches. Schließlich erzählt Wendy den verlorenen Jungs und ihren Brüdern eine Geschichte, die sich als ihre eigene entpuppt und insofern die Wirkung einer Mise en abyme entfaltet: Sie handelt von den Darlings, die drei Kinder haben, die eines Tages in das Land Nirgendwo fliegen, während die Eltern zu Hause ihre Tochter und ihre zwei Söhne vermissen. Peters einziger Einwurf besteht darin, auf etwas hinzuweisen, was die literarische Figur in Kleiner weißer Vogel auch schon erfahren musste: PETER: Aber was du über Mütter erzählt hast, ist falsch. Das mit dem Fenster, das glaubte ich auch einmal. Aber als ich nach vielen Monaten zurückgeflogen kam, war das Fenster zu. Meine Mutter hatte mich vergessen. Und in meinem Bett schlief ein anderer kleiner Junge. (Ebd., 309)
Wendy, von ihrer eigenen Geschichte gerührt und von Peters Einwurf beunruhigt, will sofort zusammen mit ihren Brüdern und den verlorenen Jungs aufbrechen, um nachzuschauen, ob die Mutter bei geöffnetem Fenster tatsächlich auf sie wartet. Alle, außer Peter, wollen mitkommen und fortan bei den Darlings wohnen. Peter wirkt ungerührt und fordert Klingklang auf, die Kinder nach draußen zu begleiten,
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damit sie den Rückflug antreten können. Dort haben sich die Indianer und die Piraten eine erbitterte Schlacht geliefert, in der der Rotzbubenstamm unterliegt. Als die Kinder das Haus verlassen, werden sie sofort von Haken und seiner Mannschaft gefangen genommen. Peter indes schläft. Haken gelingt es, von Peter unbemerkt, Gift in seine ihm von Wendy hinterlassene Medizin zu träufeln, die letztlich Klingklang trinkt, um sich selbst zu opfern. Peter durchbricht daraufhin die vierte Wand der Bühne, indem er sich ans Publikum wendet und es auffordert, seinen Glauben an Feen zu bekunden, damit Klingklang nicht sterben muss. Beide brechen in Folge auf, um Wendy, ihre Brüder und die verlorenen Jungs zu retten. Der fünfte Akt ist in zwei Szenen aufgeteilt. Die erste spielt auf der Jolly Rogers, dem Schiff der Piraten, auf das sich Haken mit seiner Mannschaft und den gefangenen Kindern zurückgezogen hat. Während Haken sich noch über seine Unbeliebtheit im Verhältnis zu Peters Beliebtheit Gedanken macht und er darüber räsoniert, wie er mit den Kindern weiterverfahren soll, nähert sich Peter bereits aus der Luft. Nachdem dieser die Piratenmannschaft eliminiert hat, kommt es zum finalen Kampf mit Haken, der, als er seine Unterlegenheit anerkennen muss, freiwillig in den Schlund des bereits auf ihn wartenden Krokodils springt. Die zweite Szene des fünften Aktes ist in zwei Teile geteilt: Der erste Teil ereignet sich im Hause der Darlings. Nachdem Peter zunächst versucht hat, das Fenster zu schließen, damit Wendy nicht endgültig nach Hause zurückkehren kann, öffnet er es wieder, weil er erkennt, dass Frau Darling ihre Kinder wirklich zurückhaben möchte. Die Darling-Kinder wie auch die verlorenen Jungs werden mit offenen Armen empfangen. Wendy bekommt von Frau Darling die Erlaubnis, einmal im Jahr zum Frühjahrsputz ins Land Nirgendwo zu fliegen, um Peter zu besuchen. Im zweiten Teil wechselt der Ort, aber auch die Perspektive auf ihn, wie der Nebentext verrät: „Wir träumen, wir wären ein Jahr drauf wieder im Lande Nirgendwo.“ (Ebd., 332) In dieser abschließenden Szene wird deutlich, dass Wendy älter geworden ist: „Wendy sieht älter aus. Peter ist unverändert. […] Und eine betrübliche Mitteilung wäre zu machen: sie fliegt in diesem Jahr schon so schlecht, daß sie dazu einen Besenstil [sic] braucht.“ (Ebd., 333) Insbesondere ihre schlechten Flugfähigkeiten weisen darauf hin, dass sie Peter Pan und das Land Nirgendwo bald nicht mehr wird wahrnehmen können, da sie erwachsen wird. Peter wiederum hat sowohl die verlorenen Jungs als auch Klingklang schon vergessen und scheint an seine Vergangenheit mit Wendy nur wenig Erinnerungen zu haben. Wendy nimmt sein Vergessen wahr und wird sich darüber bewusst, dass er sie eines Tages wird ganz vergessen haben und sie durch ein anderes kleines Mädchen ersetzen wird. Es existiert noch ein weiterer Akt, den Barrie 1908 hinzufügte und der erst 1957 das erste Mal publiziert wurde. Erich Kästner konnte er demnach zum Zeitpunkt seiner Übersetzung noch nicht bekannt sein (vgl. Schrackmann 2009, 31). Petra Schrackmann hebt für den englischsprachigen Raum hervor, dass dieser zusätzliche Akt in späteren Theateraufführungen zumeist den „Traum vom Land Nirgendwo“ am Ende der zweiten Szene des fünften Aktes ersetze.
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When Wendy grew up: An afterthought (Barrie 1999, 155–165) setzt mehrere Jahre später im Kinderzimmer der Darlings ein, in welchem die inzwischen erwachsene Wendy ihre Tochter Jane ins Bett bringt. Ihr hat sie bereits viele Geschichten von Peter Pan erzählt. Nachdem Jane eingeschlafen ist, kommt Peter Pan ins Zimmer, sieht, dass Wendy erwachsen geworden ist und nun eine eigene Tochter hat, die er am liebsten erstechen möchte. Stattdessen bricht er aber in verzweifelte Tränen aus, wovon Jane erwacht. Die beiden stellen sich einander vor und das weitere Geschehen gibt Auskunft darüber, wie sich der im ersten Akt eröffnete Kreis schließen wird: Jane verspricht, Peters Mutter zu sein und Wendy erlaubt ihr, einmal im Jahr zum Frühjahrsputz ins Land Nirgendwo zu fliegen, wie es fortan alle Generationen von Darling-Mädchen tun werden (vgl. Barrie 1999). Wie Wendy erwachsen wurde ist nur in einigen deutschen Prosafassungen – so oder ähnlich – als Überschrift des letzten Kapitels enthalten.9 Außer Kästners Übersetzung und der in Fußnote acht erwähnten, gekürzten und ausschließlich im pdf-Format zugänglichen Übertragung von Bernd Wilms sind auch heute keine weiteren Übersetzungen des Bühnenstücks ins Deutsche greifbar. Prosafassungen sind bis 1945 generell ausschließlich in Form der frei übersetzten Kapitel aus Kleiner weißer Vogel, also als Peter Pan im Waldpark, erhältlich. Daher wird im Folgenden nur kurz auf die vielfältigen Prosafassungen in deutscher Sprache eingegangen, die sich später allmählich auf dem deutschen Markt durchgesetzt haben.
James M. Barries Peter Pan: Prosafassungen oder Peter Pan in Deutschland nach 1945 Die Beliebtheit des Theaterstücks ließ den Wunsch nach einer Prosafassung von Peter Pan aufkommen. An einer solchen Bearbeitung war Barrie zunächst nicht interessiert, sodass er verschiedenen Autor/innen eine diesbezügliche Bearbeitung erlaubte (vgl. Schrackmann 2009, 31). Eine dieser nacherzählenden Prosagestaltungen stammt von May Byron, die im deutschsprachigen Raum vor allem in Verbindung mit den 1939 entstandenen Illustrationen von Sophie Scholl und in der Übersetzung von Hanspeter Nägele zu einiger Bekanntheit gelangte, jedoch erst 1989 erstveröffentlicht wurde (Barrie 1989). Barrie schrieb 1911 dann doch eine eigene Romanfassung unter dem Titel Peter and Wendy, die schließlich umbenannt wurde in Peter Pan and Wendy und nach 1987 nur noch als Peter Pan publiziert wurde (vgl. Schrackmann 2009, 31 f.). Nach wie vor wurden und
9Der oben zitierte Titel findet sich z. B. in der Übersetzung von Martin Karau (Barrie 1995, 180). In der Übertragung von Adelheid Dormagen heißt das Kapitel Als Wendy erwachsen wurde (Barrie 2009, 198), während Ursula von Wiese ganz auf Kapitelüberschriften verzichtet (Barrie 1968).
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werden jedoch sowohl Barries eigene Prosafassung als auch die diverser anderer Autor/innen neu aufgelegt (vgl. u. a. Barrie 1965). Während bis 1945 in Deutschland ausschließlich Peter Pan im Waldpark als Prosafassung erhältlich war, nahm die Zahl der Übersetzungen und Neubearbeitungen der Prosafassungen, die im Anschluss an das Theaterstück entstanden sind, danach kontinuierlich zu (vgl. u. a. Barrie 1968, 1995, 42010, 2012, 2013, 32015 und 2017). Neben diesen zum Teil Peter Pan in Kensington Gardens und Peter Pan and Wendy verbindenden Übertragungen, gibt es heute auch stark bearbeitete, gekürzte und für Erstleser/innen aufbereitete Fassungen (vgl. u. a. Barrie 52005, 2009, 2019). Im Folgenden soll noch einmal kurz Peters Erscheinungsbild bei seinem ersten Auftauchen in den Blick genommen werden – und zwar in der Form, wie es in verschiedenen Übertragungen ins Deutsche Gestalt annimmt. Zugrunde gelegt werden zwei verschiedene Übersetzungen, denen die Prosafassung von Barrie zugrunde liegt. Peters erster Auftritt in der von Barrie autorisierten Prosafassung gestaltet sich etwas anders als in der Bühnenfassung. Zwar kommt er auch hier durch das offene Fenster geflogen, sein Ziel ist jedoch explizit Mrs. Darling, da er sie aus ihrer Kinderzeit kennt (wie bereits im Bühnenstück angedeutet und in Kleiner weißer Vogel nachdrücklicher motivisch angelegt), sie ihn aber offensichtlich vergessen hat, weil sie erwachsen geworden ist. In der Übersetzung von Bernd Wilms wird Peters erstes Erscheinen wie folgt beschrieben: Mit einem Schrei sprang sie auf und sah den Jungen, und irgendwie wusste sie sofort, dass es Peter Pan war. Wenn du oder ich oder Wendy es miterlebt hätten, dann hätten wir gesehen, dass er dem Kuss von Mrs. Darling glich. Er war ein hübscher Junge, mit Laub und Spinnweben bekleidet. Aber das Erstaunlichste an ihm war, dass er noch all seine ersten Zähne hatte. Als er sah, dass Mrs. Darling erwachsen war, knirschte er böse mit den kleinen Perlen. (Barrie 2017, 24)
Adelheid Dormagen überträgt die Textstelle wie folgt: Sie fuhr mit einem Schrei hoch und sah den Jungen, und irgendwie wusste sie sofort, dass es Peter Pan war. Wären du oder ich oder Wendy dort gewesen, hätten wir bemerkt, dass er große Ähnlichkeit mit Mrs. Darlings Kuss hatte. Es war ein niedlicher Junge in einem Gewand aus Blattgerippe, mit Harz verklebt: das Reizendste an ihm aber war, dass er noch alle seine Milchzähne hatte. Als er erkannte, dass sie eine Erwachsene war, knirschte er mit den perlweißen Zähnchen. (Barrie 32015, 22 f.)
Im Wesentlichen fällt im Vergleich der beiden Übersetzungen auf, dass Dormagen Peter Pan als eindeutig kindlich und insofern ungefährlich darstellt. Das wird durch die Formulierung „niedlicher Junge“, das Kompositum „Milchzähne“ und durch das Diminutiv „Zähnchen“ erreicht. Gleichzeitig machen die „Milchzähne“ „das Reizendste“ an ihm aus, wobei reizend Äquivalenzen mit niedlich aufweist. Wilms wählt einen anderen Weg, indem er die Formulierung „hübscher Junge“ nutzt, die – eher als niedlich – eine erotische Konnotation nahelegen kann. Bei Wilms hat Peter auch keine „Milchzähne“, sondern „noch all seine ersten Zähne“, womit eine Verniedlichung geschickt umgangen wird. Seine Zähne werden auch
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nicht als „das Reizendste“ bezeichnet, sondern als „das Erstaunlichste“. Damit betont Wilms eine Besonderheit, die in ihrer Wirkung jedoch ambivalent sein kann. Sie wird nicht unmittelbar als angenehm (und damit ungefährlich), sondern als ungewöhnlich und damit potenziell beunruhigend, vielleicht sogar gefährlich charakterisiert. Schließlich läuft alles auf den letzten Satz hinaus. Dormagen lässt Peter „mit den perlweißen Zähnchen“ knirschen und nimmt dem Knirschen durch das Diminutiv jegliche Bedrohung. Diese wird bei Wilms noch verstärkt, indem er das Adjektiv „böse“ hinzufügt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Dormagens Übersetzung die Tendenz aufweist, Peter Pan als eindimensional positiven Charakter darzustellen, während Wilms die Ambiguität Peter Pans im Blick hat, die über alle Textfassungen Barries hinweg nachweisbar ist. Ein differenzierter, systematischer Vergleich der zahlreichen Übersetzungen ins Deutsche, der hier nur exemplarisch angedeutet werden kann, steht noch aus und könnte über die mit der stilistischen Gestaltung einhergehenden Semantisierung der Figuren Aufschluss geben.
Die erste Filmadaption von Peter Pan (1924) Bei der ersten Filmadaption von Peter Pan (1924) unter der Regie von Herbert Brenon handelt es sich um einen amerikanischen Stummfilm mit eingeblendeten Texttafeln, die direkte Zitate aus Barries Bühnenstück enthalten. Die Filmfassung ist weitgehend eng am oben detailliert vorgestellten Theaterstück orientiert. Barrie selbst arbeitete an dem Film mit – u. a. entschied er sich bei der Besetzung des Peter Pan für die damals noch unbekannte Betty Bronson, die mit ihrer Ballettausbildung die besten Voraussetzungen mitbrachte, in den Flugnummern überzeugend zu wirken (vgl. Brenon 1924). Damit wurde in der ersten Filmfassung eine Tradition weitergeführt, die sich bereits auf der Bühne bewährt hatte: Peter wird traditionell von einem Mädchen gespielt (vgl. Schrackmann 2009, 34). Im Dezember 1925 kam der Film unter dem Titel Peter Pan, der Traumelf10 in die deutschen Kinos. Die Apposition, um die der Titel des Films in Deutschland ergänzt wurde, lässt Spekulationen über ihren Zweck aufkommen: Sollte damit dem deutschen Publikum, dem die Figur Peter Pan großteils nicht oder nur entfernt vertraut war, ein erster Eindruck seines Wesens vermittelt und insofern eine detailliertere Erwartungshaltung hervorgerufen werden? Ähnliches lässt sich schon an der Übersetzung des Bühnenstücktextes beobachten, wenn Kästner Peter Pan, or the Boy Who Would Not Grow Up in Peter Pan, oder Das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte überträgt. Während Barrie den Jungen und damit den Protagonisten in den Mittelpunkt stellt, ist es bei Kästner die literarische
10Diese
Fassung des Films ist nicht mehr greifbar. Die englischsprachige Originalfassung dahingegen wurde restauriert und mit neuer Orchestermusik unterlegt (vgl. Angabe in der Filmografie).
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Gattung, der der Stoff zugeordnet werden kann. Wenn man Barries Bühnenstück vielleicht noch als Märchen deklarieren kann (obwohl auch das letztlich strittig sein dürfte), ist das Kompositum Traumelf dahingegen rein sachlich nicht korrekt: Peter Pan ist kein Elf und wird sich auch im Verlauf des Films nicht als Traumgestalt herausstellen. Insofern muss der Begriff eine andere Funktion haben, vielleicht die, die Rezeption des Films (und damit der Figur Peter) erneut im Bereich des Fantastischen bzw. des Märchenhaften zu lokalisieren. Dass darüber hinaus die Übersetzung von Filmtiteln ins Deutsche oftmals wenig treffende und sogar grundlegend sinnentstellende Stilblüten hervorbringt, sei hier nur am Rande erwähnt.11 Die Resonanz auf den Film lässt sich einer Ausgabe der Filmfachzeitschrift Der Kinematograph entnehmen, in der die Kritikerstimmen unterschiedlicher Zeitungen zusammengetragen wurden, die einhellig die großartigen schauspielerischen Leistungen, die spannend inszenierte Handlung und die familiengerechte Ausrichtung des Filmes lobend hervorheben. So verweist der Kinematograph auf das 8-Uhr Abendblatt vom 18.12.1925: „Ein Wunderland tut sich auf … Ein Wunderland, das die Kinder staunen macht, das die Großen aus dem Alltag der Komplikationen zu sich lockt.“ (Peter Pan 1925a) Deutlich zeigt bereits dieser kurze Kommentar, dass der Film für einen großen Adressat/innenkreis geeignet und Jung und Alt gleichermaßen zu begeistern im Stande war. Der Kinematograph nimmt in einem weiteren Artikel auf den Film-Kurier vom 18.12.1925, die Berliner Morgenpost vom gleichen Tag, den Montag-Morgen vom 21.12.1925 wie auch das Berliner-Tageblatt vom 20.12.1925 Bezug, die allesamt auf die Natürlichkeit des Spiels der Hauptdarstellerin Betty Bronson eingehen und auf ihre Überzeugungskraft, die dem dargestellten Märchen Glaubwürdigkeit bzw. Authentizität verleihen (vgl. Peter Pan 1925b). Auch die Kurzvorstellung des Films, die Der Kinematograph abdruckt, ist voll des Lobes und hebt sowohl die Märchenhaftigkeit als auch das natürliche Spiel der Kinderdarsteller/innen besonders hervor (vgl. Peter Pan 1925a). Angedeutet wird dort auch die Rezeption des der Aufführung beiwohnenden Publikums: „Erstaufführung viel Beifall“ (ebd.). Der ungenannt bleibende Rezensent geht außerdem auf die in Deutschland fehlende Popularität des Peter-Pan-Stoffes ein und liefert damit einen zeitgenössischen Beleg der bereits an mehreren Stellen geäußerten, naheliegenden Vermutung: „Peter Pan“ ein Märchen in den Ländern englischer Zunge von ungeheurer Popularität [sic!]. Trotzdem bei uns diese Voraussetzung fehlt, welch beglückender Märchenfilm ist dieser „Peter Pan“, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die älteren, soweit sie nicht hoffnungslos vertrocknet oder eingerostet sind. (Peter Pan 1925b)
Im Film gewinnt die Figur Peter Pan eine intersubjektiv teil- und kommunizierbare Form. Bildlose Textfassungen überlassen die Vorstellung über das äußere
11Ein gutes Beispiel – dem man unzählige weitere an die Seite stellen könnte – ist dafür sicherlich die Übertragung des amerikanischen Filmtitels Finding Neverland (2004) in Wenn Träume fliegen lernen. Mit dem Phänomen beschäftigt hat sich u. a. Schubert 2004.
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Abb. 2 Von links nach rechts: Mary Brian als Wendy Darling, Betty Bronson als Peter Pan, Esther Ralston als Mrs. Darling. (© 1924 Paramount Pictures), https://www.britannica.com/topic/ Peter-Pan-play-by-Barrie (24.02.2020)
Erscheinungsbild einer Figur in weiten Teilen der individuellen Imagination, da sie mit Unbestimmtheitsstellen durchsetzt sind. In illustrierten Fassungen ergeben sich – je nach Illustrator/in – voneinander abweichende Interpretationen des schriftlichen Textes und in Bühnenfassungen wechseln die Regieführenden und die Darsteller/innen, sodass (nicht nur) das Äußere und seine Inszenierung beständig wechselt. Die erste – und lange Zeit einzige – Filmfassung von Herbert Brenon schuf erstmals ein Bild von Peter Pan, das nicht nur über die Filmvorführung selbst, sondern auch durch die Verbreitung von Filmplakaten und Szenenfotos12 im öffentlichen Raum, in Zeitungen und Filmzeitschriften die äußere Erscheinungsform in Breite rezipierbar machte und sie insofern dem kulturellen Gedächtnis als gemeinsame Vorstellung hinzufügte. Peter Pan ist, so zeigt das Szenenfoto (Abb. 2), in etwa von gleicher Größe wie Wendy, hat kurze dunkle Locken und trägt ein eng anliegendes Käppchen auf dem Kopf. Das kurze Kostüm, das Arme und Beine frei lässt, ist mit einem Blattmuster verziert und am Saum zerrissen. Peter Pan ist darüber hinaus barfuß. Am Hals ist ein weißer Kragen sichtbar, der dem naturverbundenen Kostüm einen bürgerlichen Akzent verleiht. In der äußeren Erscheinung drückt sich demnach eine Binäropposition aus, die sich zwischen den beiden genannten Aspekten entspannt. Freiheit, Selbstbestimmtheit und Ungebundenheit können dadurch mit Peter Pans Erscheinung verbunden werden, gleichzeitig aber auch eine – wie auch immer
12Hier
wird der Begriff des Szenenfotos und nicht des Film-Stills gewählt, um die Inszenierung (und insofern die unabhängige Entstehung) der Fotos, die als vermeintlich gefrorene Filmmomente rezipiert werden, zum Ausdruck zu bringen (vgl. Moser 2016).
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ausgeprägte – Verankerung in der Welt der Menschen. Bereits das Äußere lässt so Peter Pans Changieren zwischen dem Ausleben von Jugend, Ungebundenheit und Verantwortungslosigkeit und der Sehnsucht nach Fürsorge und Zuwendung, die durch die Mutterfigur versinnbildlicht wird, hervortreten. Doch das Szenenfoto aus Peter Pan zeigt noch etwas anderes, das eine Änderung gegenüber der Bühnenfassung deutlich werden lässt: Peter Pan ist im Film nicht unberührbar. Wenn – wie hier abgebildet – analog zur zweiten Szene des fünften Aktes des Bühnenstücks13 Peters Abschied von Wendy und Mrs. Darling dargestellt wird und Peter Mutter und Tochter die Hand reicht, ist das nur ein Beispiel von vielen weiteren, in denen Peter umarmt, umarmt wird, küsst oder andere körperliche Berührungen gibt und empfängt. Auf diese Weise wird im Film auf visueller Ebene Faszination und Nähe zwischen den handelnden Figuren erzeugt. Die nächste Filmadaption des Peter-Pan-Stoffes erfolgte erst nach 1945. Es handelt sich dabei um den Zeichentrickfilm Walt Disney’s Peter Pan aus dem Jahr 1953, der unter dem Titel Peter Pans heitere Abenteuer bereits im selben Jahr in den deutschen Kinos gespielt und weiterhin unter dem einfachen Titel Peter Pan vertrieben wurde.14 Auch wenn diese Adaption große Bekanntheit erlangte und auf der Handlungsebene dicht an Barries Bühnenfassung orientiert bleibt, verstellt sie doch den Blick auf die widersprüchliche, binäroppositionell ausgerichtete Gestaltung der Figuren, insbesondere Peter Pans (vgl. u. a. Necknig 2007, 121). In Folge entstehen zahllose Filmadaptionen des Stoffes, die vornehmlich aus dem angloamerikanischen Raum nach Deutschland kommen und mal eng an der Vorlage orientiert arbeiten, mal aber auch nur Motive aus Bühnenstück, Vorgängerfilmen und/oder der Prosafassung übernehmen.15 In den deutschsprachigen Fassungen setzt sich zunehmend die Praxis durch, dass die englischen Namen der Protagonisten beibehalten werden. Allein bei Tinker Bell sind immer wieder Übersetzungsversuche zu erkennen – z. B. Glöckchen (Geronimi u. a. 1953), Glühweiße (Brenon 1924), Naseweis (Budd/Cook 2002). Auch Prequels und Sequels16 erlangen immer größere Beliebtheit. So erschien z. B. 2002 mit Peter Pan 2. Neue Abenteuer im Nimmerland (im Original Return to Neverland) ein Sequel zu dem Disney-Film, in dem Wendys Tochter Jane von Kapitän Hook entführt wird und im Nimmerland schließlich Peter Pan begegnet. Eine frühe deutsche Adaption findet sich mit Peter Pan oder Das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte (1962). Bei dem Fernsehfilm unter der Regie von Paul Verhoeven handelt es sich um eine mit der Übersetzung von Erich
13Der
zusätzliche Akt When Wendy grew up. An Afterthought ist in der Filmfassung nicht umgesetzt worden. 14Die Internet Movie Data Base verzeichnet als deutsche Uraufführung den 22.12.1953, https:// www.imdb.com/title/tt0046183/?ref_ = kw_li_tt (16.09.2019). 15Zum Beispiel Peter Pan (1955), Hook (1991), Peter Pan (2003), Wenn Träume fliegen lernen (2004), Peter & Wendy (2015). 16Zum Beispiel Neverland. Der Anfang von Peter Pans Abenteuerreise (2012), Pan (2015).
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Kästner arbeitenden Fassung, in der nun die Rolle des Peter Pan mit einem Jungen (Fernando Möller) besetzt wurde – eine Praxis, die sich in den Filmfassungen durchgesetzt hat.
Fazit Insgesamt lässt sich feststellen, dass das Interesse am Peter-Pan-Stoff in Deutschland sehr viel später – und diffuser – als in England oder Amerika einsetzte. Die geringe Präsenz von Peter Pan in der deutschen Medienlandschaft bis 1945 spricht dabei für sich. Auch in der Zeit nach 1945 kommen Adaptionen kaum aus Deutschland, sondern vornehmlich aus dem angloamerikanischen, zum Teil auch aus dem französischen Raum, wie z. B. die Comic-Serie Peter Pan von Régis Loisel (vgl. dazu Schrackmann 2009). Die Filme, aber auch der Comic von Loisel (2014 und 2015) oder der Muppet-Show-Spezialband Muppet Peter Pan (Randolph/Mebberson 2011) werden zwar erfolgreich in Deutschland vermarktet, regen aber dort kaum zur eigenständigen medialen Verarbeitung des Stoffes an. Am ehesten finden sich noch Hörbuchbearbeitungen (auch mit Musik), wie z. B. die Lesung von Leander Haußmann, begleitet von Element of Crime aus dem Jahr 2000 (Barrie/Haußmann 2000). Vor diesem Hintergrund überrascht die ungeheuerliche Vielzahl an verschiedenartigen Übersetzungen, Bearbeitungen und Ausgaben der Prosafassung, die in Deutschland insbesondere in heutiger Zeit lieferbar sind. Insgesamt betrachtet zeigen die verschlungene Textentstehungsgeschichte und die vielfältigen Inszenierungen der Figur Peter Pan, dass sie, wie es Jacqueline Rose17 zusammenfasst, einen „cultural myth“ (Rose 1993, xii) darstellt, in dem sich die Vorstellung vom ewigen Kind niedergeschlagen hat und der insofern weniger eine kindliche Eigenschaft repräsentiert als vielmehr die Sehnsucht der Erwachsenen nach genau diesem Zustand (vgl. Rose 1993, vii).
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17Auf
Jacqueline Rose verweist auch kurz Kümmerling Meibauer (2004, 74) in ihrem Lexikonartikel.
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Peter Pan (USA 2003). Regie: P. J. Hogan, Musik: James Newton Howard, 2004 (DVD). Peter & Wendy [Fernsehfilm] (USA 2015). Regie: Diarmuid Lawrence, Musik: Maurizio Malagnini, 2016 (DVD). Wenn Träume fliegen lernen (GB/USA 2004). Regie: Marc Forster, Musik: Jan A. P. Kaczmarek, 2005 (DVD).
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Urians Weltreise Motivgeschichte und Medienadaptionen Gina Weinkauff
Abstract Hans Urian goes for Bread is the title of a much acclaimed Berlin children’s theater premiere from 1929. The stage play deals with a hungry working class boy, travelling around the world in the company of a talking and flying hare and thereby earning elementary insights into the politics and economy of capitalism. With Béla Balász and Lisa Tetzner, the play had two authors who were already quite well known at the time. A third, Erich Kästner, contributed some lyrics. The staging at the renowned Lessing Theater was provided by a group of young actors who had already established a reputation as a well-known left-wing theater collective. The great attention paid to this piece (within the Left and beyond) is documented primarily by the numerous theatrical reviews, which, incidentally, also provide valuable information about the staging style. Furthermore, the success of the story can be seen in numerous adaptations and continuations. The most important of these seems to be the novel version by Lisa Tetzner, which has been repeatedly published and translated into many languages. In addition – until 1933 and then again after 1945 – further children’s books varying the plot were produced besides an animated movie. The article analyses the development of the Hans Urian story since 1929, but also deals with its previous history by uncovering various pretext references. Additionally, some problems of theory and terminology raised by the subject of the contribution will be discussed.
G. Weinkauff (*) Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_11
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Fort vom ‚Wunder‘ – Lisa Tetzner und der Hans Urian-Stoff Hans Urian läuft ohne Geld von Hause fort und will Brot kaufen. Er trifft auf seinem Weg einen hungrigen Hasen. Mensch und Hase reisen nun in phantastischer, abenteuerlicher Weise um die Welt und erleben – über Stadt und Land, Bauer und Fabrik – den sozialen Produktionsweg: Arbeit – Geld, Geld – Brot. Diese sozialen Wirklichkeiten in Form einer lustig-kindlichen Komödie, ja, fast Groteske, verflochten mit dem Zusammenprall der Hasen respektive Tierphilosophie und der Zivilisation des Menschen ist der Grundgedanke der Handlung. (Tetzner 1929)
Mit diesen Worten skizziert Lisa Tetzner kurz und bündig in einem 1929 erschienenen Zeitungsartikel die Handlung, die Themen, den Adressatenentwurf, das Wirklichkeitsmodell und die Gattungskontexte des Hans-Urian-Stoffes in seiner ersten öffentlich gemachten medialen Version. Es ist eine fantastische Erzählung mit abenteuerlichen und humoristischen Elementen, die in einer auf kindliche Adressaten ausgerichteten Form soziale Gegensätze sowie ökonomische, ethische und gesellschaftliche Fragen thematisiert. Die Handlung kreist, dem Muster einer fantastischen Weltreise folgend, um einen kindlichen Protagonisten, der sich in Begleitung eines magischen Helfers in der Absicht auf den Weg macht, für sich selbst und seine kranke Mutter Nahrung zu besorgen. Der Artikel bezieht sich auf die bei seinem Erscheinen noch in Vorbereitung befindliche Inszenierung des von Lisa Tetzner und Béla Balász gemeinsam verfassten Stücks Hans Urian geht nach Brot, das am 13. November 1929 im Berliner Lessing-Theater uraufgeführt wurde. Zudem steht der kurze Beitrag im Kontext einer Diskussion über aktuelle Kindertheater-Innovationen, die in dem Blatt auf einer ganzen Seite geführt wurde. Lisa Tetzners Artikel ist quasi eingerahmt von zwei leidenschaftlichen Plädoyers für die Interessen der Kinder als Theaterzuschauer. Der Verfasser des einen ist Fritz Genschow, der als Regisseur zeitgleich im Theater am Schiffbauerdamm an der Inszenierung eines weiteren Tetzner-Stückes arbeitete; der des anderen ist Fritz Künkel, ein von Alfred Adler beeinflusster und in vielen öffentlichen Debatten auftretender Berliner Psychiater, der hier aus psychologischen Gründen für mehr Realismus im Kindertheater plädierte. Der plakative Titel des Beitrags Fort vom ‚Wunder‘ von Lisa Tetzner scheint in dieselbe Richtung zu tendieren, weist jedoch zugleich über den Bereich des Kindertheaters hinaus auf die künstlerische Entwicklung der Verfasserin selbst, von der jugendbewegt-neuromantisch inspirierten Märchenerzählerin zu einer bedeutsamen Vertreterin des kinderliterarischen Realismus hin. Mit dem Titel Fort vom ‚Wunder‘ signalisiert Lisa Tetzner ihre Abkehr von einer kulturkonservativen Märchenauffassung, wie sie zum Beispiel noch im Vorwort des 1926 erschienenen Laienspiels Siebenschön zum Ausdruck kommt: Dieses Spiel ist gedacht als ein Freilichtspiel für Dorfplätze unter der Linde oder vor der Kirche. […] Die Handlung geht aus dem deutschen Märchen hervor, das mir von all den deutschen Märchen aus der Zeit nach Grimm das deutscheste und beste scheint, und das wie kaum ein anderes in eine sommerliche Wald- und Wiesenlandschaft gehört. (Tetzner 1926, 3)
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Lisa Tetzner hat ihre Entwicklung selbst in verschiedenen Beiträgen reflektiert, zum Beispiel in einem Bericht mit dem Titel Meine Erfahrungen als Märchenerzählerin und meine Einstellung und Arbeit von 1918 bis heute, der wahrscheinlich 1930 in der Zeitschrift des Bundes entschiedener Schulreformer erschienen ist. Sie berichtet dort von Begegnungen mit ihrem Publikum, das sich in den Jahren der Weimarer Republik so stark verändert habe, dass sie sich veranlasst sah, vom Märchen zu realistischen, zeitzugewandten Erzählstoffen überzugehen: In den letzten 3 Jahren beobachtete ich noch stärkere Wandlungen in der Jugend, besonders den Kindern der Großstadt und des Proletariats. Ich bekam gegen das herkömmliche Märchenerzählen vor diesen Kindern allmählich Bedenken. […] Das Kind von heute will mehr und eine andere Führung. Es will nicht die Zuflucht in Wunschbilder, die uns Erwachsenen Ausruhepunkt und Genuß ist, sondern es will über sich und die Welt aufgeklärt sein. (Tetzner [1930], 21)
Lisa Tetzner registrierte die sozialen, politischen und kulturellen Aspekte gesellschaftlicher Modernisierung sehr genau und leitete aus diesen Beobachtungen entsprechende Konsequenzen für ihre literarische Arbeit ab. Dies geschah jedoch auf der Grundlage einer noch vom Selbstverständnis der Märchenerzählerin geprägten Auffassung von der sozialen Mission der Literatur, die wiederum mit den operativen Konzepten der proletarisch-revolutionären Literaturbewegung gut kompatibel war. Als sie den Beitrag für Paul Oestreichs Monatsschrift Neue Erziehung schrieb, bewegte sie sich selbst, auch durch ihren Lebensgefährten Kurt Kläber vermittelt, im Umfeld der Kommunistischen Partei. In dem folgenden Rückblick aus dem Jahr 1955 werden die politischen Kontexte ihrer damaligen Arbeit ausgeblendet, wohl aus Selbstschutzgründen, denn Lisa Tetzner und Kurt Kläber-Held waren in den 1950er-Jahren starken Anfeindungen von konservativer Seite ausgesetzt. Trotzdem macht diese Version der Ereignisse deutlich, dass die sozial engagierte Märchenerzählerin sich auch als sozialistische Kinderbuchautorin in einer bestimmten Weise stets treu blieb, dass traditionelle und moderne Tendenzen bei Lisa Tetzner eng miteinander verbunden waren: 1926 versuchte ich mein erstes Kinderbuch. […] ‘Hans Urian, die Geschichte einer Weltreise’. Als Gegenspieler dienten Mensch und Tier. Ich übernahm vom Märchen die Schwarzweißmalerei, um dem Kind die moralische Sympathieverteilung zu erleichtern. Ich bediente mich tunlichst des beschränkten kindlichen Wortschatzes ‚hier und da’, ‚er kam‘, ‚er ging‘. (Das Pestalozzi-Fröbelhaus trug jetzt seine Früchte.) Nach Möglichkeit erzählte ich nur in Hauptsätzen und sagte alles in Gedanken an das Kind laut vor mich hin. Schon damals lebte ich in meinem Tessiner Heim im südlichen Kanton der Schweiz, dem meine Liebe galt, und ich weilte die meiste Zeit des Jahres dort. Nur der Ruf der Berliner Funkstunde zur Leiterin der dortigen Märchenstunde führte mich zwangsläufig wieder zurück nach Berlin. Dort fand ich eine Berliner Spielschar, die ich dazu veranlasste, Märchen und eigene Erlebnisse in der Jugendstunde zu spielen. Was geboren wurde, kam aus Stegreifspiel, der Inhalt von den Kindern, die Form von mir. Auf die Art entstanden auch die ersten vier Erzählungen der Kinder aus Nummer 67. Die Kinder waren mein Modell. Sie arbeiteten voll Eifer mit. Die von mir sehr geliebte Schar flog 1933 in alle Himmelsrichtungen. Ich selbst übersiedelte mit meinem Mann endgültig in die Schweiz, und da leben wir noch heut’. (Tetzner 1955, 16)
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Zur unpolitischen Tönung gehört auch die stark bagatellisierende Darstellung ihrer Flucht aus Deutschland – die Nazis hatten Kurt Kläber bereits inhaftiert und wegen angeblicher Beteiligung am Reichstagsbrand unter Anklage gestellt. Zwei interessante Hinweise bietet der Text noch: den auf Lisa Tetzners Arbeit beim Rundfunk, die einen der Erfahrungshintergründe für ihre Entwicklung zum realistischen Schreiben liefert und den auf das Jahr 1926 als Zeitpunkt der Abfassung eines ersten Buchmanuskripts. Diese Angabe wird in der Sekundärliteratur nahezu einhellig bestritten. Das Buchmanuskript, falls es eines gegeben hat, ist unauffindbar und es spricht einiges dagegen, dass Lisa Tetzner dem Stoff bereits 1926 eine erste (epische) Form gegeben haben soll. Dennoch scheint sie die eigentliche Urheberin des Plots und zahlreicher diesen ausformender Motive gewesen zu sein.
Das Hans-Urian-Projekt1 Offenbar haben Lisa Tetzner und Béla Balász das Theaterstück Hans Urian geht nach Brot zwar gemeinsam, aber nicht unbedingt einträchtig verfasst. Das geht aus der hier wiedergegebenen „Klarstellung“ hervor, die am Tag der Premiere, dem 13.11.1929, in der KPD-nahen Welt am Abend erschienen war: Zur Entstehung des Märchenstückes ‚Hans Urian geht nach Brot‘ erfahren wir folgendes: Die Anregung gab Lisa Tetzner in einer Sitzung zur Gründung eines Kinder-Theaters. Sie selbst erinnerte sich an ein Gedicht von Claudius ‚Herrn Urians Reise um die Welt‘ und an ein französisches Kinderbuch von Vaillant Couturier ‚Hans ohne Brot‘. Daraus entwickelte sich die Idee, wie ein Proletarierkind aus Not und Hunger um Abhilfe zu schaffen, von zu Hause fortgeht, auf seinem Weg einen Hasen trifft, der abnehmbare Ohren hat, die zu Propellern werden und ihm die Möglichkeit geben, wie ein Flugzeug zu fliegen. Balasz erbot sich, das Stück mit Lisa Tetzner zu schreiben. Er gab die Idee der politischen Diskussionsführung und erfand weitere abenteuerliche Entwicklungen. Lisa Tetzner schrieb den Erstentwurf des Stückes, Balasz schrieb dann eine neue Fassung und gestaltete das Problem und die Dialoge in Form einer Komödie. Wir haben deswegen die Entstehung des Stückes geschildert, weil wir seit einiger Zeit zu unserer Verwunderung beobachten, daß auf Plakaten, in Zeitungsankündigungen, bei Abdruck von Zitaten usw. Balasz als alleiniger Verfasser angeführt wird. Wir wissen nicht, warum das geschieht, wir wissen auch nicht, wessen Schuld das ist. Vielleicht ist die Gruppe junger Schauspieler, die unter Regie Hans Deppes das Stück herausbringen, über den Sachverhalt nicht klar unterrichtet. Wir haben darum diesen Sachverhalt aufgrund von Zuschriften Lisa Tetzners und Bela Balasz klargestellt. (Klarstellung 1929)
1Dieser
Begriff stammt von Bernd Dolle-Weinkauff, der in seiner Dissertation Das Märchen in der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik von 1918– 1933 mit Blick auf Buch und Theaterstück und deren Rezeption in der zeitgenössischen Presse Grundlegendes herausgearbeitet hat (vgl. Dolle-Weinkauff 1984, 130–143). Die Verfasserin verdankt ihm zahlreiche Anregungen und Hinweise sowie die Möglichkeit zur Nutzung seiner umfänglichen Quellensammlung.
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Zehn Jahre älter als Lisa Tetzner, hatte Béla Balász (d. i. Herbert Bauer) in den späten 1920er-Jahren bereits ein umfangreiches Werk als Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler vorgelegt. In ungarischer Sprache hatte er eine Reihe von Gedichten, ein Drama und Libretti zu zwei Opern Béla Bartóks verfasst, als er, der unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen Kommunist geworden war, nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik nach Wien fliehen musste. In deutscher Sprache trat Béla Balász unter anderem als Kritiker, Drehbuchautor und Filmtheoretiker sowie als Autor von in symbolistischer Tradition stehenden Märchen für Erwachsene und Verfasser der viel beachteten fantastischen Erzählung für Kinder Das richtige Himmelblau (1925) in Erscheinung. Seit seiner Übersiedlung nach Berlin war er in der proletarisch-revolutionären Kulturszene überaus präsent und erreichte mit seinen Werken nach wie vor auch eine über das KPD-Umfeld weit hinausgehende ‚bürgerliche‘ Öffentlichkeit. Es gibt also zwischen den beiden Urhebern des Theaterstücks Hans Urian geht nach Brot ein Statusgefälle. Das erklärt, warum Béla Balász und nicht etwa Lisa Tetzner in der Zeitschrift des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschlands die theoretisch-programmatischen Hintergründe des Hans-Urian-Projektes darstellte (vgl. Balász 1929a) und es erklärt auch den Ton seiner Selbstdarstellung in der Welt am Abend. Dort erhielten er und Fritz Genschow Gelegenheit, sich zu den beiden Inszenierungen des Neuen Kindertheaters zu äußern, die im Oktober und November 1929 Premiere hatten (Der große und der kleine Klaus und Hans Urian geht nach Brot). Beide unterschlagen den Anteil Lisa Tetzners. Béla Balász kündigt die Inszenierung als ein kindertümlich eingekleidetes Lehrstück in politischer Ökonomie an: In meinem Märchen ‚Hans Urian geht nach Brot‘, das am 13. November durch die Gruppe junger Schauspieler zur Uraufführung gelangt, werden den Kindern im Rahmen einer Weltreise Begriffe wie Ausbeutung, Profit, Streik, Imperialismus, Organisation, Kräfteverhältnisse der Klassen klargemacht [Hervorh. i. O.]; die Form bleibt – wie gesagt – heiter, phantastisch; es spielen u. a. Tiere als Hauptfiguren mit. (Balász 1929b)
Es lässt sich denken, dass Lisa Tetzner weder von der Reduktion des Stücks auf die Vermittlung politischer Schlagworte noch von der Unterschlagung ihres Autorschaftsanteils besonders erbaut war. Zu ihrer Beteiligung an dem Projekt schreibt sie in dem bereits weiter vorn zitierten Beitrag von 1930 Folgendes: Ich habe an dem Stück auch mitgearbeitet, da der Grundentwurf der Reise um die Welt, bei der das Kind die Welt sehen soll, wie sie heute ist, und die Gestalt des Hasen einem Kinderbuchmanuskript von mir entsprang, was mir in Form eines Niels (sic!) Holgerssonbuches vorschwebte, also sozialökonomische Wirklichkeiten unserer Zeit innerhalb eines Märchenstoffes. (Tetzner [1930], 23)
Seitens der Welt am Abend wurde ihr jedenfalls Gerechtigkeit zuteil, denn dort erschien bereits vor der Premiere der nachfolgend zitierte Beitrag Paul Friedländers:
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Zum Schluss noch eine Bemerkung über eine, sagen wir Vergeßlichkeit [Hervorh. i. Orig.], die sowohl Bela Balász als Gentschow passiert ist. Soviel ich weiß ist Balász nicht der alleinige Verfasser des ‚Hans Urian‘, sondern Mitverfasser (wenn ich nicht irre, auch Anreger), ist Lisa Tetzner. Und den ‘Klaus’ hat nicht Gentschow als Drama bearbeitet, sondern gleichfalls Lisa Tetzner. Dies festzuhalten scheint mir darum nicht unwichtig, weil hier ein markantes Beispiel gegeben ist, wie sich eine bürgerliche Märchenschriftstellerin zur proletarischen entwickelt. (Friedländer 1929)
Zur Bekräftigung erinnert Paul Friedländer daran, dass Lisa Tetzner eine umworbene und bereits mit der kommunistischen Bewegung sympathisierende bürgerliche Intellektuelle ist, die man nicht durch ein derart rüdes Verhalten brüskieren sollte. Im Rahmen der Premierenkritik folgt dann noch die eingangs wiedergegebene detaillierte Klarstellung.
Die Prätexte Der Streit um die Urheberschaft Lisa Tetzners vermittelt drei Hinweise auf literarische Impulse, die sie in ihrer der Bühnenfassung von Béla Balász vorausgehenden Version des Stoffes verarbeitet hat: Selma Lagerlöfs Nils Holgersson, ein Kinderbuch des französischem Kommunisten Paul Vaillant-Couturier [d. i. Paul Charles Couturier], dessen deutsche Übersetzung 1928 unter dem Titel Hans ohne Brot im Verlag der Jugendinternationale erschienen ist und Matthias Claudius’ 1786 entstandenes Lied Urians Reise um die Welt. Von Letzterem bezog der Protagonist seinen Namen. Die motivliche Ähnlichkeit zwischen den Geschichten von Lisa Tetzner und Béla Balász und der aufklärungskritischen Zeitsatire ist recht vage. Hier hat der Reisende eine Mission zu erfüllen und kehrt am Ende mit bedeutsamen Erkenntnissen nach Hause zurück, dort begegnen wir den Prahlereien eines redseligen Wichtigtuers, der am Ende bloß noch die Sinnlosigkeit sämtlicher Expeditionen angesichts der Allgegenwart menschlicher Narretei feststellen kann. Es gibt jedoch ein Verbindungsglied zwischen dem einen und dem anderen Urian in Gestalt des Bilderbuches von Irene von Richthofen-Winkel, die mehr oder weniger zeitgleich auch an der Illustration der von Lisa Tetzner herausgegebenen Negermärchen gearbeitet haben muss. Die Stationenfolge in Claudius‘ Lied, die auch die Dramaturgie des Theaterstücks von Tetzner und Bálász bestimmt, wird durch Irene von Richthofen-Winkels Bebilderung noch unterstrichen. Von Selma Lagerlöfs Nils Holgersson gingen ohne Zweifel Einflüsse auf diverse fantastische oder märchenhafte Reisegeschichten der deutschen Kinderliteratur des frühen 20. Jahrhunderts aus. Wie in Nils Holgersson wird in den Hans-Urian-Geschichten von einer lehrhaften Zwecken dienenden Reise auf dem Rücken einer magischen Tierfigur erzählt. Und wenn man nur sucht, lassen sich
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auch dem Roman Nils Holgersson für ein proletarisches Pendant anschlussfähige Botschaften entnehmen.2 Noch mehr und direktere Anregungen bezog Lisa Tetzner von der in linksexpressionistischer Tradition stehenden parabolischen Märchenerzählung Jean sans pain, die im Original bereits 1921 erschienen und stark durch die Illustrationen von Jean Picart le Doux geprägt ist. Diese verleihen dem Buch eine kinderliterarische Anmutung: durch ihre intensive Farbigkeit, den in der Kinderbuchillustration des frühen 20. Jahrhunderts verbreiteten Zeichenstil und teilweise auch durch die Motivwahl. Der Betrachter fühlt sich an Illustrationen von Getrud Caspari und von Elsa Beskow erinnert. Auch Jean sans Pain macht sich seines Hungers wegen und in Begleitung eines zauberkräftigen Hasen auf seinen Weg. Seine Reise führt ihn jedoch nicht in die weite Welt, sondern sie lässt ihn hinter die Kulissen der Klassengesellschaft blicken, die ihm bereits Vater und Mutter geraubt hat. Jean erblickt die Fabrik, in der seine Mutter sich ihre tödliche Lungenkrankheit zuzog, wird Zeuge der Prassereien der reichen Kriegsherren und erlebt den qualvollen Tod seines Vaters auf dem Schlachtfeld. Das Bilderbuch endet mit einer Apotheose auf die bessere sozialistische Zukunft und mit der Eingliederung Jeans in die Reihen des kämpfenden Proletariats. Wir begegnen in diesem Prätext wesentlich mehr Pathos als bei Lisa Tetzner und Béla Balász, dennoch sind wesentliche Elemente des Hans-Urian-Stoffes bereits vorgeformt: Hier wie dort wird die Geschichte eines armen Jungen erzählt, der sich in seiner Not in Hasenbegleitung auf eine Reise begibt, die ihm letztlich zum Finden seiner proletarischen Klassenidentität verhilft. Dass die Ähnlichkeiten sogar noch weiter gehen, zeigt der folgende, den Reisebeginn schildernde Auszug aus der deutschen Übersetzung von Jean sans Pain: Nun – denke mal! – schraubt der Hase seine Ohren ab, eines nach dem anderen, klebt sie zusammen, steckt sie einem Feldhuhn in den Schnabel, bläst darauf, hei, wie dreht sich der Propeller im Wind! […] Hans lässt sich zwischen den Feldhühnern nieder. Freundlich rücken sie beiseite. Jedes hält ein Stäbchen im Schnabel und mitten auf den Stäbchen, die man zusammenfügt, sitzt Hans. […] Als sie eine gewisse Höhe erreicht hatten, senkte Hans seine Nase – bisher hatte er sie in die Luft gestreckt. Er sucht die Feldhühner und findet – die Seitenwände eines Eindeckers. […]
2Zum Beispiel in Gestalt der Begeisterung des kindlichen Helden angesichts von Wohlstand und Gerechtigkeit in der norrländischen Provinz Medelpad: „Das ist doch ein wunderbares Land! Wohin ich auch kommen mag, überall gibt es etwas, wodurch sich die Menschen ihren Lebensunterhalt verschaffen können.“ (Lagerlöf 1920, 372) Vgl.: “ Det är ett märkvärdigt land, som vi har. Vart jag kommer, alltid finns det något för människorna att leva av.“ (Lagerlöf 1907, 528).
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Vor ihm – das ist gar kein Hase, sondern ein Steuermann, mit Pelz und Ledermütze. Der gibt acht auf Weisungen, die er bekommt und auf jedes Geräusch seines Motors. (Hans ohne Brot 1928, 13 ff.)
Auch dieser Hase verfügt also über abnehmbare Ohren, die er als Propeller einsetzen kann. Allerdings begegnen wir bei Vaillant-Couturier einer mehrfachen Metamorphose des fantastischen Vehikels, die Tetzner und Balázs nicht übernommen haben. Sie hätte sich nur schwer auf der Bühne darstellen lassen und widerspräche auch dem eher vom Volksmärchen geprägten Wirklichkeitsmodell des Hans-Urian-Stoffes. Lisa Tetzner kam übrigens auch hier durch einen persönlichen Kontakt mit der Vorlage in Berührung, sie war mit der Illustratorin der deutschen Ausgabe Maria Braun befreundet (vgl. Dolle-Weinkauff 1984, 131). Den Namen des Hasen Trillewip bezog Lisa Tetzner aus einem von ihr herausgegebenen Märchen, einer dänischen Rumpelstilzchen-Variante, während Kagsaksuk, der arme Waisenknabe dem gleichnamigen Inuitmärchen aus dieser Sammlung entstammt. Diese Figur kommt zwar nicht in dem Theaterstück vor, in Lisa Tetzners 1931 erschienenem Kinderroman spielt sie jedoch eine wesentliche Rolle. Angesichts ihrer Verarbeitung der diversen Einflüsse liegt die Vorstellung nahe, Lisa Tetzner habe zum Hans-Urian-Projekt eine erste (unveröffentlichte) Version der Handlung in Gestalt einer epischen Erzählung oder auch in Form einer bloßen Stoffsammlung beigetragen, die Béla Balász dann politisch-ideologisch angereichert und für die Bühne bearbeitet hat. Dass zu den Prätexten des Stoffes noch eine ganze Reihe weiterer Werke gezählt werden können, deren unmittelbare Nutzung durch die Autoren nicht nachweisbar ist, sei hier nur am Rande erwähnt. Zum Beispiel diverse fantastische Weltreise-Geschichten in Bilderbuchform, von denen einige noch dazu mit anthropomorphisierten Hasenfiguren aufwarten (vgl.: Weinkauff/Dolle-Weinkauff 2005). Oder – ebenso naheliegend – das Motiv der fantastischen Flugreise im Kindertheater, das sich seit der Uraufführung des Weihnachtsmärchens Peterchens Mondfahrt von Gerdt von Bassewitz (1912) einer gewissen Beliebtheit erfreute. Fast zeitgleich mit Hans Urian geht nach Brot hatte in Berlin ein Stück mit dem Titel Fritzchens Flug zum Glück Premiere, das, den Beschreibungen der Kritik zufolge, fast als dessen kindertümlich-bürgerliches Gegenstück angesehen werden kann.3
3„Zunächst
in diesem ‚Märchen von heute‘ fällt uns auf, dass der hochmoderne Flug um die Welt nur am Schluß zum Teil per Zeppelin gemacht wird, während der eigentliche Start und Rekord auf eines Storches Rücken absolviert wird. […] Er legt vor seiner sportlichen Weltreise den armen Schneidersleuten noch rasch ein Töchterchen in die Wiege, worauf sich Fritzchen auf seinen Rücken setzt […] und nach Afrika fliegt, wo sich der […] Kannibalenkönig Owambo vom bösen Menschenfraß zur harmlosen Kalbshaxe bekehren läßt […]. Vom Nordpol fährt man dann […] zum Autokönig Ford nach Amerika, der sich aufgrund der in Afrika gefundenen Riesendiamanten sofort mit Fritzchen in grandiose Transaktionen einläßt […] und wir singen zum Schluß ein Weihnachtslied zum Dank für den Riesendiamanten.“ (Diebold 1929).
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Die Uraufführung Aufgrund der großen Beachtung, die die Uraufführung des Stücks erfahren hatte, lassen sich bestimmte Elemente der Inszenierung rekonstruieren. Auch die Regieanweisungen in der gedruckten Version sind aussagekräftig für den Inszenierungsstil. So wie man es etwa von Inszenierungen Erwin Piscators kennt, verwendete die Regie Projektionsbilder, die in diversen Kritiken als besondere Höhepunkte der Inszenierung herausgestellt wurden (vgl. Milgr. 1929; Zavrel 1929). Die Regieanweisungen sehen den Einsatz von Transparenten in den Flugszenen vor (mit den Silhouetten der Fliegenden: Urian Brot, 16, 23, 38, 46). Die Kulissen sollen die Schauplätze des Stücks nicht illusionistisch darstellen, sondern lediglich andeuten. Ihre Zeichenfunktion wird durch entsprechende, in den Regieanweisungen vorgesehene Beschriftungen unterstrichen (z. B. „Hier wohnt Hans Urian mit seiner Mutter“, ebd., 5). Das Bühnenbild von Wolfgang Böttcher wird in mehreren Kritiken gelobt. Neben den Projektionsbildern findet das (zweidimensionale) Requisit eines großen Dampfers Erwähnung, der über die Spielfläche gezogen wurde (vgl. Diebold 1929). Neben diesen dezidiert antiillusionistischen, teilweise epischen Elementen hoben etliche Kritiker auch die sportlich-artistischen Darbietungen von Rolf Müller in der Rolle des Hans Urian hervor (vgl. e. b. 1929; Wilde 1929). Die gedruckte Fassung enthält diverse humoristische Lazzi aus der Tradition des Volksschauspiels: Slapstick, Verwechslungskomik und Sprachkomik nach Kasperltheater-Art. Die erste Begegnung von Hans und dem Hasen (Urian Brot, 13)4 und die des Hasen mit den Bauersleuten (Urian Brot, 3. Bild, 17 ff.) trägt ausgesprochen clowneske Züge. Bei den „Negern“ geraten die beiden Kolonialoffiziere einander in die Haare, weil sie die Situation nicht überblicken (Urian Brot, 9. Bild, 47 ff.) und bei der Ankunft in New York geht ein komisches Extempore von Hans rasant in ein Telefongespräch mit dem Hasen über (Urian Brot, 7. Bild, 39 ff.). Auf jeden Fall trug die musikalische Begleitung durch die vom zeitgenössischen Kabarett bekannte Jazz-Gruppe des ungarischen Musikers und Komponisten Tibor Kasics zum Glanz der Inszenierung bei. Über den Komponisten Wilhelm Grosz schreibt das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit, er gehöre „zu den vielseitigsten Talenten, die das mitteleuropäische Musikleben der 1920er Jahre hervorgebracht hat“, sei „gleichermaßen erfolgreich als Komponist, Dirigent, Pianist und Musikwissenschaftler“ gewesen, dessen Oeuvre „die Gattungen Kunstlied, Oper, Operette, symphonische und Kammermusik, Jazz, Bühnen- und Filmmusik, Songs und Schlager“ umfasse (Gayda 2010). Mit Béla Balász arbeitete er auch bei einem
4Kurztitel für Zitatnachweise aus dem Theaterstück von Lisa Tetzner und Béla Balász Hans Urian geht nach Brot [EA 1929].
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anderen Projekt zusammen: der Tanz-Groteske Baby in der Bar, die 1928 in Hannover uraufgeführt wurde (Béla Balász war der Librettist). Zudem hatte Erich Kästner zwei Lieder zu dem Stück beigesteuert, die allerdings in der gedruckten Fassung nicht enthalten und leider bis heute nur bruchstückhaft rekonstruierbar sind. Unter Umständen wurde in der Uraufführung noch mehr gesungen, denn in den Kritiken ist mehrfach von Couplets die Rede und von Chören, die das Publikum zum Mitsingen animierten (vgl. Wilde 1929; Bez-Mennicke 1930, 90). Die Gedächtniszitate der Kritiker vermitteln kein schmeichelhaftes Bild von der Qualität der Liedtexte, da sie sich stets im Kontext von politisch motivierten Verrissen finden, sind Zweifel an der Authentizität angebracht: „Der Arbeiter, der gilt nichts auf der Welt / Die Reichen nur verdienen das Geld“ (F. S. s. 1929) oder „Der Arbeiter hat die Hölle auf Erden / Das muss anders werden“ (Wilde 1929). Dass die Lieder verschollen sind, liegt wahrscheinlich an der reservierten Haltung, die Kästner nach der Uraufführung gegenüber dem Hans-Urian-Projekt eingenommen hat. Diese ist in einem seiner Muttchenbriefe dokumentiert: Berlin, 14. Nov. 29 Liebes, gutes Muttchen! Ehe ich ans Arbeiten gehe: rasch ein kleines Briefchen an die Allerbeste. […] Gestern war die Premiere des Kinderstücks ‘Hans Urian geht nach Brot’, wozu ich paar Kinderlieder gemacht habe. Die erste Kritik, die ich bis jetzt gelesen habe, lobte meine Mitarbeit sehr. Mir gefielen meine eignen Sachen dabei leider nicht besonders. Ich hörte sie zum 1. Mal mit Musik. Ein andres Mal laß ich mir so was vor der Aufführung vorspielen. […] Millionen Grüße und Küsse Dein alter Junge (zit. nach List 2010, 109)
In der Druckfassung des Stücks gibt es drei Hinweise auf Gesangseinlagen: Beim ersten Start von Hans und dem Hasen, bei der Rückkehr zur Mutter und ganz am Ende des Stücks (vgl. Urian Brot 1929). Damit kommt zwei Liedern eine wichtige Strukturierungsfunktion zu, sie markieren das Einsetzen der Reisehandlung und formulieren am Schluss eine appellativ an das Publikum gerichtete politische Botschaft. Die oben wiedergegebenen Gedächtniszitate dokumentieren wohl den Eindruck, den das Schlusslied bei den Kritikern hinterlassen hat. Das erste Lied könnte die Passage enthalten haben, die Lisa Tetzner als Motto ihres Romans verwendet hat: Er hatte keinen Reiseplan Und erst recht kein Geld für die Eisenbahn Wie die andern! Die andern! Doch von der Luft wird keines satt Und wer kein Brot im Hause hat Muß wandern! Muß wandern! (Urian Weltreise)5 5Kurztitel
für Zitatnachweise aus dem Ronan Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise von Lisa Tetzner [EA 1931]. Zitiert wird nach der Ausgabe von 1975.
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Rezeption als Laienspielvorlage Obwohl die Uraufführung des Stücks so große Beachtung fand, wurde es in Deutschland bis zum Jahr 1933 nicht mehr in professionellem Rahmen nachinszeniert. Soweit bekannt, geschah dies trotz des damals bestehenden Interesses an der linken Kindertheatertradition auch nicht in der 1968er-Zeit. Lediglich im Klappentext der Ausgabe des Romans von 1944 ist von einer Inszenierung des Theaterstücks in Zürich um das Jahr 1944 die Rede. Allerdings gibt es einen interessanten Hinweis auf eine zeitnahe Rezeption des Stücks als Laienspielvorlage innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterkinderbewegung. Der Hinweis ist nicht nur deswegen bemerkenswert, weil er eine Verschiebung vom Berufs- zum Amateurtheater und vom kommunistischen zum sozialdemokratischen Umfeld dokumentiert, sondern auch aufgrund der Person des Verfassers. In seiner 1982 erschienen Autobiografie erinnert Willy Brandt Folgendes: 1930 wurde, mit 2500 Teilnehmern, eine Kinderrepublik an der Lübecker Bucht veranstaltet. Die Teilnehmer besuchten zunächst die Stadt und wurden allesamt in Privatquartieren untergebracht. Das war eine beachtliche, aber zu jener Zeit nicht ungewöhnliche Leistung. Der festliche Auftakt im Hansa-Theater mit einem Stück, in dem ich die Hauptrolle spielte – ‚Hans Urian geht nach Brot‘ – hinterließ mir eine eher unangenehme Erinnerung: Ich hatte meinen Text nicht gut gelernt. Ohne tüchtige Souffleuse hätte das einen mittleren Skandal verursacht. (Brandt 1982, 28)
Weil die Betreffende sehr viel später aufgrund von kommunalpolitischen Auseinandersetzungen mit der linken Parteijugend medienwirksam aus der SPD ausgetreten ist, wissen wir auch, wer 1930 die zweite Hauptrolle gespielt hat. Unter dem Titel Parteiaustritt in Lübeck. Trillewipp verließ Urian berichtete die Wochenzeitschrift Die Zeit über den Vorfall. Die Abgeordnete der Lübecker Bürgerschaft Marga Krüger, so heißt es dort, sei bereits 1929 Mitglied der Roten Falken gewesen und habe in der Aufführung von Hans Urian geht nach Brot an der Seite von Willy Brandt die Rolle des Hasen gespielt (vgl. Schönherr 1973). Auch in der Nachkriegszeit, nämlich 1948 und 1956, erschienen noch zwei mit der Erstausgabe identische Laienspielausgaben des Stücks in sozialdemokratischen Verlagen.
Vom Theaterstück zum Kinderroman Lisa Tetzners Roman als eine Adaption des Theaterstücks von 1929 zu bezeichnen, verbietet die komplizierte Entstehungsgeschichte. Ohne Zweifel gab es für das Stück bereits eine von Lisa Tetzner verfasste, höchstwahrscheinlich epische Vorlage und die Druckfassung des Romans wird sowohl auf dieser als auch auf dem Theaterstück bzw. dessen Entwürfen gründen. Um nicht allzu weit
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in das Reich der Spekulationen abzudriften, möchte ich einfach auf einige signifikante Unterschiede zwischen den beiden gedruckten Versionen des Stoffes – der epischen und der dramatischen – verweisen. Zunächst ist die Handlung des Romans wesentlich umfangreicher, sie umfasst zwei Reisestationen, die im Theaterstück fehlen (Grönland und die Sowjetunion), und mit dem „Eskimo“-Jungen Kagsagsuk und dem Amerikaner Bill gewinnt der Hans Urian des Romans im Verlauf der Handlung zwei Freunde, die im Theaterstück nicht vorkommen. Generell erhalten die Leser/innen des Romans andere und suggestivere Identifikationsangebote als die Betrachter/innen des Theaterstücks. Der Roman beginnt mit einer auktorialen Exposition und wird generell durch einen Wechsel von auktorialen und szenisch-neutral erzählten Passagen bestimmt, wie er zum Beispiel auch für die Kinderliteratur Erich Kästners charakteristisch ist. Im Theaterstück wird der sparsam ausgestattete Bühnenraum vor den Augen des Publikums in eine Kulisse verwandelt, daraufhin setzt die Handlung medias in res ein. Im Roman erschrickt Hans Urian zunächst über den sprechenden Hasen, der ihn darauf moralisierend und psychologisierend zu beruhigen weiß: ‚Guten Tag, Hase!‘ sagte Hans und freute sich, einen Hasen so nahe zu sehen. ‚Guten Tag, Hans Urian‘, antwortetet der Hase. Jetzt erschrak Hans noch mehr. ‚Du kannst sprechen?’, rief er. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte noch nie gehört, daß ein Hase redet. ‚Ja’, sagte der Hase. ‚Alle Hasen sprechen. Ihr Menschen wißt das nur nicht. Wir haben Angst vor euch, weil ihr uns jagt, und in der Angst finden wir keine Worte. Aber du hast mich so freundlich wie deinesgleichen begrüßet. Das hat noch kein Mensch vor dir getan.’ (Urian Weltreise, 11 f.)
Im Theaterstück sind beide Figuren weniger schreckhaft und deutlich angriffslustiger (nicht nur in der nachfolgend wiedergegebenen Szene) und Hans Urians Konsterniertheit angesichts des sprechenden Hasen wird mit einem metafiktionalen Scherz quittiert: Hans: Wie kommt es, daß du sprechen kannst, wenn Du ein Hase bist? Das gibt es doch nicht. Kein Tier kann reden, wie der Mensch, nur der Papagei. Hase: Ich bin aber kein gewöhnlicher Hase, ich bin ein Theaterhase und Theaterhasen können auch sprechen. Hans: Theaterhasen? Hör mal, das ist ein Schwindel. Hase: Was hast du zu reden? Du bist auch kein wirklicher Hans, sondern nur ein Theaterhans. Hans: Das ist eigentlich wahr. Dann wollen wir nicht zanken. […] (Urian Brot, 13)
Überhaupt wird die Begegnung von Mensch und Tier im Roman eher zum Anlass für zivilisationskritische Betrachtungen, während die Tierfiguren im Theaterstück tendenziell als Sprachrohre politischer Erkenntnisse und Erfahrungen fungieren. Am Anfang der Reise begegnen Hans und der Hase einem sprechenden Pferd, das im Theaterstück vom Hasen wortreich agitiert wird (vgl. Hans Urian geht nach Brot 1929, 19). Im Roman wird diese Episode viel knapper abgehandelt, als Begegnung von Wild- und Nutztier. Während sein Besitzer, der Bauer, den beiden
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Reisenden voller Misstrauen gegenübertritt und sich bereits auf den Weg gemacht hat, um den Landjäger zu alarmieren, lädt das gutmütige Pferd sie dazu ein, seine Mahlzeit mit ihm zu teilen. Dabei kommt es zu folgendem Dialog: „Ich heiße Trillewipp“, sagte der Hase und kam näher. „Ich heiße Liese“, sagte das Pferd und stieß dem Hasen mit dem Huf den Hafer zu. „Puh, Liese ist ein Menschenname“, sagte der Hase verächtlich. „Ja, leider“, nickte das Pferd. „Mein Herr, der Bauer hat ihn mir gegeben.“ Der Hase war froh, daß er Hafer fressen konnte. Er knackte ihn zwischen den Zähnen und schluckte sehr. (Urian Weltreise, 21)
Dass Lisa Tetzner in ihrem Roman das aus Kästners Emil und die Detektive bekannte Motiv der klassenübergreifenden Kinderfreundschaft variiert hat, wurde ihr seitens der linken Kritik übelgenommen und mehrfach setzen spätere Fortschreibungen des Stoffes, an diesem Motiv an, um deutlich zu machen, dass solche Freundschaften unter kapitalistischen Verhältnissen zum Scheitern verurteilt sind. Im Theaterstück gibt es lediglich die Freundschaft zwischen Hans und dem Hasen, die ihrerseits eine vergleichsweise unterkühlte Darstellung erfährt und keineswegs das zentrale Thema des Stücks ist.
Übersetzungs- und Editionsgeschichte Die erste Ausgabe des Buches erscheint 1931 bei Gundert in Stuttgart mit Illustrationen von Bruno Fuck. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es bereits vor Drucklegung und Uraufführung des Theaterstücks einen Entwurf für eine Erzählung von Lisa Tetzner gab, der die Grundlage für die Bearbeitung von Béla Balász bildete, publiziert wurde die Erzählung erst 1931. Von dem Buch konnten 1944, 1948, 1949 und 1975 noch fünf weitere deutschsprachige Ausgaben bzw. Auflagen ermittelt werden, alle textidentisch und alle mit Illustrationen von Bruno Fuck aber teils verändertem Satz und veränderter Titelgestaltung. 1944 erschien das Buch bei der Büchergilde Gutenberg in Zürich, mit einem Klappentext von Hermann Hesse, der dessen Rezension der Erstausgabe entnommen war. Das Vorwort Lisa Tetzners enthält programmatische Aussagen zur anhaltenden Aktualität der Themen ihrer Erzählung und Hinweise auf die zahlreichen Übersetzungen, die das Werk mittlerweile erfahren hatte. Wie wichtig ihr Erstere zeitlebens gewesen sind, dokumentiert auch der Name des Hauses im Tessin, in dem sie und ihr Mann Kurt Kläber-Held während der NS-Herrschaft zahlreichen exilierten Schriftstellern Unterschlupf geboten hatten: Casa Pantrova, das Haus des gefundenen Brotes. Die meisten Übersetzungen erschienen in Verlagen, die auch andere Übersetzungen exilierter deutschsprachiger Kinderbuchautor/innen publizierten. Die erste (ins Italienische) erschien allerdings schon 1932 und die letzte (ins
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Dänische) 1948. Die Illustrationen von Bruno Fuck wurden in alle Übersetzungen übernommen, einige übernahmen die komplette Ausstattung einschließlich der Titelillustration, andere wählten eine andere, mehr von kinderliterarischen Konventionen bestimmte Titelgestaltung bzw. Titelbilder, die erkennen ließen, dass im Buch eine auch von unterhaltsamer Exotik geprägte fantastische Weltreise erzählt wird (Abb. 1a, b, c). Ein Jahr vor der Übersetzung erscheint in Polen 1936 eine für den Schulgebrauch bestimmte deutsche Ausgabe mit polnischen Erklärungen und Anregungen für einen reformpädagogisch ausgerichteten Unterricht mit dem Buch. Um die Publikation der deutschen Ausgabe von 1949 im Verlag Weiß gab es eine Auseinandersetzung mit der amerikanischen Zensurbehörde, die das Buch zunächst im Oktober 1949 verboten und eine Druckgenehmigung für den Fall in Aussicht gestellt hatte, dass die beiden in Amerika und der Sowjetunion handelnden Kapitel gestrichen würden. Nach einem regen Briefwechsel Lisa Tetzners mit der für die Angelegenheit zuständigen Offizierin in Berlin und öffentlicher Kritik im Herbst 1949 durfte das Buch, wie es heißt, schließlich doch ungekürzt erscheinen (vgl. Geus 1997, 192–195). Allerdings ist die Ausgabe in keiner Bibliothek auffindbar. Die bisher letzte deutsche Ausgabe erschien 1975 als rotfuchs-Taschenbuch – mit unverändertem Text, den Illustrationen von Bruno Fuck, einer Titelillustration, die an Nils Holgersson erinnert und einer leicht nonsensehaft-skurrilen Schlaraffenland-Fantasie in Jan Schniebels Cover-Comic (Abb. 2).
Abb. 1 a Cover der Originalausgabe von Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise sowie b der niederländischen und c spanischen Übersetzung (Vgl. zu den Titeln der Cover die Bibliographie am Ende dieses Beitrags)
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Abb. 2 Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise. (Tetzner © Reinbek: Rowohlt, 1975)
Fortschreibungen Lisa Tetzners Geschichte vom hungernden Arbeiterjungen, der durch seine Reise auf dem Rücken eines mit magischen Fähigkeiten ausgestatteten Hasen zu einem sozialistischen Weltbild kommt, erfuhr allerdings über die Dramatisierung hinaus noch weitere Fortschreibungen. Zwei davon sollen hier in Augenschein genommen werden: Fritz Rosenfelds Kinderroman Tirilin reist um die Welt (EA 1931) und die illustrierte Erzählung Ulle Bams wundersame Reise um die Erde von Eva Maria Haasis und Georg Willroda mit Zeichnungen von Kurt Rübner (1949). Fritz Rosenfeld, der vor dem Kinderroman bereit zwei Sprechchorwerke und einen im Milieu der Filmindustrie handelnden Roman verfasst hatte und als Feuilletonredakteur für die sozialdemokratische Wiener Arbeiterzeitung tätig war, stand höchstwahrscheinlich mit Béla Balász in persönlichem Kontakt. Dass er von dem Theaterstück Hans Urian geht nach Brot Impulse bezog, ist offensichtlich. Die Berliner Uraufführung war schließlich ein Ereignis und die gedruckte Fassung öffentlich zugänglich. Auch Tirilin, der im Unterschied zu Hans Urian eine Vollwaise ist, wird von Hunger und Not zu seiner Reise veranlasst, auch er reist in Begleitung einer zauberkräftigen Tierfigur und kehrt schließlich mit einem gefestigten Klassenbewusstsein in die Heimat zurück.
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Mit wenigen Abweichungen ist der Verlauf der Weltreise gleich. Zunächst werden Begebenheiten in der unmittelbar benachbarten ländlichen Umgebung der Protagonisten dargestellt bzw. erzählt, die den Handlungskonflikt und das Wirklichkeitsmodell der Geschichte hervortreten lassen. Die daran anschließende fantastische Reise führt über den Ozean, wo die Protagonisten die Klassengesellschaft im Mikrokosmos eines großen Passagierschiffes erfahren. Weitere Stationen sind in allen drei Texten Amerika, Afrika und China, in Lisa Tetzners Roman außerdem Grönland und die Sowjetunion und bei Fritz Rosenfeld ein ziemlich märchenhafter Orient. Die Märchenelemente in dessen Roman sind jedoch Teil eines aufklärerischen Kalküls. Im Unterschied zu Lisa Tetzner und Béla Balász erzählt Fritz Rosenfeld nämlich vorrangig die Geschichte einer Desillusionierung. Denn Tirilin suchte ein Märchenland und glaubte sich in seiner Sehnsucht nach Glück, Wohlstand und Gerechtigkeit von einem gleichaltrigen Freund verstanden, der allerdings auf der anderen Seite der Klassengesellschaft zu Hause ist. Eine solche Figur kommt im Theaterstück Hans Urian geht nach Brot nicht vor, wohl aber in Lisa Tetzners Roman in Gestalt des amerikanischen Fabrikantensohns Bill. Diese Darstellung einer klassenüberschreitenden Kinderfreundschaft nach Art der Kinderromane Erich Kästners musste linken Kritikern des Romans suspekt erscheinen (vgl. Dolle-Weinkauff 1984, 133). Fast scheint es, als habe Fritz Rosenfeld, solche Kritik vorwegnehmend, das Motiv aufgegriffen und verändert, denn im Gegensatz zu der Freundschaft von Hans Urian und Bill scheitert diejenige von Tirilin und Bob auf schmerzhafte Weise am Klassenantagonismus. Und das Märchenland versteht Tirilin am Ende nur noch als Metapher für die sozialistische Zukunft, die die Werktätigen aus eigener Kraft erschaffen müssen. Dass Fritz Rosenfeld neben dem Theaterstück auch eine Entwurfsfassung Lisa Tetzners kannte, scheint daher sehr wahrscheinlich. Mit der magischen Tierfigur, der Schiffsreise und den Reisestationen Amerika und China hat Fritz Rosenfeld neben der didaktischen Intentionalität auch wesentliche Teile des Inhalts seiner Erzählung von den Prätexten übernommen. Ein Plagiat ist der Roman darum noch lange nicht, eher eine Adaption oder, genauer, eine Art Kontrafaktur. Seine Originalität liegt nicht zuletzt auf der Ebene der Erzählweise. Obwohl diese, ebenso wie Lisa Tetzners Erzählung, der kinderliterarischen Tradition entsprechend, reichlich auktoriale Elemente enthält und die Figuren eher flächenhaft als psychologisch individualisierend angelegt sind, werden Rezipient/innen deutlich weniger stark gelenkt als in beiden Hans Urian-Versionen. Vielmehr beschränkt sich die Erzählinstanz auf die Wiedergabe der kindlich-naiven Weltsicht des Protagonisten, die sich erst am Ende als illusionär erweist. Zudem ist Tirilin im Unterschied zu Hans Urian auch in märchenhaftfantastischen Handlungsräumen unterwegs, die in parabelhafter Weise inszeniert, zu Schauplätzen aufklärerisch-didaktischer Symbolhandlungen werden. Dieses Wirklichkeitsmodell bestimmt die darauffolgende fantastische Erzählung Der Flug ins Karfunkelland in toto, während Der Regenbogen fährt nach Masagara gar
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keine fantastischen Elemente aufweist. Die aufklärerisch-didaktische Intentionalität teilen die beiden Exilwerke mit Tirilin reist um die Welt, weshalb sie im weiteren Sinn auch als Fortschreibungen des Hans-Urian-Kosmos angesehen werden können. Auch die vielen Übersetzungen von Tirilin reist um die Welt trugen zweifellos zur Fortexistenz des Stoff-/Motivkomplexes bei. Daran anknüpfend verfassten Eva Maria Haasis und Georg Willroda ihre vom Kinderelend der Nachkriegszeit, Friedenspathos, reformpädagogischem Denken und großen Sympathien für die sozialistisch-kommunistische Weltbewegung bestimmte Erzählung Ulle Bams wundersame Reise um die Erde, die von Kurt Rübner mit doppelseitigen farbigen Landkarten und den Text rahmenden Schwarzweißillustrationen ausgestattet wurde. In der Geschichte ist die Figur des mythenumwobenen Kinderfreundes Ulle Bam an die Stelle der zauberkräftigen Tierfiguren getreten. Auch Ulle Bam verfügt über ein fantastisches Reisevehikel in Gestalt der Feder an seinem Tropenhelm mit deren Hilfe er und die beiden Kinder Finele und Marcel sich in die Lüfte erheben. Wie in den anderen zum Stoff-Motiv-Komplex zählenden Texten, bildet der Hunger den Ausgangspunkt und der Erwerb von Einsichten in die ungerechte Verteilung des Reichtums auf der Welt das eigentliche Ziel der Reise. Das Buch ist ein typisches Beispiel für eine in Ost und West gleichermaßen anzutreffende Strömung der Kinderliteratur der Nachkriegszeit, die ich als ‚Kinderliteratur der Völkerverständigung‘ bezeichne (vgl. Weinkauff 2017, 222 ff.). Dazu passt auch die Überhöhung der klassischen Figuren der internationalen Kinderliteratur zu Friedensbotschaftern – eine Idee, die zeitgleich auch Jella Lepman, Erich Kästner und Walter Trier in ihrer berühmten kinderliterarischen Friedensparabel Die Konferenz der Tiere ausgeformt haben. Die zweite, in Stalins Todesjahr 1953 erschienene UlleBam-Folge, weist solche Schnittmengen kaum noch auf. Die Reise führt nun an die Schauplätze der großen Stromumleitungs- und Stauseeprojekte der Sowjetunion und vermittelt den Protagonisten aufwühlende Begegnungen mit nordkoreanischen Kriegswaisen. Wie es scheint, hat sich hier auch die Zensur etwas stärker eingemischt.
Der Handpuppenfilm der DEFA Wie bei einigen anderen zeitgenössischen Produktionen des DEFA-Trickfilmstudios in Dresden haben wir es mit einer Kombination von Handpuppen- und Trickfilmtechnik mit teils gemalten, teils dreidimensionalen Kulissen zu tun. Cast und Crew waren prominent zusammengesetzt: Die Regisseurin Gerda Hammer-Wallburg und die Puppenspieler (Walter Später, Werner Hammer, Johannes Walter, Hans Claus und Arnim Rüdiger) waren bereits durch diverse Produktionen hervorgetreten. Mit Helmut Straßburger, Traute Richter, Rudolf Fleck und Ferdinand Felsko waren bekannte Schauspieler als Sprecher an der Produktion beteiligt. Der Komponist Hans Sandig hatte 1948 den RundfunkKinderchor Leipzig gegründet, mit dessen Orchester er die Erkennungsmelodie
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Abb. 3 Hans Urian holt Brot. Handpuppenfilm. DEFA 1961
für das DDR-Sandmännchen einspielte. Außerdem vertonte er das in der DDR kaum weniger populäre Weihnachtslied Sind die Lichter angezündet. Die Puppen stammen aus der Hand des seit 1959 für die DEFA arbeitenden Bildhauers Dietrich Nitzsche. Der Screenshot (Abb. 3) zeigt den Hasen, flankiert von einem sowjetischen Pionier, der die Gefährten im letzten von insgesamt drei bereisten Ländern willkommen heißt. Dass das Filmchen im Vergleich mit anderen zeitgenössischen DEFA-Animationsfilm-Produktionen ein wenig behäbig erscheint, liegt an der auktorialen Rahmung der Handlung durch eine Off-Stimme, an Äußerlichkeiten, wie der altertümelnden Frakturschrift im Vorspann, aber auch an der allzu simpel vorgetragenen politischen Botschaft. Als Vorlage kommt weniger das Theaterstück als der Roman von Lisa Tetzner in Frage, der den Filmemachern jedoch nur als Idee diente. Soll heißen, das Handlungsgerüst wurde in stark ausgedünnter Form übernommen, ohne die von Exotismen beherrschte Reisestation Afrika und ohne das mittlerweile politisch problematische China, sodass der DEFA-Hans Urian lediglich Amerika, den Nordpol und die Sowjetunion bereist. In Amerika trifft er auf den Kapitalistensohn aus Lisa Tetzners Roman, der aber im Gegensatz zum Eskimojungen Kagsagsuk nicht sein Freund wird, sondern von vorneherein als Fiesling in Erscheinung tritt. Weil sie in Amerika Zeugen der Weizenvernichtung wurden, müssen die drei Reisegefährten den Kontinent fluchtartig verlassen, um darauf umso mehr Geborgenheit im Mutterland aller Werktätigen zu erfahren. Danach kehrt Hans Urian mit einem sowjetischen Brotlaib in der Hand und um viele Erfahrungen reicher zur Mutter zurück und erholt sich von den Strapazen der Reise. Die Offstimme beendet nach Sandmännchen-Art reimend den Film: „Nun Kinder, seid schön leise. In seinem Traume loht ein herrliches Backofenfeuer. Und Brote liegen dort bereit, und die sind nicht zu teuer. Er träumt von unserer Zeit.“
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Erwähnenswert ist die Musik, die – ähnlich wie in dem Theaterstück von 1929 – sowohl emotionalisierende bzw. dramatisierende als auch illustrierende sowie strukturierende Funktionen erfüllt. Neben Atmosphäre stiftender Instrumentalmusik, die bei der Ankunft in New York Jazzanklänge und bei der Ankunft auf dem sowjetischen Kornfeld Anklänge an russische Volksmusik aufweist, gibt es ein Lied in drei Strophen, von denen jeweils eine in den Flugsequenzen gesungen wird: beim Aufbruch zur Weltreise, nachdem der Eskimojunge Kagsagsuk dazu gekommen ist und bei der Flucht aus Amerika. Dass Einzelne der am Film beteiligten Künstler die Inszenierung von 1929 noch aus eigenem Augenschein kannten und die Erinnerungen daran in die Filmproduktion einflossen, ist nicht ganz unwahrscheinlich. Auch die Szenografie des Films könnte von der des Theaterstücks beeinflusst sein.
Ist das Hans-Urian-Projekt ein Medienverbund? Obwohl dieser Beitrag in einem Sammelband zur Geschichte kinder- und jugendliterarischer Medienverbünde erscheint, wird dieser Begriff darin vermieden. Es liegt daher nahe, im Fazit die diese Zurückhaltung der Verfasserin erklärenden terminologischen Probleme anzusprechen. Der Begriff des Kindermedienverbundes, der in der englischsprachigen Forschung u. a. mit commercial supersystem oder children’s global multimedia übersetzt wird (vgl. Kurwinkel 2017, 14), findet im deutschen Sprachraum seit Mitte der 1990er-Jahre Verbreitung.6 In der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung zielt dieser Begriff üblicherweise vorwiegend auf die medienübergreifende Verbreitung popularkultureller Stoffe, gelegentlich werden sogar die Begriffe des Medienverbundes und des Merchandising synonym verwendet. Eine besondere Position formulierte Hans-Heino Ewers in seinem 2004 erschienenen Beitrag Die Göttersagen der Gegenwart. Die Medienverbundangebote sind die großen Narrationen unserer Zeit: Er weist den Medienverbünden Gattungseigenschaften zu und bezeichnet sie als ein „Hypermedia-Genre, bei dem die plurimediale Inszenierung von Anfang an intendiert ist“ (Ewers 2004, 5) und dem aus diesem Grund mit traditionellen literaturwissenschaftlichen Kategorien wie dem Begriff der Adaption nicht beizukommen sei. Mir erscheint hier weniger der Gattungsbegriff anschlussfähig als die Abgrenzung des Medienverbundes von anderen potenziell medienübergreifenden Phänomenen, wie dem der Adaption. Ich selbst würde auch medienübergreifende literarische Angebote, die nicht der populären Massenkultur angehören, sondern eher als künstlerisch anspruchsvolle Avantgardeprodukte anzusehen sind, als ‚Medienverbünde‘ bezeichnen, soweit die betreffenden Stoffe tatsächlich plurimedial inszeniert
6Vgl.
Hengst 1994, Wermke 1998 sowie Josting 2001 und – resümierend – 2012.
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werden und die medienübergreifenden Produktions- und Distributionsprozesse mit dem Begriff der Adaption nicht hinreichend beschrieben werden können (vgl. Weinkauff/von Glasenapp 2017, 213 ff.). Allerdings tendiere ich dazu, den Begriff enger zu fassen als Petra Josting, die in ihrem Beitrag zum Handbuch Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart einen Medienverbundbegriff vorschlägt, für den „in technologischer Perspektive“ bereits dann von einem Medienverbund auszugehen sei, „wenn eine Zweitverwertung vorliegt“ (Josting 2012, 393), weshalb sie konsequenterweise bereits C. A. Görners Grimmsche Märchenstoffe verarbeitende Weihnachtsmärcheninszenierungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Medienverbundphänomene ansieht. Die Forschung zur Medienentwicklung im Kontext der Geschichte der Kinderund Jugendliteratur des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist ein wichtiges Desiderat, insbesondere die medienübergreifenden Phänomene sind noch viel zu wenig beleuchtet worden und es ist absolut sinnvoll, nach Begriffen zu suchen, die deutlich machen, dass wir solchen Phänomenen nicht nur in der Gegenwart begegnen. Und selbstverständlich sind auch kulturwissenschaftlich oder soziologisch fundierte Begriffe von Medien bzw. Medienverbünden denkbar, die nicht in erster Linie auf die Beschreibung medienübergreifender Diskursivierungen von Stoffen oder Texten abzielen, sondern auf Phänomene von Rezeption und Wirkung im weitesten Sinn. Auch das Werther-Fieber des ausgehenden 18. Jahrhundert ließe sich auf einer solchen theoretischen Grundlage, wie von Herausgeber/innen dieses Bandes auf der zweiten Projekttagung vorgeschlagen, als Medienverbundphänomen bezeichnen (vgl. auch Andree 2006). Die Frage ist, ob ein derart weit gefasster Medienbegriff für die literaturwissenschaftliche Forschung sinnvoll ist. Ungeklärt scheint mir auch, ob es sinnvoll ist, auch dann von Medienverbünden zu sprechen, wenn zwischen den einzelnen medialen Versionen oder medieninduzierten Wirkungsphänomenen große historische Distanzen liegen, oder ob man den Begriff besser für Fälle tendenziell gleichzeitiger Verfügbarkeit der Versionen reserviert. Im ersten Fall müsste man zum Beispiel sagen, dass das dramatische Werk von Carlo Goldoni und die commedia dell’arte oder die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm und ihre schriftlichen und mündlichen Vorlagen Medienverbünde bilden. Für die gegenwärtige Kinder- und Jugendliteratur- und Medienforschung sehe ich einen Bedarf zur begrifflichen Differenzierung, etwa zwischen nationalen und internationalen, populär-kulturellen und hochkulturellen, seriellen und nicht-seriellen Medienverbünden oder solchen, die sich mit einfachen oder komplexen, statischen oder dynamischen Adressatenkonzepten verbinden. Eine einheitliche Etikettierung unterschiedlichster Phänomene als Medienverbünde trägt jedoch nicht unbedingt zur Differenzierung bei. Auf keinen Fall ist der Stoff- und Motivkomplex um Hans Urian in gleicher Art ein Medienverbund in der Art derjenigen um die Heidi- und Pinocchio-Anime aus den späten siebziger Jahren, um Paul Maars Sams oder um Prinzessin Lillifee. Seine Genese dokumentiert, wie im Rahmen bestimmter kinderkultureller Diskurse im Umfeld der politischen Linken ein literarischer Stoff in verschiedenen
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medialen Versionen entwickelt und später auch fortgeschrieben wird. In diesem Prozess sind, wie es scheint, individuelle Autorschaftskonzepte weniger überschritten, als verletzt worden und beim Versuch der Rekonstruktion der Anteile der verschiedenen Autoren liegt es nahe, die Ausformung der beiden zentralen medialen Versionen und auch die Fortschreibungen durch Fritz Rosenfeld und Georg Willroda als Adaptionsprozesse zu untersuchen. Während die Prätexte dieser beiden Versionen in unterschiedlichen Medienkontexten angesiedelt werden können (ein Lied, kinderliterarische Erzähltexte und Bilderbücher, Kindertheaterstücke), finden die Fortschreibungen vorzugsweise im Buchmedium statt, und zwar in Form von epischen Erzählungen. Der DEFA-Handpuppenfilm ist wohl eher eine späte Adaption als ein Medienverbundphänomen i. e. S., noch dazu, wenn man in Rechnung stellt, dass Lisa Tetzners Roman in der DDR gar nicht gedruckt wurde und das Laienspielheft von 1948 (in dem ihr Name nicht genannt wird) bei der Uraufführung des Films sicher längst vergriffen war. Den Rezipienten des Films waren die früheren medialen Versionen des Stoffes also gar nicht zugänglich. Für die Genese dieses Stoffes gibt es über die unmittelbaren Prätexte hinaus zweifelllos noch andere Einflussquellen und die Überlegung, dass Lisa Tetzners Entwicklung zu einer realistischen, links engagierten Autorin durch ihre Erfahrungen in der Arbeit mit einer Kindergruppe beim Rundfunk befördert wurden, ist nicht von der Hand zu weisen. Auch wäre es gut möglich, dass Lisa Tetzner Teile des Stoffs eines frühen Buchmanuskriptes im Rundfunk verarbeitet hat und es so Fritz Rosenfeld als Vorlage dienen konnte. Davon abgesehen ist das komplexe intertextuelle Geflecht rund um Hans Urian nur zum Teil medienübergreifend angelegt und eine ausschließliche Beachtung der medialen Aspekte würde den Blick auf den Gegenstand verengen. Daher schienen mir die Instrumentarien einer medienübergreifenden Stoff- und Motivgeschichte, der Intertextualitätsforschung und der Begriff der Medienadaption für das Hans-Urian-Projekt ergiebiger als der Begriff des Medienverbunds.
Literatur Primärliteratur Ursprungsversionen inkl. Nachauflagen und Übersetzungen Balázs, Béla: Hans Urian geht nach Brot. Eine Kindermarchenkomodie von heute. Mit Verwendungeiniger Ideen von Lisa Tetzner. Freiburg: Max Reichhard [1929]; weitere Ausgaben ohne Nennung Lisa Tetzners: Hamm: Hasselbeck, 1948 (Die Falkenbuhne; 5), Hannover: Schaffende Jugend, 1956 (Schriftenreihe Laienspiel; 5). Tetzner, Lisa: Hans Urian. Die Geschichte einer Weltreise. Ill. Bruno Fuck [d. i. Boris Dimitrow Angeluschew]. Stuttgart: Gundert, 1931; Zürich: Büchergilde Gutenberg, 1944 und 21948); Berlin: Weiss, [1949]; Jena: Arbeitsgemeinschaft thüring. Verleger, [1949]; Wien: Wiener Volksbuchverlag, 1948; Mainz: Bücherring, [1948]; Reinbek: Rowohlt, 1975.
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Tetzner, Lisa: Hans gira il mondo. Übers. von Lucia Taparella. Mailand: Bompiani, 1932. Tetzner, Lisa: Hans Urian. De Geschiedenis van een Wereldreis. Übers. von Bep van Eck. Den Haag: Van Goor Zonen, 1933. Tetzner, Lisa: Masʿēj Hans ʾUrjān. Übers. von Ben-Chawwa, Isaak: Tel Aviv: Hōṣāʾat sefārim Miṣpāh, 1934. Tetzner, Lisa: Kom med ut i världen. Illustrationen av Bruno Fuk. Übers. von Dan Byström. Stockholm: Homström, 1934. Tetzner, Lisa: Hans sees the world. Übers. von Margaret Goldsmitz. New York: Covici-Friede, 1934. Tetzner, Lisa: Hans Urian: die Geschichte einer Weltreise. Hg. von Edward Buczowski. Lemberg [u. a.]: Ksiażnica Atlas, 1936. Tetzner, Lisa: Podróż Janka naokoło świata. Übers. von Lila Friedländerowa. Krakau: Księgarnia Powszechna, 1937. Tetzner, Lisa: Hans y su liebre encantada. Historia de un viaje alrededor del mundo. Übers. von José María Quiroga Plá. Valencia: Estrella, 1937. Tetzner, Lisa: Hans Urian putuje oko sveta. Übers. von Lj. Gosić. Belgrad: Nolit, 1938 Tetzner, Lisa: Hannun maailmanmatka. Übers. von Sivi Kortelainen. Helsinki: Kustannusosakeyhtiö Tammi, 1944. Tetzner, Lisa: Trillevip rejser med Jorden rundt. Übers. von Baeklund og Mogens Hjort. Kopenhagen: Fremad, 1948.
Prätexte Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. UA Leipzig 1912; Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel in vier Bildern. Leipzig: Wolff, 1912; Peterchens Mondfahrt. Mit Bildern von Hans Baluschek. Berlin: Klemm, [1915]. Beskow, Elsa: Hänschen im Blaubeerenwald. Mit Reimen von Karsten Brandt. [Stuttgart: Loewe, 1903] [schwed. EA: Puttes äventyr i blåbärsskogen 1901]. Caspari, Gertrud: Kinderfriese und Kinderbilder. Leipzig: Voigtländer, [1904]. Claudius, Matthias: Urians Reise um die Welt. Mit Anmerkungen. Erstdruck im Vossischen Musenalmanach (1786), 166. Claudius, Matthias: Urians Reise um die Welt. Mit Bildern von Irene von Richthofen-Winkel. Köln: Schaffstein, 1930. Ginzkey, Franz Karl: Hatschi Bratschis Luftballon. Ill.: Mor von Sunnegg. Berlin: Seemann, 1904. Kutzer, Ernst/Holst, Adolf: Der Osterhas auf Reisen. Stuttgart: Levy und Müller, 1917. Lagerlöf, Selma: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Übers. von Pauline Klaiber. Ill.: Wilhelm Schulz. München: Langen, 1920 [EA dieser Übers. 1907/1908; schwed. EA1906]. Lagerlöf, Selma: Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige. 2 Bde. Stockholm: Albert Bonniers, förlag 1906/1907. Negermärchen. Für die Jugend. bearb. und hg. von Lisa Tetzner. Mit Federzeichungen von Irene von Richthofen-Winkel. Köln: Schaffstein, [1931]. Rikli, Herbert: Hasen-Königs Weltreise. Fahrten und Abenteuer in Bildern und Versen Basel: Frobenius, 1918. Tetzner, Lisa: Die schönsten Märchen der Welt für 365 und einen Tag. Mit 14 farbigen Tafeln und 123 Textabbildungen von Maria Braun. Jena: Diederichs, 1926. Vaillant-Couturier, Paul: Hans-ohne-Brot (Dt. Ausg. von Anna Nussbaum). Berlin: Verl. d. Jugendinternationale, 1928. Vaillant-Couturier, Paul: Jean sans pain. Histoire pour tous les enfants. Ill.: Picart le Doux. Paris: Éd. Clarté, 1921.
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Fortschreibungen Evmari [d. i. Eva Maria Haasis]/Willroda, Georg: Ulle Bams wundersame Reise um die Erde. Mit Zeichnungen von Kurt Rübner. Dresden: Dresdener Verlagsgesellschaft, 1949 und 21950. Feld, Friedrich [d. i. Fritz Rosenfeld]: Der Flug ins Karfunkelland: Eine fast wahre Geschichte voll seltsamer Abenteuer. Wien: Jungbrunnen, 1948 und 21955. Feld, Friedrich [d. i. Fritz Rosenfeld]: Der Regenbogen fährt nach Masagara. Ein Kinderbuch. Prag: Staatliche Verlagsanstalt, 1938 (Deutsche Jugendbücherei; 14); Wien: Jungbrunnen, 1950 und 31961; Wien: Büchergilde Gutenberg, 1950; Neubearb. Ausg. Wien [u. a.]: Obelisk, 1971 (Stern-Taschenbücher; 18). Hans Urian holt Brot. Handpuppenflm (DDR 1961). Regie: Gerda Hammer-Wallburg. Nach einre Idee von Lisa Tezner [Kopie bei der DEFA-Stiftung] Kästner, Erich: Die Konferenz der Tiere. Nach einer Idee Jella Lepmans. Ill. von Walter Trier. Zürich: Europa, 1949. Rosenfeld, Fritz: Tirilin reist um die Welt. Leipzig [u. a.]: Prager, 1931; Wien: Jungbrunnen, 1951. Willroda, Georg: Ulle Bam auf neuer Fahrt. Bilder von Kurt Rübner. Berlin: Altberliner, 1953.
Filmografie Hans Urian holt Brot. Handpuppenfilm (DDR 1961). Regie: Gerda Hammer-Wallburg. Nach einer Idee von Lisa Tetzner [Kopie bei der DEFA-Stiftung].
Theatrografie Balázs, Béla: Hans Urian geht nach Brot. Eine Kindermärchenkomödie von heute. Mit Verwendung einiger Ideen von Lisa Tetzner. Freiburg: Max Reichhard [1929]; weitere Ausgaben ohne Nennung Lisa Tetzners: Hamm: Hasselbeck, 1948 (Die Falkenbühne; 5), Hannover: Schaffende Jugend, 1956 (Schriftenreihe Laienspiel; 5). Bassewitz, Gerdt von: Peterchens Mondfahrt. UA Leipzig 1912; Peterchens Mondfahrt. Ein Märchenspiel in vier Bildern. Leipzig: Wolf, 1912; Peterchens Mondfahrt. Mit Bildern von Hans Baluschek. Berlin: Klemm, [1915] Lustig, Ludwig [Ps.?]: Fritzchens Flug zum Glück. Nach einer Idee von Eugen Klöpfer. Musik von Eugen Klöpfer. UA Berlin: Dt. Volkstheater, 1929.
Sekundärliteratur vor 1945 Balász, Béla: Das Kindertheater. In: Arbeiterbühne 16 (1929a) 12, 1–2. Balász, Béla: Das neue Kindertheater. Gespräch mit Bela Balasz [sic!] und Fritz Gentschow [sic!]. In: Welt am Abend (1929b) 248 vom 23.10. Bez-Mennicke, Trude: Proletarisches Kindertheater. In: Neue Blätter für den Sozialismus 1 (1930) 2, 88–90. e. b. [Ps.]: Hans Urian geht nach Brot. Lessing-Theater. In: Vorwärts 53 (1929) Spätausg. vom 14.11.
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G. Weinkauff
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Märchen im Film und Rundfunk
„Das war ein herrliches Märchen!“ Der fliegende Koffer von H. C. Andersen im Medienverbund Annika Behler
Abstract This article approaches the extensive media and art around the fairy tale The Flying Trunk (1839) by Hans Christian Andersen. Media adaptations of the fairy tale over the past centuries beginning with the original story by the danish author and the first illustration by Vilhelm Pedersen are examined. Between 1900 and 1945 two cinematic adaptations have to be considered: Lotte Reiniger’s silhouette movie Der fliegende Koffer (1921) and a puppet animation movie by the Hohnsteiner Puppenspiele from 1944. In addition modern cartoon versions are analyzed and intermedial individual references in television including their sometimes far-reaching consequences (in terms of merchandising products etc.) are highlighted. The first audio versions of Andersen’s fairy tale can be found on the radio of the Weimar Republic and during the Nazi dictatorship, but cannot be analyzed in detail due to the lack of archive recordings. The Flying Trunk still seems to be popular today as new media adaptations (like audiobooks etc.) are constantly being published. Among these media publications there is a large variance in terms of motive, topography, characters, target groups or even meanings of the fairy tale. The catchy image of the flying trunk seems to act as a common constant or essence of the different publications. Chronological changes of the material over time could not be found.
A. Behler (*) Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_12
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Einleitung Hans Christian Andersens Märchen Der fliegende Koffer (EA 1839), das als originärer Text den Ausgangspunkt für einen umfang- und facettenreichen Verbund darstellt, überfliegt mediale Grenzen in gleichem Maße wie Jahrhunderte. Bis heute scheint die Popularität von Andersens Märchen ungebrochen, der Strom an Publikationen – sei es im Rahmen von Sammelbänden oder als Einzelausgaben – reißt nicht ab. Das anhaltende, wenngleich regelmäßig um die (Vor-) Weihnachtszeit ansteigende Interesse an dem dänischen Verfasser wird auch beim Blick in die Google Trends der letzten fünfzehn Jahre deutlich, die außerdem zwei kurze Zeitspannen erkennen lassen, in denen Andersen im Internet besondere Aufmerksamkeit erhielt: Rund um seinen 200. Geburtstag im April 2005 sowie fünf Jahre später, als Google den Dichter mit fünf Däumelinchen-Doodles feierte (vgl. Doodle-Archiv, 2. April 2010). Ebenfalls anlässlich ihres Geburtstages mit einem Google Doodle honoriert wurde die Scherenschnittkünstlerin Lotte Reiniger (vgl. ebd., 2. Juni 2016). Das Gemeinsame dieser beiden Künstler erschöpft sich jedoch nicht in der virtuellen Würdigung ihres Lebenswerkes, sondern geht weit darüber hinaus. Neben der Faszination für Märchen teilten sie auch eine Begeisterung für das Anfertigen von Silhouetten (siehe z. B. Happ 2018; Buschhoff/Stein 2018). Ferner griff Lotte Reiniger in ihren Scherenschnittfilmen wiederholt auf Andersens Märchen als Vorlage zurück, so auch bei einem ihrer ersten eigenen Animationsfilme Der fliegende Koffer (1921). Bei der im Folgenden vorgenommenen Annäherung an den komplexen Medienverbund rund um das Andersen’sche Märchen Der fliegende Koffer soll auf die Untersuchung der filmischen Adaption Lotte Reinigers daher ein besonderer Fokus gelegt werden. Neben dem vornehmlich visuell wirkenden Stummfilm werden allerdings auch weitere filmische sowie ausschließlich auditiv wirkende Medienangebote – seit den 1920er-Jahren sind etliche Hörspiele und -bücher des Märchens erschienen – berücksichtigt. Darüber hinaus werden Adaptionen der bildenden Künste genauso wie die vielfältigen Merchandising-Produkte rund um den fliegenden Koffer in den Blick genommen.
Das (Original-)Märchen Der fliegende Koffer In seinem erstmals 1839 unter dem Titel Den flyvende kuffert veröffentlichten Märchen erzählt Hans Christian Andersen unter anderem vor orientalischer Kulisse eine Geschichte vom Scheitern des Menschen an der eigenen Eitelkeit. Dabei greift er diese Thematik nicht nur in der Rahmengeschichte auf, sondern lässt sie zugespitzt auch in eingebetteten Binnenerzählungen aufscheinen. Den Rahmen des Märchens bildet die Geschichte eines Kaufmannssohns, der, nachdem er sein Erbe verprasst und sein Ansehen verloren hat, mit einem fliegenden Koffer in das Land der Türken reist. Dort erfährt der Lebemann von einer hoch im Schloss abgeschirmten Prinzessin, der ein unheilbringender Geliebter prophezeit
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wurde. Mithilfe seines fliegenden Koffers gelangt er zur Königstochter, die ihn für den Türkengott hält, einer Heirat zustimmt und ihn zum Tee mit ihren Eltern einlädt. Als Brautgabe soll der Kaufmannssohn dem König und der Königin ein Märchen erzählen (vgl. Andersen 1847a, 141 ff.). Bei dieser eingebetteten Erzählung (intradiegetische Erzählung) handelt es sich um ein „Dingmärchen“ (Stiasny 1996, 66): Der Kaufmannssohn lässt in seinem in einer Küche situierten Märchen allerlei personifizierte Gegenstände und Geräte auftreten. Einige dieser Küchenutensilien, zum Beispiel die Schwefelhölzer oder der Eisentopf, erzählen wiederum eigene Geschichten aus ihrem Leben (metadiegetische Erzählung). In typisch humorvoll-bissiger Andersen-Manier (vgl. ebd., 67 ff.) werden in den Interaktionen der anthropomorphisierten Gegenstände menschliche Eigenschaften und Motive wie Eitelkeit und Eigennutz illuminiert: „Ja, [lasst] uns davon sprechen, wer der Vornehmste ist!“ sagten die Schwefelhölzer. „Nein, ich liebe es nicht, von mir selbst zu reden,“ wendete der Topf ein […]. Und der Topf fuhr zu erzählen fort, und das Ende war [ebenso] gut als der Anfang. Alle Teller klapperten vor Freude, und der Kehrbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, denn er [wusste], [dass] es die Andern ärgern würde. „Bekränze ich ihn heute,“ dachte er, „so bekränzt er mich morgen.“ (Andersen 1847a, 145 f.)
Dass sich hinter all der Arroganz und „Vornehmtuerei“ nichts Substanzielles (erst recht keine Selbsterkenntnis) finden lässt, verdeutlicht Andersen eindrucksvoll am Schluss seines eingebetteten Dingmärchens: „Ja, [lasst] uns [Spektakel] machen!“ sagten [alle]. Da ging die [Tür] auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie stille. Keiner muckte; aber da war nicht ein einziger Topf, der nicht [gewusst] hätte, was er zu [tun] vermöge und wie vornehm er sei; „ja, wenn ich gewollt hätte,“ dachte jeder, „so hätte es ein recht lustiger Abend werden sollen!“ Das Dienstmädchen nahm die Schwefelhölzer, machte Feuer damit – Gott bewahr’ uns, wie sie sprühten und in Flammen [gerieten]! „Nun kann doch [jeder],“ dachten sie, „sehen, [dass] wir die Ersten sind! [Welchen] Glanz haben wir! [Welches] Licht!“ – und damit waren sie verbrannt. (Ebd., 147 f.)
Ein ähnlich „feurig“-unglückliches Ende ereilt auch den Kaufmannssohn in der Rahmengeschichte, der durch sein Märchen zwar die Gunst der Königseltern erlangt, im Vorfeld der Hochzeit allerdings den fliegenden Koffer mit Feuerwerk belädt, das er über der Stadt abschießt. Während er sich unter die Leute mischt, um deren schmeichelhafte Reaktionen anzuhören, verbrennt der Koffer im Wald: „Ein Funken des Feuerwerks war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen, und der Koffer lag in Asche. Er konnte nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.“ (Ebd., 149) Der hier in Kürze umrissene, verschachtelte Märchentext hält für den aufmerksamen Leser zahlreiche interessante, sprachliche Details bereit – auch zeigen sich Parallelen zu weiteren Märchen Andersens: Bekannte Gegenstände bzw. Protagonisten (z. B. Feuerzeug, Schwefelhölzer oder Nachtigall) sowie typische Motive wie sozialer Auf-/Abstieg, unerfüllte Liebe oder des Menschen Mangel an Bescheidenheit treten auch im fliegenden Koffer in Erscheinung. Aus medientheoretischer Sicht scheint insbesondere die Erzählstruktur (Märchen im Märchen)
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sowie Andersens spezifischer Erzählstil interessant. Heinrich Detering beschreibt dessen Märchen als „Volksmärchen zweiter Potenz“ und konstatiert: „Vor allem ihre fingierte Mündlichkeit schafft innerhalb einer hochentwickelten und hier hoch reflektierten Schriftkultur […] die vergnügliche Illusion mündlicher Unmittelbarkeit“ (Detering 2004, 7:45 ff.). Auch im fliegenden Koffer lässt sich diese Erzählpraxis wiederholt beobachten, beispielsweise durch Einschübe wie „Gott bewahre uns!“ (Andersen 1847a, 142) oder Hinweise für den Leser: „‘Wollen Sie uns nun ein Märchen erzählen,‘ sagte die Königin […] ‚Ja wohl!‘ erwiderte er und erzählte; da mu[ss] man nun gut aufpassen“ (ebd., 144). Nach Detering entsteht auf diese Weise der Eindruck einer „mündliche[n] Erzählung ohne den Umweg über die Schrift im Medium der Schrift“ (Detering 2004, 8:35 ff.). Werner Wolfs Terminologie der Intermedialitätsformen folgend ließen sich diese Eindrücke bereits als intermediale Phänomene auf Werkebene identifizieren – Stichwort „intracompositional phenomenon“ (Wolf 1999, 36). Im Hinblick auf die Dimension der Qualität von Intermedialität könnte in diesem Fall eine verdeckte Form (Imitation) konstatiert werden (vgl. ebd., 39 ff.). Möglicherweise ließen sich für das Märchen auch intertextuelle bzw. intermediale Bezüge zu mündlich überlieferten oder schriftlichen Vorlagen finden. So nennt beispielsweise Wegehaupt (1990, 12) die Märchen aus Tausendundeiner Nacht als Vorlage für das Märchen Der fliegende Koffer. Ein Verarbeiten älterer Sagen und Märchen wäre für Hans Christian Andersen nicht ungewöhnlich gewesen (vgl. Stiasny 1996, 56). Im Vorwort zu einer Sammelausgabe seiner Märchen aus dem Jahr 1847 weist Andersen allerdings darauf hin, dass Der fliegende Koffer zu den Märchen gehört, die „[g]anz [s]eine eigene Erfindung sind […]“ (Andersen 1847b, VI).
Zur Verbreitung und Verarbeitung des Märchens im Medium Buch In bibliografischen Zusammenstellungen wie beispielsweise in der der Internationalen Jugendbibliothek aus dem Jahr 1994 (dort wird lediglich eine jugoslawische Ausgabe des Märchens von 1983 aufgeführt) wird nicht deutlich, wie häufig Der fliegende Koffer im Laufe der Zeit tatsächlich auch als Einzelausgabe (zumeist als Bilderbuch) erschienen ist. Neben internationalen Einzelausgaben, z. B. aus Japan (1959), der Tschechoslowakei (1962/1974) oder Peru (2008), lassen sich etliche gesonderte Veröffentlichungen des Märchens auf dem deutschsprachigen Buchmarkt nachweisen.1 Darüber hinaus ist Der fliegende Koffer bis heute in unzähligen Sammelbänden, seien es allgemeine Märchensammlungen oder Sammelbände speziell mit Andersen’schen Märchen, abgedruckt worden.
1Hannover: Molling, [um 1910]; Wien [u. a.]: Sesam, 1922; Winterberg: Steinbrener, 1941; Berlin: Kinderbuchverlag, 1955; Hamburg: Carlsen, [1960]; Fürth: Pestalozzi, [1968]; Waldkirchen: Dessart, 1989; Münster: Coppenrath, 2003 – um nur ein paar Beispiele zu nennen.
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Dabei dient das Märchen zuweilen sogar als Titel- und Coverinspiration (Der fliegende Koffer. Das Buch der Märchen, 2001). Betrachtet man stichprobenartig abgedruckte Textvarianten des Märchens (aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert), so fallen lediglich geringfügige Unterschiede, zum Teil auch Kürzungen auf. Als Beispiel wäre die Figur des Topfes (1847er-Fassung) zu nennen, der – wahrscheinlich um den Unterschied zum eisernen Topf zu verstärken – in anderen Fassungen unter anderem auch als Tontopf (1933), Tonkrug (1990) oder Milchtöpfchen (2000) bezeichnet wird. Ein Teil der sprachlichen Varianz der Texte liegt vermutlich in unterschiedlichen Übersetzungen des dänischen Originals begründet. So hält beispielsweise Stiasny bezüglich Andersens Märchen grundsätzlich fest: „Viele Wendungen sind unübersetzbar, viele Scherze und Sprachspiele gehen verloren, manches gerät ins Sentimentale […]; zahlreiche mittelmäßige Illustrationen schaffen außerdem einen falschen Grundakkord“ (Stiasny 1996, 7). Im Hinblick auf die Bebilderung des fliegenden Koffers zeigen sich verschiedene Nuancierungen: Im Gegensatz zu den Textfassungen, in denen vom Kaufmannssohn die Rede ist, dessen Alter – abgesehen davon, dass er heiratsfähig ist – nicht näher thematisiert wird, offeriert ein Blick in zugehörige Illustrationen und Covergestaltungen zum Märchen eine interessante Bandbreite an Altersstufen des abgebildeten Protagonisten. So existieren sowohl Darstellungen des Kaufmannssohns, die eher kindlich anmuten (z. B. Andersen/Pohl 1964), als auch Illustrationen, auf denen selbiger mit Bart (z. B. Andersen/Kubašta 1962) oder faltiger Haut (z. B. Andersen/Hložník 1956) in Szene gesetzt wurde. Auch in Bezug auf die Haarfarbe, Gesichtszüge, Mimik und Ausstattung der Figur zeigen sich zum Teil große Unterschiede. Die verschiedenen Abbildungen des Kaufmannssohns spiegeln auch unterschiedliche Zielgruppen der Märchenausgaben wider. Das Thema der Kindgemäßheit im Kontext Andersen’scher Märchen ist von Komplexität geprägt und wurde von der KJL-Kritik kontrovers diskutiert. Ewers formuliert mit Blick auf die Andersen-Kritik des letzten Jahrhunderts: „Mag ihr Autor auch noch so sehr als kinderliterarische Galionsfigur gelten, die Eignung von Andersens Märchen als Kinderlektüre ist auch und gerade in kinderliterarischen Fachkreisen alles andere als unumstritten“ (Ewers 2006, 47). Andersen selbst hatte seine Märchen – ungeachtet der Tatsache, dass sie zu Beginn mit dem Zusatz „fortalte for Børn“ (dt.: „erzählt für Kinder“) publiziert wurden – auch für gemischte Altersklassen verfasst. So schrieb er in einem Brief: „Ich erzähle den Kindern, während ich daran denke, dass Vater und Mutter oft zuhören, und ihnen mu[ss] man etwas für den Verstand geben.“ (Detering 2004, Folie 7). Für die Aufgabe, seine gesammelten Märchen zu illustrieren (sowohl für den deutschen als auch dänischen Markt), wählte Hans Christian Andersen 1847 in Absprache mit seinem Verleger Karl Berend Lorck den dänischen Künstler Vilhelm Pedersen aus (vgl. Wegehaupt 1990, 20 ff.). Diese frühe Illustration von Pedersen lenkt den Fokus – passend zu Andersens gewähltem Titel – auf eine bestimmte Szene aus der Rahmenhandlung des Märchens (Abb. 1): der Kaufmannssohn sitzt im fliegenden Koffer und schwebt über eine orientalisch anmutende Landschaft mit Palmen und Bauwerken mit Kuppeln und Türmen.
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Abb. 1 Illustration des Märchens Der fliegende Koffer von Vilhelm Pedersen, https://upload. wikimedia.org/wikipedia/en/9/9b/Flying_Trunk_01.jpg (25.03.2020)
Für das Medium Buch lässt sich abschließend mit Blick auf die jüngeren Veröffentlichungen festhalten, dass neben der üblichen werkinternen Kombination aus Text und Bild in illustrierten Ausgaben zunehmend auch externe Formen von Medienkombinationen publiziert und vermarktet werden, zum Beispiel, indem passend zum Buch auch eine Hörbuchfassung herausgebracht (Der fliegende Koffer. Das Buch der Märchen, 2001 und Der fliegende Koffer. Das HörBuch der Märchen, 2003) oder direkt in Kombination verkauft wird (z. B. Der fliegende Koffer, 2004a als Buch mit Hörbuch und Märchenquiz auf CD). Bevor der Bereich der Hörmedien näher fokussiert wird, sollen aber zunächst filmische Versionen des Märchens in den Blick genommen werden.
Von Animationsfilmen und Serienauftritten – Der fliegende Koffer auf Leinwand und Bildschirm Mit Lotte Reinigers Silhouetten-Animationsfilm (1921) scheint Der fliegende Koffer das erste Mal im deutschsprachigen Medium Film aufzutauchen. Dem Stummfilm folgt im Jahr 1944 eine Adaption des Märchens als Kasperle-Film der Hohnsteiner Puppenspiele. Des Weiteren lassen sich unter anderem ein japanischer Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1971 (dt. Erstausstrahlung 1989), ein DEFA-Animationsfilm aus der DDR mit dem Titel Der Koffer (1981/1982) sowie neuere (englischsprachige) Zeichentrickfilme (2003 und 2018) nennen. Bei den genannten Filmen hat nach der Terminologie von Rajewsky ein Medienwechsel stattgefunden: eine „Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produkt-Substrats“ – in diesem Fall die literarische Vorlage – „in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium“, also den Film (Rajewsky 2002, 19). Darüber hinaus finden sich intermediale Einzelreferenzen (vgl. ebd., 73) zu dem Märchen im deutschen Fernsehen, zum Beispiel im DDR-Sandmännchen oder auch in der Serie Siebenstein (2012).
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Lotte Reinigers „Der fliegende Koffer“ (1921) Der Silhouetten-Film Der fliegende Koffer wird im Begleitheft der DVD-Ausgabe (Absolut Medien, 2006) als „Lotte Reinigers frühester erhaltener Märchenfilm nach Motiven eines Märchens von Hans Christian Andersen“ beschrieben. Zum Zeitpunkt der Uraufführung, die am 14. September 1921 im Berliner Terra-Theater Motivhaus stattfand (vgl. ebd.), war dessen Schöpferin gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt. In den nachfolgenden Jahrzehnten kreierte Lotte Reiniger, deren lebenslange „Arbeitsschwerpunkte: Scherenschnitt, Schattentheater und Silhouettenfilm“ (Kimmich 2011, 4) umfassten, noch eine weitere filmische Version bzw. Illustrationen zu Andersen’schen Märchen wie Däumelinchen (Film: 1953/1954) oder Die kleine Seejungfrau (Buch 1980) – „Lotte Reiniger liebte zeitlebens die Märchen von Andersen“ (Begleitheft zur DVD 2006). Wenn Stiglegger konstatiert, dass „gerade die mündliche Form [Märchen] besonders geeignet für die Adaption in einem anderen Medium wie dem Film [macht]“ (Stiglegger 2017, 3), dann unterstreicht dieser Hinweis gleichzeitig auch die Herausforderung, die mit einem Medienwechsel vom Textmärchen hin zu einem rein visuell wirkenden Stummfilm einhergeht. So lassen sich vor dem Hintergrund der literarischen Vorlage von Andersen einige Besonderheiten in Reinigers Der fliegende Koffer feststellen: Die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten in Lotte Reinigers Silhouetten-Stummfilm können die „Mündlichkeit“-suggerierende Erzählweise des Originalmärchens nicht aufgreifen, die in ihrem Umfang begrenzten Zwischentitel können lediglich mit kurzen Beschreibungen und Sätzen ausgestattet werden, um den Filmfluss aufrechtzuerhalten. Dementsprechend scheint es auch nicht verwunderlich, dass in dem Kurzfilm beispielsweise auf die eingebetteten Märchenerzählungen verzichtet und somit auch mit dem im Original äußerst präsenten Thema des (Märchen)-Erzählens an sich gebrochen wird. Im Gesamteindruck und speziell in Bezug auf den Inhalt der Geschichte weicht Reinigers Version des Märchens in weiten Teil von der literarischen Vorlage ab: Inhaltlich handelt der Film von der Kaisertochter Hsien-Yuyü, der – wie bei Andersen – eine leidvolle Liebe prophezeit wird. Ihr Vater „verbietet daher ihren Freiern, dem gro[ß]en General Hu und dem erhabenen Weisen Wei sich ihr zu nähern!“ (Zwischentitel, 01:12 ff.). Vorsorglich schließt er seine Tochter in einer hohen Pagode ein. Die beiden Freier scheitern bei dem Versuch, mithilfe eines Katapults und einer Zauberbohne hinauf zu gelangen (02:55 ff.) – an dieser Stelle wird ein intermedialer Bezug zur Bohnenranke aus Jack and the Beanstalk deutlich. Außerdem gibt es (als Variante des Kaufmannssohns) noch den armen Yen, der die Prinzessin sieht, sich verliebt und aus Liebeskummer in die Fluten stürzt. Am Grunde des Meeres rettet er eine Seekreatur (möglicherweise stellt die Figur eine Anspielung auf Andersens Meerhexe aus der kleinen Seejungfrau dar) und bekommt zum Dank einen fliegenden Koffer geschenkt, mit dem er zur Prinzessin gelangt, der er sich als „Gott der Schmetterlinge“ vorstellt (05:22). „Die Blumen erzählen den Schmetterlingen von dem Betrug“ (06:43 ff.) – diese Szene mit kleinen Menschen, die in den Blüten sitzen, erinnert wiederum an
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das Märchen Däumelinchen – und am Ende nimmt eine große Schar Schmetterlinge Yen den Koffer fort, der sich daraufhin ersticht (07:55 ff.). Nicht nur die hinzugefügten Eigennamen und die Ausstattung der Figuren, sondern auch das Setting des Reiniger-Films mutet asiatisch an. Topografisch ergeben sich im Vergleich zu Andersens Originalmärchen demnach ebenfalls Unterschiede, die letztlich bewirken, dass das Märchen in einer Filmkritik folgendermaßen bewertet wird: „Etwas zu viel Titel unterbrechen die Leichtigkeit dieses chinesischen Märchens“ (Film-Kurier vom 15.09.1921, 2). Insgesamt entsteht im Medium des Silhouetten-Stummfilms ein ganz eigenes Kunstwerk mit lediglich einer Erzählebene, die in Grundzügen an die Rahmenhandlung des fliegenden Koffers erinnert, aber auch mit weiteren intermedialen Märchen-Bezügen arbeitet. Eine interessante Parallele offenbart sich bei der medialen Realisierung von Emotionen in Reinigers Silhouetten-Film: Der Liebesschmerz der Figur wird durch einen Herzausschnitt im Brustbereich verdeutlicht, der in Flammen aufgeht (08:08 ff.) – das in der Brust platzierte Herz verwendete auch Hans Christian Andersen wiederholt in seinen eigenen Scherenschnitten (z. B. Bogmærke, Christines Billedbog, opslag 55 oder Møllemand, siehe Mylius/Andersen 2019).
„Der fliegende Koffer“ (1944) – Hohnsteiner Puppenspiele Bei dem 1944 erschienenen, 27-minütigen Puppenspiel-Film Der fliegende Koffer (Regie von Curt A. Engel) handelt es sich um einen der „[f]ür das Vorprogramm im NS-Kino […] gedreht[en] […] Kasperfilme der Hohnsteiner Puppenspieler“ (Schlesinger 2017, 162). Bei diesen Märchenadaptionen wurden einzelne Motive und Figuren aus literarischen Vorlagen rund um den Kasper und – im Falle des fliegenden Koffers – auch Seppel arrangiert (vgl. ebd.). Bekannte Komponenten aus dem Andersen’schen Original sind lediglich der fliegende Koffer als magischer Gegenstand sowie die Reise – in diesem Fall von Kasper und Seppel – in ein fremdes Land. Im Hinblick auf eine nationalsozialistische Propaganda in dem Film sollen an dieser Stelle einige Aspekte thematisiert werden: So fällt beispielsweise der Kontrast zwischen den genügsamen und heimatverbundenden Kasperund Seppel-Figuren einerseits und dem reichen, arbeitsscheuen und brutalen Sultan sowie dem geldgierigen, schmarotzenden Räuberhauptmann andererseits auf. Die Charaktergestaltung im Film passt somit zu den von Schlesinger beschriebenen Elementen der nationalsozialistischen Weltanschauung, die häufig in Märchenfilmen des Dritten Reichs aufscheinen (vgl. ebd., 164 ff.). Der deutschen Heimat wird topografisch eine orientalisch-afrikanische Fremde gegenübergestellt. Der fremden Kultur begegnen Kasper und Seppel dabei respektlos – sie machen sich mit Worten und Taten über selbige lustig. Dies reicht von einer harmlos-scherzhaften Erwiderung bei der Begrüßung („Salam aleikum“ – „Gummi arabicum“, 12:29) und sprachspielerischen Unhöflichkeiten „Erhabene Sultanine […]“ (13:24) bis hin zu kaum verhohlenen Beleidigungen („Kaffer“,
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12:46). Die Darbietung der fremden Kultur macht einen solch überlegenen Blickwinkel für den Zuschauer auch plausibel, so handelt es sich zum Beispiel bei den dunkelhäutigen Sklaven – besonders zugespitzt in der Figur eines Sklaven namens Aladdin – um unterwürfig bis dümmlich dargestellte Figuren. Außerdem werden Stereotype wie die Vielehe (der Sultan spricht von seiner „Lieblingsfrau“) herangezogen. Physiognomische Stereotype (vgl. Schlesinger 2017, 171) sind im Film hingegen schwer auszumachen, da es sich bei der gebogenen, langen Nase beispielsweise auch um ein typisches Charakteristikum der Kasperfigur handelt. In einer Zensurentscheidung vom 14. August 1944 wurde der Film Der fliegende Koffer mit dem Prädikat volksbildend ausgezeichnet. Die genauen Gründe dafür sind unklar, Schlesinger hält in Bezug auf die damalige Märchenfilmproduktion fest: Ob die künstlerische und/oder ideologische Umsetzung der Märchenvorlagen die Entscheidung der Filmprüfstelle beeinflusst oder ob die staatliche Behörde vor allem diese Filmproduktion mit ihren Prädikaten (finanziell) fördern will, bleibt […] offen. (Ebd., 172)
Bedenklich scheint im Hinblick auf die vorab angerissene Darstellungsweise und die im Film verwendete Sprache (es fallen Begriffe wie „Mohrenland“ oder „Bimbo“), dass selbiger heutzutage ohne einen Hinweis auf Entstehungszeit und -kontext auf YouTube rezipiert werden kann.
Neuere Zeichentrickfassungen – „The Flying Trunk (Story)“ (2003 und 2018) Im Folgenden sollen in Kürze noch Besonderheiten der Verfilmungen des Märchens, die nach der Jahrtausendwende erschienen sind, betrachtet werden. Zum einen wäre The Flying Trunk (2003) zu nennen, ein Zeichentrickfilm, der als Teil einer Reihe von in dänisch-britisch-deutscher Zusammenarbeit produzierten Märchenverfilmungen Andersens erschienen ist (dt. Erstausstrahlung am 28.12.2003 auf Super RTL). Zu Beginn des Films tritt eine optisch an Hans Christian Andersen erinnernde Erzählerfigur in Erscheinung – Der fliegende Koffer erhält auf diese Weise noch einen zusätzlichen Rahmen, der Verfasser selbst und sein Erzählen des Märchens werden Teil der Geschichte. Die Zuhörenden im Film sind Kinder und selbige stellen vermutlich auch in der Realität die Zielgruppe dieser Märchenverfilmung dar. Die Fassung orientiert sich deutlich an der Textvorlage des Märchens (beispielsweise wird die eingebettete Märchenerzählung mit den Küchenutensilien – allerdings in gekürzter Form – einbezogen), wenngleich sich auch hier bemerkenswerte Abweichungen und Ausschmückungen zeigen. So wird aus dem Vater des Kaufmannssohns im Film zum Beispiel eine geizige, an Dickens’ Ebenezer Scrooge erinnernde Figur (01:20 ff.). Der Kaufmannssohn selbst trägt in dieser Verfilmung einen Eigennamen, Sven, und gewinnt unter anderem auch dadurch für die Rezipienten im Vergleich zur Figur aus dem Märchentext an Zugänglichkeit, Persönlichkeit und Tiefgang. So steht am Ende
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des Märchens auch eine Selbsterkenntnis des Kaufmannssohns im Raum: „I never loved money and princesses. I just loved the stories“ (24:00 ff.). Aus intermedialer Perspektive ist eine Szene auf dem Markt besonders interessant: Ein Händler verkauft dort kleine Statuen (vermutlich sollen Tonfiguren o. Ä. dargestellt werden) des Kaufmannssohns auf seinem Koffer – im Rahmen der Filmgeschichte wird demnach der fliegende Koffer bereits als Motiv abstrahiert und als eine Art Merchandising-Produkt angeboten (15:53). Unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zeigt sich in diesem Märchenfilm eine weitere Novität: Die Prinzessin tritt nicht als naive Figur auf, die einfach von einem Fremden wachgeküsst und getäuscht wird, sondern sie zeigt sich dem Kaufmannssohn gegenüber unbeeindruckt und skeptisch. Ihre Analyse des erzählten Dingmärchens lautet schließlich wie folgt: „She [the princess] finally understood the story of the matches in the kitchen, for just like the matches, who tried so hard to impress everybody, the angel had burned out“ (24:45 ff.; Anmerkung: Der Kaufmannssohn gibt sich in dieser Version als Engel aus). In der Moral des Märchens klingt bereits eine sprachliche Anspielung auf das Krankheitsbild Burn-out an, die in dem englischsprachigen Film The Flying Trunk Story, der 2018 auf dem YouTube-Channel My Pingu Tv veröffentlicht wurde, noch expliziter auftaucht: „So, the moral is … Never burn yourself out to impress those around you. Be yourself!“ (12:21 ff.). Der Film aus dem Jahr 2018 scheint sich grundlegend an der 2003er-Filmversion zu orientieren (z. B. hinsichtlich der Prinzessinnen-Figur, der Benennung des Kaufmannssohns oder der Moral). Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Adressierung des Märchenfilms an eine junge Zielgruppe, die bereits im Titel mit „Stories for Kids“ markiert wird. Dass es sich tatsächlich jedoch eher um ein gemischtes Publikum handeln dürfte, verdeutlichen die Nutzerkommentare unter dem Video. Für die beiden vergleichsweise jungen Zeichentrick-Versionen des fliegenden Koffers lässt sich – im Gegensatz zu ihren historischen Vorgängern, die eher vereinzelte Motive des Märchens adaptierten – eine intensivere Nähe zur ursprünglichen Textfassung des Märchens feststellen. Insbesondere die mündliche Erzählweise des Originals kommt in den hier beleuchteten Filmen stärker zum Ausdruck. Die 2003er-Version vermittelt darüber hinaus eine neue Lesart des Märchens, indem sie das Thema Freundschaft/gesellschaftliches Ansehen und die Leidenschaft des Kaufmannssohns für das Geschichtenerzählen (seine Berufung) fokussiert. Diese Schwerpunktsetzung wird in dem YouTube-Märchenfilm von 2018 wiederum übernommen.
„Der fliegende Koffer“ und seine Fernsehauftritte – „Sandmännchen“ und „Siebenstein“ An dieser Stelle soll noch kurz auf exemplarische Erscheinungsformen des fliegenden Koffers im deutschen Fernsehen aufmerksam gemacht werden. So wird selbiger beispielsweise im DDR-Fernsehen in der populären Sendung Unser Sandmännchen aufgegriffen. In der besagten Folge reist das Sandmännchen in einem
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fliegenden Koffer zu einem orientalischen Schloss. Dabei lässt sich der Koffer ähnlich wie in der originären Textversion des Märchens – „[s]obald man an das Schlo[ss] drückte, konnte der Koffer fliegen“ (Andersen 1847, 142) – bedienen. In anderen filmischen Adaptionen funktioniert der Flug-Mechanismus über einen Schlüssel (z. B. 2003) oder einen Zauberspruch (1944), der Koffer erhält einmal sogar Flügel (2018). Das Bild des im Koffer sitzenden Sandmännchens erinnert hingegen an das ursprüngliche Märchen und die Originalillustration von Pedersen. Im Schloss erwartet den Sandmann bereits eine Prinzessin, der er die für die Sendung übliche, eingebettete Gute-Nacht-Geschichte vorführt, bevor er mit dem Koffer wieder davonfliegt. Dass dieser kurze Auftritt des Sandmännchens im fliegenden Koffer für den Medienverbund rund um die DDR-Sendung weitreichende Folgen nach sich zieht, wird im Kapitel über die MerchandisingProdukte noch genauer beleuchtet. Im Rahmen der ZDF-Serie Siebenstein wurde 2012 eine Folge mit dem Titel Der fliegende Koffer ausgestrahlt, in der die Serienfiguren ein ominöses Paket, das einen alten orientalischen Teppich enthält, öffnen. Der sprechende Koffer (bei dieser Figur handelt es sich um einen festen Serienbestandteil) glaubt, in dem geknüpften Muster etwas zu erkennen: „Vielleicht ist es ja eine [Märchen]Figur aus Tausendundeiner Nacht“ (06:08). Der Teppich entpuppt sich dementsprechend auch als fliegender Teppich, der mitsamt dem Koffer, der auf ihm liegt, losfliegt. Die Anspielung auf das Märchen von Andersen wird durch die Titelwahl unterstützt, der intermediale Bezug entfaltet sich vornehmlich über das in der Kombination mit dem Zauber-Teppich entstehende Bild des fliegenden Koffers. Anhand der hier beschriebenen Auftritte im Sandmännchen und in Siebenstein können die Möglichkeiten der Bezugnahme nur beispielhaft beleuchtet werden – wie häufig es zu weiteren, gegebenenfalls ähnlichen Erscheinungen des fliegenden Koffers im deutschen Fernsehprogramm kam, bleibt fraglich.
Der fliegende Koffer als Hörbuch/-spiel: Vom Rundfunk der Weimarer Republik bis zur MP3-Datei Als ältester Eintrag zum Märchen Der fliegende Koffer im Hörfunkbereich findet sich in der Datenbank zum DFG-Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945 (http://medienverbundportal.kjl.uni-bielefeld.de) eine Sendung vom 24. September 1924, in der die Funkprinzessin Märchen von Andersen erzählt (s. Audiografie). Im Rundfunk der Weimarer Republik finden sich weitere Sendungen des fliegenden Koffers für Kinder und Jugendliche (1924, 1926, 1927, 1928, 1929), teils werden sie wiederholt ausgestrahlt, zum Beispiel im Falle des Märchenhörspiels von Hans Peter Schmiedel (1930, 1931). Auch im Rundfunk des NS-Staates lassen sich Adaptionen des Märchens in den Jahren 1934, 1936 und 1937 nachweisen. Von diesen frühen Sendungen ist nach Auskunft des Deutschen Rundfunkarchivs leider keine Ton-Aufnahme archiviert worden. Unter anderem zu dem Hörspiel von Hans Peter Schmiedel
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finden sich allerdings Beiträge in an die Jugend adressierten Teilen der MiragProgrammzeitschrift (Jugend-Funk 1930 und Jugendfunk 1931), an denen sich ablesen lässt, dass Schmiedel neue Handlungsstränge und Figuren (mit Eigennamen) eingebaut und die Geschichte mit einem neuartigen Happy End – „der junge Klaus verliert zwar seinen ganzen Besitz, aber zum Schlu[ss] hat er nicht nur wieder viel Geld, sondern auch noch eine hübsche Frau“ (JugendFunk 1930, 21) – versehen hat. Auch scheint das Thema der falschen Freunde, die es schon in Andersens Originalmärchen gab, ausgeschmückt zu werden (vgl. ebd. sowie Jugendfunk 1931, 70). Ein Artikel in Die junge Front – Die Zeitung der Mirag-Jugend von 1934 kündigt hingegen eine Sendung an, die sich – soweit es die paar Sätze zum Inhalt preisgeben – stärker am Andersen’schen Märchentext orientiert. Der Verfasser des Artikels schreibt: Und damit habe ich euch nun auch gleich die Moral dieses Märchens vom „Fliegenden Koffer“ verraten: denn den „fliegenden Koffer“ besitzen auch wir, wenn wir nur wollen: Es ist unsere [F]antasie, die uns über Hügel und Täler [hinweg führen] kann, über Ströme und Meere bis in die fernsten Länder; allerdings müssen wir achtgeben, da[ss] das Feuerwerk unserer romantischen Vorstellungen und Gefühle uns nicht eines Tages den ganzen Koffer in Brand setzt und zum Schlu[ss] nur ein Häufchen Asche, gleich einem trüben Lebensrest, [übriglässt]. (Die junge Front 1934, 11)
Diese Deutung des Hörspiels, die der Text den jungen Rezipient/innen nahelegt, scheint bereits eine Mahnung zu enthalten, die mit nationalsozialistischer Ideologie konform geht – ein Übermaß an Fantasie und Gefühlen könnte erstrebenswerte NS-Tugenden wie Disziplin, Gehorsam oder Pflichterfüllung (vgl. Hobsch 2009, 39 ff.) untergraben. Den drei erwähnten Zeitschriftenartikeln zu den Hörfunksendungen sind auch Illustrationen beigefügt – jedes Mal ist die typische Szene des Protagonisten im fliegenden Koffer abgebildet. Selbige befindet sich auch auf nahezu jedem Cover der in den nachfolgenden Jahrzehnten produzierten Hörmedien zum Märchen. Insgesamt lässt sich für den Hörfunkbereich eine Vielzahl an Schallplatten, Kassetten und CDs mit der Geschichte des fliegenden Koffers nachweisen. Mal handelt es sich um Einzelausgaben, mal sind die Hörspiele und -bücher Teil umfangreicherer Alben – gemeinsam mit Märchen anderer Verfasser oder speziell als Zusammenstellung von Andersen’schen Märchen. Beliebt scheint auch das Herausgeben der Geschichte in Kombination mit anderen Hör-Märchen, die ebenfalls in einem orientalischen Setting spielen: z. B. die Kombination aus Der fliegende Koffer und Der kleine Muck (2005; 2010). Bis heute werden immer wieder neue Hörbücher und -spiele produziert, zum Teil werden auch alte Fassungen neu herausgebracht und als CDs oder online als MP3-Versionen vertrieben, beispielsweise das Märchenhörspiel Tobias mit dem fliegenden Koffer (1957/2013/2017) oder Der fliegende Koffer (gespielt und erzählt von Tante Ursula und Onkel Fritz mit ihren lustigen Zwergen; 1964/2008). Die große Anzahl an Adaptionen des Märchens in Hörmedien könnte u. a. auch in der mündlichen Erzählweise des Originals begründet sein, die Thematik des Geschichtenerzählens, die eingebetteten Märchen und die umfangreichen Dialoge scheinen zum Vertonen geradezu einzuladen.
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Koffer, Kunst und Konsum – die bunte Palette der Merchandising-Produkte Zu dem Märchen Der fliegende Koffer sind neben Büchern, Filmen und Hörmedien auch eine beträchtliche Anzahl an Merchandising-Produkten und Ähnlichem erschienen: Die bunte Palette reicht von einem Annaberger Puzzle aus der DDR (es zeigt den fliegenden Koffer über orientalischer Kulisse, im Hintergrund leuchtet Feuerwerk) über diverse Sammlerfiguren und -bilder bis zu kunstvollem Küchengeschirr – silberne Eierbecher, Kinderbesteck, Zuckerdose oder auch (Wand-)Teller. Ist es im Originalmärchen noch die Geschichte von den Küchenutensilien, die in die Rahmenhandlung mit dem Koffer eingebettet ist, so wird selbiger nun in reale Gebrauchs- bzw. Ziergegenstände aus der Küche eingearbeitet – dabei werden zum Beispiel auch Teller mit der Originalillustration von Vilhelm Pedersen bestückt. Außerdem taucht der fliegende Koffer auf Postkarten (DDR 1985), als Zinnfigur, auf Briefmarken zu Hans Christian Andersen oder auch in einem Quartettspiel über dessen gesammelte Märchen (1987) auf. Darüber hinaus tritt das Märchen im öffentlichen und kulturellen Leben in Erscheinung: In Odense, dem Geburtsort Andersens, findet sich neben anderen seiner Märchenskulpturen auch eine Skulptur des Bildhauers Jens Flemming zu dem Märchen Der fliegende Koffer (enthüllt am 04.05.1991). Auf dem Sandskulpturenfestival in Søndervig gab es im 200. Geburtsjahr Andersens eine detailreiche Skulptur zu dem Märchen – diese bildete neben Koffer, Kaufmannssohn und Prinzessin auf der Rückseite auch personifizierte Gegenstände aus dem Dingmärchen (genauer Teekanne und Streichhölzer mit menschlichen Mündern) ab. Weniger vergänglich ist die Attraktion Den flyvende kuffert im Freizeitpark Tivoli, eine Themenfahrt, in der die Besucher/innen in aufgeklappten Koffern Platz nehmen und durch Hans Christian Andersens Märchenwelt geführt werden. Zum Abschluss soll noch einmal an den Fernsehauftritt des Sandmännchens im fliegenden Koffer erinnert werden, infolge dessen eine ganze Reihe an zugehörigen Merchandising-Artikeln produziert wurde: Neben verschiedenen Sammlerfiguren (unter anderem in der Reihe Unser Sandmännchen Traummobile) wurden auch unterschiedliche Postkarten mit der Szene des Sandmännchens im Koffer vertrieben. Auf dem Buchmarkt ging der Auftritt ebenfalls mit Effekten einher, so erschien vermutlich zum ersten Mal 1978 der Sammelband Gute-NachtGeschichten. Vom Sandmännchen erzählt für 365 Tage, der auch das Märchen Der fliegende Koffer enthielt (weitere Auflagen 1981, 1983 und 1986). Schließlich wurden zum 50. Geburtstag des Sandmännchens sogar Briefmarken mit dem Koffer-Motiv herausgebracht. Das Andersen’sche Märchen hat demnach offenbar auf nachhaltige Weise den Medienverbund des Sandmännchens beeinflusst.
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Fazit zum Medienverbund In Bezug auf die Aspekte Figuren, Topografie, Motive und Lesarten des Märchens zeigt sich im Jahrhunderte umfassenden Pool der Medienangebote eine große Varianz, die im Rahmen dieses Beitrags nur angeschnitten werden konnte (so wäre die Adaption der Geschichte im Theater beispielsweise noch als Forschungsdesiderat anzumerken). Für die untersuchten Medien lässt sich jedoch Folgendes festhalten: Das Bild des fliegenden Koffers als wundersamer Gegenstand tritt als Essenz stets in Erscheinung und prägt insbesondere auch die begleitenden (Cover-)Illustrationen. Der Medienverbund profitiert demnach nicht von der Verwertung und Vermarktung einzelner Charaktere (die Hauptfigur kann problemlos auch vom Sandmännchen übernommen werden), sondern scheint – auch wenn die Nähe zum Original je nach intermedialer Bezugnahme stark variiert – von der Einprägsamkeit des Wunder-Koffer-Bildes sowie von der anhaltenden Popularität seines ursprünglichen Verfassers und dessen Märchen als Gesamtkunstwerk angefacht zu werden. Eine chronologische (Weiter-)Entwicklung des Märchenstoffes lässt sich kaum ausmachen, wie im Abschnitt über die filmischen Adaptionen gezeigt wurde, sind es dort zum Beispiel gerade die jüngeren Produktionen, die sich dem Andersen’schen Original wieder vermehrt annähern. In Zeiten des Internets eröffnet sich online ohnehin ein unübersichtliches Nebeneinander von älteren und neueren Textfassungen, Hörbüchern/-spielen, Filmen etc. rund um das Märchen Der fliegende Koffer – ein Ende der (Medienverbund-) Geschichte scheint nicht in Sicht.2
Literatur Primärliteratur2 Andersen, Hans C.: Den flyvende kuffert. In: Ders.: Eventyr, fortalte for Børn. Ny Samling. Andet Hefte. Kopenhagen: Reitzel, 1839, [o. S.]. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. In: Gesammelte Märchen. Dritter Theil. Leipzig: Lorck, 1847a, 141–149 (H. C. Andersen’s Gesammelte Werke; 14) Digitalisat unter: http:// www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-4889612http:// www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/resolver?urn=urn:nbn:de:gbv:9-g-4889612 (08.09.2019). Andersen, Hans C./Pedersen, Vilhelm (Ill.): Gesammelte Märchen. Mit 112 Illustrationen nach Originalzeichnungen von V. Pedersen. In Holz geschn. von Ed. Kretzschmar. Leipzig: Lorck, 1849.
2Bei
den nachfolgenden Angaben handelt es sich nicht um ein vollständiges Verzeichnis der Medienangebote rund um das Märchen Der fliegende Koffer. Selbiges würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, da z. B. noch zahlreiche weitere Anthologien berücksichtigt werden müssten. Diese Einschränkung gilt insbesondere für den Bereich der Primärliteratur und der Audiografie.
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Andersen, Hans C.: Drei Märchen. 1. Das Feuerzeug. 2. Der fliegende Koffer. 3. Die roten Schuhe. Berlin: F. Schulze, 1905 (Schulbibliothek Stolze-Schrey; 4) [weitere Aufl.: [1924] und [1926]]. Andersen, Hans C./Anker, Hanns (Ill.): Der fliegende Koffer. Hannover: Molling, [um 1910]. Andersen, Hans C./May, Walo von (Ill.): Der Schatten. Der fliegende Koffer. Der Goldschatz. Tölpel-Hans. München: „Die Welt-Literatur“, 1916 (Die Welt-Literatur; 51). Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Wien [u. a.]: Sesam, 1922 (Bunte Sesam-Bücher; 48). Andersen, Hans C./Cramer, Rie (Ill.): Der fliegende Koffer und andere Märchen. Leipzig: Anton & Co., 1928 (Märchen/Andersen; 6). Andersen, Hans C./Nicolai, Walter (Ill.): Der fliegende Koffer. Der standhafte Zinnsoldat. Märchen für Schule und Haus. Breslau: Hirt, 1933 (Hirts deutsche Sammlung/Literarische Abteilung/Gruppe 3/Märchen; 32). Andersen, Hans C./Müller, F. (Ill.): Märchen von H. Chr. Andersen. [Inhalt: Die wilden Schwäne. Der fliegende Koffer. Die Geschichte von einer Mutter]. [Reutlingen]: Ensslin & Laiblin, 1939. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Winterberg: Steinbrener, 1941. Andersen, Hans C./Born, Gerda (Ill.): Der fliegende Koffer. Nach Hans Chr. Andersen. Wien: Waldheim-Eberle, 1950 (Die bunten Waldheim-Bücher/[Sechs Märchen nach Hans Christian Andersen/Born; 4]) [weitere Aufl.: 1953]. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Viby J.: Nordische Papierwaren-Industrie, 1951 (Andersen, Hans Christian: Märchen; 5) [9 Bd. in Pp. Kassette in Schrankform]. Andersen, Hans C./Haller, Ruprecht (Ill.): Der fliegende Koffer. In: Berliner Lesebogen. Nr. 8: Andersens Märchen. Berlin: Kinderbuchverlag, 1955, 3–9. Andersen, Hans C./Hložník, Vincent (Ill.): Andersen. Rozpravky. Bratislava: [Slovenské nakladatelstvo detskej knihy], 1956. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Übers. von S. Ohata. [Tokyo]: Daisan Shobo, 1959 (Märchen-Bücherei/Andersen; 5). [Andersen, Hans C.]: Der fliegende Koffer. Hamburg: Carlsen, [1960]. Andersen, Hans C./Kubašta, Voitěch (Ill.): Der fliegende Koffer. [Aufstellbilderbuch]. [Prag]: Artia, 1962 [weitere Aufl.: 1974]. Andersen, Hans C./Pohl, Norbert (Ill.): Der fliegende Koffer. Märchen. Berlin: Kinderbuchverlag, 1964 (Robinsons billige Bücher; 112) [weitere Aufl.: 1965 und 1971]. Andersen, Hans C./Ridolfi (Ill.): Der fliegende Koffer und andere Märchen. Bearb. von Liselotte Julius. Stuttgart [u. a.]: Delphin, 1967 (Goldene Happy-Bücher; 29) [weitere Aufl.: 1973]. Andersen, Hans C./Röschl, Kurt (Ill.): Der fliegende Koffer. Fürth: Pestalozzi, 1968 (PevauBüchlein; 37) [weitere Ausg.: [1969]]. Andersen, Hans C./Svensson, Kamma (Ill.): Nattergalen. Den flyvende Kuffert. Kritisch editiert von Erik Dal. Kopenhagen: Nordlunde, 1973 (Udsendelse fra Nordlundes Bogtrykkeri, København; 42). Andersen, Hans C./Vulcǎnescu, Petre (Ill.): Däumelinchen, der fliegende Koffer und andere Märchen. Bukarest: Kriterion, 1976 [Gemeinschaftsausg. mit dem Vollmer-Verl., Wiesbaden]. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. In: Barth, Doris (Hg.): Gute-Nacht-Geschichten. Vom Sandmännchen erzählt für 365 Tage. Erlangen: Pestalozzi, 1978, [o. S.] [weitere Aufl.: 1981, 1983, [1986] – teils u. d. T.: „Sandmännlein erzählt Geschichten für 365 Tage“]. Andersen, Hans C./Hechelmann, Friedrich (Ill.): Vier Andersen-Märchen. [Inhalt: Der fliegende Koffer, Die Prinzessin auf der Erbse, Die Großmutter, Der Schweinehirt]. Mönchaltorf/ Hamburg: Nord-Süd, 1975 (Ein Nord-Süd-Taschenbuch) [weitere Aufl.: 1983, 1992]. Andersen, Hans C./Stupica, Marija Lucija (Ill.): Leteči kovček. Übers. von Janez Gradišnik. Ljubljana: Mladinska knjiga, 1983. Andersen, Hans C./Hummel, Lore (Ill.): Der fliegende Koffer. Waldkirchen: Dessart, 1989 [weitere Aufl.: 1991]. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. In: Heinz Wegehaupt (Hg.): Hundert Illustrationen aus anderthalb Jahrhunderten zu Märchen von Hans Christian Andersen. Hanau: Dausien, 1990, 165–174.
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Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. In: Märchen. Stuttgart [u. a.]: Thienemann, 2000, 177– 184 [EA 1991]. Andersen, Hans C./Hanke-Basfeld, Magdalene (Ill.): Der fliegende Koffer. Eine Erzählung. Leicht veränderte und modernisierte Fassung. Münster: Coppenrath, 2003 (Linos ReiseMärchen/Lino-Bücher; 25/Lino-Box; 5). Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Teil: Buch. Köln: Paletti, 2004a [mit Hörbuch und Märchenquiz auf CD]. Andersen, Hans C.: Der fliegende Koffer. Nach einem Märchen von Hans Christian Andersen. Köln: Paletti, 2004b (Mein allererstes Märchenbuch). Andersen, Hans C./Yachachin, Julio (Ill.)/Velayos, Juan (Ill.): El cofre volador. Adaptación y aplicación metodológica. Bearbeitet von Serafín Ipenza. San Borja (Lima, Perú): Editorial María Trinidad, 2008 [Buch und CD]. Andersen, Hans C./Gotzen-Beek, Betina (Ill.): Der fliegende Koffer. In: Dies.: Andersens Märchen. Ravensburg: Ravensburger, 12017, 78–87. Andersen, Hans C./Reiniger, Lotte (Ill.): Die kleine Seejungfrau. Märchen. Dettenhausen: Evang. Kirchengemeinde, 1980. Jacoby, Edmund (Hg.)/Seelig, Renate (Ill.): Der fliegende Koffer. Das Buch der Märchen. Hildesheim: Gerstenberg, 2001.
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Der fliegende Koffer. Nach Hans Christian Andersen von Ingeborg Walther. 1 Schallplatte. Hamburg: Decca, [1960] (Tönende Bilderbücher). Der fliegende Koffer. Teil 1 und 2. [Nach Hans Christian Andersen]. Gespielt und erzählt von Tante Ursula und Onkel Fritz mit ihren lustigen Zwergen. Vinyl/Single. Telefunken, 1964 [vermutlich weitere Ausg.: 1991 und 1994 – zuletzt: Bella Musica Edition, 2008]. Der fliegende Koffer. Das Feuerzeug. Hörspiele [nach] Hans Christian Andersen. Sprechplatte. Verfasser: Kurt Vethake. Erzähler: Peter Schiff. [Hamburg]: [Phonogram Tonges], [1970]. Der fliegende Koffer. Ein Märchen-Hörspiel nach Hans Christian Andersen. Musik: Peter I. Tschaikowsky. Tölpelhans. Ein Märchen-Hörspiel nach Hans Christian Andersen. Musik: Johann Sebastian Bach. Gesamtbearbeitung: Inge Famira. Hamburg: Metronome Records Ges., [1974]. Die Bremer Stadtmusikanten. Däumelinchen. Der fliegende Koffer. Tonkassette. [Köln]: Concord, [1977]. Schneewittchen. Der fliegende Koffer. Frau Holle. Rotkäppchen. Mit dem Ensemble des Süddt. Puppentheaters. Tonkassette. [Köln]: OPP, [1979] (Märchenland; 6). Der fliegende Koffer und drei andere Märchen. Verfasser: Hans Christian Andersen. Tonkassette. Murrhardt: Schumm, 1981 (Schumm sprechende Bücher). Die Bremer Stadtmusikanten. Der fliegende Koffer. Tonkassette. [Elbigenalp]: [Koch], 1982 (Märchenzauber). Der fliegende Koffer. Das hässliche junge Entlein. Hörspielbearbeitung: Anke Stamm [u. a.]. Märchen nach H. C. Andersen. Tonkassette. Bella Musica, [1982] (Bunte Märchenwelt; 7). Zwerg Nase [nach Wilhelm Hauff]. Der fliegende Koffer [nach Hans Christian Andersen]. Hörspielbearbeitung und Regie: Heikedine Körting. Tonkassette. Quickborn bei Hamburg: Miller-International-Schallplatten, [1983] (Die Märchenbox; 14). Die Prinzessin und der Schweinehirt. Der fliegende Koffer. [Märchenhörspiele nach Hans Christian Andersen] von Kurt Vethake. Tonkassette. Hamburg: Gruner und Jahr, 1983 (Die schönsten Märchen). Der fliegende Koffer. Hofhahn und Wetterhahn. Mutter Hollunder. Nach Hans Christian Andersen. Interpret: Manfred Steffen. Tonkassette. Hamburg: Polygram [u. a.], 1993 (Reihe: Hörfest). Der fliegende Koffer. Das HörBuch der Märchen. Sprecher: Christian Brückner. Musik, Produktion und Regie: Ulrich Maske. 2 CDs. Hamburg: Jumbo, 2003 [weitere Aufl.: 2004; digitale Übertragung: Leipzig [u. a.]: Deutsche Nationalbibliothek, 2019]. Der fliegende Koffer. Teil: CD. Sprecher: Reinhart Firchow. Köln: Paletti, 2004a [in Bucheinbandtasche; digitale Übertragung: Leipzig [u. a.]: Deutsche Nationalbibliothek, 2019]. Der kleine Muck [Wilhelm Hauff]. Der fliegende Koffer [Hans Christian Andersen]. Ein Hörbuch für Kinder. Gelesen von Gerd Baltus [u. a.]. CD. München: [Terzio-Nortorf]: Lighthouse Home Entertainment, 2005 [Digitale Übertragung: Leipzig [u. a.]: Deutsche Nationalbibliothek, 2019]. [Andersens Märchen]. Des Kaisers neue Kleider – Das häßliche Entlein – Die Prinzessin auf der Erbse – Der fliegende Koffer. [Nach Hans Christian Andersen]. Erzähler: Klaus Brose, Regie: Oliver Potthast. Gekürzte Ausgabe. Online-Ressource (mp3). Korschenbroich: Power Station GmbH, 2007. Der fliegende Koffer. Der standhafte Zinnsoldat. Der unartige Knabe. [Die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen]. Erzähler: Wolfgang Müller. Gekürzte Lesung. OnlineRessource (mp3). München: cbj audio, 2010. Der kleine Muck/Der fliegende Koffer. Online-Ressource (mp3). Kolibri, 2010. Der fliegende Koffer. MärchenWelt. Von Sven Görtz. Online-Ressource (mp3). ZYX Music, 2011 [weitere Ausg. (teils auf CD): 2015, 2016, 2018]. Der fliegende Koffer. Erzähler/Produzent/Regie: Jürgen Fritsche. Gekürzte Ausgabe. OnlineRessource (mp3). Butzbach: BÄNG Management & Verlag, 2013 (Die schönsten Märchen von Hans Christian Andersen; 7) [weitere Ausg.: Masterpieces – Kids, 2014; BÄNG, 2015 (Album: Die schönsten Märchen aus 1001 Nacht: Der orientalische Märchenschatz)].
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Der fliegende Koffer. [Hans Christian Andersen]. Sprecher: Gerald Pichowetz. Audio Media Digital, 2014 [weitere Ausg.: 2017, 2019]. Der fliegende Koffer. Das HörBuch der Märchen. Sprecher: Christian Brückner. Musik, Produktion und Regie: Ulrich Maske. 2 CDs. Hamburg: Jumbo, 2003 [weitere Aufl.: 2004; digitale Übertragung: Leipzig [u. a.]: Deutsche Nationalbibliothek, 2019].
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„Das war ein herrliches Märchen!“
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A. Behler
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„Das war ein herrliches Märchen!“
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Mutabor! Kunstmärchen von Wilhelm Hauff im medialen Transfer Ingrid Tomkowiak
Abstract The fairy tales by Wilhelm Hauff (published 1826–1828) are among the best-known fairytales in German-speaking countries. They form a mixture of romantic fairytale understanding, Biedermeier bourgeoisie, critical-realistic portrayal and adventure story. Their author was familiar with the finesses of market-oriented literary production of his time. He created popular texts that were based on the conventions of several genres at the same time and addressed them explicitly to girls and boys as well as implicitly to an adult readership. Initially discredited as formula fiction, some of Hauff’s fairy tales were soon canonized as children’s literature and frequently adapted to film, from the early 20th century onwards. The article introduces early film adaptations of The Story of Little Muck, Caliph Stork and The Cold Heart and sheds light on their contemporary environment. Depending on the availability of historical sources, different aspects of production, distribution and reception are considered. The films adapt the originals in their specific ways – historicizing, updating, ideologizing, aestheticizing, or psychologizing the story. Through expansion, modification and transposition, they contribute to the transformation of the original text and its levels of meaning, but also to innovative continuation, to differentiation and diversification.
I. Tomkowiak (*) Universität Zürich, Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_13
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I. Tomkowiak
Rückschau Wer wie ich in den 1950er-Jahren geboren ist, kannte Wilhelm Hauffs Märchen, außer in der Textgestalt, als Kind vor allem von den Illustrationen von Ruth Koser-Michaëls, wie sie in der seit 1939 von Karl Hobrecker herausgegebenen, äußerst verbreiteten Ausgabe des Knaur Verlags über Jahrzehnte vertreten waren (Hauff 1965). Störten Kritiker an den Bildern „die anachronistisch-biedermeierliche Einkleidung der Szenen und die Neigung zur Überbordung“ sowie „die Uniformität der Darstellungsformen und des Ausdrucks“ (Pforte 1977, 249), nahmen die Käuferschichten über Generationen offenbar keinen Anstoß daran: Die Märchen-Ausgabe mit den bunten Aquarellen von Koser-Michaëls wurde in hohen Auflagen immer wieder nachgedruckt; die in der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. erschienene Ausgabe meiner Kindheit (mit dem Copyright-Vermerk von 1939) verzeichnete 1965 eine „Gesamtauflage“ von 151 000. 2016 erschien bei Knaur eine vollständige Neuausgabe – mit denselben Illustrationen. Für mich als Kind war dieses Buch der Einstieg in die Welt des Morgenlands. Es waren diese exotisierenden Illustrationen zu den Märchen von Hauff, die meine Vorstellung vom Leben im Nahen Osten für lange Zeit prägten: Wüsten und Oasen, Karawanen und Karawansereien, Turbane, Kaftane, Schleier und Pantoffeln, Bazare, Paläste und Moscheen, Reiche und Arme und ganz Arme – Sklaven, deren Existenz von der Willkür der sie Beherrschenden abhing. Orientalismus im Sinne Edward Saids (1978) lässt sich nicht nur für Koser-Michaëls Illustrationen nachweisen, sondern wird auch für die Texte Hauffs angenommen und diskutiert, als Spiel zwischen dem Fremden und dem Eigenen, dem der Orient vornehmlich als Kulisse diene (vgl. Kittstein 2002; Polaschegg 2005). Doch gab es in meiner Kindheit und Jugend auch audiovisuelle Eindrücke von Hauffs Märchen. Ich erinnere mich an Filme der Augsburger Puppenkiste bzw. deren Ausstrahlung im Fernsehen (Zwerg Nase 1955; Der kleine Muck 1957; Kalif Storch 1971; Das kalte Herz 1978), an Hörspiele auf Schallplatten und im Radio (Kalif Storch und Zwerg Nase, Regie: Claudius Brac, Erzähler: Hans Paetsch, ca. 1966) sowie die Realspielfilme Das kalte Herz (1950) von Paul Verhoeven, Die Geschichte vom kleinen Muck (1952) von Wolfgang Staudte und Das Wirtshaus im Spessart (1957) von Kurt Hoffmann, eine musikalische Verwechslungskomödie mit Lieselotte Pulver. Die ersten beiden Filme waren von der DEFA in der DDR produziert worden, sie liefen jedoch auch in bundesdeutschen Kinos. Nach dem Bau der Berliner Mauer wurden sie zunächst nur im DDR-Fernsehen gezeigt, später auch im bundesdeutschen Fernsehen.1 Marc Silberman (2005)2 hat
1Die
bundesrepublikanische ARD beschloss 1961, keine DEFA-Produktionen mehr auszustrahlen, nach 1968 korrigierte man dies dahingehend, dass „künstlerisch hochrangige und politisch nicht vordergründig tendenziöse Spielfilme der DEFA“ (zit. nach Wiedemann 2017, 205) gesendet werden durften. 2Der Beitrag enthält auch einen Anhang mit zwei umfangreichen Listen von Hauff-Verfilmungen: Kinofilme von 1916 bis 1985 und Fernsehfilme von 1954 bis 1985. S. Silberman 2005, 260 f.
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herausgearbeitet, wie eng diese Filme mit der deutschen Mentalität der 1950erJahre verknüpft waren. Während die DDR-Produktionen Das kalte Herz und Die Geschichte vom Kleinen Muck eine kapitalismuskritische und humanistische Botschaft herauszuarbeiten suchten und sich damit inhaltlich vom nationalsozialistischen Unterhaltungsfilm wohltuend abhoben, wobei sie ästhetisch allerdings den eingefahrenen Mustern des Heimat- und Abenteuerfilms verhaftet blieben, setzte man in der Bundesrepublik die Tradition der hauptsächlich heimatbezogenen, humorvoll angehauchten, seichten Märchenfilme fort. Obwohl ausdrücklich an ein erwachsenes Publikum adressiert, erreichten alle diese Filme von Beginn an auch Kinder und Jugendliche (vgl. ebd., 240 f., 245, 252 f. und pass.; Giera 2002a, 295–300; ders. 2002b; Shen 2015, 45–82). Dem eher an Kinder adressierten Film Zwerg Nase (1952/53) von Francesco Stefani mit Hans Clarin in der Titelrolle bescheinigte die unter dem Pseudonym Ponkie schreibende Kritikerin Ilse Kümpfel-Schliekmann in der Zeitschrift Filmblätter interessanterweise, der Film sei genau deshalb gut geglückt, weil er der kindlichen Phantasie durch „realistische Handlung“ entgegenkommt, aber auch den kritisch beobachtenden Besucher durch schöne Sorgfalt im Szenenaufbau, durch Bemühen um reizvolle fotografische Stimmung und hübsche Regieeinfälle befriedigt. Angenehm auch, daß der Film jenen infantil-neckischen Kindergartenton meidet, der dieser Filmgattung so leicht anhaftet. (Zit. nach Hahn/Jansen/Stresau 1986, 589)
Die mit diesen Medienprodukten vermittelten bzw. imaginierten Bilderwelten waren so wirkmächtig, dass ich mir Hauffs Märchen gar nicht anders vorstellen konnte als mit jenen Bildern. Es war, da bin ich mir sicher, genau der Verzicht auf eine kinderspezifische Gestaltung der Filme, weshalb sie mir so gefielen und im Gedächtnis blieben. Im Fall von Verhoevens Das kalte Herz kommt wohl noch das Bedienen unterschiedlicher Genrekonventionen hinzu; ähnlich der Vorlage Hauffs ist dieser durch Tricktechnik angereicherte Film ein Hybrid aus Heimat-, Märchen- und Horrorfilm, Sozialkritik und Charakterstudie. Eingebettet in ein ländlich-biedermeierliches Ambiente liefert dieser erste Farbfilm der DEFA spannende Unterhaltung, macht an das Gerechtigkeitsgefühl appellierende Identifikationsangebote und verfügt über opulente Schauwerte. Doch gab es auch vor dieser Zeit bereits Verfilmungen der Märchen Hauffs. Sie orientierten sich an zeitgenössischen medialen Bedingungen, künstlerischen Gepflogenheiten und politischen Entwicklungen, erzählten die Märchen neu, schufen zum Teil ganz andere Bilder und adressierten durchaus unterschiedliche Publika, häufig richteten sie sich an Kinder und Erwachsene zugleich. Bevor ich jedoch auf diese zwischen 1921 und 1944 entstandenen Filme näher eingehe, sollen zunächst kurz die Texte von Hauff im Fokus stehen.
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Hauffs Märchen Die Märchen von Wilhelm Hauff erschienen 1826, 1827 und 1828 in drei Ausgaben des eigens dafür begründeten Märchen-Almanachs […] für die Söhne und Töchter gebildeter Stände (hier benutzte Ausgabe: Hauff 2003). Hauff schrieb zum ersten Band im April 1825 an den Verlag J. B. Metzler: Er ist für Mädchen oder Knaben von 12–15 Jahren und giebt 7 meist orientalische Mährchen, wie sie für dieses Alter paßen; ich habe versucht sie so intereßant als möglich zu machen, habe dabey das streng-sittliche immer beobachtet ohne jedoch die Mährchen auf eine Nutzanwendung oder „fabula docet“ hinauslaufen zu laßen […] die Idee eines solchen Almanachs [ist] neu und besonders in höhern Ständen vielleicht nicht unwillkommen. (Zit. nach Rölleke 1990, 572)
Hauff sei mit diesen Distributionsüberlegungen der modernste unter den Märchenverfassern seiner Zeit, betont Heinz Rölleke (1990, 572 f.). Texte für Mädchen und Jungen gleichermaßen vorzusehen, sie interessant – also auch unterhaltsam und spannend – zu gestalten und auf die deutliche Formulierung einer Nutzanwendung zu verzichten, war in jener Zeit ungewöhnlich. Implizit ist hier auch eine Adressierung an Erwachsene formuliert, denn mit der Bemerkung, „besonders in höhern Ständen vielleicht nicht unwillkommen“, sind wohl eher die Eltern gemeint, denen die Lektüre ihrer Kinder zusagen sollte. Hans-Heino Ewers skizziert Hauff als mit den Finessen marktorientierter, literarischer Produktion vertrauten Schriftsteller: Der junge Autor, überaus belesen und literarisch versiert, kennt und beherrscht die gängigen Erzählweisen, die ihm seine Gegenwart bietet. Den moralischen, den humoristisch-witzigen, den schaurig-phantastischen bzw. tieck-hoffmannschen, aber auch fromm-romantischen Ton weiß er in seiner Märchensammlung anzuschlagen. Keiner der traditionellen Schauplätze bleibt ausgespart, nicht der morgenländische noch der des Feenmärchens, der schauerliterarische, der (see-)abenteuerliche, der sozialkritische oder der romantisch-heimatliche in Gestalt des Spessarts oder des Schwarzwaldes. […] Mit ihrer höchst effektvollen Mischung aus Bürgerlichkeit und bunter Abenteuerlichkeit bilden die Hauffschen Märchen einen wohltuenden Kontrast zum rührseligen Kinderkunstmärchen der Biedermeierzeit. (Ewers 1990, 132 f.)3
In der Rezeption der Texte stellt man jedoch über lange Zeit ein Ausblenden von Hauffs Modernität fest. Die Kritiker setzten die Popularität mit Trivialität gleich, wetterten gegen Unterhaltung, Spannung, Schauereffekte und spezifisches Jugendschrifttum. Dem gegenüber stand bzw. damit verbunden war die Kanonisierung der Hauffschen Märchen – als Kinderliteratur. Sie wurden zum Schulstoff, dann zum Schulfilm, zum sogenannten Kulturfilm (vgl. Riebe 1975; zum Verhältnis von Märchenfilm und Kinderfilm vgl. Liptay 2004, 13–15). Man konzentrierte sich
3Die Kombination von Abenteuerlichkeit (in ihren verschiedenen Genre-Spielarten) und Bürgerlichkeit hat sich auch für andere, spätere Stoffe des 19. Jahrhunderts als erfolgreich erwiesen, wenn man etwa an die mediale Rezeptionsgeschichte verschiedener Romane von Alexandre Dumas, Jules Verne oder Robert Louis Stevenson denkt.
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dabei auf Die Geschichte von Kalif Storch (1826), Die Geschichte von dem kleinen Muck (1826), Das Märchen vom falschen Prinzen (1826), Der Zwerg Nase (1827) und Das kalte Herz (1828). Erst die spätere Forschung bemühte sich um einen anderen Blick auf Hauff. Der von Ernst Osterkamp, Andrea Polaschegg und Erhard Schütz herausgegebene Sammelband Wilhelm Hauff oder die Virtuosität der Einbildungskraft (2005) beleuchtet das Werk in seinem ästhetikgeschichtlichen Kontext und widmet sich zugleich seiner medialen Rezeptionsgeschichte. So heißt es zusammenfassend auf dem Umschlag: Der Auftritt Wilhelm Hauffs (1802–1827) auf der literarischen Bühne der Biedermeierzeit war kurz, skandalumwittert und publikumswirksam. Dieser junge Autor verstand es meisterlich, auf der Klaviatur des Geschmacks und des literarischen Marktes zu spielen. Dennoch wirken seine Texte bis heute fort: Hauffs Märchen haben sich ihren Weg durch Buch und Film bis in die Phantasiewelten unserer Tage gebahnt […]. Der Forschung war dieser Erfolg freilich stets suspekt. […] Die vermeintliche Leichtigkeit von Hauffs Prosa entpuppt sich […] als Effekt eines virtuosen Spiels auf den Tasten der Einbildungskraft und der Erzählformen. (Osterkamp/Polaschegg/Schütz 2005)
Stefan Neuhaus charakterisiert Hauff als frühen Realisten und Ironiker, der auf verschiedenen Ebenen ein Spiel mit dem Leser treibe: […] in heutiger Terminologie kann man von Mehrfachcodierung sprechen. Hauffs Essays, Novellen, Märchennovellen und Romane sind ein Angebot an den Leser, auf verschiedenen Ebenen des Werkes mitzuspielen, sich Assoziationsräume über Prätexte zu eröffnen, die Rollenwechsel nachzuvollziehen, die Konstruktionen der Handlung(en) transparent zu machen. Eine solche auf Reflexion zielende Strategie des Spiels greift auf Literaturkonzepte des 20. Jahrhunderts voraus. Konkrete Verhaltensweisen werden geschildert, defiktionalisiert, ironisiert und gegeneinander gestellt. Das macht Hauff zu einem eminent (post-?)modernen Autor. (Neuhaus 2002, Klappentext)
Joachim Giera wirft die Frage auf: „Wilhelm Hauff – ein zu früh gekommener Drehbuchautor?“ (2002b) und zitiert Einschätzungen, die Hauff in diese Nähe rückten, darunter die, dass er in der Lage sei, „deutliche Situationen (zu) schaffen, anschauliche optische und akustische Eindrücke (zu) vermitteln“ (Groeger 1965). Unter Berufung auf Hilde Schulhof (1928, 130) urteilt Fritz Martini: „Hauff erzählt, mit einer für ihn und die übrige Zeit typischen Technik, in Bildern, mit stark mimisch akzentuierter zielstrebiger Bewegtheit, die mit Recht an filmische Arrangements erinnert hat“ (1971, 461). Hauffs Präzisierungen (Milieuschilderungen, Charakterisierungen von Personen durch Gegenstände, Kleidung und Marotten), so stellt Christoph Schmitt fest, entsprächen „zum Teil konkreten Regieanweisungen, sodass man seinen Stil im Sinne Kracauers als filmisch bezeichnen muss“ (Schmitt 1993, 47, vgl. 277). Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht nun die Vorstellung einer Reihe der frühen Verfilmungen von Hauffs Märchen.
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Frühe Filme zu Hauffs Märchen „Auf dem Gebiete der fantastischen Komposition, des Zauberstückes und namentlich der Märchendichtung liegt zweifellos die Zukunft der Kinematografie, und ist sie erst in diese Bahnen gelenkt, wird sie sicher auch noch Hervorragenderes zu leisten imstande sein“, schrieb Ludwig Brauner in der Zeitschrift Der Kinematograph (1908, 2). Ganz so leicht hatten es die Märchenfilme dann allerdings doch nicht; vielfach stand ihrer Produktion wie ihrer Rezeption das Image von Märchen als Kinderliteratur im Weg (vgl. Höfig 2008). Bis ein Märchen von Hauff für das Kino adaptiert wurde, dauerte es noch über zehn Jahre. Am 21. November 1926 veröffentlichte Der Kinematograph eine illustrierte Anzeige des Universum Film-Verleihs für verschiedene Märchenfilme: „Alle Theaterbesitzer spielen in den Monaten November • Dezember die beliebten Märchenfilme der UNIVERSUM-FILM-VERLEIH GMBH.“ Aufgelistet sind u. a. Der falsche Prinz und Das kalte Herz. Die Illustration zeigt die Figur des Schatzhausers aus dem Kalten Herz und einen dunkelhäutigen Jungen mit der Aufschrift: „D. KLEINE MUCK“.4 Die Angaben beziehen sich wahrscheinlich auf die Filme: Der kleine Muck. Ein Märchen aus dem Morgenlande (1920/21; Regie Wilhelm Prager); Der falsche Prinz. Ein deutsches Märchen im orientalischen Gewande (1922; Regie: Erwin Báron) und Das kalte Herz: Der Pakt mit dem Satan (1923; Regie Fred Sauer). Ich werde hier nun näher auf diese und andere frühe Verfilmungen der Märchen Der kleine Muck und Das kalte Herz eingehen sowie auf diejenigen von Kalif Storch.
Der kleine Muck Wie Cornelia A. Endler (2006, 358) festhält, war ein früher Versuch der deutschen Filmproduktion, die Gesamthandlung eines Märchens filmisch zu adaptieren und dabei zugleich auf die Bedürfnisse von Kindern auszurichten, Ernst Lubitschs abendfüllender Film Sumurun (1920), eine 1001-Nacht-Fantasie, auf dem Plakat von Mihály Bíró (1921) als „Der Wunderfilm“ charakterisiert. Für das märchenhaft-fantastische Ambiente und die kostspieligen Bauten, die eigens für Sumurun angefertigt worden waren, habe die Ufa nach Ende der Dreharbeiten keine Verwendung mehr gehabt, weshalb Ernst Waschneck, ein Mitarbeiter der Ufa-Spielfilm-Abteilung und im Produktionsstab von Sumurun, sie erwarb und mit dem Regisseur Wilhelm Prager in denselben Kulissen den Film Der kleine Muck (1920/21, 5 Akte) produzierte. Verglichen mit Sumurun sei der Film eine Low-Budget-Produktion gewesen, habe aber einen immensen Erfolg gehabt.
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https://bit.ly/2UWkuuE (22.03.2019).
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Maßgeblich dazu beigetragen habe, dass er als Familienfilm im regulären Abendprogramm des Kinotheaters lief: „Für Erwachsene und Jugendliche gleich unterhaltend“, steht auf dem Plakat (Waschneck 1920). Am 8. Februar 1921 passierte der Film die Zensur und wurde für jugendfrei erklärt; nach der Premiere vom 11. Februar schrieb die Vossische Zeitung: Selten hat wohl ein Programm ein dankbareres Publikum gefunden als das dieswöchentliche des „Tauentzien-Palastes“. Der dort laufende Märchenfilm ist auch für Jugendliche freigegeben, und das junge Völkchen machte denn auch von dieser seltenen Gelegenheit, einmal eine richtige Kinovorstellung zu besuchen, ausgiebig Gebrauch. (13.02.1921, zit. nach Endler, 358)
Beim kindlichen Publikum kam der Film sehr gut an. Vor dem Hintergrund des zu jener Zeit herrschenden Kinoverbots für Kinder lobte die Zeitschrift Der Film den Versuch, dieses mit Familienvorstellungen zu umgehen: Das war ein Jubel, als die kleinen Knirpse im Tauentzienpalast die Abenteuer ihres kleinen Freundes sehen durften. Zunächst mal das erhebende Gefühl, in ein „richtiges“ Kino zur „richtigen“ Abendvorstellung gehen zu dürfen! […] Der kleine Muck (Willy Allen) war aber auch zu drollig mit seinem riesigen Wuschelkopf und dem ungeheuren Turban. Und dann die niedlichen Kätzchen und Hunde. Und wie er auf den Pantoffeln davon saust! Am ulkigsten waren aber doch die langen Nasen, die die Wunderfeigen hervorzauberten. Das war einmal etwas, so ein Märchenwunder mit leibhaftigen Augen zu sehen! […] die Spielleitung Wilhelm Pragers weiß aus dieser harmlosen Handlung beinahe etwas wie wirkliche Spannung herauszuholen, sprudelt vor allem von entzückenden Einfällen und hat eine Besetzung gewählt, der sich mancher Film für die „Großen“ nicht rühmen kann. […] Der Gedanke des Familienfilms, den die Kulturabteilung der Ufa mit diesem „Kleinen Muck“ geschaffen hat, muß als äußerst glücklich bezeichnet werden. Gerade die schweren Schäden, die das rigorose Jugendlichenverbot dem Kinobesitzer zufügt, lassen den Versuch lohnend erscheinen auf diesem Wege Eltern und Kinder zusammen in Familienvorstellungen zu ziehen. (Nr. 8, 1921, 47 f.)5
Interessant an dieser Besprechung ist auch die deutlich werdende Annahme dessen, was das kindliche Publikum an diesem Film besonders geschätzt habe – „drollig“, „niedlich“, „ulkig“, „entzückend“ sind hier die Schlüsseladjektive. Betont wird zudem die Möglichkeit, „so ein Märchenwunder mit leibhaftigen Augen zu sehen!“ Wie die Kinoaushangfotos der Erstaufführung von 1921 zeigen,6 entsprechen die Filmbilder in der Anmutung der frühen Orientfotografie, die mit ihren exotisierenden und kulturelle Differenz inszenierenden Bildern aus dem Morgenland schon ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Wissenschaft und Populärkultur eine große Präsenz hatte (vgl. Luchterhandt/Roemer/Suchy 2017, z. B. 222 f.).7 Am 19. August 1926 erhielt Pragers Film das Prädikat Volksbildend.8 Nur drei Jahre später kritisierte ein mit rk zeichnender Verfasser in der Zeitschrift Der Film diese Art von Filmen als nicht mehr zeitgemäß:
5Zit.
nach http://www.kinotv.com/mobil/film.php?filmcode=46659&q=88&l=de (18.03.2019). unter https://bit.ly/2WcaTjJ (21.03.2019); Quelle: Ebay, 20.07.2017. 7Zugänglich unter https://www.imhof-verlag.de/media/catalog/product/pdfs/853397aeb12712b12 3c4ccc0f4e99b4c_Orientbilder%20Blick%20ins%20Buch.pdf (21.03.2019). 8http://www.difarchiv.deutsches-filminstitut.de/filme/dt2tb01089.htm (21.03.2019). 6Zugänglich
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Also, […] es gibt Märchenfilme […], die das Kind unserer Tage mit höchst verwunderten Augen betrachtet, als kleine Zaubereien, als spaßige Unterhaltung, die aber nicht zu seinem Herzen dringen. Poetische Schwärmerei vom Klapperstorch bis zum Hauffschen Märchenorient passt nicht mehr ins Zeitalter der Maschine. Den Kindern von heute liegt ein Auto oder ein Zeppelin näher am Herzen als ein Rosenwagen oder ein faustischer Zauberteppich. (Nr. 52, 28.12.1929, zit. nach Höfig 2008, 100)
Wie Manfred Hobsch (unter Berufung auf Drewniak 1987, 601 f.) erläutert, war der Märchenfilm auch für die Nationalsozialisten ein Problem, vor allem angesichts amerikanischer Trickfilmproduktionen (vgl. Hobsch 2009, 48). Ausgerechnet die Amerikaner seien als Erste auf die Idee verfallen, in lustigen Trickfilmen die deutsche Märchenwelt zu filmischem Leben zu erwecken, so Boguslaw Drewniak (1987, 602). Noch zu Beginn des Krieges hatte sich der FilmKurier beklagt: „Es beschämt uns, denn wir Deutsche gerade sind es, die die Verpflichtung haben, auf diesem Gebiet voranzugehen. Wir haben Verpflichtungen dem Märchen gegenüber, vor allem auch dem Schatz deutscher Märchen, die wertvolles Kulturgut sind“ (zit. nach Hobsch, 48). Der Film Der kleine Muck. Ein Märchen für grosse und kleine Leute von Franz Fiedler von 1944,9 am 4. Dezember 1944 von der Zensur als jugendfrei freigegeben, aber ausschließlich in Matineen und Sonderveranstaltungen aufgeführt (vgl. Klaus 2002, 122), ist vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Kulturverständnisses zu beurteilen. Das Märchen wurde nach Deutschland verlagert, einerseits in ein höfisches Barock-Milieu des 17. und 18. Jahrhunderts, andererseits in eine – Hauffs Herkunft entsprechende – biedermeierliche Umgebung des 19. Jahrhunderts versetzt.10 Die einzige Reminiszenz an die Ansiedlung des Hauff‘schen Märchens im Orient erhält der Film durch zwei deutlich schwarz geschminkte Mohren (heute würde man von blackfacing sprechen) am Hof des Königs, deren Gesicht Muck berührt und dabei ausruft: „Donnerwetter, die sind ja echt!“ In seiner getragenen und pathetischen Spiel- und Sprechweise hat der Film etwas sehr Betuliches; daran ändern auch die aus dem Stummfilm-Kino übernommenen Slapstick-Elemente nichts. Als gütige Erzählerfigur, die das Geburtsregister führt, das Schicksal der kindlichen Protagonisten bewacht und immer wieder lenkend eingreift, fungiert der Mann im Mond. Er sagt zu Beginn des Films, mit Bezug auf die Erde: „Ja, ja, die bedrängten Herzen, davon kann man ein Lied singen, wenn man ein so alter Mondmann geworden ist wie ich. Viel Leid gibt’s da unten. Aber auch viel Freud […], denn Kinder sind Freuden.“ 9Laut
Schlesinger (2017, 155) geht der Film auf das Bühnenspiel von Waldfried Burggraf, Der kleine Muck. Ein Märchen für Kinder in fünf Bildern (1930) zurück. Im Vorspann des Films heißt es dagegen: „ein Märchen für grosse und kleine Leute von Ruth Hoffmann nach einem Bühnenspiel von Friedrich Forster“. Filmstills, Plakat und Cover des Heftes der Film Bühne auf http:// www.maerchenfilm.info/filme-derkleinemuck1944.html (21.03.2019). 10Diese Mehrzeitlichkeit entspricht einem inzwischen gängigen historisierenden Vorgehen, wie es z. B. ARD und ZDF in ihren Märchenreihen praktizieren. Ludger Scherer (2019) setzt sich damit unter dem an Michail Bachtins Konzept des Chronotopos angelehnten Begriff Märchenzeit auseinander.
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Eines dieser Kinder ist der kleine Muck (der Sohn des großen Muck); er ist hier – und dies hat ganz sicher damit zu tun, dass es sich um einen NS-Film handelt – kein kleinwüchsiger Sechzehnjähriger mit einem zu großen Kopf, sondern ein hübscher zwölfjähriger Waisenjunge, der ohne Besitz allein zurechtkommen muss, nachdem die Eltern gestorben sind. Einer der drei Gläubiger, die beim Waisenkind die Schulden des Vaters eintreiben wollen, entspricht in seiner äußeren Erscheinung und in seiner sozialen Funktion als Wucherer mit Juden verbundenen Stereotypen (vgl. Schlesinger 2017, 171). Die den ganzen Film durchziehende Botschaft „Sei froh und tapfer!“, die Muck als Lebensleitspruch vom Mann im Mond mitbekommen hat und die er sich autosuggestiv immer wieder selbst vorhält, entspricht der zeitgenössischen nationalsozialistischen Durchhalte- und Filmpolitik zu einer Zeit, als der Untergang des sogenannten Dritten Reichs bereits absehbar war. Am Schluss des Films wird die Botschaft vom göttlich agierenden Mann im Mond – diesmal dem Publikum – noch einmal eindringlich mit auf den Weg gegeben: „Und vergesst nicht: froh und tapfer! Das gilt auch für euch, Kinderchen!“ Das ist kindgerechte NS-Propaganda in einem nur vermeintlich ideologiefreien Märchenfilm, urteilt auch Schlesinger (2010).
Kalif Storch Am 2. Juni 1927 bringt Der Kinematograph eine Anzeige der Gloria-Film: Der neue große AUSSTATTUNGS-FILM der GLORIA. KALIF STORCH. Ein Märchenspiel in 5 Akten nach Wilhelm Hauff. Der Film der atemberaubenden Spannung. Der Film märchenhafter Effekte. Der Film der Wunder des Orients. Der Film moderner Massenregie. Der Film bezaubernder Kostüme. Der Film der wunderbarsten Bauten – ist vorführungsbereit. (Anzeige 1927)
Gemeint ist hier wahrscheinlich der von Hans Berger und Ladislaus Tuszinsky 1921 gedrehte österreichische Stummfilm Kalif Storch, ein Realfilm mit Tricktechnik, der in Österreich im August 1924 in Wien uraufgeführt wurde, im Deutschland der Weimarer Republik aber erst am 24. Mai 1927 die Freigabe jugendfrei erhielt (vgl. Winkelmayer 2004, 134–136).11 Kurz nach diesem Film, 1923, entstand der erste Animationsfilm zu Hauffs Märchen vom Kalif Storch, ein mit Oberlicht aufgenommener Silhouettenfilm (vgl. Cürlis 2005, 20). Lange Zeit galt dieser Film mit dem Titel Kalif Storch als ein Werk von Lotte Reiniger (vgl. etwa noch Endler 2006, 370 f.);12 seit den 1950erJahren war er als solches im Dänischen Filminstitut archiviert. 2005 lieferte JeanPaul Goergen mit einem bebilderten Beitrag über das im Bundesarchiv-Filmarchiv
11 https://www.filmportal.de/film/kalif-storch_352f0193a2e841d8a508b921b12569d1
(25.03.2019). meint hier wahrscheinlich Lotte Reinigers berühmten Film Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926). 12Endler
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Berlin befindliche Fragment des filigran gestalteten Silhouettenfilms Kalif Storch von Ewald Mathias Schumacher den entscheidenden Hinweis für die Identifikation der vollständigen Kopie im Dänischen Filminstitut (vgl. Goergen 2005, 10–12, 15; ders. 2008, 40 f.). Bemerkenswert ist u. a. das im Film sich entfaltende, arabisch anmutende Spruchband13 mit der jedoch in lateinischen Schriftzeichen wiedergegebenen Anweisung zur Verwandlung und Rückverwandlung unter Verwendung des aus Hauffs Märchen stammenden Zauberspruchs „Mutabor!“ (Hauff 2003, 19), welcher auch für den Titel des vorliegenden Beitrags verwendet wurde – und hier auf die durch Medienwechsel und Adaption sich immer wieder vollziehende Verwandlung der Hauffschen Märchen bezogen ist. Silhouettenfilme waren zu dieser Zeit eine Innovation, der erste entstand 1916. Drei Jahre später, 1919, gründete Hans Cürlis in Berlin das Institut für Kulturforschung, richtete dort einen Tricktisch ein, und ab dann stellte ein Kreis von Trickfilmer/innen Silhouettenfilme her, darunter als damals schon prominente Scherenschnittkünstlerin Lotte Reiniger (vgl. Cürlis 2005, 20), der bereits 1921 öffentlich hohes künstlerisches Potenzial attestiert wurde. Da auch sie später einen Kalif Storch-Silhouettenfilm erstellt hat, sei diese – auch in Bezug auf die Wahrnehmung einer weiblichen Kunstschaffenden – interessante Passage aus dem Artikel Werdende Filme. Das Geheimnis der Silhouetten-Filme im Film-Echo, der Beilage zum Berliner Lokal-Anzeiger vom 28. November 1921, hier wiedergegeben. Die Schilderung passt auch für ihren Kalif Storch (1935/54), auf den unten noch näher eingegangen wird: Irgendwo gibt es doch das, was man den künstlerischen Film nennen kann. […] Im Institut für Kulturforschung, das eine Abteilung für wissenschaftliche Filme hat, ist sozusagen als Unterabteilung eine sehr kultivierte und außerdem sehr hübsche junge Dame tätig, die Schneckerln trägt und weltverloren und filmverloren aus schwarzen Platten große und kleine Figuren, Tempelchen und Häuserchen, Brücken, Seen, Fabelwesen, Ornamente schneidet, alles, was beweglich sein soll, durch zierliche Ösen verbindet, gebrechliche Glieder ihrer Schatten dingfest macht und ihren Geschöpfen dann Leben einhaucht (zit. nach Goergen 2005, 7)
Reinigers Filme offenbarten „wirklich reinkünstlerische Möglichkeiten“, heißt es weiter im Film-Echo (zit. nach ebd.). Unabhängig von diesem Kontext entstanden sowohl der erwähnte Film von Schumacher als auch die als nächster Animationsfilm von Kalif Storch erschienene Produktion, eine Mischung aus Silhouettenfilm und Zeichenfilm, geschaffen von den Brüdern Diehl: In einem Vorort Münchens, zwischen Wiesen und Wäldern, haben drei Idealisten des Films ein mit ganz eigenartigen technischen Finessen ausgestattetes Filmatelier eingerichtet. Es sind drei Brüder: ein Maler, ein Filmtechniker und ein Gelehrter, die hier buchstäblich unter Ausschluß der Öffentlichkeit an der Schaffung von Märchenfilmen arbeiten. […] diese Idealisten namens Diehl wollen dem deutschen Film ausschließlich Märchen liefern. Ein großer Zeichentrickfilm, Kalif Storch, hat eine ganz neue Wirkung dieser Filmgattung. Seine Bauten wirken plastisch und nicht flächig, wie sonst bei Märchenfilmen,
13Filmstill:
https://bit.ly/2UVmMdy (25.03.2019).
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hob der Film-Kurier Nr. 186 am 11. August 1931 hervor (zit. nach Goergen 2017). Und es ist genau dieses Plastische, im Gegensatz zum Flächigen, die Konturen Betonenden, das den Film der Brüder Diehl prägt. Anders als Schumacher verwendeten sie zentralperspektivisch gezeichnete und gemalte HintergrundSzenarien auf nicht transparenten Folien (insgesamt 200) und drehten dann – wie er – mit Auflicht (vgl. hier und im Folgenden Basgier 1994, 24–32). Die davor agierenden Menschen- und Tierfiguren sind als Schattenrisse ausgearbeitet; die Raumwirkung entsteht durch Verkleinerung oder Vergrößerung der SilhouettenFiguren, die dann jeweils einer bestimmten Raumebene – Vorder-, Mittel-, Hintergrund – zugeordnet werden, um Tiefe zu suggerieren. Es ist der erste Film der Gebrüder Diehl Film-Produktion und ihr einziger Film in dieser Technik; im Anschluss wurden die Diehls mit Puppentrickfilmen bekannt. Der Film entstand zwischen 1928 und 1930; 1931 wurde er zur Aufführung zugelassen, 1937 vertont und 1942 neu vertont (vgl. Silberman 2005, 260). Im NS-Staat galt er als jugendfrei und volksbildend und zählte zur Kategorie Kulturfilm, was ihn auch für Schulaufführungen geeignet machte. Neben den einen plastischen Realismus anstrebenden Hintergründen fällt der an die Typografie expressionistischer Stummfilme erinnernde Schriftzug MUTABOR14 auf. Erzählerisch entspricht der Film dem, was die Gebrüder Diehl auch später noch praktizierten: Der Film sei stringent erzählt, auf relevante Handlungselemente reduziert, eine Entwicklung oder differenzierte Darstellung von Charakteren finde nicht statt, so die Charakterisierung von Thomas Basgier (ebd., 26). Er fährt fort: Alle Instrumentarien, die zur Dramatisierung der Geschichte beitragen könnten, wurden vermieden: Entindividualisierung der filmischen Personage und Entdramatisierung einer sowieso schon höhepunktsarmen Handlung, deren einzelne Abschnitte sich wie Perlen auf einer Schnur aneinanderreihen und dadurch fast Episoden-Charakter bekommen – zwei Konstanten des Diehlschen Verfahrens der Märchenbearbeitung. (Ebd., 26)
Ferdinand Diehl schrieb später, Kalif Storch habe vor allem in Lehrerkreisen Aufsehen erregt, insgesamt sei „der ideelle Erfolg des Filmes erheblich“, was allerdings als Eingeständnis eines finanziellen Misserfolgs gelesen wurde. Der Kinoeinsatz des Films wurde zudem durch die Einführung des Tonfilms massiv behindert. Um die noch mit Zwischentiteln versehene Produktion nachzusynchronisieren, fehlte den Gebrüdern Diehl zum damaligen Zeitpunkt das Geld (vgl. ebd., 32). Ambivalent äußerte sich 1934 auch die Besprechung des Stummfilms in Der Bildwart im Juni 1934: Der Film ist vor Kindern und Erwachsenen vorgeführt worden und hat dabei ziemlich unterschiedliche Beurteilung erfahren. Vielfach wurde gerade von Kindern behauptet, er sei eine ausgezeichnete Wiedergabe des Hauffschen Märchens, während andere wieder sagten, es weiche so ab, daß man das Märchen kaum darin erkennen könne […]. Im Gesamturteil stimmte man aber zu, bewundere die große Mühe, wenn man sich auch nicht versagen konnte, darauf hinzuweisen, daß viele Personen vorhanden sind, die noch nicht richtig gehen könnten und deshalb die Fortbewegungsform des Schleichens angenommen haben. (Zit. nach Endler 2006, 372 f.) 14Filmstill:
https://bit.ly/2TtSUDO, 25.03.2019.
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1935, als Lotte Reiniger bereits viele Filme hergestellt und sich intensiv kritisch am Filmdiskurs beteiligt hatte, erschien ihre Version vom Kalif Storch zunächst in Deutschland; es war das Jahr, in dem sie nach England emigrierte. Als Caliph Stork wurde der Film 1954 in englischer Vertonung in Großbritannien veröffentlicht und später noch einmal in deutsch vertont. Hier geht es nicht um eine plastische Wirkung und um Realismus. Die zur künstlerischen Avantgarde der Zeit zu zählende und an Paul Wegener und Walter Ruttmann geschulte Filmemacherin Lotte Reiniger betonte bereits 1921 die Möglichkeiten, mit dem Animationsfilm Fantastisches umzusetzen: Diese Arbeitsart hat den Vorzug, daß der gestaltende Künstler in seinen Entwürfen auf die sonst alles beherrschenden Gesetze der Schwerkraft, des Zusammenhangs der Materie, kurz auf die jede natürliche Bewegung beherrschenden Naturgesetze keine Rücksicht zu nehmen braucht. Er kann mit seinen Formen und Gestalten schalten und walten wie er will. […] Der ausschweifendsten Phantasie sind keine Schranken gesetzt. (Reiniger 2005, 19)
Diese Möglichkeiten sind auch für die Umsetzung des Märchens von Kalif Storch wichtig, haben dort fantastische Elemente doch eine handlungstragende Funktion. Reiniger arbeitete üblicherweise mit aufeinandergeschichtetem, transparentem Papier, das sie von hinten bzw. unten illuminierte und bei dem jedes Blatt eine Art separate Bildraumebene darstellt. Sämtliche Bildgegenstände und Hintergründe bestehen aus Scherenschnitten. Die Konsequenzen des Schneidens mit der Schere und des Materials für die Aufnahmetechnik stellte Reiniger bereits 1924 dar: […] der ganze Witz ist der, daß bei den von mir hergestellten Filmen alles und jedes mit der Schere geschnitten ist. Dadurch ergibt sich naturgemäß eine scharf umrissene Kontur in Hintergrund und Umrahmung sowie in der Figur und sonstigen Formgebung. Auch die Aufnahmetechnik ist diktiert. Die Figuren müssen sich auf einer von unten beleuchteten Fläche befinden, der Apparat muß über der Fläche Kopf stehen und auf diese heruntersehen. Die Figuren müssen aus Pappe und Blei sein, denn von dem starken Licht würden bloße Pappfiguren warm werden und sich wellen. Und schließlich müssen die Hintergründe aus durchsichtigem Papier sein. […] Die Figuren müssen unendlich beweglich sein und sehr sorgfältig geführt werden, um aus dem Mangel aller anderen Ausdrucksmittel – wie Innenkontur, weich gemalte Hintergründe – eine künstlerische Tugend zu machen und mit einer einfachen Bewegung der Umrißlinie dasselbe zu sagen, was sonst durch viele Einzelmomente erreicht wird. (Reiniger-Koch 1924, 205, Hervorh. i. O.: gesperrt)
Zur Charakterisierung der Figuren bleibt nur der äußere Umriss der Silhouette, verbunden mit strategischem Einsatz des Ornamentalen. So entstehen harte HellDunkel-Kontraste, Gesichter und Figuren werden fast zur Abstraktion (vgl. Knop 2015, 30 f.). 1926 hob sie hervor, dass ihre „Schattenfiguren sich mit größter Lebenswahrheit bewegen, so daß man vollkommen das Gefühl verliert, daß es keine wirklichen Schauspieler sind.“ (Reiniger 2005, 19) Diese Ansicht entspricht zeitgenössischen Erfahrungen mit Silhouettenfilmen im Schulunterricht, wie Cürlis 1942 zum Teil rückblickend beschrieb: Meist wurde dabei eigens darauf hingewiesen, daß die Übertragung des Stoffes in die Schwarzsilhouette für die Kinder keinerlei Hindernis bedeutet hätte, ja, daß auf Befragen die Kinder nicht nur an den schwarzen Figuren keinen Anstoß genommen, sondern diese
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als selbstverständlich und natürlich hingenommen hätten. So hätten Kinder bei mündlicher oder schriftlicher Wiedergabe des Gesehenen nur sehr selten diese Tatsache überhaupt erwähnt, die Gestalten wie normale Figuren geschildert; es sei z. B. nie von den doch tatsächlich schwarzen Gesichtern die Rede gewesen. Dagegen seien die Gestalten gelegentlich mit allem möglichen, gar nicht Vorhandenen ausgeschmückt worden. […] Daß aber die Silhouette dazu anregt, ist bezeichnend und für die schulische Brauchbarkeit wichtig. Denn der Erwachsene neigt leicht dazu, auf Grund seiner intellektuellen Erfassung des Gesehenen, der Tatsache, daß die Silhouette ein völlig schwarzes Bild ist, bei dem das schwarze Gesicht außer in der Kontur keinen Ausdruck hat, eine viel zu große Wichtigkeit hinsichtlich der Deutbarkeit zuzumessen, ja er fürchtet, dem Kind möge das Fehlen von Farbe und Binnenzeichnung das Erfassen erschweren. (Cürlis 2005, 21 f.)
Dabei verleugneten Lotte Reinigers Filme nie das Material, aus dem sie hergestellt sind, betont Goergen (2009, 12); Reiniger schrieb zu ihrem Material 1935: Es wird in letzter Zeit viel über die künstlerischen Fragen dieser Filmart debattiert. Für mich liegt die Lösung schon darin, daß ich nur mit der Schere arbeite. Ich bin dadurch zu einem streng flächigen Stil gekommen, den ich aber nie als Hemmung empfunden, sondern nur als eine der Filmleinwand und dem Werkstoff Papier höchst gemässe Ausdrucksform begrüßt habe. (Reiniger 1935, 117 f.)
Das kalte Herz Hauffs Märchen Das kalte Herz ist – sicher wegen des auch Erwachsene interessierenden, gesellschaftliche wie psychische Konflikte behandelnden Stoffs und wegen seiner verschiedene Genres berührenden Handlung – wohl sein am häufigsten adaptiertes Märchen. Bis in die Gegenwart hinein erscheinen immer noch neue und in mehrerlei Hinsicht sehr unterschiedliche Verfilmungen, so neben dem bereits erwähnten DEFA-Film von Paul Verhoeven (1950) Adaptionen von Werner Reinhold (1978), Irma Rausch (1981),15 Hannes Rall (2013, ein Animationsfilm), Marc-Andreas Bochert (2014) und Johannes Naber (2016), auf die hier jedoch nicht eingegangen werden kann (vgl. dazu Schlesinger 2015). 1923 erschien mit Adolf Wenters Film Das Wirtshaus im Spessart auch eine frühe filmische Version von Das kalte Herz, analog zu Hauffs Einbettung des Märchens in die Rahmenhandlung um zwei Handwerksgesellen, die sich zusammen mit den Gästen des Wirtshauses im Wald die Angst vor Überfällen mit dem Erzählen von Geschichten vertreiben. Der abendfüllende Stummfilm in sieben Akten erhielt am 14. April 1923 die Freigabe durch die Zensur mit dem Entscheid „Jugendfrei“ und hatte am 25. Mai 1923 in Berlin im Alhambra am Kurfürstendamm Premiere.
15Hierbei
handelt es sich um einen sowjetischen Film, der auf Deutsch unter dem Titel Märchen in der Nacht erzählt bzw. Die Märchen der Nacht erschien und das Märchen vom kalten Herzen wie bei Hauff in eine Rahmenhandlung über wandernde Handwerksgesellen einbettet, also auch Motive von Das Wirtshaus im Spessart verwendet, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Märchen_ in_der_Nacht_erzählt (29.03.2019).
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Fred Sauers ungefähr gleichzeitig entstandener, etwa einstündiger Stummfilm Das kalte Herz. Der Pakt mit dem Satan behandelt in sechs Akten ausschließlich dieses Märchen. Zwar kurz vor Weihnachten 1923 als Jugendfrei zensiert, hatte er seine Premiere wohl erst im August 1924, im Berliner Ufa-Theater am Nollendorfplatz. Gedreht hatte man in Berlin-Wannsee und im Schwarzwald, um dem Märchenfilm „das charakteristische Gepräge“ zu geben, wie es im Film-Kurier vom 4. Juni 1923 hieß (zit. nach Schlesinger 2015). Peters Begierde nach Reichtum wird in diesem sehr frei nach der literarischen Vorlage erzählten Film nicht nur mit dem Drang nach sozialem Aufstieg begründet, wie Hauff es dargestellt hatte, sondern auch mit dem Wunsch, Maria – wie Hauffs Lisbeth hier heißt – heiraten zu können. Dieses dramaturgisch begründete Motiv, das mit dem in populärkulturellen Produkten zentralen love interest korrespondiert, wurde in späteren Verfilmungen des Märchens immer wieder aufgegriffen. Und es spielt auch bei der Gestaltung des Schlusses eine Rolle, denn Peter bekommt sein Herz nicht durch Überlistung des Holländer-Michels zurück, sondern weil er, nachdem er es dem Michel entwendet hat, im Moment großer Gefahr „Maria“ ruft – dargestellt in gotischen Lettern. Das warme Herz in seiner Hand tauscht seinen Platz mit dem kalten Stein in seiner Brust. Der viragierte Film (Nacht: blau, Wald: grün, Zimmer: gelb, Morgen: rosa, besonders erregende Szenen: rot) präsentiert laut einer Besprechung in den Bilddokumenten zur Geschichte des Films den Handlungsverlauf allein durch das Bild und verzichtet außer bei den direkt gesprochenen Sätzen – häufig in Form von Dialogeinblendungen direkt im Bild – auf erklärende Titel. Trotz zahlreicher Kameraeinstellungen und kurzer Schnitte sei die Darstellung noch theatermäßig, so die Einschätzung, aber schon in Richtung auf die stumme Pantomime symbolhaft verdichtet und nuanciert. Durch geschickte Beleuchtung habe man zwar versucht, märchenhafte Landschaften und Kulissen zu zeigen, ein Anflug märchenhafter Stimmung entstehe jedoch nur selten (Institut für Film und Bild 1967, 56 f.).16 Schlesinger urteilt dagegen 2015: „[…] es sind weniger die Naturaufnahmen, sondern Dekor, Kostüm und das Spiel der Darsteller, die den Streifen in die Nähe eines märchenhaften Filmexpressionismus rücken.“ Ein interessantes Detail sei noch erwähnt: Peter bringt in diesem Film von seiner Weltreise einen Farbigen mit, der in Peters Heimat zur Schau gestellt wird und der Belustigung dient – eine aus heutiger Perspektive rassistische Szene, die an die damals noch praktizierten Völkerschauen bzw. an die Explorations- und Reisefilme der 1930er- bis 1950er-Jahre erinnert.17 Der Hinweis bei Silberman (2005, 260) auf einen 1929 von der Mercedes Film München produzierten Film Das kalte Herz (Regisseur unbekannt) ließ sich 16Der
Text datiert den Film in der Überschrift zum zitierten Abschnitt fälschlich auf 1918 – eine Angabe, die sich dann wiederholt in der Literatur findet, wenn Sauers Film erwähnt wird. 17Protokoll von Raff Fluri, Burgdorf (CH), zu seiner Sichtung des Films im Bundesarchiv-Filmarchiv, Berlin, am 6. April 2018; er hat es mir am 24. April 2018 freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Ausschnitte des Films von Sauer enthält der Dokumentarfilm Bilddokumente zur Geschichte des Films. 4. Teil: Deutsche Spielfilme 1914–1924. Bundesrepublik Deutschland: Institut für Bild und Film in Wissenschaft und Unterricht (FWU) 1967.
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nicht verifizieren. 1933 bringt Mein Film (Nr. 372, 2) einen kurzen Hinweis auf ein Filmmanuskript von Carl Zuckmayer nach Das kalte Herz von Hauff; ein entsprechender Film ließ sich allerdings ebenfalls nicht nachweisen.18 Abschließend sei nun noch auf den in den Jahren 1931 bis 1933 von dem noch jungen (geb. 1909), aber damals bereits international erfolgreichen Pianisten Karl Ulrich Schnabel (Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera) gedrehten Film Das kalte Herz etwas ausführlicher eingegangen (vgl. hier und für die folgende Darstellung Fluri 2017 und 2019).19 Es handelt sich dabei um einen aus privater Initiative entstandenen und selbst finanzierten Experimentalfilm, der mit Freunden und Familienangehörigen, Nachbarn und Bekannten des Regisseurs hauptsächlich rund um Berlin aufgenommen wurde. Peter Munk wurde gespielt von Franz Schnyder, später einer der prominentesten Schweizer Filmregisseure, der durch eine Reihe von Gotthelf-Verfilmungen und den Farbfilm Heidi und Peter (1955) bekannt wurde. Den Holländer-Michel verkörperte Stefan Schnabel, der Bruder des Regisseurs, später in den USA als Schauspieler in zahlreichen Filmen erfolgreich. Die aus den Jahren 1931 und bis 18. Juli 1932 erhaltenen Tagebücher von Karl Ulrich Schnabel geben einen überraschend detaillierten Einblick in die Entstehungsgeschichte des Films. Deutlich wird hier auch, wie ausdauernd Schnabel trotz widriger Umstände an seinem Projekt festhielt. Er nutzte insbesondere im Sommer 1931 jede Gelegenheit für Filmaufnahmen, so auch während seiner Konzertreisen durch Europa. Für weitere Drehorte wurde Schnabel in der Gegend um Potsdam, Babelsberg und Wannsee fündig. Am 14. Mai 1932 fanden die ersten Probeaufnahmen mit Darsteller/innen statt; gedreht wurde häufig spontan und ohne Genehmigung, teilweise unter Mithilfe von Passant/innen. Zur Verfügung standen nur einfache technische Mittel, was auch die Trickaufnahmen betraf, die dafür umso wirkungsvoller ausfielen. Schnelle Kamerafahrten wurden aus dem fahrenden Auto heraus gedreht. Am 7. Mai 1933 schrieb Therese Behr-Schnabel, die Mutter des Regisseurs, an ihren Mann Artur Schnabel: Mit Rulis [gemeint ist Karl Ulrich Schnabel, I. T.] Film klappt nichts, zunächst wird das Kopieren dauern und durch die Zensur kommt er auch nicht, es wirken zu viel Ausländer mit und auch dabei spielt das Arische die Hauptrolle […] es ist wenig Hoffnung … (Matterne/Schnabel-Mottier 2016, 1001)20
18Freundliche
Mitteilung von Raff Fluri. Eine Verwechslung mit Zuckmayers Stück Das kalte Licht (1955) kann nicht vorliegen, da sich dieses auf Ereignisse von 1950 (Atomspionage) bezieht. 19Für großzügige Überlassung weiterer Informationen und den Zugang zum Film danke ich Raff Fluri. 20Laut Fluri (2017, 61) gibt es bislang keinen Nachweis, dass Schnabel den Film tatsächlich zur Zensur vorgelegt hat. Es gibt keine Zensurkarte, da es sich um einen Schmalfilm handelt (die damals, als „Kulturfilme“, vom Zentralinstitut für Erziehung behandelt wurden). Hinweise, dass er den Film vorgezeigt hat, gibt es jedoch schon: einen kleinen Zettel mit einer Wegbeschreibung zum Reichsministerium sowie den Brief von Karl Ulrichs Eltern (schriftliche Mitteilung von Raff Fluri vom 17. April 2019).
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Die Brüder Karl Ulrich und Stefan Schnabel gehörten als sogenannte Halbjuden zu den rassisch Verfolgten und auch andere an diesem Projekt Beteiligte unterlagen nationalsozialistischer Verfolgung oder Diskriminierung. Am 12. Mai 1933 kam der Film in einer stark gekürzten Fassung vor Fachleuten intern zur Aufführung. Therese Behr Schnabel schilderte das Ereignis am Tag darauf ihrem Mann: Also heute wurde nochmals der Film vor einem Filmverständigen, der Rulis Machwerk vielleicht erwirbt, vorgeführt […]. Ja sie waren alle sehr angetan und dieser Herr, wenn ich nur seinen Namen behalten hätte, möchte den Film erwerben! Ruli gibt ihn nicht unter, halt Dich fest, 80.000 Mark, es ist zum hinschlagen, Stefan platzt. (Matterne/ Schnabel Mottier 2016, 1001)
Doch daraus wurde nichts. Im frühen NS-Staat konnte der Film aus politischen Gründen nicht fertiggestellt werden. Bereits am nächsten Tag verließ die Familie Berlin – ohne die Filmstreifen – in Richtung Italien, zunächst für die Sommerferien, doch kehrte sie nicht mehr zurück. Nur Karl Ulrich Schnabel kam mehrfach wieder nach Berlin, wo er weiterhin versuchte, als Pianist voranzukommen. Die Lage in Nazideutschland zwang ihn jedoch, im Frühjahr 1934 Berlin endgültig zu verlassen; 1939 emigrierte er schließlich in die USA. Sein Bruder Stefan ging bereits 1933 ins Exil, zunächst nach Großbritannien, 1937 in die USA (vgl. Matterne 2012; Fluri 2017, 61). Der Film war über Jahrzehnte verschollen, bis er Ende 1990 bei der Witwe des Pianisten Hans-Erich Riebensahm im Auftrag von Karl Ulrich Schnabel abgeholt wurde. Schnabel suchte lange nach den Filmrollen mit dem fast fertigen, aber stark gekürzten Film, stieß aber immer wieder auf die Filmrollen mit den Negativen und Arbeitsmaterialien. Die Restaurierung wurde erst kürzlich durch einen 2009 gemachten Zufallsfund des Schweizer Filmemachers Raff Fluri und sich anschließende umfangreiche Recherchen möglich. Fluri besorgte auch die Neueinrichtung des Films, sodass dieser am 3. Juli 2016 auf dem Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) endlich uraufgeführt werden konnte. Da sich die ursprüngliche definitive Fassung anhand des vorliegenden Materials (erhaltene Filmteile, ursprüngliches Skript, maschinengeschriebenes Transkript, von Schnabel gewünschte Änderungen und Anweisungen auf Notizzetteln) nicht genau definieren lässt, war es bei der Rekonstruktion das Ziel, auf der Basis der gekürzten Version von Mai 1933 eine möglichst originalgetreue Fassung zu erstellen, die Schnabels Vorstellungen, gleichzeitig aber auch heutigen Sehgewohnheiten entsprechen sollte. Schließlich wurde noch eine von Schnabel offenbar nicht vorgesehene Musiktonspur ergänzt: Der US-amerikanische Komponist Robert Israel gestaltete sie, wobei er Werke bekannter Komponisten mit Eigenkompositionen kombinierte und so eine vielschichtige orchestrale Begleitung der visuellen Darbietung schuf. Der Film wurde, wie gesagt, hauptsächlich in und um Berlin gedreht. Er spielt nicht in einer unbestimmten Märchenzeit, sondern orientiert sich im szenischen Setting eher am späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Manche Einstellungen gleichen Sozialstudien in Binnenräumen, sie erscheinen wie Fotografien aus dem Kontext der sozialhygienischen Debatte des späten 19. Jahrhunderts (Abb. 1a).
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Abb. 1 a Peter findet Zuflucht bei einer Familie auf dem Land. Karl Ulrich Schnabel/Raff Fluri, Das kalte Herz (1933/2016), Screenshot. (© 2016 Ann Mottier-Schnabel/Raff Fluri), b Peter träumt vom Holländer-Michel. Karl Ulrich Schnabel/Raff Fluri, Das kalte Herz (1933/2016), Screenshot. (© 2016 Ann Mottier-Schnabel/Raff Fluri)
Abb. 2 a Der Holländer-Michel verfolgt Peter im Wald. Karl Ulrich Schnabel/Raff Fluri, Das kalte Herz (1933/2016), Screenshot. (© 2016 Ann Mottier-Schnabel/Raff Fluri), b Lisbeth überlegt, ob sie dem alten Mann helfen soll. Karl Ulrich Schnabel/Raff Fluri, Das kalte Herz (1933/2016), Screenshot. (© 2016 Ann Mottier-Schnabel/Raff Fluri)
Andere ähneln volkskundlichen Feldaufnahmen. Dazu findet sich, in zentralen Szenen, ausdrucksstarker Einsatz typografischer Elemente (Abb. 1b). Landschaft wird als expressiver Gefühlsraum inszeniert. Es gibt Überblendungen, Doppelbelichtungen, Negativbilder und bewusst eingesetzte Unschärfen (Abb. 2a). Schnelle Schnitte und Bildwechsel wechseln sich mit sehr langsamen Einstellungen ab, beide Verfahren können als psychologische Studien fungieren, im ersten Fall für die Illustration seelischer Zerrissenheit und Zerstörung, im zweiten für das Reifen von Entscheidungen (Abb. 2b). Narrativ arbeitet der Film innerhalb einer linear verlaufenden Haupterzählung mit Rückblenden, Vorausahnungen und Traumsequenzen. Im Zusammenspiel der bildlichen und narrativen Strategien entsteht die aus heutiger Sicht frappierende Modernität des Films, die seither von keiner anderen Adaption mehr erreicht wurde.
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Die Aufnahmen von Peters Weltreise, die etwa ein Sechstel der Laufzeit des ganzen Films ausmachen, mit Bildern von berühmten Plätzen und Gebäuden in vielen Ländern, von einer Opernaufführung und von Festen, waren teilweise während der Konzert- und Ferienreisen Schnabels entstanden und wurden nun für den Film verwendet. Sie wirken wie eine Reportage und haben aus heutiger Sicht dokumentarischen Charakter. Teilweise wurde Schnyder als Peter nachträglich durch Schnabel so hineingesetzt, dass beim Zuschauer das Gefühl entsteht, gemeinsam mit dem Protagonisten Peter Munk ziellos durch die Welt zu irren. Dabei gelang es ihm durch eine geschickte Montage, Symbole zu schaffen, die in subtiler Weise auf die Gefühlswelt Peter Munks verweisen. Nebst der vielschichtigen Symbolik und intelligenten Querverweisen, gelangen ihm auch Aufnahmen, die sich zu Zeitzeugen entwickelten und dem Film eine wichtige dokumentarische Komponente geben, weshalb wir die gesamte Reise unverändert in ihrem ursprünglichen Zustand liessen.21
Im Flyer zum Film heißt es zutreffend: Der Film war seiner Zeit weit voraus. Die Fertigstellung 80 Jahre später führt zu einem unvergleichlichen Kinoerlebnis: Eine Mischung aus archaisch-analogen, lebhaften Spezialeffekten, visueller Kompensation fehlender Sprache, neuartigen Erzählstrukturen und ungewöhnlicher Kameraführung. Da der Film nicht von einem grossen Studio produziert wurde, konnte der Regisseur und Autor seine Fantasie und Experimentierlust frei ausleben. Daraus entstand ein Film, dessen Grenzen nur durch die damaligen technischen und finanziellen Möglichkeiten gesetzt wurden, und K. U. Schnabel scheute keine Mühe, um diese Grenzen zu überwinden.22
Zusammenfassend lässt sich schließlich mit Kristina Köhler (2016) zu diesem außerordentlichen Film sagen: Mit seiner Vorliebe für magische Tricks scheint „Das Kalte Herz“ vom frühen Kino inspiriert; mit seinen Aussenaufnahmen und den surrealistischen Momenten orientiert sich der Film zugleich an den Elementen einer avantgardistischen Bildsprache, wie sie das Kino der 1920er Jahre prägt.
Schlussgedanken Die filmische Rezeptionsgeschichte von Hauffs Märchen ist umfangreich, sie beginnt im frühen 20. Jahrhundert und setzt sich bis in die Gegenwart fort. Ein Grund für den medialen Erfolg dürfte die von Ewers hervorgehobene Vieltönigkeit
21Schriftliche Mitteilung von Raff Fluri vom 6. Mai 2017; zu den erwähnten intelligenten Querverweisen erläutert Fluri eine in der Staatsoper Berlin gedrehte Szene: Dort wird die Oper Zar und Zimmermann von Albert Lortzing aufgeführt und Peter empfindet keine Freude daran. Das Subtile daran ist, dass die Oper den Untertitel Die beiden Peter trägt. 22Der Flyer ist über die sehr informative Website zum Film (https://daskalteherz.com) erhältlich: https://www.dropbox.com/sh/221l7ja9pftajxi/AACGUUWqTCus3G4yPgzraH1ba?dl=0&pre view=DKH_flyer_a4_d_web.pdf, 30.03.2019. Auf der Website finden sich auch Filmstills und weiteres Bildmaterial sowie ein Trailer zum Film.
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sein (1990, 132 f.), eine Beobachtung, die sich nicht nur auf die Texte, sondern auch auf die filmischen Adaptionen beziehen lässt. Ein damit zusammenhängender weiterer Grund ist die bereits früh attestierte filmische Qualität der Hauff‘schen Texte, wie oben ebenfalls kurz ausgeführt wurde. Was die Innovativität der jüngsten Verfilmungen – auch im Hinblick zur oben skizzierten Modernität von Hauffs Texten als Vorlagen – angeht, bedarf es genauerer Analysen, sie standen hier nicht im Fokus. Doch sei als Eindruck formuliert, dass sowohl Hauffs Märchen selbst als auch einige der frühen Verfilmungen sehr viel mutigere Produktionen waren, als die neueren es sind – auf ästhetischer, technischer oder auch inhaltlich-gesellschaftsbezogener Ebene. Dies mag damit zusammenhängen, dass beispielsweise die gegenwärtigen TV-Produktionen ohnehin eher konservativ ausgerichtet sind (vgl. Lötscher 2017; Scherer 2019); dies mag aber auch der Tatsache geschuldet sein, dass Innovativität und Experimentierfreudigkeit im Film zurzeit nicht im Crossover-Segment Familienfilm, zu dem die Verfilmungen von Hauffs Märchen immer noch gehören, angesiedelt ist. Einzig der Film Das kalte Herz von Johannes Naber (2016) geht ansatzweise neue Wege, etwa indem er die Darstellung des Schatzhausers mit gleichzeitig archaisch-naturmythologischen Vorstellungen und ökologisch begründeten Thesen verknüpft. Von einem Medienverbund im Sinne eines geplanten Medienverbundsystems kann im Zusammenhang mit den Verfilmungen von Hauffs Märchen nicht gesprochen werden, doch haben diese literarischen Stoffe aus dem frühen 19. Jahrhundert zu einem vielschichtigen Korpus mannigfacher medialer Produkte geführt, die intertextuell alle auf die Märchen-Vorlagen Hauffs bezogen sind. Die Recherche zu den frühen Verfilmungen hat ganz unterschiedliches Material zutage gefördert. Bei einigen Filmen konnte mehr zu Produktionszusammenhängen, bei anderen mehr zur zeitgenössischen Rezeption herausgefunden werden. Alle diese Filme, die hier nur im Sinne eines Überblicks besprochen wurden, verdienten eine eingehendere Analyse, sowohl im Bezug auf die Produkte selbst als auch im Hinblick auf Aspekte ihrer Produktion, Distribution und Rezeption sowie auf ihren zeitgenössischen politischen, gesellschaftlichen und filmästhetischen Kontext. Die Filme adaptieren die Vorlagen auf ihre je spezifische Weise – historisierend, aktualisierend, ideologisierend, ästhetisierend, psychologisierend, popularisierend (vgl. Gast 1993, 49–52) – und tragen so durch Expansion, Modifikation und Transposition (vgl. Doležel 1998, 206 f.) zu ihrer Transformation (vgl. Kreuzer 1981, 36–41) bzw. zur innovativen Fortschreibung (vgl. Bogner 2004, 438), Differenzierung und Diversifizierung des Ausgangstextes und seiner Bedeutungsebenen bei.23
23Die
Filmografie enthält nicht die im Text nur erwähnten, aber nicht besprochenen neueren Filme zu Hauffs Märchen.
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Literatur Primärliteratur Hauff, Wilhelm: Märchen von Wilhelm Hauff. Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls. Gesamtauflage 151 000. München [u. a.] 1965. Hauff, Wilhelm: Sämtliche Märchen. Mit den Ill. der Erstdrucke. Hg. von Hans-Heino Ewers [1986]. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 2003.
Filmografie23 Das kalte Herz (D 1933). Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera: Karl Ulrich Schnabel. Ausführende Produzenten: Hermann Hochgesand, Hans-Erich Riebensahm. Rekonstruktion (Schweiz 2016). Projektleitung, Produktion, Schnitt: Raff Fluri, Verein Nachtlicht Media, Burgdorf (CH) (BluRay). Das kalte Herz: Der Pakt mit dem Satan (D 1923). Regie: Fred Sauer. Hermes Film. Standort: Bundesarchiv, Abt. Filmarchiv, Berlin (analog). Das Wirtshaus im Spessart (D 1923). Regie: Adolf Wenter, Orbis-Film GmbH, Deutsches Filminstitut (analog). Der falsche Prinz. Ein deutsches Märchen im orientalischen Gewande (D 1922). Regie: Erwin Báron. Universum-Film AG (Ufa) – Kulturabteilung. Standort: Friedrich-Wilhelm-MurnauStiftung, Wiesbaden (analog). Der kleine Muck. Ein Märchen aus dem Morgenlande (D 1920/21). Regie: Wilhelm Prager. Universum-Film AG (Ufa) – Kulturabteilung. Standort: Bundesarchiv, Abt. Filmarchiv, Berlin (analog). Der kleine Muck. Ein Märchen für große und kleine Leute (D 1944). Regie: Franz Fiedler. Sonne-Film. Deutsches Filminstitut (analog). TV-Sendung des rbb: 04.07.2004 und 19.02.2006. Zugänglich unter https://www.youtube.com/watch?v=JN0plalQZYI (31.03.2019). Kalif Storch (A 1921). Regie: Hans Berger und Ladislaus Tuszinsky. Film-Werke AG, Deutsches Filminstitut (analog, mit Virage). Kalif Storch [Silhouetten-Animationsfilm] (D 1923). Regie: Ernst Mathias Schumacher. Colonna-Film GmbH. Dänisches Filminstitut (analog); Bundesarchiv, Abt. Filmarchiv (analog; Fragment). Zugänglich: Die Klassiker von Lotte Reiniger [Teil 4]. Lotte Reinigers Doktor Dolittle & Archivschätze, Absolut MEDIEN/ARTE Edition (DVD). Kalif Storch [Silhouetten-Animationsfilm] (D 1930/31 [stumm]; 1937 [vertont]; 1942 [neu vertont]). Regie: Ferdinand Diehl. Gebrüder Diehl-Filmproduktion. Deutsches Filmmuseum. Zugänglich (Fassung von 1937): Märchen Zauber. Die schönsten Märchen. Gebrüder Diehl Puppentrick-Edition, Tacker Film/Deutsches Filmmuseum (DVD). Kalif Storch [Silhouetten-Animationsfilm] (D 1935). Regie: Lotte Reiniger; The Caliph Stork [Silhouetten-Animationsfilm] (Großbritannien 1954). Regie: Lotte Reiniger. Deutsches Filmmuseum. British Film Institute. Zugänglich: Lotte Reinigers schönste Filme. Eine Auswahl aus der Gesamtedition, Absolut MEDIEN / ARTE Edition, hg. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filminstitut – DIF und Primrose Productions (DVD). Sumurun (D 1920). Regie: Ernst Lubitsch. Projektions-AG Union (PAGU) für Universum-Film AG (Ufa), Transit Film (DVD).
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Sekundärliteratur vor 1945 Anzeige: Der neue große Ausstattungsfilm der GLORIA. In: Kinematograph 21 (1927) 1042 vom 02.06., 2. Anzeige des Universum Film-Verleihs. In: Der Kinematograph 20 (1926) 1031 vom 21.11., 27. Anzeige der Gloria-Film. In: Der Kinematograph 21 (1927) 1042 vom 02.06., 2. Brauner, Ludwig: Spezialitäten-Kinos. In: Der Kinematograph 2 (1908) 89 vom 09.09., 1–2. Reiniger-Koch, Lotte: Wie ich meine Silhouettenfilme mache. In: Edgar Beyfuss/Alex Kossowsky (Hg.): Das Kulturfilmbuch. Berlin 1924, 205–209. Reiniger, Lotte: Das Papier als Filmdarsteller. In: Heinz Schnakenburg (Hg.): Zu den drei Fischen im Papier. Eine Chronik des Papierberufs. Berlin 1935, 117–118. Schulhof, Hilde: Wilhelm Hauffs Märchen. In: Euphorion 29 (1928) 108–132. Waschneck, Ernst: Der kleine Muck [Plakat]. 1920, http://www.filmposter-archiv.de/filmplakat. php?id=24181 (21.03.2019).
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Klassiker in allen Medien
Max und Moritz quer durch die Medien Und insbesondere im Comic Strip Bernd Dolle-Weinkauff
Abstract When Wilhelm Busch created the picture story Max und Moritz (1865) by transforming the cautionary tale of bad boys into a story of boy’s pranks it soon became the paradigmatic representant of a new genre. In the course of the following 50 years a long sequence of media appeared that referred to Busch’s work. Together with theatre in different forms the new media film and broadcast participated in this development. Nevertheless the print media, picture books and picture stories in periodical publications were the most important, leading factor: the numerous new editions and translations of Max and Moritz as well as the so called „Buschiaden“, adaptations and parodies. These created the patterns for all other media. The impact of the story of Max und Moritz can thus be described as a rudimentary media composite phenomenon, which is characterized by a continued dominance of the starting medium and the substance presented therein, with marketing and planned economic control, as they distinguish modern media networks, rather than it was the change from one print medium to another which was ultimately responsible for further developement. With the reception of Busch’s paradigmatic stories about boy’s pranks in the popular weekly press of the United States, Rudolph Dirks series The Katzenjammer Kids (1897) founded a dynamic that led to the new narrative form comic strip by the turn of the century.
B. Dolle-Weinkauff (*) Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_14
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B. Dolle-Weinkauff
Wilhelm Busch und die Genese der BubenstreichErzählung In Wilhelm Buschs Max und Moritz (1865) laufen nicht nur viele einzelne Referenzen zu vorbekannten Werken, Motiven und Figuren als „Vorläufer und Parallelen“ (so etwa Ries Bd. 1., 1278 ff.) zusammen; es lassen sich vielmehr drei gattungsgeschichtliche Linien ausmachen, die in Max und Moritz geradezu prototypisch zur neuen Form der Bubenstreich-Erzählung vereinigt werden (Abb. 1). Die Grundfolie bildet dabei die moralische Erzählung, eine Gattung spezifisch kinderliterarischer Provenienz, die es ermöglichte, das Werk erfolgreich den aktuellen Trends des kinderliterarischen Marktes anzuschließen. Das böse Kind spielt als Schreckbild und pädagogisches Exempel seit der Aufklärung eine wachsende Rolle in der Kulturgeschichte und wird zum bevorzugten Gegenstand einer einschlägig ausgerichteten Kinderliteratur (vgl. Richter 1993, 199). Die seit dem späten 18. Jahrhundert höchst erfolgreiche pädagogische Warngeschichte und die im 19. Jahrhundert daraus entwickelte moralische Erzählung fundieren die scheinbare Intention und die Tonlage des Schrifttextes, der auf den ersten Blick die Gattungstradition bruchlos fortzuschreiben scheint. Dem gehen in den Bildgeschichten in Buschs Frühwerk einige Beispiele für die Rezeption
Abb. 1 Erstausg. von Max und Moritz, Umschlag und Prolog. (© München: Braun & Schneider, 1865)
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und Verarbeitung typischer Züge der pädagogischen Warngeschichte voraus. Genannt seien hier exemplarisch die Verserzählung Diogenes und die bösen Buben von Korinth, die zuerst 1862 in Fliegende Blätter (Heft 881) und ein Jahr später in variiertem Layout als Münchener Bilderbogen (Nr. 350) erschien, und der Münchener Bilderbogen (Nr. 361) Der hinterlistige Heinrich von 1864. Beide Erzählungen schildern kindliche Untaten, die als Verstöße gegen die guten Sitten bzw. erzieherische Gebote markiert und – begleitet von pädagogischen Kommentaren – mehr oder weniger drastisch bestraft werden. Dass Busch in dieser Phase vielfach mit Figuren und Handlungselementen operierte, die später in Max und Moritz wiederkehren, zeigt sehr anschaulich die 1863 entstandene, erst 2008 wieder aufgefundene Skizze einer vollständigen, noch nicht mit Schrifttext versehenen Bildgeschichte mit dem Titel Der Kuchenteig (Platthaus 2010). Das Motiv der Handlung und seine zeichnerische Ausführung, wie auch das Äußere des Protagonisten, eines naschhaften Kindes, das in den Teig gefallen ist, wirken wie Module, die wenig später im 6. Streich von Max und Moritz wieder verwendet werden. Die ganz und gar von didaktischen Zielsetzungen getragene Traditionslinie der Moralischen Erzählung wird bei Busch amalgamiert mit Anleihen bei einer unterhaltsam-folkloristischen „Kunstform des Jahrmarkts“ (Braungart 1985, 9), dem Bänkelsang, dessen Ursprünge bis in das 16. Jahrhundert zurückgehen. Auch ist in der Praxis des Bänkelsangs eben jene untrennbare Verknüpfung von Sprache und Bild vorgeprägt, welche die Erzählweise der Bildgeschichte auszeichnet. Der Bänkelsang – bzw. die Moritat – hat für Max und Moritz Pate gestanden für den eingängigen Rhythmus der Verserzählung ebenso wie für deren Inhalt, den Bericht von Untaten und frivolen Verletzungen des geltenden Rechts. Es ist im Übrigen der typische Gestus des Bänkelsängers, der mit Aufmerksamkeit heischendem, lautem Wehgeschrei die Erzählung eröffnet („Ach, was muss man oft von bösen / Kindern hören oder lesen“), um sogleich mit dem Zeigestock auf die Porträts der Helden zu weisen („Wie zum Beispiel hier von diesen, / welche Max und Moritz hießen;“), deren Untaten er im Folgenden genüsslich ausmalt: An die Stelle der Panelfolge der Moritatentafel tritt die Bildersequenz im Buch, die einige Verwandtschaft mit den von den Bänkelsängern des 19. Jahrhunderts verkauften Bilderbogen und Begleitheftchen aufweist, aber den Vorzug besitzt, sehr viel ausführlicher erzählen zu können. Nicht zu übersehen ist auch hier, dass die Anknüpfung an den Bänkelsang sehr deutlich bereits in früheren Werken hervortritt und „sowohl typologisch wie entwicklungsmäßig Grundmuster für kommende Werke“ ausbildet (Pape 1981, 321). Als Beispiel dafür lässt sich Buschs Beitrag zu Fliegende Blätter Nr. 796 von 1860 mit dem Titel Trauriges Resultat einer vernachlässigten Erziehung anführen, die in einigen Teilen ferner auf Anregungen durch Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845) verweist (vgl. Pape 1981, 322 ff.). Eine dritte hier erkennbare Gattungslinie deutet sich ebenfalls bereits im Schrifttext des Prologs von Max und Moritz an, wenn es von den Helden heißt: „Die, anstatt durch weise Lehren / Sich zum Guten zu bekehren / Oftmals noch
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darüber lachten / Und sich heimlich lustig machten.“ Weder die kindlichen Missetäter der moralischen Erzählungen noch die tragischen oder finster-mordlustigen Protagonisten der Moritaten weisen einen derartigen Hang zum Komischen auf, wie es bei Max und Moritz der Fall ist. Weit mehr noch als der Schrifttext zeugt davon die bildliche Inszenierung der Helden, denen das Vergnügen an der Sache bei jedem Streich buchstäblich ins Gesicht geschrieben steht – von der erwartungsvollen Freude bei der Vorbereitung bis zum Jubel über das Glücken des Anschlags; und selbst „Fein geschroten und in Stücken“ weisen ihre Physiognomien noch jenes spitzbübische breite Grinsen auf, mit dem sie in der ersten Abbildung im Prolog eingeführt worden waren. Der hier zu Tage tretende Heldentypus lässt sich zurückführen auf die frühneuzeitlichen Schalksnarren in der Art des Till Eulenspiegel und gewinnt im 19. Jahrhundert neue Popularität in den Schelmenerzählungen aus den Kalendergeschichten Johann Peter Hebels, die von dessen besonderer „Neigung zur Literarisierung subkultureller Phänomene“ zeugen (Franz 1995, 251). Die im Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811) gesammelten Erzählungen sind nach Ansicht von Dieter Arendt weit weniger „moralisch und erbaulich […] wie wir sie zu kennen wähnen aus unseren Schulbüchern“ (Arendt 1985, 410 und 417), sodass er für diese – in Anlehnung an Ernst Bloch – den Terminus Schelmenerzählung festlegt. Als Kernstücke gelten ihm daher die Diebesgeschichten vom Zundelheiner, Zundelfrieder und dem roten Dieter, die von allerlei Gaunereien ebenso wie von übermütigen Streichen handeln. Anders als in vielen Moritaten geht es hier nicht um besonders brutale Verbrechen – dem Publikum wird an Stelle der Lust am Grauen vergnügliche Unterhaltung durch mehr oder weniger raffinierte Spitzbübereien serviert. Der so geartete Schelm ist weniger ein Verbrecher und schon gar keine Schreckgestalt, sondern zeigt sich entweder als lächerlicher Tollpatsch oder als listenreiche, bisweilen durchaus sympathische Figur, wenngleich auch er – der Ordnung halber und erkennbar augenzwinkernd – getadelt werden muss. Nicht zuletzt dank dieser Vorläufer erhält der moralisierende Gestus der Verse in Max und Moritz eine naiv drapierte, ironische Färbung, sie sind, wie Friedrich Theodor Vischer urteilte, „komisch auch für sich“, nehmen „ganz naiven Schein an“ (Vischer 1881, 121). Die karikaturistischen Zeichnungen und eine entsprechende Bildregie weisen vielfach über diesen „naiven Schein“ (ebd.) hinaus, indem sie das Groteske und Lächerliche unverkleidet preisgeben. Stärker noch als in Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter (1845), der zu den unmittelbaren Vorläufern zählt, wird bei Busch die didaktische Aussage der moralischen Erzählung zur Fassade, ohne gänzlich zu verschwinden. Unterminiert von Karikatur und Ironie bleibt das Alibi einer Morallehre, geradezu beschwörend in den Versen des Vor- und Nachworts erhalten und gibt dennoch insbesondere auf der piktoralen Ebene dem Satirischen und der klammheimlichen Freude an den effektvoll inszenierten Untaten Raum. Busch forciert somit ganz entscheidend unter Rückgriff insbesondere auf die Schelmengeschichte und die folkloristische Tradition des Bänkelsangs den Bruch mit dem Verdikt des Karikaturistischen in der Kinderliteratur, den Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter provokativ eingeleitet hatte – und damit die Umfunktionierung der Moralischen zur Bubenstreich-Erzählung.
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Max und Moritz als Medienphänomen (1865–1930) Das im historischen Rückblick so erfolgreich erscheinende Bilderbuch Wilhelm Buschs aus dem Jahr 1865 war durchaus kein Bestseller auf Anhieb. Als es dem Autor gelang, das in wesentlichen Teilen bereits Ende 1863 abgeschlossene Werk schließlich bei Braun & Schneider in München unterzubringen, hatte er eine nicht erwartete Absage durch den Dresdener Verleger J. Heinrich Richter hinter sich, der kurze Zeit zuvor seine Bilderpossen verlegt hatte. Doch auch die Nachfrage nach dem Band bei Braun & Schneider verlief zunächst enttäuschend (vgl. Weissweiler 2007, 127). Zwar liegen keine Stellungnahmen aus der Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen vor, doch wird von Seiten des Verlags später dazu festgestellt, dass das Bilderbuch auf massive Ablehnung seitens der Pädagogen gestoßen sei und die Buchhändler deswegen nicht geglaubt hätten, dass überhaupt eine weitere Auflage zustande käme (vgl. Ries Bd. 1, 1339). So zog sich der Absatz der viertausend Exemplare der ersten Auflage bis 1868 hin. Mit diesem Jahr trat allerdings eine Wende ein; auf die zweite Auflage folgte noch im gleichen Jahr eine dritte und danach verging bis in die 1930er-Jahre kaum ein Jahr, in dem nicht wenigstens eine, häufiger auch zwei oder sogar mehrere neue Auflagen erschienen, sodass 1925 die hundertste Auflage bei Braun & Schneider in deutscher Sprache zu verzeichnen war (vgl. Liebert 1990, 141 ff.). Auch im Ausland fanden Übersetzungen alsbald Verbreitung, beginnend mit einer Ausgabe in dänischer Sprache 1866. Bis 1930 erscheint Max und Moritz in 20 Sprachen, wobei Osteuropa den Schwerpunkt bildet (vgl. Görlach 1982; Görlach 1997, 84 ff.). Namentlich im anglophonen Raum haben Buschs Bilderbogen und Bildgeschichten generell bereits vor der Jahrhundertwende weite Verbreitung gefunden, wenngleich es sich dabei vielfach um unautorisierte Übersetzungen und Plagiate handelte. Erleichtert durch „the failure of new efforts to legislate and enforce copyright vis-á-vis small fry like cheap magazine illustrations“ (Kunzle 1992, 99), scheinen sich insbesondere in Großbritannien und in den USA Autoren und Verleger von Bildgeschichten in beträchtlichem Umfang an den Werken Buschs vergriffen zu haben (ebd., 100 ff.). Dieser Befund wird bestätigt von Kevin Carpenters Untersuchungen zur humoristischen Massenpresse in England vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Vor allem im Hinblick auf Geschichten mit „bad boys“ und deren Untaten sieht er Wilhelm Buschs Bilderbogen und Bildgeschichten als wesentliche Impulsgeber an für die Herausbildung von zahlreichen „homegrown young scamps“, die in den 1890er-Jahren – häufig als Zwillingspaare – in den Londoner Witzblättern ihr Unwesen trieben (Carpenter 2018). Auch in den USA, wo das erste Plagiat bereits 1862 erschien (vgl. Jones/Brown 2007, 197), war das Werk Wilhelm Buschs gegen Ende des Jahrhunderts nicht unbekannt und genoss eine beträchtliche Popularität. Kunzle geht sogar so weit zu behaupten, „Busch’s style and subject-matter (if not his name) were disseminated […] especially in Britain and the United States, to literally millions of readers“ (Kunzle 1992, 99).
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Die erste englischsprachige Übersetzung von Max und Moritz wurde 1871 unter dem Titel Max and Maurice in der Übersetzung von Charles Brooks in einem Bostoner Verlag veröffentlicht – noch vor der ersten britischen Übersetzung 1873. Bis 1914 sind zehn US-amerikanische Ausgaben bzw. Nachdrucke nachgewiesen (vgl. Jones/Brown 2007, 180 und 193). Auch haben einzelne Autoren mehr oder weniger fragmentarische Adaptionen publiziert. Bei Rühle (1999, 508) ist ein offensichtlich in hoher Auflage erschienenes Werbeheft der Firma Clark’s Spool Cotton mit The Adventures of Teasing Tom and Naughty Ned von 1879 verzeichnet, als deren Verfasser H. Bashfield firmiert. Die sich eng an die beiden Witwe-Bolte-Streiche anlehnende Bildgeschichte führt vor, wie die Bolte’schen Hühner mit ONT-Nähgarn zur Strecke gebracht werden. Des Weiteren lässt etwa die Bildgeschichte The Revenge of the Persecuted Baker, die Franklin Morris Howarth 1891 im Satiremagazin Judge veröffentlichte,1 wohl das Vorbild des sechsten Bubenstreichs von Max und Moritz in der Backstube erkennen (vgl. Galway 2001, 189; Gravett 2005, 167). Harry Greening wiederum schuf mit den Protagonisten der kurzlebigen, nach wenigen Folgen eingestellten Serie The Tinkle Brothers, erschienen 1897 im New York Journal, gut erkennbare Nachgestaltungen der Figuren Max und Moritz (vgl. Gordon 1998, 33), die es am 3. Oktober sogar auf die Titelseite des American Humorist brachten.2
Die „Buschiade“ als Nachläufer: Nachahmung – Adaption – Parodie Diese letzteren Beispiele zählen zu einem Komplex, der in der Wirkungsgeschichte von Max und Moritz eine herausragende Stellung einnimmt. Ebenso wie Hoffmanns Bilderbuch zahlreiche Nachahmungen und mehr oder minder kreative Adaptionen in Gestalt sogenannter Struwwelpetriaden anregte, fand Max und Moritz seinen Niederschlag in einer Vielzahl von Folgepublikationen, die als Max-und-Moritziaden bzw. als Buschiaden bezeichnet werden. Die letztere Bezeichnung geht auf eine der in ihrer Wirkung im deutschsprachigen Raum langlebigsten Adaptionen zurück, die selbst bis in die Gegenwart in immer wieder neuen, dem Zeitgeschmack angepassten Varianten erschien und als das genderspezifisch umgemodelte Gegenstück zu den Bubenstreich-Erzählungen Wilhelm Buschs gelten darf: Lies und Lene, die Schwestern von Max und Moritz, wohl zuerst erschienen 1896, bereits 1897 die 10. Auflage erreichend, geschrieben
1Eine Abbildung
findet sich in Kunzle 1998, 167. Ähnlichkeit mit Max und Moritz geht so weit, dass sie von den Herausgebern eines Sammelbands mit Beiträgen zu den Vorläufern des Comic im 19. Jahrhundert, dessen Umschlag sie zieren, nicht als die Tinkle Brothers erkannt, sondern als „Max und Moritz […] by the German Wilhelm Busch“ bezeichnet wurden. Vgl. Lefèvre/Dierick 1998, 4 [Kommentar im Bildnachweis auf der Impressumseite].
2Die
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von Hulda von Levetzow und gezeichnet von Franz Maddalena, wird im Untertitel als Eine Buschiade für Groß und Klein in 7 Streichen bezeichnet.3 Werke dieser Art, von mir als Nachläufer benannt, zeichnen sich durch eine stets wiederkehrende, enge Anbindung an Buschs Max und Moritz aus, die nicht selten – wie etwa auch bei Lies und Lene – in der expliziten Berufung auf das Vorbild gipfelt. Unter den frühen Beispielen finden sich Titel wie Eduard und Ferdinand, mit Max und Moritz nah verwandt (um 1900) von Robert Hertwig oder solche ohne Verfasserangabe wie Max und Moritz. Bubengeschichten in Streichen für Groß & Klein (um 1890) und Neuer Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in 5 Streichen (um 1893), bei der ein Teil der Bilder Buschs mit neuen Schrifttexten versehen war. Dies setzt sich nach der Jahrhundertwende in immer neuen Publikationen fort, wie z. B. Max und Moritz im Luftballon. Allerhand lustige Fahrten zweier Lausbuben (um 1905) von Joseph Kohn, Fritz und Franz ein Brüderpaar, wie es Max und Moritz war (um 1915). Dass auch namhafte Autoren und Zeichner gerne auf das Buschiaden-Muster zurückgriffen und dies als Ehrung für Busch verstanden, zeigt etwa das 1903 zu dessen 70. Geburtstag erschienene Bändchen Die bösen Buben von Ludwig Thoma und Thomas Theodor Heine. Für den Zeitraum von 1911 bis gegen Ende der 1920er-Jahre verzeichnet Rühle mit allein 40 Titeln einen Höhepunkt der Produktion (Rühle 1999, 527 ff.), wobei nur die Bilderbücher erfasst sind, nicht aber die ebenfalls zahlreichen Kleinformen, die als Adaptionen und Parodien in Zeitschriften und Zeitungen publiziert wurden. Die Buschiade bleibt dabei erkennbar ihrem Vorbild verhaftet und bleibt in ihrem Formen- und Figureninventar sowie in den Konfliktschemata der Handlung weitgehend festgelegt. Sie ist daher nicht identisch mit der Bubenstreich-Geschichte als solche. Thematisch und stofflich erschließen die Buschiaden jedoch vielfach neues Terrain bzw. lassen sich auf sehr unterschiedliche Anwendungsbereiche applizieren und durchaus gegensätzlichen Intentionen unterwerfen. So können die Bösen Buben, wie im bereits genannten Beispiel von Heine und Thoma, 1903 als vehemente Kritiker der wilhelminischen Ordnung
3Demgegenüber präferiert Reiner Rühle, Bibliograf und Kommentator eines umfassenden Verzeichnisses von Adaptionen der bösen Kinder, sowohl Hoffmanns als auch Buschs den Terminus Max-und-Moritziaden in seiner 1999 erschienenen Publikation. Die dort aufgelisteten Titel umfassen neben den „bildlich oder textlich veränderten Ausgaben von Max und Moritz“ auch alle Titel, die von Rühle als „Nachahmungen, Parodien und Bearbeitungen“ angesehen werden (Rühle 1999, 15); diese Begriffe werden allerdings in verschiedener Hinsicht überaus weit gefasst: So werden als Tier-Max-und-Moritziaden mit Fipps der Affe (1879) und Plisch und Plum (1882) nicht nur spätere eigene Werke darunter subsumiert, sondern auch solche, die wie Diogenes und die bösen Buben von Korinth, bereits vor Max und Moritz entstanden sind. Darüber hinaus werden auch nicht wenige Geschichten aufgeführt, die mit Buschs Max und Moritz nicht mehr gemein haben als die Zugehörigkeit zum Genre Bubenstreich-Erzählung in Form einer Bildgeschichte. Der Terminus Max und-Moritziade gibt somit nominell eine Präzisierung vor, die an anderer Stelle zu vermissen ist. Ich ziehe daher den Begriff Buschiade vor und verwende ihn für solche unter der großen Zahl von Bubenstreich-Erzählungen in der Nachfolge von Max und Moritz, die manifeste Bezüge zu dem Prätext in Wort, Bild und Erzählweise erkennen lassen.
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auftreten, ebenso wie sie in Die Luftbuben (1915) von Curt von Frankenberg sowie Zeichnungen von Robert L. Leonhard und – nicht im Titel ausgewiesen: von Walter Trier (vgl. Rühle 1999, 532) – mit ihren Streichen für patriotische Zwecke dienstbar gemacht werden. Die hier ebenfalls hervortretende Behandlung technischer Innovationen, in diesem Fall die Luftfahrt, ist eine weitere Gemeinsamkeit nicht weniger Buschiaden. Deutlich wird hier eine Funktion, die an die medialen Ahnherren, Bilderbogen und Moritate erinnert. Auch bei der Jahrmarktskunst des Bänkelsangs und den Einblattdrucken handelte es sich um gleichsam flexible Medien, die ihr Publikum mit vertrauten Formen einerseits und unerhörten Neuigkeiten andererseits bedienten. So geht es offensichtlich auch bei den Buschiaden darum, dem Publikum zeitgenössische Phänomene als faszinierende Kuriosa zu servieren, wobei der Rückgriff auf die Figuren und Topoi Buschs deren Popularität gleichermaßen ausbeutet und fortschreibt. In der Geschichte der Buschiaden lässt sich dieser Zug als Einheit von formalem Stereotyp und stofflich-thematischer Aktualisierung bis in die Gegenwart sehr anschaulich verfolgen (vgl. Rühle 1999, 498 ff.). In den 1920er-Jahren insbesondere werden sie gerne für Reklamezwecke eingesetzt (Rühle 547 ff.) und avancieren andererseits in drei von Harry Rotziegel gezeichneten Episoden zu Mitarbeitern der kommunistischen Kinderzeitung Die Trommel (1926). Die meisten Buschiaden bleiben jedoch eher unpolitisch und verwenden ihre Kreativität auf das Ersinnen von Alltagsstreichen, Anschlägen auf vermeintliche oder tatsächliche Autoritäten und mehr oder minder friedliche Zeitgenossen. Sie orientieren sich enger oder weiter an markanten Motiven und Details aus dem Werk Buschs, am Äußeren der Helden, an bestimmten Formmerkmalen wie dem Format einer Serie von mehreren Streichen mit zwei Protagonisten, an der sprachlichen Fassung als Verstext und folgen strikt dem Prinzip der erzählenden Bildfolge. Die schlussendliche Bestrafung, nicht selten – wie bei Busch – mit dem Tode – ist nicht obligatorisch. Sie bleibt in dem Maße aus, wie die Protagonisten offen und unverstellt als Sympathieträger angelegt sind, deren Taten einem – wie auch immer gearteten – höheren Zweck dienen. Die Modifikationen der Neuerzählungen bestehen zumeist aus allgemeinen Modernisierungen des Milieus und der Requisiten, aus genderspezifisch variierten Protagonisten und Handlungen sowie aus der Anpassung an zeitgenössische, historische Umstände und Ereignisse – was etwa in der Ära des Ersten Weltkriegs zu einer Hochkonjunktur der Buschiade als Parodie geführt hat (vgl. Dolle-Weinkauff 2015, 46 f.; Sackmann 2016), für die hier als eines von vielen Beispielen Max und Moritz im Felde. Eine lustige Soldatengeschichte genannt sei (Abb. 2). Sie macht deutlich, wie das Vorbild Wilhelm Buschs in der Darstellung der Protagonisten und in der Sprache des Schrifttexts fortgeschrieben wird, während die Story eigene Wege beschreitet.
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Abb. 2 Die Buschiade als Kriegssatire: Max und Moritz im Felde. (© Berlin: Schneider, [1915])
Max und Moritz auf der Bühne … Als Buschiaden lassen sich auch nahezu alle bislang bekannten Dramatisierungen im Zeitraum bis 1930 kennzeichnen, beginnend mit der ersten von 1877, die sich – wie Ries (Bd. 1, 1346) zu Recht nachweist – als von Busch genehmigte Bühnenadaption bezeichnet. Max und Moritz. Ein Bubenstück in 7 Streichen (2 Abtheilungen) von Leopold Günther, musikalisch unterlegt von Fritz Becker, erscheint im Berliner Verlag der Theaterbuchhandlung Kühling & Güttner 1877. Die Uraufführung findet am 03. März des Folgejahres im Großherzoglichen Hofund Nationaltheater zu Mannheim statt (Görlach 1990, 130). Den Handbüchern des ehemaligen Württembergischen Hoftheaters in Stuttgart zufolge lassen sich nach der dortigen Erstaufführung von 1882 für die Jahre 1883 bis 1902 insgesamt 14 jährliche Wiederaufnahmen in die Spielpläne nachweisen (vgl. Krekler 1979, 247). Weitere Aufführungen sind belegt für das Großherzogliche Theater Oldenburg 1894 und 1907, im Wiener Prater 1900 und im Bonner Stadttheater 1914. Es spricht für die sicherlich nicht geringe Bedeutung dieser Dramatisierung während der gesamten wilhelminischen Ära, wenn Astrid Lange-Kirchheim in ihrer Arbeit über die Rezeption von Max und Moritz im Werk Franz Kafkas nachweist, dass die Günthersche Bearbeitung noch 40 Jahre nach der Uraufführung in der Spielzeit 1916/1917 am Neuen Deutschen Theater in Prag höchst
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erfolgreich aufgeführt wird. Wie die Tageszeitung Bohemia berichtet, war eine außerordentlich rege Nachfrage nach Karten für den „Kinderschwank“ zu verzeichnen (Lange-Kirchheim 2004, 164 f.). Wenn Torsten Körner in seiner Heinz Rühmann-Biografie angibt, dieser habe 1925 ebenfalls in einer Inszenierung der Bearbeitung von Leopold Günther an den Münchener Kammerspielen die Rolle des Max übernommen, so wird deutlich, dass diese Geschichte sich auch noch in den Jahren der Weimarer Republik fortsetzte (vgl. Körner 2001, 413). Unter diesen Umständen ist es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass sich ein Bericht des Film-Kurier über eine Max und Moritz-Aufführung von 1913 am Luisentheater in Berlin-Kreuzberg, an der Veit Harlan, später ein den NS-Machthabern dienstbarer Schauspieler und Regisseur, in jungen Jahren mitgewirkt haben soll, ebenfalls auf eine Inszenierung des Güntherschen Stücks bezieht (vgl. Kienzl 1942, 3 f.). Bis 1930 lassen sich ein gutes Dutzend weitere Dramatisierungen des Max und Moritz-Stoffs von unterschiedlichen Autoren ermitteln, die allermeisten davon als gedruckte Bühnentexte aus verschiedenen Verlagen, einige wenige auch durch Pressemeldungen und archivierte Theaterzettel (vgl. Rühle 1999, 605 ff.). Wie bereits das Stück von Leopold Günther waren manche davon, wenn nicht die meisten, als Weihnachtsspiele angelegt, wie etwa Max‘ und Moritz‘ Weihnachtsfahrt. Ein Kinderspiel zum Weihnachtsabend von Regina Angres und Max und Moritz in der Himmelswerkstatt. Ein Weihnachtsspiel für Kinder mit Gesang und Tanz in drei Aufzügen von Rudolf Göthner (1925). Durchwegs handelt es sich um Possen und Komödien mit musikalischer Untermalung; einige wie Max und Moritz als Schulschwänzer (1906) sind als Pantomimen ausgewiesen. Diese Letztere zählt – neben Max und Moritz auf dem Ferkelmarkt von Emmeran Gleißner (1927) – zur Minderheit derjenigen Stücke, in denen das Schelmentum der Helden nahezu unsanktioniert gefeiert wird. Rühle notiert dazu, dass die Protagonisten hier „statt in die Schule zu gehen, Würstchen beim Fleischer und Brötchen beim Bäcker stehlen“ und betrachtet es als „Höhepunkt dieser siegreichen und straffreien Anarchie […], daß sie auch noch die Schulglocke läuten, und deshalb alle Schulkinder vorzeitig nach Hause gehen können“ (Rühle 1999, 607). Die Mehrzahl dagegen nimmt sich ausgesprochen moralisierend aus und rückt die Buschiaden daher sehr viel enger an die Tradition der moralischen Erzählung heran. Nicht selten kommt hier auch das der Lausbubengeschichte eher fremde Motiv der Bekehrung und Läuterung vor, wie etwa in dem patriotischen „Jungmannen-Spiel“ von Margarete Reichert Max und Moritz im Schützengraben aus dem Kriegsjahr 1916, wo es um die Heilung eines notorischen Aufschneiders geht. Nicht immer sind die gedruckten Texte zur öffentlichen Aufführung auf Bühnen oder für die Laienspielpraxis gedacht. Ein weiteres Medium, welches hier ins Spiel kommt, ist das für die Kinderstube bestimmte Papiertheater, von dem etwa Ernst Siewerts zuerst 1887 bei Schreiber in Eßlingen publiziertes Heft Max und Moritz oder Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein zeugt (Abb. 3). Hier bietet die Druckschrift nicht nur den Text, sondern im Anhang kolorierte Figuren zum Ausschneiden für die Aufführung mit der Papierbühne.
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Abb. 3 Max und Moritz im Papiertheater. Stück von Ernst Siewert. (© Eßlingen: Schreiber, 1887)
Eine für die Verbreitung der Max und Moritz-Stücke und die Aufführungspraxis in mancher Hinsicht aufschlussreiche Fotografie aus dem frühen 20. Jahrhundert4 findet sich in dem Band 125 Jahre Max und Moritz (Görlach 1990, 136). Die Aufnahme zeigt eine von festtäglich gekleidetem Publikum umlagerte improvisierte Straßenbühne auf einem innerstädtischen Platz, zu der ein breiter Treppenaufgang hinaufführt und die von einem geschwungenen großformatigen Schild mit der kyrillischen Aufschrift Maкc и Mopиц, darunter ‚Max und Moritz‘ in kleineren lateinischen Buchstaben, gekrönt wird. Im zentralen Bildhintergrund befindet sich ein die gesamte Häuserfront abdeckendes Bühnenbild mit zahlreichen Zeichnungen, die sich als recht originalgetreue Vergrößerungen einzelner Figuren und Szenen aus der Bildgeschichte von Wilhelm Busch identifizieren lassen. Davor haben sich die Darsteller der Aufführung – deutlich zu erkennen die Witwe Bolte sowie die Protagonisten – auf Stühlen niedergelassen, zusammen mit weiteren, zumeist in historischen Uniformen kostümierten weiblichen und männlichen Personen. Dass es sich um eine Aufführung eines professionellen Ensembles handelt, ist eher unwahrscheinlich. Die Umgebung, die Machart des Bühnenbilds und die Präsentation der Mitwirkenden legen es nahe, dass hier eine Laienspielgruppe agiert. Im Hintergrund links von der Bühne ist eine Gruppe von Männern zu erkennen, die in der Art historischer Herolde kostümiert sind. Die Szenerie ist von Fahnen- und Girlandenschmuck an den Häusern und über der Straße gerahmt. Dies deutet darauf hin, dass es sich um eine Aufführung im Rahmen öffentlicher Feierlichkeiten, möglicherweise eines Stadtjubiläums oder
4Als
Ort der Aufnahme wird St. Petersburg angegeben. Die Bildlegende datiert die Aufnahme „vor 1918“. Es ist aber anzunehmen, dass diese aus der Vorkriegszeit stammt, genauer gesagt vor 1914, denn die Stadt wurde 1914 in Petrograd umbenannt.
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dergl. handelt. Sollte die Ortsbezeichnung St. Petersburg zutreffen, so könnte es sich um eine Szene eines Fests von 1903 aus Anlass der 200. Wiederkehr des Jahrestags der Stadtgründung durch Peter I. (1672–1725) im Jahr 1703 handeln. Die Aufführung dürfte dann ein Beitrag aus den Reihen der deutschen Gemeinde, welche die zahlenmäßig größte Minderheit in der Stadt ausmachte, bzw. der über ein Dutzend nahegelegenen deutschen Kolonien (vgl. Busch 1995), gewesen sein. … und auf der Leinwand Auch das neue Medium Film hat sich offenbar in größerem Umfang der Bubenstreich-Geschichte Wilhelm Buschs angenommen. Nachweisen lassen sich bis 1930 etwa 20 Verfilmungen unterschiedlichster Art, von denen allerdings die wenigsten erhalten geblieben bzw. auffindbar sind. Die Hinweise in der Literatur auf diese sind weitaus weniger präzise und ausführlich als im Fall der Printmedien und lassen sich im Einzelnen kaum überprüfen.5 Die ersten hier genannten Max und Moritz-Produktionen stammen aus den Jahren 1906 bis 1908 und werden allesamt der Berliner Kinematografen– und Lichtbildgesellschaft (bisweilen auch Lichteffekt-Gesellschaft) zugeschrieben; dabei scheint es sich überwiegend um reine filmische Nachgestaltungen von Episoden der gedruckten Bildgeschichte zu handeln. In der Folgezeit ist eine Reihe unterschiedlicher Studios tätig, sodass die Produktion im Hinblick auf die Hersteller wohl relativ breit gestreut war. Titel wie Max und Moritz als Butterhändler (1906), Max und Moritz in der Arche Noah (1910) oder der interessanterweise von Siegmund Lubin in Philadelphia/USA hergestellte Film Max und Moritz in der Großstadt (1912) signalisieren indessen eine weitgehende Loslösung vom originalen Handlungsverlauf unter Beibehaltung der Hauptcharaktere. Andere, wie Max und Moritz im Himmel (1921/22), könnten auf Querverbindungen zu thematisch ähnlich gelagerten Theaterstücken wie Regina Angres Max‘ und Moritz‘ Weihnachtsfahrt (1912) oder Max und Moritz in der Himmelswerkstatt (1925) von Rudolf Göthner hindeuten. Übernahmen von Stoffen aus den zahlreichen Buschiaden in den Printmedien sind dagegen nicht zu erkennen. In der Regel werden die Titel als Lustspiel bezeichnet bzw. warten mit fiktionalen Erzählungen auf. Ausnahmen bilden hier die von der Ufa 1921 und 1922 vorgestellten Streifen Max und Moritz sowie Max und Moritz lernen schwimmen. Eine fidele Schwimmstunde, unter der Regie von Walther Zürn, die jeweils unter Kurz-Dokumentarfilm rubriziert werden. Was die jeweiligen Produktionstechniken anbelangt, so sind diese in den einschlägigen Verzeichnissen nur selten ausgewiesen. Zu den Ausnahmen zählt
5Die Nachweise stammen aus Meldungen und Anzeigen in den zeitgenössischen Ausgaben des Film-Kurier und Der Kinematograph sowie der German Early Cinema Database der Universität Köln. Vgl. https://filmwissenschaftumsonst.wordpress.com/2014/10/17/the-german-early-cinemadatabase (19.10.2019).
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Abb. 4 Anzeige eines Max- und Moritz-Films, produziert von der Internationalen Kinematografen- und Licht-Effekt-Gesellschaft, Berlin. (© Der Kinematograph (1907), Heft 17)
der 1908 von der Berliner Kinematografen – und Lichtbildgesellschaft hergestellte Streifen Max und Moritz, der als Ton-Bild-Produktion6 geführt wird. Wenngleich nur einige, wie Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in sieben Streichen (1907) oder der gleichnamige, in diesem Fall von der Hamburger VeraFilm auf den Markt gebrachte Streifen explizit als Zeichentrickfilme bezeichnet werden, so ist doch anzunehmen, dass es sich mehrheitlich um Animationsfilme handelte (Abb. 4). Mit dem – als einem der wenigen von der Zensur mit Jugendverbot belegten – Streifen Max und Moritz der Messter-Film GmbH sowie Max und Moritz von heute: Der Haupttreffer der Willy Heß Filmgesellschaft treten im Jahr 1917 erstmals als Spielfilme bezeichnete Stücke dieses Genres in Erscheinung. Entsprechend der zeitgenössischen Begriffsverwendung dürfte es sich dabei nicht nur um Filme mit fiktionalem Inhalt gehandelt haben, sondern, in Abgrenzung zum Trickfilm, um solche mit menschlichen Darstellern. Diese Annahme wird auch dadurch erhärtet, dass im letzteren Fall mit dem auch als Illustrator und Werbegrafiker bekannten Edmund Edel ein veritabler Drehbuchautor und Regisseur, mit dem Geschwisterpaar Ilse und Curt Bois die Schauspieler angegeben sind. 6Ein
technisches Format, bei dem Bild und Ton synchron, aber getrennt aufgenommen und bei der Vorführung ein mit einem Grammophon synchronisiertes Bildvorführgerät angewandt wird (vgl. Müller 1994, 79 ff.).
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Der einzige einschlägige Film im Untersuchungszeitraum, der dem Verfasser zugänglich war, befindet sich im Bundesarchiv Berlin und kann dort angesehen werden. Es handelt sich um eine 1921 entstandene 35 mm-Stummfilm-Produktion der Hamburger Vera-Filmwerke AG mit dem Titel Max und Moritz. Eine Bubengeschichte in 7 Streichen, der eine Länge von 228 m aufweist. Bei der Vera-Filmwerke AG wird ein weiterer Film mit dem gleichen Titel, allerdings ohne Untertitel, für 1923 geführt, der möglicherweise ganz oder in Teilen identisch mit dem von 1921 ist; hier wird als Regisseur Curt Wolfram Kießlich genannt, der als Drehbuchautor ebenso wie als Schauspieler während der Stummfilm-Ära tätig und während des Weltkriegs als Plakatmaler mit patriotischen Motiven hervorgetreten war. Der Zeichenfilm von 1921 gliedert sich in 2 Teile, die den ersten beiden Bubenstreichen in Buschs Max und Moritz entsprechen, deren Opfer bekanntlich Witwe Bolte und deren Hühner sind. Der Film lehnt sich eng an das Vorbild an und verwendet den nahezu unveränderten, lediglich bei längeren Passagen wie dem Prolog gekürzten Verstext des Originals, der in der im Stummfilm üblichen Art in eigenen Blockportionen eingeblendet wird. Als Bildeinstellung tritt meist das Rechteck auf, nicht selten aber auch der Kreisausschnitt. Erkennbar ist das Bemühen, bei den animierten Filmzeichnungen möglichst geringe Abweichungen von denjenigen der originären Bildgeschichte und deren Bildfolge zu erzeugen. Gleichwohl sind die Abweichungen von der zeichnerischen Handschrift Buschs deutlich erkennbar, ebenso wie Modifikationen im bildlichen Detail: so schöpft die Witwe ihr Sauerkraut von links, statt wie bei Busch von rechts. Interessanter sind die medien- bzw. formatbedingten Änderungen. Dazu zählt nicht zuletzt die Wiedergabe hochformatiger Bilder, wie etwa die Ansicht des Bolteschen Hauses mit den nach Hühnern angelnden Übeltätern auf dem Dach, entweder in einer Folge von Ausschnitten oder in Kamerafahrt. Darüber hinaus werden nicht selten kurze, zusätzliche Szenen eingeschoben, wie etwa Max und Moritz mit der Leiter auf dem Weg zu Witwe Boltes Haus. An einigen wenigen Stellen finden sich sogar kurze Einschübe von einzelnen Motiven aus anderen Streichen, wie etwa von Onkel Fritz (5. Streich) im Bett oder aus ganz anderen Bildgeschichten Buschs, wie den gierigen Tobias Knopp bei Tische (aus Herr und Frau Knopp, 1876) stammenden Abbildungen; beide sind eingeschoben in die Introduktion der Witwe Bolte. Auf diese Weise gelingt es den Filmemachern zu vermeiden, dass die Verstexteinblendungen mehr als vier Zeilen umfassen. Angesichts der intensiven Bemühungen um ein Remake der Bildlichkeit Buschs ist es nicht verwunderlich, dass die Übergänge vom starren Bild zur filmischen Bewegung von relativ simplen Teilanimationstechniken beherrscht sind. Diese beschränken sich auf mimische Elemente wie Augenrollen und Zunge rausstrecken, seitliches Drehen der Köpfe, die Gestik einzelner Gliedmaßen sowie arteigener Bewegungen bei Tieren, wie etwa das Schwanzwedeln. Besondere Komik entfaltet sich dabei immer dann, wenn es um Bewegungen geht, die nicht unbedingt natürlichen Abläufen folgen, sondern auf grotesk-komische Effekte zielen: So etwa die Animation der Moritzschen Haartolle, der vor Trauer überaus heftig auf und ab wogende Busen der Witwe Bolte und die sich fantastisch
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aufblähenden Kugelbäuche von Max und Moritz nach dem Verzehr der Hühner. Weitere Komisierungseffekte werden erzeugt durch Anlehnung an grafische Konventionen der Comics und deren metafiktionale Spiele. So fließen die Tränen aus den Augen der Witwe Bolte nicht nur reichlich, sondern durch geschlossene Türen hindurch, beim Verprügeln von Hund Spitz hagelt es Sternchen des Schmerzes und die Fantasie der Witwe von einem saftigen Hühnerbraten wird durch eine entsprechende Vignette in den Bildraum gesetzt – gewissermaßen eine Denkblase ohne Blase.
Max und Moritz als Initialzündung des Comic strip Die Anfänge der „Katzenjammer Kids“ von Rudolph Dirks Ein gänzlich neues Kapitel der Wirkungsgeschichte von Max und Moritz eröffnete sich im Pressewesen der USA mit dem Projekt eines jungen, deutschstämmigen Nachwuchszeichners mit Namen Rudolph Dirks, der Ende 1897 begann, für The American Humorist, die wöchentliche Unterhaltungsbeilage des New York Journal, eine Bubenstreich-Bildgeschichte zu zeichnen. Das von William Randolph Hearst herausgegebene Blatt befand sich in erbittertem Wettbewerb mit Joseph Pulitzers Presseimperium, in dem u. a. die New York World erschien und war bestrebt, durch Abwerbung von besonders zugkräftigen Zeichnern der Konkurrenz und Entwicklung erfolgversprechender neuer Serien die Marktführung zu übernehmen. Eine Reihe von Anekdoten und mehr oder weniger präzise belegbare Aussagen von Zeitgenossen legen es nahe, dass Dirks angehalten wurde, sich von den Kindern in Bildgeschichten Wilhelm Buschs, nicht zuletzt den Max und Moritz-Streichen, inspirieren zu lassen – Vorbilder, deren Kenntnis Dirks 1926 in einem bei Eckart Sackmann (2018, 92) zitierten Rückblick auf seine Anfänge bestätigt. Wie Jörg Thunecke unter Berufung auf Zeitzeugen dokumentiert, hatte der ebenfalls deutschstämmige Rudolph Block, im Jahr zuvor als art director des Hearst-Blattes angestellt, von Dirks sogar ausdrücklich Bildgeschichten in der Art von Wilhelm Buschs Max und Moritz gefordert (vgl. Thunecke 1987, 47; Goulart 1990, 212). Dass der Pressezar Hearst selbst an dieser Idee beteiligt war, ist zwar nicht zweifelsfrei belegt, doch steht fest, dass er sich während eines Deutschland-Aufenthalts 1873 mit einer großen Zahl Bilderbücher eingedeckt hatte. Auch wird von einem Biografen berichtet, dass Hearst seine weniger aus künstlerischem als aus kommerziellem Interesse angelegte Bilderbuchsammlung dem jungen Dirks gezeigt habe und dieser sich daraufhin an die neue Serie gemacht habe (vgl. Thunecke 1987, 62, Anm. 48 und 49). Die erste, im Dezember 1897 publizierte Folge der – von Rudolph Block (Goulart 1990, 212) – als The Katzenjammer Kids betitelten Serie bietet eine durchnummerierte Sequenz von sechs Bildern ohne Habitus, die – mit Ausnahme des Titels „Ach! Those Katzenjammer Kids!“ – gänzlich ohne Schrifttext operiert. In der Handlung werden drei mit Murmeln spielende Knaben, deren einer in seiner
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Physiognomie sowie den auffällig abstehenden Ohren verblüffende Ähnlichkeit mit Outcaults Mickey Dugan alias The Yellow Kid aufweist (vgl. Blackbeard 1995), von einem Nachbarn mit dem Gartenschlauch auseinandergetrieben. Die drei Buben wissen sich jedoch sehr wirkungsvoll für die Störung ihres harmlosen Spiels zu revanchieren, indem sie den älteren Herrn in seiner Gartenlaube einsperren und diesen dann selbst kräftig unter Wasser setzen. Der in der Folgezeit – noch keineswegs regelmäßig allwöchentlich – in den Sonntagsbeilagen abgedruckte Strip durchläuft im Hinblick auf die bildnarrative Form und das Figureninventar eine mehrjährige Entwicklungsphase, in der Dirks mit unterschiedlichen Komponenten zu experimentieren scheint, wobei allerdings stets das Prinzip der mehrteiligen Bildfolge und das Handlungsmuster des Bubenstreichs erhalten bleibt. Darüber hinaus treten die erkennbaren motivischen Anleihen bei Wilhelm Busch immer wieder hervor und die Standardisierung der Hauptfiguren macht Fortschritte. So entfällt bereits in der zweiten Folge vom 19. Dezember 1897 der – dem Yellow Kid ähnelnde – dritte Bengel; in einigen Folgen agiert sogar nur ein Protagonist gegen wechselnde Widersacher. Als erste, weitere stehende Figur tritt in der zweiten Episode vom 19. Dezember 1897 die in ihrem Äußeren anfangs ein wenig an Witwe Bolte erinnernde, später immer fülliger werdende „Mamma“ als Opfer wie als Strafinstanz in Erscheinung; auf ein mehrjähriges Gastspiel beschränkt bleibt dagegen die Figur eines „Papa“ bzw. „Grandpa“, dessen Rolle als dauerhaftes männliches Pendant zur Matrone nach der Jahrhundertwende von „der Captain“ eingenommen wird, dem nach einiger Zeit noch mit „der Inspector“ ein Vertreter einer ominösen Schulautorität zur Seite gestellt wird.7 Das klassische Figurenarsenal der Katzies ist damit komplett.
Transdiegetische Erzählung und charakteristische Figurenrede Bis zur Jahrhundertwende behält Dirks ganz überwiegend die pantomimischen Bildfolgen bei, verwendet nur sehr gelegentlich Untertexte in Versen oder in Prosa; eher selten sind Sprechblasen anzutreffen, wenngleich auch diese für Dirks nicht ungewohnt waren und bereits in den Anfängen in einer Folge vom 30.01.1898 auftreten (vgl. Thunecke 1987, 63). Ab dem Frühjahr 1900 treten die wortlosen Sequenzen jedoch nur noch selten auf und die Verwendung von Sprechblasen, wie auch von umrandeten Panels, Bewegungslinien, Sound Words, Bildsymbolen und piktogrammatischen Zeichen wird zur Regel.8 Zwar sind
7Ron
Goulart zufolge tritt „der Captain“ zuerst in der Folge vom 31.08.1902 auf und „der Inspector“ am 15.01.1905 (vgl. Goulart 1990, 212). Zur Entwicklung des Figurenensembles und der Schauplätze der Serie s. Brebeck 2018b, 98 ff. 8Jörg Thunecke (1987, 63) hat dazu eine aufschlussreiche Übersicht der Episoden von 1897 bis Ende 1900 präsentiert.
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diese Elemente vereinzelt schon sehr viel früher anzutreffen, doch gewinnen sie als Ensemble im Comic eine gänzlich neue Qualität. Die nun zur Konvention gewordene simultane Verwendung dieser Elemente stellt daher nicht einfach eine Summierung von Darstellungsmitteln dar, die gemeinhin als comicspezifisch gelten. Vielmehr handelt es sich um die erstmalig umfassende Etablierung eines Zeichensystems, welches Thierry Smolderen als konstitutiv für die Erzählform des Comics ansieht und mit dem Terminus „l’audiovisuel sur papier“ belegt hat (Smolderen 2009, 118 ff.). Gemeint ist damit, dass der Comic im Zuge der Weiterentwicklung der Bildgeschichte eine den Printmedien gemäße Form der Übersetzung sprachlicher, akustischer sowie Bewegung simulierender Zeichen entwickelt und in der Erzählhandlung systematisch aufeinander abgestimmt einsetzt. Die in der Bildgeschichte vorherrschende Trennung zwischen piktoraler Narration durch das Bild und dem räumlich davon getrennten, verbalen Erzähltext wird aufgehoben in einer neuen organischen Einheit. Präziser noch als Smolderen hebt Eike Exner den transdiegetischen Charakter derartiger Zeichen als Alleinstellungsmerkmal des Comics gegenüber anderen Erzählformen und Medien, wie der Bildgeschichte in der Manier Buschs und Toepffers und dem Film hervor (vgl. Exner 2018/19). Diese Bezeichnung zielt darauf ab, dass diese Elemente der Darstellung teilweise als Komponenten der erzählten Welt aufzufassen sind, in anderen Teilen aber nicht. Mit Blick auf die Sprechblase als eines der prominentesten darunter, lässt sich feststellen, dass deren kommunikative Inhalte Bestandteil der Fiktion, etwa in Form eines Gesprächs zwischen den Figuren der Handlung sind. Die Figuren nehmen diese Inhalte wahr, sie tauschen sich aus und reagieren aufeinander. Die Sprechblase selbst dagegen, die aus dem Bildraum ausgesparte Fläche, ihre Umrandung, die Form des Dorns und dergl. entzieht sich der Wahrnehmung der fiktionalen Figuren, nicht aber derjenigen des Lesers, der den sprachlichen Inhalt und die grafische Inszenierung als „l‘audiovisuel sur papier“ begreift. Wie Exner (1918/19, 52 ff.)9 betont, ist es Rudolph Dirks, der als erster unter den Pressezeichnern am Ende des 19. Jahrhunderts dieses transdiegetische Instrumentarium in seinen Arbeiten zu nutzen weiß und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts im Verein mit Francis Burr Opper, der 1900 die Serie Happy Hooligan schuf, weiter perfektionierte. Die Katzenjammer Kids haben nun eine Form erreicht, welche die Dirkssche Serie zum „first true Comic Strip“ werden lässt (Goulart 1990, 212). Die beiden Unholde tragen mittlerweile die deutschen Namen Hans und Fritz und sind auch in ihrem Äußeren mit bestimmten, stabilen Merkmalen unverkennbar als Nachfahren von Max und Moritz markiert, wenngleich nicht identisch mit den Gestalten Buschs (vgl. Eckhorst 2012, 85 ff.). Ganz anders noch als in der Startfolge von 1897, wo sie im Trio eigentlich nur auf den Übergriff eines überheblichen Erwachsenen reagieren, haben sie sich zu notorischen Plagegeistern
9Bei dem Beitrag von Eike Exner handelt es sich um eine Internetpublikation mit durchnummerierten Abschnitten; es wird daher nicht die Seiten- sondern die Abschnittszahl bei der Zitation angegeben.
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Abb. 5 Rudolph Dirks’ von Wilhelm Busch inspirierte Serie The Katzenjammer Kids hat als erste das komplette Zeicheninventar der Comics entwickelt. – Folge vom 29. Dezember 1901. (© New York Journal)
entwickelt, die keine Gelegenheit für möglichst bösartige Streiche auslassen. Allerdings endet nun auch jede Folge mit einer obligatorischen Tracht Prügel, die ihnen zumeist von der Mamma oder dem Captain verabreicht wird. Ein Beispiel für diesen Entwicklungsstand zeigt eine Folge von sechs Bildern vom 14. April 1901, die mit dem Brücken-Attentat auf Mamma Katzenjammer überdies sehr deutlich eines der bekanntesten Handlungsmotive aus Max und Moritz aufnimmt, welches diese seinerzeit an Schneider Böck vorexerziert hatten.10 Bezeichnend für Dirks unerschöpfliche Ideen beim Adaptieren von Busch-Motiven in unterschiedlichen Stufen wie auch für die immer stärker verwischte Beziehung zum Original ist dann die Folge Mamma Katzenjammer Makes a New Year’s Resolution and Promptly Breaks It vom 29. Dezember 1901, wo das Brücken-Attentat in der Schlafstube wiederholt wird (Abb. 5). Sehr deutlich wird an diesem Beispiel auch, warum Dirks‘ Strip-Konzept verhältnismäßig lange Zeit vor allem auf die sequenzielle Bildfolge setzte und die
10Abrufbar unter http://germanic.ku.edu/origins-comics-united-states-1897-1902-under-influencewilhelm-busch-comics-rudolph-dirks (19.10.2019). Auch Thunecke 1987 präsentiert eine ganze Reihe von Bildern, die auf das Vorbild Buschs verweisen. Allerdings werden weder die konkreten Folgen der Serie genannt, noch die Titel und Ausgaben der Zeitungen, aus denen sie entnommen wurden.
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sprachliche Komponente eher marginal blieb. Die Handlung als solche, d. h. der Streich und die Pointe, sind zunächst kaum auf eine zusätzliche schriftsprachliche Exposition angewiesen – ganz im Gegensatz etwa zu den Bildgeschichten Buschs, die ein komplexes Geflecht von verbalen und piktoralen Elementen ausbilden (vgl. Ries 2009). In den schrifttextarmen Folgen der ersten Zeit sind die Katzenjammer Kids aber gewissermaßen noch nicht zu sich selbst gekommen, es fehlt ihnen die ganz spezifische Note. Mit der direkten Figurenrede zieht Dirks jedoch dann eine von der Bilderzählung völlig unabhängige Sinnebene ein, die profilierend als essentielles Element des character designs auf diese einwirkt und zunehmend den spezifischen Humor der Katzies ausmacht.11 Die Versuche mit Fragmenten dieses Pidgin-German in Titelzeilen und Untertexten, die Dirks schon in den Anfängen anstellt, wirkten noch etwas unbeholfen: der Ort dieser Sprache ist notwendigerweise die dem Sprecher unmittelbar zugeordnete Blase und erzielt erst hier im Dialog ihre volle Wirkung: „Poor Ma“, „She Iss Caming“ (Panel 4) – „Ach! Der Darlings Is Sleeping. Such Angel Boys“ (Panel 5) – „I’ll Make A Swear Nefer Will I Whip Der Darlings Again“ (Panel 6) (Katzenjammer Kids, 29. Dezember 1901; Abb. 5). Nicht verifizierbar ist bislang leider die von Coulton Waugh (1947, 45), dem Inspector zugeschriebene, so typisch erscheinende Sentenz „Mit dose Kids, society iss nix“, die seither immer wieder kolportiert wird, aber in keiner Folge der Katzies belegt werden kann.12 Gleichwohl gibt generell das mit unorthodox verdrehten deutschen Brocken, Enthaltsamkeit in der Zeichensetzung, Tempus- und Aussprachefehlern verballhornte American English der Protagonisten der simplen Handlung erst ihren Schliff und ist alsbald aus der Serie nicht mehr wegzudenken.
Die Etablierung des „kid strip“ und dessen Wandlungen Die weitere Entwicklung der Serie zeigt bisweilen komplizierte Produktionsverläufe bei ungebrochener bzw. sich noch steigernder Popularität – dies gilt selbst für die Zeit des Ersten Weltkriegs, als die wachsende politische Abneigung gegen das Deutsche Kaiserreich es ratsam erscheinen ließ, die Namen der Protagonisten und den Serientitel vorübergehend zu ändern. Zuvor allerdings, während des ersten Jahrzehnts nach der Jahrhundertwende wurden die Katzies neben der
11Es
sei hier nur angemerkt, dass diese sprachliche Form zwar unverkennbar mit der Herkunft des Autors zusammenhängt, dass es sich jedoch keinesfalls um den Versuch handelt, den Strip für des Englischen unkundige (deutsche) Immigranten kommensurabel zu machen. Vielmehr ist die Beherrschung des korrekten Englisch unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis dieser Sprach-Gags: “One had to know correct English to understand the broken English spoken by Hans and Fritz“ (Inge 2016, 12). 12Dies gilt leider auch für den aufwendigen Band mit einer Sammlung früher Comic Strips, der diese Sentenz sogar im Titel führt (Maresca 2013, 5).
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englischsprachigen im New York Journal in eigenen deutschsprachigen Versionen in anderen, an deutsche Einwanderer gerichteten Blättern des Hearst-Konzerns, wie etwa dem Morgen-Journal, präsentiert – bezeichnenderweise ohne jegliche Scheu vor den Vorbildern unter Verwendung der Namen Max und Moritz.13 Hinzu kommt, dass sich das von Dirks geschaffene Erfolgsmuster über 65 Jahre buchstäblich in doppelter Hinsicht in Zwillingsgestalt dem Publikum verfügbar hielt: Als Dirks 1913 das New York Journal verließ, wurden die Katzenjammer Kids von Harold Knerr fortgeführt, während Dirks das Recht erhielt, ab 1914 im Konkurrenzblatt New York World von Pulitzer seine eigene Serie weiter laufen zu lassen, zunächst unter dem Titel Hans and Fritz, ab 1918 als The Captain and the Kids. Später vom Sohn John Dirks gezeichnet, hielt sich auch diese bis 1979.14 Obschon der Blick auf die Katzenjammer Kids in ihren unterschiedlichen Varianten den Einfluss Buschs auf die Genese des Comic Strip deutlich macht, geht dieser doch weit über die Prägung nur dieser einen Serie hinaus. Wie Bill Blackbeard postuliert, zeigt ein Überblick über das Gesamtangebot an Comic Strips in der Phase von 1896 bis 1916 die eindeutige Dominanz eines spezifischen Figurenkonzepts: „Three comic figures of popular fiction dominated virtually to the exclusion of all others: the demon child, the clownish innocent and the humanized animal. And the demon child led all the rest“ (Blackbeard 1977, 19). Zu unterstreichen ist hier die Feststellung, dass es die Strips mit Kinder-Protagonisten waren, welche dem Comic Strip überhaupt erst zum Durchbruch verhalfen. Wie die bei Blackbeard angeführten Beispiele zeigen, sind es die Schelme und die der Moralischen Erzählung entwachsenen, widerborstigen Kinderfiguren, welche ganz überwiegend die Protagonisten der frühen Strips stellen. Dabei fällt auf, dass es nicht die durchwegs sehr bekannten ungezogenen Kinder der einheimischen anglophonen Literatur wie Mark Twains Tom Sawyer (1876) und Huckleberry Finn (1885) oder George W. Peck Peck’s Bad Boy (1883) waren, die als Leitbilder aufgenommen wurden. Allerdings mag eine Rolle gespielt haben, dass die Vorbilder aus Deutschland bereits in Form von Bilderbüchern und Bildgeschichten vorlagen, an deren piktorale Erzähl- und Gestaltungsweise unmittelbar angeknüpft werden konnte. Obgleich in mancher Hinsicht verwandt, will auch Richard F. Outcaults ab 1895 in der Cartoon-Serie Hogan’s Alley auftretende Figur Yellow Kid (1895), welches u. a. von Ries irrtümlich mit Busch in Verbindung gebracht wird (Bd. 1, 1344), nicht recht in die Traditionslinie der Bubenstreich-Bildgeschichte und der daraus entwickelten Comic Strips passen. Outcaults Mickey Dugan alias Yellow Kid erscheint in diesem Zusammenhang eher als untypisch: Die Figur der Slumgöre hätte zwar
13So
z. B. in der Ausgabe vom 16.April 1905 mit der Episode Max und Moritz versuchen zu angeln, http://www2.ku.edu/~germanic/eutin/images/14.jpg (19.10.2019). Weitere sind abgedruckt bei Neyer 2007, 19 ff. 14Zu der weiteren Entwicklung der Katzenjammer Kids s. den materialreichen Katalog der Dirks-Ausstellung im Museum Heide/Museumsinsel Lüttenheid, insbesondere die Beiträge von Alexander Braun (23–60) und Tim Eckhorst (61–86) (Brebeck 2018a).
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das Zeug zu einem Bubenstreich-Helden gehabt, wird aber von seinem Schöpfer beharrlich in der Rolle des Kommentators seiner Umgebung gehalten; seine Frechheit ist stets eine verbale, die auch in Hogan’s Alley und The Yellow Kid nicht seltene Ausführung von Untaten bleibt immer wieder anderen Figuren überlassen. Es sind daher die Katzenjammer Kids mit den Aktionisten Hans und Fritz und ihren zunehmend aggressiveren Streichen, die zahlreiche Nachahmer in anderen Strips finden, während The Yellow Kid 1899 eingestellt wird. Mit der 1902 begonnenen Serie Buster Brown reiht sich Outcault dann wieder mit einem ganz eigenständigen Beitrag ein in die zeitgenössische dominante Tendenz des kid strip wie auch der von Dirks und Opper geprägten formalen Standards. Der Held der neuen Serie und sein Milieu erinnern auffällig an Frances Hodgson Burnetts Little Lord Fauntleroy (1886), wie es in den Illustrationen Reginald Birchs vergegenwärtigt ist und stellen gewissermaßen das Emblem einer an aristokratischen Vorbildern orientierten Kultur dar, denen die bürgerliche Oberschicht auch in den USA nacheifert. Es handelt sich dabei um einen krassen Gegenentwurf zur bescheidenen Welt der Unterschicht-Einwanderer, wie sie in den Katzenjammer Kids und sogar mehr noch zu derjenigen von Hogan’s Alley und der Nachfolge-Reihe McFadden’s Row entgegentritt – ein größerer Gegensatz als der zwischen der Slumgöre Mickey Dugan und dem feinen Pinkel Buster, der ebenso wie sein literarischer Vorläufer Cedric sogar die zeitgenössische Kindermode der einschlägigen Kreise prägt, ist kaum denkbar. Allerdings hat es Buster – hier im Gegensatz zu Cedric – mit seiner Durchtriebenheit und einem Gemisch aus Scheinheiligkeit und Boshaftigkeit faustdick hinter den Ohren. Wie sich hier zeigt, imitiert Outcault nicht einfach das seinerzeit so erfolgreiche Bubenstreich-Muster, sondern inszeniert es in einer neuen sozialen Umgebung auf seine Weise neu. Die nach außen gekehrte Vornehmheit kaschiert einen ausgeprägten Hang zu Übeltaten, die sich nur allzu gern gegen sozial inferiore Personen oder das Personal der Familie richten. Nur höchst selten wird der sich vornehm gerierende Teufelsbraten dafür von der Mutter übers Knie gelegt. Stattdessen besteht das Ende jeder Episode in einer von ihm selbst gehaltenen Anstandspredigt, die reine Apologie beinhaltet, da es sich um eine notorisch heuchlerische Reuebekundung, verbunden mit einer zur eigenen Rechtfertigung maßgeschneiderten Aufzählung von Redensarten und Geboten handelt, wie etwa am Schluss der 1914 in einem Sammelband abgedruckten Episode um ein heimtückisches Schneeball-Attentat mit dem Titel It probably was good for the lad!: „I didn’t do this to get revenge. I did it to get a laugh. I would do a lot to get a laugh. Because it is sane & healthy too. ‚Laugh and grow fat‘ says the proverb.“ (Outcault 1914, o. S.) Die neue Generation von Comic-Lausebengeln nach der Jahrhundertwende zeigt jedoch sukzessiv wieder deutlich harmlosere Tendenzen als es die Katzenjammer Kids und ihre unmittelbaren Adepten vormachten. Auffällig ist bereits das allmähliche Verschwinden der letztlich immer auf Max und Moritz verweisenden Verdoppelung der Helden als Zwillinge oder Geschwisterpaare. Auch bleibt es nicht bei der schon in Buster Brown zu beobachtenden sozialen Nobilitierung der
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Protagonisten und ihrer Milieus und deren Einbettung in ausgesprochen bürgerliche Daseinsumstände. Als ein Beispiel dafür sei hier James Swinnertons Little Jimmy angeführt, der mit einer Laufzeit von über 50 Jahren ebenfalls zu den langlebigsten seiner Art zählt. Der wiederum im New York Journal publizierte kid strip präsentiert einen kleinen Helden in wohlausgestattetem Zuhause, die Eltern und ihr Umgang stellen sich in ihrer Art und ihrer Kleidung als eher begüterte Zeitgenossen dar. Jimmys Streiche sind bezeichnenderweise eher Unglücksfälle, verursacht durch seinen kindlichen Spieltrieb, mangelnden Eifer bei Ausführung elterlicher Aufträge oder unverschuldete Fremdattacken: Da zerbricht schon mal – wie in der Startfolge vom 14. Februar 1904 – der Milchkrug auf dem Rückweg vom Laden nach Hause oder auf dem Weg zum Arzt lauert die Verführung in Gestalt von Freunden, die für Ablenkung sorgen. Die obligatorische Prügelstrafe allerdings wird auch hier bei den besser gestellten Leuten gnadenlos für geringste Vergehen vollstreckt. Auf diese Weise entstehen im Rahmen des kid strip neue Varianten. Neben die fortlebenden und ebenfalls in immer wieder neuen Serienvarianten auftretenden Lausbuben – wie etwa Perry aus Martin Branners Winnie Winkle the Breadwinner (1920–1996), der bereits in den 1930er-Jahren auch in einer deutschsprachigen Auswahlausgabe unter dem Titel Kalle, der Lausbubenkönig verbreitet wurde oder Hank Ketchams Dennis the Menace (seit 1951) – treten kindliche Protagonisten immer häufiger auch ohne den bis dahin unverzichtbaren, provokativ gegen die Erwachsenenwelt gerichteten Gestus auf. Zeigen etwa die Naughty Pete-Strips von Charles Forbell, die 1913 in 18 Folgen im New York Herald publiziert wurden, noch Reste des Bubenstreich-Schemas im äußeren Ablauf der Handlung von Etablierung eines Gebots, dessen Übertretung und der finalen Katastrophe, so werden auch diese in anderen kid strips aufgegeben. Noch weiter entfernt von den Ursprüngen zeigt sich, wie Ulrich Luckhardt feststellt, der von Lyonel Feininger gezeichnete, kurzlebige Strip The Kin-der-Kids, der 1906 in der Chicago Sunday Tribune erschien (Luckhardt 1990, 91). Hier haben es die skurrilen Kinderfiguren Daniel Webster, Strenuous Teddy und Piemouth gar nicht mehr darauf angelegt, in der Erwachsenenwelt Konfusion zu stiften. Vielmehr hat dieses Heldentrio alle Initiative aufgegeben und begibt sich auf der Flucht vor der gestrengen Tante Jim-Jam gezwungenermaßen auf eine Weltreise, die Zuchtmeisterin mit ihrem Lebertran als Wundermittel der Resozialisierung der Widerspenstigen stets auf den Fersen. Als frühe prominente Beispiele müssen hier vor allem einige Strips von Winsor McCay angeführt werden. So etwa Little Sammy Sneeze (1904), dessen kindlicher Protagonist nur noch durch seine katastrophalen Niesanfälle an seine Antezedenten erinnert, ohne deren destruktive Neigungen zu teilen: hier ist der Streich zum schuldlos verursachten Spektakel umgemünzt. Nicht zu vergessen Little Nemo in Slumberland (1905–1913, 1924–1927), der sich allabendlich im Schlaf nach Slumberland fortträumt, um dort fantastische Abenteuer aller Art zu bestehen. Wie es scheint, hat der seinerzeit nicht sonderlich populäre, eher empfindsam als widerborstig konzipierte Protagonist mit Hans und Fritz oder Ihresgleichen nichts mehr gemein. Gleichwohl ist davon auszugehen,
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dass Kinderhelden wie Little Nemo wohl kaum die Bühne der Comic Strips für Erwachsene betreten hätten, ohne die brachialen Türöffner in Gestalt von Max und Moritz, Hans und Fritz und ihren Adepten.
Max und Moritz – ein Medienverbund? Ohne Zweifel ist zu konstatieren, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts so gut wie alle zeitgenössischen Medien, darunter auch das neue Medium Film, sich des Stoffs und der Figuren der Bildgeschichten Wilhelm Buschs bemächtigten und Fortschreibungen sehr unterschiedlicher Art entwickelten. Bei der Bildgeschichte Buschs handelt es sich also um ein Artefakt im Sinne von Kurwinkel (2013) und der ganz überwiegenden Mehrheit neuerer Medientheorien, welches den Ausgangspunkt bzw. das Zentrum eines Medienverbunds, verstanden als „medienübergreifende Verbreitung populärkultureller Stoffe“ (Weinkauff 2014, 131) bilden könnte. In meiner Darstellung wurden die diversen druckgrafischen Medien vom Bilderbuch über die Zeitschrift bis hin zur Wochenpresse näher betrachtet und dem Theater und dem Film ebenfalls einige Aufmerksamkeit geschenkt. Bei Rühle (1999, 611 ff.) verzeichnet sind darüber hinaus – teilweise unabhängig von Theaterstücken – einige Vertonungen von Max und Moritz als Musikstücke. Des Weiteren sind in der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende Lichtbildserien dokumentiert15 und mit Beginn der Rundfunkgeschichte in den 1920er-Jahren eine beträchtliche Zahl an Hörspielen. Auch hier handelt es sich offensichtlich um eine gewisse Varietät in Bearbeitung und Inszenierung wie einige Titel andeuten mögen: So wurde 1927 vom SWR Frankfurt eine Lesung Max und Moritz, vorgetragen von der Märchentante16 und 1929 von der Ostmarken Rundfunk AG (ORAG) in Königsberg Max und Moritz. Hörspiel für den Kinderfunk von Otto Wollmann (Frei nach Wilhelm Busch) ausgestrahlt.17 Schon relativ früh haben auch Spiele- und Spielzeughersteller entsprechende Produkte angeboten (vgl. Rühle 1999, 614 ff.). Plastische Nachbildungen von Gestalten aus Max und Moritz und Spielzeugpuppen wurden Ries zufolge (Bd. 1, 1348) bereits ab 1887 angeboten. Mit Ausnahme der Printmedien sind alle diese medialen Hervorbringungen jedoch bislang nur ansatzweise erfasst und noch weniger sind sie eingehend erforscht. Stellt man in Rechnung, dass es auch bei der Untersuchung schon der Printmedien noch zahlreiche Desiderate gibt, so wird klar, dass die Literatur- und Medienhistoriografie bei diesem Gegenstand noch große Aufgaben vor sich hat, deren
15So etwa verzeichnet das Branchenblatt Der Kinematograph 1908 in zwei Ausgaben eine Serie Wilhelm Busch in Lichtbildern (vgl. Borger 1908 und Wilhelm Busch in Lichtbildern). 16Vgl. Der deutsche Rundfunk 5 (1927) 3, 184. 17Vgl. Der deutsche Rundfunk 7 (1929) 22, 2.
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Bewältigung es erst erlauben wird, umfassende Auskunft über Beschaffenheit und Wesen eines Max und Moritz-Medienverbunds zu liefern. Die von mir hier versuchten Schlussfolgerungen können daher nur vorläufiger Art sein. Ein wichtiges Merkmal dieses Komplexes ist die außerordentliche Vitalität des originären Werks über die Jahrzehnte hinweg. Diese wird gesichert durch hohe Auflagen der berechtigten Originalausgabe des Bilderbuchs bis in die 1930er-Jahre hinein ebenso wie durch immer wieder publizierte unberechtigte Nachdrucke, die jedoch das Artefakt gar nicht oder nur unwesentlich verändern. Spätestens zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben sich die Figuren Max und Moritz und die Bilderbuch-Erzählung über diese in das kulturelle Gedächtnis insbesondere Deutschlands so tief eingegraben, dass sie einer Bewerbung durch andere Medienvarianten gar nicht bedürfen, andererseits aber immer wieder neue Versuche nach sich ziehen, von deren Erfolg zu profitieren. Diese Einbettung in das zeitgenössische kollektive Gedächtnis der Deutschen stellt auch die Voraussetzung dafür dar, dass Max und Moritz – wie das Foto der St. Petersburger Aufführung von 1903 anschaulich belegt – im Ausland als Repräsentant deutscher (Populär-)Kultur fungieren kann. Gleichwohl tragen alle diese Reformulierungen in Theater, Film, Rundfunk etc. sowie die Merchandising-Produkte zu einer zusätzlichen Steigerung der Popularität des ursprünglichen Werks bei. Henry Jenkins auf moderne Medienverbünde gemünzte Feststellung, dass eine transmediale Erzählung „unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole“ (2006, 95 f.) ist daher in dem gegebenen Kontext unzutreffend. Die Beziehung zum Busch‘schen Vorbild ist überaus einseitig, ganz gleich ob es sich um Nachgestaltungen, Nachahmungen, Parodien oder nur entfernte Anlehnungen handelt. Die jeweiligen medialen Neuschöpfungen rekurrieren permanent auf das Vorbild; soweit sie Neu- oder Weitererzählungen unternehmen, wie es eine Reihe von Theaterstücken und Filmen offenbar versucht haben, werden diese ihrerseits nicht weiter tradiert. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass anscheinend nur ein einziges Max und Moritz-Bühnenstück Aufführungen über mehrere Jahrzehnte hinweg erlebte. Es handelt sich dabei bezeichnenderweise um das allererste, geschrieben 1877 von Leopold Günther, welches teilweise Originaltext verwendet und sich bis auf die Hinzufügung eines Eulenspiegels als Moderator auf das ursprüngliche Figurenarsenal beschränkt. Wie hier recht deutlich wird, sind die an der Mediengesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts orientierten Theoriemodelle von Medienverbund, media convergence, media mix und Multimedialität selbst in manchen Teilen zu historisieren, wenn sie retrospektiv zur Analyse und Erklärung möglicherweise ähnlicher Phänomene in der Vergangenheit herangezogen werden sollen. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass sowohl das in der Medienklassifikation von Harry Pross (1972) als Primärmedium geführte Theater, als auch die Tertiärmedien Rundfunk und Film hinsichtlich der Menge an Titeln und der Produktionszahlen eine nachrangige Bedeutung gegenüber den von Pross als sekundäre geführten Printmedien besitzen. Wenn Heinz Hengst (1994, 240) für die modernen Medienverbünde des späten 20. Jahrhunderts feststellt, dass deren Scripts in der
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Regel durch ein elektronisches audiovisuelles Leitmedium charakterisiert seien, so lässt sich dies auf den Max und Moritz-Komplex nicht übertragen. Dies hängt nicht nur mit der anhaltenden, stabilen Tradierung des ursprünglichen Werks zusammen, sondern auch damit, dass es der Bereich der Printmedien als solcher ist, der eine entscheidende Dynamik für die Weiterentwicklung des Artefakts im Hinblick auf Ansätze von Medienverbundstrukturen aufweist: den Übergang von der Reproduktion oder Nachahmung des Werks zu einer fragmentarischen Tradierung bestimmter Motive und Handlungsteile, verbunden mit dem Wandel der Figuren zu seriell reproduzierbaren Schöpfungen, mithin zu Charakteren. Die daran beteiligten Printmedien Bilderbuch, humoristisch-satirische Zeitschrift, Wochen- und schließlich Tagespresse bilden dabei zwar keinen Verbund im Sinne von aufeinander abgestimmten, auf den Zweck kommerzieller Verwertung ausgerichteter Medien, doch ist es die – aus der Sicht der Gegenwart sicherlich bescheidene – bloß aus unterschiedlichen Arten von Druckschriften generierte Multimedialität, welche die Dynamik der Entwicklung sichert. Auf diese Weise entstehen mit den Buschiaden zahlreiche Lesarten einer Spezies von Buben- und – mutatis mutandis – Mädelstreichgeschichten, die in ihrer Anlehnung an das Vorbild eine eigene Linie dieser Gattung ausbilden. Die Serialität der Buschiaden, die ganz überwiegend als singuläre Buchpublikationen oder als one shots in den humoristischen Zeitschriften publiziert werden, bleibt eine unvollständige, insofern sie sich über weite Strecken auf die Iteration bestimmter Figurentypen sowie Handlungs- und Konfliktschemata beschränkt: nicht um die Fortsetzung der von Max und Moritz begonnenen Abenteuer geht es, sondern um deren Variationen in immer wieder neuen und anderen Milieus. Dass die Protagonisten wie Lies und Lene, Fritz und Franz, Michel und Sepp, Maus und Molli etc. unter immer neuen Namen firmieren, ist ebenso ein Zeichen der von ihnen beanspruchten Eigenständigkeit, wie die Tatsache, dass stets neue fiktionale Handlungsräume angelegt werden, sodass von einem einheitlichen seriellen „Kosmos“ (Dolle-Weinkauff 2014, 157) nicht die Rede sein kann. Dieser Schritt findet erst statt mit der sukzessiven Abwicklung der Buschiade und der Etablierung des kid strip durch die Katzenjammer Kids von Rudolph Dirks an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die maßgebliche Grundlage für die weitere Entwicklung bildet die Erweiterung des Ensembles der bis dahin beteiligten Medien um ein weiteres Printmedium, dessen Produktionsbedingungen und Formatvorgaben gänzlich neue Parameter für die Autoren setzen. Gegenüber dem Buch stellte die Beschränkung auf eine oder eine halbe Zeitungsseite, wie sie die Unterhaltungsteile der zeitgenössischen US-amerikanischen Wochenpresse vorsahen, einen bedeutsamen Einschnitt dar. Als Periodika, die danach strebten, erfolgreiche Angebote allwöchentlich mit neuen Folgen fortzusetzen, eröffneten sie allerdings völlig neue Möglichkeiten für längerfristige Publikationen. Buschs Max und Moritz stellte nicht nur im Hinblick auf Figuren und Stoff attraktive Ansatzpunkte dar, sondern lieferte mit der Form des episodischen Erzählens in einer lockeren Form von Streichen eine denkbar günstige Vorlage für die Etablierung einer Serie, wie sie Dirks dann ab 1897 mit Katzenjammer Kids schuf. Dirks reüssierte im Grunde dadurch, dass er mit
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seinen Geschichten dort weitermachte, wo die konventionellen Buschiaden aufhörten. Der Übergang vom episodischen Erzählen zum seriellen war dann aber nicht nur der Schlüssel zu einem Bubenstreich-Universum ad infinitum, wie es die Katzenjammer Kids und deren einschlägige Nachahmungen über Jahrzehnte erfolgreich präsentierten. Als noch weitaus folgenreicher erwiesen sich jedoch die Innovationen der Erzählform, die Dirks und andere beteiligte Zeichner im Zuge der Perfektionierung ihrer Serien vorantrieben: Die Entwicklung eines transdiegetischen Zeicheninventars, das die Weiterentwicklung der traditionellen Bildgeschichte des 19. zum Comic Strip und zum Comic im 20. Jahrhundert darstellt. Dies allerdings ist dann nicht mehr die Geschichte des Max und Moritz-Medienverbunds, sondern eine ganz neue.
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Audiografie Max und Moritz, vorgetragen von der Märchentante (D 1927). SWR Frankfurt. Max und Moritz. Hörspiel für den Kinderfunk (D 1929). Otto Wollmann (Frei nach Wilhelm Busch). Ostmarken Rundfunk AG (ORAG), Königsberg.
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Robinsonaden zwischen 1900 und 1945 Vom Stummfilmklassiker zum Radio-Robinson Sebastian Schmideler
Abstract Between 1900 and 1945, the reception of Robinson Crusoe was still focused on the book. The presence in school syllabi and the classic status as reading for children and adolescents contributed to this. Typical media networks such as Forster’s Robinson must not die remained an exception. Robinson has been innovatively updated in the new electronic mass media such as radio and film. A particularity is the reception of new technical mass media such as the radio within the book reception.
Theoretischer Rahmen – Zur kinder- und jugendmedialen Bedeutung Unter der Rubrik Blickpunkte titelte Tagesschau online am 25. April 2019 mit den Bildern des Tages, die an erster Stelle eine Fotografie des Titelblatts der Erstausgabe von Robinson Crusoe zeigten: „Heute vor 300 Jahren erschien Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe. Daniel Defoes Roman gilt als erster Bestseller der Weltliteratur. Kein anderer Roman ist bis heute so häufig deutschsprachigen gedruckt, übersetzt und bearbeitet worden“.1 Auch in der
1https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/blickpunkte-4667.html
(05.09.2019).
S. Schmideler (*) Universität Leipzig, Erziehungswissenschaft Fakultät, Grundschuldidaktik Deutsch, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_15
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Kinder- und Jugendliteraturforschung wurde in Bezug auf den Langzeiterfolg des Romans eine ähnliche Beobachtung konstatiert: „Statistiken belegen, dass Robinson Crusoe nach der Bibel das meistverbreitete Buch auf der ganzen Welt ist“ (Franz 2012a, 1). Es ist erstaunlich, dass ein Buch von 1719 im Kontext des schnellen, akzelerierten Wandels des literarischen Markts und der knappen, überwiegend gegenwartsfixierten medialen Aufmerksamkeit für Vergangenes dreihundert Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer so eine öffentlichkeitswirksame Tragweite und Bedeutung hat, dass es als Teil literarischer Allgemeinbildung gelten und sogar zur Schlagzeile eines seriösen Nachrichtenmagazins des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dienen kann. Dies ist nicht nur ein Beleg für die ungebrochen hohe Bedeutung der Wirkungsgeschichte dieses Buchs, sondern auch Nachweis für einen besonders pulsierenden ästhetischen Überschuss. Das Werk hat in besonderer Weise eine spezifische literarische Eigendynamik entwickelt. Nicht zuletzt dank seiner medialen Wandlungsfähigkeit konnte es so lange im kulturellen Gedächtnis bewahrt bleiben. Hierzu trägt die anthropologische Dimension des Stoffs bei. Im Modell der insularen Exilsituation des auf sich und seine ursprüngliche Existenz zurückgeworfenen Menschen werden exemplarisch stets aktuell bleibende Grundfragen um das Verhältnis von Natur und Kultur im Prozess der Zivilisation verhandelt. Diskutiert werden Ursachen und Folgen des menschlichen Fortschritts. Anhand von Robinsons Geschichte und anhand des um ihn kursierenden literarischen und medialen Stoffkreises werden in einfachen Bildern und simplen, aber faszinierenden Szenen komplexe und anspruchsvolle, mehrdeutige Ambivalenzen der Errungenschaften der menschlichen Zivilisation zentraleuropäischer Prägung und christlicher Tradition gezeigt. Allerdings gerät das Werk gerade wegen seiner in diesem Zusammenhang unübersehbaren zivilisatorischen Tendenz zur Kolonialisierung in einer global vernetzten Welt zunehmend unter Legitimationsdruck. Ursache hierfür ist die literarische Darstellung der Unterwerfung des Fremden, die mehr oder minder rücksichtslose Dienstbarmachung der Natur in Verkennung ihrer natürlich entwickelten und gewachsenen Eigenbedürfnisse, der mitunter exzessiv propagierte Überlegenheitsgestus sowie die Allmachtsfantasien des weißen Herrenmenschen. Problematisch sind überdies die überwiegend leichtfertig fortschrittsoptimistische Technikgläubigkeit und der Hang zum daraus resultierenden, zum Rassistischen neigenden Eurozentrismus insbesondere in der Freitag-Episode. Robinson kann unter diesen Umständen nur noch eingeschränkt als Vorbild und Modell dienen. Unübersehbar hat sich das in diesem Roman vertretene Weltbild gerade aus der Erfahrung der weltpolitischen, aber auch klimatischen und technischen Entwicklung des 20. und frühen 21. Jahrhunderts bereits zu sehr als korrumpierbar und kontaminiert von vereinseitigenden Herrschaftsansprüchen gezeigt. Diese Haltung hat Mensch und Natur in letzter Konsequenz mehr Schaden zugefügt als Nutzen gebracht. Ein postmodernes, deutungsoffenes Weltbild ist hingegen auf die Akzeptanz von Heterogenität, Diversifizierung von Lebensstilen, Multiperspektivität und als konstruktiv wahrgenommener Vorstellungen von Wirklichkeit zwingend angewiesen. Es sieht darin die Grundlage für ein gemeinsames,
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kompromissfähiges Zusammenleben auf der vielfach von den unübersehbaren Folgen der Zivilisation gefährdeten Erde. Das postmoderne Weltbild verzichtet daher bewusst auf die Verbindlichkeit weltanschaulicher Systeme und religiöser Weltdeutungsmuster. Es kann und mag deshalb die Dominanz des in Robinson Crusoe vorherrschenden Weltbilds nicht mehr unhinterfragt als allzeit gültiges Vorbild akzeptieren. Dies wird durch die in Anglistik und Amerikanistik dominierenden Interpretationen dieses Romans aus dem Umfeld der postcolonial studies besonders deutlich. In der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteraturforschung wird das Werk durch die Klassiker-, Kanon- und Wertungsdiskussion (vgl. u. a. Ewers 2013) gleichwohl als wichtiger Roman der kinder- und jugendliterarischen Tradition nach wie vor legitimiert. Dort wird es sogar als besonders bedeutendes Referenzobjekt literaturwissenschaftlicher Diskussion aufgewertet: Robinson „überlebt weiterhin als ein literarischer Klassiker, vielleicht sogar als der Prototyp des Klassikers schlechthin“ (Franz 2012a, 1; vgl. auch Franz 2012b). Dazu trägt auch die bis heute anhaltende „Allgegenwärtigkeit von Stoff und Motiv“ (Franz 2012a, 22 ff.) in den Gattungen und Genres der Kinder- und Jugendliteratur und -medien bei. Überdies hat die internationale kulturwissenschaftliche Kinderliteraturforschung versucht, Robinson als Teil einer scheinbar zeitlos verbindlichen Weltliteratur für Kinder zu etablieren. Damit sollte dem Roman der Klassikerstatus langfristig gesichert werden. Aufschlussreich sind hierbei u. a. die von vereinseitigenden, kindheitsidealisierenden Betrachtungen nicht freien, jedoch folgenreichen, nahezu prädestinationsgläubigen Überlegungen des französischen Kultur- und Literaturhistorikers Paul Hazard (vgl. Hazard 1952, 76–85). Robinson Crusoe sei „von dem Volk der Kinder auserwählt worden, einem sehr zahlreichen und sehr anhänglichen Volk, das seine Götter nicht leicht vergisst. Defoe hatte es nicht für Kinder geschrieben? Nun, die Kinder haben es sich ohne viel Umstände angeeignet“ (ebd., 78). Diese Rezeption blieb nicht auf die buch- und druckmedienspezifische Kinder- und Jugendliteratur konzentriert, sondern wurde zwischen 1900 und 1945 mit neuen Medien wie Radio und Film modernisiert. Die damit verquickte Medienverbunddiskussion bekommt in der Mediengeschichtskonzeption des Lüneburger Medienhistorikers Werner Faulstich einen besonderen Reiz. In dieser Theorie wird der sozial- und kommunikationswissenschaftliche ebenso wie der systemtheoretische Mediencharakter von Einzelmedien in ihrem spezifischen Leistungsvermögen besonders akzentuiert. Medien werden als organisierter Kommunikationskanal in ihrem Systemkontext, ihrer gesellschaftlichen Dominanz, ihrer Institutionalisierung historisch differenziert unter dem Aspekt des Medienwandels betrachtet. Dies kann den Prozess der Modernisierung besonders deutlich aufzeigen (vgl. Faulstich 2006). Die Phase von 1900 bis 1945 ist dabei geprägt vom Übergang aus dem von Druckmedien wie Zeitschrift, Heftchen oder Postkarte, ersten elektronischen Medien wie Telegrafie etc. dominierten „Industrie- und Massenzeitalter“ (ebd., 59–107) zur historischen Phase der „neuen elektronischen Welt“ (vgl. ebd., 116–120), die neue elektronische Massenmedien wie das Radio, aber auch den Film hervorbrachte. Für den hier relevanten Kontext
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ist insbesondere entscheidend, wie dieser Übergang vom „Industrie- und Massenzeitalter“ zur „neuen elektronischen Welt“ sich in konkreten Robinsonaden und Robinsonadaptationen für Kinder und Jugendliche zeigt. Zu fragen ist, welche Rezeptionsbedingungen die Verwertung im Medienverbund und in den neuen elektronischen ebenso wie in den traditionellen druckmedialen Einzelmedien beeinflussen. Von besonderem Interesse ist es außerdem, die medialen Übergangsphänomene mit den beobachteten, rekonstruierten und kontextualisierten Ergebnissen der untersuchten Robinsonaden und Robinsonadaptationen konkret zu konfrontieren, sodass sie ein aufschlussreiches medienhistorisches Fallbeispiel bilden können.
Zur Systematik von Robinson-Bearbeitungen und Robinsonaden für Kinder und Jugendliche Der gattungskonstituierende Prototyp von Daniel Defoe, der 1719 erschienene Roman Robinson Crusoe (Defoe 1719), greift eine Motivkombination auf, die „durch partielle Abgeschiedenheit eines Einzelnen oder einer Gruppe von Menschen“ (Stach 1999, 1) charakterisiert ist. Diese Motivkombination „gehört, schon vor Defoe, der Weltliteratur an“ (Rehm 1929, 59; vgl. auch Stach 1999, 1 f.). Aus diesem motivischen Material speist sich inhaltlich die Entwicklung der Robinsonade zu einer literarischen Gattung. Defoe „schafft das eigentliche Werk, das der Gattung den Namen gibt“ (Rehm 1929, 60). So sind es die „inselhafte Abgeschlossenheit, entweder als Hauptmotiv oder doch als Episode verwertet“, sowie der „exilhafte Charakter des Aufenthalts, d. h. unfreiwillige Gefangenschaft mit der lebhaften Sehnsucht, wieder freizukommen“, die motivgeschichtlich betrachtet die beiden Hauptmerkmale der Gattung der Robinsonaden bilden. Hinzu treten im spezifisch literarischen Kontext formale narratologische Charakteristika als Fiktionalitätssignale wie das Aufgreifen von Elementen der „abenteuerlichen Lebens- und Reisebeschreibung“ als „ein literarisches Erzählmuster, in die Reise und Biografie in typischer Form miteinander vermittelt sind, […] das Ensemble dieser Momente kann als Robinsonade bezeichnet werden“ (Fohrmann 1981, 49). Unter Robinsonaden (vgl. auch Schlaeger 2003) sind daher entweder literarische oder mediale Adaptationen des gattungskonstituierenden Prototyps des Robinson (wie adressatenspezifische Nacherzählungen der Handlung, Bilderbuchfassungen etc.) zu verstehen. Zugleich gehören zu ihnen mehr oder minder eigenständige, produktive Rezeptionszeugnisse wie Erweiterungen, Umarbeitungen, Neugestaltungen der Vorlage oder innovative Darstellungen durch kreative Motivkombinationen. Dazu zählt auch das konventionelle oder neuartige Aufgreifen von Gattungsmustern einschließlich satirisch-parodistischen Perspektiven etc. als literarische oder mediale Werke. Motive der Vorlage werden gezielt implizit oder explizit ästhetisch verwertet.
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Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang die Rezeption innerhalb des kinder- und jugendliterarischen Handlungs- und Symbolsystems ein (vgl. Ewers 2012). Einerseits werden Robinsonbearbeitungen für Kinder und Jugendliche durch die adressatenspezifische Zurichtung (die sogenannte Akkommodation) des ursprünglich erwachsenenliterarischen Stoffs Teil der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur (vgl. ebd., 171). Andererseits wird die Gattung durch die eigenständige Hervorbringung in der Rezeptionsgeschichte distributiv und qualitativ bedeutender; sie wird spezifische bzw. originäre Kinder- und Jugendliteratur. Insofern sind die Robinsonaden der Kinder- und Jugendliteratur „als ein Teilgebiet der Gattung [der Robinsonaden; S. Sch.] zu betrachten. Das Spektrum ist breit, und die Übergänge zur Erwachsenenliteratur sind fließend“ (Stach 1999, 30). Zu unterscheiden sind daher die direkten adressatenspezifischen Bearbeitungen von Defoes Robinson für Kinder und Jugendliche von den eigentlichen Robinsonaden für diese Adressatengruppe. Hierunter sind wiederum die Adaptationen erwachsenenliterarischer Robinsonaden für Kinder und Jugendliche eigens zu differenzieren. Dazu zählt bspw. der Sonderfall der Felsenburgiaden. Von Interesse sind hierbei die spezifisch kinder- und jugendliterarischen Bearbeitungen von Johann Gottfried Schnabels Tetralogie Wunderliche FATA einiger SEE-Fahrer/Insel Felsenburg (1731–43) (Schnabel 1731–1743; zur Rezeptionsgeschichte vgl. Schmideler 2012) wie z. B. Christian Carl Andrés philanthropische, jugendliterarische Felsenburgiade Felsenburg, ein sittlichunterhaltendes Lesebuch (vgl. André 1788/89; Schmideler 2008). Den weitaus gewichtigsten und bedeutendsten Teil der Gattungstradition bilden die Robinsonaden als Teil der Kinder- und Jugendliteratur, die eigens für Kinder und Jugendliche geschrieben worden sind. Herausragend erfolgreiche Beispiele sind Campes Robinson der Jüngere (Campe [1779/80] 2000), Der Schweizerische Robinson von Wyss (Wyss 1821–1827) und die auf Marryats Masterman Ready zurückgehende deutsche Übertragung Sigismund Rüstig (Marryat 1843a und b).2 Für die ästhetische Verwertung in Einzelmedien wie Rundfunkbearbeitung (z. B. Hörspiel), Filmadaptation oder Fernsehfassung oder im Ensemble eines Medienverbunds gilt Entsprechendes. Die bis 1990 erschienenen Robinsonaden in der deutschsprachigen Literatur sind, wenn auch nicht vollständig, einschließlich Filmen, Hörspielen und Musikstücken bibliografisch erfasst (vgl. Stach 1991). Zusammengefasst ist die Figur des Robinson ein idealtypischer Charakter. Die Gattung der Robinsonaden stellt eine modellhafte Inszenierung eines Erzählmusters dar, das Veranschaulichung des spannungsvollen Verhältnisses von Zivilisation und Kultur sein will:
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differenziert weiter in „apokryphe Robinsonaden“, die den Verweis auf Robinson nicht explizit im Titel führen, und „Pseudorobinsonaden“, in denen neben „den Hauptkriterien, insulares Dasein und zivilisatorische Isolation, andere Kriterien wie Ausgangssituation, Lebensbedingungen und Gesellschaftsordnung nur eine untergeordnete Rolle“ spielen (Stach 1991, I–III).
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Der Robinson ist eine idealtypische Gestalt und jede Robinsonade eine idealtypische Gestaltung menschlichen Lebens. Sie entsteht unter den religiösen, ethischen, sozialen, philosophischen und pädagogischen Bedingungen ihrer Zeit, um der sich verändernden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten und den Entwurf zu einer humaneren Entwicklung der Welt einzuleiten. (Stach 1984, 190)
Dieser traditionsbewusste, fortschrittsoptimistische, utilitaristische und den Anspruch an ein progressives Geschichtsbild erhebende Deutungsansatz gerät im Kontext der derzeit dominierenden poststrukturalistischen, postkolonialen und dekonstruktivistischen Deutungsmuster zunehmend in den Schatten der Kritik. Ursache ist die bereits erwähnte kolonialistische und eurozentristische Perspektive der Robinsonaden. Diese Kritik gipfelt – in Anlehnung an Friedrich Forsters Medienverbund Robinson soll nicht sterben – in der Forderung „Robinson muss sterben“ als postkoloniale kulturwissenschaftliche Antwort auf die allfällige Kontamination des gesamten Stoffkreises mit kolonialistischen Denk- und Verhaltensweisen, die ideologiekritisch aufgedeckt und überwunden werden sollen (vgl. Bauer 2009).
Historische Kontextualisierung I: Zur Wirkungsgeschichte des Erfolgsmodells der Robinsonaden Für die Einschätzung der medialen Rezeption des Stoffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es wegen der Intensität und Dichte der Rezeptionsdokumente zwingend notwendig, die historische Entwicklung in der davor liegenden Phase zu rekonstruieren und zu kontextualisieren. Konzentriert man sich allein auf die produktive literarische Rezeption von Defoes Robinson Crusoe des deutschsprachigen Raums im 18. und frühen 19. Jahrhundert, ist der Anteil der hier erschienenen Robinsonaden enorm, die überwiegend zur Erwachsenenliteratur zu zählen sind. Mit den Worten eines zeitgenössischen Anthologisten dieser Robinsonaden, Johann Christian Ludwig Haken, von 1805 lässt sich konstatieren: „Durch das Vorbild von Defoes Robinson Crusoe in Bewegung gesetzt, regnete es mehrere Decennien des verflossenen Jahrhunderts hindurch Robinsone ohne Zahl“ (Haken 1805, II; vgl. auch Stach 1984, 188). Der Robinson-Stoff und seine zahlreichen Bearbeitungen bzw. Robinsonaden im eigentlichen Sinn waren also im 18. Jahrhundert bereits sehr erfolgreicher populärer Lesestoff für Erwachsene, bevor sich die Kinder- und Jugendliteratur dieser Gattung bediente (vgl. Zupancic 1976; Liebs 1977 u. a.). Zwar ist Johann Karl Wezels zivilisationskritischer, spannend erzählter und zum eigenständigen Nachdenken aktivierender Robinson Krusoe (1779/1780) (Wezel 2016; vgl. zur Bedeutung u. a. auch Ilbrig 2008) kein verlegerischer und kinderliteraturwissenschaftlicher Rezeptionserfolg beschieden gewesen, dafür gelang dies der Wissen vermittelnden und streng philanthropischen Robinsonade Robinson der Jüngere von Joachim Heinrich Campe (2000), die formal in Erziehungsdialogen innerhalb von Erzählabenden gegliedert ist, desto mehr
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(vgl. auch Wild 1986; Schlaeger 2003, 310). Campes Robinsonbearbeitung, die einer Anregung Jean-Jacques Rousseaus folgte (vgl. u. a. Stach 1999, 4–5; Franz 2012a, 10–11), lief dem Original Defoes im 18. und 19. Jahrhundert geradezu den Rang ab. Das Kinderbuch Campes erschien in „120 Auflagen, in 25 Sprachen übersetzt“ (Rehm 1929, 61), wurde „von Kadix bis Konstantinopel“ gelesen (Stach 1984, 189) und galt im 18. und 19. Jahrhundert als „die neue Bibel aller Kinder gebildeter Stände“ (Wolfgang Menzel; zit. nach Ewers 1982, 232 f., Zitat, 232). Durch die vielfach verbreiteten Illustrationen Ludwig Richters von 1848 wurde das Buch vollends auch zum populären Lesestoff des bildungsbeflissenen und fortschrittsoptimistischen Bürgertums des 19. Jahrhunderts (vgl. Stach 1999, 6; Franz 2012a, 11). Als Projektion von Perfektibiliätsstreben, Fortschrittsoptimismus, Utilitarismus, Zivilisationskritik, von bürgerlichem und christlich konnotierten Leistungsethos, von Morallehren und Tugenden sowie zum Zweck der Vermittlung der Affektbeherrschung eignete sich das vom Philanthropismus inspirierte Kinderbuch zur Popularisierung eines aufklärerischen, vernunftgeleiteten Weltbilds geradezu ideal. Robinson avancierte zum Genrecharakter eines Geschäftigen und Industriösen. Er durchläuft die Entwicklungsgeschichte der Menschheit in nuce: vom Jäger und Sammler, Ackerbauer und Viehzüchter bis zum spezialisierten Handwerker, in gottesfürchtiger Gläubigkeit, mit zivilisatorischem Antrieb und in der Episode mit der Figur des Freitag auch kolonialistischem Anspruch. Als kinderliterarischer Zielpunkt und ästhetischer Zweck sollte die Figur die verbindliche Vorbildfunktion des aufklärerischen, bürgerlichen, philanthropischen Weltbilds propagieren. Robinson wurde so zu „einer pädagogischen Leitfigur“ (Stach 1999, 6). Sie wurde durch ihre starke Präsenz vor allem auf dem Buchmarkt bis in die 1930/40er-Jahre in Schule und Haus ungebrochen wirkmächtig in ihrer weltanschaulichen und sittlichmoralischen Vorbildfunktion weitertradiert. Doch bereits im Untersuchungszeitraum, z. B. in einem grundlegenden literaturwissenschaftlichen Lexikonartikel von 1929, ging man aus ästhetischen und aus weltanschaulichen Gründen auf Distanz zur pädagogischen Indienstnahme Robinsons durch Campe: „Der krasse Nützlichkeitsstandpunkt des 18. Jahrhunderts nur konnte zu dieser langweiligen Umbildung des dadurch ganz beiseitegeschobenen Originals führen“ (Rehm 1929, 61). Diese stärker werdende Kritik wurde auch von literaturpädagogischer Seite seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus dem Umfeld der Jugendschriftenbewegung um Heinrich Wolgast unterstützt (vgl. Stach 1999, 7; Franz 2012a, 14, 16). Daher wurde im Kaiserreich nicht nur die Vorlage Campes selbst weitertradiert, sondern es wurden auch spezielle, für die Schule und die Privatlektüre bestimmte Bearbeitungen erstellt. Diese Adaptationen griffen diese Aspekte der Kritik auf und waren aufgrund dieser Aktualisierungen wiederum überaus erfolgreich. „Neben Campes Robinson der Jüngere war Gustav A. Gräbners Umarbeitung der Campeschen Vorlage die verbreitetste Fassung bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein“ (Stach 1984, 189; Franz 2012a, 15; zu den Ausgaben vgl. im Detail Stach 1991, 93 f.); noch 1945 erschien von dieser Bearbeitung eine 45. Auflage (vgl. ebd., 94).
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Es sind deshalb auch Robinsonaden, die im Unterschied zu Campes Kinderbuch stärker dem unterhaltenden, nach Spannung verlangenden, jugendlichen Lesebedürfnissen des Abenteuergenres entsprechen, die im 19. und 20. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen. Sie dokumentieren den Prozess der Literarisierung der Kinder- und Jugendliteratur. Hier sind Spannung, Aktionismus, das Spiel mit der Angstlust der jungen Lesenden ebenso wie Grandiositätsfantasien Ausweis für die Verankerung im beliebter werdenden Abenteuergenre. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren diese Abenteuerbücher als Robinsonaden vor allem auf dem Buchmarkt noch überaus präsent, sodass hier Kontinuitäten der langen Dauer entstehen und wachsen konnten. Marryats Masterman Ready von 1841 – seit einer Übertragung des Kinder- und Jugendbuchautors Franz Hoffmann von 1843 (Marryat 1843a) bekannt, als Sigismund Rüstig in der Übersetzung von Heinrich Laube (Marryat 1843b) im deutschsprachigen Raum populär geworden und in zahlreichen Bearbeitungen und Ausgaben distribuiert – steht für diese Tendenz (vgl. Stach 1991, 99–112). Sigismund Rüstig wurde „in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beliebteste deutschsprachige Robinsonade“ (Franz 2012a, 6 f.). Auch dieser im Abenteuergenre besonders nachhaltig verhaftete Rezeptionsstrang der Robinsonaden dokumentiert „eine dauerhafte Beliebtheit und ein ungebrochenes Leseinteresse“ (Stach 1999, 11). Beides wirkte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch stark nach, wie die Präsenz der Robinsonade auf dem Buchmarkt für Kinder und Jugendliche belegen kann. Dies gilt nicht weniger für den vierbändigen Schweizerischen Robinson von Johann David und Johann Rudolf Wyss (Wyss 1821–1827), eines der international erfolgreichsten Kinder- und Jugendbücher aus der Schweiz überhaupt (vgl. Kortenbruck-Hoeijmans 1999; Rutschmann 2002, 159). Zwischen 1811/1812 und 1980 sind „671 verschiedene Ausgaben in deutsch, französisch und englisch“ (Rutschmann 2002, 159) sowie zahlreiche mediale Adaptationen nachweisbar – von der Bilderbuchfassung bis zum Filmklassiker (vgl. Kortenbruck-Hoeijmans 1999, 190–202). Der Schweizerische Robinson ist zunächst Erziehungsbuch und Familienrobinsonade, da es hier eine gesamte Schweizer Predigerfamilie auf eine einsame Insel verschlagen hat. Die insbesondere philanthropische Tradition der belehrenden, sittlich unterhaltenden Erziehungsdialoge wird auch hier fortgesetzt (vgl. ebd., 119–121), obwohl die Handlung der abenteuerlichen Erzählung Teil des Geschehens auf der einsamen Insel ist und nicht wie in Campes Robinsonade der Vermittlung durch den in Dialogen redenden Vater bedarf. Überdies handelt es sich um eine „erzählte Enzyklopädie“ (Rutschmann 2002, 171 f.). Allein mit Blick auf die Bildung der jungen Leserschaft auf dem Feld der Naturgeschichte lassen sich belehrende Informationen über mehr als „140 verschiedene Tierarten und 92 Pflanzensorten“ zum Teil mit genauen und sehr spezifischen Details zu deren Vorkommen und Lebensweise in der Tetralogie nachweisen (vgl. Kortenbruck-Hoeijmans 1999, 130). Da darunter das virginianische Kragenhuhn neben Giraffen, Kängurus und Seeelefanten auf einer Insel gemeinsam vertreten sind, erscheinen die Tiere hier weniger Teil einer realistischen Umweltgeschichte, sondern vielmehr als lebende Modelle in einer zur erzählten Handlung gewordenen Enzyklopädie für Kinder, die primär der Wissensvermittlung dient.
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Daneben waren kinder- und jugendliterarische Robinsonaden erfolgreich, die zum Genre des Mädchenbuchs zu zählen sind (vgl. Stach 1999, 17–21). Auch auf der Ebene des visuellen Erzählens in Gattungen wie Bilderbuch und in Sonderformen des Einblattdrucks wie dem Bilderbogen sind Robinsonaden stark distribuiert worden (vgl. ebd., 21–25; Stach 1991, 215–222). Ebenso lassen sich dramatische sowie lyrische Adaptationen nachweisen (vgl. Stach 1999, 25–28; Franz 2012a, 26–29; Stach 1991, 226–229). Diese große Breite der Gattungen und diese Formenvielfalt zeigen einmal mehr die erstaunliche Eigendynamik der Rezeption in diesem literarischen Feld. Sie setzte sich ungebrochen auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fort. Wie fest und tief diese Robinsonaden vor allem im 19. Jahrhundert als Fundament der Lesesozialisation auf der Basis einer bürgerlichen Weltanschauung verwurzelt waren, belegt bspw. ein anonym erschienenes Nürnberger Bilder- und Lesebuch von 1858. Hier wird bereits den Drei- bis Fünfjährigen in Bild und Wort in kleinen Erziehungsdialogen der Kern der Handlungsmuster der berühmtesten Robinsonaden wie Sigismund Rüstig oder die Insel Felsenburg belehrend und unterhaltend geschildert, die sie dann in Schule und Haus im weiteren Verlauf ihrer literarischen und ästhetischen Bildung in den Originalfassungen kennenlernen sollten (vgl. Robinsonaden 1858). Auch aus einer überschwänglichen Charakterisierung von Bogumil von Goltz wird die Wertschätzung des Stoffs für die bürgerliche Lesekultur im 19. Jahrhundert deutlich: „O Robinson, du Wundermensch, du Heros der Kindheit! […] O Robinson, du Buch der Bücher, du heilige Schrift in Kinderherzen geschrieben, du echte Kinderbibel aller Zeiten“ (zit. nach Franz 2012a, 10). Dies vor Augen, lässt sich der enorme Erfolg der Robinsonaden auch noch auf dem Buchmarkt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklären. So erschien bspw. von Fritz Gansbergs Die Geschichte von Robinson für unsere Kleinen (1930) „eine Ausgabe, die als Ganzschrift für den Literaturunterricht in 20. Auflage noch 1941“ verlegt wurde (Stach 1999, 8; Gansberg 1941; vgl. auch Stach 1991, 92). Versucht man, die formal-strukturellen Spezifika der Robinsonaden in der Kinder- und Jugendliteratur seit dem 18. Jahrhundert modellhaft zu subsumieren, fällt Folgendes auf: Ein erstes Gattungsmuster betont – wie bspw. die Bearbeitungen von Sigismund Rüstig – im Ergebnis eines Prozesses der zunehmenden Literarisierung der Kinder- und Jugendliteratur als Fiktionalitätsmodell insbesondere die Verankerung der Robinsonaden als Teil der erzählenden Abenteuerliteratur. Ein zweites Gattungsmuster akzentuiert – wie bspw. Campes Robinson der Jüngere – Robinsonaden als Wissen vermittelnden Sachstoff und somit als Teil eines Wirklichkeits- oder Faktualitätsmodells der Weltanschauungsbildung von Kindern und Jugendlichen. Hierzu zählt auch die pädagogische Instrumentalisierung des Robinsonstoffs für den schulischen Verwertungskontext mit expliziten Bildungs-, Belehrungs- und Erziehungsabsichten: Anteil haben alle Fächer, nämlich neben Religion Zeichnen, Singen, Deutsch (Lesen und Schreiben), Rechnen und Naturkunde, die auch das Geographische, Technologische und Kulturhistorische (mit der Hinführung zum Geschichtsdenken) mit einschließt. (Franz 2012a, 16)
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Beide Modelle haben eine gemeinsame hybride Schnittstelle hinsichtlich der implizit oder explizit vermittelten moralerzieherischen Funktion als Spezifik der Adressatenorientierung im Prozess der Akkommodation der Zurichtung des Robinson-Stoffs für Kinder und Jugendliche. Diese adressatenspezifischen Robinsonaden sind daher in unterschiedlichen Graduierungen stets auch sittlichmoralisch belehrende Erziehungsschriften. Diese Schnittstelle zur moralischen Bildung ist Ausdruck für das Spannungsfeld der Kinder- und Jugendliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts zwischen Belehrungsanspruch und Unterhaltungsabsicht, in der die Robinsonaden auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts changieren und oszillieren. In den vielfach rezipierten Robinsonaden von Campe und Wyss sind diese belehrenden Anteile in den Erziehungsdialogen und dem philanthropisch-pädagogischen Bildungsprogramm sittlich-erbaulicher Werte- und Normenorientierung noch besonders stark ausgeprägt. Dieser Anteil geht allmählich zugunsten der Unterhaltungsabsicht und der Akzentuierung der Literarizität zurück.
Historische Kontextualisierung II: Zur Rezeptionsgeschichte zwischen 1900 und 1945 In welchem Kontext wurde der Robinsonstoff zwischen 1900 und 1945 jedoch konkret rezipiert? Durch die Präsenz des literarischen Stoffs von Robinson Crusoe in der Erwachsenenliteratur und die breite Rezeption der Robinsonaden auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur war das Werk sowohl als Privat- und Familienlektüre als auch als Unterrichtsgegenstand und Schullesestoff bereits im 19. Jahrhundert überaus beliebt. Robinson brachte daher aus der bis dahin ungebrochen wirkmächtigen zweihundertjährigen Tradition seiner Rezeption einen beträchtlichen Kredit mit. Im Schulunterricht des 19. Jahrhunderts war Robinson Crusoe ein sogenannter Konzentrationsstoff innerhalb der pädagogischen Theorie Johann Friedrich Herbarts. Der Stoff wurde insbesondere im Kontext des Kulturstufenmodells der pädagogischen Bildungstheorie von Tuiskon Ziller pädagogisch rezipiert (vgl. u. a. Fuchs 1893). Grundgedanke war, dass die „Unterrichtsgegenstände“ sich im eigentlichen Sinn in den Fächern konzentrieren, indem sie „sich auf die Entwicklung, Ausprägung und Erweiterung“ eines „Gedankens“ beziehen (Franz 2012a, 15). Dies geschah in einem Entwicklungszusammenhang der Kulturstufen, indem „das Kind in seiner Entwicklung – im Zeitraffer – nochmals dieselben Stufen durchläuft wie in ihrer gesamten Entwicklung, also Ontogenese und Phylogenese werden analog zueinander gesehen“ (ebd.). Als sogenannter Gesinnungsstoff war Robinson Crusoe für das zweite Schuljahr vorgesehen. Er hatte wegen seiner besonderen anthropologischen Eignung zur Veranschaulichung der Ziele des Konzentrationsstoffs im Kontext der Kulturstufentheorie verständlicherweise verbindlichen Referenzstatus. Für diese obligatorische Lektüre wurden eigene Schulfassungen konzeptioniert. Robinson Crusoe war
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verpflichtender Unterrichtsgegenstand und gewann nach 1900 für die Schule des Kaiserreichs nochmals an Bedeutung (vgl. im Detail ebd., 14–16). Der Stoff war daher bereits zur Jahrhundertwende hinreichend etabliert, um sowohl aus kinder- und jugendliterarischer als auch aus pädagogischer Perspektive als ein zentraler Bezugspunkt der ästhetischen und sittlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen gelten zu können. Reformpädagogische Strömungen wie die Arbeitsschulbewegung entwickelten dieses ohnedies bereits starke Potenzial weiter. Robinson wurde als „Prototyp der Selbstständigkeit“ erklärt, anhand seiner Geschichte wurden praktische Tätigkeiten nach seinem Vorbild erprobt, die Aktualisierungen und Innovationen der hergebrachten Rezeption des 19. Jahrhunderts bildeten: „In der Schule lässt man die Schüler nun basteln, töpfern, sägen, hobeln und hämmern, eben viele Tätigkeiten verrichten, wie sie auch in Robinson Crusoe vorgegeben sind“ (Franz 2012a, 17). Ein so erfolgreich bestelltes Feld blieb auch von der aufblühenden psychologischen Jungleserforschung und Lesesozialisationstheorie nicht unbeeinflusst. Es war die bis heute bekannte Psychologin und Lesesozialisationsforscherin Charlotte Bühler, Ehefrau des Urhebers des Organon-Modells der Sprache, Karl Bühler, die in ihrer Theorie der verschiedenen Lesealter der Figur Robinsons einen besonderen konzeptionellen Stellenwert beimaß. Sie perpetuierte somit den ohnedies gestärkten Referenzstatus des Werks für die Rezeption in Schule und Privatlektüre kontinuierlich für die Bedürfnisse des 20. Jahrhunderts. Bühler griff dabei sowohl auf qualitative als auch auf quantitative wissenschaftliche Argumente zurück, um den spezifischen Bedeutungsgehalt des Robinson-Stoffs für ihre Zwecke zu legitimieren. Ihre „umfangreichen empirischen Untersuchungen“, die „u. a. 8000 Kinder und Jugendliche in Wien nach ihren Leseinteressen“ befragten, zeigte eine auffällige Konzentration „jeweils zwischen 10 und 18 %“ bei den „8–14-jährigen Jungen“ (Franz 2012a, 19) – und auch bei den 10–13-jährigen Mädchen noch zwischen 10 und 12 % – in Bezug auf Robinson. Diese Bevorzugung des Abenteuerlichen anhand des Robinson Crusoe als Lesestoff bestimmte Bühler auch zur Definition der Altersstufenspezifik ihrer Theorie: Im Literaturbedürfnis des Kindes glaubte ich drei Stadien zu erkennen: das Struwwelpeteralter, das Märchenalter und das Robinsonalter. Im ersten Stadium liebt das Kind kleine einfache Geschichten […]; im Märchenalter lässt sich das Kind weit fort in die Wunderwelt führen, im Robinsonalter kehrt es zurück in die reale Welt. (Charlotte Bühler; zit. nach Franz 2012a, 20)
Auch wenn der Begriff „Robinsonalter (auch: Abenteueralter)“ nach 1945 „umstritten und in Frage gestellt“ wurde, da „Lektüre-Vorlieben vom jeweiligen Buchangebot abhängen und die Lektüreinteressen einer Entwicklungsphase nicht durch eine Buchart und erst recht nicht durch ein einziges Werk erfassbar und charakterisierbar“ sind (Dahrendorf 1984, 191), war die Lesealterzuordnung Bühlers für den Rezeptionszeitraum zwischen 1900 und 1945 innovativ und prägend. Hier wurden Rezeptionstraditionen aufgegriffen, leserpsychologisch erweitert, somit konnten sich bereits bestehende Traditionslinien verfestigen.
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Abb. 1 Umschlag der Broschüre Was liest unsere Jugend? (Siemering/Barschak/Gensch © Berlin: R. von Decker, 1930)
Allerdings sollte man den von Bühler erhobenen Zahlen auch weitere empirische Ergebnisse der zeitgenössischen Jungleserforschung als Korrektiv an die Seite stellen. Sie vermitteln ein weitaus differenzierteres Bild der Rezeption des Robinson Crusoe in Bezug auf die Lektüreinteressen der Kinder und Jugendlichen. So zeigt eine Studie (Abb. 1) mit statistischen Erhebungen zur Lektüre von Knaben und Mädchen in der Weimarer Republik im Erhebungszeitraum 1929/1930 in Bezug auf Robinson Crusoe erstaunliche Details (vgl. Siemering/ Barschak/Gensch 1930). Gewählt wurde die Methode der direkten Befragung, ausgewertet wurden deutschlandweit 25.000 Zettel, wobei männliche und weibliche Jugend, Großstadt und Kleinstadt sowie verschiedene Schultypen differenziert erfasst worden sind. Eine Auswertung an einem Knabengymnasium einer Großstadt in einem proletarischen Viertel von einer Schülerschaft im Alter von 13 bis 16 Jahren weist lediglich 13-mal die Nennung des Robinson als Lektürepräferenz aus, während
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Remarques Im Westen nichts Neues 49-mal genannt wird (vgl. ebd., 84). Dies belegt nicht nur die Schichtenspezifik des Phänomens der Lektüre des Robinson Crusoe eindrücklich. Dass mit Blick auf die populärkulturelle Entwicklung der Massenlektüre von Heftchen- und Serienliteratur unter der lesenden Jugend ganz andere Lektürepräferenzen tonangebend waren als Robinson Crusoe, legt eine Statistik des Gesamtergebnisses einer preußischen Kleinstadt mit weniger als 30.000 Einwohnern in Bezug auf Knabenlektüre im Alter von 14 Jahren eindrücklich dar: Die zwischen 1920 und 1932 publizierte Heftchenserie Frank Allan – Der Rächer der Enterbten (vgl. auch Galle 1988, 100–112) wurde von den 14-jährigen Knaben insgesamt nicht weniger als 1684-mal genannt, während Robinson Crusoe lediglich ganze 5-mal erwähnt wurde (vgl. Siemering/Barschak/ Gensch 1930, 56 f.).3 Frank Allan galt als „Inbegriff des Serienhelden in der Weimarer Republik“, die Serie war dem „Detektivabenteuer im Genre des Heftromans“ verpflichtet, dessen populäre Ausbreitung auch dem Aufkommen des Filmdetektivs im Stummfilmzeitalter geschuldet war; der Erfolg war „durchschlagend“, der Name des Helden wurde „zu einem festen Begriff“ (Galle 1988, 110 f.). Allein dieser auffällige Wert relativiert im Ergebnis die Untersuchungen Bühlers erheblich. Der statistische Wert stellt den Klassikerstatus des Lektürestoffs in ein angemessenes Verhältnis zu der offensichtlich von der Masse tatsächlich bevorzugten, zeitgenössisch typischen Lektüre der modischen Heftchen- und Serienliteratur als Teil einer „transmedialen Expansion“ (Faulstich 2006, 95–100). Dort wo das Schulsystem vor allem des Kaiserreichs, der Weimarer Republik, aber auch des Nationalsozialismus auf qualitativ hochwertige Klassikerlektüren im schulischen Kontext großen Wert legte (auch hier gab es erstaunliche Kontinuitäten; vgl. Gansberg 1941), funktionierte das alte, aus dem 19. Jahrhundert überkommene Muster der Lektüre des Robinson hingegen offenbar noch. Bei einer Erhebung der Lektüre einer ersten Klasse in der weiterführenden Schule (14 Jahre alt) wird Robinson Crusoe in der Kategorie „Gute Jugendschriften“ immerhin 7-mal genannt; Wilhelm Speyers Kampf der Tertia im Vergleich dazu 5-mal (vgl. Siemering/Barschak/Gensch 1930, 42). Insgesamt zeigt sich, dass im Untersuchungszeitraum die Rezeption des Stoffes differenziert changiert. Das Spannungsfeld bewegt sich zwischen aus dem 19. Jahrhundert überkommener lesesozialisatorischer Inauguration als Gesinnungslektüre und Konzentrationsstoff in der Schule des Kaiserreichs, arbeitsschulspezifischen Aktualisierungen, der lernpsychologischen Aufwertung des Buchs durch die Etablierung des Robinsonalters in der Lesealtertheorie Charlotte Bühlers und der statistisch nachweisbaren Verdrängung durch moderne Lesestoffe wie Heftchen- und Serienliteratur.
3Vgl. auch ebd., 60: „Der überragende Anteil, den Frank Allan hier hat, wird nicht überall bemerkt, er erscheint aber fast ohne Ausnahme selbst in jedem Dorf. Einzelne Anfragen bei Schulen […] ergaben, dass er auch dort vorhanden war. Man kann auch sicher sein, ihn in jeder Jugendgemeinschaft anzutreffen.“
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Robinsonaden im Medienverbund Wie aus den bisherigen Ausführungen mehrfach deutlich geworden sein sollte, war Robinson Crusoe aus einer facettenreichen literarischen Tradition in der Rezeption als Schulpflichtlesestoff und in der Privatlektüre seit dem 18. Jahrhundert und das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis zum Ende des Untersuchungszeitraum überaus präsent. Eine Medienverbundverwertung brauchte daher nicht erst inauguriert und ästhetisch kinder- und jugendmedial begründet zu werden. Gleichwohl ist der Anteil der Medienverbünde im eigentlichen Sinn, also eines bewussten intermedialen Zusammenspiels eines konkreten literarischen Stoffs einer Robinsonade in rezeptionsspezifischen Medien zum Hören, Sehen und Lesen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz dieser sehr günstigen Ausgangsbedingungen offenbar weitaus geringer ausgeprägt als man zunächst annehmen mag. Dies hängt offensichtlich wesentlich damit zusammen, dass die Rezeption des Robinson Crusoe und der adressatenorientierten Robinsonaden auch in diesem Zeitraum als Spätfolge des 19. Jahrhunderts traditionell in Schule und Haus noch stark an die Gattungen und Genres der buch- und druckmedienzentrierten Kinder- und Jugendliteratur gebunden war. Einzelne Medienverbünde ragen dennoch aus dieser Beobachtung heraus. Ein auffälliger und in der Rezeption intensiver Medienverbund war Friedrich Forsters (d. i. Waldfried Burggraf) über die Jahrzehnte der 1930er- bis 1950er-Jahre in Einzelmedien präsenter kinderliterarischer Stoff Robinson soll nicht sterben. Er bildete primär als Theaterstück (Forster 1932 u. ö.), jedoch auch als Erzählung (Forster 1948 u. ö.), als Hörspielbearbeitung (Forster 1950; vgl. Stach 1991, 252) und als Verfilmung (Forster 1956) insgesamt eine zeitversetzt distribuierte, medienverbundspezifische Einheit. Das Theaterstück wurde „1931 geschrieben und am 19. September 1932 im Alten Theater in Leipzig von Detlef Sierock uraufgeführt. Forster dramatisiert den Lebensabend von Daniel Defoe“ (Stach 1991, 209; Reinhard 1994); der Stoff ist „eine Hommage an Daniel Defoe“ (Franz 2012a, 1). Thematisch steht Robinson soll nicht sterben stark in der Erziehungstradition der adressatenspezifischen Robinsonaden für Kinder und Jugendliche. Der verarmte, alte Defoe und sein sittlich-moralisch missratener, fauler, verzogener Sohn Tom eröffnen eine dichotomische Figurenkonstellation, die in den kontrastiv konzeptionierten Kinderhelden kulminiert. Tom wird die fleißige, moralisch tugendreine Maud an die Seite gestellt. Sie soll die erzieherische Vorbildwirkung erzeugen. Defoe wiederum vertritt moderne rousseauistische und philanthropische Ansichten des 18. Jahrhunderts. Er sieht Kindheit als eigenständige Lebensphase mit dem Recht auf Spiel und Bildung, statt als Pflicht zur frühzeitigen Kinderarbeit. Die insulare Situation der Robinsonade wird hier in der Isolation und der Hilflosigkeit von Defoe und der Kindergruppe mit diesen aufklärerischen Kindheitsansichten inszeniert. Die Protagonistin Maud überwindet diese Isolation, indem sie den Mut aufbringt, zum König zu gehen, um ihre Rechte einzufordern. Diese Tugendbeflissenheit wiederum erzeugt auch einen Läuterungsprozess bei Tom. Sie überträgt sich schließlich auch auf den
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Königssohn, der das Robinsonspiel zivilisationskritisch aufgreift und das neue Kindheitsideal als Hoffnungsträger für eine neue, aufgeklärte Gesellschaftsordnung aufgreift. Robinson wird in diesem Kontext als aufklärerisches Vorbild des Willens zur Selbsttätigkeit in Szene gesetzt, den Kinder aller Stände folgen sollen. Das Eintreten für Kinderrechte, die Kritik an Kinderarbeit, das Bemühen, die sozialen Voraussetzungen für eine glückliche Kindheit in Frieden und Freiheit zu schaffen, geben dem kinderliterarischen Stoff eine aktuelle Tendenz im Zeichen der Modernisierung. Über Defoes Tod hinaus leben diese Ideen in der Gestalt Robinsons und seines Schicksals im Buch weiter: Robinson soll nicht sterben. In der Verfilmung wird das nach 1949 virulente Problem der Durchsetzung internationaler Kinderrechte, die 1989 in der UN-Kinderrechtskonvention juridifiziert wurde, durch die drei Jungen Ben, Charly und Jim noch stärker charakterisiert: Sie sind jünger als die Helden von Forsters Theaterstück. Auf diese Weise wird der Aspekt der Kinderarbeit deutlicher veranschaulicht, der in der Filmfassung auch eine größere Rolle spielt. Innerhalb des Medienverbunds von Forsters kinderliterarischem Stoff wird das moralisch-sittliche Programm der Robinsonaden insgesamt einer Aktualisierung und Internationalisierung unterzogen. Beides soll den Robinsonstoff anschlussfähig für die Gegenwart machen. Jenseits der Kolonialisierungstendenz sollte eine fortschrittsoptimistische, aufklärerische Dimension in Robinson für Kinder mit Blick auf Kinderrechte zu inaugurieren versucht werden. Liegt hier ein spezifisch kinderliterarischer Medienverbund vor, ist der vom Disney-Konzern ausgehende, dem Schweizerischen Robinson (Wyss 1821–1827) zugrundeliegende Medienverbund der Swiss Family Robinson/Dschungel der tausend Gefahren (vgl. auch Stach 1991, 237–250), der von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre ausgreift, ein typisches Beispiel für eine familienadressierte Rezeption einer Robinsonade. Sie richtet sich an mehrere Generationen zugleich. Sie wird aber erst nach 1949 populär und im Medienverbund distribuiert, einschließlich Merchandisingprodukten wie Comicheften zum Film oder Schmalfilmfassungen für das Heimkino – bspw. mit einer Fassung für das US-amerikanische Fernsehen. Dieser Medienverbund greift daher über den Untersuchungszeitraum hinaus. Das Medienverbundsystem erscheint eher typisch für seriell vermarktete US-amerikanische Medienverbundsysteme nach 1945.
Film, Rundfunk, Buch – Robinson und Robinsonaden in spezifischen Einzelmedien Filmversionen Die Theaterversionen der Robinsonaden, von denen Forsters Theaterstück das bekannteste aus dem deutschsprachigen Raum in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts war (vgl. Forster 1932), sind – wie bspw. auch Paul Mochmanns
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Robinsons Abenteuer – überwiegend noch stark von erzieherischen Absichten der moralisch-sittlichen Bildung der adressierten Zielgruppe inspiriert gewesen (Mochmann [1932]). So lässt sich von diesem Stück Mochmanns zusammenfassend konstatieren: „Robinson wandelt sich von einem hochmütigen Kaufmannssohn zu einem lebenstüchtigen Menschen“ (Stach 1991, 212). Die gegenüber den massenhaft verbreiteten, buchzentrierten Fassungen überschaubaren Filmversionen, die zwischen 1900 und 1945 entstanden, sind nicht alle erhalten (vgl. auch die erschlossenen Filme in Stach 1999, 237–250). Daher sind charakterisierende Aussagen zur Rezeptionsspezifik bspw. der Adressierung retrospektiv teilweise nur schwer zu treffen. Der Filmplot des 1920 hergestellten, zweiteiligen, zehnminütigen Animationsstummfilms von Louis Seel, Robinson, gibt in verknappter Form Robinsons Schicksal nach Defoe in kurzen Einzelszenen mit eingeblendeten Zwischentiteln mit Texttafeln wieder. Kinder mussten bereits lesen können, wenn sie den Film nicht nur sehend konsumieren, sondern aktiv rezipierend verstehen wollten. Immerhin ist diese Stummfilmfassung ein früher, erhaltener Beleg, dass sich das Genre des Animationsfilms bereits in seiner ersten Entwicklungsphase dieses Stoffs bediente. Aus naheliegenden Gründen ist es die Bekanntheit des Stoffkreises, der zu dieser filmischen Adaptation Anreize geschaffen haben dürfte. Formspezifisch ist der Film besonders durch die expressionistische Ästhetik des Wiesbadener Malers und international tätigen Filmproduzenten und Regisseurs Louis (auch Luis/Ludwig) Seel geprägt (vgl. zur Biografie u. a. Giesen/Storm 2012, 166). So ist die von Birken und einem Bauernfachwerkhaus geprägte Heidelandschaft von Robinsons Heimat (Seel 1920, Teil 1, 00:00:38) unübersehbar von der expressionistischen Landschaftsmalerei Seels beeinflusst; das Bild ist ausstellungsreif. Seels Landschaftsstil wird filmmedial in den Animationsstummfilm als Kennzeichen seiner aus der bildenden Kunst beeinflussten, expressionistischen Bildsprache inkorporiert. Die Szene wirkt geradezu wie ein Gemälde, also ein expressionistisches Landschaftsbild Seels, der im Vorspann des ersten Teils auch als verantwortlich für die Gestaltung des Trickfilms hervorgehoben wird (ebd., 00:00:13). Diese auffällige Inkorporation der expressionistischen Landschaftsmalerei dürfte sich allerdings eher an erwachsene Adressierte gerichtet haben. Die 1924 gedrehte Robinsonade Little Robinson Crusoe/Jackie, der kleine Robinson zeigt hingegen bereits in der deutschsprachigen Fassung des Filmtitels an, dass dieser Kinderfilm auf die Popularität des Kinderstars Jackie Coogan zugeschnitten wurde. Coogan ist als Held des Charlie-Chaplin-Films The Kid (1921) in die internationale Filmgeschichte eingegangen. Der Kinderstar, dessen kindliche Anmut die Filmhandlung bewusst inszeniert, war auch in der Welt der Weimarer Republik eine Kultfigur für Kinder. Dies zeigt die Internationalität der Vermarktung der Filmindustrie. Jackie Coogan spielt den auf seinen Namen gereimten Schiffsjungen Mickey Hogan, der in Schiffbruch gerät, auf eine
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einsame Insel verschlagen und dort von Kannibalen verfolgt wird, die in der zeittypischen Stereotypisierung dargestellt werden. Bereits im Alter von vier Jahren wurde Jackie Coogan von einer Filmschauspielerin entdeckt und zu öffentlichen Tanzauftritten in den USA eingesetzt: „Unter dem lauten Jubel der Zuschauer musste der kleine Künstler seine Tänze, die er meisterhaft beherrschte, immer von neuem wiederholen“ (Der kleine Jackie Coogan 1926, [10]). Auf einer Eisenbahnfahrt begegneter er zufällig als Fünfjähriger Charlie Chaplin, der ihn – begeistert von seinem komischen Talent – für die Hauptrolle in The Kid besetzte; so wird die Geschichte zumindest dem kindlichen Publikum der Weimarer Republik in einer Rundfunkzeitschrift von 1926 erzählt: Jackie „setzte sich dreist auf seine [Chaplins; S. Sch.] Knie und zupfte ihn mit so drolligen Gebärden an den Ohren, der Nase, den Haaren, der Uhrkette und allem, was er mit seinen zehn ungezogenen Fingerchen erlangen konnte, dass Chaplin sich vor Lachen bog“ (ebd.). Ein neuer Kinderstar der Filmgeschichte war inauguriert, der auch mit einer Robinsonade seinen kommerziell einträglichen Publikumserfolg feiern konnte. Bei der US-amerikanischen Südsee-Filmparodie von 1932, Mr. Robinson Crusoe, dominieren wiederum Elemente der Filmkomödie, die den Robinson-Stoff humoristisch aufs Korn nehmen. Robinson alias Steve Drexel, gespielt von Douglas Fairbanks in der Hauptrolle, hat hier eine zur indigenen Bevölkerung der Insel zählende Geliebte, die er Saturday nennt. Daraus resultieren einige erotische Passagen, die den Film nicht unbedingt als Kinderfilm geeignet erscheinen lassen; die DVD hat folglich eine Altersbeschränkung (FSK 12). Interessant für den Medienwandel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die medienintegrative Inszenierung technischer Innovationen. Das neue Massenmedium Radio wird auf der Handlungsebene entscheidender Teil des Filmplots. Die Inszenierung des Radios wird bewusst genutzt, um spezifisch komische, medial zivilisationskritisch arrangierte Filmeffekte zu erzeugen. Drexel und Saturday hören mit Genuss die Katastrophennachrichten aus der Zivilisation im Radio. So können sie sich desto entspannter des Inselparadieses in der Südsee erfreuen. Ausgerechnet der Radioapparat als Ausdruck der modernen Zivilisation rettet den beiden Filmhelden allerdings auch das Leben in der Wildnis. Kannibalen von einer benachbarten Insel wollen die beiden Protagonisten entführen und grillen, als es dem dressierten Affen Drexels gelingt, das Radio anzuschalten. Die Kannibalen werden von den Geräuschen der Radiosendung so sehr erschreckt, dass sie entsetzt die Flucht ergreifen. Saturday kann Drexel befreien, dem es daraufhin wiederum gelingt, die Kannibalen in einer Netzfalle zu fangen. Parodistisch gewinnt der Filmplot den Errungenschaften der Technik so eine ungewohnt komische Seite ab, die als Pointe die Ambivalenz des technischen Fortschritts zeigt. Sichtbar wird aber auch bereits die zwangsläufige Folge der Modernisierung. Den globalen Massenmedien kann man sich selbst auf einer scheinbar einsamen Insel nicht mehr entziehen.
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Die als Naturfilm gestalteten Robinsonade Ein Robinson. Das Tagebuch eines Matrosen von 1940 ist der letzte Spielfilm des Bergfilmers Arnold Fanck, der mit Filmen wie Die weiße Hölle vom Piz Palü (1928) Filmgeschichte in diesem Genre geschrieben hat. Gedreht wurde in Südamerika auf der „Robinson-Insel“ Juan Fernández. Da der Film für die Jugend freigegeben war und ist, kann er hier als Rezeptionsdokument betrachtet werden. Erzählt wird die Geschichte des Obermatrosen Carl Ohlsen, der im Ersten Weltkrieg, freiwillig als Outcast, auf diese einsame Insel flüchtet. Die Insel wird in der visuellen Inszenierung einer Authentizitätsfiktion als Schauplatz mit dem ästhetischen Spiel einer originalen Robinson-Handlung in authentischen Naturaufnahmen gezeigt. Der Enkel des Regisseurs erinnert sich: Es war die Geschichte des deutschen Matrosen Hugo Weber, die meinen Großvater inspirierte. Weber lebte auf der legendären Insel Juan Fernández: jenem Eiland im Südpazifik, auf dem um 1700 bereits der Freibeuter Alexander Selkirk ausgeharrt hatte, der später als Robinson Crusoe zu Weltruhm gelangen sollte. Fasziniert von der Biografie Webers, erfuhr mein Großvater, wie der Signalmaat der Kaiserlichen Marine die Insel zum ersten Mal 1915 schwimmend erreichte, weil die Engländer sein Schiff, die SMS Dresden, aufgebracht hatten. Jahre später kehrte Weber auf das ferne Eiland zurück, um dort ein Robinsonleben zu führen. (Fanck 2015)
Aufschlussreich ist, dass hier auch genuin nationalsozialistisches Zeitkolorit zum Gegenstand des durch beeindruckende Naturaufnahmen des Inselparadieses bemerkenswerten Naturgenrefilms wurde: Im Film läuft die neue Dresden der NS-Flotte die Insel kurz an, was Weber jedoch zu spät bemerkt und sie dann zuerst mit seinem kleinen Segelboot und später zu Fuß durch Feuerland und Patagonien verfolgt. Dort erreicht Carl Ohlsen, wie der historische Weber im Film heißt, schließlich die Dresden – und kehrt mit ihr heim ins Reich. (Ebd.)
Zusammenfassend bleibt zu konstatieren: Es handelt sich im Untersuchungszeitraum im Vergleich der filmmedialen Rezeption zur buchmedialen Tradition der Gattung eher um atypische adressatenspezifische Robinsonaden für Kinder und Jugendliche. Sie greifen, sofern über ihre Charakteristik aufgrund der schwierigen Quellenlage noch konkrete Aussagen zur Interpretation ihrer Bedeutung getroffen werden können, spezifische Filmgenres auf (insbesondere Fanck: Naturfilm, Fairbanks: Filmparodie bzw. Filmkomödie). Sie sind jedoch – von Jackie, der kleine Robinson abgesehen – nicht primär der intentionalen Tradition der adressierten Robinsonaden für Kinder und Jugendliche des 18. und 19. Jahrhunderts verpflichtet. Es sind im Vergleich zu anderen adressatenspezifischen Medienverbundadaptationen von Robinsonaden (bis auf den diachron entstandenen Medienverbund von Forsters Robinson soll nicht sterben) überwiegend keine typischen Medienverbünde nachweisbar. Typisch ist eher eine Rezeption in Einzelmedien wie dem Film, die eine nach wie vor weiterwirkende starke Dominanz des buchzentrierten Rezeptionsstrangs erkennen lässt. Dies belegt auch die Rezeption von Robinsonaden im neuen Massenmedium des Rundfunks.
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„Robinson“ im Rundfunk Das Radio als neues Massenmedium der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus erlebte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Blütezeit. Es hatte im Sinn der Mediendefinition Werner Faulstichs in dieser historischen Phase in besonderer Weise die Bedeutung eines Leitmediums. Es markiert den medienhistorischen Übergang in der Medienordnung von Harald Pross und Werner Faulstich vom Druckmedium (Sekundärmedium) mit Technikeinsatz auf der Produktionsseite zum elektronischen, auditiven Medium (Tertiärmedium) mit Technikeinsatz auf der Produktions- und Rezeptionsseite. Es zählt zur historischen Phase der „neuen elektronischen Welt“ und erzeugt eine „neue Radioöffentlichkeit“ (vgl. Faulstich 2006, 116–120). Sie ist adressatenspezifisch auch an Kinder und Jugendliche gerichtet. Die Quellenlage von Tondokumenten aus dieser Zeit ist jedoch auch in Bezug auf die nachweisbare Rezeption radiospezifischer Robinsonaden kompliziert. Oft sind in Rundfunkzeitschriften überlieferte Sendeprogramme die einzigen Zeugnisse der Existenz dieser Sendungen. Auffällig ist nach Auswertung dieser Quellen zunächst, dass traditionelle, aus der buchzentrierten Rezeption bekannte Robinsonaden Teil der adressatenorientierten Bearbeitung für den Kinder- und Jugendrundfunk der Weimarer Republik waren. Der am 19. Oktober, am 2. und am 23. November 1928 von der Kölner Werag ausgestrahlten Rundfunkbearbeitung Philipp Ashton, ein neuer Robinson (vgl. Schubert 1928a–c) liegt bspw. eine auf der Memoirenliteratur des 18. Jahrhunderts beruhende Robinsonade des im 19. Jahrhundert sehr bekannten Naturwissenschaftlers und Schriftstellers Gottlieb Heinrich von Schubert zugrunde (Schubert 1849). Sie wurde auch noch im frühen 20. Jahrhundert auf dem Jugendbuchmarkt in verschiedenen Ausgaben erfolgreich distribuiert (vgl. Stach 1991, 117 f.). Erzählt wird darin die Geschichte Philipp Ashtons, der „von Seeräubern gefangen genommen wird“, auf die westindische Insel Ruatan flüchtet, „wo er fünfundzwanzig Monate (als Robinson) lebt“ (ebd., 118). Die Vorlage Schuberts steht in der Tradition der moralerzieherischen Perspektivierung der jugendliterarischen Robinsonaden. Es geht, in Schuberts eigenen Worten, darum, in Ashtons Schicksal „das ernste, treue Festhalten an Gottes Wort und Gebot“, den „Heldenmuth des Glaubens, selbst den Gefahren des Todes gegenüber“ zu sehen und sein „Thun und Wesen“ als Einsamer auf der Insel „als ein Musterbild dessen“ zu zeigen, „was Kirche, Schule und Elternhaus […] aus der jugendlich bildsamen Natur des Menschen machen können“ (Schubert 1849, Vorrede zur ersten Auflage, VII f.). Hinzu treten Wissen vermittelnde Aspekte aus der Naturgeschichte, die dem Wirklichkeits- und Faktualitätsmodell verpflichtet sind. Es ist anzunehmen, dass die Radiofassung diesem Traditionsstrang folgte. Auch wenn sich konkrete Belege dazu derzeit nicht nachweisen lassen, ist die Bekanntheit und Verbreitung der Buchfassung dieser Robinsonade mit hoher Wahrscheinlichkeit Anlass dieser Radiofassung. Eine im Nachmittagsprogramm des Rundfunksenders Wien am 2. Juni 1925 gesendete Lesung von Fr. Staude Von Robinson Crusoes Schicksalen (2. Abend)
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lässt ebenfalls auf eine Radioreihe im Familienprogramm schließen, für die auch Kinder und Jugendliche als Zuhörerschaft intendiert worden sein könnten (vgl. Der deutsche Rundfunk 3 (1925), 1426). Dezidiert an Kinder adressiert war die am 20. Dezember 1927 vom Sender Hamburg aus dem dortigen Carl-Schultze-Theater in der Langenreihe übertragene Kinderrevue Funkheinzelmanns Bilderbuch, das als 15. Bild der Revue Der neue Robinson ankündigt (vgl. Der deutsche Rundfunk 5 (1927), 3516). Unter dieser Bezeichnung konnte im Untersuchungszeitraum sowohl eine Radiobearbeitung nach Marryat (vgl. Marryat 1843a und 1843b) als auch nach Gotthilf Heinrich von Schubert (vgl. Schubert 1849) gemeint sein. Beide führten die Bezeichnung neuer Robinson im Titel. Denkbar ist allerdings auch eine ganz eigene radiomediale Adaptation nach einer für den Funkheinzelmann spezifischen Rezeption. Auffällig ist in diesem Kontext gleichwohl die transmediale Tendenz der Kinderrevue, die Formen des Bilderbuchs synästhetisch als Klang- und Hörbild in einer Art Hörcollage den Kindern als Zuhörerschaft als Gelegenheit zur ästhetischen und literarischen Bildung zu Gehör zu bringen beabsichtigt. Der Sendetermin dieser Kinderrevue kurz vor Weihnachten sowie seine Übertragung aus dem Carl-Schultze-Theater in Hamburg stehen überdies in der typischen Tradition des beliebten Weihnachtsmärchens in den Stadttheatern, die seit dem Kaiserreich eingebürgert waren (vgl. Reiß 2008). Eine weitere Auffälligkeit der radiomedialen Rezeption besteht darin, dass Prominente und Stars der Weimarer Republik, die medial sehr präsent waren, sich im Zusammenhang mit kinder- und jugendliterarischen Robinsonaden und adressatenspezifischen Robinson-Bearbeitungen beliebt zu machen versuchten. So ist der Kinderstar Jackie Coogan, der nicht nur durch den Charlie-ChaplinFilm The Kid, sondern auch durch den bereits erwähnten Film Jackie, der kleine Robinson bekannt war, im deutschen Kinderfunk aufgetreten (vgl. Coogan 1930). Und auch in Rundfunkzeitschriften wurde das Interesse der Kinder an dem prominenten Kinderstar zu wecken versucht. So heißt es 1926 in der Rundfunkzeitschrift Funkheinzelmann: „Wer von den Kindern hat nicht schon von dem kleinen Jackie Coogan gehört oder ihn vielleicht gar in einem Kino-Theater auf der Flimmerwand zappeln gesehen?“ (Der kleine Jackie Coogan 1926). Umgekehrt haben Radiopioniere und in der Weimarer Republik spezifisch Radioprominente wie Hans Bodenstedt in ihrer medialen Karriere sich auch produktiv mit dem Robinson-Stoff auseinandergesetzt. Ausgerechnet von dem radioaffinen Bodenstedt4 ist eine literarische Bearbeitung von Robinson Crusoe im Kontext der buchzentrierten Rezeption nachweisbar (vgl. Defoe/Bodenstedt [1912]). Dies kann einmal mehr die Bedeutung der buchmedialen Rezeption für den Untersuchungszeitraum belegen.
4Bodenstedt
„baute 1924 das Hamburger Rundfunk-Programm mit auf, später Intendant der NORAG. 1933 von den Nazis entlassen, nach 1945 Mitarbeiter beim Kinderfunk des NWDR in Hamburg“. https://www.robinsone.de/auth/defoe-alles.htm (17.09.19). Vgl. auch den Beitrag von Annemarie Weber in diesem Band.
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Tendenzen der Modernisierung in der Buchrezeption der Robinsonaden Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist im deutschsprachigen Raum durch einen auffälligen Modernisierungsschub geprägt. Deshalb verwundert es nicht, dass insbesondere in der literarischen, buchzentrierten Rezeption der Robinsonaden als auffällige Besonderheit die Inkorporation technischer Innovationen typisch wird. Mediale und technische Errungenschaften werden Teil dieser kinder- und jugendliterarischen Adaptationen. Der Anteil der buchzentrieren Robinsonaden ist im Vergleich zu den nachweisbaren Einzelmedienverwertungen in Film und Funk so dominant, dass in diesem Aspekt der vergleichsweise bedeutendste Innovationsschub in der Rezeption gesehen werden kann. In der Aufgeschlossenheit gegenüber der Thematisierung neuer Technik in den Robinsonaden zeigt sich die modernisierte Fortführung ihrer traditionellen Affinität zum Modell des Wissen vermittelnden Sachstoffs in besonderer Weise. Telegrafie, Radio, Flugzeug und Kriegstechnik werden zum bevorzugten Gegenstand von Robinsonaden, die diese Tradition in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktualisierend weiterführen. In diesem Kontext ist zunächst auch die ungebrochene Fortsetzung der typischen Kolonialisierungstendenzen derartiger Robinsonaden auffällig, so bspw. in dem naturwissenschaftlich belehrenden Jugendbuch Professor Robinson (Felsing 1906), „eine naturkundliche Studie mit kolonialistischem Gedankengut“ (Stach 1999, 15). Auch das für den Modernisierungsprozess entscheidende Phänomen der Stadt-Land-Dichotomisierungen hat in der kinder- und jugendmedialen Ausprägung von Großstadtrobinsonaden in der Großstadtthematik eine innovative Tendenz. Beispiele für eine Robinsonade im Kontrast zur Großstadttendenz (New York, Berlin) ist Lisa Tetzners fünfter Band der im Exil entstandenen sogenannten Kinderodyssee (Tetzner [1944/45] 1989; vgl. auch Weinkauff 1995), zugleich herausragendes Beispiel für in der Kinder- und Jugendliteratur des Exils entstandene Robinsonaden (vgl. Mikota 2009). Für die Verherrlichung des Landes ist die dreibändige sogenannte Alpenrobinsonade Die Höhlenkinder von Alois Theodor Sonnleitner (d. i. Alois Tlučhoř) (Sonnleitner 1918–20; vgl. auch Franz 2012a, 7) charakteristisch, die auch nach 1945 noch aktiv gelesene Jugendlektüre war. Der Stoff wurde mehrmals für das Fernsehen verwertet: 1962 entstand eine zwölfteilige Fernsehserie, die für den WDR produziert wurde (Die Höhlenkinder 1962); 1982 folgte eine 1985 auch im ZDF ausgestrahlte, zehnteilige italienische Fernsehserie (Die Höhlenkinder 1982). Die Technikaffinität und die Zugewandtheit der Gattung zu Innovationen der Modernisierung für die Masse sicherten den Robinsonaden die notwendige Aufmerksamkeit unter der lesenden Jugend. Derartige Robinsonaden tragen deshalb ihren auffälligen Modernitätsanspruch bereits im Titel, so z. B. Wilhelm Zieglers Radio-Robinson. Eine moderne Robinsonade für die Jugend (1924, Abb. 2 und 3). Auch diese Robinsonade steht in der Tradition des Modells des Wissen darstellenden Sachstoffs. Sie vermittelt am Thema des Schiffsfunks, eingebettet in eine spannende und abenteuerliche Handlung um einen Schiffsfunker, in einem
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Abb. 2 Vorderer Buchdeckel des Radio-Robinson. Eine moderne Robinsonade für die Jugend. (Ziegler © Reutlingen: Bardtenschlager, 1924)
Anhang physikalische Grundlagen der Akustik, die am Beispiel von Telegrafie, Telefonie, Radio gezeigt werden: Zwei Schiffbrüchige bergen auf einer einsamen Insel die technischen Anlagen eines Schiffes. Mit einem Wasserfall bauen sie ein Kraftwerk und können sich mit Hilfe unter Spannung gesetzter Absperrungen vor den Eingeborenen schützen. Über Funk erreichen sie ein rettendes Schiff. (Stach 1991, 129)
Nicht mehr das traditionelle Leistungsethos und der Fortschrittsoptimismus des 18. Jahrhunderts bestimmen die Grundgedanken dieser Wissen vermittelnden Robinsonade, sondern die Spezialkenntnisse des elektrischen und elektronischen Zeitalters ermöglichen hier allein das Überleben auf der einsamen Insel. Die Rettung der Helden erfolgt durch drahtlose Telegrafie als Kennzeichen des Prozesses der Modernisierung im Konflikt von Natur und Kultur. Die Botschaft dieser Robinsonaden lautet: Überlebensfähig ist, wer sich durch gründliche
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Abb. 3 Titelblatt und Frontispiz des Radio-Robinson. Eine moderne Robinsonade für die Jugend. (Ziegler © Reutlingen: Bardtenschlager, 1924)
Kenntnisse der modernen zivilisatorischen naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts vor den Herausforderungen der Natur wappnen kann. Dies zeigt sich auch in Bezug auf die kriegsrelevante Technik des Flugzeugbaus. Das technikgläubige Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit deutscher Aeronautik kommt in Paul Georg Ehrhardts 1934 erschienener Robinsonade Der Flieger-Robinson zum Ausdruck (Ehrhardt 1934). Das Buch wurde 1937 bereits in fünfter Auflage distribuiert. Der moderne junge Held dieser Robinsonade ist ein Held der Technik. Erzählt wird die „Geschichte eines Jungfliegers, der im Stillen Ozean landen muss. Auf einer unbekannten Insel erlebt er eine siebenjährige Robinsonade, bis ihm mit Hilfe eines selbstgebauten Flugzeugs die Rettung gelingt“ (Stach 1991, 90). Die für die lesende Jugend bedeutende Authentizitätsfiktion des Romans wird in der Widmung deutlich: „Dem Ozeanflieger Hermann Köhl, einst mein Beobachter im Flugzeug Albatros B3 gewidmet“ (Ehrhardt 1934). Köhl überquerte 1928 den Atlantik mit einer Maschine der Firma Junkers. Es handelt sich um die Erstüberquerung des Ozeans auf dem Flug von Europa nach Amerika mit einem Motorflugzeug. Die Überlegenheit der deutschen Technik der Dessauer Flugzeugbaufirma Junkers bildet hier mit der heldenhaften Leistung des Flieger-Robinsons das faszinierende Modernisierungsphänomen, das die jugendliche Leserschaft in ihren Bann ziehen sollte.
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Fazit: Überlegungen und Thesen zur Medienverbunddiskussion Als Ergebnis der Robinson- und Robinsonadenrezeption zwischen 1900 und 1945 lässt sich konstatieren: Der Modernisierungsprozess zeigt sich in der Affinität zur Thematisierung innovativer Technik wie Telegrafie, Radio, Flugzeugbau, Kriegstechnik in literarisch-buchzentrierten Robinsonaden wie Radio-Robinson und Flieger-Robinson, aber auch in US-Filmparodien wie Mr. Robinson Crusoe. Die Weiterführung traditioneller buchmedialer Robinsonaden (Abenteuertyp, Sachbuchtyp) ist trotz der den gegenüber neuen Massenmedien aufgeschlossener Rundfunk- und Filmadaptationen quantitativ und qualitativ größer als ihr qualitativer Innovationswert in der Verwertung im Medienverbund. Medienverbünde wie Forsters Robinson darf nicht sterben bilden auffällige Ausnahmen. Typisch ist eher ein System der adressatenspezifischen Rezeption des Robinson-Stoffs in den Einzelmedien Buch, Film und Radio. Marktrelevante adressatenspezifische Medienverbünde entstehen erst nach 1945 im internationalen Kontext (Swiss Family Robinson). Ursache hierfür ist im deutschsprachigen Raum vor allem die fest verankerte Rezeption des Robinson-Stoffs in der Schule. Für die massenmedialen Kennzeichnungen typische mediengeschichtliche Entwicklungen im Sinn des medienhistorischen Entwicklungsmodells Werner Faulstichs zeigen sich eher an Phänomenen am Rande: Die Dominanz der Heftchenlektüre als eines der literarischen Leitmedien der Epoche zeigt sich nirgendwo deutlicher als in den Angaben zur Heftchenserie Frank Allen – Der Rächer der Enterbten, die, wie erwähnt, als Knabenlektüre in einer zeitgenössischen statistischen Erhebung insgesamt nicht weniger als 1684-mal genannt worden ist, während Robinson Crusoe ganze 5-mal erwähnt wurde (vgl. Siemering/Barschak/Gensch 1930, 56 f.). Dies zeigt in nuce und gewissermaßen als Spitze eines Eisbergs, wie stark die Ambivalenz zwischen der Perpetuierung und Tradierung des bildungshistorischen Werts der Robinson- und RobinsonadenRezeption im nachwirkenden bürgerlichen Bildungsanspruch und der damit verbundenen Lese- und Mediensozialisation mit den tatsächlichen Lektüre-, Unterhaltungs- und Mediennutzungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen im Untersuchungszeitraum ausgeprägt war, die nicht mehr nur von spannenden Robinsonaden beherrscht war. Ob und wie es gelingen wird, die Robinsonrezeption in Kinder- und Jugendliteratur und -medien in Anbetracht der zunehmenden postkolonialen Kritik in Zukunft erfolgreich dauerhaft wach zu halten, bleibt eine offene Frage. Der Regensburger Kinder- und Jugendliteraturwissenschaftler Kurt Franz zeigte sich 2012 optimistisch: Auch heute […] ist Robinson weder mentalitätsgeschichtlich noch rezeptionsgeschichtlich gestorben, wenngleich er nicht mehr als Titel für Kinder und Jugendliche, auch nicht im schulischen Lektürekanon, heraussticht, aber er überlebt weiterhin als ein literarischer Klassiker, vielleicht sogar als der Prototyp des Klassikers schlechthin. (Franz 2012a, 1)
Robinsonaden zwischen 1900 und 1945
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Filmografie Die Höhlenkinder [zwölfteilige Fernsehserie für den WDR] (D 1962). Regie: Peter Podehl. Die Höhlenkinder/I Ragazzi della valle miseriosa (I 1982). Regie: Marcello Aliprandi.
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Die weiße Hölle vom Piz Palü [Naturfilm] (D 1928). Regie: Arnold Fanck. Robinson soll nicht sterben (D Forster 1956). Regie: Josef von Báky. N. d. Theaterstück Robinson soll nicht sterben von Friedrich Forster [d. i. Waldfried Burggraf] [EA 1932]. Robinson Crusoe [zweiteiliger Animationsstummfilm] (D 1920). Gestaltung: Louis Seel. Little Robinson Crusoe/Jackie, der kleine Robinson [(Kinder-)Film mit Kinderstar Jackie Coogan] (USA 1924). Regie: Edward F. Cline. Mr. Robinson Crusoe [Abenteuerfilm- und Robinsonadenparodie] (USA 1932). Regie: A. Edward Sutherland [DVD]. Ein Robinson. Das Tagebuch eines Matrosen [Naturfilm] (D 1940). Regie: Arnold Fanck. The Kid/Der Vagabund und das Kind [Stummfilm-Tragikkomödie] (USA 1921). Regie: Charlie Chaplin.
Audiografie Funkheinzelmanns Bilderbuch. Eine Kinderrevue [Übertragung aus dem Carl-Schultze-Theater Hamburg] (1927). Norag Hamburg, 20.12.1927. Quelle: Der deutsche Rundfunk 5 (1927) 51, 3456. Jackie Coogan stellt seinen Vater vor. Unter Mitarbeit von Jackie Coogan (Von Kindern für Kinder) [Radiosendung] (1930). Funk-Stunde Berlin, 13.02.1930. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 6 (1928), 46. Von Robinson Crusoes Schicksalen (2. Abend) [Radiolesung] (1925). Gesprochen von Fr. Staude. Rundfunksender Wien, 02.06.1925. Quelle: Der deutsche Rundfunk 3 (1925) 22, 1426. Schubert, Gotthilf Heinrich von: Philipp Ashton, ein neuer Robinson. (1) Unter Räubern. Die Flucht. Unter Mitarbeit von Rudolf Simon (Jugendfunk). (1928a) Werag Köln, 19.10.1928. Quelle: In: Die Sendung 5 (1928) 42, XXV. Schubert, Gotthilf Heinrich von: Philipp Ashton, ein neuer Robinson. (2) Traurige Tage und große Not – Die Rettung. Unter Mitarbeit von Rudolf Simon (Jugendfunk). (1928b) Werag Köln, 02.11.1928. Quelle: Die Sendung 5 (1928) 44, XXV. Schubert, Gotthilf Heinrich von (1928): Philipp Ashton, ein neuer Robinson. Traurige Tage; Die Rettung. Unter Mitarbeit von Rudolf Simon (Jugendfunk). Werag Köln, 23.11.1928. Quelle: Der Deutsche Rundfunk 6 (1928) 47, 3232. Robinson soll nicht sterben [Hörspiel nach Friedrich Forster]. Bayrischer Rundfunk/Südwestfunk Baden-Baden/Rundfunk Bremen/Wiener Hörfunk Forster 1950/1955/1957/1964 (erschlossen; vgl. Stach 1991, 252.
Theatrografie Friedrich Forster [d. i. Waldfried Burggraf]: Robinson soll nicht sterben. Ein Stück in drei Akten. Leipzig: Kurt Scholze Nachf., 1932 (UA Leipzig 1932). Mochmann, Paul: Robinsons Abenteuer. Ein Kinderstück. Berlin: Henschel, 1932 (UA unbekannt).
Sekundärliteratur vor 1945 Der kleine Jackie Coogan. In: Funkheinzelmann 1 (1926) 1, 9–10. Fuchs, Arno: Robinson als Stoff eines erziehenden Unterrichts in Präparationen und Konzentrationsplänen. Nach Herbart-Zillerschen Grundsätzen bearb. Jena 1893.
Robinsonaden zwischen 1900 und 1945
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Schulgeschichten im Theater, Buch und auf der Leinwand
Jenseits von Romy und Lilli Christa Winsloes Pensionsgeschichte und ihre medialen Präsentationsformen Gabriele von Glasenapp
Abstract This contribution deals with the story Mädchen in Uniform (Girls in Uniform) by Christa Winsloe, which was written at the end of the 1930ies. The analysis focuses on the multimedia network around this text, that is: its temporal dimension, its geographical reach and its intertextual relations, some of which to other multimedia networks. The paper starts from the assumption that the story has been this popular up until the present day because it can be perceived quite differently in every single medium (stage manuscript, movie, novel) and because these media reference each other explicitly. The contribution will focus on the complicated reception history of the story, which can be divided into processes guided by the author and those that start after her death. The latter include new productions, new film adaptations as well as radio plays and other adaptations.
Einleitende Überlegungen Vermisst man einen Medienverbund nach der Vielzahl seiner medialen und aufeinander Bezug nehmenden Erscheinungsformen, seiner zeitlichen Dimensionen, seiner geografischen Ausdehnung, dem Ausmaß seiner Rezeptionsgeschichte sowie seiner intermedialen Bezüge – auch im Hinblick auf andere Medienverbünde – dann nimmt Christa Winsloes Anfang der 1930er-Jahre entstandene Geschichte über das Mädchen Manuela und ihre scheiternde Sozialisation in einem Mädchenpensionat innerhalb der zahlreichen und durchaus
G. von Glasenapp (*) ALEKI, Universität zu Köln, Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_16
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vielfältigen Medienverbünde, deren Entstehung in die Weimarer Republik fällt, einen durchaus prominenten Platz ein. Von neueren Forschungen ausgehend, wonach unter einem Medienverbund zu verstehen ist, „dass ein Stoff in verschiedenen Medien präsent ist, dass es also eine crossmediale Vermarktung und zudem in vielen Fällen eine große Zahl von Fanartikeln gibt“ (Josting 2012, 391) und unter Zugrundelegung der eingangs angeführten Parameter, stellt der von der Autorin zu Lebzeiten (1888–1944) insgesamt viermal in unterschiedlichen Medien und unter verschiedenen Titeln behandelte Stoff einen ebenso dynamischen wie verzweigten Medienverbund dar. Zu den Spezifika dieses Verbundes zählt, wiederum neben den genannten Kriterien, die sehr unterschiedliche Wahrnehmung der hier relevanten Einzelmedien – Bühnenmanuskripte, Filmdrehbuch bzw. Film, Roman – der durchgängig sehr explizite Verweischarakter der Einzelmedien aufeinander, der Faktor Popularität (vor allem die Film- und Romanversion betreffend) sowie eine sehr komplexe Rezeptionsgeschichte, die mehreren Erweiterungen wie Zäsuren unterliegt: Zeitlich kann sie unterteilt werden in Prozesse, die noch zu Lebzeiten der Autorin stattfinden und partiell von ihr auch initiiert bzw. gesteuert werden, und jenen, die nach 1945, d. h. nach dem Tod von Christa Winsloe einsetzen und ein Spektrum aufweisen, dessen mediale Bandbreite sich von Neuinszenierungen, -auflagen bzw. -verfilmungen über Hörspiele zu Übersetzungen und stofflichen Adaptionen in ganz unterschiedlichen Medien erstreckt. In dem folgenden Beitrag sollen – unter Berücksichtigung der hier angeführten Indikatoren – die Geschichten über Christa Winsloes Protagonistin Manuela einer genaueren Betrachtung im Hinblick auf ihren Medienverbundcharakter unterzogen werden und zwar in zwei getrennten, dennoch aber aufeinander bezogenen Schritten: Untersucht wird zunächst, in diachroner Perspektive, der Verbundcharakter im engeren Sinne, d. h., in welchen Medien wird die Geschichte übermittelt, in welcher Beziehung stehen diese Medien zueinander bzw. lassen sich wechselseitige Bezüge erkennen. Damit verknüpft werden Ansätze der Rezeptionsgeschichte – vor allem im Hinblick auf die zeitgenössische Popularität des Stoffes sowie die zeitnah erschienenen Übersetzungen. In einem zweiten Teil – synchron angelegt – werden Aspekte eines weiter gefassten Medienverbundbegriffs im Zentrum stehen, d. h., wo lassen sich Bezüge zu ähnlich gelagerten stofflichen Komplexen und anderen Medienverbünden erkennen, wodurch werden diese Bezüge hergestellt bzw. durch wen werden sie initiiert. Bei dieser Vorgehensweise wird allerdings von der Prämisse ausgegangen, dass sich die einzelnen Aspekte eines engen und eines weiter gefassten Medienverbundbegriffs nicht durchgängig so strikt voneinander trennen lassen, wie es die hier skizzierte Vorgehensweise annehmen lässt.1
1Aus Platzgründen kann auf die zahlreichen Inszenierungen des Theaterstücks sowie die Übersetzungen der Bühnenfassung, des Romans als auch der filmischen Untertitel lediglich in Ansätzen eingegangen werden.
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Geschichte und Gattungstraditionen Übermittelt – um einen im Hinblick auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen mediengerechten Begriff zu verwenden – wird die Geschichte des Mädchens Manuela von Meinhardis, die gegen ihren Willen nach dem Tod ihrer Mutter in das Potsdamer Prinzessin-Helene-Stift eingewiesen wird, ein Pensionat für junge Mädchen. Dort herrschen preußisch-soldatischer Drill und Disziplin – repräsentiert durch die Figuren der Oberin sowie der Erzieherinnen, d. h. das Alter (und die von ihm vertretenen Prinzipien) über die Jugend der Schülerinnen. Die Mädchen werden dort auf ihre künftige Rolle als Ehefrauen und Mütter von Offizieren vorbereitet, so wie sie selbst mehrheitlich Töchter und Enkelinnen von Offizieren sind, d. h., sie werden als Teil einer von soldatisch-preußischen Prinzipien geprägten Gemeinschaft betrachtet und damit zugleich als Teil einer den Staat konstituierenden Traditionskette. Das Pensionat erscheint demnach als ein Ort, an dem die Mädchen weniger erzogen als kaserniert und gedrillt werden – wie männliche Soldaten tragen sie eine Art Uniform, die auch explizit so genannt wird. In dieser Umgebung, die Affektkontrolle als höchstes Gut postuliert, kommt es aber dennoch zu verbotenen Schwärmereien der Mädchen sowohl füreinander als auch für die junge Erzieherin Fräulein von Bernburg, die bei ihrer Erziehung anstelle von Drill auf Zuneigung bei den Mädchen setzt. Vor allem die mutterlose Manuela fühlt sich zu der Erzieherin hingezogen, und nach der Aufführung eines Theaterstückes, in dem das Mädchen die männliche Hauptrolle spielt, verleiht sie, berauscht von Alkohol und ihrem schauspielerischen Erfolg, kühn geworden durch die Männerkleidung, die sie trägt, ihrer Zuneigung offen Ausdruck, ein grundlegender Regelverstoß, der mit drakonischer Strafe geahndet wird: Zwecks besserer Überwachung soll Manuela in Zukunft von allen Mitschülerinnen isoliert werden und Fräulein von Bernburg das Stift verlassen. In tiefster Verzweiflung sieht das Mädchen am Ende nur noch einen Ausweg für sich: Selbstmord. Obwohl die Protagonistin Manuela kaum 15 Jahre ist, hat Winsloe keine der vier Versionen ihrer Geschichte an Heranwachsende adressiert. Der hier skizzierte Inhalt lässt jedoch die Strukturmerkmale sowohl der Backfisch- oder Pensionserzählung als auch des Schülerromans, auf die hier offenkundig zurückgegriffen wurde, deutlich erkennen. Die diesem Korpus zugerechneten Texte sind analog zur Gattung des Bildungs-, Entwicklungs- oder Adoleszenzromans, zu dem die Pensionserzählungen und Schülerromane im weitesten Sinne ebenfalls gezählt werden können, ungeachtet ihrer Adressierung in einem Grenzgebiet zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur angesiedelt, da sie ausnahmslos Identitätsfindungsprozesse von Heranwachsenden verhandeln, die mehrheitlich als ein zutiefst krisenhafter Entwicklungsabschnitt dargestellt werden – von der Forschung mittlerweile unter den Begriff der „Störung“, d. h. als Gegenbegriff zu Ordnung, Norm und Ungestörtheit gefasst (Gansel 2011, 42). Bei diesem Textkorpus, das seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts innerhalb der deutschsprachigen allgemeinen wie Jugendliteratur eine Blütezeit erlebte, können, verkürzt gesprochen, zwei grundsätzliche Ausprägungen ausgemacht werden. Gemeinsam ist beiden Varianten, dass im Zentrum der Handlung die
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krisenhaften Enkulturationsprozesse des Heranwachsens stehen. Die damit verknüpften Sozialisationsprozesse spielen sich in der Regel jedoch nicht im Elternhaus, sondern in davon in deutlicher Entfernung gelegenen Schulen, Internaten bzw. sogenannten Stiften oder Pensionaten ab, wobei es sich – der Zeit geschuldet – mehrheitlich um eingeschlechtliche Universen handelt. Die dort genossene Erziehung soll das Individuum zur Teilhabe an der bürgerlichen Gesellschaft befähigen – ein Anspruch, der allerdings von den Erzählungen in höchst unterschiedlicher Weise umgesetzt wird. Zu unterscheiden sind zwei antagonistische Narrative. Das erste, weitgehend affirmativ ausgestaltet, findet sich in den explizit an jugendliche Leserinnen adressierten Backfisch- oder Pensionserzählungen. Wie Gisela Wilkending in ihren Untersuchungen herausgearbeitet hat, folgen sie nahezu durchgängig einem analogen Muster: Ein Mädchen, das durch Wildheit oder anderes als atypisch qualifiziertes weibliches Verhalten auffällt, wird, nicht selten gegen ihren Willen, von den Eltern in ein Pensionat überstellt. Dort lernt es in Form von Erziehungsmaximen, im Umgang mit Gleichaltrigen, durch Warngeschichten sowie Interaktionen mit den Erzieherinnen, die vorgegebenen und niemals in Frage gestellten gesellschaftlichen Werte zu internalisieren und anzuerkennen, wofür es am Ende die verdiente Gratifikation in Gestalt eines Bräutigams oder doch zumindest eines ernstzunehmenden Bewerbers erhält. Als Prototyp der Gattung gilt Emmy von Rhodens 1885 erschienener Roman Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen (vgl. u. a. Wilkending 1999, 104–116). Anders das zweite – das schulkritische Narrativ. Bekannt ist es vor allem aus den heutigen Klassikern des Schülerromans, etwa Unterm Rad (1906) von Hermann Hesse oder Der Zögling Törless (1906) von Robert Musil. In diesen nicht an jugendliche Leser/innen adressierten Erzählungen ist der Jugendliche nicht in der Lage oder nicht willens, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu internalisieren, die Anpassung als individuellen Gewinn zu verbuchen; der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft erscheint unüberbrückbar oder anders formuliert: Am Ende triumphieren die Prinzipien der Disziplinargesellschaft über das Leben, die Triebunterdrückung über die Sexualität, das Alter (in Gestalt der Lehrer) über die Jugend, die gesellschaftlichen Maxime über die innere Natur des Jugendlichen, die Konformität über den Individualismus und nicht selten der Tod oder zumindest die Regression über das empathische Leben (vgl. Hamann 2016, 20–22). Die Schule erscheint in diesen Erzählungen als eine ins Negative gewendete Heterotopie, d. h. als Inkarnation einer Disziplinar- und Überwachungsgesellschaft, die das jugendliche Individuum nicht nur an seiner Entfaltung hindert, sondern ihm buchstäblich die Luft zum Atmen nimmt. Analog zur Adressierung der Texte – Backfisch- bzw. Pensionserzählungen waren explizit an Heranwachsende adressiert, die anderen Texte an ein allgemeines Publikum – verhält es sich mit der Geschlechterzuordnung. Weibliche Sozialisationsprozesse gestalten sich mehrheitlich als wenig krisenhaft und verlaufen erfolgreich – ihre literarische Repräsentation bleibt den Backfischerzählungen und damit der spezifischen Jugendliteratur vorbehalten. Die literarische Repräsentation
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männlicher Sozialisation hingegen endet nicht selten in der Katastrophe. Der Heranwachsende scheitert an den für ihn unüberbrückbaren Antagonismen zwischen Leben und Schule. Die Forschung hat diese gattungstypologischen Kontexte – im Zusammenhang mit der Geschichte von Winsloe – nur in Ausnahmefällen und auch dort nur ansatzweise in den Blick genommen (vgl. u. a. Koch 1987, 81–89; Luserke 1999, 100–108; Johann 2003, 492–495; Birkner 2009, 95–99), sondern vorzugsweise die Implikationen der Liebesbeziehung zwischen Manuela und Fräulein von Bernburg fokussiert. Eine solche Schwerpunktsetzung hat durchaus ihre Berechtigung, berücksichtigt man, dass in einem Großteil der Schülerromane (nicht der Backfischerzählungen!) homoerotische und auch homosexuelle Beziehungen (als Teil eines komplexen und keineswegs gradlinigen Identitätsfindungsprozesses) durchaus eine Rolle spielen – allerdings immer unter Peers und nicht zwischen Angehörigen unterschiedlicher Generationen. Zum anderen ist diese Wahrnehmungsfixierung sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass die Autorin Christa Winsloe und ihr Werk erst Anfang der 1980er-Jahre von der zweiten deutschen Frauenbewegung wiederentdeckt (vgl. u. a. Gramann/Schlüpmann 1981a, 1981, 28–41; Reinig 1983, 239–248) worden ist, die ebenso wie die aus ihr hervorgehende sogenannte Frauen- bzw. Feministische Forschung jedoch deutlich mehr Interesse an der in medialen Repräsentationen bislang nicht vorhandenen, positiv konnotierten Darstellung einer zumindest angedeuteten Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen hatte, als an den Gattungsmerkmalen von Backfisch- oder Schülerromanen der Jahrhundertwende. Da die erste Biografie über Winsloe erst zu Beginn der 2010er-Jahre erschien (Hermanns 2012a), blieb die Auseinandersetzung mit der Autorin und ihrem Oeuvre unterschiedlichen, sich partiell überschneidenden Wissenschaftsfeldern vorbehalten, darunter den Queer Studies (vgl. u. a. Fest 2012, dort auch weitere Literaturhinweise), der Exilforschung (vgl. u. a. Hermanns 2013, 62–71), der Theaterwissenschaft (vgl. u. a. Stürzer 1993, 96–111), vor allem aber der Filmwissenschaft, die sich mit dem Kino der Weimarer Republik (vgl. u. a. McCormick 2009, 271–289) bzw. der Geschichte des queer cinema beschäftigte (vgl. u. a. Boxhammer 2007; Dyer 2003, 23–62) und seit neuestem auch der Literaturdidaktik (Birkner 2009, 95–99). Die etablierte Germanistik bzw. Literatur- und Kulturwissenschaft,2 aber auch die Kinder- und Jugendliteraturforschung haben bislang hingegen kaum Interesse an dem Stoff gezeigt; ebenso wenig wurde er bislang im Hinblick auf seine medienspezifischen bzw. transmedialen Erscheinungsformen untersucht, ungeachtet der Tatsache, dass
2Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass Winsloes Geschichte in den deutschsprachigen Literaturgeschichten (über die Epoche der Weimarer Republik) z. T. bis heute nicht erwähnt wird; vgl. als prominentes Beispiel Kiesel 2017. Auch die in den 1980er-Jahren entstehende Frauenliteraturgeschichtsschreibung erwähnte Winsloe im besten Falle passim (vgl. FischerLichte 1988, 379) oder gar nicht (vgl. Gnüg/Möhrmann 1999; Fähnders/Karrenbrock 2003). Analog dazu finden die Autorin und ihre Geschichte auch in den zahlreichen Untersuchungen über die literarische Repräsentation von Schule, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Erwähnung.
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in der Forschungsliteratur die unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen durchaus nahezu durchgängig Erwähnung finden.3
Christa Winsloes Pensionsgeschichte im Medienverbund (1930–1936) An den unterschiedlichen medialen Versionen – Bühnenmanuskripte bzw. Theaterstücke, Filmdrehbuch, Roman – der Geschichte war Christa Winsloe zunächst in hohem Maße selbst maßgeblich beteiligt und zwar in allen Fällen als Autorin; lediglich im Falle des Drehbuchs stand ihr F. D. Andam (d. i. Friedrich Andamm, 1901–1969) als Drehbuchautor zur Seite. Kennzeichnend für diesen ersten Medienverbund, der sich aus zwei Theaterstücken, einem Spielfilm und einem Roman zusammensetzt, ist seine sehr kurze Entstehungszeit von weniger als einem Jahr, die unterschiedlichen Titel der einzelnen Medienprodukte, denen zum Teil auch signifikante inhaltliche Akzentverschiebungen einhergingen, die offen herausgestellten intermedialen Bezüge, zum einen auf bereits bestehende mediale Versionen der Geschichte, zum anderen – und dies eher implizit – auf weitere Medienverbünde, und nicht zuletzt die große Resonanz des Publikums, die entscheidend zu der schnellen Erweiterung des Medienverbundes beigetragen hat. Den Anfang des Verbundes markiert die Uraufführung des Theaterstücks Der Ritter Nérestan der damals noch vollkommen unbekannten Autorin Christa Winsloe Ende November 1930 am Leipziger Schauspielhaus (vgl. Stürzer 1993, 102–107). Obwohl in dieser ersten Version der Geschichte die beiden zentralen Handlungsmomente – die scharfe Kritik an den als menschenfeindlich herausgestellten Erziehungsmaximen sowie die emotionale Beziehung zwischen Schülerin und Erzieherin, die mit dem Selbstmord der Protagonistin endet – deutlich betont werden, bleibt der Skandal aus; die Resonanz von Publikum und Kritik ist freundlich, aber verhalten. Christa Winsloe reagiert, indem sie das Stück umschreibt; dabei „entschärft“ (ebd., 103) sie vor allem die Figur der Erzieherin, indem sie Szenen streicht, die explizit auf homosexuelle Konnotationen verweisen (vgl. ebd., 104 f.). Die Gefühle Fräulein von Bernburgs werden in den Nebentext, d. h. in nichtsprachliche Gesten, verlagert und damit in letzter Konsequenz der Deutung der Zuschauer überantwortet. Ihre sprachlichen Äußerungen gegenüber Manuela sind allgemeiner gehalten, ihre proleptische Äußerung gegenüber der Oberin, das Stift zusammen mit Manuela zu verlassen, dahingehend abgemildert, dass nur sie die Anstalt verlassen will (Winsloe 1930, 121). Obwohl Winsloe die zentralen Handlungselemente der ersten Fassung beibehält, trägt die neue Version zumindest im
3Selbst
in den Publikationen, deren Titel auf eine Beschäftigung mit den medialen Erscheinungsformen des Stoffes hindeutet, findet eine Auseinandersetzung damit in letzter Konsequenz höchstens in Ansätzen statt (vgl. u. a. Puhlfürst 2000; Iurascu 2019).
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Hinblick auf den Beziehungscharakter der beiden Hauptakteurinnen einen deutlich polyvalenteren Charakter. Die neue Fassung erhält auch einen veränderten Titel, an dem sich die Akzentverschiebungen zumindest implizit ablesen lassen: Hatte mit dem ersten Titel Der Ritter Nérestan der Fokus auf der Protagonistin Manuela gelegen (bei einer Theateraufführung von Voltaires Drama Zaire anlässlich des Geburtstags der Oberin übernimmt sie die Rolle des Ritters Nérestan), verschiebt er sich mit der Umbenennung in Gestern und Heute auf den gesellschaftspolitischen Aspekt des Dramas, d. h. der Kritik an den repressiven Erziehungsmaximen des Pensionats. Stoßrichtung dieser Kritik bildete nicht zuletzt die Tatsache, dass, wie gleich in der ersten Szene herausgestellt wird, die Handlung zwar in der Autorgegenwart, also der Weimarer Republik, angesiedelt ist, die überkommenen Prinzipien der Kaiserzeit aber unverändert gültig geblieben sind (vgl. Winsloe 1930, 8 f.) und damit zugleich einen zutiefst antirepublikanischen Charakter tragen (vgl. Fest 2012, 461–464).4 Die Uraufführung von Gestern und Heute erfolgt Anfang April 1931 im Berliner Theater an der Stresemannallee; der durchschlagende Erfolg bei Publikum und Kritik bildete den Anlass für eine erneute Erweiterung des zu diesem Zeitpunkt immer noch sehr überschaubaren Medienverbundes – bereits im Sommer 1931 leitete der Filmproduzent Carl Froelich (1875–1953) die Verfilmung des Theaterstücks in die Wege. Als Regisseurin verpflichtet wurde die Theaterregisseurin Leontine Sagan (1889–1974), die bereits Regie bei der Bühnenversion von Gestern und Heute geführt hatte (vgl. Sagan 2010, 174–181). Damit weist der Medienverbund ein weiteres Spezifikum auf, das zum Teil auf die Autorin zurückgeführt werden kann, sich jedoch zunehmend verselbständigen sollte, das über Mediengrenzen hinweg in Erscheinung treten bestimmter Akteur/innen – in diesem Fall der Regisseurin Leontine Sagan, vor allem aber der Schauspielerin Hertha Thiele, die in beiden Dramenversionen wie auch in der Verfilmung die Protagonistin Manuela spielte (Stürzer 1993, 287), worauf Winsloe explizit bestanden hatte (vgl. Sagan 2010, 179). Die Verpflichtung von Sagan ging hingegen auf Carl Froelich selbst zurück (ebd., 177–179). In beiden Fällen jedoch trug eine solche Auswahl ob ihres expliziten wie impliziten Verweischarakters dazu bei, den Verbundcharakter der Einzelmedien herauszustellen. Betont wurde dieser Aspekt auch in den Titeln der Einzelmedien: Bei der Veröffentlichung der beiden Dramenmanuskripte stand bei Gestern und Heute sowohl bei der Erst- wie bei der Neuauflage auf dem Cover in Klammern der Titel der ersten Dramenversion Der Ritter Nérestan (Winsloe 1930 und 1973); analog dazu wurde in den Filmcredits in der Rubrik Vorlage auf das „Bühnenstück Gestern und Heute“ hingewiesen.
4Die Tatsache, dass Winsloe die Neufassung ihres Dramas als Zeitstück konzipiert hatte, lässt sich auch am Bühnenmanuskript ablesen, wo als Zeitpunkt der Handlung explizit „Heute“ (Winsloe 1930, 4) angegeben ist. In der Neuauflage des Bühnenstücks wurde die Zeitangabe in „Ende der zwanziger Jahre“ (Winsloe 1973, 4) geändert, wodurch – wahrscheinlich unbeabsichtigt – die zeitliche Distanz zu den Ereignissen betont wird. Von der Forschung wurden die gesellschaftspolitischen Aspekte des Dramas bislang nur am Rande behandelt (vgl. dazu in Ansätzen Fest 2012, 462–464).
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Die Uraufführung des Films fand Ende November 1931 in Berlin statt, seinen durchschlagenden Erfolg5 – er gilt als einer der erfolgreichsten Filme des Jahres und zwar sowohl im In- wie im Ausland (vgl. Stürzer 1993, 100; Prinzler 1995, 98)6 – verdankt er neben Sagans Regieleistung, der Kameraführung und den Leistungen der Schauspielerinnen nicht zuletzt seinem, vermutlich auf Carl Froelich – der bei dem Film als „Künstlerischer Oberleiter“ fungierte (so die zeitgenössischen Filmplakate) – zurückgehenden Filmtitel Mädchen in Uniform.7 Mit der Verfilmung wurde der Stoff jedoch nicht nur für ein neues Medium adaptiert, erzählt wurde wiederum eine neue Geschichte: Getilgt wurden nahezu alle konkreten Zeitbezüge, die die Theaterstücke noch aufgewiesen hatten (vgl. oben),8 zugunsten einer zeitlichen Uneindeutigkeit (vgl. Fest 2012, 465); aus dem ursprünglich aufgeführten Bühnenstück Der Ritter Nérestan wird Schillers Don Carlos, am wichtigsten jedoch ist der veränderte Schluss: Anders als in den Bühnenfassungen können die Mitschülerinnen den Selbstmord der Protagonistin im letzten Moment verhindern. Dieser abgemilderte Schluss war ganz offensichtlich ebenfalls auf einen der zahlreichen Eingriffe von Froelich zurückzuführen, Winsloe selbst, die am Drehbuch mitgearbeitet hatte, war damit in hohem Maße unzufrieden, was nicht zuletzt daran ablesbar ist, dass sie Inszenierungen des Theaterstücks nur noch dann gestattete, wenn darin auch der von ihr vorgesehene tragische Schluss zur Aufführung gelangte (vgl. Stürzer 1993, 100 f.). Im Hinblick auf den sich sukzessive erweiternden Medienverbund kann hier von medialen Durchdringungsprozessen gesprochen werden: Nicht nur wurde ein erfolgreiches Theaterstück von seiner Verfasserin für den Film adaptiert, der große Erfolg des Films wiederum veranlasste Dramaturgen dazu, Elemente des Films in die eigene Inszenierung zu integrieren, was von Winsloe jedoch offensichtlich versucht wurde zu unterbinden.
5Anders
als in älteren Veröffentlichungen zu lesen ist, verursachte der Film weder bei der Uraufführung noch nach der Machtübergabe irgendeine Form von Skandal (vgl. Nowak 2014, 131 f.). 6Dabei konkurrierte er mit so erfolgreichen Filmen wie Die Drei-Groschen-Oper (R.: G. W. Pabst), M (R.: Fritz Lang), Der Kongress tanzt (R.: Eric Charell), Berlin Alexanderplatz (R.: Phil Jutzi), Emil und die Detektive (R.: Gerhard Lamprecht), Der Hauptmann von Köpenick (R.: Richard Oswald); Im Westen nichts Neues (R.: Lewis Milestone), wie bei Prinzler (1995, 97 f.) nachzulesen ist. 7Das hier bewusst gesetzte Oxymoron Mädchen in Uniform verdankt sich möglicherweise dem Titel des nahezu zeitgleich erschienenen, äußerst erfolgreichen Antikriegsromans Die Katrin wird Soldat (1930) von Adrienne Thomas (1897–1980), dem dieselbe rhetorische Figur zugrunde liegt. Herta Thiele vermutete demgegenüber, Froelich habe diesen Titel gewählt, um auf diese Weise an die populären Soldatenschwänke der frühen 1930er-Jahre anzuknüpfen (vgl. Gramann/ Schlüpmann 1981, 41). 8Die Zeitbezüge blieben nur dann erhalten (oder wurden sogar noch verstärkt), wenn Froelich es für opportun hielt: So outet sich die Figur Ilse im Drama als Fan von Hans Albers und Greta Garbo (vgl. Winsloe 1930, 20); in der Filmversion wird jedoch statt Garbo die Schauspielerin Henny Porten genannt, mit deren Produktionsfirma Froelich kurz zuvor fusioniert hatte.
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Deutlich wird, dass binnen kurzer Zeit nicht mehr das Theaterstück, sondern die Verfilmung als das dominante Medium angesehen wurde, auf den sich die anderen Medien, die sich des Stoffs annahmen, beziehen wollten.9 Winsloe trug beiden Faktoren Rechnung – der großen Popularität des Films wie auch ihrer Unzufriedenheit mit dem aus ihrer Sicht inakzeptablen Schluss – eine Entscheidung, die innerhalb von zwei Jahren in eine erneute Erweiterung des bestehenden Medienverbundes mündet: Winsloe erzählt die Internatsgeschichte ein viertes Mal, nun jedoch in Form eines Romans. Wiederum handelt es sich partiell um eine neue Erzählung: Erzählt wird nun auch, in einer Art Prequel, die Vorgeschichte, d. h., die Kindheit der Protagonistin, der Tod der Mutter, der Aufenthalt in einer befreundeten Familie, wo sich das Mädchen zur Mutter des Freundes hingezogen fühlt, sowie die Überstellung ins Pensionat. Sehr viel mehr Gewicht (als in den vorigen Versionen) wird auf die emotionale Beziehung zwischen Schülerin und Erzieherin gelegt, was durch den Wechsel zwischen interner und Nullfokalisierung (die auch einen Blick in die Gefühlswelt der Erzieherin gestattet) eine zusätzliche Verstärkung erfährt. Diesen Erzählerberichten stehen gleichsam kontrapunktisch längere Dialogpassagen gegenüber, die z. T. wörtlich aus den Dramenfassungen übernommen sind und zugleich die Herkunft des Textes als eines Dramentextes in Erinnerung ruft (vgl. Luserke 1999, 101). Analog zu den Dramenversionen darf Manuela auch in der Romanfassung am Ende sterben; sie stürzt sich aus dem Fenster. Für diese neue Geschichte wählt Winsloe auch einen neuen Titel Das Mädchen Manuela (Winsloe 1933a) sowie zugleich einen Untertitel: „Der Roman von Mädchen in Uniform“.10 So ungelenk dieser Untertitel auch formuliert ist, ist er doch von zentraler Bedeutung im Hinblick auf den intermedialen Bezug, der hier aufscheint – aufscheinen soll. Auch wenn Winsloe Froelichs Veränderungen äußerst kritisch gegenübergestanden hatte, der große Erfolg des Films hatte sie nicht unbeeindruckt gelassen, und so
9Besonders deutlich manifestiert sich dies in den zeitnahen Übersetzungen des Theaterstücks Gestern und Heute, so in der englischen Übersetzung von Barbara Burnham, die als Titel Children in Uniform wählte und als Untertitel „Adapted from the same play as Mädchen in Uniform“ hinzufügte (Winsloe 1933b). Ganz ähnlich verfuhr die französische Übersetzung, dort lautete der Titel des übersetzten Theaterstücks Demoiselles en Uniforme, der mit folgenden Untertiteln versehen wurde „Traduction fidèle de la pièce Allemande Gestern und Heute d’où a été tiré le film sensationnel Mädchen in Uniform sous le titre Jeunes Filles en Uniforme“ (Winsloe 1932). Eine leicht abgemilderte Version findet sich bei der dänischen Übersetzung des Theaterstücks, das mit Igår og idag (Gestern und Heute) den Originaltitel übernahm, den Filmtitel auf Dänisch jedoch in Klammern (Piger i uniform) dahinter setzte. 10Von Seiten des Verlages wurde der Roman darüber hinaus noch mit einer entsprechenden Banderole beworben: „Sensationelle Neu-Erscheinung. Der Roman des berühmten Films Mädchen in Uniform“ (Hermanns 2012a, 154).
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insinuierte sie mit Titel und Untertitel, hier werde – durchaus in Anlehnung an den erfolgreichen Film – die eigentliche Geschichte (noch einmal) erzählt.11 Die Wirkungsmächtigkeit von Medienverbünden unterliegt jedoch nicht nur den in ihnen verhandelten Inhalten, sie ist auch immer in hohem Maße kontextabhängig. Diese Kontexte jedoch hatten sich in Deutschland Ende Januar 1933 mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten grundlegend verändert. Davon nicht betroffen war die Verfilmung von Winsloes Theaterstück; obwohl sie bereits seit 1932 nicht mehr in Deutschland lebte und Leontine Sagan im selben Jahr nach England emigriert war, tat dies dem Erfolg des Films keinen Abbruch. An den einschlägigen, zeitgenössischen Periodika wie der Film-Fachzeitschrift Der Kinematograph oder dem täglich erscheinenden Film-Kurier lässt sich der große Erfolg des Films ablesen, der nicht nur in Deutschland, sondern auch in europäischen wie außereuropäischen Ländern, darunter in Algerien und Palästina, aufgeführt wurde, auch nach Kriegsbeginn in Deutschland in unterschiedlichen Städten zahlreiche Wiederaufführungen erlebte und zugleich bis in die 1940erJahre immer wieder als Referenz für andere Filme zitiert wurde. Dass der Film trotz Autorin und Regisseurin während der NS-Zeit von Seiten der Machthaber keinerlei Einschränkungen unterworfen war (vgl. Weinstein 2019, 144–165), war offensichtlich paradoxerweise dem ehemaligen „Künstlerischen Oberleiter“ Carl Froelich geschuldet, der nicht nur bereits 1933 in die Partei eingetreten war, sondern seit 1939 auch als Präsident der Reichsfilmkammer fungierte (vgl. Schrader 2008, 100–102). Mädchen in Uniform konnte auf diese Weise als ein Film von Froelich rezipiert und die Partizipation anderer politisch missliebiger bzw. verfolgter Akteur/innen (auch die Hauptdarstellerin Hertha Thiele hatte seit 1936 Berufsverbot und war 1937 in die Schweiz emigriert) ausgeblendet werden. Anders als der Film erschien Winsloes Roman 1933 zunächst nicht in Deutschland, sondern im Amsterdamer Verlag von Allert de Lange,12 der wiederum mit dem Wiener Verlag von Ernst Peter Tal eine Vereinbarung getroffen hatte, ausgewählte Werke des Verlages in Deutschland zu vertreiben, darunter auch den
11Ganz
analog wurde auch in der Mehrheit der zwischen 1933 und 1943 erschienenen Übersetzungen verfahren; von den insgesamt zehn Übersetzungen gibt es nur drei, die keinen Bezug zum Filmtitel aufweisen: die Ausgaben in katalanischer (1934) und in tschechischer Sprache (1935), die sich beide nur auf den Namen Manuela beschränken, sowie die niederländische Ausgabe Het meisje Manuela (1935). Die italienischen (1934), portugiesischen (1934), spanischen (1934) polnischen (1936) und ungarischen (1943) Übersetzungen nannten jeweils nur den Filmtitel und lediglich die englische (1933) und französische Ausgabe (1934) orientierte sich wortgetreu an dem deutschen Ober- wie Untertitel. Einige der Übersetzungen warben zugleich mit Filmstills auf ihren Covern. 12Im April 1933 war man an den Verlag herangetreten, eine eigene Abteilung für die aus Deutschland emigrierten Autor/innen zu gründen (vgl. Schoor 1992, 14). Um die wirtschaftliche Stabilität des Unternehmens zu sichern, versuchte man, Romane zu verlegen, die entweder in Deutschland bereits erfolgreich gewesen waren oder aber Werke, die aufgrund ihrer Resonanz (u. a. in anderen Medien) erfolgversprechend waren, dazu gehörte – nach der Verfilmung – auch Winsloes Roman (ebd., 31). Das Mädchen Manuela zählte mit zu den ersten von Allert de Lange veröffentlichten Romanen; in den Jahren 1933 und 1934 erschienen insgesamt zwei Auflagen mit insgesamt 7000 Exemplaren (ebd., 94; vgl. auch Hermanns 2012a, 151–153).
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Roman Das Mädchen Manuela (vgl. Hermanns 2012a, 152–155). Da Winsloe selbst weder Berufsverbot hatte noch verfolgt wurde, unterlagen auch ihre Werke zunächst keiner Zensur, auch von der Bücherverbrennung 1933 waren sie nicht betroffen, ebenso zählte sie offensichtlich nicht zum Kreis der emigrierten Autor/ innen (vgl. Schoor 1992, 135). Die Entscheidung, ihre Werke bei Allert de Lange zu veröffentlichen, sollte sich (zunächst) durch die internationalen Kontakte des Verlegers in Verbindung mit der auch in anderen Ländern gezeigten Verfilmung als ausgesprochen verkaufsfördernd erweisen. Erst Mitte der 1930er-Jahre, als die deutschen Behörden feststellten, dass Winsloes Werke in einem Verlag (Tal) erschienen, der auch die Werke von Emigrant/innen bzw. von Autor/innen veröffentlichte, deren Schriften auf der Liste des unerwünschten oder als schädlich erachteten Schrifttums standen, wurden auch ihre Werke in Deutschland verboten (vgl. Hermanns 2012a, 156); 1936 konnte Tal in Deutschland keine Werke mehr absetzen (vgl. Schoor 1992, 145). Obwohl der Film Mädchen in Uniform auch nach dem Verbot des Romans weiter in Deutschland gezeigt werden konnte, markierten die Maßnahmen dennoch das Ende oder zumindest eine Unterbrechung des ersten Medienverbundes, jenem nämlich, den Christa Winsloe angestoßen und zu dessen kontinuierlicher Erweiterung sie selbst in entscheidender Weise beigetragen hatte. Winsloe wurde im Juni 1944 in Frankreich ermordet; mit ihrem Tod beginnt jedoch zugleich – wenngleich mit zeitlicher Verzögerung – ein neues Kapitel in der Geschichte des auf ihre Texte zurückgehenden Medienverbundes, nun jedoch mit anderen Akteur/innen.
Transmediale Erzählwelten seit den 1950er-Jahren Bei einer Untersuchung des Medienverbundes, der zeitlich nach Winsloes Tod seinen Anfang nahm, soll im oben ausgeführten Sinne wiederum zwischen einem Medienverbund im engeren und in einem weiteren Sinne unterschieden werden. Unter einem Medienverbund im engeren Sinne werden alle Medienprodukte verstanden/subsumiert, die sich in expliziter, eindeutiger Weise auf die bereits vor 1944 existierenden Medienprodukte (Theaterstücke, Film, Roman) beziehen. Der im letzten Abschnitt genauer in den Blick genommene sogenannte weite Medienverbund zeichnet sich – im vorliegenden Fall – hingegen vor allem durch seine impliziten Verweise und damit durch seinen rhizomatischen Charakter aus, d. h. durch die Berührungen mit anderen Medienverbünden, durch Strukturen, die Bezüge zu anderen Textsorten erkennen lassen, durch intertextuelle Verweise auf inhaltlicher Ebene. Der Medienverbund im engeren Sinne umfasst zunächst dieselbe Bandbreite an Medienproduktion wie zuvor: Neuausgaben des Romans (inklusive Neuausgaben von Übersetzungen), eine Neuauflage des Theaterstücks, neue Verfilmungen, Neuinszenierungen des Theaterstücks Gestern und Heute. Erweiterungen des medialen Spektrums bilden ein Hörspiel, die Fernsehausstrahlung einer zuvor aufgezeichneten Theaterinszenierung, eine Fortschreibung der Geschichte (in zwei Fassungen) sowie seit den 2010er-Jahren im Netz kursierende Fanfiction. Die zeitliche Dimension erstreckt sich vom Beginn der 1950er-Jahre bis in die
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unmittelbare Gegenwart, wobei allerdings eine markante Zäsur nach dem Ende der 1950er-Jahre ins Auge fällt: Es dauert gut zwei Jahrzehnte, bevor Winsloes Geschichte (und ihre medialen Umsetzungen) Anfang der 1980er-Jahre von der deutschen Frauenbewegung wiederentdeckt wird. Kennzeichnend für diese zweite Phase des Medienverbundes in ihrer Gesamtheit ist wiederum ihr offener, d. h. intendierter Verweischarakter auf andere Produkte desselben Verbundes, der sich auf textueller, paratextueller, medialer Ebene, aber ebenso im Hinblick auf die Akteur/innen manifestiert. In diesem Zusammenhang muss als ein weiteres zentrales Merkmal die Dominanz des Filmtitels Mädchen in Uniform angesehen werden, der mit Beginn dieser zweiten Phase des Medienverbundes endgültig für nahezu alle medialen Repräsentationsformen verwendet wird, vielfach ohne die Titel der vorhergehenden Medienprodukte zu nennen. Damit wird eine Praxis fortgeführt und verstärkt, die, wie oben dargestellt, bereits unmittelbar seit der Erstaufführung des Films ihren Anfang genommen und auch Winsloe sich selbst zu eigen gemacht hatte. Spätestens seit den 1950er-Jahren ist daher von einem Medienverbund von Mädchen in Uniform zu sprechen, der eine Vielzahl medialer Erscheinungsformen umfasst, deren Zugehörigkeit zu demselben Medienverbund sich nicht zuletzt in der Verwendung ein und desselben Titels manifestiert. Aus diachroner Perspektive betrachtet steht am Anfang der neuen Phase dieses Medienverbundes ein neues Medium: das Hörspiel. Am 18. Mai 1949 strahlt der Bayerische Rundfunk das Hörspiel Mädchen in Uniform aus – mit prominenter Besetzung, darunter Lina Carstens, Maria Wimmer, Pamela Wedekind – und Ellen Schwanneke als Manuela. Schwanneke (1906–1972) hatte bereits in der Verfilmung von 1931 mitgespielt (Kühn 2007) – dort allerdings in der Rolle von Manuelas Mitschülerin Ilse von Westhagen. Da das Hörspiel offensichtlich nicht archiviert wurde (vgl. Winsloe 1949), kann auch nicht mehr nachvollzogen werden, auf welche Vorlage sich der Bearbeiter, der bekannte Theaterregisseur Heinz Coubier (1905–1993), bezogen hat. Auch die Neuausgaben des Romans, die Anfang der 1950er-Jahre zeitgleich in den Verlagen von Allert de Lange, Kiepenheuer, Verkauf und einem Verlag in St. Gallen erschienen (vgl. Winsloe 1951),13 wurden nur noch unter
13Allert
de Lange hatte die Rechte an Kiepenheuer verkauft, was nicht zuletzt aus der Geschichte beider Verlage resultiert; Hermann Kesten, vor 1933 Verlagsleiter bei Kiepenheuer, war nach seiner Emigration zu Allert de Lange nach Amsterdam gewechselt und half ihm dort, die deutsche Abteilung des Verlages aufzubauen. Viele in die Emigration getriebene Autor/innen, die ihre Werke zuvor bei Kiepenheuer verlegt hatten, wechselten nach 1933 ebenfalls zu Allert de Lange. Nach 1946 war es Fritz Helmut Landshoff, vor 1933 geschäftsführender Teilhaber des Kiepenheuer Verlages, nach seiner Emigration Leiter der deutschen Abteilung des Amsterdamer Querido Verlages, der eine Zusammenarbeit zwischen Allert de Lange und Kiepenheuer vermittelte, die auch die Übernahme von Rechten einzelner Autor/innen einschloss (vgl. Boge 2011, 226 f.). Kiepenheuer übernahm u. a. die Rechte an Winsloes Roman, der 1951 in die von ihm neu begründete Reihe Kiepenbücher aufgenommen wurde (vgl. ebd., 229) und vergab Lizenzen an den österreichischen Verlag von W. Verkauf sowie den St. Gallener Verlag. Wie präsent Winsloes Roman noch immer im Bewusstsein der Leser/innen war, verdeutlichen die vergleichsweise hohen Verkaufszahlen; im November 1951 waren bereits 6500 Exemplare des Romans verkauft (vgl. ebd., 239).
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dem Titel Mädchen in Uniform vertrieben und beworben und damit zugleich in einen expliziten Zusammenhang zum Film gestellt;14 der von Winsloe seinerzeit gewählte Titel Das Mädchen Manuela findet sich auch im paratextuellen Feld nicht mehr. Die vergleichsweise hohen Verkaufszahlen waren möglicherweise auch der Tatsache geschuldet, dass im März 1952 ein erstes Remake des Stoffs in die deutschen Kinos gekommen war: Muchachas de Uniforme (1951) in der Regie von Alfredo B. Crevenna (1914–1996). Ungeachtet der Tatsache, dass es sich formal um einen mexikanischen Film handelte, dessen Handlung in Mexiko spielt, kann die Verfilmung dennoch auf weite Strecken als ein genuin deutsches Projekt bezeichnet werden: Der Regisseur kam aus Deutschland und hatte bis zu seiner Emigration 1938 für die Ufa gearbeitet;15 als Produzent fungierte Rodolfo (eigentlich Rudolf) Loewenthal (1908–1982), der vor seiner Emigration in Berlin bei der Produktionsfirma Terra Film angestellt war (vgl. Weniger 2011, 592). Als Mitverfasser des Drehbuchs wird der aus Wien stammende Egon Eis (1910– 1994) genannt (vgl. ebd., 152 f.). Inhaltlich eng an die Verfilmung von 1931 angelehnt, wurde lediglich die Kritik an dem preußisch-soldatischen Erziehungsdrill umgemünzt in eine Kritik an der Härte religiöser Grundsätze, an denen die Mädchen zerbrechen. Während die mexikanische Version den deutschen Originaltitel wörtlich übernommen hatte, musste für die deutsche Fassung ein neuer Titel – Mädchen ohne Liebe – gewählt werden, was eine Zugehörigkeit zu dem bestehenden Medienverbund nicht auf den ersten Blick erkennen ließ. Dennoch bildete der Film möglicherweise den Anlass, sich auch von deutscher Seite erneut des Stoffes anzunehmen. Als deutsch-französische Ko-Produktion kam im Sommer 1958 unter der Regie von Géza von Radványi ein zweites Remake des Films, nun wiederum unter dem Titel Mädchen in Uniform in die Kinos. Als Vorlage wird in den Credits wieder Winsloes Theaterstück Gestern und Heute genannt und nicht etwa der Film von 1931, obwohl F. D. Andam wie in der ersten Version am Drehbuch mitwirkte, d. h. hier ein für viele Remakes der 1950er-Jahre typisches Phänomen, nämlich personelle Kontinuität, eine nicht unerhebliche Rolle spielte (vgl. Frank 2017, 19). Anders als in der ersten Fassung, in der man mehrheitlich auf Schauspielerinnen zurückgegriffen hatte, die entweder schon in dem Theaterstück mitgewirkt hatten oder als Theaterschauspielerinnen bekannt waren, wurden nun vor allem populäre Filmschauspielerinnen eingesetzt, an erster Stelle Lilly Palmer als Fräulein von Bernburg und Romy Schneider (als Manuela), die durch ihre Hauptrolle in den drei Sissi-Filmen (1955–1957) bereits in den 1950er-Jahren zu Deutschlands beliebtesten Schauspielerinnen zählte. Inhaltlich orientierte sich der Film weit-
14„Mädchen
in Uniform. Wer erinnert sich nicht bei diesem Titel an den international bekannten Film, der zu den grössten [sic!] Erfolgen deutscher Lichtspieltheater gehört? Ihm verdanken wir diesen Roman, der die Geschichte des Mädchens Manuela erzählt.“ (Winsloe 1951, Klappentext). 15Vgl. https://it.wikipedia.org/wiki/Alfredo_B._Crevenna (15.07.2019).
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gehend an der Filmvorlage von 1931 (d. h. gerade nicht an dem Theaterstück) mit dem zentralen Unterschied, dass anstelle der zeitlichen Uneindeutigkeit der ersten Verfilmung nun zu Beginn eine Landkarte Preußens und die Jahreszahl 1910 eingeblendet wurde. Damit wurde zugleich dem offenkundigen Faible des deutschen Publikums für Historienfilme Rechnung getragen; in den Jahren zuvor waren neben den Sissi-Filmen bereits Filme über Ludwig II. (1955) sowie den Hauptmann von Köpenick (1956) – beide unter der Regie von Helmut Käutner – in die Kinos gekommen, die alle der offenkundigen Sehnsucht nach einer weitgehend verklärenden Sicht auf die Vergangenheit in perfekter Weise entsprachen.16 Auch die Neuverfilmung von Mädchen in Uniform wurde der erwartungsgemäß große Publikumserfolg, wenngleich sie die Kritik nicht überzeugen konnte: Einstimmig wurde die Verwässerung und überversöhnliche Tendenz des Stoffes bemängelt, dem auf diese Weise jedes kritische Potenzial abhanden gekommen sei. Flankiert wurde das Filmereignis durch eine Wiederauflage des Romans im Bertelsmann Lesering (vgl. Winsloe 1959), der wiederum nicht nur denselben Titel wie der Film trug, sondern dessen Umschlag auch mit einer zentralen Filmszene zwischen Palmer und Schneider versehen war, sodass erneut insinuiert wurde, dass es sich hierbei tatsächlich um ‚das Buch zum Film‘ handelte. Radványis Film wurde auch im Ausland gezeigt, u. a. in Frankreich, in den Niederlanden und in England – auch dort erschienen nahezu zeitgleich Neuauflagen der Übersetzungen aus den 1930er-Jahren. Die hier angeführten Beispiele belegen, dass der Medienverbund auch in den 1950er-Jahren nach denselben Gesetzmäßigkeiten funktionierte wie im Jahrzehnt seines Entstehens – Marketingstrategien sowie die offensichtlich anhaltende Popularität des Stoffes bedingten einander wechselseitig. Neben filmischen Remakes und den Neuauflagen des Romans gab es seit den 1970er-Jahren auch zahlreiche Theaterinszenierungen des Stoffs, darunter 1973 durch Hartmut Gehrke am Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Peter Zadek, die aufgrund der positiven Resonanz 1974 durch das ZDF aufgezeichnet und ausgestrahlt wurde. Auch diese wie folgende Inszenierungen – u. a. 1976 erneut durch Hartmut Gehrke an der Berliner Volksbühne, nach der Jahrtausendwende am Landestheater in Wiesbaden – stellten ihre Zugehörigkeit zu dem sich erweiternden Medienverbund durch den durchgängig verwendeten Filmtitel Mädchen in Uniform heraus, die Inszenierung von 1976 zudem auch, indem sie die Rolle der Oberin mit Dorothea Wieck besetzten, die in der Verfilmung von 1931 die Erzieherin Fräulein von Bernburg verkörpert hatte, worauf im Programmheft auch explizit hingewiesen wurde.
16Remakes
lassen sich als „eine vielfältige Produktionspraxis im Publikumskino der jungen Bundesrepublik beschreiben […]. [Durch] die Wiederaufnahmen bereits verfilmter Stoffe [konnte] eine Kontinuitätslinie zu (positiv besetzten) Filmerinnerungen aus einer kulturell prägenden Phase“ (Frank 2017, 22 f.) geschaffen werden. Zum Remake von Mädchen in Uniform im Kontext von Inszenierungen vergangener Monarchien vgl. ebd., 305.
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Wie bereits erwähnt, markiert das Interesse der deutschen Frauenbewegung an dem Stoff, aber auch der Filmwissenschaft an der Geschichte des Films während der Weimarer Republik seit dem Ende der 1970er-Jahre17 erneut eine deutliche Zäsur in der Geschichte des Medienverbundes. Diese manifestiert sich zwar nicht in einem grundlegenden Medienwechsel – im Gegenteil, fokussiert wird weiterhin das Traditionsmedium Buch mit deutlichem Verweischarakter auf die beiden Verfilmungen (Abb. 1) unter Beibehaltung des Medienverbundtitels Mädchen in Uniform –, in den Blick geraten jedoch nun zunehmend die Autorin selbst, ihre Lebensgeschichte und damit zugleich die Geschichte ihres Werkes, d. h., der sich kontinuierlich erweiternde Medienverbund geht einher mit einer Darstellung bzw. Reflexion seiner Entstehungsgeschichte. Im Hinblick auf diese veränderten Interessen treten die Marketingaspekte zunehmend in den Hintergrund, werden jedoch durch den weiterhin offenen Verweischarakter der Einzelmedien und spätestens seit dem Aufkommen neuer Speichermedien (Videokassette, DVD, Streaming-Plattformen), die zumindest Buch- wie Filmversionen für jedermann zugänglich machen, durchaus weiter bedient. Kennzeichnend für diese Zäsur ist weiterhin die Tatsache, dass sie in fiktionaler Herangehensweise wie auf wissenschaftlicher Ebene erfolgt. 1981 veröffentlicht Christa Reinig die Erzählung Mädchen ohne Uniform, die sie auf mehreren Zeitebenen ansiedelt (vgl. Luserke 1999, 126; Pfleger/Steward 2019, 166–185). Es geht um die historische Person Christa Winsloe, die noch einmal in ihre Schule zurückkehrt und dort einige unzusammenhängende Szenen vor ihrem inneren Auge Revue passieren lässt, die sie selbst dort erlebt hat, Szenen, die bruchlos in analoge filmische wie Romanszenen übergehen – so werden Klar- wie Figurennamen genannt und auf diese Weise die Handlung der Geschichte als genuin autobiografisch identifiziert. Die dritte zeitliche Ebene ist in der Autorgegenwart und wiederum in einer Schule angesiedelt, in der sich eine enge Beziehung zwischen der Schülerin Manuela und ihrer Mathematiklehrerin Bern entwickelt, die am Ende nicht in die Katastrophe, sondern in einen utopisch-offenen Schluss mündet, der eine gemeinsame Zukunft immerhin als möglich erscheinen lässt (vgl. Ewering 1992, 107–109). Reinigs Um- und Fortschreibung verfährt im H inblick auf ihren Verweischarakter grundlegend anders als die vorigen Fassungen; ihre Erzählung setzt die Kenntnis der Prätexte und -filme voraus, nur in diesem Fall erschließen sich die drei Ebenen und ihre Zusammenhänge. Während in der Erstausgabe von 1981 auf diese Kontexte durch den kontrafaktischen Titel Mädchen ohne Uniform zumindest noch implizit verwiesen wird, tritt er in den folgenden
171977
war die Filmfassung von 1931 erstmals wieder öffentlich zu sehen; sie wurde in einigen Dritten Programmen ausgestrahlt, u. a. auch im NDR im Mai 1978, zum 70. Geburtstag der Schauspielerin Hertha Thiele, die den Film dort auch kommentiert (vgl. Gramann/Schlüpmann 1981, 28). Das ebenfalls Ende der 1970er-Jahre auch in Deutschland aufkommende Speichermedium der Videokassette trug zusätzlich zur Verbreitung bzw. Wiederentdeckung dieser Version bei.
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Abb. 1 Cover Das Mädchen Manuela. Der Roman zum Film „Mädchen in Uniform“. (Winsloe © Berlin: Krug & Schadenberg, 2012)
Auflagen durch den neuen Titel Die ewige Schule (Reinig 1981; 1986), die auch in neuen Verlagen erschienen,18 weiter zurück. Zur gleichen Zeit beginnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Winsloes Werk (auf die hier nur insoweit eingegangen werden soll, wie sie für den Medienverbund von Bedeutung ist) bzw. mit den noch lebenden Akteuren aus den
18Die
Erstausgabe war 1981 in der Eremiten-Presse erschienen, mit Graphiken von Klaus Endrikat. An diesen Graphiken hatte Reinig aufgrund des aus ihrer Sicht pornographischen Charakters jedoch Anstoß genommen (Ewering 1992, 101 f.) und veröffentlichte die Neuauflage ihrer Erzählung in leicht veränderter Form ein Jahr später unter dem Titel Die ewige Schule in einem Sammelband mit demselben Titel im Verlag Frauenoffensive (vgl. Reinig 1982, 65–93). Ein Neuabdruck der Erzählung erfolgte in dem Band Gesammelte Erzählungen (vgl. Reinig 1986, 264–288).
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Anfängen des Medienverbundes. Im Juni 1981 veröffentlichen Karola Gramann und Heide Schlüpmann in der Zeitschrift Frauen und Film eine Abhandlung über die Filme Mädchen in Uniform sowie Anna und Elisabeth (1933), in dem Hertha Thiele sowie Dorothea Wieck nochmals gemeinsam vor der Kamera standen (vgl. dazu weiter unten), sowie ein längeres Interview mit der Schauspielerin Hertha Thiele, in dem diese über die Produktionsbedingungen des Films, das Verhältnis zwischen Carl Froelich und Leontine Sagan, die Involviertheit der Autorin Winsloe und der Visualisierung lesbischen Begehrens sowohl in der Bühnen- wie in der Filmfassung Auskunft gab (vgl. Gramann/Schlüpmann 1981, 32–42). Was zuvor in wenige Signale der Paratexte ausgelagert war, wurde auf diese Weise erstmals explizit gemacht und wie unter einem Brennglas ausgestellt, woran die Fokussierung auf die tatsächlich existierenden Akteure (in Form eines Zeitzeugengesprächs) einen entscheidenden Anteil hatte. Der Beitrag von Gramann und Schlüpmann markiert jedoch nicht nur den Anfang einer wissenschaftlichen Beschäftigung vor allem mit den Anfängen des Medienverbundes aus einer neuen (feministisch-filmwissenschaftlichen) Perspektive, die hier erstmals vorgenommene Herangehensweise, nämlich die einzelnen Medien im Verbund und im historischen Kontext zu betrachten, schlägt sich auch in den neuen Editionen des Romans nieder. Alle drei zwischen den 1980er- und den 2010er-Jahren erschienenen Ausgaben des Romans (vgl. Winsloe 1983, 1999, 2012) beschränken sich nicht auf einen bloßen Abdruck des Textes, sondern müssen als Editionen betrachtet werden, denn jede der Ausgaben ist mit einem längeren Nachwort der jeweiligen Herausgeberin versehen (vgl. Reinig 1983, 239–248; Amrain 1999, 275–281; Hermanns 2012b, 273–293), in dem ausführlich auf die Geschichte von Roman und Film sowie die Biografie der Autorin eingegangen wird und sie damit auch als Teile eines mittlerweile auf eine lange Geschichte umfassenden Medienverbundes kenntlich machen. Gemeinsam ist allen drei Editionen, dass vor allem der Bezug zwischen Roman und Film akzentuiert wird, nicht zuletzt dadurch, dass die Cover wiederum mit Filmstills versehen sind – mehrheitlich aus der Filmfassung von 1931.19 Siebzig Jahre nach dem Tod von Christa Winsloe erlosch Ende 2014 das Urheberrecht an ihren Werken; die nunmehr bestehende Gemeinfreiheit ihres Oeuvres schlug sich in einer Vielzahl an e-Publikationen ihres Romans nieder (insgesamt acht in den Jahren zwischen 2015 und 2019; außerdem wurde der Text im Projekt Gutenberg – Klassische Literatur online eingestellt). Im Unterschied zu den Printeditionen knüpfen die e-Publikationen wieder an die Traditionen früherer Ausgaben an, indem Hinweise, die auf die Existenz des Medienverbundes verweisen, wieder ausschließlich dem Titel und/oder dem Inhaltstext vorbehalten bleiben.
19In
der von Christa Reinig verantworteten Ausgabe (1983) folgen ihrem biographischen Essay mehrere unpaginierte Seiten mit insgesamt 16 Filmfotos.
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Intertextuelle und -mediale Bezüge innerhalb der Dramen-, Film- und Romanfassung(en) Zu den Besonderheiten des hier untersuchten Medienverbundes zählen auch die sich in den Einzelmedien in sehr unterschiedlicher Weise manifestierenden Verweise auf andere Texte und Medien, die mehrheitlich ebenfalls zu Medienverbünden gehören. Dabei ist zu unterscheiden zwischen explizit gemachten Bezügen, mehrheitlich durch Nennung von Werktiteln, und impliziten Bezügen, die sich entweder in dem Aufrufen von Gattungskonventionen20 oder aber im Kontext der Vermarktung, vor allem des Films Mädchen in Uniform, zeigen und dabei den Versuch unternehmen, Winsloes Film selbst als Teil eines großen, beliebig erweiterbaren Medienverbundes auszuweisen. Kennzeichen der expliziten Verweise ist, wie bereits erwähnt, dass sie vielfach den Einzelmedien vorbehalten bleiben, d. h. innerhalb des Verbundes nicht beibehalten werden, sondern wechseln, und zum anderen, dass sie durchgängig einer vergleichsweise eindeutigen Semantisierung unterliegen, die sich jedoch erst durch eine Inbezugsetzung zur eigentlichen Handlung entfaltet. Das Spiel mit intertextuellen Bezügen ist bereits den Bühnenversionen von Winsloes Geschichte, und hier insbesondere der ersten Fassung inhärent, wie bereits an deren Titel Der Ritter Nérestan ablesbar ist. Nérestan ist einer der Protagonisten in Voltaires Drama Zaïre (1732), jenem Theaterstück, das die Schülerinnen im Stift zum Geburtstag der Oberin aufführen und somit Höhepunkt und Katastrophe der Handlung darstellt. Die Titelfigur Zaïre ist Sklavin und Geliebte im Harem des Sultans Orosmane. Sie ist eigentlich christlicher Herkunft, aber nicht getauft. Es kommt zur Katastrophe, als ihr Bruder Nérestan, dessen Rolle Manuela spielt, sie heimlich taufen lassen will, der Sultan ihn jedoch für Zaïres Liebhaber hält. Rasend vor Eifersucht tötet er sie und nimmt sich anschließend das Leben. Der Verweischarakter der Handlung ist unübersehbar: Die Topoi Befreiung, Liebe sowie die verheerende Wirkung jeglichen Dogmatismus (hier versinnbildlicht in religiösen Zwängen) spielen auch in Winsloes Drama
20Unter
diese eher impliziten Verweise sind auch die zahlreichen Schülerromane zu nennen, in denen es entweder ebenfalls zu emotionalen Beziehungen zwischen Schülerinnen und Lehrerinnen kommt, darunter Claudine à l’école (1900) von Colette sowie Regiment of Women (1917) von Clemence Dane oder Erzählungen, in denen Schüler durch das Verhalten von Lehrern in den Tod getrieben werden; als prominentestes Beispiel sei hier der Roman Der Schüler Gerber hat absolviert (1930) von Friedrich Torberg angeführt, in dem sich der Protagonist, zermürbt durch den andauernden Machtkampf mit dem Lehrer Kupfer, aus dem Fenster stürzt. Um dieses Verweisfeld einzugrenzen, wurden hier nur Texte angeführt, die entweder zeitnah zu den Arbeiten Winsloes erschienen sind bzw. in denen deutliche Analogien auf der Handlungs- bzw. Figurenebene aufscheinen. Vgl. zu Colettes Roman die Bemerkungen im folgenden Kapitel. Die Bezüge zwischen Winsloes Film und dem Roman von Clemence Dane erschienen zumindest den Zeitgenossen so offensichtlich, dass Winsloe bzw. Carl Froelich sich Mitte der 1930er-Jahre einem Plagiatsvorwurf von Seiten einer französischen Zeitung ausgesetzt sahen, dem Winsloe mit einer eidesstattlichen Erklärung entgegentreten musste (vgl. Hermans 2012a, 212).
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eine entscheidende Rolle; der Selbstmord des Sultans erweist sich rückblickend als implizite Prolepse auf den Selbstmord der Protagonistin. Verweischarakter ist dem Theaterstück auch im Hinblick auf den Medienverbundcharakter eingeschrieben: Durch Titel, Handlung und die Figur des Nérestan werden Bezüge zu einem prominenten Medienverbund hergestellt, der in den 1730er-Jahren seinen Anfang genommen hatte. Zaïre, in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter auch ins Deutsche, war Voltaires erfolgreichstes Theaterstück: Zweihundert Jahre stand es auf dem Spielplan der Comédie Française, in dieser Zeit wurde es zu insgesamt dreizehn Opern vertont, zudem existiert noch mindestens ein weiteres Libretto – jenes zu Mozarts unvollendeter Oper Zaide. Auch in der zweiten Theaterfassung spielt Manuela den Ritter Nérestan, erst mit dem Medienwechsel (vom Bühnenstück zum Film) wird Voltaires Tragödie durch Schillers Drama Don Carlos (1787) ersetzt, möglicherweise, weil man davon ausging, dass Schillers Drama dem Publikum geläufiger war als Voltaires Tragödie. Deutlicher noch scheinen bei Schiller jene Implikationen auf, die auch für Winsloes Erzählung handlungskonstituierend waren: die Topoi Freiheit, Generationenkonflikt, Aufstand – aber, ebenso wie bei Voltaire, eine Liebesbeziehung gegen geltende Regeln (hier zwischen dem Protagonisten und seiner Stiefmutter Elisabeth von Valois, die mit der Figur der Elisabeth von Bernburg deutlich mehr gemeinsam hat als nur den Vornamen). Dass auch Schillers Drama Bestandteil eines im 18. Jahrhundert begonnenen Medienverbundes war (dessen zentrale Bestandteile aus historischen Abhandlungen, Schillers Drama und Verdis gleichnamiger Oper besteht – um hier nur die wichtigsten Einzelmedien zu nennen), sei hier nur am Rande erwähnt, ebenso wie der leicht zu entschlüsselnde Verweischarakter auf die Handlung des Films. Während Winsloe für die Romanfassung wieder auf Voltaires Drama Zaïre zurückgriff, wurde für die Neuverfilmung von 1958 ein drittes Theaterstück gewählt: Shakespeares Tragödie Romeo und Julia (1597), sozusagen der Inbegriff aller unglücklich verlaufenden Liebesgeschichten – gleichzeitig das Theaterstück, das einem Medienverbund angehört, der sich sowohl durch eine kaum noch zu überschauende Vielzahl an Einzelmedien (darunter Opern, Musicals, Gemälde, Verfilmungen) als auch durch die größte zeitliche Ausdehnung (von mehr als 400 Jahren) auszeichnet. So unterschiedlich sich die Bezugnahmen auch gestalten, alle verbindet neben dem Verweischarakter die Geschichte zweier Liebender, die (aus unterschiedlichen Gründen) zueinander nicht kommen können bzw. dürfen, da die Liebe gegen bestehende Konventionen verstößt. Weiterhin gemeinsam ist allen Dramen, dass durch sie eine metadiegetische Ebene eröffnet wird, auf der die intradiegetische Protagonistin als männliche Figur in einer Weise agiert, die eine entscheidende Voraussetzung dafür bildet, ihre Gefühle später, nun wiederum auf intradiegetischer Ebene, offen zu artikulieren, womit die Katastrophe ihren Lauf nimmt: Zwischen der Ebene des Stücks und der erzählten Realität vermag sie für den Moment nicht mehr zu unterscheiden.
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Analog zu dem Medienverbund um Christa Winsloes Pensionsgeschichte zeichnen sich auch die zitierten Theaterstücke neben ihrer spezifischen Handlungskonstellation durch ihren hohen Grad an Bekanntheit aus (was in den 1930er-Jahren auch für Voltaires Tragödie noch gilt), nur deshalb können sie als Referenztexte aufgerufen werden, eine Popularität, die in offenkundigem Zusammenhang zu jenen Medienverbünden zu sehen ist, deren Bestandteil sie sind. Einer ebensolchen Dramaturgie – insgesamt jedoch sehr viel knapper gehalten – folgen zwei weitere Referenztexte, die allerdings ausschließlich in den Bühnenversionen erwähnt werden: Bei ihrem Eintritt ins Stift ist die Protagonistin gehalten, ihre persönlichen Habseligkeiten abzugeben, darunter Geld, Süßigkeiten und – Bücher. Von diesen Büchern werden zwei Romane namentlich erwähnt und von der Protagonistin wie folgt spezifiziert: „Das eine ist die Biene Maja, das ist mein Lieblingsbuch, das andere habe ich noch nicht gelesen, das hat mir mein Papa zur Reise mitgegeben. Es heißt Alraune.“ (Winsloe 1930, 17).21 Beide Romane, Anfang der 1910er-Jahre entstanden, sind bereits in der Weimarer Republik, d. h. in der Autorinnengegenwart, vor allem durch z. T. mehrfache Verfilmungen22 Bestandteil eines sich schnell erweiternden Medienverbundes, zugleich handelt es sich um äußerst populäre und auflagenstarke Werke.23 Die Nennung gerade dieser beiden Texte kann daher auch als ein weiteres Zeichen für den Aktualitätsbezug des Theaterstücks in seiner Gesamtheit gedeutet werden.24 Die inhaltlichen Verweise auf Winsloes Drama gestalten sich impliziter, lassen sich aber durchaus herstellten, in Alraune etwa durch die apostrophierte „Anormalität“ der Protagonistin, die ihre Entstehung einer Befruchtung ohne Geschlechtsverkehr verdankt – die Mutter ist eine Prostituierte, das Sperma wurde einem gerade hingerichteten Lustmörder entnommen, d. h., der Roman „lässt sich ohne weiteres als allegorische Abhandlung über die verhängnisvollen Folgen des sexuellen Begehrens lesen“ (Delabar 2014, 132). Nachdem Alraune u. a. durch ihr triebhaftes Verhalten Menschen in den Tod getrieben hat, stürzt sie sich selbst
21Waldemar Bonsels: Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912); Hanns Heinz Ewers: Alraune. Die Geschichte eines lebenden Wesens (1911). In den beiden Filmfassungen fehlt in der entsprechenden Szene die Erwähnung von Büchern ganz; in der Romanversion ist es Émile Zolas Roman Der Bauch von Paris (1873), den Manuela eigenständig aus dem Bücherschrank ihres Vaters gezogen hat (vgl. Winsloe 1933a, 147). 22Der Roman Alraune wird bereits unmittelbar nach seinem Erscheinen zu einem internationalen Bestseller; 1928 hat er eine Auflagehöhe von mehr als 400.000 Exemplaren und war in über zwanzig Sprachen übersetzt worden. Zwischen 1919 und 1928 wird der Roman insgesamt viermal verfilmt, darunter 1928, d. h. im unmittelbaren zeitlichen Kontext der Entstehung von Winsloes Dramenfassungen, durch Richard Oswald (vgl. Knobloch 2002, 26). 23Von Bonsels’ Roman waren 1932, also kurz nach den Aufführungen von Winsloes Theaterstücken, bereits 745.000 Exemplare verkauft; er gilt damit als einer der erfolgreichsten Werke der 1920/30erJahre (vgl. Weiss 2012, 141–147). 24Vor diesem Hintergrund wird auch Ilses Reaktion vor allem auf die Erwähnung des zweiten Romans verständlich: „Haach großartig. Das ist spannend. Gib her, das ist von Hanns Heinz Ewers. […] Das habe ich ja sogar zu Hause nicht lesen dürfen.“ (Winsloe 1930, 17).
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in den Tod – ebenfalls eine implizite Prolepse im Hinblick auf Manuelas eigenes Schicksal. Im Falle von Bonsels Roman sind die Bezüge komplexer und zugleich polyvalenter: In einer ersten Lesart markierten beide Erzählungen gleichsam metaphorisch die Eckpunkte von Manuelas Entwicklungsstand: Dem Universum des geordneten Insektenstaats der Biene Maja, das in dem Roman für Kinder (so der Untertitel) entworfen wird, ist Manuela als fast 15-Jährige bereits entwachsen, die (auch sexuell) ungeordnete, aus den Fugen geratene Welt der Alraune hat sie noch nicht erreicht; das Mädchen befindet sich in einer Art Moratorium von nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Erwachsene sein. Bonsels’ Roman wurde jedoch keineswegs ausschließlich als Kinderroman rezipiert, der entsprechende Untertitel wurde daher ab 1918 auch nicht mehr verwendet (vgl. Weiss 2014, 12), es handelt sich vielmehr um typische Crossover-Literatur, um einen Text also, der sich (zunächst) explizit an Kinder, implizit aber immer auch an erwachsene Leser richtete; während des Ersten Weltkrieges zählte der Roman mit zur Lieblingslektüre deutscher Soldaten (vgl. Kümmerling-Meibauer 2014, 46). Gelesen werden konnte der Roman, und hier vor allem die Darstellung des Bienenstocks, auch als politische Allegorie, als eine „Vorstellung von Ordnung, die einerseits Machtverhältnisse und andererseits das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft widerspiegeln“ (ebd., 55), gemeint ist natürlich die eigene, die deutsche Gemeinschaft. Gerade diese Lesart gerät in Winsloes Dramen zur proleptischen Kontrafaktur – die hier aufgezeigte Gemeinschaft zwischen Mädchen und Erzieherinnen wird dominiert von anachronistischen Machtverhältnissen, bei denen die Relation zwischen Individuum und Gesellschaft längst zu Lasten des Individuums aus den Fugen geraten ist. Nicht zuletzt kann Bonsels’ Erzählung aber auch als Darstellung eines weiblichen Universums gelesen werden – der Bienenstaat wird beherrscht von einer Königin, Maja wird unterwiesen durch eine Erzieherin, eine utopische Welt, setzt man sie in Relation zur Welt des Stiftes in Winsloes Dramen. Zugleich werden in Bonsels’ Roman Genrekonventionen aufgerufen, die auch für Winsloes Geschichte konstituierend sind – die Muster der populären Backfisch- und Mädchenliteratur (vgl. ebd., 49), deren Schema von beiden Autor/innen zitiert und zugleich modifiziert werden: bei Bonsels, indem er das Muster mit Elementen der Abenteuererzählung koppelt, bei Winsloe, indem sie eine misslingende weibliche Sozialisation schildert, ein Verlauf, der, wie bereits erwähnt, innerhalb der Mädchenliteratur bislang ohne Vorbild war.25
25Dass
zu Winsloes Prätexten auch Emmy von Rhodens Roman Der Trotzkopf zählte, der bis heute als Prototyp der Gattung angesehen wird, wird nicht nur an der Figurenkonstellation deutlich, d. h. im emotionalen Zusammen- und Gegenspiel zwischen Oberin, Erzieherin und Schülerin, sondern auch im ironischen Rekurs auf die Figur Ilse Macket, Protagonistin von von Rhodens Roman. Bei der Vorstellung ihrer Mitschülerinnen wird Manuela von diesen aufgefordert, einige von ihnen nur mit dem Nachnamen anzureden, es gäbe so viele Ilses hier, man könne sie sonst nicht auseinanderhalten (vgl. Winsloe 1930, 15). Auch diese Szene existiert ausschließlich in der Dramenfassung.
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Der Film Mädchen in Uniform als Marke und Referenztext Die auf diese Weise evozierten rhizomatischen Züge, durch die immer neue Erzähluniversen eröffnet werden, betreffen jedoch nicht nur die intertextuellen bzw. -medialen Bezüge, die innerhalb des Medienverbundes durch Winsloes Texte selbst aufgerufen werden; nach dem großen Erfolg des Films diente dieser wiederum, zunächst vor allem im Zusammenhang mit Marketingstrategien, als Bezugsgröße und Referenzerzählung für weitere Filme. Aus Platzgründen seien in diesem Zusammenhang wiederum lediglich die Filme angeführt, bei denen diese Bezüge, zumeist im epitextuellen Umfeld, auch explizit gemacht werden. Auffällig in diesem Zusammenhang ist vor allem das große zeitliche wie geografische Spektrum, das sich bei einer genaueren Betrachtung eröffnet. Der Zeitraum erstreckt sich von 1932, d. h. ungefähr ein Jahr nach der Uraufführung von Mädchen in Uniform, bis nach der Jahrtausendwende und umfasst Filme aus Deutschland, Frankreich, England, Japan, Kanada und den USA. Dabei handelt es sich ausschließlich um Filme, in denen vorwiegend weibliche Universen dargestellt werden, etwa in einer rein weiblichen Rudermannschaft (8 Mädels im Boot, Deutschland 1932), dessen großer Erfolg explizit mit dem von Mädchen in Uniform verglichen wird (vgl. Pariser Filmbrief 1933). Deutlicher gestalten sich die Bezüge in dem Film Anna und Elisabeth (D 1933) von Frank Wysbar über die enge, religiös grundierte Beziehung zwischen einer Gutsherrin und einem Bauernmädchen. Die beiden Figuren wurden durch Hertha Thiele in der Rolle der Anna und Dorothea Wieck als Gutsherrin verkörpert; allein durch diese Besetzung wurde beständig auf den Vorgängerfilm verwiesen26 und zwar sowohl in den Ankündigungen wie auch in den wenigen Kritiken, die der Film, der im April 1933 in die Kinos kam, noch erhielt; nur 14 Tage nach seiner Uraufführung wurde er von den Nationalsozialisten verboten, zum einen wegen seiner religiösen Grundierung (vgl. Gramann/Schlüpmann 1981, 43), zum anderen aber auch wegen der jüdischen Mitwirkenden (die Musik stammte von Paul Dessau). Im Dezember 1937 lief in Paris die Verfilmung von Colettes Roman Claudine à l’école an, der, noch bevor der Film überhaupt in Deutschland gezeigt wurde, mit dem Etikett „französisches Gegenstück zu Mädchen in Uniform“ beworben wurde;27 dabei spielten in der Wahrnehmung offenkundig sowohl die inhaltlichen wie die medialen Bezüge eine gleichermaßen wichtige Rolle: Es ist nicht zuviel [sic!] gesagt, wenn man diesen Film als einen französischen „Mädchen“ in Uniform bezeichnet, wenn man von der Neuheit und der einmaligen Qualität dieses deutschen Films absehen will. […] Die bekannte französische Schriftstellerin Colette, die übrigens seinerzeit durch ihre französischen Untertitel für den deutschen
26Personelle
Kontinuitäten finden sich auch bei Regisseur und Kameramann: Frank Wysbar hatte als Assistent, Frank Weimayr als Kameramann bei Mädchen in Uniform mitgewirkt. 27Anfang der 1930er-Jahre hatte Colette bereits für die Untertitel in der französischen Fassung von Mädchen in Uniform verantwortlich gezeichnet (vgl. Virmaux 2004, 243–246); ein Umstand, auf den in der späteren Werbekampagne wiederholt hingewiesen wurde.
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Film nicht wenig zu dem triumphalen Anlauf des Films getan hat, ließ hier ihren Jugendroman Claudine à l’école verfilmen, mit dem sie vor dem Krieg bekannt wurde und der heute noch zu den meistgelesenen Büchern gehört. Er behandelt das gleiche Thema, das die Mädchen in Uniform beschäftigt. (Ein französisches Gegenstück zu „Mädchen in Uniform“ 1937)
Nur angedeutet wird, worin „das gleiche Thema“ besteht – die „Liebe eines halbwüchsigen […] Mädchens zu ihrer Lehrerin“. Bezeichnenderweise wird auch in diesem Fall ausschließlich auf den Film rekurriert – ganz offensichtlich ging man davon aus, dass er auch sechs Jahre nach seiner Uraufführung im Bewusstsein des Publikums noch vollkommen präsent war; hinzu kam, dass Winsloes Roman zu diesem Zeitpunkt bereits verboten und Colettes Roman noch gar nicht ins Deutsche übersetzt worden war.28 Vier Jahre später, im Sommer 1941, wurde der Film Aufruhr im Damenstift, eine Adaption des Bühnenstücks Frøkenklostret29des dänischen Dramatikers und Drehbuchautors Axel Breidahl (1876–1948), in Berlin uraufgeführt. Regie und Drehbuch stammten von F. D. Andam, der auch das Drehbuch der beiden Verfilmungen von Mädchen in Uniform verfasst hatte, eine Tatsache, auf die im Zuge der umfangreichen Werbekampagne für den Film gleich mehrfach verwiesen wurde (Vgl. Ein männerloser Film 1941; Aufruhr im Damenstift 1941; Von der Begegnung zweier Welten 1941, 3). Die Verfilmung, die in Form von Ankündigungen, wiederholten Besprechungen, Artikeln und einseitigem „Bilderbogen“ (1941) mit zahlreichen Filmstills in den entsprechenden Periodika große Beachtung fand, zeichnet sich jedoch nicht nur durch eine personelle Kontinuität im Hinblick auf Mädchen in Uniform aus; zitiert werden auch Sujet, Setting und Figurenkonstellation. Zwar handelt es sich bei Aufruhr im Damenstift um eine sogenannte „ernste Komödie“ (Von der Begegnung zweier Welten 1941, 3) dabei jedoch ebenfalls um einen „männerlosen“ bzw. einen „Frauenfilm“ (Frauen-Filme in männlicher Zeit 1941, 2; Ein männerloser Film 1941), wie mehrfach explizit hervorgehoben wird. An die Stelle des Mädchenpensionats tritt nun ein sogenanntes Damenstift, das ebenfalls vollkommen den Prinzipien einer längst vergangenen Zeit anhängt, bis die abgeschlossene Welt durch ein junges Mädchen durcheinander gebracht und aufgebrochen wird. Die Konfrontation zwischen „Gestern und Heute“ endet in diesem Fall jedoch nicht in der Tragödie, sondern mit einem Sieg der Jugend über das Alter; getreu den Konventionen der Komödie kommt es zu einem guten Ende, die Generationen entwickeln Verständnis füreinander, die Damen des Stifts öffnen sich und ihren Kosmos den Anforderungen, die die gegenwärtige Welt an sie stellt. Aus den Filmstills ist zu ersehen, dass Andam den Versuch unternahm, die Bildsprache von Sagans Film zu adaptieren, deutlicher noch scheinen jedoch die
28Die erste deutsche Übersetzung von Claudine à l’école erschien erst 1958 im Paul Zsolnay Verlag und zwar unter dem Titel Claudine erwacht. 29Die dänische Originalversion Frøkenklostret. Komedie i 10 Billeder war in den späten 1930erJahren entstanden. Eine deutschsprachige Fassung wurde erstmals 1940 in Zürich aufgeführt.
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Zitate in der Figurenkonstellation auf: Auch in Andams Verfilmung wird die Handlung durch eine Dreierkonstellation in Gestalt der alten, unnachgiebigen Äbtissin, der jungen, verständnisvollen Stiftsdame Fräulein von Benzon und der jugendlichen Protagonistin vorangetrieben; die Beschreibung der Äbtissin verweist auf ihr Vorbild in Sagans Verfilmung: „Mit einem achtungsgebietenden Krückstock in Schwarz und Silber, ernst gemessen, längst jenseits aller Lebenssehnsüchte, so schreitet diese Äbtissin durch die Räume, die die Welt sind, der sie sich verschrieben hat.“ (Von der Begegnung zweier Welten 1941, 4). „Wir erinnern uns alle an den Film Mädchen in Uniform, der vor nun fast einem Jahrzehnt erschien“ (Ein männerloser Film 1941), lautete der erste Satz eines Berichts über Aufruhr im Damenstift, der bereits ein knappes halbes Jahr vor der Uraufführung des Films erschien und auf diese Weise von Beginn an vorgab, in welcher filmischen Tradition der angekündigte Film stand und auch zu rezipieren sei. Dieses Vorgehen, durch das Aufzeigen intertextueller Bezüge dem jeweiligen Film Aufmerksamkeit (und damit Erfolg) zu verschaffen und zugleich seine Rezeption zu steuern, war jedoch nicht in allen Fällen erfolgreich – und offensichtlich auch nicht in allen Fällen erwünscht, ungeachtet der andauernden Wertschätzung des filmischen Prätextes. Während, wie oben ausgeführt, trotz der Tatsache, dass sowohl die Regisseurin Leontine Sagan als auch Christa Winsloe selbst (die in den Credits von Mädchen in Uniform immer als Drehbuchautorin genannt wurde) Deutschland längst verlassen hatten und Winsloes Werke seit 1935 auf der Liste der unerwünschten Schriften standen, Mädchen in Uniform in Deutschland auch nach 1933 nicht nur aufgeführt werden konnte, sondern sich auch seitens der Filmschaffenden offensichtlich durchgängig großer Wertschätzung erfreute (was zweifellos der politischen Position des ehemaligen Künstlerischen Oberleiters geschuldet war), wurden in anderen Fällen Filme rigoros verboten, wenn sich herausstellte, dass ihre Vorlagen von Autor/innen jüdischer Herkunft stammten. Im Februar 1938 kündigte der Film-Kurier die Aufführung von zwei erfolgreichen französischen Filmen an, darunter Gefängnis ohne Gitter, „ein Film, der ähnlich wie Mädchen in Uniform in einem Mädchenerziehungsinstitut spielt“ (Drei Auslandsfilme im Cando-Verleih 1938). Tatsächlich aufgeführt wurde der Film in Deutschland jedoch nicht; höchstwahrscheinlich hatte die Zensurbehörde in den Credits die Namen von Gina Kaus (1893–1985) sowie der Brüder Egon und Otto Eis entdeckt, auf deren gleichnamigem Theaterstück der Film basierte (vgl. Kaus/Eis 1936).30 Kaus’ Werke waren bereits 1933 ein Opfer der Bücherverbrennung geworden (vgl. Treß 2009, 510 f.); im März 1938, einen Tag nach dem 30Während
dem „Christa Winsloes Mädchen in Uniform nachempfundenen“ (Hofeneder 2013, 33) Theaterstück, das 1936 insgesamt nur vier Aufführungen in Zürich erlebte, keine große Resonanz zuteil wurde, war die französische Verfilmung Prison sans barreaux (1938) so erfolgreich, dass noch im selben Jahr ein englisches Remake (Prison Without Bars) gedreht wurde – unter Beteiligung der französischen Schauspielerin, die auch in der ersten Verfilmung die Hauptrolle gespielt hatte (vgl. ebd., 301).
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sogenannten Anschluss Österreichs, floh sie mit ihrer Familie über Zürich nach Paris, während die Gestapo bereits ihre Wiener Wohnung beschlagnahmte (vgl. Hofeneder 2013, 33–35). Ob und inwieweit sich Theaterstück und Film tatsächlich an Winsloes dramatischem bzw. filmischen Prätext orientierten, bleibt offen; im Zentrum der Handlung steht kein Pensionat, sondern ein geschlossenes Heim für erziehungsschwierige bzw. sozial auffällige weibliche Jugendliche sowie die dort praktizierten Erziehungsmaßnahmen. Handlungskonstituierend ist jedoch auch in Kaus’ Theaterstück bzw. Film die Auseinandersetzung um traditionelle und reformorientierte Erziehungsmaßnahmen – Positionen, die durch entsprechende (weibliche) Akteure personifiziert werden, die zugleich um das Schicksal der jungen Protagonistin ringen.31 Prison sans Barreaux war der letzte Film, der mit einem expliziten Verweis auf Mädchen in Uniform als filmischer Prätext beworben wurde. Seit den 1950er-Jahren, d. h. nach den Neuverfilmungen, vor allem aber nach der Wiederentdeckung der ersten Verfilmung in den späten 1970er-Jahren, erfolgten die intertextuellen Verweise in einem anderen Kontext: Sie dienten nicht mehr dazu, einen Film mit ähnlicher Thematik oder analogen Figurenkonstellationen zu promoten, sondern waren vorrangig einem medienhistorischen Zusammenhang, in diesem Falle der Rezeptionsgeschichte von Mädchen in Uniform, geschuldet. Neben den beiden Neuverfilmungen wird bis heute immer auch der japanische Film Onna no Sono (女の園; dt.: Garten der Frauen, 1954) von Keisuke Kinoshita genannt (vgl. u. a. Anderson/Richie 1982, 293; Boxhammer 2007, 149), in dessen Zentrum vier junge Frauen stehen, die eine private Hochschule besuchen und dort in schwerwiegende Konflikte mit dem überkommenen, autoritären Erziehungssystem geraten. Damit zählt Onna no Sono wie auch Lost and Delirious von Léa Pool (Kanada 2001) zu jenen Filmen, in denen Motive von Mädchen in Uniform erkennbar sind, jedoch auf einer anderen Textvorlage beruhen.32 Auch Pools Film ist in einem Mädcheninternat angesiedelt, im Zentrum steht hier jedoch nicht die Auseinandersetzung mit überholten Erziehungsvorstellungen, sondern eine Liebesgeschichte zwischen zwei Schülerinnen, die tragisch, d. h. durch Selbstmord endet. Deutlicher erscheinen die Bezüge in Katherine Brooks’ Film Loving
31Gina
Kaus selbst hat sich in ihren Erinnerungen zwar über die Entstehung des Dramas, dessen Erfolg im Zuge der Verfilmungen und insbesondere über die Rolle ihrer Ko-Autoren, der Brüder Eis, geäußert, nicht jedoch zu möglichen Vorbildern (vgl. Kaus 1979, 196, 199, 212); es erscheint jedoch kaum vorstellbar, dass Kaus keine Kenntnis von Winsloes Drama bzw. dessen Verfilmung gehabt hat. Zudem kann als sicher gelten, dass die Brüder Eis entweder die Dramenoder die Filmfassung kannten; 1951 zeichnete Egon Eis als Mitverfasser für das Drehbuch der mexikanischen Neuverfilmung Muchachas de Uniforme verantwortlich (s. o.). 32Der Film basiert auf dem Roman Jinkō Teien (人工庭園; dt.: Ein falscher Garten) des japanischen Autors Tomoji Abe (1903–1973). Die Vorlage für Pools Film bildete der Roman The Wives of Bath (1993) der kanadischen Autorin Susan Swan. Unter dem Titel Lost and delirious – Verrückt nach Liebe bzw. Lost and Delirious – Bezaubernde Biester erschien der Film auch in Deutschland.
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Annabelle (USA 2006), der von einer rebellischen Senatorentochter erzählt, die auf ein streng geführtes katholisches Mädcheninternat geschickt wird und sich dort in ihre Lehrerin verliebt. Der Verweis auf Winsloes Prätext fehlt in kaum einer der zahlreichen amerikanischen wie deutschen Kritiken; selbst der amerikanische Wikipedia-Artikel erwähnt ihn prominent im ersten Satz.33 Im Gegensatz zu diesen zahlreichen Filmen, in denen sich explizit oder verdeckt Verweise auf Mädchen in Uniform finden, gibt es bislang nur eine Erzählung, die, legt man ein engeres Konzept von Intertextualität zugrunde, auf unterschiedlichen Ebenen Spuren des Films, aber auch des Romans von Winsloe aufweist – Judith Schalanskys 2011 erstmals erschienener, vielfach ausgezeichneter und mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzter Roman Der Hals der Giraffe. Anders als im Falle der angeführten Filme offenbaren sich diese Bezüge jedoch nur den Rezipient/innen, die tatsächlich über eine genaue Kenntnis der Prätexte verfügen, da sie weder im peri- noch im epitexuellen Feld von Schalanskys Roman auch nur angedeutet werden. Die Verweise selbst manifestieren sich auf sehr unterschiedlichen Ebenen des Romans – zunächst im Kontext einer Oberflächenstruktur, die für den Verlauf der Handlung nicht von zentraler Bedeutung ist: Unter den Kolleg/innen der Protagonistin Ingrid Lohmark finden sich etliche, deren Namen dem Film wie dem Roman entnommen sind: So gibt es Lehrerinnen mit Namen Bernburg und Schwanneke, und zwei Lehrer, die Thiele und Meinhard genannt werden (vgl. Hermanns 2012b, 290).34 Auch wenn diese Akteur/innen für den Fortgang der Handlung eine eher untergeordnete Rolle spielen, unterliegen sie durch ihre Namensgebung durchaus einer Semantisierung dergestalt, dass durch sie explizit auf den filmischen Prätext verwiesen wird, dessen Spuren sich dann auch auf Gattungsebene sowie in den Tiefenstrukturen des Romans erkennen lassen. Schalansky hat für ihren Roman den Untertitel Bildungsroman gewählt und ruft damit zugleich die vielfältigen Ausformungen dieser Gattung auf, darunter auch die konterkarierenden Muster, jene also, die gerade nicht von einem erfolgreichen Selbstfindungsprozess erzählen, sondern von dessen Scheitern (vgl. Mielke 2016, 357). Genau in diesem Scheitern begegnen sich die Texte von Winsloe und Schalansky – beide Protagonistinnen finden am Ende keinen Platz in der Gesellschaft bzw. gehen dessen verlustig. Deutlicher noch zeigen sich die Spuren (in modifizierter Weise) im Kontext zentraler Handlungselemente: Auch die Protagonistin Lohmark entwickelt für eine ihrer Schülerinnen besondere Gefühle, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich selbst darüber Rechenschaft abzulegen. Während in Winsloes Film bzw.
33„Loving
Annabelle is a 2006 American romantic drama film directed by Katherine Brooks. In the tradition of Mädchen in Uniform, it tells the story of a boarding school student who falls in love with her teacher“, https://en.wikipedia.org/wiki/Loving_Annabelle (21.06.2019). 34Streng symmetrisch beziehen sich die Namen sowohl auf die beiden zentralen Film- bzw. Romanfiguren (Fräulein von Bernburg und Manuela von Meinhardis) als auch auf zwei Schauspielerinnen: Hertha Thiele, die die Figur der Manuela und Ellen Schwanneke, die ebenfalls im Film die Figur der Ilse von Westhagen verkörperte.
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Roman die Beziehung zwischen Manuela und Fräulein von Bernburg zwischen homoerotischen und Mutter-Tochter-Gefühlen oszilliert, bis sich die Erzieherin endgültig auf die Lehrerinnenrolle zurückzieht und damit die Katastrophe heraufbeschwört, kompensiert Lohmark in ihren durchaus auch „sinnlich aufgeladenen“ (ebd., 374) Gefühlen für die Schülerin die gescheiterte Beziehung zu ihrer eigenen Tochter Claudia. Analog zum Prätext gibt es auch in Schalanskys Roman eine zentrale Szene, in der die Tochter um den Beistand der Mutter bittet, der ihr jedoch versagt wird: „Natürlich war sie ihre Mutter. Aber zu allererst ihre Lehrerin. […] Niemand ging zu ihr. Niemand tröstete sie. Auch sie nicht. Es ging nicht. Vor der ganzen Klasse. Nicht möglich. Sie waren in der Schule. Es war Unterricht. Sie war Frau Lohmark“ (Schalansky 2011, 218 f.).
Fazit Schalanskys Roman – genau achtzig Jahre nach dem filmischen Prätext Mädchen in Uniform erschienen, markiert – zusammen mit der Neuedition des Romans durch Doris Hermanns, einigen neueren Fan-Fiction-Erzählungen35 sowie zahlreichen Filmstills im Netz – den derzeitigen Stand dieses Medienverbundes, der in der Weimarer Republik seinen Ausgang nahm, sich von Deutschland ausgehend innerhalb weniger Jahre über die europäischen Grenzen hinweg bis in die USA, nach Palästina und Nordafrika erstreckte und sich ungeachtet der politischen Veränderungen in den folgenden Jahrzehnten in immer wieder unterschiedlichen Erscheinungsformen und Schwerpunktsetzungen präsentierte. Kennzeichnend für diesen Medienverbund ist neben seiner Komplexität nicht zuletzt seine Heterogenität, die sich in der andauernden Publikations- und Übersetzungsgeschichte des Romans ebenso manifestiert wie in den Neuverfilmungen. Ebenfalls von zentraler Bedeutung sind die medialen Verweise auf andere Medienverbünde, die vor allem in den Dramen- wie der Romanfassung zu finden sind, die große Popularität des Stoffes, auf die von Seiten der Produzenten (an erster Stelle von Christa Winsloe selbst) sofort reagiert wird, indem mittels intertextueller Verfahren bzw. der Identifikation analoger Motive, Figurenkonstellationen und Settings vor allem auf den filmischen Prätext verwiesen wird. Eine dominante Position innerhalb des Medienverbundes vor allem der letzten Jahre nehmen Rezeptionsprozesse und damit zugleich Fortschreibungsprozesse ein, die sich vor allem in Filmen, partiell aber auch in Erzählungen niederschlagen. Als ein zeitübergreifendes Merkmal dieses bis heute beständig anwachsenden und dabei in letzter Konsequenz unabgeschlossenen Medienverbunds um Christa
35Dabei
handelt es sich ausschließlich um Erzählungen mit alternativen Schlüssen: Nach dem im letzten Moment vereitelten Selbstmord von Manuela finden die beiden Protagonistinnen zueinander und verlassen gemeinsam das Pensionat.
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Winsloes Internatsgeschichte kann daher der ihm seit über acht Jahrzehnten inhärente Verweischarakter angeführt werden – nicht als genuines Alleinstellungsmerkmal, aber als ein Spezifikum dem ebenfalls ein Verweischarakter inhärent ist, nämlich auf den Stoff selbst, der in unterschiedlichen Generationen und Kontexten sehr unterschiedliche Rezeptions- und Marketingprozesse ermöglicht – und mit Sicherheit auch in Zukunft ermöglichen wird.
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Mädchen in Uniform (D 1958). Regie: Géza von Radvanyi. N. d. Drama Gestern und Heute von Christa Winsloe [EA 1930], CCC-Film GmbH, Berlin. Muchachas de Uniforme (Mex 1951). Regie: Alfredo B. Crevenna. Onna no Sono [Garten der Frauen] (JPN 1954) Regie: Keisuke Kinoshita. N. d. Roman Jinkō Teien [Ein falscher Garten] von Tomoji Abe [EA 1953]. Prison sans barreaux (F 1938). Regie: Léonide Moguy. N. d. Drama Gefängnis ohne Gitter von Gina Kaus [EA 1936].
Audiografie Winsloe, Christa: Mädchen in Uniform. Hörspiel. Bayerischer Rundfunk. Erstsendung: 18.05.1949 In: ARD-Hörspieldatenbank http://hoerspiele.dra.de/vollinfo.php?dukey=1542562&vi=1&SID (21.06.2019).
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Traumulus Vom naturalistischen Drama zur NS-Verfilmung Petra Josting
Abstract Traumulus (1905) by Arno Holz and Oskar Jerschke is considered one of the most successful plays put on stage at German speaking theatres in the first half of the 20th century. As with many other plays and even novels of that time, it is about school children committing suicide and – on a deeper level – criticizes the teaching staff, the school system and society in general. This criticism of Imperial Germany was taken up by the Nazi rulers, who used it to achieve their all-encompassing goal: the building of a neues Reich. The entire establishment of the film industry, including the film producer and director Carl Froelich as well as the actor Emil Jannings, participated in the production of the film of the same title in 1936. In the same year, the film was appraised as of high political and artistic value. Froelich was soon after awarded the National Film Prize and Jannings declared National Actor. The audience not only consisted of adults, but also of adolescents from 14 years onwards because the film was shown during the Youth Film Hours organized by the Hitler Youth on the grounds that is was of educational value. Nonetheless, the euphoric reception of the film was not only based on its subject matter but also on its filming techniques and its aesthetics. Apart from the final sequence, the film is – though not openly – used for propaganda purposes and is thus political. The media network emerged with the intensive news coverage from the film set in autumn 1935. It lasted until 1942, as it was until then that the film was shown and the play staged.
P. Josting (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_17
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Einleitung Das naturalistische Drama Traumulus (1905) von Arno Holz (1861–1928) und Oskar Jerschke (1861–1928) war zum Zeitpunkt seines Erscheinens und noch vier Jahrzehnte später ein großer Publikumserfolg auf den deutschsprachigen Bühnen. Es ist davon auszugehen, dass auch Jugendliche aus theateraffinen, bürgerlichen Kreisen Aufführungen sahen, doch handelt es sich primär um einen an Erwachsene adressierten Stoff. Das änderte sich erst mit der gleichnamigen Verfilmung aus dem Jahr 1935, denn der staatlicherseits preisgekrönte Film wurde nicht nur im öffentlichen Kino gezeigt, sondern sowohl seitens des NS-Lehrerbundes als auch der Hitler-Jugend (HJ) für Jugendliche empfohlen und landesweit in den sogenannten Jugendfilmstunden der HJ1 gezeigt. Im Folgenden stehen zunächst das Drama, seine Autoren und Rezeption im Mittelpunkt, wobei insbesondere zu klären ist, woher der Erfolg in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts rührt. Damit in Zusammenhang steht die Frage, was noch im Nationalsozialismus so reizvoll an dem Stoff war, dass er verfilmt und mit dem Prädikat staatspolitisch besonders wertvoll ausgezeichnet wurde. Zur Beantwortung dieser Fragen reicht es nicht aus, nur den Film allein im Vergleich mit der literarischen Vorlage in den Blick zu nehmen, sich also auf semiotische Analysen zu konzentrieren. Vielmehr ist es notwendig, in Anlehnung an S. J. Schmidts Medienkompaktbegriff den systematischen Zusammenhang von Kommunikationsinstrumenten, technischen Dispositiven, sozialen Institutionalisierungen und Medienangeboten zu betrachten, sprich Prozesssystemen und Prozesszusammenhängen nachzugehen, weil Medienangebote immer „hochgradig abhängige Resultate des Zusammenwirkens von hochgradig komplexen sozialen Prozessen sind.“ (Schmidt 2013, 41).
Die „Produktionsgemeinschaft“2 von Arno Holz mit Oskar Jerschke Während Oskar Jerschke hauptberuflich als Rechtsanwalt arbeitete, nur nebenbei Gedichte sowie Dramen verfasste und in der Literaturgeschichte eher eine unbedeutende Rolle spielt, begann der aus dem ostpreußischen Rautenberg (heute Kętrzyn) stammende Arno Holz konsequent seinen Weg als Schriftsteller im Alter von 18 Jahren, nachdem er die Versetzung in die Obersekunda verpatzt und die Schule abgebrochen hatte (vgl. Fricke 2010, 17).3 Er zählt zu den führenden 1Vgl.
dazu Hoffmann 1991, Kap. IV, 4 und Belling/Schütze 1937, Kap. V. die Bezeichnung von Stüben (2001) im Untertitel seines Beitrags. 3Einen umfassenden Einblick in die Biografie und Werkgeschichte von Arno Holz bietet Fricke mit seinem Buch Arno Holz und das Theater (2010), in dem das Stück Traumulus jedoch nur am Rande eine Rolle spielt. 2So
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Köpfen des Naturalismus, versuchte sich zunächst als Lyriker, später Dramatiker und gilt ebenso als wichtiger Kunsttheoretiker seiner Zeit (vgl. Hechler 1981). Holz und Jerschke lernten sich in Berlin im Umfeld der Kyffhäuser-Zeitung kennen, der Wochenschrift für alle Universitäts-Angehörige deutschen Stammes und deutscher Zunge; Organ der deutschen Studenten, so der Untertitel. Bis zu Jerschkes Tod verband sie „eine nicht immer spannungsfreie, aber äußerst enge Freundschaft“ (ebd., 29), die erste gemeinsam publizierte Arbeit ist der Gedichtband Deutsche Weisen (1884). Ihre gemeinsame Dramenarbeit4 intensivierten die beiden Freunde Ende der 1890er-Jahre. Ein zentraler Grund dafür war ein tiefsitzendes Kreativitätsproblem von Holz: So präzise Holz mit Sprache umzugehen wusste und so leicht es ihm fiel, Begonnenes zu bearbeiten und auszufeilen, so schwer tat er sich damit, ein tragfähiges literarisches Sujet zu ersinnen. […] Als Jerschke im März 1897 von Holz’ neuerlichen Schwierigkeiten […] erfuhr, bot er sich von Straßburg aus als Ideenlieferant und Mitarbeiter an. (Ebd., 384; vgl. auch Sprengel 1993, 93)
Ein weiterer Grund für Holz’ Schreiben war die Notwendigkeit, Geld verdienen zu müssen, weshalb ihm der Erfolg zeitweise wichtiger war als das Künstlerische (vgl. Stüben 2001, 201). So zogen die beiden Freunde sich ab Sommer 1900 jedes Jahr für einige Wochen für die gemeinsame Schreibarbeit zurück, setzten auf unterhaltsame Geschichten und populäre Themen, auf tragische Konflikte wurde in den meisten Fällen verzichtet. Es entstanden zwischen 1900 und 1911 u. a. fünf Dramen, die Deutschen Bühnenspiele: die sogenannte Männerkomödie Frei! (1900), das Schauspiel Gaudeamus! (1901), die Komödie Heimkehr (1902), die tragische Komödie Traumulus (1903) und die Komödie Büxl (1911).5 Die ersten drei Stücke verfassten sie zunächst unter dem Pseudonym Hans Volkmar, weil Holz für diese Arbeiten nicht seinen Namen hergeben wollte. Tatsächlich lehnten die angefragten Theater die Stücke weitgehend ab, nur Heimkehr fand sowohl einen Verleger als auch Akzeptanz beim damaligen Direktor des Berliner Theaters, Paul Lindau, wo es am 17.01.1903 uraufgeführt, jedoch bereits nach zwei Wochen aufgrund der miserablen Kritik wieder vom Spielplan genommen wurde. Sämtliche Bühnenspiele galten schon damals als „nur unspektakuläre Gebrauchsstücke, die sich vornehmlich in der Demonstration vollnaturalistischer Handwerkskunst erschöpfen“ (Fricke 2010, 392). Bis heute spielen sie in der Fachliteratur eine marginale Rolle. Holz verzichtete sogar darauf, sie in die 1924/1925 erschienene zehnbändige Gesamtausgabe seiner Werke aufzunehmen, und die Nachkriegsausgabe enthält die Bühnenspiele ebenfalls nicht (vgl. Pertsch 2013, 119 f.). Auf große Anerkennung stieß aber unmittelbar nach der Fertigstellung im Jahr 1904 das Stück Traumulus, das der neu gegründete Verlag Piper 1905 in sein Programm aufnahm. Otto Brahm, der seiner Zeit Direktor des Lessing-Theaters
4Zur Zusammenarbeit von Holz und Jerschke vgl. auch Stüben 2001. Zur gemeinsamen Arbeit von Holz und Johannes Schlaf vgl. Sprengel 1994. 5Die Daten beziehen sich auf das Entstehungsjahr (vgl. Fricke 2010, 388 ff.), publiziert wurden die Stücke teilweise später. Vgl. die Theatrografie im Literaturverzeichnis.
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in Berlin war, brachte das Stück am 24.09.1904 zur Uraufführung, wo es mehr als 150 Vorstellungen gab, in der Hauptrolle mit dem damals berühmten Schauspieler Albert Bassermann. Mit knapp 800 Aufführungen in der Spielzeit 1904/19056 avancierte es in Deutschland zu einem der größten Bühnenerfolge jener Saison und brachte Holz endlich nennenswerte Tantiemen ein (vgl. Fricke 2010, 386 ff.). Aufgrund des sensationellen Erfolgs des Traumulus verflog beim Autor der letzte Rest von Selbstzweifeln, der sich zum 50. Geburtstag von Robert Reß das „(in Teilen auch vorformulierte) Huldigungsbuch Arno Holz und seine künstlerische, weltkulturelle Bedeutung“ (Reß 1913, 393) schreiben ließ.
Traumulus – Schülerdrama und Schülerselbstmord in der Wilhelminischen Ära Mit Traumulus griffen Holz und Jerschke das Motiv des Schülerselbstmordes auf, das sich um 1900 bereits als neues literarisches Genre sowohl in der Epik als auch Dramatik erfolgreich etabliert hatte (vgl. Barnstorff 1917). Man denke z. B. an Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891) oder Emil Strauß’ Freund Hein (1902). Schulkritik äußerte sich in der Literatur als Kulturkritik und Kulturkampf. Bereits mit Beginn des Kaiserreichs hatten sich die kritischen Stimmen an der militärischen Ausrichtung der Schule gemehrt, die allmählich zu einer Veränderung der Volksschulen führten, die Gymnasien aber weitgehend unberührt ließen (vgl. Weber 1999, 64). Hintergrund waren die auf Obrigkeitsdenken ausgerichteten Strukturen der wilhelminischen Gesellschaft allgemein, respektive des Schulsystems, das zur Passivität und blindem Gehorsam gegenüber Autoritäten erzog (vgl. Noob 1998, 102). Junge Männer litten unter autoritären Vätern und Lehrern so sehr, dass sie bisweilen den einzigen Ausweg im Suizid sahen.7 In der Tragikomödie Traumulus (Abb. 1), die das Tragische und Komische vereint, ist die zentrale Lehrerfigur Schuldirektor Dr. Gotthold Niemeyer am Königlichen Gymnasium. Er ist keiner der üblichen Tyrannen, sondern stets darauf bedacht, „die Jugend durch Güte zu leiten und ihre Fehler nachzusehen und zu verstehen“ (Holz/Jerschke 1905, 153), wie er selbst sagt. Er glaubt gemäß seinen humanistischen Idealen an das Gute im Menschen und speziell in der Jugend, steht somit im starken Kontrast z. B. zum heimtückischen und boshaften Professor Unrat von Heinrich Mann (1905). Seine Schüler haben ihm aufgrund seiner Weltfremdheit den Spitznamen Traumulus gegeben. Die Weltfremdheit, die ihm
6Correns
(1956, 174) zufolge breitete sich das Stück von Berlin über ganz Deutschland aus und wurde in der Spielzeit 1904/1905 in 137 Städten gespielt. In Leipzig gab es 42 Aufführungen, 40 in Hannover, 37 in München, 21 in Stettin, 20 in Hamburg und 19 in Breslau. 7Der Arzt Alfred Eulenburg analysierte 1903 das vom Preußischen Kultusministerium ab 1883 registrierte und teilweise dokumentierte Zahlenmaterial, wonach es sich um 1017 Fälle handelte (vgl. Neumann/Neumann 2011, 13).
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Abb. 1 Cover Traumulus. (Holz/Jerschke © München: Piper, 1905)
komische Züge verleiht, äußert sich z. B. darin, dass er in seinem Deutschunterricht ausschließlich klassische Texte behandelt, da die Gegenwartsliteratur seines Erachtens nur „unsittliche Bücher“ (Holz/Jerschke 1905, 127) umfasse. Oder, ein anderes Beispiel: Selbst die fast erwachsenen Schüler dürfen lediglich eine einzige Gastwirtschaft im Ort besuchen, um ein Glas Bier zu trinken, und auch das nur am Donnerstag zwischen 18 und 19 Uhr. Diese Anordnung hat er, wie sein Lieblingsschüler von Zedlitz erklärt, nicht getroffen, um Sie in Ihrer Freiheit zu beschränken … o nein, die Jugend s o l l [Hervorh. i. O.] Freiheit haben … sondern um Sie vor Gefahren zu behüten, von deren Vorhandensein sie noch gar keine Ahnung haben! (Ebd., 60)
Niemeyer verkennt, dass die Jugend selbst Erfahrungen sammeln muss und hat von ihrem Treiben keine Ahnung, obwohl einige Schüler bei ihm logieren. Somit ist er zugleich eine tragische Figur, die am „blinden pädagogischen Idealismus“ und letztlich an der „tragische[n] Blindheit“ gegenüber dem Schüler Kurt von Zedlitz wie auch den anderen Schülern scheitert (Weber 1999, 79 f.).
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Das fünf Akte umfassende Stück spielt in der preußischen Provinz im Kaiserreich um 1900, exakte Orts- und Zeitangaben fehlen. Das Geschehen erstreckt sich über nur zwölf Stunden; die Vorgeschichte, in die die Leser/innen bzw. Zuschauer/ innen allmählich eingeführt werden, greift weiter zurück und ist für den Handlungsverlauf von zentraler Bedeutung. Direktor Niemeyer wurde vor gut einem Jahr versetzt, weil er seine Schüler nach Ansicht der vorgesetzten Behörde nicht zu Zucht und Ordnung anhielt. Mit dieser Strafversetzung ging eine Gehaltskürzung einher, was ihn dazu veranlasste, Schüler als Pensionsgäste aufzunehmen, um auf diese Weise die finanzielle Kürzung abzumildern. Neben diesem beruflichen Makel, von dem aber nur Eingeweihte wie der Landrat von Kannewurf wissen, ist es auch um seine familialen Verhältnisse nach Ansicht der kleinstädtischen, engstirnigen Gesellschaft nicht gut bestellt. Mit Argwohn beäugt sie das Treiben von Niemeyers zweiter Frau Jadwiga, der man Verschwendungs- und Putzsucht nachsagt, sowie seines Sohnes Fritz aus erster Ehe, der als leichtsinnig gilt. Als Debakel kommt die vermeintliche Fehlbesetzung einer einzigen Rolle in dem Schauspiel hinzu, das Niemeyer eigens für die festliche Denkmalsenthüllung zur Ehre des Kaisers geschrieben hat und das in wenigen Tagen aufgeführt werden soll. Das Stück will er mit seinen Schülern auf die Bühne bringen, die dafür täglich geprobt haben, doch eine Frauenrolle hat er mit einer jungen Schauspielerin aus dem örtlichen Theater besetzt, die keinen guten Ruf genießt und mit der sein Lieblingsschüler von Zedlitz eine Affäre begonnen, sprich die letzte Nacht verbracht hat. Für eine Kleinstadt in der damaligen Zeit also unhaltbare Zustände. Die Handlung beginnt am folgenden Morgen.8 Im ersten Akt treffen sich die Honoratioren der Stadt am Sonntagvormittag im Kasino zur Besprechung der anstehenden Feierlichkeiten anlässlich des Besuchs des Kaisers. Einige Herren sprechen Berliner Dialekt. Landrat von Kannewurf, der sich unumwunden als Gegner Niemeyers zeigt, berichtet davon, dass von Zedlitz, der Primus der Prima, den Abend zunächst im zwielichtigen Lokal Goldener Pfau mit der anrüchigen Schauspielerin Lydia Link und anschließend bei ihr zuhause verbracht habe. Er wisse dieses, weil er die Schüler Niemeyers seit dessen Dienstantritt ohne dessen Kenntnis polizeilich überwachen ließ, um ihn einem Skandal auszusetzen und infolge seine Entlassung zu erwirken. Niemeyer, der einige Zeit später hinzukommt, wird mit den Vorwürfen gegen von Zedlitz konfrontiert, weist sie aber vehement zurück, nimmt seinen Zögling in Schutz. Als Niemeyer im zweiten Akt von Zedlitz bei sich zuhause im Wohnzimmer verhört, gesteht dieser auf Anraten von Niemeyers Sohn Fritz, der die Stellung seines Vaters gefährdet sieht, nur den Besuch im Lokal und erhält dafür Zimmerarrest. Das beruhigt Niemeyer, zumal Lydia Link diese Aussage bestätigt. Der dritte Akt zeigt die Kellerräume des Bäckers Schladebach, wo sich die geheime Schülerverbindung des Gymnasiums, die Antityrannia, am Nachmittag zum zweiten Stiftungsfest trifft; der Bäcker
8Zur
folgenden Zusammenfassung vgl. auch Correns 1956, 144 ff. und Neumann/Neumann 2011, 73 ff.
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selbst nimmt auch Teil. Die Jungen sind ausgelassen, wie Korpsstudenten bedienen sie sich geschwollener Redensarten, sie machen sich über den Rektor und seine Frau lustig, deutlich wird aber ebenso, dass sie ihn mögen. Als von Zedlitz trotz seines Stubenarrests auftritt und seine Mitschüler bittet, den geheimen Bund aufzulösen, um Niemeyer nicht weiter in Gefahr zu bringen – er selbst sei ab sofort nicht mehr Mitglied –, erscheint plötzlich die Polizei und transportiert alle Anwesenden ab. Der vierte Akt spielt auf der Polizeiwache. Von Zedlitz wird Lydia Link gegenübergestellt, die bei ihrer Aussage bleibt. Er verweigert die Aussage, weil er seinen Lehrer schonen möchte. Enttäuscht muss der hinzugeeilte Niemeyer zur Kenntnis nehmen, dass auch sein Lieblingsschüler dem Geheimbund angehört. Außerdem zeigt ihm die eidesstattliche Erklärung eines Polizeibeamten, dass von Zedlitz doch die Nacht bei Lydia Link verbrachte. Zedlitz bittet seinen Lehrer inständig um Verzeihung, will erklären, doch Niemeyer schickt ihn davon, schimpft ihn einen Verbrecher, will ihn nie mehr sehen. Nachdem er erfahren hat, dass von Zedlitz bei der Festnahme erklärte, aus dem Geheimbund ausgetreten zu sein, ahnt er, in welcher Gefahr sein Zögling sich befindet. Der fünfte Akt spielt in Niemeyers Arbeitszimmer. Seine Frau erscheint, erzählt von den Spielschulden und gefälschten Wechseln des Sohnes, der sie wegen Untreue erpresst habe, sie will sich von ihm trennen. Noch hofft Niemeyer, von Zedlitz wiederzusehen, doch am späten Abend kommt die Nachricht, dass sein Schüler sich erschossen hat. Damit betrachtet sich Niemeyer als dessen Mörder; er kündigt an, sein Amt niederzulegen, und bricht zusammen. Auch von Kannewurf ist erschüttert über den Selbstmord und bittet Niemeyer um Versöhnung.
Rezeption des Traumulus auf der Bühne Wie oben angeführt, belegen die knapp 800 Aufführungen des Traumulus in zahlreichen deutschen Städten in der Spielzeit 1904/05 einen immensen Publikumserfolg. Correns, die das Stück hinsichtlich des Erfolgs analysierte, kommt zu dem Ergebnis, dass die große Wirkung beim Publikum drei Ursachen hat. Erstens sei die Handlung äußerst spannend aufgebaut, denn die Zuschauer seien „von Beginn an klüger als der Träger der Handlung“; gleichzeitig erführen sie aber nicht alles, was sich in der Vergangenheit zugetragen habe, „sondern immer gerade so viel, als notwendig“ sei, um Niemeyer ein Stück voraus zu sein (Correns 1956, 168). Zweitens habe die Wahl des Konflikts den Nerv der Zeit getroffen. Mit der Lehrerfigur Niemeyer seien die Zuschauer/innen an ihre eigene Schulzeit erinnert worden, an den persönlich erlebten „Lehrer-Schüler-Konflikt“ (ebd., 171), an weltfremde Lehrer. Dass Niemeyer nicht nur seinen Schülern gegenüber „blind“ war, „sondern auch zu Hause, das wurde als Bestätigung aufgenommen, wie recht man schon in der Schule gehabt hatte, ihn zu hintergehen.“ (Ebd.) Drittens sei das
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Publikum für die Darstellung der „deutschen Spießbürger“ (ebd.) sehr empfänglich gewesen, weil sie mit ihnen sympathisierten: Der Frühschoppen am Sonntag „im Kreise Gleichgestellter entsprach ihren Vorstellungen vom gutsituierten Bürgertum“ (ebd.), die dort versammelten Männer wie der Landrat, Sanitätsrat, Rechtsanwalt, Assessor und der jüdische Fabrikant gehörten zu den Kreisen, in denen sie selbst verkehrten. Auf die Zustimmung der männlichen Zuschauer stieß ebenfalls das Gebaren der Antityrannia im Keller, das an die eigene Zeit in der Burschenschaft erinnerte. Mit dem Wechsel vom Kellergelage zur Polizeiwache erfolge dann ein Szenewechsel, der „dem deutschen Spießbürger Schrecken und Entrüstung“ (ebd., 172) einjage, also erneut die Emotionen anspreche. Und schließlich sei er empfänglich für das Sentimentale, wenn am Ende Niemeyer vom Landrat von Kannewurf um Versöhnung gebeten wird (vgl. ebd., 173). Die Begeisterung des Publikums wird anhand der vielen Aufführungen deutlich, wie in den Theaterkritiken zur Premiere (vgl. ebd., 176 ff.). Die Kritiker loben die große schauspielerische Leistung, mehrheitlich ebenso das Stück, doch gibt es auch negative Stimmen, wie beispielsweise die von Gustav Zieler im Literarischen Echo: „Welche tiefe Erschütterung könnte dieser Stoff hervorrufen“, doch Traumulus „bringt uns nicht zum Erschauern vor dem erhabenen Schicksal.“ (Ebd., 176) In diese Richtung zielt auch die Kritik des berühmten Theaterkritikers Alfred Kerr in der Zeitschrift Der Tag vom 27.09.1904, der dem Hauptdarsteller Bassermann eine Glanzleistung bescheinigt und der Aufführung eine „schlagende Vortrefflichkeit“ (Kerr 1998, 203), doch Holz als Dichter verreißt er. Die Figur Niemeyer sei aber nur ein Tölpel mit leidlich gütigen Zügen. Er hätte jedoch, um zu erschüttern, ein Tölpel mit leuchtenden Zügen sein müssen. Will sagen: seine guten Seiten hätten leuchtender vom Dichter gestaltet werden müssen. […] Der Holzsche Durchschnitt des Lebens reicht hier nicht. […] Holzens Fehler steckt nicht darin, daß er Durchschnittliches aus dem Leben gestalten will, sondern darin: daß sein Gestalten durchschnittlich ist. […] Holz gibt Zureichendes, nicht Letztes. Er scheidet sich hier von einem Dichter, als welcher Letztes, nicht nur Zureichendes gibt. Das meiste, was dieser Schulmann redet, stimmt; […] Das jedoch, mein Lieber, ist viel zu wenig. Die Wahrheit ist das geringste, sie bleibt Voraussetzung. Erst auf dieser Grundlage soll es doch losgehen. Bei Holz geht es nicht los. Hier ist der Urfehler des Stücks. […] Bei alledem ist das Handwerkliche der Holzschen Arbeit durchaus achtungswert. Wie denn Holz eine straffe Begabung nach der Seite des Energisch-Tüchtigen darstellt. Er leistet, was man, ohne ein Genie zu sein, unter ernstem Beifall auch gegnerischer Zeitgenossen leisten kann. Ohne ein Genie zu sein; ohne den Funken, ohne den fernen Abglanz eines Funkens in sich zu tragen. Der Mann hat keine Musik. Er ist ein literarischer Tischler von großer Präzision, im geringsten kein erschaffener Poet. Er ist einer, der die Kunst durch Sich-auf-sein-Recht-Steifen und Pisacken behandelt. Auf diese Art gewinnt er eine Meisterschaft, die gequetscht ist; so eine laute, unsympathische, knuffige, balkenfeste Sicherheit. (Ebd., 200 ff.)
Die vernichtende Kritik von Alfred Kerr, der wie viele andere Intellektuelle 1933 ins Exil ging, dürfte die NS-Machthaber und ihre Gefolgsleute nicht mehr interessiert haben. Bis weit in die 1940er-Jahre begeisterten sich Regisseure, Dramaturgen und Publikum für das Stück, wie Aufführungsnachweise z. B. für
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Berlin9, Weimar10 und Wien11 belegen. Im Programmheft des Berliner Staatstheaters, wo der Traumulus in einer Neuinszenierung im Jahr 1940 aufgeführt wurde, findet sich ein Auszug aus Karl Turleys Dissertation Arno Holz. Der Weg eines Künstlers (1935), der u. a. Holz’ „gegensätzliche Stellung“ zu seiner Zeit sowie dessen „scharfe Kritik an allem Festgefahrenen“ lobt (Turley 1940, o. S.). In Hamburg gab es, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die erste Aufführung 1917 am Altonaer Stadttheater. Zum 60. Geburtstag von Holz im Jahre 1923 fand die erste Aufführung am Thalia Theater statt; weitere Neuinszenierungen folgten hier 1935, 1952 und 1980 (vgl. Thalia Theater 1980, o. S.). Bei der Aufführung im Thalia-Theater 1980 handelt es sich um eine Gastinszenierung des DDR-Regisseurs Klaus Dieter Kirst. Die im Programmheft abgedruckten Auszüge zu Fragen der Erziehung aus Werken von Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer und Theodor W. Adorno geben Hinweise auf die Interpretation des Stückes (vgl. ebd.), respektive Adornos Diktum der Erziehung zur Mündigkeit. Im Unterschied dazu übte das NS-System zwar auch Kritik am Preußischen Obrigkeitsstaat und seinem Schulsystem, setzte aber auf ein neues Verständnis von Erziehung, das auf „Ausrichtung“, „Gleichschaltung“ und „Manipulation“ abzielte (Flessau 1987, 81). In den nationalsozialistischen Erziehungskonzepten finden sich die Begriffe Bildung und Individuum deshalb nicht mehr, an die Stelle von Wissensvermittlung durch Bildung trat die Schulung des Charakters, den Platz des Individuums nahmen Volk und Gemeinschaft ein (vgl. Hopster/Nassen 1983, 32). Parallel dazu wurde eine NS-Medienkultur aufgebaut, die in diesem Sinne eine Volkserziehung zu etablieren versuchte, die der Kontrolle und Reglementierung aller kulturellen Bereiche diente. Hinsichtlich der Charakteristik der Kultur der NS-Zeit ist Faulstich zuzustimmen, demzufolge „man deskriptiv nur von einer ‚Kultur der Vernichtung‘ sprechen“ kann, „normativ von der Absage an Kultur überhaupt“ (Faulstich 2009, 24), denn wie in der Sowjetunion unter Stalin wurde der gesamte Kulturbereich unter den sogenannten Primat der Politik gestellt, mit dem Ziel, über miteinander konkurrierende, unterschiedliche parteiamtliche und staatliche Institutionen entsprechend Einfluss zu nehmen. Zu diesem Zweck wurde 1933 u. a. die Reichskulturkammer eingerichtet, die sich in folgende Kammern
9Lt.
Programmheft des Staatstheaters Berlin Kleines Haus in der Nürnberger Straße 70–71 (heute Budapester Straße 35) wurde das Stück am 16.03.1940 zum 18. Mal aufgeführt. Die bejubelte Neuinszenierung fand hier am 16.02.1940 unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner und Werner Krauß in der Rolle des Lehrers Niemeyer statt (vgl. Herzberg 1940). Beim Theater handelt es sich um das ursprünglich privat geführte Deutsche Künstlertheater. Max Epstein, der es ab 1913 führte, wurde 1935 von den NS-Machthabern enteignet, Gustaf Gründgens war von 1935 bis 1943 Generalintendant, bis das Haus bei einem Bombenangriff zerstört wurde (vgl. https:// de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_K%C3%BCnstlertheater (08.05.2019). 10Vgl. die online gestellten Theaterzettel aus Weimar: http://www.theaterzettel-weimar.de; Stichwort "Traumulus" (28.11.2019). 11Am Wiener Burgtheater fand die erste Aufführung am 11.02.1905 statt (vgl. Graf 1905).
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gliederte, die Berufsverbänden mit Zwangsmitgliedschaft gleichkamen und politisch wie religiös Unerwünschten in der Regel die Aufnahme verweigerten, was einem Berufsverbot entsprach: Reichsmusikkammer, Reichskammer der bildenden Künste, Reichstheaterkammer, Reichsschrifttumskammer, Reichspressekammer, Reichsrundfunkkammer und Reichsfilmkammer (vgl. Hinkel 1937).
Der Filmsektor der NS-Zeit Was reizte die Kulturschaffenden – so der gängige Terminus im Dritten Reich – den Traumulus nicht nur auf deutschsprachigen Bühnen zu inszenieren, sondern auch zu verfilmen? Ihn einer breiten Öffentlichkeit von Erwachsenen zu empfehlen und in den Jugendfilmstunden der HJ vorzuführen, womit sich die Zahl der Zuschauer/innen um ein Vielfaches erhöhte? Und was war an diesem Stoff so faszinierend, dass man ihn für das wirkmächtigste Medium jener Jahre adaptierte? Denn man war sich bewusst, so Fritz Hippler – seit 1942 Reichsfilmintendant und u. a. Produzent des antisemitischen Hetzfilms Der ewige Jude (1940) –, das Medium Film sei durch seine Eigenschaft, primär auf das Optische und Gefühlsmäßige, also Nichtintellektuelle einzuwirken, massen psychologisch und propagandistisch von besonders eindringlicher und nachhaltiger Wirkung. [Hervorh. i. O.] […] er erfaßt die breiten Massen. Er erzielt damit soziologische Wirkungen, die oft nachhaltiger sein können als die von Schule und Kirche, ja sogar Buch, Presse und Rundfunk. (Hippler 1943, 14)
Nimmt man zunächst die Filmbranche allgemein als eine von mehreren großen Kulturbereichen in den Blick, dann wird sie wie z. B. der Buchmarkt im Hinblick auf die NS-Zeit im kollektiven Gedächtnis mit Gleichschaltung, Zensur und Propaganda assoziiert – womit die Vorstellung verbunden ist, im Jahr 1933 sei eine spezifische Filmkultur staatlicherseits verordnet worden, die mit Überwindung der Tyrannei ihr Ende nahm. Dem ist jedoch nicht so, denn zum einen waren die meisten sogenannten Filmschaffenden bis weit in die 1960er-Jahre in der Bundesrepublik aktiv, zum anderen wurden die grundlegenden Strukturen des Filmbereichs schon in der Endphase der Weimarer Republik aufgrund verschiedener Krisen angelegt: Die ausländische Konkurrenz, vor allem der amerikanische Film, führte erstens zur Stagnation des Inlandabsatzes, die Einführung des Tonfilms erforderte zweitens von Produzenten und Lichtspielhäusern hohe Investitionskosten, die viele Firmen in die Insolvenz führten, und drittens verschonte auch die Weltwirtschaftskrise insofern nicht die Filmbranche, als die Zahl der Besucher/innen rapide zurückging. Infolge dieser Umstände kontrollierten 1933 nur noch die vier großen Firmen Ufa, Tobis, Terra und Bavaria 40 % der deutschen Filmproduktion (vgl. Strobel 2009, 129). Die Ufa, in der erst 1942 sämtliche Filmbranchen (Produktions- und Verleihfirmen, Kopierwerke
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und die meisten Kinotheater) zusammengefasst waren und die damit relativ spät verstaatlicht war, gehörte bereits seit 1927 mehrheitlich Alfred Hugenberg, dem Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei und einem von vielen Wegbereitern des Nationalsozialismus. Zur Neustrukturierung von Europas größtem Filmkonzern Ufa setzte er Ludwig Klitzsch ein, der gleichzeitig Präsident der Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie (SPIO) war. Diese Organisation entwickelte schon 1932 den Plan zur Umwandlung der Ufa in eine staatliche Filmbehörde, einschließlich eigener Kreditbank, sodass das NS-System Mitte März 1933 auf genau diese neuen Pläne zurückgreifen konnte und sie nur noch umsetzen musste. Zur Umsetzung und Erweiterung der Pläne gehören u. a. die Einrichtung einer Reichsfilmkammer und eine Filmkreditbank, eine Abteilung Film innerhalb des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels, die Einsetzung eines Reichsfilmdramaturgen, dem jedes Drehbuch zur Genehmigung vorzulegen war, eine Filmzensur mit den höchsten Prädikaten Film der Nation sowie staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll, die Verordnung von Jugendfilmstunden, die Einführung einer Filmbetrachtung anstelle von Filmkritik, der Aufbau eines Starkults und nicht zuletzt die Gründung der Deutschen Akademie für Filmkunst in Babelsberg im Jahr 1938, mit der der Einfluss auf die Ausbildung im Filmsektor gesichert werden sollte (vgl. ebd., 130 ff.). Hinsichtlich der Anzahl der Filme, die während der NS-Herrschaft in Deutschland produziert und vorgeführt wurden, variieren die Angaben nur leicht. Während Strobel von 1094 Spielfilmen plus 24 Koproduktionen mit ausländischen Firmen ausgeht (vgl. ebd., 136), sind es nach Hobsch ca. 1200 Spielfilme, bei denen es sich mehrheitlich um „Melodramen, Liebesgeschichten, Komödien, Abenteuer-, Revue-, Schlager-, Kostüm- und Heimatfilme, Volksstücke und harmlose Krimis“ handelte; plus „ein Vielfaches an kurzen Sach- und Dokumentarfilmen“, die propagandistisch von Bedeutung waren, weil sie „Rassenlehre, Blut-und-Boden-Ideologie und militärische Themen“ thematisierten (Hobsch 2009, 39). Angesichts der Tatsache, dass viele Akteur/innen der Filmbranche nach 1933 ins Exil gegangen waren oder Berufsverbot erhielten, also Mangel an Personal auf allen Ebenen herrschte, ist die Zahl der Produktionen nicht niedrig. Was die Zahl der speziell für Kinder und Jugendliche produzierten Filme betrifft, handelt es sich Hobsch zufolge lediglich um vier Prozent des Gesamtspektrums der damaligen Zeit (vgl. ebd.).12 Die aus der NS-Zeit stammende und im Auftrag der NSDAP von Anneliese Sander herausgegebene Publikation zum Jugendfilm im Dritten Reich, die die Ergebnisse einer großen, aber nicht repräsentativen Umfrage zum Film13 unter Führer/innen der HJ enthält, listet
12Die
Zahl ist wesentlich höher. Vgl. dazu den Beitrag von Marlene Antonia Illies zum Kinderund Jugendfilm von 1900 bis 1945 in diesem Band. 13Eine weitere Umfrage zu den psychologischen Nachwirkungen des Films im Leben der Berufsschuljugend führte Funk (1934) im Rahmen einer Dissertation durch.
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lediglich zehn Filme auf (vgl. Sander 1944, 30).14 In der Regel erhielt aber 20–25 % der deutschen Filmproduktion den Vermerk jugendfrei;15 ob sie auch jugendgeeignet waren und gezeigt werden sollten, wurde kontrovers diskutiert. Erst das 1938 eingeführte Prädikat jugendwert bedeutete, dass die Jugend den Film rezipieren sollte (vgl. Hobsch 2009, 40). Sander beklagt die geringe Zahl an spezifischen Spielfilmen für die Jugend, die überwiegend mit an Erwachsene adressierten Filmen Vorlieb nehmen müsse und führt dies auf die Filmindustrie zurück, die der Meinung sei, die geringen Eintrittspreise im Rahmen der von Jungen und Mädchen besuchten Jugendfilmstunden der HJ seien wirtschaftlich nicht lukrativ genug. Diese Annahme versucht sie mit einer Statistik zu widerlegen, der zufolge im Jahr 1942/1943 über 45.290 Jugendfilmstunden mit 11.215.000 Besuchern stattfanden (vgl. Sander 1944, 72). Bleibt zu fragen, ob die zu diesem Zeitpunkt längst verstaatlichte Filmindustrie, die in der Jugend den Garant für die Zukunft sah, wirklich nicht bereit war, mehr Geld zu investieren (vgl. auch Sander/Reese 1984, V), oder ob es nicht an geeigneten Personen mangelte, die den ideologischen und gleichzeitig qualitativen Ansprüchen der NS-Machthaber im Filmsektor hätten nachkommen können, wie man es aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur kennt. Zur Einschätzung, welche Jugendfilme der HJ vorschwebten, ist das Resümee am Ende der Untersuchung von Sander aufschlussreich, in dem es heißt: Der Jugendspielfilm im Anfangsstadium. [Hervorh. i. O.] „Hitlerjunge Quex“, „Kadetten“, „Hände hoch!“ sind Markensteine in der Entwicklung des deutschen Jugendspielfilmschaffens. Der in Arbeit befindliche Film „Junge Adler“ verspricht, einen weiteren Fortschritt zu bringen. Quantitative und qualitative Weiterarbeit sind hier erforderlich. (Sander 1944, 135)
Dem neuen Verständnis von Kunst entsprechend soll der Film „Volkskunst“ sein; diese sei berufen, „selbst Ideale aufzustellen, vorzuzeigen; ‚Haltung, Weltanschauung und Geschmack‘ auszurichten, mitzuformen (ebd., 12). Und diese Volkskunst trete „aus dem Bezirk des Nur-Ästhetischen in den des Auch-Politischen“ und werde damit „im besten Sinne – Führungsmittel.“ (Ebd.).
14Interessant
an dieser aus den Reihen der Partei herausgegebenen Untersuchung ist u. a., dass in Sachen Jugendspielfilm erstens die geringe Zahl folgendermaßen kritisiert wird: „In 15 Jahren hat Deutschland also 12 Jugendspielfilme herausgebracht“ (Sander 1944, 30) und dass zweitens am Anfang dieser Liste noch zwei Filme aus der Weimarer Republik stehen, Emil und die Detektive sowie Der Kampf der Tertia (vgl. ebd.). 15Eine chronologisch aufgebaute Liste mit Spielfilmen, die den Vermerk jugendfrei und jugendfrei ab 14 Jahren führten, hat Stelzner-Large (1996, 295–307) für den Zeitraum 1933–1945 in ihrer Dissertation zusammengestellt. Aufschlussreicher sind jedoch die von Sander (1944, 145– 154), auch wenn sie nicht den gesamten Zeitraum umfassen. Hier findet sich die Liste der von der RPL. für Jugendfilmstunden zugelassenen Filme für Kino und kinolose Orte (differenziert nach jugendfrei und jugendfrei ab 14 Jahren) sowie eine Liste der für Jugendliche lt. Zensur freigegebenen langen Spielfilme in- und ausländischer Produktion von 1935 bis 1943 (differenziert nach jugendfrei und für Jugendliche ab 14 Jahren), wobei auch angegeben ist, welche Filme im Laufe des Krieges von der Liste gestrichen wurden.
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Traumulus (1935) – Prädikat staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoller Film Als der schwarz-weiß Film Traumulus 1935 hergestellt wird, befindet sich das NS-System am Ende der Konsolidierungsphase, d. h., die Gleichschaltung ist weitgehend vollzogen, parteiamtliche und staatliche Institutionen sind funktionstüchtig ausgebaut. Die Beantwortung der Frage, weshalb sich die Akteure aus den unterschiedlichsten Bereichen des Filmsektors für die Verfilmung des Traumulus-Dramas von Holz und Jerschke entschieden, ist spekulativ. Zu vermuten ist, dass man zu diesem Zeitpunkt noch sehr auf Abgrenzung vom alten System bedacht ist und somit darauf, die alten Verhältnisse zu kritisieren. Um möglichst die breite Masse zu erreichen, wird ein Stoff gewählt, der in der Schule spielt und den klassischen Gymnasiallehrer fast schon karikiert. Was Rang und Namen hat bzw. noch erlangen wird, ist an dieser Produktion beteiligt. Regisseur und Produzent ist Carl Froelich (1875–1953), der seit Beginn des 19. Jahrhunderts in der Filmbranche erfolgreich tätig war. Froelich trat vor 1933 in die NSDAP ein, drehte in der NS-Zeit weiterhin viele erfolgreiche Filme und wurde 1939 zum Präsidenten der Reichsfilmkammer ernannt.16 Das Drehbuch stammt aus der Feder von Robert A. Stemmle (1903–1974) und Erich Ebermayer (1900–1970), die sich beide dem NS-Regime anpassten. Stemmle war Dramaturg bei der Tobis, später auch Regisseur und Produzent;17 verantwortlich für Regie und Drehbuch ist er z. B. bei der Erstverfilmung der Feuerzangenbowle unter dem Titel So ein Flegel.18 Der studierte Jurist Ebermayer schrieb neben Drehbüchern einige Romane und Unterhaltungsliteratur, bis in die Adenauer-Ära hinein.19 Erfahrener Kameramann ist Reimar Kuntze.20 Die Hauptrolle des Schuldirektors Niemeyer spielt Emil Jannings (1884–1950), der 20 Jahre zuvor in diesem Stück noch den Landrat21 gespielt hatte (Abb. 2). Er begann seine Karriere als Bühnenschauspieler in der Provinz, erhielt ab 1914 Engagements in Berlin, wo er u. a. mit Max Reinhardt zusammenarbeitete, und 1915 seine erste (Stumm-)Filmrolle. Sein Erfolg war so groß, dass er Ende der 1920er-Jahre in amerikanischen Filmen mitwirkte und dort als erster Schauspieler den Oscar in Empfang nehmen konnte. Nach seiner Rückkehr war Jannings auch im NS-Deutschland ein großer Star, der einem breiten Publikum u. a. mit seiner Rolle des
16Vgl. https://www.filmportal.de/person/carl-froelich_af360ddb231c48168439117c467bb5dd (31.12.2019). 17https://www.filmportal.de/person/robert-a-stemmle_7b58be5cf9db48709a0c88022b13f0a7 (31.12.2019). 18Vgl. dazu den Beitrag von Heidi Nenoff in diesem Band. 19https://de.wikipedia.org/wiki/Erich_Ebermayer (31.12.2019). 20Vgl. https://www.filmportal.de/person/reimar-kuntze_6016a45066514747bf0af79392419219 (31.12.2019). 21Vgl. Arno Holz: „Jannings-Ia!“ (1935), in dem auf einen Brief im Arno-Holz-Archiv von Max Wagner verwiesen wird.
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Abb. 2 Emil Jannings im Traumulus (1935). (© Beta Film GmbH, DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum/KINEOS Sammlung)
Professor Rath an der Seite von Marlene Dietrich im Blauen Engel (1929) unvergesslich geblieben war und ist. Aufgrund seiner NS-Vergangenheit erhielt er ein lebenslanges Berufsverbot, nahm daher die österreichische Staatsbürgerschaft an und verließ Deutschland.22 Bevor auf Fragen der Rezeption und Distribution eingegangen wird, soll zunächst die Analyse des Films im Mittelpunkt stehen und damit im Rahmen der Verarbeitung (vgl. Schmidt 2008) der Aspekt des Medienwechsels. Dafür liegen zwei Untersuchungen vor, die jedoch weitgehend klassisch ideologiekritisch ausgerichtet sind, sich also auf die inhaltliche Ebene konzentrieren (vgl. Kanzog 1994; von der Osten 1998), aber filmästhetische Mittel (vgl. Hickethier 2001) sowie Fragen der „Zuschauergratifikation“ (Welzel 1995, 212) und damit auch Emotionen außen vor lassen, die deshalb im Folgenden mit berücksichtigt werden. Von der Osten und Kanzog haben für ihre Untersuchung aber bereits das Drehbuch einbezogen, sodass deutlich wird, an welchen Stellen von den Beteiligten, wahrscheinlich dem Regisseur, eingegriffen wurde.23 Sowohl die Handlung von Film und Drehbuch als auch zahlreiche Figurenreden und damit Dialogabfolgen sind eng an die gedruckte Vorlage angelehnt, werden teilweise sogar wörtlich übernommen. Im Unterschied zum Drama setzt
22Vgl.
filmportal.de, https://www.filmportal.de/person/emil-jannings_3377e94609d3412cae1cc34136 0254ba (28.11.2019). 23Da mir das Drehbuch nicht zur Verfügung stand, ziehe ich die Passagen von der Ostens für den Vergleich hinzu.
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die filmische Handlung aber nicht im Kasino ein, wo der Landrat von Kannewitz Prof. Niemeyer nach dessen Eintreffen mit der Aussage konfrontiert, dass sein Schüler von Zedlitz „sich heute Nacht mit einer stadtbekannten Curtisane in einem öffentlichen Vergnügungslokal anrüchichster Sorte herumgetrieben“ (Holz/ Jerschke 1905, 33) hat. Der Film24 beginnt mit dieser Vorgeschichte (04:45– 16:22), schmückt sie relativ breit aus und verheißt Spannung, nur die Bilder erzählen zunächst: In Vogelperspektive und mit idyllischer Musik untermalt fängt die Kamera in einer kleinstädtischen Straße, in der Schneehaufen vor den Häusern zu sehen sind, einen Nachtwächter ein, der die Straßenlaternen löscht, u. a. vor der Bäckerei. Die Kamera schwenkt die Hauswand hoch zu einem dunklen Fenster, wechselt zu einem auf der Straße stehenden, frierenden Polizisten, der offenbar dieses Haus beobachtet (Gefahr symbolisierende Musik) und auf die Uhr schaut, als hinter dem gerade gezeigten Fenster Licht zu sehen ist. Die nächste Szene spielt im Treppenhaus des Bäckerhauses; in Vogelperspektive erscheint oben auf der Treppe ein Liebespaar – zunächst nur kunstvoll als Schatten zu sehen –, das sich verabschiedet und offenbar nur schwer trennen kann, was die Glückseligkeit ausstrahlende Musik unterstreicht. Doch gleichzeitig droht eine weitere Gefahr, denn die Bäcker sind bereits bei der Arbeit und der junge Mann will sich nicht erwischen lassen, was ihm auch gelingt. Nur der Polizist hat ihn weiter im Visier, als er die Straße betritt, und schaut erneut auf seine Uhr. Für die Zuschauer/ innen, die den Stoff nicht kennen, ist zu diesem Zeitpunkt nur klar, dass jemand beobachtet wird (ob wegen des Tête-à-Tête, ist noch unklar) und sich ein Liebespaar getroffen hat, unterschiedliche Emotionen werden also angesprochen, vermutlich bei allen Geschlechtern und Altersgruppen. Zeitlich können sie aufgrund der Kleidung der Frau und der Pickelhaube des Staatsdieners die Handlung im Kaiserreich verorten. Erst in den folgenden Szenen der Vorgeschichte wird klar, um wen es sich bei dem jungen Mann handelt: den Internatsschüler von Zedlitz, der mithilfe seines besten Freundes Mettke (gespielt von Hans Richter) über eine Strickleiter in den Gemeinschaftsschlafraum der Gymnasiasten gelangt, aber wieder nicht unbemerkt, denn seinen Pfiff, der den Freund weckt, hört der Pedell, der auf seinen Wecker schaut, der 05:55 Uhr anzeigt. Als beide im Bett liegen, will Mettke wissen, wie es war, worauf sich folgender kurzer Dialog (09:40–10:04) entspannt: Zedlitz: Du bist zwar mein bester Freund, aber das verstehst du nicht. Mettke: Wieso? Zedlitz: Ja, weil ich es selbst nicht verstehe. aus dem Hintergrund: Maul halten! Mettke: Was ist denn da groß zu verstehen? Zedlitz: Ach, ich hab’ einen Menschen kennengelernt, Mettke, einen Menschen …
24Die
nicht frei zugängliche Fassung aus dem Bundesarchiv beginnt 02:08 mit dem Vorspann (Filmangaben), endet bei 02:04:25, umfasst also ca. zwei Stunden.
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Auch wenn man sich denken kann, wie von Zedlitz die Nacht verbracht hat, so wird auf der verbalen Ebene die Frau als Person bzw. als Mensch hervorgehoben und nicht als Sexualpartnerin, während das Drehbuch auf das Erlebnis abzielt, in dem es heißt: „Ich habe heute Nacht etwas erlebt, wovon ich nie geglaubt hätte, daß man es erleben kann“ (zit. nach von der Osten 1998, 195). Als er Mettke dann noch erzählt, dass er sich verloben will und es sich bei der Geliebten um die Schauspielerin Lydia Link handelt, erklärt der Freund ihn für verrückt, er solle an die Familie denken, beendet das Gespräch aber ironisch mit der Bemerkung, „ihr Zedlitz seid ja schon im Mittealter unangenehm aufgefallen.“ Zedlitz selbst ist davon unbeeindruckt, beseelt denkt er an die vergangenen Stunden zurück, musikalisch untermalt von dem Volkslied Du, du liegst mir im Herzen. Noch einmal ganz andere Emotionen weckt der letzte Teil des Vorspanns, der alle Jungen sehr unterschiedlichen Alters im Schlafsaal nach dem Aufwachen zeigt, die tuschelnd die Köpfe zusammenstecken und sich dann über die geplante Verlobung ihres Mitschülers von Zedlitz lustig machen, Mettke hat ihnen davon erzählt. Sie gratulieren ihrem Stubenältesten mit einem Strauß aus Staubwedeln, woraufhin sich eine lustig wirkende Keilerei mit Wasserspritzen entfaltet, die vom eintretenden Pedell Schimke unterbrochen wird, der eine freundliche Figur verkörpert. Die Kamera ist auf halbnah gestellt und stellt die Situation in den Vordergrund: Schimke wendet sich an Zedlitz, die Sache von heute Nacht müsse er als alter Soldat melden. Er will sich nicht von den zusammenhaltenden Jungen davon abbringen, erst recht nicht noch mit Geld bestechen lassen. Aber es findet sich zur Heiterkeit aller ein Weg, genau dieses Mittel einzusetzen, indem die Jungen vorgeben, ein Geldstück liege auf dem Boden, und Schimke behauptet, da habe seine Frau doch wieder das Loch in der Hosentasche nicht zugenäht. Mit diesem im Rahmen des Drehbuchs neu entstandenen Vorspann dürfte Alt wie Jung in den Bann gezogen worden sein. Er weckt die Neugierde der Zuschauer/innen, was es mit dem Polizisten auf sich hat und wie es mit der Liebschaft weitergeht, Erinnerungen der Erwachsenen an die eigene Schulzeit und das Erste Mal werden wachgerufen. Jüngere werden andeutungsweise mit ersten sexuellen Erfahrungen konfrontiert, aber Zedlitz’ Verliebtsein erzeugt bei ihnen aufgrund eigener Unerfahrenheit auch Unsicherheit, die in Komik verbreitenden Rangeleien endet. Gleichzeitig sind die Internatsschüler auf diese Weise als sympathische Jungen eingeführt, die zusammenhalten, wenn es darauf ankommt, und noch Flausen im Kopf haben – ganz anders als in der Holz’schen Vorlage, in der sie wie später im Film als überspannte Mitglieder eines Geheimbundes auftreten, die sich wie Burschenschaftler aufführen. Auch wenn sich der Film, wie oben angeführt, am Handlungsverlauf des Dramas orientiert, bedient er sich doch der ihm spezifischen Mittel, indem er die Gleichzeitigkeit von Ereignissen durch den wechselnden Blick in unterschiedliche Handlungsräume gewährt. Beispielhaft deutlich wird dies im Anschluss an die Vorgeschichte, als zunächst (wie zu Beginn des 1. Aktes des Dramas) vier ältere
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Männer sich unterhaltend im Kasino beim Frühschoppen gezeigt werden: Wollwein, Major, Sanitätsrat und Meyer.25 Noch bevor der Landrat, Falk und Niemeyer sich zur Herrenrunde gesellen, wechselt der Handlungsraum in Niemeyers Wohnung, nachdem sich ein Teil der Herren abfällig über Niemeyers wesentlich jüngere zweite Ehefrau geäußert hat. Deren Geldnöte werden den Zuschauer/innen in der vierminütigen Szene (19:28–23:28) kompakt vor Augen geführt, zurück bleibt keineswegs nur ein negativer Eindruck. Einerseits scheint sie einen Hang zum Luxus zu haben und arrogant zu sein, denn sowohl die Geldforderungen der Schneiderin für ihr prächtiges Kleid als auch offenstehende Rechnungen des Bäckers, der zum wiederholten Mal anmahnt, wiegelt sie von oben herab ab und versteht es insbesondere, den Bäcker mit ihrem Charme verstummen zu lassen. Andererseits wird im Gespräch mit ihrem Stiefsohn Fritz deutlich, der mit seinem Studium nicht vorankommt und auf großem Fuß lebt, dass dieser regelmäßig Geld von ihr verlangt und sie nun noch damit erpresst, sie mit einem anderen Mann gesehen zu haben, wovon Niemeyer natürlich nichts wissen darf. Diese Szene zwischen Stiefmutter und -sohn, in der die Kamera in Großaufnahme immer wieder von einer Person zur anderen wechselt, glänzt durch schauspielerische Leistung (zum einen hämisches Lächeln und entsprechender Tonfall von Fritz, zum anderen die in Sprache und Mimik zunehmend verängstigte Ehefrau), gewinnt aber erst an Authentizität durch die Kameraeinstellung und -bewegung. Die meisten Personen werden somit innerhalb der ersten 21 Minuten eingeführt, im Unterschied zum Drama auch die Internatsschüler, die dort erst im 3. Akt und nur als Geheimbündler die Bühne betreten, womit sie jugendlichen Zuschauern wenig Identifikationsmöglichkeiten bieten. Was die Figur Niemeyer betrifft, der ja anders als die meisten übrigen Lehrerfiguren seiner Zeit nicht als Tyrann, sondern verständnisvoller Mensch seinen Schülern gegenüber auftritt, so entlarvt auch der Film dessen Erziehungsvorstellungen, die auf humanistischen Bildungsidealen des 19. Jahrhunderts beruhen, letztlich als falsch, geht aber am Ende noch einen Schritt weiter, indem er sich zu den neuen Erziehungsvorstellungen und damit verbundenen Normen bekennt.26 Ein Lehrer, der seine Schüler verteidigt, weil er an das Gute in ihnen glaubt, wie es Niemeyer im Kasino in der Auseinandersetzung mit dem Landrat versucht (38:40–43:29), kann sich der Begeisterung junger und älterer Zuschauer/
25Meyer
trägt in der Vorlage wie im Drehbuch noch den Namen Goldbaum. Grund für diese Änderung sind die Nürnberger Gesetze vom 15.09.1935, denen zufolge jüdische Namen im Film nur dann benutzt werden durften, wenn sie der negativen Charakterzeichnung dienten (vgl. von der Osten 1998, 196). 26Von der Osten (1998, 196) irrt, wenn er in diesem Kontext auch Niemeyers Äußerungen Zedlitz gegenüber anführt, nachdem dieser nur das Zusammensein mit der Schauspielerin im Lokal eingestanden hat. Der Satz „Sittliche Reinheit ist noch immer das Fundament einer gesunden Entwicklung. Für den Einzelnen, wie auch für die Gemeinschaft“ (Holz/Jerschke 1905, 63) findet sich bereits im Drama und belegt einmal mehr, dass NS-Gedankengut in der Regel nicht seinen Ursprung im Nationalsozialismus hat, sondern dass bestimmte Vorstellungen eine lange Tradition hatten, aber im NS-System umfunktionalisiert wurden.
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innen sicher sein, denn so einen hätten sie sich selbst gewünscht. Hinzu kommt die Herzlichkeit Niemeyers gegenüber Zedlitz, den er am Ende der Unterredung im Wohnzimmer fragt, was ihn belaste, ob er zu hart gewesen sei, und den er väterlich in den Arm nimmt (01:08:29–01:09:44). Die Sympathie zuschauerseits mit dem gutmütigen Lehrer paart sich aber allmählich mit Unverständnis gegenüber dessen Gutgläubigkeit und letztlich Blindheit vor der Realität, die er im Gespräch mit der schmeichelnden und lügenden Lydia Link an den Tag legt, wie auch im sich anschließenden Dialog mit von Zedlitz, dessen Verstörtheit er falsch deutet. Allerdings scheint er etwas zu ahnen, denn er begibt sich im Film danach in das Lokal Goldener Pfau, lässt sich den grünen Salon zeigen, in dem von Zedlitz zunächst den gestrigen Abend verbrachte, und muss zu seinem Entsetzen erkennen, dass es sich um ein Etablissement mit Animierdamen handelt (01:12:04–01:13:24). Sein Glaube an die eigenen Ideale beginnt zu zerbrechen, als die Lüge entlarvt wird, man ihm auf der Polizeiwache mitteilt, dass von Zedlitz tatsächlich die Nacht mit Lydia Link verbrachte. Er ist zutiefst verletzt, dass seine Vertrauensseligkeit so missbraucht, er so belogen wurde. Aufgebracht beschimpft er seinen Lieblingsschüler, schreit ihn an, er sei fertig mit ihm, könne ihn nicht mehr sehen, will keine Entschuldigung annehmen (01:32:30–01:37:45). Dennoch möchte Niemeyer, wie sich im folgenden Gespräch mit dem Landrat zeigt, wegen dieses einen traurigen Falls nicht seine Grundsätze aufgeben. Nachdem sich ihm die Zusammenhänge um von Zedlitz’ Agieren erschlossen haben, bestätigt sich schließlich seine Ahnung, der Primus könne sich das Leben genommen haben, womit er sich schuldig fühlt, sich als von Zedlitz’ Mörder sieht. Während Niemeyer sich im Drama in seinem Arbeitszimmer befindet, den ehemaligen Schüler Falk an seiner Seite sowie den Landrat, und die Schlussszene relativ kurz gehalten ist, wird sie filmisch effektvoll und mit einer Botschaft ausgestaltet. Nachdem man im Film die Bahre mit dem Toten von Zedlitz unter Begleitung seiner Mitschüler ins Schulhaus getragen hat, nimmt Niemeyer auf einem Stuhl neben der Bahre Platz, die Schüler stehen erschüttert als Gruppe beisammen, seitlich von Niemeyer, der den Blick auf das Gesicht des toten Mitschülers gerichtet hat. Liebevoll schaut Niemeyer ihn an, spricht sanft und langsam, beugt sich allmählich tiefer an ihn heran: Also bist du doch zu mir zurückgekommen, Kurt von Zedlitz, hatte dich doch fortgeschickt, dir verboten, mir noch einmal unter die Augen zu treten. Welch sonderbarer Ungehorsam. [längere Pause] Wusstest du wirklich keine andere Entschuldigung als diese stumme Antwort, auf die kein Mensch eine Erwiderung hat? [längere Pause] So musst du nun Recht behalten. Ich bin Schuld an deinem Tod. (02:01:22–02:02:28)
Und an die Schüler gewendet verkündet er, sein Amt niederzulegen, nicht mehr ihr Lehrer zu sein: Ihr nennt mich Traumulus. Ich weiß. Nur wir sind nicht da zu träumen, die Menschen blind zu lieben und dann in ihrer Not allein zu lassen. Ich habe euch nicht geführt, ich habe euch nicht gekannt, ich habe versagt. Ich trete ab. [Pause] Mein Gott, nun steht ihr da, ihr Kinder, und meint, der da war ein Held. Nein, er war kein Held. Denn wir sind nicht in dieses Leben geschickt worden, um ihm zu entfliehen, sondern um es zu bezwingen. Deshalb stählt und härtet euch, kämpft, siegt über euch selbst. (02:02:56– 02:02:18)
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Insbesondere im letzten Satz werden jene Tugenden angesprochen, die das NSRegime von Anfang an proklamierte und gewissermaßen in sein Erziehungsprogramm aufnahm. Offenbar geht die Idee zu dieser ns-affinen Schlusspassage auf den Regisseur zurück, denn von den Dreharbeiten im Filmatelier wird berichtet, Carl Froelich „tauscht nach jeder Probe und jeder Aufnahme“ mit Jannings „den Urteilsspruch […], zeichnet dabei zugleich immer neue Spitzlichter in den Dialog hinein, bis makellos sich die Szene in Spiel und Sprache ausprägt.“ (BeWo 1935). Von den Drehbuchautoren stammt der Schluss auf jeden Fall nicht, denn ihr Drehbuch endet nach „Ich trete ab. [Pause]“ mit folgenden Worten: Eines bewahrt euch von dieser Stunde, das letzte, was ich euch noch als Lehrer geben kann: Wir sind nicht in dieses Leben geschickt worden, um ihm zu entfliehen. Wenn es manchmal auch das Leichteste sein mag. Wir beide, mein Primus und ich, wir haben das leider getan. (Zit. nach von der Osten 1998, 197)
Aus filmästhetischer Sicht ist hervorzuheben, dass noch während Niemeyer sich auf der Polizeiwache befindet, draußen der Zapfenstreich beginnt, von dem Bilder bis zum Schluss wiederholt eingeblendet werden und dessen Musik immer wieder im Hintergrund zu hören ist, während er seine Abschiedsworte spricht. Sein Abgang wird damit auf einer symbolischen Ebene eingeläutet, bevor er selbst diesen Entschluss gefasst hat, und bekommt außerdem etwas Ehrenvolles, obwohl er ein Gescheiterter ist. Gleichwohl ist er in dieser filmischen Inszenierung kein „Tölpel mit leidlich gütigen Zügen“ (Kerr 1998, 200), wie es der Theaterkritiker zur Premiere über das Holz’sche Drama im Jahr 1904 scharf formuliert hatte, sondern ein „Tölpel mit leuchtenden Zügen“, der „erschüttern“ kann (ebd.).
Rezeption und Distribution der Verfilmung Traumulus Schon während der Dreharbeiten im Herbst 1935 wurde, wie auch in der Vergangenheit bei anderen Filmen üblich, im Film-Kurier über die Produktion berichtet. Dort heißt es u. a.: Diese Welt, die die innere Haltung des Schulmeisters [Hervorh. i. O.] ausmachte, musste fallen, um dem E r z i e h e r [Hervorh. i. O.] einer neuen und doch immer gleichbleibenden Jugend die Möglichkeit zu geben, sich eine neue, lebensnahere wieder aufzubauen … Aus dieser Problematik lebt das Werk (BeWo 1935)
Eine Woche später findet sich ein weiterer Bericht vom Besuch der Dreharbeiten, bei dem Emil Jannings interviewt wurde und erzählte, mit Arno Holz befreundet gewesen zu sein. Er habe den Dichter vor langer Zeit vergeblich zu überreden versucht, für den Film zu arbeiten, was dieser jedoch ablehnte, da dem Film damals noch der Ton fehlte (vgl. Vom Preußenkönig zum Gymnasialprofessor 1935). Die Uraufführung fand am 23. Januar 1936 im Berliner Ufa-Palast am Zoo statt. Allein in Berlin wurde der Film parallel in 53 Erstaufführungstheatern gezeigt, wo in den ersten sechs Tagen 303.835 Besucher/innen gezählt worden sein sollen (vgl. Zahlen sprechen 1936). Zwei Tage nach der Premiere erscheint
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im Völkischen Beobachter, dem Parteiorgan der NSDAP, eine euphorische Besprechung, die die neuen Vorstellungen von einem gelungenen Film gut zu erkennen gibt. Der Verfasser kritisiert zunächst die bisherigen Filmproduzenten, die nicht begriffen hätten, dass neben dem „Was“ das „Wie“ von größter Bedeutung sei (von Demandowski 1936). Zuallererst lobt er die Drehbuchverfasser, die „geschickt […] die tiefgründige Ironie und die Zeitsatire herausgeschält“ hätten, des Weiteren die „Satire auf den Jugendstil (der sich auf dem Vorspanntitel mit einer holzschnittartigen Umrahmung für Kenner unmißverständlich ankündigt)“, und dann die großartige Zeichnung der Honoratioren des Wilhelminismus, „all die Kleinigkeitskrämer und Tugendwächter, die Kleinstadtmoralisten und Klatschmäuler, an denen der einzig wirklich wertvolle Mensch, […], zugrunde zu gehen droht.“ (Ebd.) Besonders hervorgehoben wird die Fähigkeit des Regisseurs, „mit sicherem Blick die richtigen Schauspieler an den richtigen Platz gestellt“ zu haben, „keinen sich in den Vordergrund spielen“ zu lassen und damit ein „lückenloses Zusammenspiel“ erreicht zu haben. (Ebd.) Und auch Bild, Ton und Bau seien „wie die Schauspieler Diener am Gesamtwerk.“ (Ebd.) Zu guter Letzt lobt er zahlreiche Schauspieler, allen voran Emil Jannings, den er „auf der Höhe seiner Charakterdarstellung“ sieht, er spiele diesen seinen Traumulus mit unendlich viel Feinheiten, jede seiner Bewegungen harmoniert mit Mimik und Sprache, die Entwicklung und Steigerung dieser Figur in das allein gültig Menschliche, ist erschütternd. Seine Übergänge vom Humorlosen zum Ernsten, vom Komischen zum Tragischen, seine Ausbrüche und seine Wandlungen sind beste, größte Darstellungskunst schlechthin. (Ebd.)
In ähnlicher Weise äußert sich der Berliner Lokal-Anzeiger über die Leistung des Hauptdarstellers: „Jannings läßt uns das Schicksal miterleben: wir lächeln mit ihm, wir kämpfen mit ihm, wie leiden mit ihm.“ (Fischer 1936) Wie Demandowski im Völkischen Beobachter lobt der Geschäftsführer der Reichskulturkammer, Hans Hinkel, den „vortrefflichen Gemeinschaftsgeist aller am Werk beteiligten“ und „die ausgezeichnete Charakterisierung des Milieus um ‚Traumulus‘“, ein Milieu, für das er nur Verachtung hege, weil ihm „jede innere Haltung“ fehle (Hinkel 1936). Die heutige Jugend kenne „dieses Sich-Einfinden in dieses Milieu gottlob nicht mehr oder nur noch in geringem Maße. […] Meist sei sie mutig aus dieser dumpfen Atmosphäre der Moralin erzeugenden Spießigkeit geflohen.“ (Ebd.) Der Film mache jedem Deutschen bewusst, „was der Aufbruch des neuen Deutschland im nationalsozialistischen Geiste für uns alle und für die Zukunft unserer Nation bedeutet.“ (Ebd.) Auch die Führungsriege des NS-Systems, die vorab eine Kopie erhielt, ist begeistert, wie man einem Eintrag Goebbels’ in sein Tagebuch entnehmen kann. Er sieht den Film abends zuhause am 11.01.1936, schreibt begeistert: „Ein ganz großer Wurf. Das Vorkriegsdeutschland glänzend karikiert. Wunderbar!“ (Goebbels 1987, 563) Am nächsten Tag schaut er den Film zusammen mit Hitler erneut an, der offenbar „hingerissen“ ist, „Jannings ganz groß. Und noch eine Reihe von besten schauspielerischen Leistungen.“ (Ebd.) Den bisher zitierten Äußerungen ist die Kritik an einer bestimmten Zeit und deren Vertretern gemeinsam, die man noch persönlich erlebt und an denen man
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gelitten hat. Dazu passt in der filmischen Umsetzung auch, dass sich Niemeyer und der Landrat am Ende nicht versöhnen wie im Drama. Auf einen anderen Fokus, nämlich die Erziehungsfrage, hebt die ebenfalls positive Kritik der Reichsjugend-Führung (RJF) ab, die für sich in Abgrenzung zum NS-Lehrerbund den alleinigen Erziehungsanspruch reklamierte. Offensichtlich genoss auch die RJF das Privileg, Filme vor der Erstaufführung zeigen zu können. So wurde Traumulus einen Tag vor dem offiziellen Start allen Berliner sogenannten Führern und Führerinnen der HJ und des Bundes Deutscher Mädel (BDM) vorgeführt. Die Reaktionen der Jugendlichen waren „außerordentlich anerkennend“, man „lobte seine erzieherischen Werte und entschied sich dafür, ihn in besonderen Jugendfilmstunden einzusetzen“ (Ein Film zur Erziehungsfrage 1936). Der Pressedienst der RJF wies in diesem Kontext darauf hin, es fehle seit der NS-Machtübernahme an Filmen, die sich dem Thema „Jugend und Jugenderziehung“ widmen; insofern stelle der Traumulus „nach langer Zeit einen ersten und gleich auch hervorragend gelungenen Vorstoß auf ein nicht beachtetes Gebiet dar.“ (Ebd.) Selbst die Vertreter des NS-Lehrerbundes zeigten sich mehr als aufgeschlossen. Natürlich müsse man sich fragen, ob ein solcher Film nicht „Standesbewusstsein“ und „Berufsehre“ verletzte. Doch diese Frage sei entschieden zu verneinen: „Ein Stückchen Traumulus“ trage der „idealgesinnte Erzieher immer in sich […], im Gegensatz zum platten Nützlichkeits- und Wirklichkeitsmenschen“. Er müsse „diese Seite seines Wesens deshalb unter ständiger Kontrolle halten, damit sie ihm nicht und den ihm anvertrauten Jugendlichen gefährlich“ werde (Traumulus unter Kollegen 1936). Und auch unter Studierenden fand der Film großen Beifall bzw. belegte den ersten Platz, wie eine 1937 durchgeführte Umfrage ergab: Wichtig war ihnen bei Filmen die „Darstellung von Menschenschicksalen“, die unmittelbar „ergreifen“, ebenso „erzieherische[…] Werte“ (Studenten urteilen über Filme 1937). Bei so viel Lob und Anerkennung von unterschiedlichen Seiten verwundert es nicht, dass die maßgeblich Beteiligten des mit dem Prädikat staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll ausgezeichneten Films, der zudem den Vermerk für Jugendliche ab 14 Jahren zugelassen bekam (Zensierte Filme 1936), höchste Auszeichnungen erhielt. Schon im Mai 1936 überreichte Goebbels dem Regisseur Carl Froelich den Nationalen Filmpreis 193627 mit den Worten, dass dieser Film „ohne aufdringliche Tendenz, aber in klarer, weltanschaulicher Linie geschaffen worden sei“ (Staatspreise überreicht 1936). Emil Jannings wurde im Juli 1936 von Göring zum Staatsschauspieler ernannt (vgl. Käthe Dorsch und Emil Jannings Staatsschauspieler 1936). Relativ schnell folgten Erstaufführungen außerhalb Berlins. So beispielsweise ab 4. Februar 1936 im Südwesten Deutschlands (vgl. „Traumulus“-Start in Stuttgart 1936), wegen des Karnevals im Rheinland erst ab 28. Februar 1936 im Westen (vgl. Traumulus in Westdeutschland 1936) oder in Königsberg (vgl.
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erhielt ihn Leni Riefenstahl für ihren Film Triumph des Willens. Froelich erhielt den Staatspreis 1939 ein zweites Mal für den Film Heimat. 1942 würdigte man Froelich für vier Jahrzehnte Filmarbeit (vgl. G. H. 1942).
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„Traumulus“ in Ostpreußen 1936). Außerdem legte man Wert auf Sondervorstellungen, wie z. B. für Kreisleiter der NSDAP in Kiel28, für Teilnehmer/innen des Filmballs in München (vgl. „Traumulus“ in München 1936), der WinterOlympiade („Traumulus“ in Garmisch 1936) und der Olympischen Sommerspiele in Berlin (vgl. “Traumulus“ während der Olympiade 1936) – Letztere, um auch ein ausländisches Publikum zu erreichen. Später im Krieg waren sogenannte Wiederaufführungen von Filmen angesagt, zu denen der Traumulus wie viele andere Unterhaltungsfilme z. B. im Jahr 1942 gehörte (vgl. w. st. 1942). Eine besonders große Zahl von Zuschauer/innen erreichte man über die Jugendfilmstunden der HJ, insbesondere nach Einführung der Pflichtmitgliedschaft in der Jugendorganisation im Jahr 1939. Jugendfilmstunden zu einem Eintrittspreis von 20 Pfennig wurden aber schon 1934 eingeführt, wobei sie zunächst noch nicht flächendeckend stattfanden (vgl. Hoffmann 1991, 104). Sie sollten für die Heranwachsenden anders als die üblichen Besuche von Lichtspieltheatern bzw. Kinos zu einer Feierstunde ausgestaltet werden, man wollte zudem vor allem Einfluss auf die Filmauswahl ausüben und überdies versprach man sich von „gemeinschaftlichen Aussprachen“ (Belling/Schütze 1937, 46) einen wichtigen Erziehungseffekt. Der Traumulus wurde kurz nach seiner Aufführung in das Verzeichnis für die Jugendfilmstunden aufgenommen (vgl. Für die Jugendfilmstunden empfohlen 1936) und konnte sich somit einer weiten Verbreitung sicher sein. Um aus Sicht des Staates bestmöglich für wertvolle Filme zu werben, dachte man auch über Werbemaßnahmen im Rundfunk nach, was noch sehr selten genutzt wurde, wobei man weniger an herkömmliche Besprechungen dachte, als vielmehr an Auftritte der Schauspieler, aber evtl. ebenso der übrigen Beteiligten vor dem Mikrofon (vgl. Eckert 1936). Und nicht zu vergessen das Fernsehen, das seiner Zeit noch eine sehr geringe Verbreitung hatte. Die ersten Fernsehstuben weltweit wurden in Berlin aber schon 1935 eingerichtet; im TV-Programm findet sich der Traumulus am 5. April 1937 im Fernsehsender von Paul Nipkow in Berlin-Witzleben.29 Hinsichtlich der Distribution ist interessant, dass der Film auch außerhalb Deutschlands gesehen wurde, er in mehreren Ländern schnell großes Interesse und Anerkennung fand. So bezeichnete ihn das christliche Kleine Volksblatt in Wien als „interessanteste[n] und reifste[n] Film des neuen Deutschland“ (zit. nach Das Neueste aus dem Ausland 1936, 1). Das Prager Tageblatt sprach von „einem Spitzenfilm […] der Weltfilm-Produktion“ (zit. nach „Traumulus“ im Prager Urteil 1936). Weitere Aufführungshinweise finden sich u. a. für Zürich,30 Kopenhagen,31 Ungarn32 und die USA.33 28Vgl.
die Notiz im Film-Kurier 18 (1936) 42 vom 03.02., 2. Hinweis findet sich in der Zeitschrift Die Sendung 14 (1937) 14 vom 05.04. 30Vgl. die Notiz im Film-Kurier 18 (1936) 118 vom 22.05., 3. Zur unkritischen Rezeption in der Schweiz vgl. Prodolliet (1999), 60 ff. 31Vgl. die Notiz im Film-Kurier 18 (1936) 81 vom 04.04., 1. 32Vgl. die Notiz im Film-Kurier 18 (1936) 154 vom 04.07., Beibl., 2. Hier findet sich auch der Hinweis, dass der Film zunächst in Ungarn verboten war. 33Vgl. die Notiz im Film-Kurier 18 (1936) 277 vom 28.09., 3. 29Der
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Fazit und der Traumulus heute Der Schriftsteller Arno Holz gehört als Dramatiker zu den wichtigen Vertretern des Naturalismus, sein Traumulus über vier Jahrzehnte zu den großen Erfolgsstücken auf deutschsprachigen Bühnen. Nach den vorliegenden Erkenntnissen wurde er vor vierzig Jahren zuletzt in Hamburg aufgeführt, wobei das vorliegende Programmheft Hinweise auf eine kritische Neuinszenierung in Richtung Erziehung zur Mündigkeit im Sinne Adornos zu erkennen gibt. Die Frage, wie das Stück genau in den einzelnen Inszenierungen interpretiert wurde, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Dazu müssten neben Programmheften und Kritiken in der Presse vor allem die jeweiligen dramaturgischen Eingriffe in das Bühnenstück untersucht werden. Die Analyse der Verfilmung zeigt, dass es sich um einen Medienverbund handelt, bei dem sich die Verfilmung eng an das Drama anlehnt; viele Figurenreden wurden wortwörtlich übernommen. Drehbuchverfasser, Regisseur und Schauspieler/innen, allen voran Emil Jannings, und andere Beteiligte schufen einen preisgekrönten Film, der die Zeitgenossen inhaltlich, technisch und ästhetisch begeisterte: junges und älteres Publikum, Partei- und Staatsangehörige, nicht zuletzt auch die Kritiker. Diese Wirkung erzielte er nicht, weil er wie typische Propagandafilme und propagandistische Spielfilme jener Jahre (vgl. zu dieser Gattungsfrage Strobel 2009, 134 ff.) NS-Ideologie in den Mittelpunkt stellte. Von den Schlussworten Niemeyers abgesehen („Denn wir sind nicht in dieses Leben geschickt worden, um ihm zu entfliehen, sondern um es zu bezwingen. Deshalb stählt und härtet euch, kämpft, siegt über euch selbst“) und dem Dialog zweier Internatsschüler („Ich gehe ganz bestimmt mal zur Schutztruppe, […], so durch die Steppe reiten und die Schwarzen vor sich her treiben“) ist der Film weder rassistisch noch offen propagandistisch. Aber er ist verdeckt propagandistisch und politisch in der Art und Weise, wie er vergangene Zeiten und deren Vertreter, samt ihren Moral- und Erziehungsvorstellungen lächerlich macht, sodass die NS-Machthaber ihn für das neue Deutschland funktionalisieren konnten. Es verwundert deshalb nicht, dass der Film nach 1945 (Abb. 3) nur mit wenigen Schnittauflagen freigegeben wurde. Kanzog zufolge mussten entsprechend der Prüfungen 1950 und 1969 das Tobiszeichen und der oben zitierte Dialog der beiden Schüler entfernt werden (vgl. Kanzog 1994, 112). Darüber hinaus wurden weitere Passagen entfernt, denn die gekürzte und zensierte Fassung umfasst nur eine Laufzeit von 95 Minuten, ist also um 25 Minuten kürzer als die Originalfassung mit zwei Stunden. Ausgestrahlt wurde sie in den vergangenen Jahren 1998 vom ZDF, 1999 von ORF2 und im Sommer 2009 mehrfach vom Sender sky.34 Der Vergleich beider Fassungen ergab, dass sich die Kürzungen auf die Bildsequenz in vielen Szenen beziehen, keine Szene wurde
34Vgl.
https://www.fernsehserien.de/filme/traumulus (05.01.2020).
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Abb. 3 Plakat von B. Arndt zur Wiederaufführung des Traumulus von 1949. (© DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum)
gänzlich geschnitten, größere Schnitte beziehen sich nur auf die Einblendungen des Zapfenstreichs. Zu meiner Verwunderung wurde auch Niemeyers letzter Satz nicht geschnitten, in dem er an die viel gepriesenen NS-Tugenden appelliert: sich stählen, härten, kämpfen, siegen. Während der Film in Originallänge nur für wissenschaftliche Zwecke über das Bundesarchiv zu beziehen ist, ist die gekürzte und in ihrer Aussage identische Fassung frei zugänglich, ohne Hinweise auf ihre Ursprungsfassung, deren Entstehungskontext, Wirkungszusammenhänge etc. Es wäre lohnenswert, die Rezeption dieser Fassung von Jugendlichen und Erwachsenen der heutigen Zeit zu untersuchen.
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Literatur Primärliteratur Holz, Arno/Oskar Jerschke: Deutsche Weisen. Berlin [u. a.]: Parrisius, 1884. Mann, Heinrich: Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen. Roman. München: Langen, 1905. Strauß, Emil: Freund Hein. Eine Lebensgeschichte. Berlin: Fischer, 1902.
Filmografie Der blaue Engel (D 1929/30) [Spielfilm]. Regie: Josef von Sternberg, Drehbuch: Robert Liebmann und Karl Vollmoeller, Musik: [u. a.] Friedrich Holländer, Ufa Berlin. Traumulus (D 1935) [Spielfilm]. Regie: Carl Froelich, Drehbuch: Robert A. Stemmle und Erich Ebermayer, Musik: Hansom Milde-Meißner, Froelich-Film GmbH, Berlin (Bundesarchiv); gekürzte, frei zugängliche Fassung, TaurusVideo GmbH, München 1994.
Theatrografie Holz, Arno/Oskar Jerschke [Pseud. Hans Volkmar]: Frei! Eine Männerkomödie in vier Aufzügen. München: Piper, 1907. Holz, Arno/Oskar Jerschke [Pseud. Hans Volkmar]: Gaudeamus! Festspiel zur 350-jährigen Jubelfeier der Universität Jena. Berlin: Sassenbach, 1908. Holz, Arno/Oskar Jerschke [Pseud. Hans Volkmar]: Heimkehr. Berlin: Sassenbach, 1903 [später u. d. T.: Die Perle der Antillen. Komödie in vier Akten. Berlin: Bloch, 1909]. Holz, Arno/Oskar Jerschke: Traumulus. Tragische Komödie. München: Piper, 1905. Holz, Arno/Oskar Jerschke: Büxl. Komödie in drei Akten. Dresden: Reißner, 1911. Holz, Arno/Oskar Jerschke: Deutsche Bühnenspiele. Ausgabe in einem Bande. Inhalt: Frei, Traumulus, Büxl. Dresden: Reißner, 1922. Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie. Zürich: Schmidt, 1891.
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„Da stelle ma uns mal janz dumm“ Die Feuerzangenbowle – eine Medienverbundanalyse Heidi Nenoff
Abstract Who wouldn’t know the cinematic movie Die Feuerzangenbowle (1944) with Heinz Rühmann? Characters such as Professor Crey (Schnauz), Professor Bömmel, Dr. Brett and Professor Knauer depict teacher types that can still make the audience smile today. This film enjoys cult status. In this contribution, the most important media in this multimedia collection will be analysed and compared: the novel, Die Feuerzangenbowle (1933) by Heinrich Spoerl (and Hans Reimann); his first film version So ein Flegel (1934); the second film adaptation Die Feuerzangenbowle (1944); and the third adaptation Die Feuerzangenbowle (1970, directed by Helmut Käutner). The theoretical basis for the analysis of this multimedia collection is the media compact term of Siegfried J. Schmidt. It justifies taking into account the production contexts, in particular those people involved in the production and their interests, and evaluating media on a theoretical basis. This allows uncovering the dynamics of the exponential spread of the material, which allows to explain how Die Feuerzangebowle became a cultural treasure and how values, norms and ideologies were passed on. Schmidt’s central thesis is that the results of the process incorporate the conditions of the particular media system as specific characteristics – and that this can be shown in this particular example of a media collection. The second film, in particular, came into the world like the head of Janus. On the one hand, this film is a masterpiece in the media collection. On the other hand, one must ask oneself to what extent this film, which came into existence during the Nazi dictatorship, is really as innocent as it appears.
H. Nenoff (*) Erziehungswissenschaft Fakultät, Grundschuldidaktik Deutsch, Universität Leipzig, Leipzig, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_18
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Einleitung – Bestandsaufnahme Die mehrfache Verwertung eines Erzählstoffs in Printmedien, als Film, Hörspiel und Hörbuch im Medienverbund ist ein kulturelles Phänomen der Gesellschaft im Zeitalter der „Kulturindustrie“ (Horkheimer/Adorno 2002, 128 ff.). Dieses Phänomen muss erst einmal beschrieben, dann im Hinblick auf die Produktionsprozesse und auf beteiligte Akteure analysiert und bewertet werden, wenn man die gegenwärtige Medienentwicklung verstehen und die Potenziale derartiger Medienverbünde sinnvoll nutzen will. Die Verfilmungen und die Hörspiel- bzw. Hörbuchbearbeitungen des Romans (Abb. 1) Die Feuerzangenbowle (1933) von Heinrich Spoerl1 (1887–1955) ergibt einen eindrucksvollen Medienverbund, an dem sich exemplarisch zeigen lässt, wie Kulturindustrie funktionieren kann und wie sich der Stoff in unterschiedlichen Medien verändert. Hauptsächlich wird sichtbar, wie er sich durch verschiedene Medien exponentiell verbreitet, sodass am Ende sogar buchstäblich jedes Kind die Feuerzangenbowle kennt. Bei der Analyse des Medienverbundes orientiere ich mich am Medienkompaktbegriff2 von Schmidt (2008), der einen systematischen Zugang zu diesem Phänomen erlaubt und durch den die Strukturen eines derartigen Medienverbundes im Hinblick auf Handlungsebenen und Komponenten von Medien offengelegt werden können. Dies ist notwendig, um zu rekonstruieren, wer mit wem und warum beim Zustandekommen von Medienprodukten agiert und wie was in welchen Prozessen wirkt und wie sich dies in den jeweiligen Prozessergebnissen zeigt, die bis in unsere Gegenwart wirken. Alles begann am 19. April 1933 mit der Veröffentlichung des ersten Teils des Romans Die Feuerzangenbowle, der als Fortsetzung bis zum 26. Mai 1933 in der liberalen Tageszeitung Der Mittag des Verlegers Heinrich Droste gedruckt wurde. Daraus entstand in den vergangenen 86 Jahren ein Medienverbund bestehend aus: a) Spoerls Roman mit ca. einer halben Million gedruckter Exemplare (vgl. Vitz 2004, 21) bis 1945 und ab 1945 bis 1998 nahezu jährlich einer neuen Ausgabe in mehreren Verlagen in immenser Größenordnung an gedruckten Exemplaren, b) die erste Verfilmung mit Heinz Rühmann (1902–1994) unter dem Titel So ein Flegel aus dem Jahr 1934, c) die Verfilmung mit Heinz Rühmann Die Feuerzangenbowle von 1944 und d) die Verfilmung von Helmut Käutner Die Feuerzangenbowle aus
1Spoerl
schrieb den Roman in Co-Autorenschaft mit Hans Reimann (1889–1969). Aus strategischen und politischen Gründen („Im Sommer 1932 war Reimanns Name […] alles andere als eine Empfehlung bei den Verlegern“; Ohmann 2010, 29) hat Spoerl das Werk als alleiniger Verfasser den Verlegern angeboten. Jedoch haben sich beide Autoren die Tantiemen für die Feuerzangenbowle konsequent bis an ihr Lebensende geteilt. Gegenwärtig streiten sich die Nachfahren der beiden Autoren immer noch um die rechtmäßige Autorenschaft (vgl. ebd., 20 ff.). 2Mit dem Medienkompaktbegriff beziehe ich mich auch auf den einleitenden Vortrag von Petra Josting und Annemarie Weber zur Tagung an der Universität Bielefeld am 15. Juni 2018 für das Projekt Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945. Darin wird der Medienkompaktbegriff von Siegfried J. Schmidt kurz vorgestellt. Als Basisliteratur für das theoretische Fundament dienen Schmidt/Zurstiege (2000) und Schmidt (2008).
„Da stelle ma uns mal janz dumm“
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Abb. 1 Cover Die Feuerzangenbowle. (Spoerl © Reprint [1933], mit einem Nachw. von Joseph A. Kruse, 2008)
dem Jahr 1970. Der Journalist und Chefreporter der Berliner Tageszeitung (B. Z.), Oliver Ohmann, schreibt in seinem 2010 veröffentlichten Werk Heinz Rühmann und die „Feuerzangenbowle“: „Die ‚Feuerzangenbowle‘ ist Kult. Seit Jahrzehnten begeistert Heinz Rühmann als ‚Pfeiffer mit drei f‘ sein Publikum.“ (Ohmann 2010, Klappentext). Tatsächlich kann die hier gemeinte Filmkomödie von 1944 (Abb. 2) als sehr beliebt in Deutschland gelten, wie bspw. die Meldungen über die Fernsehein-
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Abb. 2 Cover Die Feuerzangenbowle. (© Kinowelt Home Edition GmbH, 2009)
schaltquote 2017 im Internet belegen: „Die Feuerzangenbowle in der ARD hat an Heiligabend die Primetime-Quote klar dominiert.“ (Sallhoff 2017) Jedes Jahr in der Weihnachtszeit wird der 1944-Film mehrfach im Fernsehen ausgestrahlt.3 Dieser anhaltende Fernseherfolg resultiert aus seiner über die gesamte Nachkriegsgeschichte Deutschlands regelmäßigen Vorführung in Kinos in beiden Teilen Deutschlands. In den 1960er-Jahren habe der Film „den Sprung vom Kino ins Fernsehen gemeistert“ (Ohmann 2010, 149). Er solle „zu Zeiten der Teilung eine gesamtdeutsche Liebe“ (ebd., 153) und „Straßenfeger“ gewesen sein (ebd., 155). Daneben war der Roman auf dem Buchmarkt stets präsent. Die 1944er-Verfilmung und der Buchmarkt profitierten über 70 Jahre voneinander, wie zahlreiche CoverGestaltungen mit Rühmann belegen (als wären diese Ausgaben das „Buch zum
3Vgl.
Die Feuerzangenbowle. In: Quotenmeter, http://www.quotenmeter.de/tag/Die+Feuerzangen bowle (24.08.2019).
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Film“). Die Menge der Druckerzeugnisse ist so groß, dass die Anzahl der tatsächlich hervorgebrachten Bücher zwei Millionen gut erreichen dürfte. Lange vor Rühmanns Tod im Jahr 1994 gelangte der Film (1944) mit jährlichen Vorführungen zur Weihnachtszeit auch an die deutschen Universitäten. Es entstand der sogenannte Feuerzangenbowlen-Kult mit heißen alkoholischen Getränken. Göttingen und Aachen seien die Hochburgen des Rühmann-Kults. Insgesamt sei er mittlerweile an 30 Universitäten Tradition, die vor allem von Studierenden gepflegt würde (vgl. ebd., 161 f.). Zitate wie: „Bah, wat habt ihr für ne fiese Charakter!“, „Aber Herr Direktor, nor deesen wentzigen Schlock!“, „Wat is ne Dampfmaschin? Da stelle ma uns mal janz dumm“, mit den Sprecheigentümlichkeiten der Figuren der Professoren Bömmel und Schnauz (Crey) entwickelten sich zu geflügelten Worten (vgl. Brenner 2004, 15), insbesondere unter Lehrer/innen. Die beiden anderen Verfilmungen So ein Flegel (1933) und Die Feuerzangenbowle (1970) werden hingegen nur marginal rezipiert, stets vor dem Hintergrund der 1944er-Verfilmung im Vergleich oder für besondere Rühmann-Freunde. Der 1944er-Film war Auslöser für weitere Selbstläufer in anderen medialen Kontexten, die marktstrategisch durch die kollektive Erinnerung an Rühmann als Pfeiffer, Erich Ponto als Schnauz (Professor Crey) und Paul Henckels als Professor Bömmel besonders gewinnversprechend war. Es gibt eine Hörspielbearbeitung von 1970 unter der Leitung von Heinz Günter Stamm und Bernd Grasshoff.4 Es folgte 2003 eine Hörbuchfassung des Entertainers Götz Alsmann.5 Der Komponist Thorsten Wszolek produzierte 2004 ein Musical und läutete damit eine regelrechte Bühnen-Ära des Stoffes ein. Insbesondere in der Geburtsstadt von Heinrich Spoerl, in Düsseldorf, wurde das Theaterstück zur Tradition; nicht zuletzt im Gedenken an Spoerl, als Sohn dieser Stadt. Gegenwärtig ist von einem regelrechten Feuerzangenbowlen-Boom an deutschen Theatern die Rede, dies sei ein besonderes „Erfolgskapitel“ (Ohmann 2010, 166). Auch der Video-Vertrieb profitierte seit den 1980er-Jahren vom Dauererfolg der Feuerzangenbowle. Ab 1999 folgen DVD-Editionen und zuletzt im Jahr 2009 Blu-ray-Discs in der Zweitausendeins Edition (vgl. ebd., 149 und 176).
Der Medienkompaktbegriff als Analyse-Instrument des Medienverbundsystems Feuerzangenbowle Schmidt intendiert, mit dem Medienkompaktbegriff die Systemhaftigkeit von Medien und Medienverbünden zu erfassen. Medien sind stets eingebunden in ein komplexes System, das aus verschiedenen Handlungsbereichen mit ihren Akteuren (Aktanten) und aus verschiedenen Komponenten besteht, die sich alle wechsel-
4Vgl. ARD-Hörspieldatenbank,
http://hoerspiele.dra.de/vollinfo.php?dukey=1476455&vi=41&SID (24.08.2019). 5Vgl. Die Homepage von Alsmann, https://www.goetz-alsmann.de/?page_id=34 (24.08.2019).
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seitig konstituieren. „Mediensysteme sind Prozess-Systeme, also Wirkungszusammenhänge im Sinne der Allgemeinen Systemtheorie.“ (Schmidt 2008, 150). Eine Analyse und Deutung einzelner Medienangebote genügen nicht, weil sie das komplexe Bedingungsgefüge, den Kontext, die historische Dimension und die daran beteiligten Akteure mit ihren Absichten sowie die Wirkungen von Medien nicht ausreichend zu erfassen vermögen. Denn Medienangebote seien stets Resultate von komplexen Prozessen, als solche müssten sie analysiert, interpretiert und bewertet werden (vgl. ebd., 148). Auf der Ebene der Handlungsbereiche sind Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung zu nennen. Unter „Verarbeitung“ versteht Schmidt solche Prozesse, „in denen Medienangebote zum Gegenstand der Erzeugung neuer Medienangebote gemacht werden, wie die Verfilmung des Romans“ (ebd., 148). Auf der Ebene der Komponenten von Medien gilt es, vier Komponenten bei der Analyse, Interpretation und Bewertung zu bedenken: 1) Medien sind Kommunikationsinstrumente, 2) Medien sind hervorgebracht von Medientechniken, 3) Medien bedürfen institutioneller Einrichtungen bzw. Organisationen wie Verlage oder Rundfunkanstalten, um Medientechnik anzuwenden, zu verwalten, zu finanzieren, politisch und juristisch zu vertreten, und 4. sind es die Medienangebote selbst (vgl. ebd., 144 f.), „die aus dem Zusammenwirken aller genannter Faktoren hervorgehen“ (ebd.). Die „Prozessresultate“ führen die Bedingungen des jeweiligen Mediensystems als spezifische Charakteristika mit sich (vgl. ebd.). Was bedeutet zunächst die erste Komponente „Medien sind Kommunikationsinstrumente“ (ebd., 144) für die Analyse? Lege ich den Fokus auf das Instrument, dann sehe ich im Medium die bei der Interpretation stets mit zu bedenkende wesenhafte Form der Vermittlung von Botschaften über das geschriebene oder auf Tonträgern konservierte, gesprochene Wort, über die Musik und die auf Filmrollen gespeicherten Bilder, wodurch die zeitliche und räumliche Begrenzung überwunden (vgl. Hickethier 2010, 41 f.), aber auch von einem Erzeuger entsprechend seiner Intention sinnfällig geordnet, ästhetisch gestaltet und vor allem vervielfältigt und verbreitet wird. Die Eigentümlichkeit, stets nur ein begrenztes materielles Transportmittel/Medium zu sein, erfordert notwendig die Auswahl und Gewichtung von Aussagen. Es gilt bei der Analyse mit zu bedenken, dass dieses materielle Transportmittel von jemandem erzeugt wird: „Medien sind hervorgebracht von Medientechniken“ (Schmidt 2008, 146). Hinter einem Medium steht zumeist eine ganze Armada von Produzenten, die mit ihren begrenzten technischen und finanziellen Möglichkeiten selektieren müssen und eine Auswahl vornehmen, je nach deren Absichten. Denn Schmidts Definition: „Medien sind Kommunikationsinstrumente“ bezieht das Kommunikationsmodell (wiederum ein systemhaftes Bedingungsgefüge) mit ein, in dem die Aktanten (vgl. Hickethier 2010, 38 f.), Sender und Empfänger, eingeschrieben sind, die ihre Rollen stets wechseln und die sich wechselseitig bedingen. Für die Interpretation von Medien ist es nicht unerheblich, genau darauf zu schauen, wer die Aktanten sind und welche Absichten (vgl. ebd., 47) sie in den jeweiligen Situationen ver-
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folgen und welche Erwartungen auf beiden Seiten vorhanden sind. Damit ist zugleich die dritte Komponente von Schmidt angesprochen: „Medien bedürfen institutioneller Einrichtungen bzw. Organisationen“.6 Im Fall Feuerzangenbowle lassen sich folgende Sender-Aktanten und Institutionen bestimmen: die beiden Autoren Spoerl und Reimann, die Verlage (insbesondere der Droste Verlag), die Filmindustrie (die Filmproduktionsstätte Ufa) und die während der NS-Diktatur herrschenden Beteiligten. Jeder Aktant in diesem Handlungsbereich verfolgt Absichten in der Produktion von Filmen und Büchern; um Ästhetik muss es dabei nicht unbedingt gehen. Die Feuerzangenbowle wurde ursprünglich als Drehbuch für einen Kinofilm verfasst, von den Autoren zum Roman umgeschrieben und im Frühjahr 1933 in der Tageszeitung Der Mittag als Fortsetzungsroman gedruckt, mit Erfolg! (Vgl. Ohmann 2010, 22 f.) Es folgte im gleichen Jahr die Erstausgabe und im Dezember begannen die Dreharbeiten zu So ein Flegel. Damit zog die Feuerzangenbowle doch noch in die Kinos ein und wurde zum lohnenden Geschäft, denn die „kollektiven Rezipienten“ (Schmidt 2008, 148) in den Kinos waren ideale Multiplikatoren. Im Jahr 1943 wurden in Deutschland 1116,5 Mio. Kino-Besucher gezählt; das bedeutet 14,4 Kinobesuche pro Einwohner im Jahr (vgl. Lowry 1991, 4) – das Kino war ein kulturelles Massenphänomen. Innerhalb kürzester Zeit dürfte somit die Feuerzangenbowlen-Geschichte deutschlandweit bekannt gewesen sein, zumal So ein Flegel in der Fachpresse hoch gelobt wurde.7 Mit den Kino-Vorführungen verkaufte sich das Buch wiederum sehr gut, wie die Auflagen und die Anzahl der Drucke belegen.8 Der anhaltende Bucherfolg ließ dann im Jahr 1943 die Produzenten darauf hoffen, dass auch eine neue Verfilmung die Kinosäle gut füllen wird. Die Rezeptions- und Distributions-Geschichte des Feuerzangenbowlen-Stoffes zeigt also sehr deutlich, dass es sich hier um eine industrielle Produktion einer Ware handelt, für die es einen Absatzmarkt gibt. Der Marktwert steigt insbesondere durch die Nachfrage nach heiteren Filmen und Büchern, die es schaffen, durch Humor das Publikum zu zerstreuen. Die Produzenten bedienen die Bedürfnisse ihrer Kunden, deren „Ideologie ist das Geschäft“ (Horkheimer/ Adorno 2002, 145). Die beiden Autoren sind in diesem Sinne ebenso „Produzenten“ statt Schriftsteller oder Künstler. Bereits das Vorhaben, zu zweit ein Drehbuch zu verfassen, verrät die Intention der beiden (Teamwork ist typisch für Literaturware; vgl. Nusser 1991, 41): Es geht um ein Marktkonzept und Gewinn.
6Mit
der Ausnahme des Mediums Brief. Der Brief bedarf keiner Institution (vgl. Schmidt, 144). ausführliche, sehr lobende Rezension findet sich bspw. in Der Kinematograph (So ein Flegel 1934). 8Mit Hilfe des Karlsruher Virtuellen Katalogs (KVK) ließ sich folgende Anzahl der Drucke in den Auflagen des Droste-Verlags Düsseldorf rekonstruieren: 1933 sind es 20 Tsd., bis 1937 50 Tsd., bis 1938 80 Tsd., bis 1940 227 Tsd., bis 1941 350 Tsd., 1942 (Propaganda Ostland) keine Angaben der Zahl der Drucke, bis 1943 (Feldpostausg.) 515 Tsd., 1944 (Wehrmachtsausg.) keine Angaben der Zahl der Drucke. Insgesamt kann von rund einer halben Million gedruckter Exemplare von 1933 bis 1945 ausgegangen werden. 7Eine
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Die Schulhumoreske von Ernst Eckstein Besuch im Karzer (1875) diente dabei als Rohmaterial, aus dem ganze Textpassagen übernommen wurden, mitsamt sprachlicher Eigentümlichkeiten der Figuren (vgl. Ohmann 2010, 19). Zur „optimalen merkantilen Verwertung“ (Nusser 1991, 42) des Stoffes wurde der Film zehn Jahre nach der Uraufführung von So ein Flegel ein zweites Mal gedreht. Möglich, dass Spoerl mit der von der Buchvorlage erheblich abweichenden Fassung der Erstverfilmung nicht zufrieden war und nun die Chance sah, einen besseren Film zu produzieren, aber er traf auch den Nerv der Zeit, denn heitere Filme waren 1943/1944 nicht nur gefragt, sondern auch politisch gewollt. Die deutsche Filmproduktion stand unter der Führung des Reichspropagandaministers Goebbels und daher im Dienst der Diktatur. Goebbels belegte die Filmproduktionsstätte Babelsberg mit der Auflage, jährlich 110 Filme zu produzieren. „Im Geschäftsjahr 1943/1944 machte die Ufa einen Reingewinn von 175 Mio. Reichsmark. Eine große Summe davon floss in die Rüstung.“ (Ohmann 2010, 138) Der NS-Staat verfolgte genauso merkantile Interessen wie Autoren und Filmproduzenten. Die Produktion von Filmen war eine wichtige Einnahmequelle für den Staat, um Rüstung und Krieg zu finanzieren. Heitere Filme galten unter der NS- Führung als besonders geeignet. Jedoch bot die Produktion von heiteren Filmen noch viel mehr Vorteile als bloß gute Einnahmen. Horkheimer und Adorno, die die NS-Zeit im Exil erlebt haben, analysieren 1944 äußerst medienkritisch die Vorteile durch eine besondere Wirkung von heiteren Filmen, die über merkantile Interessen hinausgehen. Im Lachen ertöne das „Echo des Entrinnens aus der Macht“ – Lachen „bewältigt die Furcht“, aber nur scheinbar, und wird so „zum Instrument des Betrugs am Glück“, denn „[i]n solcher Harmonie bieten sie das Zerrbild der Solidarität.“ (Horkheimer/Adorno 2002, 149). Insbesondere unter den Bedingungen der Diktatur und im Krieg haben heitere Filme eine diktaturfreundliche, quietisierende Wirkung, denn sie würden dem Konsumenten „keinen Augenblick die Ahnung von der Möglichkeit des Widerstandes“ geben (ebd., 150) und sie lassen „alle Bedürfnisse […] als erfüllbare“ erscheinen. Für den Machthaber besonders günstig ist dieser Zusammenhang: „Vergnügen heißt Einverstandensein. […] Nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, […] Flucht vor den Gedanken an Widerstand“ (ebd., 153). „Der Faschismus […] hofft darauf, die von der Kulturindustrie trainierten Gabenempfänger in eine reguläre Zwangsgefolgschaft umzuorganisieren.“ (Ebd., 170) Mehr als die Hälfte aller Filme, die zu dieser Zeit gedreht wurden, waren aus diesem Grund sogenannte H-Filme, heitere Filme (vgl. Curstädt 2018, 404). Eine Recherche von Ben Urwand zeigt auch Hitlers Affinität zum Film. Hitler habe an eine „mysteriöse, fast magische Macht“ (Urwand 2017, 21) von Filmen geglaubt; Bücher seien hingegen im Vergleich zum Film wertlos (ebd., 22). Denn der Film brächte mit viel weniger Aufwand weitaus größeren Propagandaerfolg. Diese Aussage belegt Urwand mit einem Zitat Hitlers: „Das Bild bringt in viel kürzerer Zeit, fast möchte ich sagen, auf einen Schlag, dem Menschen eine Aufklärung, die er aus Geschriebenen erst durch langwieriges Lesen empfängt.“ (Hitler; zit. nach Urwand, ebd., 22 f.) Mit
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Hilfe der neuen Kino-Technologie könnten sich die „Ansichten einer großen Menschenmenge möglicherweise schnell und ohne viel Aufhebens […] ändern“ und eine „machtvolle Wirkung entfalten“ (ebd., 23).9 Insbesondere schwor man auf die subtile Wirkmacht der H-Filme. Goebbels habe sich dafür eingesetzt, mehr unbescholtene Filme zu produzieren, da „Propaganda am wirkmächtigsten“ sei, „wenn sie vom Publikum nicht sofort als solche durchschaut wird.“ (Hoffmann 2017, 89) Quellenforschungen förderten zutage, dass sich Filmproduzenten in Babelsberg diesen Absichten und Zielen vollkommen unterworfen haben, wie ein Briefwechsel aus dem Jahr 1933 zwischen Ufa-Wirtschaftschef Wilhelm Meydam und dem Manager Ernst Hugo Correll zeigt. Wilhelm Meydam (Ufa-Management/ Wirtschaftschef) schreibt: Wir müssen uns also darüber klar sein, dass die Zuschauermassen in- und ausserhalb der deutschen Grenzen Entspannung suchen, dass also in unserem gesamten Bemühen der heitere Film die erste Rolle spielen muss. (Zit. nach Rother 2017, 26)
Ernst Hugo Correll (Manager der Ufa seit 1928, Direktor der Ufa) antwortet: Die Ufa hat auch eine kulturelle Aufgabe zu erfüllen, die für die nächste Zeit nur darin wird bestehen können, die staatspolitischen Auffassungen und Weltanschauungen der Regierung zu fördern. (Zit. nach ebd., 27)
Die Ufa stand nachweislich im Dienst „der Regierung“ und beteiligte sich sogar auch am Kriegsverbrechen „Zwangsarbeit“.10 Aus diesen Forschungsbefunden resultieren schließlich ziemlich einheitliche Beurteilungen vonseiten der Filmwissenschaft über die NS-Unterhaltungsfilme: Die „vermeintlich unpolitischen Filme haben eine eminent ideologische Funktion“ (Lowry; zit. nach Mailänder 2017, 117). Diese Filme gaben ein „beschönigtes Bild des Nationalsozialismus“ (ebd.) ab. Curstädt resümiert: „Das NS-Kino ist vielleicht das nach- und reichhaltigste Beispiel für eine erzwungene Vereinnahmung der siebten Kunst durch die Staatsräson.“ (Curstädt 2018, 404) Die Feuerzangenbowle sei eine „warmherzige Klamotte, die 1944 niemanden mehr für die Ideen und Ideale der National-
9Zu diesem Zweck unterscheidet Hitler zwei Sparten Filme: die Kunst und die Propaganda. Für einen bedeutenden Propaganda-Film wurde Hitler selbst zum Filmproduzenten. Er beauftragte bspw. die Regisseurin Leni Riefenstahl damit, den Nürnberger Reichsparteitag von 1934 aufzunehmen. Das Ergebnis war der Film Triumph des Willens (ebd., 47) und daraus folgend weitere solche Filme von Riefenstahl. 10Die Zwangsarbeit wurde von Friedrich Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz von fünf Millionen Menschen, organisiert. Nur 200.000 sind freiwillig nach Deutschland gekommen. Sauckel wurde 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zum Tode durch den Strang verurteilt (vgl. Püschel 2017, 163). Babelsberg war 1939 größter Filmbetrieb Europas mit 65 wehrwirtschaftlichen Betrieben mit fast 13.000 Mitarbeitern. Die Belegschaft der Ufa bestand aus 4500 Mitarbeitern (ebd., 165). Die Zwangsarbeit in der Filmstadt Babelsberg „vollzog sich nach gleichen Regularitäten wie in allen anderen Einsatzbereichen“ (ebd.). Zwangsarbeiter wurden in Lagern untergebracht. Dort trennte man die aus ganz Europa Verschleppten nach Nationalitäten mit Hierarchien. Aus Osteuropa Verschleppte galten als rassisch minderwertig und wurden entsprechend behandelt (vgl. ebd.). Neben dem Gelände der Ufa wurde von der Firma ein Gebiet erworben und ein Barackenlager für 600 Insassen errichtet (ebd., 166).
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sozialisten gewinnen […], sondern als humoristische Zerstreuung und Ablenkung vom tristen Bomben- und Kriegsalltag“ dienen sollte (ebd., 407). Der Film sei im Hinblick auf die „nationalsozialistische Ideologie weder zwingend gut noch böse, aber mit Sicherheit nicht unschuldig“ (ebd.). Der Film Die Feuerzangenbowle ist also unter denkbar ungünstigen Verhältnissen im Zeitraum zwischen dem 18. März 1943 und dem 28. Januar 1944 produziert worden und hatte trotz der Förderung von H-Filmen sogar Startschwierigkeiten. Goebbels wollte diesen Film wegen der Verunglimpfung der Berufsgruppe der Lehrerschaft verbieten. Rühmann reiste daher mit der Filmrolle im Gepäck persönlich zur Wolfsschanze, zum Führerhauptquartier, um sich die Genehmigung des Films von Hitler abzuholen. Hitler soll lediglich nachgefragt haben, ob dieser Film lustig sei, und habe in Bejahung dieser Frage den Filmstart freigegeben (vgl. Ohmann 2010, 114 ff.). Dieser historische Kontext ist bei der Analyse der „Prozessresultate“, die „die Bedingungen des jeweiligen Mediensystems als spezifische Charakteristika mit sich führen“ (Schmidt 2008, 144 f.), stets mit zu bedenken. Die Erfolgsgeschichte von Buch und Film nach 1945 belegt, dass ein Mediensystem konstitutiv ein „sich selbst organisierendes“ ist (ebd., 145), wenngleich von Menschen gemacht und von deren (merkantilen) Interessen im Angebot-Nachfrage-Mechanismus geprägt ist. Dem Wachstum eines Rhizoms gleich wuchs in den vergangenen 85 Jahren wie oben aufgezeigt die Bedeutung der Feuerzangenbowle bis hin zum Kultfilm, zum Lieblingsfilm der Deutschen. Einen wesentlichen Anteil an dieser Berühmtheit hat Heinz Rühmann, der von Karl Valentin zynisch „Reichsgaudibursche“ genannt wurde (vgl. Winkler 1992).
Der Roman Die Feuerzangenbowle (1933) Spoerls Bücher sollen „Lachen und Freude“ gebracht haben und „klar und kurzweilig, schnörkellos und unaufdringlich“ gewesen sein (Ohmann 2010, 204). Sie sind zweifelsohne professionell gemachte populäre Unterhaltungsromane. Klar und kurzweilig ist auch die Feuerzangenbowle des Autorenteams Spoerl und Reimann.11 Es ist hier zu zeigen, dass dieser Roman typische Merkmale popularkultureller Literatur aufweist und zu den „Lesestoffen der ‚kleinen Leute‘“ (Nusser 1991, 46) gezählt werden kann, was seine Beliebtheit auch zu erklären vermag. Die Romanstruktur lässt sich wie folgt beschreiben: Vier wohlsituierte, bürgerliche Herren sitzen bei einer Feuerzangenbowle in einer Schenke und geraten über frühere Schulstreiche ins Schwärmen. Diese muntere Gesellschaft bildet den Rahmen der Erzählung. Die darin eingefassten Episoden resultieren aus
11Da
Spoerl aus den o. g. Gründen als alleiniger Verfasser auf den Covern der Ausgaben vermerkt ist, werde ich im Folgenden die Zitate auch nur mit „Spoerl“ kennzeichnen.
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einem (scheinbaren) Problem der Figur des Schriftstellers Hans Pfeiffer, das aus der Perspektive einer übergeordneten Erzählinstanz (auktoriale Erzählweise) dargestellt wird. Das Problem Pfeiffers besteht darin, solche Streiche verpasst zu haben. Mit dem Entschluss, das Verpasste nachzuholen, kommt die Erzählung in Gang. „Ein Wunschtraum wird zur Tat“ (ebd., 13): Pfeiffer schlüpft in die Primaneruniform und begibt sich ans Gymnasium in die Kleinstadt Babenberg,12 wo possenhafte Schulstreiche stufenartig ansteigend, in einem Finale mündend aneinandergereiht werden. In diese Geschichte ist zudem eine Liebesgeschichte eingewoben. Hans verliebt sich in die Tochter des Schuldirektors, in Eva. Der Roman endet in einem „traurigen Happy-End“, das dazu dient, die Geschichte als Fiktion zu enttarnen. Der Erzähler spricht zum Leser und berichtet mit einem Pathos eines melancholischen Weltweisen, dass leider alles nur erfunden war: „Wahr an der Geschichte ist lediglich der Anfang: die Feuerzangenbowle.“ (Spoerl 1990, 171). Diese Handlung hat Spoerl in das Wilhelminische Zeitalter (um 1910) verlegt, eine Zeit, die zahlreiche Zeitgenossen (1933) als Goldenes Zeitalter gesehen haben, wo die Welt noch in Ordnung gewesen sei, wonach sich der implizite Erzähler und die fiktiven Leser/innen sehnen. Erzähler und Leser/innen bilden nämlich eine „Wir-Gemeinschaft“ und wünschen sich das Gleiche, wie die finale Rede des Erzählers zeigt: „Wahr sind die Sehnsüchte, die uns treiben.“ (ebd., Hervorh., H. N.). Bereits an der Struktur des Romans lassen sich typische Merkmale von Volkserzählungen benennen. Mit dem Rollentausch Pfeiffers vom Schriftsteller zum Gymnasiasten trägt der Roman Züge einer Verwechslungskomödie, in der sich der Spaß am Rollentausch am Ende noch einmal wiederholend steigert, in dem sich der vermeintliche Primaner als Lehrer Schnauz verkleidet. Das Komödiantische gehört traditionell ohnehin zur Poesie des Volkes. Die darin enthaltenen Possen, hier als Schulstreiche und Verwechslungen, haben strukturell eine Ähnlichkeit mit dem volkstümlichen Schwank (vgl. Nusser 1991, 93).13 Diese schwankähnliche Handlung, die Aneinanderreihung von Possen, folgt der „Strategie des Aktionismus“ (ebd., 129) für solche Lesestoffe. Charakteristisch für populäre Lesestoffe ist auch die Typenhaftigkeit der Figuren, die sich an „bestimmten Rollenklischees“ (vgl., ebd., 41) ausrichten, wobei die Hauptfigur Pfeiffer, die Identifikationsfigur für die Leser entsprechend deren Wunschvorstellungen und der Sehnsucht nach der ‚heilen Welt‘ abbilden
12In
der ursprünglichen Fassung von 1933 reist Pfeiffer in die Kleinstadt Odernitz (vgl. Spoerl 1933, 23). Diese Stadt wird erst nach den ersten Filmerfolgen in „Babenberg“ umbenannt, um den Bezug zu Babelsberg, zur Filmfabrik, herzustellen. 13Der Schwank ist „im volkstümlichen Stil gehalten“, ähnlich einer „Anekdote, verwandt mit der Kurzgeschichte“, „mit derb-drastischem, nicht selten zotigem Inhalt“ (Straßner 1978, 1). Er diene „der Verspottung“, biete „leichten Humor, harmlose Heiterkeit ohne Problematik“ und „unbeschwerte Fröhlichkeit“ (ebd., 3). Der Schwank sei im Grunde keine Moralerzählung, da er nicht „zur Tugend“ ermahne, sondern vielmehr mit „desillusionierendem Impetus […] wohlgelungene Streiche“ erzähle, die zuweilen ins Obszöne abgleiten (ebd., 3 f.).
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soll (vgl. ebd., 126). Denn diese Texte sind so verfasst, dass sie die vermeintlichen Erwartungen der realen Leser antizipieren. Den Leserwünschen soll bspw. die Redegewandtheit und Gewitztheit von Pfeiffer entsprechen. Pfeiffer ist überdies ein bürgerlicher Schriftsteller mit Erfolg und Reichtum: „Er hat als junger Schriftsteller bereits einen großen Namen“, um dessen Bücher „sich heute die Verleger reißen“, seine Schriften sind „weltberühmt“ (Spoerl 1990, 11), aber auch konservativ und völkisch, da er „an den Vereinigten Werkstätten für Vaterländische Heimkunst arbeitet“ (ebd., 14). Spoerl intendierte offensichtlich, den (klein-)bürgerlichen Leser/innenkreis anzusprechen, der als Käufer in Frage kommt, und diese nostalgisch völkische Haltung goutiert. In der Altherrenrunde ist Pfeiffer, dieser „Benjamin der Gesellschaft“ (ebd.), von Vertretern des aus dem Gelehrtenstand (wie z. B. „der Justizrat“, ebd., 8; der „Bankier“, der „Herr Geheimrat“, ebd., 154) hoch angesehen. Sein Stand und Ansehen erlaubt es ihm, auch mal aus dem bürgerlichen Leben vorübergehend auszubrechen und im gewissen Rahmen – im Bereich des Harmlosen – sich den Normen (im wilhelminischen Schulalltag) zu widersetzen. Er ist trotzdem würdig, die Tochter des Schuldirektors zu freien: „Hier ist mein Reifezeugnis, hier mein Doktordiplom, hier die Abrechnungen meines Verlegers, und hier […] mein Einkommensbescheid.“ (Ebd., 170) Im Umgang mit Eva verhält er sich den bürgerlichen Konventionen gemäß gesittet, geradezu naiv keusch, wie ein Blindekuhspiel als Liebesplänkelei zeigt (vgl. ebd., 89). Das Eheversprechen mit seiner Verlobten Marion braucht er nicht brechen, denn dies erledigt Marion für ihn. Damit wird Pfeiffers moralische Loyalität in grundsätzlichen Fragen des Lebens an keiner Stelle angezweifelt. Die Figur Pfeiffer ist trotz dieser gewonnenen Erfahrungen im Experiment Schule und trotz des Wechsels der Partnerin eine statische und simple Figur, ohne Entwicklung der Persönlichkeit, ohne Konflikte oder innere Zerrissenheit. Er ist am Ende des Romans das, was er anfangs gewesen war: der erfolgreiche Schriftsteller. Sein Problem, Schulstreiche verpasst zu haben, ist an Flachheit kaum zu überbieten.14 Daher ist eine Entwicklung dieser Figur gar nicht zu erwarten. Ebenso als „bloße Personenhülsen“ (Nusser 1991, 127) sind die Lehrerfiguren als zentrale Figuren der Komik angelegt. Professor Crey (Schnauz) verkörpert den Typus des ehrgeizigen, bürgerlich gebildeten und schon etwas ältlichen, schrulligen Junggesellen mit karikaturenhaftem Äußeren (Spitzbauch, goldene Uhrenkette; vgl. Spoerl 1991, 18). Dieser Ehrgeizling von Lehrer ist gegenüber neuen Unterrichtsmethoden aufgeschlossen (vgl. die Episode im Chemiekabinett, die zeigt, dass das Experiment der Anschaulichkeit des Unterrichts dient), dennoch ist er der Versager, der letztlich gar nichts lehrt, weil er Mühe hat, die Schüler zur Räson zu bringen. Im Roman rivalisieren Schnauz und Pfeiffer um die Gunst von
14Witte
sieht in dieser Handlungsmotivation, Schulspäße verpasst zu haben, das „barocke Motiv des Innewerdens von ‚Ich habe nicht gelebt‘: ubi sunt, hieß es einst. […] die Erkenntnis vom verpaßten Leben [wird] zur Ersatzerinnerung an die gute alte Zeit umgemünzt.“ (Witte 1995, 241)
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Eva, wobei Schnauz dabei jämmerlich abschneidet. Auf der Wippe im Park wird Schnauz von Eva final der Lächerlichkeit preisgegeben. Crey und Professor Bömmel hat Spoerl mit dem Mundartwitz ausgestattet, mit jener volkstümlichen Lokalposse, mit der das Abweichende zum Objekt des Spottes gemacht werden kann. Gerade dieser „Unterhaltungseffekt“ soll besonders „ideologisch wirksam“ sein (Nusser 1991, 93). Professor Bömmel verkörpert den alten, schon etwas trottligen (bummligen), antiautoritären Lehrertypus, der aufgrund seines Alters und seiner Schulerfahrung jegliche Anstrengung aufgegeben hat, bei Schülern etwas bewirken zu wollen. Der jugendliche Lehrer mit dem sprechenden Namen Dr. Brett „gehört zu den Lehrern, die es nicht nötig haben, den trockenen Lehrstoff durch gequälte Witze schmackhaft zu machen“ (Spoerl 1991, 41). Er kann die Schüler mit der Sache selbst begeistern: „Wenn er sprach und mit verhaltener Stimme auf die entscheidende Wirkung hinsteuerte, hätte man das Fallen einer Stecknadel hören können.“ (Ebd.) Mit Gymnastik im Kommandoton hat er die Schülerbande im Griff, wenngleich sie hinterm Rücken des Lehrers trotzdem Unfug macht (vgl., 21). Mit Prof. Knauer, dem Schuldirektor, verbindet Spoerl den Typus der vermeintlich unnahbaren Autoritätsperson, die daher mit dem Spitznamen Zeus versehen wurde (vgl., ebd., 27). Dennoch wird auch seine Autorität untergraben, indem er als konfliktscheu und „schrullig“ charakterisiert wird: „Er war das Gegenteil eines Schultyrannen; seine Größe bestand darin, alle überflüssigen Konflikte […] zu vermeiden und die kleine Anstalt mit Wohlwollen und Sanftmut im Geleise zu halten.“ (Ebd.) Seine „Schrulle bestand in einer kleinen Mappe, die er stets und ständig unter dem Arm trug. […] Wahrscheinlich nahm er sie auch mit ins Bett.“ (Ebd.) Im Dialog zwischen Pfeiffer und Knauer wird seine Autorität endgültig desavouiert, in dem er Pfeiffer auffordert, nicht zu denken und dann doch zu denken (vgl. ebd., 28).15 Gleich der Typenhaftigkeit der Lehrpersonen sind die Schüler mit Charakteristika versehen, die bei den Leser/innen einen hohen Wiedererkennungseffekt haben, da sie den allgemeinen Erfahrungen entsprechen. So gibt es den „leichenblassen“ (ebd., 20) Streber Luck, der Zielobjekt von andauernden Hänseleien seiner Mitschüler ist. Im Roman wird Luck um Anerkennung heischend mit dem Aushang „Wegen baulicher Veränderung […] Schule geschlossen“ (ebd., 91) diesen Streich ausführen, ohne die ersehnte Anerkennung zu bekommen, obwohl er sich selbst anzeigt und auf Bestrafung und damit auf Ruhm unter den Schülern hofft.16 Eine zweite wichtige Schülertype ist der Anführer der Klasse Rosen, der jedoch dem witzigen, einfallsreichen Pfeiffer überraschend schnell das Feld räumt. Mit dieser Typenhaftigkeit der Figuren entspricht der Roman dem
15Zur
Typenhaftigkeit der Lehrpersonen vgl. auch die ausführliche Charakterisierung der Lehrer in der Feuerzangenbowle in Grimm/Rieger 2011, 65. 16In diesem Punkt weicht der später gedrehte Film (1944) von der Romanvorlage ab. Im Film versucht Rosen, Pfeiffer zu denunzieren.
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Prinzip der Serialität, dessen populäre Romane bedürfen, um dem Publikumsgeschmack zu bedienen. Den Erwartungen entsprechend liefert der Roman klar umrissene Figurentypen, die aus den Gattungen der volkstümlichen Literatur entnommen worden sind (vgl. Horkheimer/Adorno 2002, 142 und 163 f.). Einen Teil der skurrilen Lehrertypen haben Spoerl und Reimann, wie bereits erwähnt, aus anderen Schulromanen entnommen und sich damit der Serialität der Figuren bedient. Dies ist sogar im Roman erwähnt: „Imitiert der Mann [Prof. Crey; Anm. H. N.] wirklich den Professor Heinzerling aus Ecksteins ‚Besuch im Karzer‘?“ (Ebd., 19). Den Leser/innen wird in der Wir-Gemeinschaft von den Autoren das geboten, was sie bereits kennen und bestätigen können. Die Darstellung komplexer Zusammenhänge gesellschaftlicher Strukturen wird vermieden, indem sich sowohl Figuren als auch die Handlungsführung „an bestimmten Rollenklischees“ (Nusser 1991, 41) orientiert und man sich auf einen „eng begrenzten Ausschnitt der Wirklichkeit“ (ebd., 51) beschränkt. Der eng begrenzte Ausschnitt der Wirklichkeit ist die Darstellung eines Gymnasiums in einer Kleinstadt. Die Großstadt, aus der Pfeiffer stammt, wird im Roman gar nicht thematisiert. Gesellschaftliche Zusammenhänge werden nur scheinbar aufgezeigt, die aber – wie man später sehen wird – einseitig, einfach, geradezu strickmusterhaft sind und abbilden, was sich ein Laienphilosoph denkt, der sich mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen zufriedengibt. Die Lebensweisheiten, die der Erzähler zumeist dem Sympathieträger Pfeiffer in den Mund legt, sind dennoch aufschlussreich und beachtenswert, denn sie geben Einblick in die Mentalitätsgeschichte aus der Zeit der Entstehung des Romans. Im Dialog zwischen Pfeiffer und Luck wird folgendes Bild vom Menschen vermittelt: Der Mensch ist von Natur aus roh und ohne Mitleid. Genau wie die Natur selbst. Auch die Kinder sind es noch. Sie quälen Tiere, rupfen den Fliegen die Beinchen aus, schneiden Regenwürmer in Scheiben und denken sich nicht Böses. Mitleid ist Kulturerzeugnis und wird anerzogen. […] [I]mmer da, wo sich Menschen bilden, wo der Mensch zur Menge wird, regen sich tiefe Instinkte. Denk an die Volksversammlungen, an Lynchjustiz [sagt Pfeiffer zu Luck, H. N.]. Abgesehen davon, hat aber auch jeder einzelne das Bedürfnis, seine Bosheit irgendwo auszulassen oder wenigstens die schlechte Laune. […] Nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes nimmt man sich dazu einen möglichst Schwachen. […] Das [Klugsein; H. N] können sie nicht ertragen […] sie werden dem Schwachen immer beweisen, daß ihm seine Klugheit nichts nutzt. (Ebd., 69 f.)
Der Mensch sei also von Natur aus roh, heißt es zunächst. Dies rekurriert auf ein Menschenbild, das mit der Tradition protestantischer Erbsündenlehre und mit einem Fortschrittsoptimismus (des 19. Jahrhunderts) verwoben ist und nicht unreflektiert bleiben kann, da es den Vertretern der Zuchtpädagogik die Argumente zuspielt, den Sozialdarwinismus, der sich in der Geschichte als diskriminierend erwiesen hat, bestätigt und schließlich zeithistorisch der im Kommen befindlichen
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Rassenideologie nicht widerspricht.17 Dieses Menschenbild zeigt nur eine Seite eines tradierten Naturrechtsdiskurses, der eben auch eine Gegenposition kennt, nämlich die Vorstellung davon, dass das Kind von Natur aus gut ist, da das Natürliche per se das Gute und Erstrebenswerte ist.18 Nach der hier geäußerten Vorstellung bedarf der Mensch der Veredelung durch die Erziehung und Bildung. Die Erwähnung der „Volksversammlungen“ als Ort, an dem die Bosheit „ausgelassen“ werden kann (Ironiesignale sind hier nicht zu erkennen), zeigt eine deutliche Ablehnung des Autors gegenüber Massenaufmärschen (des Mobs). Die Brutalität, die in Volksversammlungen zum Vorschein kommen kann, ist daher nicht im Sinne des Sympathieträgers Pfeiffer (und des impliziten Erzählers). Vielmehr erlaubt diese Äußerung Rückschlüsse auf Pfeiffers elitäres Denken. Dafür spricht auch die dem Roman inhärente Wertschätzung des deutschen Gymnasiums mit dem spezifisch nationalen Bildungsangebot. Der Eingangsspruch: „Dieser Roman ist ein Loblied auf die Schule, aber es ist möglich, daß die Schule es nicht merkt“ ist ernst gemeint. Pfeiffer verteidigt das Gymnasium daher an mehreren Stellen im Roman: Das Gymnasium hat natürlich mit Beruf und Brotarbeit nichts zu tun. In diese Tretmühle kommt man früh genug. Ein Gymnasium ist keine Fortbildungsschule. Wenn es darum geht, schnell ans Verdienen zu kommen, und wer den Menschen nur nach Brieftasche und Bankkonto bewertet, der braucht allerdings kein Gymnasium. Der wird auch nie begreifen, daß es noch andere Werte gibt, die sich nicht in Mark und Pfennig ausdrücken lassen, geistiges Besitztum, das man nicht kaufen, aber auch nie mehr verlieren kann. Das einen aus dem Dreck des Alltags heraushebt, Erholung für gute Tage und Trost und Zuflucht, wenn es einem mal dreckig geht. Sehen Sie, dafür gehen wir aufs Gymnasium. (Ebd., 57 f.) [D]as Gymnasium ist eine bürgerliche Institution und dient einem bürgerlichen Ideal. (Ebd., 140)
Dem bürgerlichen Ideal gemäß, sieht die im Roman erwähnte Schullektüre aus. Man liest in den deutschen Gymnasien die Werke der deutschen Klassiker Goethe (ebd., 129), Schiller (ebd., 45) und Hölderlin (ebd., 129). Es werden jedoch nicht irgendwelche beliebigen Werke dieser Autoren genannt, sondern
17Vgl. hierzu Dieter Richter, der schreibt: „Die christliche Vorstellung von der natürlichen Verdorbenheit der kindlichen Natur […] blieb eines der prägenden Momente abendländischer Anthropologie und Erziehungstheorie“ (Richter 1993, 3) und prägend für „protestantische Erziehungskonzepte“ (ebd.). „Eine leidenschaftliche Debatte um böse Kinder […] setzte gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Anschluß an die Veröffentlichungen des italienischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso ein“ (ebd., 10). Er war „sozial-darwinistischen Gedankengängen verpflichtet, bemühte sich, in groß angelegten empirischen Untersuchungen Merkmale [Rasse, Schädelform, Körperbau; H. N.] sogenannter ‚geborener Verbrecher‘ herauszuarbeiten […]. Lombroso führt als gemeinsame Merkmale von Kindern und Verbrechern die Neigung zur ‚Rottenbildung‘, Freude an Tierquälerei […] an.“ Seine Arbeiten […] über „minderjährige Verbrecher [war] eine Art Schlüsselthema“ (ebd.) in dieser Zeit. 18Ein bedeutender Gegner der hier vorgestellten Position ist bspw. J. J. Rousseau, dessen positives Kindheitsbild in der stoischen Tradition und den Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter verwurzelt ist (vgl. Assmann 1978, 101).
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jene über große, ruhmreiche Helden: Götz von Berlichingen, Wilhelm Tell, Wallenstein, Hyperion und Faust. Zu diesem Klassikertrio kommt der Philosoph des Übermenschentums, Friedrich Nietzsche (ebd., 129), und zur Krönung der Dichter des Elfenbeinturms, Stefan George, gleich zweimal hinzu (ebd., 103 und 137). Es ist ausgerechnet der leichenblasse Streber Luck – da es zu einem gewissen elitären Denken dazu gehört –, der sich in seiner Freizeit mit Gedichten von George beschäftigt. Während eines Trinkgelages in der Atmosphäre von „Burschenherrlichkeit“ (ebd., 138) rezitiert Luck George und Hölderlin. Das Loblied auf die Schule und auf die bürgerliche Bildung, die Hochschätzung der großen deutschen Dichter und deren Werke über deutsche Ritter und andere heldenhafte Kämpfer, die Erwähnung von Friedrich Nietzsche, Friedrich Hölderlin und Stefan George offenbart einen dem Text eingeschriebenen, attitüdenhaften Standesdünkel bürgerlich konservativer Kreise. Dass Pfeiffer außerdem „an Vereinigten Werkstätten für Vaterländische Heimkunst arbeitet“, verbindet diesen Standesdünkel mit einer völkisch-nationalistischen Gesinnung dieser Figur. Hinzu kommt Lucks Vorliebe für die Gedichte von Stefan George. Spoerl spielt damit auf die Anhängerschaft einer „um 1919 […] geschichtspolitische[n] Idee [an], die in den folgenden Jahrzehnten sowohl in konservativen als auch in progressiven Kreisen beträchtliche Faszination entfaltete“ (Kiesel 2018, 121). Fasziniert waren jugendliche Ästheten, wie der leichenblasse Luck ihn verkörpern soll, von Georges „geheimen Deutschland“, in dem der Dichter und seine Gefolgschaft die Deutschen aus „seiner berg- und höhlenentrückung herauf ans licht“ führt und ihnen „die tiefe zuversicht für eine zukunft“ gibt (George; zit. nach Kiesel, ebd.; Orth. so im Original). Georges Anhängerschaft träumte vom „Zweiten Reich“ und von der „Wiedergeburt des alten ‚Heiligen Römischen Reichs deutscher Nationen‘“ (vgl. ebd., 131 f.). Hölderlins Gedichte, die Luck mit Georges Gedichten vermischt, galten als Kunst einer Dichtergröße von göttlicher Dimension, der für George ein „wichtiges Vorbild“ gewesen war. Er war der „Seher-Dichter“, für den sich George auch hielt (vgl. ebd., 130), wovon Luck ebenso ganz ergriffen ist: „also […] spricht [Luck] mit Geisterstimme seine tief empfundenen Kreuzungen zwischen Hölderlin und Stefan George. Er wurde selbst ganz erschüttert davon.“ (Spoerl 1991, 137) Seine Mitschüler und Pfeiffer hingegen lachen Luck dafür aus: „sie lagen unter den Stühlen und wälzten sich. Selbst Hans Pfeiffer lachte mit“ (ebd.). Als konservativ, bürgerlich, nationalistisch und völkisch gesinnt werden also Pfeiffer und Luck im Roman charakterisiert. Dazu passt auch die bereits für Zeitgenossen um 1933 antiquiert wirkende Vorstellung von der Rolle der Frau im Roman, die noch ganz der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts verhaftet ist. Die Schülerinnen aus dem benachbarten Lyzeum werden von Pfeiffer humorig „Gänse“ oder „Hühner“ genannt. Prof. Knauer „besaß eine beachtliche Hühnerzucht“ (ebd., 27), was hier ausnahmsweise doppelsinnig gemeint sein kann. Eva verkörpert das naive Mädchen aus der Provinz, das der Führung eines Mannes bedarf. Ihre Rolle als Gattin und Mutter ist bereits festgelegt. Ihr Charakter wirkt blass, lediglich auf ihr Äußeres reduziert. Im Umgang mit Pfeiffer verhält sie sich künstlich affektiert. Sie ist sofort bereit, Pfeiffer zu ohrfeigen, falls er ihr einen
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Kuss geben wollte, obwohl sie geküsst werden möchte. Zu diesem gekünstelten Gehabe passt dann auch Pfeiffers geäußerte Stammtischweisheit über das Geschlechterverhalten, die die Leser zum Schmunzeln bringen soll: Frauen sagen Nein, wenn sie Ja meinen, Frauen sagen Ja, wenn sie Nein meinen. Oder Frauen sagen Ja, wenn sie Ja meinen […] Verteufelt schwer, sich auszukennen. […]. Die Frau liebt aus Naturbestimmung. Aber der Mann ist Dilettant. (Spoerl 1990, 89)
Auch Pfeiffers Wirtin, Frau Windscheit, verkörpert das Rollenklischees einer kleinbürgerlichen Hausfrau. Die mollige Dame im Alter von Ende Vierzig ist durch und durch Mutter, bis hin zur Lächerlichkeit übertrieben reinlich, häuslich und fürsorglich (vgl. ebd., 33). Marion, Pfeiffers Verlobte, stellt das Kontrastbild einer solchen Kleinstadtwirtin dar, sie bildet die feine Salondame aus der Großstadt ab. Insgesamt wird keiner einzigen Frau im Roman die Errungenschaft der Emanzipation der Frauen der Weimarer Republik zuerkannt, ganz im Gegenteil, sie spielen in dieser männerdominierten Feuerzangenbowlenwelt nur die Rolle der belustigenden Zutat. Der komische, volkstümliche Roman Feuerzangenbowle besitzt – wie gezeigt werden konnte – alle Qualitäten für eine rasche Vermarktung. Er arbeitet sehr stark mit Mustern aus dem Arsenal populärer Literatur, er tradiert Rollenklischees und konservative, bürgerliche, völkische Gesinnungen, die der nationalsozialistischen Ideologie nahestehen. Aus dieser Rückwärtsgewandheit des Romans lässt sich dann auch der berühmte finale Satz des Erzählers verstehen: „Wahr sind auch die Erinnerungen, die wir mit uns tragen; die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben.“ (Spoerl 1990, 171). „[M]an darf davon berührt sein, ohne jemals zu wissen, was eigentlich berührt“, sagt Curstädt über diesen finalen Satz und schreibt ihm ein nichtssagendes Leersein zu (Curstädt 2018, 408). Dieser Satz muss jedoch nicht leer sein. Die Sehnsucht, von der der Erzähler spricht, ist die Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, das aus der Sicht des National-Konservativen gleichsam das Wahre gewesen ist. Dieser Sehnsuchtssatz mit dem optimistischen Heilsversprechen, das Wahre in sich zu tragen, bedient das Bedürfnis der Leser von Unterhaltungsliteratur nach der heilen Welt und nach einem „Happy-End“ (Nusser 1991, 54). Resümierend kann gesagt werden: Der Roman Die Feuerzangenbowle war der Beginn einer Erfolgsära Spoerls. Seine Romane wie bspw. Wenn wir alle Engel wären (1936) und Der Gasmann (1940) wurden ebenfalls mit Heinz Rühmann in den Hauptrollen verfilmt. Ende der 1930er-Jahre war Spoerl der „erfolgreichste Unterhaltungsschriftsteller des Dritten Reichs“ (Ohmann 2010, 46). Seine literarische Produktion war umfangreich, „Berührungsängste zum Regime hatte Spoerl offenbar nicht“. Er veröffentlichte seine Texte auch im „Nazi-Hetzblatt Der Angriff“ und war seit 1935 „Mitglied der Reichsschrifttumskammer“ aber nicht der NSDAP (ebd., 45). Unabhängig vom ideologischen Kontext ist jedoch sicher, dass sich seine literarischen Werke und seine Freundschaft mit Heinz Rühmann finanziell gelohnt haben. Der Jurist Spoerl wurde „als Schriftsteller innerhalb weniger Jahre wohlhabend“, mit einer Villa am Wannsee (in der Nähe von Heinz Rühmanns Wohnsitz), mit „Hausmädchen und Privatsekretärin“. (Ohmann 2010, 45).
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Die Verfilmungen von 1934, 1944 und 1970 Das, was den Medienverbund Feuerzangenbowle im Wesentlichen bestimmt, sind der Roman und seine drei grundverschiedenen Verfilmungen: So ein Flegel (1933), Die Feuerzangenbowle (1944) von Helmut Weiss und Die Feuerzangenbowle (1970) von Helmut Käutner. Bei der vergleichenden Betrachtung dieser Verfilmungen möchte ich mich nur auf vier Aspekte konzentrieren: 1) Die Einordnung des Films in den historischen (und künstlerischen) Kontext, 2) eine vergleichende Analyse des Inhalts der Verfilmung mit der Buchvorlage, 3) der Einsatz von technischen und künstlerischen Mitteln auf der Bildebene, 4) der Einsatz von künstlerischen Mitteln auf der Tonebene und die sich aus den Analysen (für mich) ergebenden interpretatorischen Schlussfolgerungen. Nach dem Erfolg des Buches im Sommer 1933 hat die Cicero-Film GmbH noch im gleichen Jahr mit der Produktion des Schwarz-Weiß-Ton-Films So ein Flegel begonnen. Er wurde im Jofa-Atelier in Berlin-Johannisthal innerhalb von nur zwei Monaten, ab Mitte Dezember bis Mitte Februar, gedreht. Die Regie führte R. A. Stemmle, das Drehbuch verfasste Hans Reimann. Dieser Film zählt zu den Anfängen von Tonfilmaufnahmen. Die Kosten für solche Tonfilme waren Anfang der 1930er-Jahre noch sehr hoch (vgl. Dorn 2004, 225). Die Filmproduktionsstätten standen unter erheblichen finanziellem Druck.19 Dies erforderte eine effektive Produktion von zahlreichen Filmen in möglichst kurzer Zeit, was erklärt, warum die Drehzeit so kurz gewesen ist. Der zu diesem Zeitpunkt bereits als Star gehandelte Schauspieler, Heinz Rühmann, übernahm die Doppelrolle Hans und Erich Pfeifer (in diesem Film nur mit einem „f“). Der Drehbuchautor Reimann hielt sich allerdings nur grob an die Buchvorlage. Er veränderte das Drehbuch zum Film so umfassend, dass sich sein Kompagnon Spoerl darüber empört haben soll (vgl. Ohmann 2010, 42). Der erste auffällige Unterschied zum Roman ist die fehlende Rahmenhandlung, woraus der Roman seinen Titel erhielt und weshalb der Film nicht Feuerzangenbowle heißen konnte, sondern in So ein Flegel umbenannt werden musste. Aus der fehlenden Altherrenrunde in der Rahmenhandlung folgt die fehlende Motivation für die Haupthandlung, nämlich die mangelnde Schulerfahrung von Dr. Hans Pfeifer, die ihm erst bei der Feuerzangenbowle im Erzählkreis bewusst wird. Reimann bietet stattdessen eine andere Handlung mit anderer (plausiblerer) Handlungsmotivation an. Er verdoppelt die Figur Pfeifer. Zu dem Literaten Dr. Hans Pfeifer kommt der ihm vollkommen gleich aussehende, jüngere Bruder Erich (in der Doppelrolle Rühmanns) hinzu, der Pennäler, der mit der Schule nichts am Hut hat und sich dort wie ein Flegel verhält. Als er für die Schließung der Schule wegen angeblicher Baumaßnahmen sorgt, soll Hans Pfeifer in die Schule zu einem Gespräch mit dem Direktor kommen und damit beginnt die Verwechslungskomödie. Hans wird in der Schule für seinen Bruder Erich gehalten und bestraft;
19Vgl.
hierzu Gefährliche „Reform“-Pläne 1934, 1.
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Erich hingegen flieht nach Berlin, wo er als vermeintlicher Dr. Pfeifer im Beruf als auch privat jede Menge Unfug anrichtet. Die im Buch beschriebenen Pennälerstreiche, die Szene im Chemiekabinett zur alkoholischen Gärung und das finale Nachspielen des Professor Creys fehlen im Film. Es sind auch weniger die Pennälerstreiche, die die Komik des Films beherrschen, sondern vielmehr die Verwechslungen in zwei parallel laufenden Handlungssträngen an zwei Handlungsorten (in Berlin und in Mittelsbach), in denen die Protagonisten zudem ihre Partnerinnen tauschen, weshalb das Thema Liebe die Handlung viel deutlicher bestimmt als in der Romanvorlage. Auf der Bildebene zeigt sich schon in diesem frühen Schwarz-Weiß-Tonfilm die ausgefeilte Professionalität der Produzenten. Bereits das Engagement des bekannten Schauspieler-Stars Rühmann für die Doppelrolle erweist sich als gelungene Wahl. Rühmann, klein von Statur, dürfte für das anvisierte Kinopublikum genau die richtige Identifikationsfigur, nämlich die des kleinen Mannes, gewesen sein. Professionell gemacht sind aber auch schon gezielt eingesetzte Kameraeinstellungen und die Schnitttechnik im Zusammenspiel mit den Dialogen und eingeblendeten Texten, die Kohärenz erzeugen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers bewusst lenken. Die unmarkierteste Kameraeinstellungsgröße ist das Halbnah (Personen werden ab der Hüfte im Bild gezeigt). Sie dient dazu, den Fokus des Zuschauers auf die Figurenkonstellationen zu lenken. In einer Verwechselungskomödie ist die Figurenkonstellation mithin das Wichtigste, weshalb diese Einstellungsgröße in diesem Film dominiert. Nur sparsam werden andere Einstellungen verwendet; das Nah (vom Bauchnabel an im Bild), um Mimiken und Gestiken zu zeigen oder an ganz exponierten Stellen werden Großaufnahmen (nur Gesichter oder Texte auf Papier) eingeblendet (vgl. Hickethier 2007, 54 ff.). Solche besonderen Stellen sind zumeist die Liebesszenen mit Hans und Eva. Man betrachtet sich durch ein Schlüsselloch oder durch ein Guckkastenkinofenster. Die Kamera erzielt damit einen Perspektivwechsel von der Außensicht nach innen, denn der Zuschauer blickt vermeintlich mit den Augen der Figuren und bekommt somit Informationen, die über die Figurenrede hinausgehen. Auf diese Weise erfährt der Zuschauer den Titel des (wegen drastischer Überzeichnungen als albern codierten) Theaterstücks von Hans Pfeifer, das als Spiel im Spiel diese Filmkomödie20 selbstironisch ohne Worte parodiert. Die Großaufnahme eines Buches von Hans Pfeifer, das Eva und ihre Freundin in den Händen halten, erzählt nämlich über Pfeifers Schaffen. Seine Wandlungen der Venus21 ist ein verpöntes, erotisches Büchlein, womit er aber viel Geld verdient, wie die mondäne Ausstattung seiner Villa zeigt.
20Der
fiktive Titel des Schulstücks lautet Zwischen Secunda und Prima. auf ein Buch mit „sittlich verfänglichen Inhalt“ bzw. auf sogenannte „schmutzige Literatur“: Benedict Leijo: Die Wandlungen der Venus. Wien 1924, 6 f. In diesem schmalen, ästhetisch anspruchsvollen Bändchen sind drei junge Bibliothekare in der Bibliothek über Nacht eingeschlossen. Sie nutzen diese Gelegenheit, sich gegenseitig Geschichten aus verbotenen Büchern vorzulesen. 21Anspielung
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Den filmischen Konventionen in den 1930er-Jahren entsprechend, ist die Blickrichtung der Schauspieler/innen arrangiert. In dem Film So ein Flegel schauen die Figuren niemals direkt in die Kamera hinein, sondern schräg an ihr vorbei oder sie richten ihre Blicke aufeinander (vgl. Hickethier 2007, 63 f.). Die Wirkung dieser vorgegebenen Blickrichtung ist verblüffend. Sie vermittelt den Eindruck, dass sich das Spiel in einem separaten (fiktiven) Raum befindet, auf den der Betrachter nur von außen schaut. Dieser Kniff markiert die strikte Trennung zwischen Filmwelt und wirklicher Welt. Die Schnitttechnik und die Gestaltung der szenischen Übergänge sind bemerkenswert insofern, als Übergänge, die jeweils mit einem Ortswechsel verbunden sind, stets von den Figuren verbal begleitet und mit einem Stichwort angekündigt werden. Beispielsweise erfolgt auf das Stichwort „Flegel“ der harte Schnitt, der Ortswechsel und die Einblendung der Figur Erich. Diese vermeintlich nahtlosen Übergänge durch die Ankündigungen suggerieren Gleichzeitigkeit der beiden Handlungsstränge, obwohl der Zuschauer die Szenen stets nur nacheinander gezeigt bekommt. Die musikalische Untermalung von Harald Böhmelt entspricht dem, was der Film sein soll: ein leichtes Lustspiel. Ein schlagerähnliches Tanzlied („Und rechts herum der Fuß und links herum der Fuß, die Liebe, die Liebe …“) wird leitmotivisch in verschiedenen Szenen eingesetzt. Mal als Orchester-, mal als Salonklaviermusik ertönt ein und dieselbe ohrwurmgeeignete Melodie, die auch die häufigen Tanzszenen begleitet. Die Leichtigkeit des Films wird somit stets indirekt ausgedrückt und sie traf tatsächlich den Nerv der Zuschauer/innen. Er ist ein „großer Publikumserfolg“ gewesen, „alle Kritiker zeigten sich begeistert“ (Ohmann 2010, 43), aber das soll „in erster Linie Heinz Rühmann zu verdanken“ gewesen sein, „der in einer famosen Doppelrolle allen Humoren freien Lauf lassen kann“ (Völkischer Beobachter vom 15.02.1934; zit. nach Ohmann, ebd.).22 Der vielleicht Einzige, der mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, war Heinrich Spoerl. Denn er konnte die ironische Darstellung der Schriftsteller-Figur durch Reimann auch als Seitenhieb gegen seine Person verstanden haben. Spoerl soll nach der Enttäuschung über den Flegel-Film 1943 die nächste Verfilmung der Feuerzangenbowle vorangetrieben haben. Regie führte nun Helmut Weiss, Heinrich Spoerl verfasste dieses Mal selbst das Drehbuch für die Terra-Filmkunst GmbH in Berlin. Die Herstellungsleitung für den Schwarz-Weiß-Film übernahm Heinz Rühmann. Alle Szenen wurden im Babelsberger Studio oder dort im Freigelände gedreht. Der Start der Dreharbeiten war der 18. März 1943, auf den Tag genau einen Monat nach der Verhaftung der Geschwister Scholl in München, fast zwei Monate nach der Kapitulation der deutschen 6. Armee in Stalingrad, inmitten
22„Ein wesentlicher Bestandteil des Studiosystems ist das bereits ab 1910 eingeführte Starsystem. Filmfirmen verpflichteten zunächst Bühnenstars für Filmproduktionen. Darsteller, die beim Publikum besonders gut ankamen, wurden mit hohen Gagen und Verträgen […] an ein Studio gebunden.“ Das Konzept ging mit Rühmann als Idealfigur auf: „Stars verkörpern soziale Typen […], dienen als Identifikationsfolie für die Kinozuschauer“. (Dorn 2004, 225).
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der ersten Luftangriffe der Alliierten auf Berlin vom 16. Januar bis 30. März 1943, zeitgleich zum Holocaust. Am 28. Januar 1944 wurde der Film aus der „Traumfabrik“ (Dorn 2004, 225) in Berlin uraufgeführt. Spoerl hielt sich nun genauer als Reimann an seine Romanvorlage, wenngleich auch er einige Änderungen (Anpassungen an die Zeit um 1943) vorgenommen hatte. Entscheidende Abweichungen von der Romanvorlage sind Folgende: Die Rahmenhandlung ist im Film sehr viel ausgefeilter konstruiert als im Roman. Die Handlung im Roman gestaltet sich als fortschreitende chronologische Abfolge von Ereignissen: Beschluss des Experiments in der Altherrenrunde, Pfeiffers Experiment Schule, erneute Zusammenkunft der alten Herren zur Auswertung des Experiments. Im Film hingegen bildet die Feuerzangenbowlenrunde den Rahmen. Die Erlebnisse am Gymnasium werden am Ende als bloße Fantasiegebilde Pfeiffers entlarvt. Diese Rahmenhandlung ist also ein ironisierendes Fiktionssignal, als Hirngespinst im Alkoholrausch zu verstehen. Damit wird jede Referenzierbarkeit zur Wirklichkeit unmöglich gemacht. Im Roman dagegen gesteht der Erzähler nur, alles bloß erfunden zu haben. Möglich ist, dass Spoerl mit dieser Änderung der NS-Zensur unbedingt zuvorkommen wollte. Jeder Bezug zur zeitgenössischen Wirklichkeit sollte vermieden, daher sollte auch die Handlung für jedermann sichtbar ins Jahr 1910 situiert werden. Die Liebesgeschichte zwischen Eva und Pfeiffer wurde gekürzt, damit entfällt die Verunglimpfung des Professors Crey (Schnauz) und der Akzent verschiebt sich von Liebeslustspiel auf eine Pennälergeschichte. Dr. Brett ist im Film Geschichts- anstatt Mathelehrer, um unter der Hand doch noch eine Konzession an die NS-Zensur hineinbringen zu können. Der Film brauchte einen Repräsentanten des modernen, jungen, nationalsozialistischen Lehrers, der die Schüler durch Disziplin beherrscht, während alle anderen Lehrer der alten Garde versagen. In der Geschichtsstunde wird passend dazu die Geschichte der Goten behandelt, die in der Ideologie des Nationalsozialismus als Ur-Arier das Deutschtum begründeten. Das Bild vom Lehrer durfte nicht allzu sehr verunglimpft werden. Wichtig scheint allerdings auch eine Änderung der Handlungen der Figur des Strebers Luck zu sein. Im Roman verübt Luck den Schulschließungsstreich, im Film hingegen ist Pfeiffer der Täter. Der Schüler Rosen beabsichtigt, Pfeiffer zu verpfeifen, aber ihm droht deswegen eine Strafe. Das Denunziantentum macht im Film also erstaunlicherweise keine gute Figur. Im Roman befinden sich zahlreiche intertextuelle Referenzen und als Lebensweisheiten verpackte Statements der Figur Pfeiffer mit völkisch-nationalistischer Weltanschauung. Im Film wird darauf verzichtet. Nur eine kurze Äußerung des Lehrers Dr. Brett, die wiederum nicht im Roman zu finden ist, deutet auf NS-Gesinnung. Dr. Brett sagt: „Eine neue Zeit muß neue Methoden zeigen. Disziplin muß das Band sein, das die Schüler bindet wie die jungen Bäume.“ Witte findet in diesem eingefügten Satz (der ursprünglich auf ein berühmtes
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Gleichnis von Immanuel Kant zurückgeführt werden kann23) einen Bezug zum Nazi-Propagandafilm Ewiger Wald (1936): „schon der Ewige Wald schwenkte von friderizianischen Soldaten zur Baumschule, träumte das Ordnungsideal vom vollkommen ausgerichteten Staat als zweite Natur.“ (Witte 1995, 244) Dr. Brett verkörpert im Film das Ideal der Volksgemeinschaft, in der das Individuum nur dem Zweck des Ganzen dienen soll. Die Aufgabe der Schule sei es nach dieser Auffassung, durch Disziplin die Menschen zur Volksgemeinschaft zu befähigen. Auf der Bildebene des Schwarz-Weiß-Films sind im Vergleich zum Film So ein Flegel Innovationen zu beobachten. Neu ist, dass der Erzähler in der Rahmenhandlung das Publikum direkt anspricht und dabei in die Kamera blickt. Die Abgeschlossenheit der Filmhandlung wird somit aufgebrochen. Neu sind aber auch die Szenenübergänge, die sich jeweils mit Ortswechseln verbinden sowie mit dem Wechsel von Kameraeinstellungen. Statt des harten Schnittes werden durch langsames Ausblenden des einen Bildes und langsames Einblenden des anderen Bildes fließende Übergänge geschaffen, die über das gesprochene Wort hinaus die Kohärenz der Handlung verstärken und unausgesprochene Botschaften enthalten. Ein Beispiel hierfür ist der fließende Übergang folgender Bilder: Im Klassenzimmer befindet sich an der Wand eine Büste von Zeus. Kurz bevor der Direktor Knauer den Raum betritt, wird die Büste eingeblendet, zugleich richtet sich eine Kamera auf das Gesicht von Knauer und für wenige Sekunden sind beide Gesichter übereinander zu sehen, sodass die Ähnlichkeit zwischen Knauer und Büste hervortritt. Mit Hilfe der Kameratechnik wird die Figur Knauer in ironischer Absicht mit den Mitteln der Übertreibung und des Vergleichs zum Göttervater stilisiert. Im Vergleich zum So ein Flegel ist die Filmmusik der Feuerzangenbowle des Bühnen- und Filmmusikers Werner Bochmann dramaturgisch funktionalisiert. Statt eines Tanzlieds, das leitmotivisch So ein Flegel prägt, wird nun deutlich differenziertere Musik entsprechend dem Charakter der Szenen eingespielt, die die augenblickliche Stimmung wiedergeben soll. So wird bspw. in der Rahmenhandlung, im Gedenken an den verstorbenen Lehrer „Pavian“, leise, traurige Musik mit Violinen eingespielt, während in der Musikstunde die Knaben ihrem Lebensalter gemäß den spritzigen Frühlingskanon „Der Frühling liebt das Flötenspiel“ von Erich Knauf24 (Text) singen. Besonders herausragend ist die musikalische Untermalung der Szene, in der Direktor Knauer im wütenden Sturmschritt durch das leere Schulhaus geht und alle Türen aufreißt. Der Rhythmus der Musik begleitet
23Immanuel
Kant schreibt: „so wie Bäume in einem Walde eben dadurch daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen, und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief, und krumm wachsen“. In: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Vierter Satz. (Kant, Immanuel.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil. Kant Werke, Bd. 9, Darmstadt 1994, 40). 24Knauf wurde am 2. Mai 1944, drei Monate nach der Filmpremiere, im Zuchthaus Brandenburg wegen „defätistischer Äußerungen“ enthauptet (vgl. Eckert 2018, 226).
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punktgenau Knauers Schritte, akzentuiert das Türaufreißen. Das Heruntereilen des wütenden Direktors auf der Treppe wird mit an- und abschwellender, perlender Melodie begleitet, die über Knauer zu kichern scheint. Die Orchestermusik enthält in dieser Szene zunehmend Dissonanzen und schwillt bis zum dissonanten Finale der Blechinstrumente (im Moment der Entdeckung des Streiches) an, um dem Zuschauer die zunehmende Wut Knauers zu verdeutlichen. Trotz einiger Konzessionen an das NS-Regime, die dieser Film enthält, wird er von Ohmann und Lowry „als neutraler und harmloser Film“ angesehen. Insgesamt wäre er „kaum als Nazi-Film zu bezeichnen“ (Lowry 1991, 236). Im nächsten Satz hingegen verweist Lowry darauf, dass der Film sehr konservative Moralvorstellungen und Geschlechterrollen bestätigen würde, mit der „typische[n] Bändigung der Erotik“ und den Stereotypen, die für Filme der NS-Zeit üblich waren (ebd., 237). In der Frage, ob der Film harmlos ist, widerspricht sich Lowry insofern, als er im ersten Kapitel seiner Untersuchungen zu NS-Filmen darlegt, dass gerade die harmlosen Filme die verfänglichen gewesen waren. Die NS-Propagandisten nutzten ganz bewusst die besondere Wirkkraft von sogenannten harmlosen Filmen. Hierfür zitiert Lowry den Reichsfilmdramaturgen Hippler, der 1942 sagte, dass es „beim Film auf die Wirkung“ ankomme; er sollte „künstlerisch gut gestaltet, plausibel, echt in Handlungskonstruktion, Motivation“ sein, außerdem glaubwürdig und wahrscheinlich, dies sei „viel wichtiger als die Tatsächlichkeit einer Geschichte“, denn eine Filmfigur müsse in jedem Fall „ein Identifikationsangebot sein“, wonach sich der Zuschauer in seinen Werten und Verhaltensmustern richten kann (ebd., 7 f.). Ungeachtet dessen brilliert dieser Film durch die schauspielerische Spitzenleistung Rühmanns, aber auch durch Erich Ponto als Professor Crey (Schnauz), Paul Henckels als Professor Bömmel und Hans Leibelt als Direktor Knauer (Zeus), die ihn über die Jahre zu Recht zum Kultfilm werden ließen. So stellt sich dieser Film als ein künstlerisches Produkt heraus, das als Kind seiner Zeit janusköpfig zur Welt kam: Die unnachahmliche Glanzleistung der Schauspieler auf der einen und der erschreckende Kontext, der seinen Tribut an den Film forderte, auf der anderen Seite. An dieser schauspielerischen Glanzleistung der 1944er-Verfilmung musste schließlich das Remake (1970) des „erfolgreiche[n] und prominente[n] Regisseur[s] der Nachkriegszeit“ (Mehlinger/Ruppert 2008, 3), Helmut Käutner (1908–1980),25 scheitern. Vielleicht intendierte Käutner, die Feuerzangenbowle von der Last der Verstrickung in die Kontexte der NS-Filmproduktion zu befreien.
25Bedeutende
Filme von Käutner waren: Unter den Brücken (1946); Romanze in Moll (1943); Große Freiheit Nr. 7 (1944). Käutner war „in nahezu allen Genres des bundesdeutschen Films zu Hause und bewies dabei stilistische Varianz“. (Mehlinger/Ruppert 2008, 4) Mit Schulgeschichten hatte Käutner bereits auch Erfahrungen: 1964 verfilmte er Ludwig Thomas Lausbubengeschichten (vgl. Plaß 2008, 49).
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Er produzierte im Zusammenhang mit den erfolgreichen „Lümmelfilmen“26 eine Farbfilmfassung mit renommierten Schauspielern der ausgehenden 1960er-Jahre: mit Uschi Glas als Eva, Nadja Tiller als Marion, Theo Lingen als Professor Crey und Walter Giller als Pfeiffer. Die Handlung des Films wurde nicht – wie man annehmen könnte – in die Zeit um 1970 verlegt, sondern verbleibt in der Zeit um 1910. Sie orientiert sich in großen Teilen sowohl an der 1944er-Verfilmung als auch an der Buchvorlage. Aus der 1944er-Verfilmung wurde die vollständige Rahmenhandlung übernommen. Mit dem Buch hat dieses Remake die größere Gewichtung der Liebesgeschichte gemeinsam. Pfeiffer und Crey sind wieder offensichtliche Rivalen; die Wipp-Szene, die Crey endgültig der Lächerlichkeit preisgibt, wurde im Remake übernommen. Einige Schulstreiche wurden modifiziert, gekürzt oder erweitert. So werden die Lehrer bspw., während sie über das gefälschte Bauarbeitenschild beraten, von den Schülern im Lehrerzimmer eingemauert. Ideologische Sentenzen gibt es in dieser Verfilmung keine. Eine Besonderheit stellt der Auftritt Hans Richters als Dr. Brett dar, da der Schauspieler bereits in der Verfilmung von 1944 in der Rolle des Schülers Rosen mitwirkte. Auf diese geschickte Verbindung von Premake und Remake wird in der Figurenrede Richters auch explizit verwiesen. So ein Flegel und Die Feuerzangenbowle von 1944 sind reine Studiofilme gewesen. Die Außenaufnahmen fanden auf dem Studiogelände vor künstlichen Kulissen statt. Im Remake wählte man nun reale Drehorte in der Alfred-Wegener Schule in Berlin Dahlem und in der Stadt Wolfenbüttel. Nur die Innenaufnahmen fanden im Ufa-Filmstudio statt. Die realen Drehorte verleihen dem Film eine weit größere Natürlichkeit als in den beiden anderen. Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass Käutners Verfilmung in Ausstattung, Kostüm, Interieur und Kulissen sich streng am historischen Vorbild der Zeit um 1910 orientierte. Die gezeigte höhere Lehranstalt wird hier in Bild und Ton als ein humanistisches, bildungsbürgerliches Gymnasium vorgestellt. Hinter dem Schreibtisch des Direktor Knauers hängt ein Bild des berühmten Altertumsforschers des 19. Jahrhunderts, Theodor Mommsen, im Hintergrund wird Brahms bzw. der Tradition der Studententlieder (gaudeamus
26Siebenteilige
Folge: Die Lümmel von der ersten Bank: 1. Zur Hölle mit den Paukern (D, 1968), 2. Zum Teufel mit der Penne (1968), 3. Pepe, der Paukerschreck (1969), 4. Hurra, die Schule brennt (1969), 5. Wir hau’n die Pauker in die Pfanne (1970), 6. Morgen fällt die Schule aus (1971), 7. Betragen ungenügend (1972). „Schon der Roman von Alexander Wolf [d. i. Herbert Rösler] aus dem Jahre 1963 war ein Publikumserfolg gewesen. Die Filme nahmen die satirischen Impulse der Vorlage zunächst auf, lösten sich dann aber immer mehr in pubertär anmutenden Klamauk auf: Die Schüler, allen voran die Hauptfigur Pepe Nietnagel, lehnen sich durch zahlreiche Streiche und Intrigen gegen die veralteten Unterrichtsmethoden und autoritären Lehrer ebenso wie das repressive System der Schule auf. Im Kontext der Zeit thematisieren die Filme durchaus nicht nur die damals aktuelle Kritik der angestammten Schulpädagogik, sondern nehmen auch einen antiautoritären und hedonistischen Impuls auf, der die Jugendkultur massiv beeinflusste. […] Selbst ältere Vorlagen wie Die Feuerzangenbowle (1970, Helmut Käutner, nach dem Roman von Heinrich Spoerl, 1933) wurden im stilistischen Horizont des Paukerfilms neu adaptiert.“ (Amann 2012).
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igitur) oder Verdis Aida (Musik: Bernhard Eichhorn) gespielt, was den Anschein des künstlich Gemachten gar nicht erst aufkommen lassen soll. Dennoch: Die Kritiken des Remakes sind eher vernichtend, da das sehgewohnte Publikum nicht umhinkommt, diese Fassung mit der Rühmannschen Verfilmung von 1944 zu vergleichen: „Im Vergleich zur Version von 1944 fehlt es dieser Schulsatire – trotz der Regie von Helmut Käutner – an Atmosphäre, Witz und Charme.“27 Im Filmportal schreibt Falk Schwarz: „Als Käutner dieses Remake der Feuerzangenbowle ablieferte, musste er sich bittere Kritik gefallen lassen“. Theo Lingen reiche nicht an Erich Ponto heran. Giller sei zu alt für die Rolle des Pfeiffer. Dieser Film sei „hübsch“ anzusehen: „Eine leichte Unterhaltung, die das Original nicht erreicht.“ (Schwarz 2014). „Käutners überflüssiges Remake der Feuerzangenbowle […] ist nicht unbedingt ein Opus, das große Vorfreude auslöst.“ (Pflaum 2008, 5).
Zusammenfassung Mit Schmidts Medienkompaktbegriff war es möglich, die Analyse des Medienverbunds Feuerzangenbowle auf ein theoretisches Fundament zu stellen. Damit ist es gerechtfertigt, den Entstehungskontext, die am Prozess beteiligten Produzenten und deren Interessen, in der Interpretation der einzelnen Medien in diesem Verbund zu berücksichtigen und die Medien theoriebasiert zu bewerten. Es konnten Dynamiken der exponentiellen Verbreitung des Stoffes aufgezeigt werden, die plausibilisieren, wie sich Die Feuerzangenbowle ins kollektive Gedächtnis eingegraben hat und wie sie bis heute Werte und Normen, die im Text eingeschrieben sind, (unbewusst) tradiert. Schmidts These, die Prozessergebnisse führen die Bedingungen des jeweiligen Mediensystems als spezifische Charakteristika mit sich, kann bestätigt werden. Dies wurde zuerst deutlich an Spoerls Roman. Er ist eine Unterhaltungsware der Kulturindustrie, die zur raschen Vermarktung mit austauschbaren Elementen arbeitet: mit Typen und Klischees aus dem Genre des Volkslustspiels nach dem Prinzip der Serialität. Dabei bedient er die Erwartungen des anvisierten Leserkreises, der sich bei der Lektüre in seinen Vorstellungen und Erfahrungen bestätigt und seine Bedürfnisse nach einer heilen Welt befriedigt wissen will. Die Hauptfigur Dr. Pfeiffer fungiert als Identifikationsfigur des „kleinen Mannes“. Als solche transportiert sie Stammtischweisheiten, bürgerlich-völkische Gesinnung und einfache Lösungen für komplizierte Probleme. Komplexe Zusammenhänge werden nicht aufgezeigt; sie sind auch von der Leserschaft nicht gewollt: „Der Witz ist alles. Auf den Rest braucht kein großer Wert gelegt werden“ (Kruse 2008, 209), schreibt der Herausgeber des Reprints 65 Jahre nach der Veröffentlichung der Erstausgabe.
27Vgl.
https://www.filmdienst.de/film/details/24839/die-feuerzangenbowle-1970 (25.08.2019).
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Die erste Verfilmung (1934) von Reimann gehört in die Anfänge des TonFilms, zu einer Zeit, in der sich das Kino als Massenunterhaltungseinrichtung zu etablieren beginnt. Produziert wurde er in kürzester Zeit, um mit Humor und Starbesetzung die Zuschauer/innen in die Kinos zu locken. Dennoch kann diesem Film über die scheinbare Belanglosigkeit hinaus eine gewisse literarische Qualität zugesprochen werden. Aus der Pennälergeschichte wird der Liebesfilm mit dem schwankhaften Charakter einer Verwechslungskomödie. Ein ironisches Spiel im Spiel dient wohl als Seitenhieb gegen seinen Dichterkollegen, der mit (erotischer) Literatur Geschäfte macht. Die zweite Verfilmung (1944) von Spoerl, Weiss und Rühmann wird zum Meisterstück im Medienverbund, der ungeachtet des erschreckenden Entstehungskontextes zum Kultfilm avancierte. An den sogenannten H-Filmen konnte der NSStaat gut verdienen, die Rüstungsindustrie finanzieren und die Bevölkerung vom umgebenden Tod, Leid und Mangel unter dem Bombenhagel ablenken. H-Filme wurden in der „Durchhaltezeit“ als sehr nützlich angesehen. Die NS-Zensur forderte trotzdem von den Filmproduzenten gewisse Konzessionen. Diese konnten an der Figur Dr. Brett gezeigt werden, jedoch scheint der Film insgesamt gezielt unpolitisch gemacht zu sein, um als harmlos zu gelten. Die dritte Verfilmung (1970) von Käutner entstand im Kontext der Produktion der Lümmelfilme. Durch den permanenten Vergleich der Zuschauer mit der überaus beliebten Verfilmung von 1944, mit dem unvergesslichen Erich Ponto als Schnauz, Paul Henckels als Bömmel und mit Rühmann, wird dieses Remake ungeachtet seiner künstlerischen Qualität und Innovationen von der Kritik abgeurteilt und zur Bedeutungslosigkeit in diesem Medienverbundsystem verdammt. Diese Medienverbundanalyse sollte bewusst machen, dass ein solches Verbundsystem in der Lage ist, literarische Stoffe sowie Interessen, Ideologien, Werte und Normen in kürzester Zeit enorm zu verbreiten und über einen langen Zeitraum hinweg zu tradieren. Dabei zählt dieser Medienverbund bereits zu den historischen Verbünden von Print- und audiovisuellen Speichermedien. Eine Untersuchung der Auswirkungen der Präsenz des Films und eines Digitalisates der Erstausgabe im Internet steht noch aus.
Literatur Primärmedien Spoerl, Heinrich: Die Feuerzangenbowle. Eine Lausbüberei in der Kleinstadt. 1.–20. Tsd. Düsseldorf: Mittag-Bücherei, 1933. 21–50 Tsd. Düsseldorf: Droste 1937; 51–80 Tsd. Düsseldorf: Droste, 1938; 141–173 Tsd. Düsseldorf: Droste, 1940; 301–350. Tsd. Düsseldorf: Droste, 1941; Riga 1942 und 1943; 596.–515. Tsd. Düsseldorf: Droste, Feldpostausg. 1943; Düsseldorf: Droste, Wehrmachtsausg. 1944; Düsseldorf: Drei Eulen, 1946; Berlin: Dt. BuchGemeinsch. 1957; Die Feuerzangenbowle. Man kann ruhig darüber sprechen. Stuttgarter
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H. Nenoff
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„Da stelle ma uns mal janz dumm“
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Verbrechen und Skandalöses auf der Leinwand
Emotionalisierung zwischen Sexualität, Generationenkonflikt und Machtdiskurs Die Steglitzer Schülertragödie als Medienverbund Marlene Antonia Illies
Abstract A 19-year-old shoots his sister’s boyfriend and then himself. A classmate of the (self-)murderer is accused of complicity, spends eight months in custody, stands trial and is acquitted. The so-called Steglitzer Schülertragödie (Steglitzer Student Tragedy) is in its beginnings a criminal case and is to be investigated here as a media network. For this purpose, the theoretical foundations and terminology as well as the media excesses of the subject matter must first be clarified in order to then examine exemplary areas in which the story of the Steglitzer Schülertragödie was told, processed and exploited. In doing so, the multitude of media manifestations, the extent of the history of reception as well as its intermedial references, which also refer to other media networks, are to be taken into account. Media (re)processing still exists after the turn of the millennium, and this contribution focuses on contemporary adaptations from 1927 to 1929.
Einleitung Am frühen Morgen des 28. Juni 1927 erschießt der Gymnasiast Günther Scheller in der Wohnung seiner Eltern den 18-jährigen Kochlehrling Hans Stephan und anschließend sich selbst. Sein Mitschüler Paul Krantz, der zur Tatzeit anwesend ist, wird aufgrund des Verdachts der Mittäterschaft verhaftet – die nächsten acht
M. A. Illies (*) Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Germanistik, Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_19
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Monate verbringt er im Untersuchungsgefängnis. Es gibt zwei Verdachtsmomente gegen Krantz: Zum einen gehört ihm die Tatwaffe, zum anderen sind zwei Abschiedsbriefe aus der Nacht vor der Tat überliefert, die von Krantz und Scheller gemeinsam verfasst wurden. Darin legen sie den Plan eines Selbstmords zu Vieren offen: Günther will Hans erschießen, Paul anschließend Günther, dann dessen Schwester Hilde und schließlich sich selbst.1 Hinter diesem Vorhaben stehen eine schlaflose Nacht mit hohem Alkoholkonsum und ein kompliziertes Beziehungsgefüge. Die Vorgeschichte sowie der genaue Ablauf des (Selbst-)Mordes sind schwer zu rekonstruieren, auch wenn dies durch Zeug/innenbefragungen der Polizei sowie im Prozess gegen Paul Krantz intensiv versucht wird. Fest steht: Günther hat Hans, mit dem er einmal befreundet war, zu seinem Erzfeind erklärt. Hilde und Hans sind ein Liebespaar. Paul ist in Hilde verliebt und die beiden sind sich in der Nacht vom 26. auf den 27. Juni 1927 nähergekommen. Hilde empfängt Hans am 27. Juni 1927 in der Wohnung ihrer Eltern, die verreist sind, und wird von Günther und Paul überrascht. Sie versteckt Hans, doch Paul erfährt, dass jener da ist. Hilde bittet Paul, ihrem Bruder nichts davon zu erzählen – irgendwann im Laufe der Nacht erfährt Günther es aber doch. Am Morgen des 28. Juni 1927 entdeckt Günther Hans im Schlafzimmer seiner Eltern und schießt. Einige Gewissheiten sowie unterschiedliche Versionen von und Mutmaßungen über den Vorfall verbreiteten sich schnell – schon die Berliner Morgenzeitungen berichteten davon. Für die bürgerliche Gesellschaft der Weimarer Republik bot diese Konstellation an Fakten und daran anknüpfenden Vermutungen alle Aspekte eines Skandals: (Schüler-)(Selbst-)Mord, Homosexualität, ein „lasterhaftes“ Mädchen, das nicht nur ihren Freund bei sich übernachten lässt, sondern gleich mit mehreren Männern verkehrt und darauf aufbauend die Frage: Ist so unsere Jugend? Das erste und lange Zeit prominenteste Medium der Verbreitung dieser Geschichte ist die Tagespresse, doch ihr sollten weitere Institutionen und Aktant/ innen folgen. Dieser Beitrag soll klären, ob und inwieweit a) diesbezüglich von einem Medienverbund gesprochen werden kann und b) dieser von Kindern und/ oder Jugendlichen rezipiert wurde. Der Fragestellung folgend soll zunächst das zugrundeliegende Verständnis von Medienverbünden geklärt und theoretisch fundiert werden. Anschließend wird die Berichterstattung der Presse und deren Rezeption vorgestellt, von Versammlungen und politischen Auseinandersetzungen mit dem Prozess berichtet, das literarische Verweissystem sowie die filmischen Verarbeitungen des Stoffes nachgezeichnet und am Ende die Überschneidungspunkte zu einem weiteren zeitgenössischen Medienverbund – Peter Martin Lampels Revolte im Erziehungshaus – aufgezeigt.
1Die
Abschiedsbriefe von Paul Krantz und Günther Scheller, verfasst in der Nacht des 27. Juni 1927, finden sich u. a. bei Sack 2016, 134.
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Die Steglitzer Schülertragödie als Medienverbund? Beginnend sei erläutert, warum der vorliegende Stoff – das Kernelement eines Medienverbundes2 – hier als Steglitzer Schülertragödie bezeichnet wird. Eine ähnliche Wendung findet sich bereits in der B. Z. am Mittag des 28. Juni 1927 in der Überschrift Schüler-Tragödie in Steglitz. Ein Neunzehnjähriger erschießt seinen Freund und sich (vgl. Sack 2016, 123). In der Abendausgabe der Deutschen Zeitung desselben Tages taucht dieselbe Formulierung auf: Großstadtjugend und ihr Ende. Schülertragödie in Steglitz (vgl. ebd., 236). Wo zum ersten Mal das Steglitzer der Schülertragödie vorangestellt wurde, kann nicht eindeutig gesagt werden, doch diese Bezeichnung etablierte sich in der Presse und prägt bis heute die Forschungsliteratur zu diesem Thema, weswegen auch an dieser Stelle der Stoff so benannt wird. Trotzdem seien die Fehlschlüsse, zu denen diese Bezeichnung führen kann, gleich aufgedeckt: Es gibt keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen dem Kriminalfall und der Institution Schule. Paul Krantz, Günther und Hilde Scheller waren noch Schüler/innen und in späteren Paratexten wird erläutert, dass Krantz – ein Proletarierkind, das eine Freistelle an einer Oberrealschule erhielt – Probleme hatte, sich in dem bürgerlichen Milieu der höheren Schule einzufinden; außerdem hatten Paul Krantz und Günther Scheller zum Tatzeitpunkt bereits seit einigen Tagen die Schule geschwänzt. Mehr Verbindungen gibt es nicht. Die rasche Benennung als Schülertragödie ist ein früher Verweis auf ein literarisches Genresystem, das bekannt war und zur Erschließung und Deutung des Geschehens genutzt wurde, wie weiter unten noch ausgeführt wird. Kann nun ein Kriminalfall ein Medienverbund sein bzw. werden? Kurwinkel (2017) beschreibt einen Medienverbund als ein „aus Einzelmedien bestehendes System, das aus einem originären Text [Hervorh. i. O.] hervorgegangen ist“ (ebd., 15). Der originäre Text wird dabei nicht als zwangsläufig fiktional gekennzeichnet, wie etwa bei Maiwald (2010),3 sondern mit einem weiten Textbegriff nach Nöth (2000) gefasst: In seiner weitesten Bestimmung umfasst der Textbegriff eine verbale, non-verbale, visuelle und auditive Mitteilung, die von einem Sender mittels eines Kodes an einen Empfänger gerichtet ist. Nicht nur gesprochene und geschriebene Diskurse, sondern auch Filme, Theateraufführungen, Zeremonien, Ballettaufführungen, Happenings, Zirkusnummern, Bilder oder Musikstücke sind demnach Texte. (Ebd., 392; zit. nach Kurwinkel 2017, 15)
Unter diesem weiten Textbegriff lassen sich alle (medialen) Verarbeitungen der Steglitzer Schülertragödie bündeln: die ersten Meldungen in den Zeitungen, die
2Vgl.
dazu in diesem Band die Einleitung, Kapitel Zum Spektrum der Medienverbünde. (2010) definiert Medienverbünde als „systemisch planvoll erzeugte Aggregate von Medienangeboten zu ein und demselben fiktionalen Stoff, die neben Rezeptions- auch Interaktionsverhalten ermöglichen. Somit formieren Medienverbünde fiktional-ästhetische Erlebnisund Konsumzonen.“ (Ebd., 140). 3Maiwald
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gesamte Prozessberichterstattung, die Filme und Bücher, in denen der Vorfall verarbeitet wurde, genauso wie die Anträge von Politiker/innen, die unter Bezugnahme auf den Fall bspw. im Reichstag eingereicht wurden. Trotzdem deckt dieser Textbegriff noch nicht den eigentlichen Vorfall. Darum schlage ich vor, die Steglitzer Schülertragödie als transmediales Phänomen zu begreifen. Rajewsky (2002) beschreibt Transmedialität als das Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist oder für die Bedeutungskonstitution des jeweiligen Medienprodukts relevant würde. (Ebd., 12f.)
Als Beispiel nennt sie die Parodie als Genre bzw. Diskurstyp, die zwar im literarischen Medium entwickelt worden ist, dessen Regeln aber nicht medienspezifisch sind, weshalb sie bspw. sowohl in der Literatur als auch im Film mit den dem jeweiligen Medium inhärenten Mitteln umgesetzt werden kann (vgl. ebd., 13). Auch im Falle der Steglitzer Schülertragödie weist der öffentliche Diskurs zahlreiche transmediale Bezüge auf, besonders auffällig ist hier der Generationenkonflikt unter Bezugnahme auf die Auswirkungen der Zäsur des Ersten Weltkriegs (s. u.). Dass sie selbst zu einem transmedialen Phänomen anwächst, soll in den nachfolgenden Ausführungen gezeigt werden. Kurwinkel verweist darauf, dass der originäre Text und die Einzelmedien „in intra- und/oder intermedialen Beziehungen unter- und zueinander“ stehen (Kurwinkel 2017, 15). Intermedialität bezeichnet nach Rajewsky die „Gesamtheit aller Mediengrenzen überschreitenden Phänomene“ (Rajewsky 2002, 12), davon abzugrenzen ist die Intramedialität „als Terminus zur Bezeichnung jener Phänomene […], die […] innerhalb [Hervorh. i. O.] eines Mediums bestehen, mit denen also eine Überschreitung von Mediengrenzen nicht einhergeht.“ (Ebd.) Ein Beispiel wären die Bezugnahmen literarischer Texte auf einen bestimmten Einzeltext (ebd.). Bezogen auf die Steglitzer Schülertragödie fallen vor allem intermediale Bezüge in verschiedenen Handlungsräumen auf. In Abgrenzung zu anderen Definitionen des Begriffs Medienverbund soll an dieser Stelle noch ein Aspekt erwähnt werden, der nicht oder nur eingeschränkt auf die Steglitzer Schülertragödie zutrifft. So wird von Maiwald (2010) für einen Medienverbund als relevant gesetzt, „dass er nicht einfach als Nebeneinander verschiedener Medienangebote zufällig entsteht, sondern auf der sozial-systemischen Ebene, das heißt, von Medienorganisationen und -institutionen, planvoll erzeugt wird.“ (Ebd., 139) Faktisch wurde die Steglitzer Schülertragödie von Medienorganisationen und -institutionen durchaus planvoll adaptiert – die Erzeugung des Stoffes in einer (spontanen) Handlung ging diesen individuellen Akten voraus. Als individuell sind sie zu bezeichnen, da sie tatsächlich „als Nebeneinander verschiedener Medienangebote“ entstehen – lediglich dem Begriff „zufällig“ ist hier abzusprechen. Die weite Ausbreitung der Verwertung der Steglitzer Schülertragödie hängt zusammen mit den sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Themen ihrer Zeit und der hohen Anschlussfähigkeit für unterschiedliche Disziplinen. Dieses Beispiel legt die These nahe, dass Medienverbünde eben doch
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ungeplant und zufällig entstehen können. Zwar braucht es bei den jeweils einzelnen Akteur/innen und Institutionen noch einer planvollen Handlung zur Nutzung des Stoffes, trotzdem können sie unabhängig voneinander inspiriert worden sein. Die hohe Popularität eines Stoffes trägt unmissverständlich zu einer intensiven weiteren Distribution und Verarbeitung desselben bei. Daran anschließend ist auch Möbius (2013) zu erwähnen, der Medienverbünde und auch Crossmedialität als Vermarktungsstrategien kennzeichnet, die „produktions- und produktorientiert [sind], es handelt sich um eine Koppelung verschiedener Medien aus kommerziellen Gründen.“ (Möbius 2013, 225) Eben diese Vermarktungsstrategien lassen sich bei der Steglitzer Schülertragödie beobachten, mit der Einschränkung, dass sie nicht von den Institutionen gemeinschaftlich geplant, sondern spontan genutzt wurden. Die Mehrfachvermarktung der Diskursthemen rund um den Stoff bot sich für diverse Institutionen an. Mit dem Medienkompaktbegriff von Siegfried S. Schmidt (2008)4 können die gesellschaftlichen Aktant/innen und Institutionen des beobachteten Medienverbundes fokussiert werden.5 Mit ihren spezifischen Kommunikationsinstrumenten und technischen Dispositiven sorgten Presse und Film für die zeitnahe Verbreitung und Verarbeitung des Stoffes. Die Zeitung kann als primäres Medium des öffentlichen Diskurses bezeichnet werden; auch die Filmbranche reagierte direkt (wie sich in Anzeigen und Ankündigungen zeigt), konnte aber erst mit zeitlicher Verzögerung im Jahr 1929 ihre eigenen Verarbeitungen auf den Markt bringen. Auf Diskursebene begegneten sich staatliche Institutionen – am präsentesten die Justiz – und private Organisationen – Produktionsfirmen und Zeitungsverlagen – in wechselnden Handlungsrollen der Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung als ein „sich selbst organisierende[s] Zusammenwirken“ (Schmidt 2008, 145). Anders als in den geplanten modernen Medienverbünden, auf denen die meisten Begriffsdefinitionen beruhen, standen die Akteur/ innen und Institutionen nur vereinzelt im Kontakt miteinander, der Verbund entstand spontan. Dieses Zusammenwirken „vieler Komponenten im Zusammenhang ihrer Handlungsbereiche und in Interaktion mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, wie Wirtschaft, Kunst, Politik oder Erziehung“ (Josting 2013, 235) soll hier in einer Fokussierung verschiedener Teilsysteme betrachtet werden. Dabei wird auch Schmidts Erweiterung des Medienkompaktmodells um den Begriff der Emotionen (Schmidt 2014, 134–147) relevant, die den Wirkungszusammenhang von Emotionen und Medien aufzeigt. Das Bewusstsein der Aktant/innen sei „ein dynamisches Prozessgefüge“, an dem vier Ordner bzw. „Attraktoren“ beteiligt seien – „Kognition, Emotion, Moral (normative Orientierung) und Empraxis (Einschätzung der lebenspraktischen Relevanz)“ (Schmidt 2005, 18). Schlüsselt man auf dieser Grundlage die Steglitzer Schülertragödie auf, lassen sich folgende Aussagen treffen: Es liegt eine medienübergreifende Verbreitung
4Vgl. 5Die
dazu die Einleitung in diesem Band, Kapitel Theoretische Rahmungen. folgenden Ausführungen und Begriffsverwendungen folgen Schmidt (2008), 144 f.
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eines Stoffes vor, der ein transmediales Phänomen darstellt und der – dem weiten Textbegriff von Nöth folgend – in verschiedenen Handlungsräumen als Text gestaltet wird. Der Verweischarakter der Einzelmedien auf den Stoff ist explizit – die Steglitzer Schülertragödie ist in aller Munde – die gegenseitige Bezugnahme untereinander gestaltet sich hingegen äußerst different.
Die Presse als Medium der Dokumentation und Emotionalisierung Die mediale Wahrnehmung und damit die Narration der Steglitzer Schülertragödie begann bereits am Morgen der Tat. Heidi Sack (2016), die die Berichterstattung ausführlich aufgearbeitet hat, zeigt auf, dass die überwiegende Mehrheit sowohl der lokalen als auch der überregionalen Zeitungen noch am selben Tag von dem Vorfall berichtete (vgl. ebd., 123). Die Presse verbreitete Informationen genauso wie Gerüchte und Mutmaßungen. Noch am 28. Juni 1927 wurden alternative Versionen des Mordmotivs verbreitet: heftiger Streit zwischen Günther und Hans bzw. Eifersucht des mutmaßlich homosexuellen Günther (ebd., 139). Als am 30. Juni 1927 bekannt wurde, dass die Tatwaffe Paul Krantz gehörte, änderten sich die Schlagzeilen und richteten sich gegen ihn als den Verdächtigen (vgl. ebd., 140). Der Mordfall wurde allerdings schnell von den intimen Details der Zeugenvernehmungen überlagert, der Fokus der Presseberichterstattung verschob sich auf das (Sexual-)Leben der Jugendlichen (ebd., 238). Der Prozess wurde am 9. Februar 1928 eröffnet und dauerte 12 Tage.6 Am 20. Februar 1928 verurteilte man Krantz wegen des Besitzes der Tatwaffe zu drei Wochen Gefängnis (die mit der Untersuchungshaft bereits verbüßt waren), in allen übrigen Anklagepunkten sprach man ihn frei. Dieser Prozess ist als Teil der Steglitzer Schülertragödie zu begreifen, die Berichterstattung darüber ließ den Vorfall erst zu einem publizistischen und schnell zu einem transmedialen Phänomen anwachsen. Das öffentliche Interesse war – angeheizt durch die Berichterstattung – massiv, was sich in den Versuchen vieler Menschen spiegelt, an der Verhandlung teilzunehmen, für die Karten verkauft wurden. Sie geriet zum Schauprozess, wurde damit zur öffentlichen Veranstaltung und verweist auf das Theater. Der Prozess wird für die Zeitungsleser/innen schriftlich und bildlich7 aufbereitet, lässt sie zu Prozessbeobachter/innen werden, gibt ihnen das Gefühl, dabei zu sein. In den verschiedenen Schilderungen fallen dramatische und filmische Mittel der Inszenierung auf: das Prozessgeschehen wird wie in einem Theater-
6Der
Prozess war ursprünglich nur auf zwei Tage angelegt, er nahm am Ende aber 50 Prozessstunden ein, verteilt auf zwei Wochen und verursacht durch eine steigende Zahl von geladenen Zeug/innen und Gutachter/innen sowie eine kurzzeitige Unterbrechung der Verhandlungen (vgl. Sack 2016, 144). 7Zeichnungen, Karikaturen, Fotografien.
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manuskript oder Drehbuch notiert, der Sensationscharakter ebenso erhöht wie die emotionale Teilhabe der Leser/innen angestachelt. Manche Zeilen wirken wie Regieanweisungen, so die Kommentierung des Aussehens Hilde Schellers, als diese in den Zeugenstand gerufen wird: „[d]as Mädchen, 16 Jahre alt, ist körperlich voll entwickelt, ihr hübsches, aber ausdrucksarmes Gesicht zeigt keine Bewegung“ (Krantz schildert die Mordnacht 1928) – oder die Atmosphäre im Saal: „[u]nter atemloser Spannung des Auditoriums verkündet das Gericht nach wenigen Minuten Beratung folgenden Beschluß“ (Verhandlung wegen Totschlags 1928, 1). Die Journalist/innen selbst zogen häufig Theater-Vergleiche heran, besonders beliebt war die Anspielung auf Wedekinds Kindertragödie Frühlings Erwachen (1891).8 Das Drama erzählt die Geschichte mehrerer Jugendlicher, die im Zuge ihrer Pubertät und der damit verbundenen sexuellen Neugier mit den Problemen psychischer Instabilität und gesellschaftlicher Intoleranz der Erwachsenen konfrontiert sind. Das Stück war am 20. November 1906 in den Berliner Kammerspielen uraufgeführt worden und stand seither regelmäßig auf den Berliner Spielplänen. Die implizite Kritik an der Sexualmoral im Wilhelminischen Kaiserreich lockte zum Vergleich, noch offensichtlicher allerdings die Figuren Moritz, ein fünfzehnjähriger Schüler, der Selbstmord begeht, und Wendla, ein vierzehnjähriges, sexuell aktives Mädchen. Die während der Verhandlungen offenbarten und über die Presse verbreiteten intimen Details aus dem Leben der Beteiligten weckten den Voyeurismus der Leser/innen und führten gleichzeitig zu massiver Kritik. Es wurde vermutet, dass die Berichte über das Verhalten des Angeklagten, der Kronzeugin Hilde Scheller sowie der Zeugin Elinor Ratti9 negative Auswirkungen auf die „Sittlichkeit“ der Jugend haben würden. Die Tagespresse war Personen jeden Alters zugänglich und wurde – gerade in diesem Fall – auch von Jugendlichen konsumiert. Es war wiederum die Presse, die die Rezeption durch Jugendliche kritisch kommentierte, so beispielsweise die Germania vom 26. Februar 1928: Die Presse hat Verantwortung zum Wesentlichen. Es ist kapitalistischer Mißbrauch, wenn diese heiklen Dinge in Sperrdruck und in Fettdruck den Verlauf der Mittagsblätter beflügeln. Man hat mir in Steglitz erzählt, daß halbe Auflagen an Minderjährige abgingen. Die Lehrlinge verschlangen den eben frisch aus der Presse gezogenen Bericht. […] Unverzeihlich die nun schon über eine Woche bis ins letzte Dorf und an den letzten Jugendlichen im eignen Land reichende Überschwemmung erotischer Sensationen. Solche Öffentlichkeit ist Katastrophe. Kein Staat kann sie erlauben. (Sonnenschein 1928, 5)
8Zwei Theaterstücke entstanden tatsächlich: Edgard Walsemanns Die Schülertragödie wurde im März 1928 in Hamburg aufgeführt, Der Kindergarten von Sylvia von Harden, die zu den Prozessbesucherinnen gehörte, wurde noch während des Verfahrens fertiggestellt und in der laufenden Spielzeit an einem Berliner Theater uraufgeführt (vgl. Sack 2016, 175 f.). 9Auch Ellinor Ratti – die Schreibweisen differieren. Ratti war am Abend vor der Tat und am Tatmorgen anwesend. Ihrer eigenen Aussage nach küssten sie und Krantz sich am vorherigen Abend, während Günther Scheller zeitweilig verschwunden und Hilde Scheller allein mit Hans Stephan in einem Zimmer war. Ratti verließ allerdings danach die Wohnung, schlief bei ihren Eltern und kam am Morgen vorbei, um Hilde Scheller zur Schule abzuholen. Als die Schüsse fielen, unterhielt sie sich gerade mit Hilde im Flur (vgl. Sack 2016, 133u. 138).
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Diese Rezeption macht den Medienverbund um die Steglitzer Schülertragödie erst zu einem faktisch (auch) jugendliterarischen, ermöglicht wurde sie durch ein in der Distribution unzensiertes und allen Altersstufen zugängliches Medium. Es blieb jedoch nicht bei der reinen Rezeption, Jugendliche begannen zu partizipieren, sie wurden im Sinne von Möbius (2013) zu Co-Produzenten, zu Produsern (vgl. ebd., 226), im Rahmen der zeitgenössischen medialen Möglichkeiten, also vor allem durch Leserbriefe, die in den unterschiedlichsten Zeitungen auch gedruckt wurden.10
Transmediale Ausweitungen des Stoffes: Sexualität, Generationenkonflikt Sowohl der Wunsch der Jugendlichen, sich an diesem Diskurs zu beteiligen, als auch die tatsächliche Publikation solcher Zuschriften kann nicht überraschen: Der sogenannte Krantz-Prozess war Auslöser einer Debatte geworden, deren Thema die Jugend war. Mehr als die juristischen Auseinandersetzungen interessierte das Seelenleben dieser Jugendlichen, die als prototypisch für die zeitgenössische junge Generation interpretiert und dargestellt wurden. Diskussionsschwerpunkte waren die Not der heutigen Jugend, die Rolle der Erwachsenen und jugendliche Sexualität, Letztere mit einer starken Fokussierung auf Hilde Scheller, deren Kontakt mit Männern im Prozess deutlich über das nötige Maß hinaus ausgebreitet und durch die oft wörtliche Berichterstattung der Öffentlichkeit bekannt wurde.11 Die Sichtweise der älteren Generation führte zu heftigen Reaktionen der jüngeren Leser/ innen, die von Zustimmung bis zu klarer Ablehnung reichten (vgl. Siemens 2007, 274). Die diskutierte Jugend sah sich als Gegenstand erwachsener Debatten, „in denen ihre Altersklasse entweder überspitzt idealisiert oder verallgemeinernd pathologisiert wurde“ (Sack 2016, 432 f.). Das Phänomen war nicht neu, vielmehr spiegelte sich darin ein generelles Diskursthema der Weimarer Republik: der Generationenkonflikt. Die Jugend der Weimarer Republik wuchs – vielfach ohne Väter – unter den düsteren Bedingungen der Nachkriegsjahre auf, außerdem in einer Zeit raschen sozialen und technologischen Wandels. Mommsen beschreibt die wachsende Spannung zwischen den Erfahrungswelten der Jungen und Alten, der verhinderte, „daß die Fertigkeiten der Väter unmittelbar den Söhnen tradiert werden konnten; sie erwiesen sich zunehmend als wertlos angesichts wechselnder
10Nach
der Urteilsverkündung trugen auch Hilde Scheller und Paul Krantz ihren Teil zu diesen Äußerungen bei. Scheller, die von der Presse größtenteils in ein schlechtes Licht gerückt wurde, bat Karl Kraus, den Herausgeber der Fackel, um eine Gegendarstellung, die dieser im Juni 1928 mit dem Beitrag Für Hilde Scheller (Kraus 1928) veröffentlichte. Krantz äußerte sich in einer Fortsetzungsreihe unter dem Titel Mein Prozess von Paul Krantz, die in der Welt am Abend vom 24. Februar bis zum 2. März 1928 erschien (vgl. u. a. Krantz 1928). 11Vgl. zu diesen Punkten auch Siemens 2007, 273 f.
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Berufsbilder und Ausbildungsanforderungen.“ (Mommsen 1985, 53) Jugendliche trennten sich früher von der Familie, es gab eine ausgeprägte Überrepräsentation von Jüngeren, besonders in urbanen Zentren wie Berlin, der Jugend fehlte es an Vorbildern. Sie war die Hoffnung der Nation, ein Mythos und wurde gleichzeitig kritisch und verständnislos beäugt. Die Jugend wurde – wie Mommsen konstatiert – zum „Leitmotiv“ der Weimarer Kultur, das Verhältnis zur jüngeren Generation beherrschte die Geisteswissenschaften, die Literatur, die Erziehungswissenschaften und vor allem die Psychologie (vgl. ebd., 62). Deutlich wurde nur immer wieder, dass der Graben, „der zwischen der Republik und ihrer Jugend aufgebrochen und der im Grunde ein Erbe des Ersten Weltkriegs war“, nicht mehr überbrückt werden konnte (ebd.). Die Steglitzer Schülertragödie bot einen weiteren Anlass, dieses Thema zu vertiefen, viele Zuschriften Jugendlicher beschäftigten sich damit oder verwiesen zumindest darauf. Die von den Jugendlichen gewünschte Beteiligung erkannten die Zeitungen als auflagensteigerndes Mittel – neben zahlreichen Zuschriften aus dem Leserkreis wurde auch bewusst versucht, Aussagen zu sammeln, beispielsweise von der Welt am Abend, die politisch korrekt „durch einen jungen Mitarbeiter Stimmen der proletarischen und auch der bürgerlichen Gymnasiastenjugend“ sammeln ließ (Stimmen der Jugend 1928). Die geäußerten Ansichten, in diesem, wie in vielen weiteren Beiträgen,12 spalteten sich in genau dieselben Kategorien auf, wie bei den Älteren: „Die eine Seite betonte, dass der Fall typisch für die damalige Jugend und ihr Geschlechtsleben sei, die andere unterstrich, dass es sich um eine unrühmliche Ausnahme handle, welche keinesfalls verallgemeinert werden dürfe.“ (Sack 2016, 320)13 Aufgeschlüsselt nach Nöths Textbegriff richten sich als Sender/innen Jugendliche mittels des Kodes „Leserbrief“ an Empfänger/innen jeden Alters und fordern dazu auf, ihre Meinungen wahrzunehmen und werden so – als Produser – Akteur/innen und Mitgestalter/innen des Medienverbunds.
Machtdiskurs im Medienverbund In der Tagespresse wie in der Forschungsliteratur finden sich zahlreiche Hinweise auf öffentliche Versammlungen, zu denen im Kontext der Steglitzer Schülertragödie aufgerufen wurde, oft mit renommierten Sprecher/innen, nicht selten traten Sachverständigen-Gutachter/innen des Prozesses auf.14 Unter den Ver-
12Vgl.
u. a. Schiffbruch der Eltern (1928); Wir Jungen und der Primaner Krantz (1928); Kämpfer (1928); 16 Oberprimanerinnen lehnen ab (1928); Stumpfe (1928) u. v. m. 13Vgl. hierzu auch Siemens 2007, 275. 14Zu ihnen zählten der Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger, der Pädagoge Siegfried Bernfeld, der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld und die promovierte Gymnasiallehrerin, Dozentin und SPD-Politikerin Hildegard Wegscheider.
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anstaltern waren auch Jugendliche; so fand zum Beispiel am 20. Februar 1928 eine Versammlung des Sozialistischen Schülerbunds Berlin statt, „für die zuvor an allen Berliner Schulen Einladungen verteilt worden waren, in denen auch zu einer Stellungnahme zum Krantz-Prozess aufgerufen wurde“ (Sack 2016, 321). Diese Mobilmachung wurde von den konservativen politischen Kräften nicht gerne gesehen und nach heftiger Debatte im Preußischen Landtag – mit dem Hinweis auf das niedrige Alter der Beteiligten und ihre hohe Zahl – für die Zukunft verboten (vgl. ebd., 321). Versammlungen dieser Art sind ebenfalls als Teil des Medienverbundes und im Sinne Nöths als Text zu verstehen: Die jugendlichen Veranstalter/innen luden als Sender mittels des Kodes der verteilten Einladungen die jugendlichen Empfänger/ innen zur Partizipation am Diskurs ein. Gleichzeitig steht auch diese Versammlung beispielhaft für das Produser-Verhalten der Jugendlichen und deren faktische Rezeption des Stoffes. Ähnlich ist der anschließende Diskurs im Landtag zu bewerten: Die Politiker/innen (Sender) beschließen ein Verbot (Kode) solcher Versammlungen, welches die Jugendlichen (Empfänger/innen) betrifft.15 Dies war nicht die einzige politische Maßnahme, die von der Steglitzer Schülertragödie ausgelöst wurde. Das öffentliche Interesse besonders von Jugendlichen führte zu verschiedenen (Versuchen von) medialen Zensurmaßnahmen. So wurden die Karikaturen und vor allem die Fotografien aus dem Gerichtssaal kritisiert.16 Letztere waren ein relatives17 Novum in der Prozessberichterstattung: Dem Fotoreporter Erich Salomon, damals noch unbekannt,18 gelang es mit einer in einer Tasche oder seinem Hut versteckten Kamera in den Gerichtssaal zu gelangen und während der Verhandlung zu fotografieren (vgl. Siemens 2007, 282 f.). Die Aufnahmen wurden in verschiedenen Tageszeitungen publiziert und illustrierten den Prozess zusätzlich, den Rezipierenden wurde eine noch größere Nähe zum Geschehen suggeriert, die Protagonist/innen noch stärker ins Licht der Öffentlich-
15Erwähnt
werden muss außerdem die von der Deutschen Liga für Menschenrechte organisierte Veranstaltung Der Krantz-Prozess und seine Lehren, die am 29. Februar 1928 in den Berliner Spichern-Sälen stattfand. Hier diskutierten u. a. Prozessberichterstatter, Prozessgutachter und Schriftsteller mit zahlreichen Jugendlichen über die Einführung der Koedukation, die Ausweitung von Zuständigkeiten des Jugendgerichts, die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und den Generationenkonflikt. Eine Kontroverse zwischen dem Redakteur Rudolf Olden und dem damals 24-jährigen Hans Litten endete in Oldens Aufforderung an die Jugend, selbst tätig zu werden. Litten gründete daraufhin zusammen mit seinem Freund Max Fürst die Jugendberatungsstelle „Jugend hilft Jugend“, die bis 1930 bestand (vgl. Sack 2016, 322 ff.). 16Ausführlich zur fotografischen Bildberichterstattung über Verbrechen in der Berliner Boulevardpresse von der Weimarer Republik bis 1945 vgl. Tribukait 2017, 204–296; insbes. zur Steglitzer Schülertragödie 232–247. 17Weise hält diesbezüglich fest: „Der Legende, daß es in Deutschland vor Salomon keine Photos aus deutschen Gerichtssälen gab, muß widersprochen werden. Schon 1922 hatte Robert Sennecke Photos im Rathenau-Mordprozeß aufgenommen […].“ (Weise 2004, 28 f.) 18Tatsächlich begann Ernst Salomons Karriere als Fotojournalist mit dem Krantz-Prozess, vgl. Weise 2004.
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keit gerückt. Die Publikation der Salomon’schen Aufnahmen führte zu einem Schreiben der Anwaltskammer, die den Justizminister aufforderte, die Gerichtsfotografie zu verbieten, jedoch ohne Erfolg, wie die Abschrift einer Pressekonferenz vom 26. September 1928 belegt. Der zu diesem Zeitpunkt amtierende Justizminister Erich Koch-Weser hielt sogar lakonisch fest, dass heutzutage alles gefilmt werde; beim Gericht eine Ausnahme zu machen, sei nicht erforderlich. Zudem sei jemand, der ein aufsehenerregendes Verbrechen begangen habe, eine Person der Zeitgeschichte geworden, der die Verbreitung seines Bildes hinzunehmen habe. (Siemens 2007, 286f.)
Die Fotografien Salomons führten zu einer weiteren Emotionalisierung der Prozessberichterstattung. Ihre Produktion erfolgte heimlich und war, genau wie ihre Publikation, ein Skandal für sich. Die Bilder gewährten Einblicke in den für die meisten Rezipierenden verschlossenen Gerichtssaal, erlaubten ihnen, sich – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Bild der darin Agierenden zu machen und fachten so erneut Interpretationen der Persönlichkeiten der Abgebildeten und allgemeine Spekulationen an. Über ihre fotografischen Abbildungen wurden die unfreiwillig zu Personen der Zeitgeschichte gewordenen Jugendlichen noch mehr zu vertrauten medialen Figuren, die Rezipierenden glaubten ihnen noch näher zu sein, sie noch besser zu kennen und noch berechtigter ein Urteil über sie fällen zu dürfen. Nicht nur die Fotos von Krantz, Scheller und Ratti, auch die Berichterstattung insgesamt beleuchtete und diskutierte sie von allen Seiten und geriet dafür ebenfalls in die Kritik. Als bedenklich galt die allgemeine „Sensationsmacherei“ und erneut die „sittliche Gefährdung“ der Jugend, insbesondere wegen der vielen sexuellen Details, die im Prozess erfragt und von der Presse publiziert wurden. Politiker/innen nahmen diesen Fall zum willkommenen Anlass, das schon häufiger diskutierte Thema „Presse und Justiz“ zu erörtern und Reformvorschläge zu machen, auch wegen der in den Berichten vorhandenen Justizkritik (vgl. Sack 2016, 207 f.). Der deutschnationale Abgeordnete Reinhard Mumm reichte bereits zwei Tage nach Prozessbeginn einen Antrag zur Änderung des Reichspressegesetzes ein, in das der folgende Wortlaut aufgenommen werden sollte: „Prozeßberichte, die geeignet sind, das Geschlechtsgefühl der Jugend zu überreizen oder irre zu leiten, sind verboten.“ (Zit. nach Sack 2016, 208 f.) Die Presse selbst reagierte größtenteils mit Kritik und verteidigte sich, aber trotzdem zeigte die sogenannte Lex Krantz Auswirkungen: der Berliner Bezirksverband des Reichsverbandes der Deutschen Presse nahm in seiner Mitgliederversammlung am 20. Februar 1928 eine Resolution an, in der er sich gegen das Ausnahmegesetz verwahrte, allerdings versprach, dass aus eigenem „Verantwortungsbewusstsein eine kontraproduktive Gerichtsberichterstattung“ in Zukunft ausgeschlossen werde (ebd., 214). Der Effekt dieses Beschlusses erwies sich allerdings in der Praxis als von kurzer Dauer (vgl. ebd., 217). Die kommunistische Stadtverordnetenfraktion wiederum brachte im Stadtparlament einen Antrag ein, „der sich mit dem Versagen der Schulen gegenüber den Nöten der Jugend beschäftigt[e]“ (Stadtparlament und Krantz-Prozeß 1928). Gefordert wurde die Koedukation, Aufklärungsunterricht ab der 1. Klasse und entsprechende Kurse für alle Lehrerinnen und Lehrer. Diesen Forderungen wurde
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zwar nicht Wort für Wort Folge geleistet, doch der Prozess beeinflusste die Berliner Schulpolitik im Kontext der ohnehin breiten bildungspolitischen Diskussion. Der preußische Kultusminister sah sich zu schulreformerischen Bekenntnissen veranlasst, in Berlin kam es zu einem „Beschluß über die Innovation des Schulwesens durch die gemeinschaftliche Erziehung der Geschlechter“ (Hansen-Schaberg 1999, 289). Die daraufhin eingeführten koedukativen Klassen konnten sich in Berlin bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme halten (vgl. ebd., 288). Die öffentlichen Diskurse gingen also weit über die Prozessberichterstattung hinaus, erreichten politische Institutionen und führten zu Beschlüssen und Gesetzgebungen, die wiederum Jugendliche betrafen.
Das Schülerdrama als literarisches Verweissystem Lange hält fest, dass die Steglitzer Schülertragödie als symptomatisch für eine „Krise der Jugend“ begriffen wurde, „die sich bis dahin hauptsächlich in Roman und Drama ereignet hatte“ (Lange 1985, 412). Verwiesen wird hier auf das Genresystem der Schülerdramen, -romane und -erzählungen, die seit Wedekinds Frühlings Erwachen vermehrt in Deutschland publiziert wurden (vgl. Noob 1998, 103 f.) und in der Weimarer Republik eine neue Blüte erlebten.19 Wie bereits erläutert, gab es keine deutliche Verweislinie zwischen dem Kriminalfall und der Schule, die Benennung eben als Schülertragödie sowie der Suizid Günther Schellers wirkten jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung wie eine Systemreferenz, intermediale Verweise auf literarische Einzeltexte finden sich in zahlreichen Artikeln zum Geschehen. Wedekinds Frühlings Erwachen wurde oft in einem Atemzug mit der Steglitzer Schülertragödie genannt. Ein weiterer WedekindVerweis bezog sich auf dessen Figur Lulu aus Der Erdgeist (1895) und dessen Fortsetzung Die Büchse der Pandora (1902), die als Inbegriff eines freizügigen Mädchens zum ständigen Vergleich mit Hilde Scheller aufforderte; Rutschky konstatiert lapidar: „Hildegard Scheller war Lulu“ (Rutschky 1993, 32). Die Wedekind-Vergleiche sind so gegenwärtig und manifest, dass ihnen sogar bewusst widersprochen wird, bspw. von Manfred Georg: „Nichts liegt ferner und wäre falscher, als in dem jungen Mädchen Hilde ein verderbtes Geschöpf zu sehen, das etwa einer Wedekindschen Komödie [sic!] entsprungen sei.“ (Georg 1928) Aus der Vielfalt an weiteren Verweisen20 sollen zwei beispielhaft vorgestellt werden:
19Vgl.
zu diesem Aspekt auch die Beiträge von Petra Josting zu Traumulus und Gabriele von Glasenapp zu Mädchen in Uniform in diesem Band. 20Zu nennen sind u. a. Die Leiden des jungen Werther (Goethe, 1774), Die Ehre (Sudermann, 1890), Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (Werfel, 1920), Tor zur Welt (Thiess, 1926), Krankheit der Jugend (Bruckner, 1924). Lange vermutet außerdem, Bruckners Zeitstück Die Verbrecher (Uraufführung 1928) könnte von dem Prozess angeregt worden sein (vgl. Lange 1985, 423 f.).
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Eine Leserzuschrift im Berliner Lokal Anzeiger verweist auf Max Halbes Tragödie Jugend (1893). Aus der Bekanntheit des Themas schließt der Schreiber: Was also […] sollen wir aus der breiten Behandlung des Sexualproblems an Gerichtsstelle eigentlich gewinnen, es sei denn die traurige Erkenntnis, wie wahl- und hemmungslos in ihrem Triebleben leider junge Menschen heutzutage sein können, und wie leicht es sich heutzutage leider manche Eltern mit der Erziehung und Beaufsichtigung ihrer heranwachsenden Kinder machen. (Grabein 1928)
Das Aufwerfen seines literarhistorischen Beispiels, das von der Kenntnis des Problems zeugen soll, wird von ihm nicht weitergedacht. Denn dass auch Halbes Drama die – immer noch unbeantworteten und am liebsten verschwiegenen – Probleme und Fragen aufwirft, zeigt letztlich, dass sich innerhalb von 35 Jahren seit dessen Erscheinen wenig getan hat. Als Problemlösung rät er nur den Älteren dazu, den Jüngeren ein guter Freund und Beistand zu sein, den Jüngeren, sich bei den Älteren Rat zu holen und „nicht bei Gleichaltrigen in dunklen Ecken und Winkeln heimlich Aufklärung“ zu suchen (ebd.). Eine andere Lösung des Problems gäbe es nicht, schließlich könne man nicht „Halbwüchsige sich schon heiraten oder in freier Liebe vereinen“ lassen (ebd.). Er schließt mit einem moralischen Appell im militaristischen Tonfall: „[Mehr] Zucht, mehr Selbstzucht und im übrigen genug des verwirrenden Geredes.“ (Ebd.) Der Artikel Primaner Krantz und seine Generation, der einen Tag vor Prozessbeginn, am 8. Februar 1928, im 8-Uhr-Abendblatt erscheint, wählt ein aktuelleres Beispiel und versucht daran „diese Jugend“ zu erklären: Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew des russischen Autors Nikolai Ognjew, erschienen 1928 in einer deutschen Übersetzung von Maria Einstein. In diesem „[hochinteressanten] Dokument der russischen Schule“ fänden sich sorgsam und ehrlich all die Probleme eines jugendlichen Herzens aufgezeichnet, aber dort, wo sie ganz persönlich werden, wo sie zum Beispiel als sexuelle dem Tagebuchführer oft über den Kopf wachsen, ergibt sich doch für ihn die Lösung des Privatkonfliktes durch dessen Orientierung am Allgemeingeschehen. (Georg 1928)
Krantz und die übrigen in die Affäre verwickelten Personen – die aus einem „versinkenden und soziologisch unfruchtbar werdenden“ Mittelstand stammen würden – wären hingegen nicht in der Lage, so von ihren persönlichen Konflikten zurückzutreten. Sie seien „eben zum Leben erwacht“ und nicht „auf die allen Seelenboden aufreißende Pubertät […] vorbereitet“ (ebd.). Auch der Artikel Jugend von heute. Ihre Geheimnisse und die Hilflosigkeit der Alten, der am 18. Februar 1928 in der Welt am Abend erscheint, zieht Ognjews Roman heran, über den man „[wenigstens etwas von] der russischen Jugend […] erfahren“ habe (Ali Baba 1928). Vergleichend wisse man „[von] der deutschen Jugend […] leider nichts“. Auch der Krantzprozeß habe „infolge seiner rein kriminalistischen Regie nichts von alldem an die Öffentlichkeit gebracht.“ (Ebd.) Literarische Texte werden also genutzt, um „diese Jugend“ zu verstehen, um Aufschluss über sie zu gewinnen – der Erfolg dieses Unterfangens sei dahingestellt. Die Steglitzer Schülertragödie wurde auch selbst zu und in literarischen Texten verarbeitet. Bekannte Adaptionen sind Paul Krantz’ Roman Die Mietskaserne,
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der eine Art literarisierte Autobiografie des Autors darstellt und 1931 als erste Publikation unter seinem Pseudonym Ernst Erich Noth erschien. In diesem Roman verübt zwar auch ein Freund des Protagonisten Suizid, die Umstände erinnern jedoch nicht an die bekannten Narrationen der Tatnacht. Die Schriftstellerin Clara Viebig, die am Prozess teilnahm, verarbeitete den Stoff in der Eröffnung ihres Romans Insel der Hoffnung (1933). Rutschky zählt außerdem verschiedene retrospektive Erzählweisen des Vorfalls von Zeitgenossen auf (vgl. Rutschky 1933, 23–27), die allerdings erst nach 1945 publiziert wurden und somit den hier fokussierten Zeitraum überschreiten. Die intermedialen Verweise auf ein Genresystem sowie auf Einzeltexte und die literarischen Verarbeitungen des Stoffes bilden einen weiteren Baustein in der Wahrnehmung der Steglitzer Schülertragödie als transmediales Phänomen.
Die Steglitzer Schülertragödie im Mediensystem Film Ein so populärer Stoff wie die Steglitzer Schülertragödie hinterließ auch seine Spuren in der Filmbranche und das in vier verschiedenen Formen: er wurde diskutiert, er wurde verboten, er wurde zu kommerziellen Zwecken eingesetzt und er wurde produziert. In der Diskussion spielte die Lex Krantz eine prominente Rolle. Diese wurde von der Filmfachpresse dankbar aufgenommen, da hier die häufigen Schmähungen und angeblichen Gefahren des Kinos sowie die Schmutz-und-Schund-Debatte aufgegriffen werden konnten, derer sich die Filmbranche seit Bestehen ausgesetzt sah und welche sie konstant bis zum Ende der Weimarer Republik begleiten sollte.21 Der Krantz-Prozess bot einen willkommenen Anknüpfungspunkt zum Thema Film und Jugendliche, denn – so der Untertitel eines gleichnamigen Artikels – [d]as Kino ist unbeteiligt. Im „Krantz-Kreise [bestand] viel mehr Interesse am Theater […] als am nur gelegentlich besuchten Kino“ (Film und Jugendliche 1928). Im Übrigen sei nicht einzusehen, warum ausgerechnet der Film die Jugendlichen verderben sollte: Sie dürfen ins Theater gehen und Revuen besuchen. Und wenn sie Arbeiterkinder sind, die mit Erwachsenen im gleichen Zimmer, im gleichen Bett einer Hinterhofwohnung hausen, dann braucht man um ihre sexuelle Aufklärung weiter nicht besorgt zu sein. Kein vernünftiger Mensch wird also hinterher die Presse, die Revuen, die Bücher als die Alleinschuldigen erklären. (Ebd.)
Die Relativierung geht noch deutlich weiter. Ein Teilnehmer an der Debatte nimmt den Prozess zum Anlass, eine Herabsenkung des Jugendschutzalters zu fordern: Das Kino ist den Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahre verboten, wenn sie nicht mit 8–9-jährigen Knirpsen zusammen sein wollen. In das Kino dürfen sie, die Jugendlichen, nicht gehen, aber an jedem Zeitungswagen können sie für 20 Pf. die Literatur bekommen,
21Vgl.
hierzu auch den Beitrag von Tobias Kurwinkel in diesem Band.
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Abb. 1 Anzeige für Entgleiste Jugend, aus: Film-Kurier 10 (1928) 36 vom 10.02., 4 die ihre Sinne erregen. Ins Kino dürfen sie nicht gehen, aber auf den Rummelplätzen können sie sich tummeln bei äußerst fragwürdigen Darbietungen. Ins Kino dürfen sie nicht gehen, aber in den öffentlichen Anlagen können sie ihre oftmals noch reine Seele zum Teufel jagen. Ins Kino dürfen sie nicht gehen, wohl aber in die Revuen, wo die Nacktheit oder Halbnacktheit Trumpf ist. Ins Kino dürfen sie nicht gehen, weil, weil, ja weil? […] Der Prozeß ist zu Ende, ein trauriges Kapitel ist abgeschlossen und in allerletzter Linie bleibt übrig für unsere Branche die Forderung: Weg mit dem Jugendschutzalter von 18 Jahren! (Templiner 1928)
Die Steglitzer Schülertragödie weckte schnell das Interesse von Produktionsfirmen, bot sich doch ein quasi fertiger Stoff an, der das Publikum fesselte, dessen Drehbuch schon geschrieben schien und der leicht zu einem erfolgreichen Sensationsfilm umzugestalten war. Gleich drei Filmgesellschaften warben um Hilde Scheller und Paul Krantz, sie sollten entweder die Hauptrolle in ihren geplanten Filmen spielen oder das Drehbuch schreiben (vgl. Sack 2016, 174). Die Firmen bewarben ihre Pläne frühzeitig. Als erstes reagierte die SM22Filmproduktion, die am 10. Februar 1928 – also einen Tag nach Beginn der Verhandlung – im Film-Kurier eine Verfilmung ankündigt: Weiter sind Vorbereitungen zu einem Film, der eine Schülertragödie nach einer Idee von Otto K. Ronde behandelt, und dessen Titel „Entgleiste Jugend“, die Beichte eines Gymnasiasten ist, im vollem Gange. Das Thema, derzeit aktuell, behandelt die Geschichte der heutigen Generation, die im gefährlichsten Alter durch Verheimlichung und Unterdrückung in der Erziehung, entgleist und Katastrophen anrichtet. (Von kommenden Filmen 1928)
Dass dieser Film direkt auf die Steglitzer Schülertragödie anspielt, zeigt die Anzeige (Abb. 1) mit dem Text:
22Abweichend:
Essem-Filmproduktion.
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Abb. 2 Anzeige für Primanerliebe (D 1927), aus: Film-Kurier 10 (1928) 41 vom 16.02., Beibl. 2
Verleiher Deutschlands! Wir fabrizieren den aktuellsten Film der Zeit: Entgleiste Jugend. Die Beichte eines Gymnasiasten. Eine Schülertragödie unserer Zeit […]. Der große Prozeß hat begonnen und wird von Millionen Menschen in den Tageszeitungen gelesen. (Anzeige Entgleiste Jugend, 1928)
Letztlich wurde dieser Film nie produziert, vielleicht eine Folge der allgemeinen Kritik an dem sofortigen Interesse der Produktionsfirmen, die in der Selbstverpflichtung der Branchenorganisationen gipfelte, „einen derartigen Film weder vorzuführen noch in den Verleih zu bringen“ (Sack 2016, 174 f.), von der am 17. Februar in den Zeitungen berichtet wird. Das tagesaktuelle Thema wurde für Reprisen gleich zwei ältere Filme genutzt, welche unter Bezug auf die Schülertragödie neu beworben wurden. Die Strauß-Film-Gesellschaft pries einen Film des Vorjahres erneut an – Primanerliebe (R. Robert Land, D 1927). In einer Anzeige im Film-Kurier vom 16. Februar 1928 steht wörtlich (Abb. 2): Die Schülertragödie. Im Mittelpunkt eines hochaktuellen Prozesses stehen die Verirrungen und Nöte, Qualen und Wünsche der herangereiften Schuljugend. Das brennende Interesse der ganzen Welt ist heute auf die Geheimnisse gerichtet, in denen diese jungen Menschen leben. Tiefen Einblick in diese Vorgänge gewährt der von Grete Mosheim, Wolfgang Zilzer und Fritz Kortner in den Hauptrollen verkörperte, als künstlerisch wertvoll vom Zentral-Institut für Erziehung und Unterricht anerkannte große Schülerfilm der StraußFilm Ges. Primanerliebe. (Anzeige Primanerliebe, 1928)
Der Streifen erlebte seine Uraufführung bereits am 3. Juni 1927 – also vor der Tatnacht – und bot sich nun als idealer Film zum Tagesgeschehen an. Er handelt von einem Primaner, der in die Tochter seines Lehrers verliebt ist. Mit diesem gerät er in Konflikt, er soll von der Schule verwiesen werden. Er will sich umbringen, überrascht dann jedoch einen Opernsänger, der seiner Angebeteten zu nahe tritt. Mit der für seinen Suizid gedachten Waffe verletzt er den Nebenbuhler. Vor dem
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Untersuchungsrichter klären sich die Tatumstände, der Primaner darf zurück auf seine Schule (vgl. Primanerliebe 1927). Ein Primaner, eine unglückliche Liebe, eine Waffe, ein geplanter Suizid, ein Gerichtssaal – der Themenkomplex passte perfekt zum aktuellen Diskurs und wurde umgehend in den Medienverbund der Schülertragödie integriert.23 Ähnlich handelte der Germania Film-Verleih, der die Verfilmung von Wedekinds Frühlings Erwachen aus dem Jahr 1923 (R. Adolf Lantz) mit dem neuen Titel Frühreife Jugend und dem Werbetext „Eine zeitgemäße Schülertragödie“ (Anzeige Frühreife Jugend 1928) bewirbt. Schon im Mai 1928 wird außerdem die Neuverfilmung des im Rahmen der Steglitzer Schülertragödie so viel zitierten Dramas Frühlings Erwachen durch die Terra angekündigt (vgl. Die Pressebüros melden 1928), am 14. November 1929 läuft er schließlich im StellaPalast in Berlin über die Leinwand (vgl. „Frühlingserwachen“ 1929).24 Der von Richard Oswald inszenierte Film wurde von den staatlichen Prüfstellen mit dem Prädikat künstlerisch ausgezeichnet und erhielt Jugendverbot (vgl. Crăciun 2018, 142 f.). Das Jugendverbot betraf auch die meisten filmischen Verwertungen der Steglitzer Schülertragödie, die trotz der o. g. Resolution entstanden. Gandert konstatiert im Vorwort seines ausführlichen Handbuchs zum deutschen Film des Jahres 1929, dass eine ganze Reihe von Filmen – mal seriös, mal in spekulativer Absicht – sich „der Jugend und ihrer Nöte an[nahmen].“ (Gandert 1993, XIV f.) Neben Frühlings Erwachen nennt er die Titel Die Halbwüchsigen, Zwischen vierzehn und siebzehn, Verirrte Jugend, Geschminkte Jugend, Revolution der Jugend, Jugendsünden und Jugendtragödie (vgl. ebd.). Beispielhaft sei hier zunächst der Film Geschminkte Jugend (1929) betrachtet, der unter der Regie von Carl Boese entstand und am 17. April 1929 im Titania-Palast in Berlin-Steglitz (!) uraufgeführt wurde. Er handelt von der Schülerin Olga Hiller, die von ihrer vergnügungssüchtigen Mutter oft alleine gelassen wird. Nach deren Vorbild schminkt sie sich und feiert mit ihren Freundinnen und Freunden, mal in ihrer (sturmfreien) Wohnung, mal bei einem Autoausflug aufs Land. Bei Letzterem verweigert sie sich dem aufdringlichen Arthur, der trotzdem nicht von ihr lassen will. In einem handgreiflichen Konflikt zwischen diesem und einem sittsameren Verehrer fällt ein tödlicher Schuss. Vor Gericht sucht ein engagierter Verteidiger die Schuld bei der Gesellschaft, mit Erfolg: Der Angeklagte, jener sittsame Verehrer, wird freigesprochen.
23Regisseur
Robert Land widmete sich 1930 einem ähnlich gelagerten Thema mit dem Film Boykott (Primanerehre), basierend auf der gleichnamigen (Boykott) Novelle von Arnold Ulitz aus demselben Jahr. Auch hier betont der Anzeigentext die Bezugnahme auf zeitgenössische Themen: „Das schnell bekannt gewordene Buch von Ulitz war Grundlage zu diesem Film, der ein Spiegelbild unserer Tage gibt, eine getreue Chronik der Geschehnisse, die uns so oft aus den Zeitungen entgegenschreien. Der Primaner X beging Selbstmord. Warum? Eine „unglückliche Liebe“? Verletztes Ehrgefühl? In „Boykott“ wird in die Seele hineingeleuchtet, ernsthaft, hinreißend.“ (Anzeige Boykott, 1930) 24Mit Die Büchse der Pandora (R. G. W. Pabst, D 1929) gelangte auch eine Adaption von Erdgeist und Die Büchse der Pandora äußerst erfolgreich im selben Jahr auf die Leinwand.
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Schon der Nachname der Protagonistin, Hiller25 (gespielt von Toni van Eyck), verweist als eine Art Kofferwort26 auf Hilde Scheller, deren Person (bzw. ihre Darstellung in der Presse) hier deutlich zitiert wird. Olga küsst mal den einen, mal den anderen und entzieht sich, als Arthur (Kurt von Wolowski) ihr zu nahekommt. Die Vereidigung der Olga Hiller kann ebenfalls als ein direktes Zitat der Vereidigung Hilde Schellers angesehen werden. Mit ihr eröffnet der siebte und letzte Teil des Films, der vor Gericht spielt, und obwohl die Szene gänzlich stumm27 abläuft, wird ihr fast eine ganze Minute gewidmet (01.27.37–01.28.25). Schellers Vereidigung war ein juristisch wie journalistisch breit ausgewälztes Thema. Die Szene fällt umso mehr ins Gewicht, als Hillers Rolle anschließend nur noch die einer Zuschauerin ist, die Vernehmung der Zeugin wird nicht gezeigt. Die Handlung geht direkt in die Schlussplädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger über. Die Vereidigung ergibt also in der Dynamik der Handlung keinen Sinn, widerspricht dieser sogar und gewinnt damit umso mehr Bedeutung in Rückbezug zum Prozess. Kaum ein/e Rezensent/in28 hat auf einen Hinweis auf die „KrantzScheller-Katastrophe“ verzichtet (Lange 2006, 105). Beispielhaft soll hier die Eröffnung der ironischen Kritik Marauns in der Deutschen Allgemeinen Zeitung zitiert werden, welche die Publikumsreaktion aufgreift: Die Steglitzer Mädels haben auf ganzer Linie gesiegt. Sie ergriffen wacker Partei. Wenn am Ende des Films der Staatsanwalt ruft: „Seht diese Jugend, wie sie geschminkt in die Schule kommt – Zucht und Furcht muß sie wieder kennenlernen!“, dann klatschen die Väter Beifall, aber die Mädchen zischen ihn mit einer herzlichen Bosheit nieder. „Die Furcht steht trennend zwischen jung und alt [sic!], ihr müßt sie beseitigen, geschminkte Lippen sind nur eine Äußerlichkeit und berühren nicht die Haltung der Seele!“ sagt pathetisch der Verteidiger und die Väter pfeifen und zischen. Aber die Mädchen geben ein begeistertes Bravo der Hände und sind enttäuscht, als sich Tony van Eyck, die Heldin, aus ihrem schönen, schon sehr weiblichen, leidensstarken Gesicht in Großaufnahme traurig die Schminke wischt. Einige von ihnen antworten mit einem verdutzten Widerspruch. Die Steglitzer Mädels sind für Schminke. (Maraun 1929)
Hier wird ein populärkulturelles Verhalten geschildert: Die Jugend ignoriert die schwülstige Handlung und himmelt den weiblichen Star an, genießt also auf anarchische Weise den Film, während die Älteren – ganz bewusst als „Väter“ zusammengefasst – sich (wohl auch darüber) empören. Die eigentliche Zielgruppe, deren Reaktionen hier geschildert werden, wurde offiziell per Jugendverbot ausgeschlossen, was von der Fachpresse kritisch kommentiert wurde:
25Olga
ist der Vorname in der französischen Fassung, die ich persönlich sichten konnte. Auf filmportal.de wird als Vorname „Margot“ angegeben. 26Auch Schachtel- oder Portemanteau-Wort. Ein Kunstwort, das aus mindestens zwei morphologisch überlappenden Wörtern entsteht, die zu einem inhaltlich neuen Begriff verschmelzen. 27Es handelt sich um einen Stummfilm, allerdings wird an dieser Stelle auch auf Texttafeln verzichtet. 28Auch Manfred Georg, Berichterstatter des Krantz-Prozesses für das 8-Uhr-Abendblatt, gehörte zu ihnen (vgl. Georg 1929).
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Ein Film wird gedreht, mit jungen Menschen, für junge Menschen. Thema: Geschminkte Jugend. Jugend von heute also, bei der das bissel Tünche nicht mehr ist als Nachahmung der Erwachsenen-Sitten. Das wird gezeigt. Die Hintergründe, Klassenfragen, Sexualwirren können dabei nur angedeutet werden. Denn die deutsche Filmzensur wacht. Sie paßt auf, daß kein Film erscheint, der zur Gegenwart, zum Leben Stellung nimmt. Und so verbieten sie, kurz entschlossen, den Jugend-Film, der das, was er meinte wenigstens unsüßlich andeutete, für Jugendliche. Charakteristisch für die Mentalität der Prüfer ist ein Titel: „So liegt die Hauptschuld an denen, die die jungen Leute im Stich gelassen haben, an den Erziehern.“ Das darf wohl gedruckt, gesprochen, geschrieben werden, aber nicht projiziert. Die Filmzensur kennt keine schuldigen Erzieher; oder vielmehr nur in der verschaukelten, zugelassenen Endfassung des Titels: „So liegt die Schuld daran ebensosehr an der Jugend wie an den Erziehern, die der Jugend kein gutes Beispiel gegeben oder auf ihr Leben und Treiben nicht genügend geachtet haben.“ Uff -. (F[eld] 1929)29
Die Handlungen der anderen von Gandert genannten Filme lassen mal mehr, mal weniger deutliche Bezüge zur Steglitzer Schülertragödie erkennen. Gemeinsam ist ihnen, dass alle von Jugendlichen handeln. In vielen findet sich ein Paul Krantz oder eine Hilde Scheller. Die beiden wurden durch die Prozessberichterstattung zu characters, die (unfreiwillig) diesen Medienverbund prägten. Hengst (2014) definiert den character als „Nexus, die Instanz, die verschiedene Medien, Objekte und Dienstleistungen miteinander und mit ihren (menschlichen) Adressaten verbindet.“ (Hengst 2014, 153) Für die Öffentlichkeit waren Krantz und Scheller vertraute Protagonist/innen, die entsprechend auch in den medialen Verarbeitungen eingesetzt wurden. Krantz bildete die beweglichere Imaginationsplattform: ein vergeistigter, melancholischer Jüngling aus proletarischem Milieu, der Freundschaft mit sozial Höherstehenden schließt. Krantz-Figuren finden sich in Geschminkte Jugend, Jugendsünden und Jugendtragödie. „Die“ Hilde Scheller ist ein leichtlebiges Mädchen, das Partys feiert und mit verschiedenen Männern kokettiert. Optisch ist sie auf Haarschnitt und Mode der Neuen Frau festgelegt und dadurch in den filmischen Verarbeitungen leicht zu identifizieren. Manifestationen dieses characters treten in Geschminkte Jugend, Die Halbwüchsigen und Verirrte Jugend auf. Des Weiteren werden Motive zitiert wie Mord und Selbstmord (Geschminkte Jugend, Jugendsünden, Verirrte Jugend, Zwischen vierzehn und siebzehn, Jugendtragödie), Polizei und Justiz (Geschminkte Jugend, Die Halbwüchsigen, Verirrte Jugend, Jugendtragödie), das Geschwister-Freund-Verhältnis zwischen den Schellers und Krantz (Jugendsünden, Die Halbwüchsigen). Neben diesen Verweisen wird die Wahrnehmung der Filme als Zitat der Steglitzer Schülertragödie in den Filmkritiken deutlich. Über Die Halbwüchsigen wird geurteilt: „Ein verfilmter Gerichtssaalbericht. Sehr deutlich wird die Jugendtragödie sichtbar, die sich im vorigen Jahr in einem Berliner Vorort abspielte“ (Die Halbwüchsigen 1929). Über Verirrte Jugend: „Dies ein Vierteljahrhundert nach „Frühlings Erwachen“. Kein nüchterner Gerichtssaal-Bericht gibt heutzutage derartige
29In
einer Berichtigung vom 15. Oktober 1929 wurde der hier kritisierte entschärfte Titel (7. Akt, Titel 12) gänzlich verboten (vgl. Gandert 1993, 244).
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Abb. 3 Anzeige für Die Siebzehnjährigen (D 1929), aus: Der Kinematograph 23 (1929) 10 vom 13.01., 3
Probleme so oberflächlich wieder, so ohne Ahnung des inneren Triebwerks. Reminiszenzen an den Krantz-Scheller Prozeß usw.“ (Jacobi 1929; zit. nach Gandert 1993, 689). Über Jugendtragödie: Die Filme über Tragödien der Jugend mehren sich. In diesem „tragischen“ Film wird geliebt und gemordet, ein Fürsorgezögling tötet den anderen – aus Eifersucht. Ein bißchen Krantz-Prozeß-Konjunktur mit Manasse Friedländer gemixt, die nötige Dosis Fürsorge-Konjunktur dazu, so entstand die Mache dieses Filmes. (Jugendtragödie 1929; zit. nach Gandert 1993, 332)
Die Kritiken deuten bereits eine Dynamik an, die bei allen Filmen zu beobachten ist: Die Stoffe mischen sich, verschiedene Themen werden aufgegriffen und miteinander kombiniert. Hierfür soll abschließend noch eine weitere Verfilmung eines Theaterstücks betrachtet werden, Die Siebzehnjährigen (1929) nach Max Dreyer (1904), aus der Produktion der Terra.30 Auch dieses Drama wird nicht zufällig in unmittelbarer Nähe zum Prozess verfilmt, sondern mit der Steglitzer Schülertragödie verknüpft und modernisiert. Wie in der Vorlage lieben Vater und Sohn die gleiche Frau, im Film bringt der Sohn sich jedoch nicht selbst um, sondern schießt auf seinen Vater, dieser wird nur leicht verletzt. Der Sohn landet vor dem Jugendgericht, hier kommt es zu Freispruch und Versöhnung (vgl. Die Siebzehnjährigen 1929). Die Werbung vermerkt noch eher unauffällig: „Die Zeitungen schreiben täglich über die brennendste Frage unserer Zeit.“ (Anzeige Die Siebzehnjährigen, 1929; Abb. 3) In der Filmkritik wird die Zusammenführung verschiedener Inspirationsquellen reflektiert:
30Die
Terra verfilmte auch Frühlings Erwachen (1929), in beiden Filmen spielte Grete Mosheim die Hauptrolle, welche außerdem schon in Primanerliebe (1927) als jugendliche Heldin auftrat.
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Im Zeitalter der Schülertragödien gewinnt das Sujet, einem Theaterstück von Max Dreyer entnommen, an Aktualität. Man könnte einwenden, daß das Problem der Jugendlichen heute anders liegt als zur Entstehungszeit des Theaterstücks. Aber gerade das Provinzgeschäft wird dieser Film dadurch machen, daß er nicht hypermoderne Gedankengänge verfolgt, auf „Revolten im Erziehungshaus“ verzichtet, wenngleich es natürlich ohne dramatisch-tragischen Konflikt nicht abgeht (Die Siebzehnjährigen, 1929).
Hier vereinen sich drei Stoffe in einer Kritik: die Steglitzer Schülertragödie, Dreyers Die Siebzehnjährigen und Lampels Revolte im Erziehungshaus.
Revolte im Erziehungshaus In seiner Aufzählung der Jugendfilme nennt Gandert auch die Verfilmung von Peter Martin Lampels Revolte im Erziehungshaus durch Georg Asagaroff, ein Film, der „es insofern zu einer traurigen Berühmtheit [brachte], als er viermal verboten und am Ende nur verstümmelt freigegeben wurde.“ (Gandert 1993, XV) Bereits in den oben erwähnten Filmen zeigen sich häufig Vermischungen der Themen der Revolte und der Steglitzer Schülertragödie, sowohl inhaltlich als auch in den Kritiken. Die Verbindungslinien zwischen den Stoffen reichen jedoch noch weiter. In Lampels Reportageband Jungen in Not (1928), in dem er seine Erfahrungen als Hospitant in der Jugendfürsorge dokumentiert, werden der Krantz-Prozess und seine Auswirkungen auf der Erzieherkonferenz diskutiert. Ausgehend von einem Diskurs über Revolten in verschiedenen Heimen kommt der Direktor auf die „sexuelle Frage“ zu sprechen: Ein heikles Ding: die sexuelle Frage. Aber ich glaube nicht, daß das so wichtig ist. Wir haben es wieder aus dem Krantzprozeß mit Entrüstung vernommen, daß gewisse Kreise mit forcierter Gemeinheit versuchen, Dinge herbeizuzerren, ja sie künstlich breitzutreten, die an sich gar nicht im Brennpunkt des Interesses stehen. Von solchen Schmutzereien, wie Herr Sanitätsrat Hirschfeld unter dem Deckmantel des Sachverständigen sich geäußert hat, rücken wir ganz entschieden ab. (Lampel 1928, 50)
Nach einem thematischen Ausflug zur Koedukation, die vom Direktor abgelehnt wird, kommt er auf das Thema zurück: Bedenken Sie, wie sich das sittliche kerndeutsche Wesen regt. Neunzehn Lyzeumsschülerinnen haben in einer öffentlichen Zuschrift zur Erklärung gebracht, daß die deutsche weibliche Jugend wünscht, nicht mit Fräulein Hilde in denselben Topf geworfen zu werden. Das muß mich überzeugen. (Ebd., 50f.)
Lampel, übrigens ein Befürworter der Koedukation, liefert in seinem Bericht ein zufälliges Zeugnis der Beschäftigung von Pädagog/innen mit der Steglitzer Schülertragödie. Der Direktor verweist außerdem auf eine der publizierten Reaktionen Jugendlicher, was wiederum belegt, dass auch diese von der Öffentlichkeit rezipiert und zu sichtbaren (und diskutierten) Verarbeitungen des Stoffes wurden. Bei dem Text, auf den hier Bezug genommen wird, handelt es sich wahrscheinlich um die Zuschrift 16 Oberprimanerinnen lehnen ab (1928), der am 21. Februar 1928 im Berliner Lokal-Anzeiger gedruckt wurde. Der Verweis auf dieses Protestschreiben
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betont erneut die Brisanz des Stoffes im pädagogischen Kontext und die starke Präsenz Hilde Schellers als character. Eine ganze Mädchenklasse fühlte sich so unter Druck gesetzt, dass sie sich genötigt sah, sich von dieser medialen Figur zu distanzieren – eine von Pädagog/innen begrüßte Reaktion, wie Lampel zeigt. Diese Einzelreferenz wird von ihm für so wichtig befunden, dass er sie auch in das Schauspiel integriert. Hier legt er dem Pfarrer dieselben Worte in den Mund, lediglich aus den „Schmutzereien“ werden „Schweinereien“ (vgl. Lampel 1929, 69). Noth berichtet in seinen Erinnerungen von der Premiere des Stücks, zu der ihn der Redakteur und Publizist Walter Hammer mitnahm und auf der er auch Lampel selbst vorgestellt wurde (vgl. Noth 2009, 178). Das Stück habe ihn [n]aturgemäß […] außerordentlich [interessiert], und meine Sympathie gehörte den zur Verzweiflung getriebenen Zöglingen um so mehr, als ich im Untersuchungsgefängnis zahlreichen jungen Insassen begegnet war, die mir die haarsträubendsten Dinge über Vorgänge in diesen Anstalten anvertraut hatten; es bestand leider nicht der geringste Grund, an der Wahrheit ihrer Aussagen zu zweifeln. (Noth 2009, 177f.)
So ist tatsächlich eine zarte literarische und persönliche Verbindungslinie zwischen der Steglitzer Schülertragödie und der Revolte zu beobachten. Dass beide Stoffe in ihrer Aktualität und Relevanz die Jugenddiskurse und Jugendfilme ihrer Zeit prägten, konnte an den ausgewählten Filmkritiken deutlich gemacht werden.
Schlussbetrachtung Die Steglitzer Schülertragödie ist ein Medienverbund, der an den Rändern ausfranst. Man könnte ihn lange weiterdenken, denn der Vorfall wurde zum Schlagwort, zum Symbol. Die öffentlichen Debatten um die Jugend wurden immer im Zusammenhang gedacht. Die Übergänge zum vergleichbaren Verbund Revolte im Erziehungshaus sind fließend, auch hier ging es um reelle und erst im Nachhinein literarisierte Vorfälle, um Einflussnahmen auf Gesetzgebungen, um echte Aktion, um Politik und allgemeine (mediale) Aufmerksamkeit. Es ist kein Zufall, dass alte Stoffe wie Dreyers Die Siebzehnjährige und Wedekinds Frühlings Erwachen in dieser Zeit neuverfilmt und wiederaufgeführt wurden, es ist auch kein Zufall, dass die Steglitzer Schülertragödie selbst immer wieder aufleuchtet, auch nach 1945.31 Sie hat Anziehungskraft, sowohl als Leidensgeschichte als auch in ihrem Diskussionspotenzial und manifestiert sich als transmediales Phänomen. Es ist entscheidend hier festzustellen, dass die letzte und bekannteste Verfilmung, Achim von Borries’ Was nützt die Liebe in Gedanken (2004),32 endlich
31Ausführlich
zu den Verarbeitungen nach 1945 vgl. Lange 2006. auf Arno Meyer zu Küingdorfs Roman Der Selbstmörder-Klub (1999), welcher verspricht, „die Steglitzer Schülertragödie historisch getreu nach[zu erzählen] und die romanhafte Darstellung mit langen Zitaten aus den Verhör-Protokollen im Prozess dokumentarisch unterfüttert“ (Lange 2006, 112). 32Basierend
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auch in seiner Produktion und Distribution (annähernd) das spiegelt, was dieser Stoff, dieser Vorfall, schon immer war. Was nützt die Liebe in Gedanken ist ein Jugendfilm, wurde als solcher produziert und beworben. Hier darf laut FSKFreigabe zumindest die Jugend ab 16 Jahren sehen, was schon immer ihr Thema war – sich selbst und ihre Fragen. Romantisiert und geschichtlich verklärt, in weichen Tönen und Formen, trotzdem mit derselben Brisanz und Intensität, die dieser Stoff schon immer hatte. Geändert haben sich die technischen Dispositive. Lange (2006) berichtet von dem „großen medialen Begleitaufwand“, zu dem unter anderem eine „Website des Verleihs“ gehörte, auf der sowohl die historischen Geschehnisse als auch die „Botschaft“ des Films verbreitet werden, die auf die Zielgruppe „Jugend“ abgestellt sei und diese direkt anspreche: „Glaubt Ihr an die Liebe? An die eine große? Oder an die vielen, kleineren?“ (Ebd., 96 f.) Die von Lange geschilderte Internetpräsenz ist heute in dieser Form nicht mehr erhalten,33 die von ihm beschriebenen Inhalte, Möglichkeiten und Funktionen zeigen jedoch, wie sich der Umgang mit dem Thema gewandelt hat. In den aufgrund der Verfügbarkeit von nur wenigen Medien im Vergleich zu heute begrenzten Möglichkeiten eines Medienverbundes am Ende der 1920er-Jahre hat die Steglitzer Schülertragödie eine große Tragweite bewiesen – unfreiwillig, als Modeerscheinung, als den Zeitgeist (be)treffend. Ihr Stoff kann als transmediales Phänomen betrachtet werden, dass mit anderen transmedialen Phänomenen in Beziehung getreten ist. Es handelt sich um einen von Jugendlichen rezipierten Medienverbund. Die Narration des eigentlichen Kriminalfalls war sicherlich nicht primär für die Jugend intendiert – sie konsumierte allerdings diese Narrationen, da der Fall sie betraf und in dem unzensierten Medium Presse für sie zugänglich war, sie partizipierte sogar daran. Der Medienverbund wurde nicht geplant, erdacht, konzipiert, nicht in erster Instanz. In der Entwicklung des öffentlichen Interesses, der offensichtlichen Skandalträchtigkeit des Themas, nahmen sich von verschiedensten Seiten Produzent/innen des Stoffes an und münzten ihn ihren Bedürfnissen und Zielen gemäß um. Das gilt für Filmproduktionsfirmen, die ihre Filme mit Motiven und Schlagwörtern der Steglitzer Schülertragödie bewarben, ebenso wie für die Sachverständigen des Prozesses, die als Expert/innen auf Versammlungen auftraten und ihre individuellen Prozesserfahrungen und Erkenntnisse daraus publizistisch vermarkteten. Hinter der Steglitzer Schülertragödie steht nicht eine Firma, ein/e Verfasser/in, eine Marke, die Profit machen wollte, es gab viele Einzelne, die sich den Skandalcharakter und das öffentliche Interesse zunutze machten.
33Die
heutige offizielle Website des Films beim X Verleih https://www.x-verleih.de/filme/wasnuetzt-die-liebe-in-gedanken (18.02.2020) bietet lediglich allgemeine Informationen über den Film. Die von Lange 2006 angegebene Adresse, http://liebe-in-gedanken.de/filminhalt, existiert nicht mehr.
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Literatur Primärliteratur Lampel, Peter Martin: Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen. Berlin: J. M. Spaeth, 1928. Lampel, Peter Martin: Revolte im Erziehungshaus. Schauspiel der Gegenwart in drei Akten. Berlin: Gustav Kiepenheuer, 1929. Meyer zu Küingdorf, Arno: Der Selbstmörder-Klub. Leipzig: Reclam 1999. Meyer zu Küingdorf, Arno: Was nützt die Liebe in Gedanken. Roman. Berlin: Aufbau, 2004. Noth, Ernst Erich: Die Mietskaserne [1931]. Stuttgart: Huber Frauenfeld, 1982. Noth, Ernst Erich: Erinnerungen eines Deutschen. Die deutschen Jahre [1971]. Frankfurt a. M.: glotzi, 2009. Viebig, Clara: Insel der Hoffnung. Roman. Stuttgart [u. a.]: Deutsche Verlagsanstalt, 1933. Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie. Zürich: Schmidt, 1891. Wedekind, Frank: Der Erdgeist. Eine Tragödie. Paris: Langen, 1895. Wedekind, Frank: Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen. Berlin: Cassirer, 1902.
Filmografie Die Halbwüchsigen [Stummfilm] (D 1929). Regie: Edmund Heuberger, Drehbuch: Edmund Heuberger/Eduard Andrés, Musik: Anton Pointner, Aco-Film GmbH. Die Siebzehnjährigen [Stummfilm] (D 1929). Regie: Georg Asagaroff, Drehbuch: Fritz Falkenstein, Musik: Guiseppe Becce, Terra-Film AG. Frühlings Erwachen [Stummfilm] (D 1923). Regie: Jakob Fleck/L. Kolm, Drehbuch: Jakob Fleck/Adolf Lantz, Wiener Kunstfilm. Nach dem Bühnenstück Frühlings Erwachen von Frank Wedekind (EV: 1891, EA: 1906). 1928 vertrieben unter dem Titel Frühreife Jugend. Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie [Stummfilm] (D 1929). Regie: Richard Oswald, Drehbuch: Friedrich Raff/Herbert Rosenfeld, Musik: Walter Ulfig, Hegewald-Film. Nach dem Bühnenstück Frühlings Erwachen von Frank Wedekind (EV: 1891, EA: 1906). Geschminkte Jugend [Stummfilm] (D 1929). Regie: Carl Boese, Drehbuch: Martin Land, Musik: Hansheinrich Dransmann, Carl Boese-Film GmbH/National-Film Verleih und Vertriebs-GmbH. Jugendsünden [Stummfilm] (D 1929). Regie: Carl Heinz Wolff, Drehbuch: Toni Dathe/Carl Heinz Wolff, Aco-Film GmbH. Jugendtragödie [Stummfilm] (D 1929). Regie: Adolf Trotz, Drehbuch: Adolf Lantz, Musik: Werner Schmidt-Boelcke, Luna-Film. Primanerliebe [Stummfilm] (D 1927). Regie: Robert Land, Drehbuch: Alfred Schirokauer/Curt Wesse, Musik: Walter Ulfig, Domo-Strauß-Film GmbH. Revolte im Erziehungshaus [Stummfilm] (D 1929). Regie: Georg Asagaroff, Drehbuch: W. Solsky/Herbert Rosenfeld, Musik: Werner Schmidt-Boelcke, Grohnert-Film-Produktion. Nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Peter Martin Lampel (EA: 1928, EV: 1929). Revolution der Jugend (Jugend am Scheideweg) [Tonfilm] (D/A 1929). Regie: Conrad Wiene, Drehbuch: Conrad Wiene/Ludwig Netz, Musik: Bernhard Homola, Gold-Film GmbH. Verirrte Jugend [Stummfilm] (D 1929). Regie: Richard Löwenbein, Drehbuch: O. Karpfen/C. C. Fürst, Musik: Beer, Mondial-Film GmbH. Was nützt die Liebe in Gedanken [Drama] (D 2004). Regie: Achim von Borries, Drehbuch: Achim von Borries/Hendrik Handloegten, Musik: Thomas Feiner/Ingo L. Frenzel/Uwe Kirbach, X Filme Creative Pool. Nach dem Roman Der Selbstmörder-Klub von Arno Meyer zu Küingdorf (1999). Zwischen vierzehn und siebzehn [Stummfilm] (D 1929). Regie: E. W. Emo, Drehbuch: Herbert Nossen/Franz Roswalt, Musik: Pasquale Perris, Strauß-Film-Fabrikation und Verleih GmbH.
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Sekundärliteratur vor 1945 16 Oberprimanerinnen lehnen ab… In: Berliner Lokal-Anzeiger 46 (1928) vom 21.02. (MA), 1. Beibl., 1. Ali Baba: Jugend von heute. Ihre Geheimnisse und die Hilflosigkeit der Alten. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 42 vom 18.02., 2. Beibl., 1. Anzeige Boykott in: Der Kinematograph 24 (1930) 202 vom 30.08., 6. Anzeige Die Siebzehnjährigen: Der Kinematograph 23 (1929) 10 vom 13.01., 3. Anzeige Entgleiste Jugend: Film-Kurier 10 (1928) 36 vom 10.02., 4. Anzeige Frühreife Jugend: Film-Kurier 10 (1928) 70 vom 21.03., Beibl., 2. Anzeige Primanerliebe: Film-Kurier 10 (1928) 41 vom 16.02.1928, Beibl., 2. Die Halbwüchsigen. In: Der Kinematograph 23 (1929) 224 vom 25.09., 3. Die Pressebüros melden: Neuverfilmung von „Frühlingserwachen“. In: Film-Kurier 10 (1928) 118 vom 18.05., 3. Die Siebzehnjährigen. In: Der Kinematograph 23 (1929) 8 vom 10.01., 2. Film und Jugendliche. In: Film-Kurier 10 (1928) 38 vom 13.02., 2. „Frühlingserwachen“. In: Der Kinematograph vom 09.11.1929, Nr. 263, 8. Georg, Manfred: Primaner Krantz und seine Generation. Qual der Jugend. In: 8-Uhr-Abendblatt (1928) vom 08.02. Grabein, Paul: Alte und Junge. In: Berliner Lokal-Anzeiger (1928) (MA) vom 21.02., 1. Beibl., 1. Kämpfer, H.: Ihr und wir. In: Berliner Lokal-Anzeiger 46 (1928) vom 17.02., (MA). Krantz, Paul: Mein Prozess von Paul Krantz. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 47 vom 24.02., 1–2. Krantz schildert die Mordnacht. Zusammenstöße zwischen Verteidiger und Staatsanwalt. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 35 vom 10.02., 3. Kraus, Karl: Für Hildegard Scheller. In: Die Fackel 3 (1928) 781–786, 40–46. Maraun: „Geschminkte Jugend“. In: Deutsche Allgemeine Zeitung (1929) 183 vom 20.04., Beibl., 1. Primanerliebe (Filmkritik). In: Der Kinematograph 21 (1927) 1059 vom 05.06., 22. Schiffbruch der Eltern. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 36 vom 11.02., 2. Beil., 1. Sonnenschein, Carl: Der Prozeß der Schüler. In: Germania (1928) vom 26.02., (MA), 5–6. Stadtparlament und Krantz-Prozeß. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 44 vom 21.02., 3. Stimmen der Jugend. Zwei Klassen kommen zum Wort. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 42 vom 18.02., 2. Beil., 1. Stumpfe, Ortrud: Nach der äußeren die innere Freiheit. In: Berliner Lokal-Anzeiger 46 (1928) vom 21.02., (MA), 1. Beibl., 1–2. Templiner, A.: Die Steglitzer Schüler-Tragödie, der Krantz-Prozeß, das Kino und das Jugendschutzalter von 18 Jahren. In: Film-Kurier 10 (1929) 49 vom 25.02., 2. Beibl., 1. Verhandlung wegen Totschlags. In: Die Welt am Abend 6 (1928) 38 vom 14.02., 1–2. Von kommenden Filmen. Entgleiste Jugend. In: Film-Kurier 10 (1928) 36 vom 10.02., 3. Wir Jungen und der Primaner Krantz. In: 8-Uhr-Abendblatt (1928) vom 14.02.
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Das Genresystem der frühen Leinwanddetektive Zu den Medienverbünden um Sherlock Holmes, Nick Carter, Stuart Webbs und Joe Deebs Tobias Kurwinkel
Abstract This contribution traces the history of early detective films, discussing them as commercial genre supersystems. The analysis focuses on examples such as Sherlock Holmes, Nick Carter, Stuart Webbs, and Joe Deebs, all of which find a culmination of sorts with the adaptation of Erich Kästner’s Emil and the Detectives (1931). The aim is twofold: On the one hand, the contribution establishes a diachronic as well as synchronic perspective on the commercial supersystems formed around the aforementioned detective characters, using Siegfried J. Schmidt’s corresponding media-theoretical model. On the other hand, it outlines the way in which the individual media texts coalesce as a genre system and within the detective genre system. The first part of the chapter describes the Sherlock Holmes commercial supersystem as an example of pre-war detective films (1900–1914), the second and third parts similarly outline the serial genre of the detective films during the First World War (1914–1918), followed by the genre’s decline at the end of the 1920s (1918–1920). In closing, the contribution takes a look at the representation of children and young adults as audience members, supplemented by observations on contemporary debates concerning so-called Kinoschund (cinematic trash) and trivialization.
T. Kurwinkel (*) Fakultät für Geisteswissenschaften, Germanisitik, Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_20
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Vorbemerkungen Als einen „Höhepunkt und ein vorläufiges Ziel“ (Hasubek 1974, 32) der Detektiverzählung für Kinder und Jugendliche bezeichnet Peter Hasubek Erich Kästners Roman Emil und die Detektive. Der erste Roman Kästners, der im Kontext der Neuen Sachlichkeit entsteht, in der sowohl die Großstadt als auch das Verbrechen zum motivischen Programm gehören, zeichnet sich durch eine filmische Erzählweise aus – setzt um, was Alfred Döblin 1913 mit dem „Mut zur kinetischen Phantasie“ (Döblin 1963, 19) und Bertolt Brecht 1926 mit der „Technifizierung der literarischen Produktion“ (Brecht 1967, 156) forderten. So sind die mehrfachen Kino- und Film-Vergleiche ebenso wie die Integration von schnellen Szenen- und Perspektivwechseln zu nennen, die die filmische Erzählweise des Romans charakterisieren (vgl. u. a. Kümmerling-Meibauer 2012, 106). Drei Jahre nach Erscheinen des Romans feiert die Verfilmung am 2. Dezember 1931 im Berliner Ufa-Theater am Kurfürstendamm ihre Uraufführung. Der Film, zu dem Erich Kästner, Emmerich Pressburger sowie Billy Wilder das Drehbuch schrieben und Gerhart Lamprecht Regie führte, überzeugt als Illustration der literarischen Vorlage insbesondere durch seine Figurendarstellung: Was Siegfried Kracauer in Von Caligari zu Hitler als Demokratisierung bezeichnet, meint die Selbstermächtigung der Kinder und die damit einhergehende Emanzipation von den Erwachsenen, die Lamprecht wirkungsvoll mit filmischen Mitteln inszeniert (vgl. Kracauer 1979, 236 f.). Emil und die Detektive als Film ist – um Hasubeks Diktum übertragend aufzugreifen – „Höhepunkt und vorläufiges Ziel“ einer Reihe von frühen Detektivfilmen, die Untersuchungsgegenstände dieses Beitrags sind. Diese Filme sind keine originären, sondern faktische Kinder- und Jugendfilme, da zu ihren Rezipienten auch – und im Besonderen – Kinder und Jugendliche gehörten. Die inhaltlichen und ästhetischen Konventionen der Filme lassen sich aus bzw. von der Literatur ableiten: So erzählt die Reinform des Detektivfilms als Subgenre des Kriminalfilms vor allem von der Aufklärung eines Verbrechens (vgl. Alewyn 1998); der Gangsterfilm, der in der Literatur als Verbrechensdichtung bezeichnet wird, stellt hingegen das Verbrechen in den Mittelpunkt. Der Gangsterfilm vertrete, schreibt Knut Hickethier, „eine Welt unterhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die Welt der Schatten, in denen nicht nur Glücksspiel, Drogen, Prostitution, sondern auch Raub und Mord zu Hause sind“ (Hickethier 2012, 19 f.). Im Thriller geht es schließlich darum, ein Verbrechen zu verhindern, es dominiert eine zukunftsgerichtete Spannung, die sich auf noch zu erwartende Ereignisse richtet. Als weitere Subgenres des Kriminalfilms gelten der Gerichts- und Polizeifilm. Die Geschichte dieser frühen Detektivfilme werde ich im Folgenden an ausgewählten Beispielen wie Sherlock Holmes, Nick Carter, Stuart Webbs und Joe Deebs nachzeichnen, die in Form von Medienverbünden ein Genresystem ausbilden. Damit geht es in diesem Beitrag zum einen um die sowohl diachrone als auch synchrone Perspektivierung der Verbünde mit den sie konstituierenden Medienangeboten im Verständnis Siegfried J. Schmidts (vgl. Schmidt 2008), zum
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anderen um das Zusammenwirken der Medienverbünde und ihrer Medientexte als und im Genresystem. Unter derartigen Medienverbünden [engl. commercial supersystem] (vgl. Kinder 1991) oder children’s global multimedia (vgl. Seiter 2000) verstehe ich „die medienübergreifende Verbreitung populärkultureller Stoffe“ (Weinkauff 2014, 131), die von einem großen Merchandising-Angebot als Produktverbund begleitet werden kann. Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Typen von Medienverbünden unterscheiden (vgl. Kurwinkel 2020; 2017): Ausgangspunkt des ersten, dem die im Folgenden behandelten Verbünde entsprechen, ist ein Originärtext, dem eine als Roman, Film etc. realisierte Erzählung zugrunde liegt. Dieser originäre Text steht mit weiteren Medientexten in intra- und/oder intermedialen Beziehungen: Auf intramedialer Ebene spielen sich diese Beziehungen innerhalb eines Mediums ab, auf intermedialer Ebene überschreiten sie als Medienwechsel und intermediale Bezüge Mediengrenzen. Medien verdrängen sich in derartigen Verbundsystemen nicht gegenseitig, stattdessen konvergieren (vgl. Jenkins 2006) und koexistieren sie, nehmen aufeinander Bezug. Diese theoretischen Ausführungen möchte ich kurz an einem Beispiel konkretisieren: Übertragen auf Emil und die Detektive ist der originäre Text des Medienverbunds der Roman aus dem Jahr 1929; in intramedialer Beziehung zu diesem steht die Fortsetzung, die 1935 unter dem Titel Emil und die drei Zwillinge erscheint. In intermedialer Relation stellen sich als Medienwechsel die Theaterfassung dar, die Kästner 1930 besorgte (vgl. Kümmerling-Meibauer 2012, 110), die eingangs erwähnte Verfilmung durch Lamprecht und das Musical aus dem Jahr 2001, dessen Musik von Marc Schubring und dessen Libretto von Wolfgang Adenberg stammt. Ich beginne im Folgenden mit dem Medienverbund um Sherlock Holmes und dem Detektivfilm der Vorkriegsjahre (1900–1914), hiernach setze ich mich mit den Reihen1 oder series der Kriegsjahre (1914–1918) und folgend mit dem Niedergang des Genres zum Ende der 1910er-Jahre (1918–1920) auseinander. Ergänzt werden diese Darstellungen um Ausführungen zu Kindern und Jugendlichen als Rezipienten des frühen Films und einer kurzen Betrachtung der zeitgenössischen Debatten um Kinoschund und Trivialisierung. Abschließend werde ich auf die Struktur des Genresystems auf Ebene der Verbünde und ihrer Medienangebote eingehen, dabei wird es auch um die Bedeutung der Medienverbünde für die weitere Entwicklung des Genres gehen. Eine solche film- und medienhistorische Darstellung kann im vorliegenden Umfang nur exemplarisch sein, nur einzelne Entwicklungen und ihre Linien prototypisch nachzeichnen und abbilden.
1Bei den hier behandelten Detektivfilmen in Serie handelt es sich um Reihen: „Die Reihe zeichnet sich durch die spezifische Binnenstruktur der Folgen aus, die jeweils Geschlossenheit aufweisen, d. h., jede Folge erzählt eine eigenständige Geschichte. Die Bezeichnung Reihe wird […] als Übersetzung des Begriffs series verwendet“ (Klein/Hißnauer 2012, 11).
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Die Anfänge des Detektivfilms: Sherlock Holmes Die Geburtsstunde der Detektivfilme lässt sich auf das Jahr 1900 datieren; sie beginnt mit dem analytisch-rationalen Privatdetektiv aus der fiktionalisierten Londoner Baker Street Nr. 221b, der erstmals 1887 in Arthur Conan Doyles Roman A Study in Scarlet, dem Originärtext des Medienverbunds, in Erscheinung tritt: 13 Jahre später, am 26. April 1900, veröffentlicht Arthur W. Marvin für die US-amerikanische Produktionsfirma Biograph den 35sekündigen Stummfilm Sherlock Holmes Baffled für das Mutoskop.2 Der Inhalt des Films, der als verschollen galt,3 bevor er 1968 von Michael Pointer in der Library of Congress gefunden wurde,4 ist schnell zusammengefasst: Ein Einbrecher wird von Sherlock Holmes während eines Diebstahls gestört und entkommt der Situation, indem er sich in Luft auflöst. Holmes, mit einem Morgenmantel bekleidet, lässt sich auf einen Stuhl nieder und zündet sich eine Zigarre an (Abb. 1), worauf der Einbrecher aus dem Nichts erscheint. Der Detektiv zieht eine Pistole und schießt auf den Eindringling, der wiederum verschwindet und kurze Zeit später wieder auftaucht. Holmes versucht den Dieb zu ergreifen, der sich jedoch abermals unsichtbar macht. Der kurze Film endet mit Holmes, der mit dem Diebesgut das Zimmer verlassen will, das ihm jedoch von dem unsichtbaren Einbrecher abgenommen wird. Zurück bleibt ein verwirrter, ein verblüffter Meisterdetektiv. Nur schwer ist dieser Meisterdetektiv auf den ersten Blick als Sherlock Holmes zu identifizieren, da er weder die Deerstalker-Mütze noch den Inverness-Mantel trägt, jene ikonischen Kleidungsstücke, mit denen Sidney E. Paget die Figur ausstattete. Zum ersten Mal illustrierte Paget den Meisterdetektiv für die Erzählung A Bohemian Scandal, die im Juli 1891 in The Strand Magazine erscheint; Mütze und Mantel finden sich in den Illustrationen zu The Boscombe Valley Mystery drei Monate später. Das äußere Erscheinungsbild des Detektivs im Stummfilm von Arthur Marvin war zeitgenössischen Kennern des frühen Medienverbunds um den Meisterdetektiv jedoch nicht unbekannt, da es sich an William Gillettes Darstellung des Detektivs in Sherlock Holmes: A Drama in Four Acts orientierte (vgl. Pointer 1975, 31). Das populäre Stück, das Gillette gemeinsam mit Doyle schrieb, feierte
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Mutoskop ist eine Art mechanisches Daumenkino: Eine größere Anzahl von Fotografien sind dabei radial auf einer Welle befestigt; bei der Drehung dieser werden die Bilder nacheinander kurz angehalten und zeigen sich damit für den Bruchteil einer Sekunde dem Betrachter. Der Gesamteindruck dieser rasch aufeinander folgenden und für kurze Zeit stillstehenden Fotografien ist, ähnlich wie beim Kinetoskop, filmisch. 3Georg Seeßlen erklärt den Film noch 1981 in seinem Standardwerk Mord im Kino. Geschichte und Mythologie des Detektiv-Films als verschollen, daran hält er auch in den Neuauflagen des Werks 1998 und zuletzt 2011 fest. 4Mir liegt der Brief vom 25. Mai 1968 vor, in dem Michael Pointer den Fund des Filmes in der Library of Congress dem Sherlock Holmes Journal anzeigt und kommentiert. Ich danke der Sherlock Holmes Society of London, in personam Roger Johnson, für die Bereitstellung des Dokuments.
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Abb. 1 Sherlock Holmes Baffled (1900), https://www.youtube.com/watch?v=KmffCrlgY-c (24.01.2020)
am 6. November 1899 auf dem Broadway im Garrick Theatre seine Premiere. Sowohl die Kalabashpfeife als auch die signature phrase „Elementary, my dear Watson“ stammen aus diesem Stück; sie gehören – wie Mütze und Mantel – zu den „Embleme[n] […], die bis heute, nach mehr als hundert Jahren, sofort als […] Signet für den Detektiv decodiert werden“ (Hügel 2003, 157). James Stuart Blackton, Regisseur und Produzent des zweiten Holmes-Films Adventures of Sherlock Holmes; or, Held for Ransom (Vitagraph) aus dem Jahr 1905 war diese Emblematik bereits bekannt: Sein Sherlock Holmes trägt wie selbstverständlich die Deerstalker-Mütze. Der ebenfalls US-amerikanische Film mit Gilbert M. Anderson und H. Kyrle Bellew in den Hauptrollen orientiert sich in wenigen Szenen an Doyles zweitem Roman The Sign of the Four von 1890 (vgl. Klinger 1998). Für das Szenario des Films mit einer Länge von 220 m war Theodore A. Liebler Jr. verantwortlich. Die ersten beiden Holmes-Filme legen aufgrund ihrer technischen Limitierungen, wie alle Stummfilme des Genres, ihr Augenmerk weniger auf Analyse und Deduktion der Hauptfigur als auf Action-Elemente sowie auf erzählerische bzw. dramaturgische Aspekte wie mystery und suspense (vgl. Moody 2003, 228). Dies ist besonders in Sherlock Holmes Baffled ersichtlich, dessen Handlung um den Stopptrick geschrieben ist, den Georges Méliès 1896 entwickelte (vgl. Ezra 2000, 15). Hierbei wird eine Einstellung aufgenommen, die Kamera angehalten und ein Objekt entfernt oder hinzugefügt. Danach wird die Aufnahme fortgesetzt. Beim Abspielen der Einstellungen verschwindet bzw. erscheint das Objekt mit einem Male (vgl. Kurwinkel/Schmerheim 2013, 57). Der frühe Medienverbund um die Figur des Meisterdetektivs ist durch intraund intermediale Bezüge zwischen den Medienangeboten gekennzeichnet; Letztere konstituieren insbesondere die Medientexte, für die Doyle als Verfasser
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nicht verantwortlich war. Bei den Bezügen handelt es sich im Falle der Filmtexte um Systemreferenzen wie die beschriebenen erzählerischen bzw. dramaturgischen Aspekte, die in Form von mystery und suspense bereits im Originärtext angelegt sind sowie um Einzeltextreferenzen wie beispielsweise die Signets. Diese Bezugnahmen resultierten aus ökonomischen Erwägungen: Es ging den Filmproduzenten schlicht darum, zahlendes Publikum über Verweise und Bezüge auf populäre Stoffe und Werke zu erreichen. „Plagiarism“, schreibt Pointer in diesem Zusammenhang: was the order of the day in the earliest years of moving pictures. No sooner was an interesting scene or successful comic or dramatic subject issued by one company than all the others dashed off to copy it, and so from the crude beginnings of the peepshow machine and kinematograph up till about 1912 it was the practice of many, though not all, American film-makers […] (Pointer 1968)
Detektivfilme in Serie: Sherlock Holmes, Nat Pinkerton und insbesondere Nick Carter Drei Jahre nach Adventures of Sherlock Holmes etablieren sich die ersten Reihenformate des Detektivfilms mit den Sherlock Holmes-series der Nordisk Film Kompagni aus Dänemark, mit Nat Pinkerton (Eclipse) aus Deutschland und den Nick-Carter-Verfilmungen der französischen Filmgesellschaft Éclair. Die Filme vor 1914 bemühen sich um eine international verständliche Filmsprache; entsprechend prägen die ausländischen wie heimischen Produktionen die Sehgewohnheiten des wilhelminischen Kinos und reagieren, von kleineren nationalen Eigenarten abgesehen, auf die kollektiven Dispositionen eines gesamteuropäischen, wenn nicht internationalen Publikums (vgl. Hesse 2003, 11). Mit diesen Detektivfilmen adaptieren die Filmmacher ab 1908 das serielle Erzählen, das sich mit der Trivialliteratur im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekanntlich in verschiedenen Schriftmedien entwickelt: Als einer der ersten Schriftsteller veröffentlichte der französische Journalist Emile Gaboriau seine Romane ab 1863 in Zeitungen; die Struktur und die Dramaturgie seiner Geschichten über den Detektiv Lecoq entsprechen dem Medium: Bei Gaboriau gibt es keine Figur ohne Konflikte und keinen Satz ohne Emphase, durfte doch in keiner Folge die Zuwendungsintensität der Leser/innen nachlassen (vgl. Seeßlen 1998, 24). Auch der Erfolg von Sherlock Holmes ist mit den Medienangeboten zu erklären, durch die seine Erzählungen verbreitet wurden: Nachdem Doyle sich zunächst an einem episch großangelegten Projekt versucht hatte, beschränkte er sich im Folgenden hauptsächlich auf die Form der Kurzgeschichte à la Edgar Allan Poe. Sie erwies sich als ideal für die Magazine, die in den 1880er-Jahren große Verbreitung fanden.
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Der Detektiv als Serienheld wird in diesen Magazinen geboren, schreibt Georg Seeßlen, und kommt in den Groschenheften, den Dime Novels, wie sie sich in den USA herausbilden, zur Blüte (vgl. Seeßlen 1998, 25): Diese Form der Unterhaltungsliteratur löste schließlich auch in Europa die bis anhin gebräuchliche Form der ‚Kolportageromane‘ ab, jener umfangreichen Erzählungen mit nicht enden wollenden Verästelungen und Variationen der Handlung, die in wöchentlichen Lieferungen von Kolporteuren ins Haus gebracht wurden und von den Autoren solange weitergesponnen wurden, wie das Interesse der Abonnenten anhielt. (Ebd.)
Die Struktur der Medienangebote in den Verbundsystemen dieser Zeit ist entsprechend geprägt durch eine spezifische Abfolge: Die Erzählungen über die frühen Detektive werden zunächst in Zeitungen und Magazinen, dann in Geschichtensammlungen und Romanen veröffentlicht; um die Jahrhundertwende kommen die Groschenheftserien dazu, hierauf folgen die Filme. Zwischen den Heftromanen und den Filmen besteht damit eine „enge formale und ästhetische Verzahnung“ (Hesse 2003, 11), die sich aus intermedialer Perspektive in Medienwechseln, insbesondere aber in Bezügen zeitigt. Inhaltlich waren die Serienromandetektive zumeist ihrem großen Vorbild Sherlock Holmes verpflichtet; es tritt bei ihnen jedoch ein für den gehobenen Detektivroman kaum bedeutsames Element in den Vordergrund, das auch die ersten beiden Filmbeispiele charakterisiert: Action. Der Detektiv ist nicht so sehr durch seine Funktion im Spiel der Detektion allein bestimmt; er ist keine „Denkmaschine mit etwelchen Schrullen“ (Seeßlen 1998, 26), sondern als Held Träger von in ihn projizierten Träumen und Wünschen. Der berühmteste dieser Detektive ist Nick Carter, dessen erster Fall im Magazin New York Weekly in dreizehn Teilen ab September 1886 erscheint (Abb. 2); ab 1906 feiert er als Amerikas größter Detektiv in den Groschenheften der Dresdner Verlagsbuchhandlung A. Eichler auch in Deutschland Erfolge. Dieser Detektiv, so formulieren Pierre Boileau und Thomas Narcejac, trete das Erbe von Kit Karson und Buffalo Bill an; er verkörpere den einsamen Mann als Held in der Metropole aus Brettern und Beton (vgl. Boileau/Narcejac 1967, 92 f.). Diesen Gegenentwurf zum klassischen, bürgerlichen und konservativen Detektiv adaptiert Victorin-Hippolyte Jasset, der damalige technische Direktor der Éclair, mit Pierre Bressol in der Hauptrolle ab September 1908 für die Leinwand. Unter dem Titel Nick Carter – Le Roi des Detectives entsteht die erste Staffel mit insgesamt sechs in sich abgeschlossenen Episoden. Zwei weitere, je dreiteilige Staffeln folgen 1909 mit Les Nouvelles Aventures de Nick Carter und Les Merveilleux Exploits de Nick Carter. Die Szenarios der ersten Staffel entwickelte Georges Hatot vor allem über Bezugnahmen auf die Erzählungen des Nick-Carter-Universums der Magazine und Groschenhefte; die Episoden, die eine Länge von 185 bis 235 m aufwiesen, sind keine Adaptionen einzelner Geschichten. Le Guet-Apens, die erste Episode vom 8. September 1908, weist die heute klassische, zweiteilige Erzählstruktur auf: In der ersten Hälfte wird das Verbrechen verübt, in der zweiten Hälfte klärt der Detektiv eben dieses auf. Der Film beginnt
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Abb. 2 Filmplakat der ersten Nick-Carter-Episode Le Guet-Apens (1908), https://en.wikipedia. org/wiki/File:Nick-Carter-b.jpg (24.01.2020)
mit der Hochzeit eines betont bürgerlich gezeichneten Arztes; vor der Kirche lungern Kriminelle, die dem frisch vermählten Paar auf ihrem Heimweg durch die Straßen von Paris folgen. Sie locken den Arzt schließlich in einen Hinterhalt und zwingen ihn, einen Lösebrief zu schreiben. In der zweiten Filmhälfte schaltet die Ehefrau den Detektiv ein, dem es gelingt, die Verbrecher zu finden. An dieser Stelle schockiert der Film mit einer Gruseleinlage à la Groschenheftroman: Die Verbrecher foltern ihr Opfer, indem sie unter seinen nackten Füßen ein Feuer entfachen. In letzter Sekunde erfolgt die Rettung durch Nick Carter; am Schluss hält sich das wiedervereinte Paar, eine stereotypische „Darstellung restaurierten Bürgerglücks“ (Hesse 2003, 60), in den Armen. Auffallend sind in diesem Film die Bilder von Paris; Jasset platziert den Amerikaner Nick Carter deutlich in der französischen Hauptstadt, in der Lebenswelt des Publikums. Jasset dreht die Großstadtaufnahmen überwiegend on location, bemüht sich um größtmögliche Authentizität; dementsprechend entfalten die Bilder neben ihren dokumentarischen Qualitäten eine ganz eigene Poesie
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(vgl. Hesse 2003, 57). „Die Freiluftatmosphäre natürlicher Dekors im Vorort Montreuils“, schreibt Hans Gerhold, verbreitet während eines Überfalls oder einer Verfolgung jenen poetischen Reiz, der sich in vielen sérials findet […]. Szenen am Ufer der Seine oder der Kanal Saint-Martin beziehen Lastkähne, Automobile, Molen und Brücken als realistische Details und bildkompositorisch nützlichen Hintergrund geschickt mit ein. (Gerhold 1994, 185)
Diese Bilder haben ihren Ursprung in der Flânerie des Fin de Siècle, in den Eindrücken des Flaneurs von Oberflächenreizen und Sensationen, wie sie Poe erstmals im Dezember 1840 in The Man of The Crowd beschrieben hat. Sie bilden ein wesentliches Merkmal nicht nur des frühen Detektivfilms; sie finden sich ebenso in Lamprechts Emil und die Detektive als Großstadtbilder, als Aufnahmen der Bahnhöfe Zoo und Friedrichstraße, des Kurfürstendamms, der Motzstraße und des Nollendorfplatzes. Die Aufnahmen sind mehr als eine filmische Darstellung des Handlungsraumes, sie sind Aspekte einer Narratoästhetik des Detektivfilms. Mit der letzten Staffel Les Merveilleux Exploits de Nick Carter integriert Jasset explizit Bezüge auch auf andere Stoffe; so stellen Titel und Handlungselemente der Episode Nick Carter: Le club des suicidés vom 20. September 1999 intermediale Bezugnahmen auf The Suicide Club dar, einer Erzählung Robert Louis Stevenson aus dem Jahr 1887. In dem nur fragmentarisch erhaltenen Film geht es um einen mysteriösen Herrenzirkel, dessen Mitglieder archaischen Ritualen folgen und sich infolge dieser entschieden haben, aus dem Leben zu scheiden. Die Auswahl des jeweilig Suizidalen geschieht über ein Kartenspiel: Wer das Pik-As zieht, wird sterben. Jasset übernimmt nur diesen Handlungskern:5 Statt eines böhmischen Prinzen und seines Obersts, die auf der Suche nach neuen Sensationen in den Zirkel geraten, ist es im Film ein Journalist, der im Auftrag seines Chefredakteurs Mitglied des mysteriösen Clubs wird. Selbstredend zieht er die falsche Karte: Nick Carter, wie in Le Guet-Apens alarmiert durch die besorgte Ehefrau, wird ihn retten. Jassets Bilder dazu sind, schreibt Sebastian Hesse, „Kodifizierungen jener dunklen, irrationalen Naturmächte, als deren Antipode der aufklärerische Detektiv fungiert“ (Hesse 2003, 62). Im Jahr 1911 rückt Jasset eine Verbrecherfigur in den Mittelpunkt eines Filmserials: Zigomar, roi des voleur ist die Adaption des gleichnamigen Romans des Pariser Journalisten Léon Sazie aus dem Jahr 1910. Jassets Zigomar-Film markiert in der Produktionsgeschichte der Éclair den Übergang zum programmfüllenden Langfilm (Abb. 3): Der Film hat eine Dauer von 51 min, jedoch keine durchgehende Handlung: Er besteht vielmehr aus einer Aneinanderreihung drei kurzer, gleichberechtigter Einzelepisoden oder Akten, die etwas länger als die Nick-Carter-Episoden sind.
5Hesse bezeichnet Nick Carter: Le club des suicidés als früheste Adaption der kurzen Erzählung Stevensons (vgl. Hesse 2003, 60), irrt hier jedoch: Vier Monate früher, am 3. Mai 1909, feiert D. W. Griffiths The Suicide Club Premiere.
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Abb. 3 Filmplakat des ersten Zigomar-Films (1911), https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%97%D 0%B8%D0%B3%D0%BE%D0%BC%D0%B0%D1%80#/media/%D0%A4%D0%B0%D0%B9 %D0%BB:Zigomar.jpg (24.01.2020)
Mit den Zigomar-Filmen kreiert Jasset, genretypologisch betrachtet, einen neuartigen Typus von Detektivfilm: Im Mittelpunkt der Handlung steht nicht mehr allein der Detektiv, sondern auch der Kriminelle: Das Ergebnis ist ein erster Hybrid aus Detektiv- und Gangsterfilm. Zigomar, der dem Detektiv – zunächst ein Polizeiermittler namens Paul Broquet, hiernach Nick Carter in Zigomar contre Nick Carter (1912) – in den Kerndisziplinen Analyse und Deduktion mindestens ebenbürtig ist, wird als master mind zur zweiten Hauptfigur. Diese wird nicht mehr besiegt, wird nicht als Täter ermittelt, verhaftet und ihrer gerechten Strafe zugeführt; der seriellen Konzeption der Filme geschuldet, entkommt der master mind sowohl auf Ebene der Akte als auch der Episode. Moralische Kategorien werden auf erster Ebene noch durch die Triumphe des Detektivs scheinbar bestätigt, auf zweiter Ebene aber wieder außer Kraft gesetzt: „Der Zuschauer soll ambivalent bleiben“, schreibt Hesse: [j]eder finale Sieg eines der Kontrahenten würde dem sérial ein Ende setzen. Hier liegt die Subversität der Zigomar-Serie begründet: Sie wertet eine moralisch verwerflich handelnde Figur zum Sympathieträger auf. Zigomar verkörpert ein alternatives Wertesystem der
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Unmoral, das gleichberechtigt neben dem bürgerlichen eines Nick Carters steht (Hesse 2002, 63).
Die drei Zigomar-Filme – am 21. März 1913 komplettiert Zigomar, peau d’anguille die Trilogie – stellen Hesse zufolge die letzte Stufe in der Entwicklung des frühen Detektivfilms dar: Die erste Stufe seines Drei-Stufen Modells beschreibt den Detektivfilm als „Illustration des abstrakten Prinzips der ratio“ (Hesse 2003, 23), neben das auf zweiter Stufe zunehmend dominanter die Erschütterung des Normativen, des Vertrauens auf die Wirklichkeit überhaupt, tritt. Das Bemühen um Originalität und die Ausdifferenzierung des Genres bringt auf dritter Stufe dann Spielarten hervor, in denen die „Enttabuisierung des Verbrechens und des Unmoralischen zum zentralen Reiz stilisiert wird“ (ebd.).
Kinoschund und Trivialisierung, Zensur – und wie die Kinder ins Kino kamen Die zeitgenössische kritische Rezeption wird gerade in Bezug auf diese dritte Entwicklungsstufe in Gestalt der Nick-Carter-Filme deutlich: So liest sich beispielsweise im sozialdemokratischen Periodikum Die Gleichheit aus dem Jahr 1912: Gegen die Schundliteratur […] der Nick Carter-Hefte wenden wir uns mit aller Energie; weit eindringlicher und gefährlicher wirkt aber dieser Kinoschund, bei dem man sich das Häßliche nicht nur in der Vorstellung ausmalen muß, sondern wo man alles lebendig und wirklich vor den Augen sich abspielen sieht. (Roland 2012/1913, 128 f.)
Der Überzeugung, dass von dem „Kinoschund“ eine weitaus größere Gefährdung ausgeht als von der „Schundliteratur“ ist auch der Theaterkritiker Heinrich Stümcke: Es genügt nicht, den Kampf gegen Nick Carter und die Helden von Karl Mays Gnaden auf dem Büchermarkt zu führen und sie bis in die letzten Schlupfwinkel der kleinen Buchbinderläden, Zeitungskioske und Journallesezirkel zu verfolgen; der […] Film, der gleichzeitig von Hunderten geschaut wird, wirkt mit seiner Verherrlichung verwegener Verbrecher, seinen bluttriefenden Stierkämpfen und brutalen Hinrichtungsszenen weit aufreizender und nachhaltiger als das gedruckte und in der Stille gelesene Wort. (Stümcke 1912, 239 f.)
Diese Aussagen zu Kino und Film im Allgemeinen wie zu Nick Carter im Speziellen beziehen sich vor allem auf die verrohenden Darstellungen von Verbrechen und Sexualität. Dazu liest sich in den zeitgenössischen Texten auch die Sorge vor einer Trivialisierung durch das neue Medium und seine Inhalte, vor dem „Strudel Trivialität“ (Pfemfert 1911, 560), wie Franz Pfemfert in der 18. Ausgabe der Aktion im Juni 1911 formuliert. In Kino als Erzieher beklagt der Herausgeber der Zeitschrift, dass mit dem Voranschreiten des Fortschritts ein Kulturverfall einhergehe, der sich grundsätzlich in allen Bereichen der Gesellschaft abzeichne.
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Sichtbar werde dieser vor allem in der allgegenwärtigen Seelenlosigkeit, die er als Gegenteil von Individualität bestimmt. Diesen Mangel an Individualität kennzeichne auch die Architektur, die als „Jahrmarktsstil im neuen Berliner Westen“ zu sehen sei, wo „die Trivialität […] wahre Orgien“ (Pfemfert 1911, 561) feiere. Insbesondere das Kino verhelfe der um sich greifenden Trivialität zum Siege und verwüste den „Geschmack des Volkes“ durch „brutale Bildreporterei“ (ebd., 562), wie Pfemfert ausführt. Folgerichtig erklärt er apodiktisch: „Nick Carter, Kino und Berliner Mietshäuser, diese triviale Dreiheit gehört zusammen“ (ebd.). So sei das Kino der „Unterhalter der breiten Volksschichten“ und ihr „gefährlichster Erzieher“ (ebd.). Dies gelte auch und vor allem für die Kinder, schließlich habe man dem Kino „jetzt auch die Schulstuben“ (ebd.) geöffnet. Worauf Pfemfert anspielt, sind kurze Filme, in denen sich Kaiser Wilhelm II bei militärischen Feiern, Paraden und Manövern präsentiert, theatralisch und pompös inszeniert. Von den 82 Filmen (vgl. Petzold 2012, 128), die den Kaiser bei Paraden und Manövern zeigen, wurden einige Schüler/innen in speziellen Aufführungen vorgeführt – der „gut preußische Militärgeist schlägt Rad vor Kinderseelen“ (ebd.), wie Pfemfert kommentiert. Mit dem Film als solchen kamen Kinder und Jugendliche in der Zeit jedoch weniger in der Schule als im Kino selbst in Kontakt; nach den ersten Jahren, der Zeit des Wander- und Jahrmarktkinos, etablieren sich auch in Deutschland ab 1906 zunächst mit den Ladenkinos, später mit den Filmpalästen nach US-amerikanischem Vorbild stationäre Lichtspielhäuser. Zu den Besuchern dieser Kinos gehören insbesondere Kinder und Jugendliche – wie sie überhaupt Rezipierende der bewegten Bilder seit der Geburtsstunde des Films im Jahr 1895 sind. Eine elaborierte Zielgruppenansprache kennt das frühe Kino noch nicht, die Vorstellungen werden von Kindern wie Erwachsenen besucht, nachmittags waren die Kinos jedoch „faktisch in der Hand der Kinder“ (Maase 2008, 128). Beliebt waren dabei vor allem Wildwest- und die Detektivfilme (vgl. Clemens 1931, 27). Wie aus den Quellen deutlich wird, verfolgte die deutsche Öffentlichkeit mit hoher Aufmerksamkeit und großer Besorgnis, was die Kinder an Filmen im Kino sahen. Zu Wort meldeten sich in erster Linie Autoren von Broschüren und Büchern, von Tageszeitungen und Zeitschriften – wie im Falle Pfemferts. Pfarrer und Lehrer behandelten die Probleme kindlichen Kinobesuchs in Predigten und im Unterricht, in Sendschreiben und auf Elternabenden – nachdem sie selber im Kreise ihrer Berufskollegen und aufgrund institutioneller Anweisungen das Thema erörtert hatten. Auch das Kinogewerbe suchte seine Sicht in die Medien zu bringen, hatte aber gerade in der Kinderfrage einen schweren Stand. Parlamente aller Ebenen behandelten die Kinofrage und diskutierten sie, wie die gesamte Nation, im Wesentlichen als Kinderfrage. Schließlich wissen wir, dass auch in den Begegnungsöffentlichkeiten des Alltags – in der Kneipe, auf der Straße, im Hausflur – Gesprächsthema war, was wohl im Dunkel der Kinosäle mit den Kindern geschehe. (Maase 2008, 138)
Eine zentrale Kontrolle der Kinobesuche von Kindern und Jugendlichen entsteht erst mit der Verabschiedung des Reichslichtspielgesetzes vom 12. Mai 1920; nach diesem Datum mussten alle Filme vor der Aufführung durch Prüfstellen in Berlin und München gesichtet werden. Filme, „von welchen eine schädliche Einwirkung
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auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen“ (zit. nach Räder 2009, 24) ausgehe, durften erst ab 18 Jahren gesehen werden. Die ausgesperrten Jugendlichen sahen jedoch weiterhin Filme wie z. B. Kaliber fünf Komma zwei aus der Joe-Deebs-Reihe, den die Reichsfilmzensur am 11. August 1920 mit einem Jugendverbot (Nr. 207) belegte: Sie schmuggelten und schummelten sich in die Kinos, was in den Vororten oft gar nicht nötig war: Diese Kinos machten gute Geschäfte mit den Filmen, die nicht jugendfrei waren. Wurde seitens der Behörden kontrolliert, so gab es die üblichen Ausreden wie ‚gerade wurde eine Filmkopie verwechselt‘ oder ‚der falsche Film wurde geliefert‘ und man kannte den Inhalt nicht. In einigen Kinos signalisierte sogar ein Frühwarnsystem am Eingang dem Vorführer, dass Kontroll-Beamte das Kino betreten hatten (vgl. Schäfer 2015).
Der Detektivfilm der Kriegsjahre: Stuart Webbs und Joe Deebs Joe Deebs, aus der Kaliber fünf Komma zwei stammt, war eine Detektivfilmreihe des Regisseurs und Produzenten Joe May zur Zeit der Kriegsjahre – jenen Jahren, in denen der Boom des Detektivfilms ungeahnte Ausmaße erreicht: „Die Hälfte aller Spielfilme, die in der Kriegszeit das Kino beherrschten, waren Detektivfilme“ (Kalbus 1935, 39). Der deutsche Markt wird überschwemmt von Reihen um Ermittler mit englischen Namen; der erste dieser Detektive – der direkte Vorfahre von Joe Deebs – ist Stuart Webbs, gespielt von Ernst Reicher. Der Schauspieler selbst soll die Figur erdacht haben – in Anlehnung an einen Kriminalisten, den er in London kennengelernt habe (vgl. Kalbus 1935, 38). Regie führte bei diesen Filmen Joe May für die Continental-Kunstfilm Berlin. Oskar Kalbus, einer der frühesten deutschen Filmhistoriker, schreibt über die erste Episode mit dem Titel Die geheimnisvolle Villa: Was niemand erwartete, traf ein. Dieser Film machte das bis dahin größte Geschäft, das man sich denken konnte. Überall, wo er erschien, im Inland und im Ausland, stand das Publikum an den Kassen der Lichtspieltheater Schlange. Es dauerte nicht lange, da wurde der zweite Stuart-Webbs-Film gedreht, dann der dritte, der vierte, der zwanzigste. Ernst Reicher hat wohl an die 40–50 Filme gedreht, in denen er „Stuart Webbs“ war, jener liebenswürdige, chevalereske, hochintellektuelle, sportlich durchtrainierte Detektiv, der seine vornehmste Aufgabe im unermüdlichen Dienst an der Gerechtigkeit sah. (Kalbus 1935, 38)
Die Filme dieser Zeit sind zum einen Zeugnisse der damaligen politischen Entwicklungen, zum anderen des Legitimationsdiskurses des frühen Films. Entsprechend liest sich in einem Kinematograph-Artikel zur Premiere der zweiten Stuart-Webbs-Episode Der Mann im Keller:
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Englisch und Sensation sind zwei Ausdrücke, an die sich unsere Gegner klammern würden, wenn nicht alles an und um diesen Film echt deutsch wäre und das Sensationelle sich nicht auf dessen Qualität bezöge. (Der Mann im Keller 1914)
„[E]cht deutsch“ – das ist Kriegspropaganda; das ist der Versuch, das Genre national auszurichten, es zu germanisieren. Parallel zu dieser Entwicklung geht der Versuch einher, den Detektivfilm vom Vorwurf zu befreien, er würde mit einer „haarsträubenden Aneinanderreihung der unglaubwürdigsten Sensationen“ (Hesse 2003, 148) aufwarten; kurz nach der Premiere von Die geheimnisvolle Villa steht in der Licht-Bild-Bühne: Die Spannung und das Interesse ist nicht durch die Handlung erweckt (die Situationen sind uns durch die Kriminalliteratur hinlänglich bekannt), das rege Interesse an dem Schicksal Webbs’ wurde dadurch wachgehalten, wie die Szenen gebracht wurden, und zwar vom regietechnischen wie vom darstellerischen Standpunkt aus. (Die Detektiv-Filme 1914)
Mays Detektivfilme sind weniger Sensations- oder Attraktionskino; sie überzeugen auf Ebene der histoire durch Realismus und Handlungslogik sowie durch psychologisch differenzierte Charaktere. Die Filme dieses frühen Erzählkinos bezeichnet Thomas Elsaesser als unverkennbare Qualitätsprodukte mit Wiedererkennungswert und beschreibt, wie sich die einzelnen Verantwortlichkeiten im Produktionsprozess darstellten: May geht es nicht nur darum, den Markenartikel „Stuart Webbs“ zu schaffen und somit das Publikum regelmäßig in die Kinos zu bringen, sondern den Kinobesitzern eine zentral von der Produktionsfirma her kontrollierte Werbekampagne zu liefern. Reichers Beitrag ist wiederum, das vorgegebene Muster des Gentleman-Detektivs so zu gestalten, daß er es auch ironisch zu brechen versteht und eine strategisch wichtige Brücke zwischen legitimem Theater und anrüchigem Kintopp bauen kann. (Elsaesser 1991, 15)
Nach drei vielbeachteten Filmen kommt es im Sommer 1914 zum Bruch zwischen May und Reicher sowie der Produktionsfirma Continental. Reicher produziert alleine weitere Filme der Reihe, dabei weicht er immer mehr von den Merkmalen und Charakteristika des neuen Detektivfilms ab. May gründet 1915 eine eigene Produktionsfirma, am 3. Juni 1915 feiert mit Das Gesetz der Mine die erste Episode der Joe Deebs-Reihe ihre Premiere. Bis 1922 entstehen 30 Filme der Reihe (vgl. Wlaschin 2009 59), bei mehr als zehn führt May Regie. Eine Ausdifferenzierung der Figur und damit des Genres nimmt May insofern vor, als das Privatleben des Ermittlers in die Erzählungen integriert wird – anders als bei früheren Filmen. Entsprechend trägt die 6. Episode der Reihe aus dem Jahr 1916 den Titel Wie ich Detektiv wurde, in der Deebs seinen Freunden in einem Club seine Lebens- und Liebesgeschichte erzählt. Während der Kriegsjahre versuchen zahlreiche Produktionsgesellschaften den Erfolg Mays und Reichers zu kopieren; dazu kehren mit Sherlock Holmes und Nick Carter Detektive des Vorkriegskinos zurück auf die Leinwände, was durch die Filme Mays und Reichers in gewisser Weise vorbereitet wurde: Stuart Webb verweist qua Figurenzeichnung explizit auf Sherlock Holmes, Joe Deebs hingegen auf Nick Carter.
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Davon abgesehen etablieren sich neue Detektivfiguren wie Joe Jenkins und Harry Higgs: Unter der Regie von Rudolf Meinert trägt die Higgs-Reihe, die mit der Episode John Rool im September 1916 ihre Uraufführung im Berliner Tauentzienpalast feiert, deutlich parodistische Züge. Es sind diese Züge wie auch die Integration des Privaten, des Romantischen, die dem Detektivfilm die Glaubwürdigkeit nehmen, wie Hesse schreibt: „Nicht seine verrohende Wirkung bricht dem Genre das Genick, sondern die lächerliche.“ (Hesse 2003, 184). Nach Kriegsende rechnet der 23-jährige Carlo Mierendorff in seinem Essay Hätte ich das Kino! mit dem Detektivfilm ab, dem Kalbus bescheinigt, dass er „1919 […] so gut wie zu Tode gehetzt war“ (Kalbus 1935, 38): „Einst gab es den phantasievollen Hintertreppenroman.“, schreibt Mierendorff, Er starb längst. Dahin sind selbst die Detektivs. Anstatt mit Pistole und Blendlaterne hantieren sie schon mit Herzen, wurden sie Liebeshelden. Gauner, deren Echtheit kein Mensch mehr glaubt. Wie groß einst der Scharfsinn des Sherlock Holmes. Wie dünn dagegen die Erfindung der Harry Higgs, Joe Deebs, Stuart Webbs. Wie blaß die Verschränkung. Wie langweilig und parfümiert. (Mierendorff 1972, 303)
Das Genresystem der frühen Leinwanddetektive Die Medienverbünde der frühen Detektivfilme sind, wie dargestellt, sowohl diachron als auch synchron perspektiviert, international und intermedial; ohne ihre literarischen Ahnherren sind sie nicht denkbar: Gelten Charles Dickens und Willie Collins als Wegbereiter für den Detektivroman, sind es Edgar Allan Poe, Emile Gaboriau und Arthur Conan Doyle für die Detektiverzählung, die zunächst in Zeitungen und Magazinen, später in Geschichtensammlungen und Romanen, dann in den Groschenheften veröffentlicht wird. Das serielle Erzählen in diesen Medienangeboten, allen voran in den Groschenheften, bildet sowohl strukturell als auch inhaltlich und dramaturgisch die Voraussetzungen für die Filmreihen des Genres. Hinzuweisen ist dabei u. a. auf die Betonung von handlungsorientiertem Geschehen, das den analytischen Prozess und die Deduktion, welche die klassische Detektivgeschichte strukturierten, in den Hintergrund treten lässt. Zu nennen sind weiterhin die Kampfszenen und Verfolgungsjagden, die in ihrer Dramaturgie denjenigen im frühen Detektivfilm vorweggenommen sind; und nicht zuletzt auch die Detektivgehilfen, die andere Funktionen einnehmen als in den Erzählungen Poes oder Doyles: Sie sind nicht mehr Gesprächspartner, denen der Meisterdetektiv seine Deduktionsketten erläutert, sondern Assistenten, die selbstständig ermitteln. Sie gehen einzelnen Spuren nach und ermöglichen dadurch mehrere, parallellaufende Erzählstränge; diese Stränge entsprechen dem filmischen Erzählen der Parallelmontage, wie es erstmals 1903 in Edwin S. Porters The Great Train Robbery zu sehen ist. Die Medienverbünde der frühen Detektivfilme umfassen unzählige Stoffe in verschiedenen Medienangeboten; die Filme stellen sich dabei gerade in den ersten Jahren selten als Adaptionen dar, vielmehr sind es Filmtexte, deren Inhalte sich
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aus einem Mosaik an intra- und intermedialen Bezügen zusammensetzen: Entsprechend werden bspw. in der zweiten Episode der ersten Nick Carter-Staffel, L’Affaire des bijoux vom 22. September 1908, Handlungsaspekte wie die Ehefrau, die den Detektiv in höchster Not engagiert, aus dem vorangegangenen Film übernommen und mit Motiven kombiniert, die aus anderen Medien und Quellen stammen. Ein Beispiel für eine solche Kombination sind die Bezugnahmen auf Stevensons The Suicide Club in der ersten Episode der dritten Staffel, Les Merveilleux Exploits de Nick Carter. Ein anderes, doch ähnliches Beispiel ist der Film Sherlock Holmes in the Great Murder Mystery von 1908, der in puncto Emblematik an Gillettes Theaterstück und Blacktons Film anknüpft, in dem Sherlock Holmes und Dr. Watson jedoch einen Fall lösen, der sich in einer Rue Morgue ereignet hat und dessen Täter ein Orang-Utan ist – wie bekanntlich in Poes Kurzgeschichte The Murders in the Rue Morgue aus dem Jahr 1841. Werktreue und/oder Fragen des Copyrights waren zu dieser Zeit also weniger dazu angetan, die Filmemacher an Invention und Variation zu hindern (vgl. Seeßlen 1998, 56). Die Organisationsstruktur der Medienverbünde des Genresystems ist rhizomatisch, ist nicht vertikal, nicht streng hierarchisch beschaffen; stattdessen weist sie, um mit Gilles Deleuze und Félix Guattari zu sprechen, Prinzipien der Konnexion und der Heterogenität ebenso auf, wie das Prinzip des asignifikanten Bruchs: Wie ein Rhizom, das an jeder beliebigen Stelle gebrochen werden kann und „entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter[wuchert]“ (Deleuze/Guattari 1977, 16), setzen sich viele der Medienverbünde fort. Beispiele dafür sind die unzähligen Sherlock-Holmes-Adaptionen wie auch der Verbund um Nick Carter: Nach der dritten Staffel sowie der Zigomar-Episode 1912 findet Nick Carter in den 1960er-Jahren zurück in die Kinos: Am 17. Juni 1964 feiert Nick Carter va tout casser der französischen Filmproduktionsfirma Chaumiane mit Eddie Constantine in der Hauptrolle Premiere. Der Film knüpft inhaltlich und dramaturgisch an seine Vorgänger an – und thematisiert selbstreferenziell den Medienverbund: In einer Szene betritt Carter eine Wohnung, in der er unzählige Nick Carter-Groschenhefte und Memorabilien findet. Viele der narrativen Merkmale und Konventionen, die die frühen Filme zum einen von den seriellen Detektiverzählungen übernehmen, zum anderen aber auch (weiter-)entwickeln, finden sich nicht nur in Emil und die Detektive wieder, sondern zeitigen auch aktuelle Produktionen. Dazu gehören die Zweiteilung der Erzählstruktur ebenso wie Action, Mystery und Suspense, Parallelmontagen oder die Großstadt als Handlungsraum.
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Literatur Primärliteratur Kästner, Erich: Emil und die Detektive: Ein Roman für Kinder. Hamburg: Dressler, 2010 [EA 1929]. Kästner, Erich: Emil und die drei Zwillinge. Zürich: Atrium, 2018 [EA 1934]. Doyle, Arthur C.: The Adventures of Sherlock Holmes II. A Scandal in Bohemia. In: The Strand Magazine 1 (1891), 61–75. Doyle, Arthur C.: The Adventures of Sherlock Holmes IV. The Boscombe Valley Mystery. In: The Strand Magazine 1 (1891), 401–416. Doyle, Arthur C.: The Sign of the Four. In: Lippincott’s Monthly Magazine 41 (1890), 145–223 Doyle, Arthur C.: A Study in Scarlet. London [u. a.]: Penguin, 2004. Poe, Edgar A.: The Man of the Crowd. In: Burton’s Gentleman’s Magazine 4 (1840), 267–270. Poe, Edgar A.: The Murders in the Rue Morgue. In: Ders.: Selected Tales. London: Penguin, 1994, 118–153. Stevenson, Robert L.: The Suicide Club. New York: Charles Scribner’s Sons, 1896.
Filmografie Adventures of Sherlock Holmes; or, Held for a Ransom (USA 1905). Regie: J. Stuart Blackton, Vitagraph Company of America. Emil und die Detektive (D 1931). Regie: Gerhard Lamprecht, Universum Film (Ufa). Harry Higgs: John Rool (D 1916). Regie: Rudolf Meinert, Meinert-Film Bürstein & Janak. Joe Deebs: Das Gesetz der Mine (D 1915). Regie: Joe May, May-Film. Joe Deebs: Wie ich Detektiv wurde (D 1916). Regie: Joe May, May-Film. Joe Deebs: Kaliber fünf Komma zwei (D 1920). Regie: Willy Zeyn, Projektions-AG Union (PAGU). Nick Carter: L’affaire des bijoux (F 1908). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair. Nick Carter: Le Guet-Apens (F 1908). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair. Nick Carter: Le club des suicidés. (F 1909). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair. Nick Carter va tout casser (F/I 1964). Regie: Henri Decoin, Chaumiane, Florida Films. Sherlock Holmes Baffled (USA 1900). Regie: Arthur W. Marvin, American Mutoscope & Biograph. Sherlock Holmes in the Great Murder Mystery (USA 1908). Regie: Fred J. Balshofer, Crescent Film Company. Stuart Webbs: Die geheimnisvolle Villa (D 1914). Regie: Joe May, Continental Kunstfilm GmbH. Stuart Webbs: Der Mann im Keller (D 1914). Regie: Joe May, Continental Kunstfilm GmbH. The Great Train Robbery (USA 1903). Regie: Edwin S. Porter, Edison Manufacturing Company The Suicide Club (USA 1909). Regie: D. W. Griffith, American Mutoscope & Biograph. Zigomar, roi des voleur (F 1911). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair. Zigomar contre Nick Carter (F 1912). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair. Zigomar, peau d’anguille (F 1913). Regie: Victorin-Hippolyte Jasset, Société Française des Films Éclair.
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Theatrografie Emil und die Detektive (UA Berlin 2001). Text: Wolfgang Adenberg; Musik: Marc Schubring. Hamburg: Verlag für Kindertheater, 2008. Sherlock Holmes. A Drama in four Acts. (UA New York 1899). Text: Arthur C. Doyle und William Gillette. London: Samuel French, 1922.
Sekundärliteratur vor 1945 Clemens, Walter: Der Kinderfilm. Untersuchungen über seine psychologischen, pädagogischen und methodischen Grundlagen. Braunschweig, TU, Diss., 1931. Der Mann im Keller. In: Der Kinematograph 8 (1914) 379 vom 01.04., 64. Die Detektiv-Filme. In: Lichtbild-Bühne 1 (1914) 14, 28–37. Kalbus, Oskar: Vom Werden deutscher Filmkunst. 1. Teil: Der stumme Film. Altona-Bahrenfeld 1935. Pfemfert, Franz: Kino als Erzieher. In: Die Aktion 1 (1911) 18, 560–563. Stümcke, Heinrich: Kinematograph und Theater. In: Bühne und Welt 14 (1912), wiederabgedr. In: Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909– 1914. Leipzig 1992, 239–240. Roland [sic!]: Gegen die Frauenverblödung im Kino. In: Die Gleichheit 23 (1912/1913), wiederabgedruckt in: Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909–1914. Leipzig 1992, 128–129.
Sekundärliteratur nach 1945 Alewyn, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: Vogt, Jochen (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte. München 1998 (UTB für Wissenschaft; 8147), 52–72. Boileau, Pierre und Thomas Narcejac: Der Detektivroman. Berlin 1967. Brecht, Bertolt: Über Film. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 18: Schriften zur Literatur und Kunst 1. Frankfurt a. M. 1967, 135–216. Döblin, Alfred: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Ders (Hg.): Aufsätze zur Literatur. Olten/Freiburg i. B. 1963, 15–19. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin 1977. Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte – Firmengeschichte – Familiengeschichte. Der Übergang vom Wilhelminischen zum Weimarer Film. In: Bock, Hans Michael/Lenssen, Claudia (Hg.): Joe May – Regisseur und Produzent. München 1991, 11–30. Ezra, Elizabeth: Georges Méliès: the birth of the auteur. Manchester 2000. Gerhold, Hans: Der Zufallslyrismus der Serie und die Vorläufer des Kriminalfilms: Von Dolly’s Abenteuer (The Adventure of Dolly, 1908) bis Die Vampire (Les Vampires, 1915–1916). In: Korte, Helmut/Faulstich, Werner (Hg.): Fischer-Filmgeschichte, Bd. 1: 1895–1924. Frankfurt a. M. 1994, 182–200. Hasubek, Peter: Die Detektivgeschichte für junge Leser. Bad Heilbrunn 1974. Hesse, Sebastian: Kamera-Auge und Spürnase. Der Detektiv im frühen deutschen Kino. Basel 2003 (KINTOP Schriften; 5). Hickethier, Knut: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Filmgenres. Kriminalfilm. Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek; 18408), 11–41. Hügel, Hans-Otto: Detektiv. In: Ders. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart 2003, 153–159.
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„Donnerwetter, das ist famos“ Mediale Mobilmachung im NS-Mädchenfilm Was tun, Sibylle? Caroline Roeder
Abstract This article focuses on the depiction, representation and construction of female characters in the media of the 1930 s. Sofie Schieker-Ebe’s youth novel Was tun, Sibylle? is used as a reference in order to relate the image of the girl it conveys to contemporary depictions of female protagonists that gained a footing in the literary and cultural research of New Objectivity with the term New Woman (cf. Becker 1993; Karrenbrock 2003; Drescher 2003) and New Girl (cf. Tost 2003). The second part of this paper will explore the film adaptation of the novel with a particular focus, not on the changes made to accommodate the transition into another medium, but rather on those that potentially reveal shifts in the presentation and evaluation of gender constructions. This exploration will not only focus on the discourse surrounding gender constructions and the revanchist depiction of women by the Nazis, it will also examine to what extent other elements of National Socialist ideology are present in film adaptations of literature. Specifically, the contribution investigates which tendencies of children’s and youth literature published during the reign of the National Socialists can be made visible and whether characteristics of a „reactionary modernism“ (Nassen 1987, 10; cf. Herrmann/Nassen 1993) can be identified in this medium. To accomplish this, Harro Segeberger’s thoughts on media theory from his exploration of the National Socialist film Strategien der medialen Mobilmachung are applied; an approach that places the medialization of ideology as opposed to the ideologization of media at the forefront (cf. Segeberg 2004, 11).
C. Roeder (*) PH Ludwigsburg, Ludwigsburg, Deutschland E-Mail: [email protected]
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 P. Josting et al., (Hrsg.), Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur im Medienverbund 1900–1945, Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 3, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05687-0_21
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Vorspann Ruhevoll und in makelloser Reinheit liegt die Landschaft im Schnee – Dunkle Wälder – weite Schneeflächen – weiche Bergsilhouetten – da saust plötzlich ein Mädel auf Skiern ins Bild, bremst rasch ab, wendet sich und ruft fröhlich: „Hallo – – !“1
Mit diesem flotten Gruß, der aus einer Schneelandschaft im Erzgebirge erschallt, eröffnet der NS-Jugendfilm Was tun, Sibylle? (1938). Auf die erste Totale folgen Szenen, in der sich nach und nach weitere Mädchen ins Bild gesellen. Dem gesamten Vorspann sind Aufnahmen einer verschneiten Berglandschaft unterlegt. Eindrucksvoll wirken die Bilder der Skifahrerin, die grafisch kunstvoll arrangierte Spuren in den Schnee zeichnet. Die Lichtgestaltung und Choreografie der Abfahrt sowie die stimmungsvolle Naturkulisse rufen Eindrücke im Bild-Gedächtnis auf, die durch die zeitgenössischen NS-Propagandafilme Leni Riefenstahls, aber auch durch die Filme Luis Trenkers dem Kinopublikum dieser Jahre gut präsent gewesen sein dürften. Die Ski-Fahrt führt mitten hinein ins Leben der Volksgemeinschaft, die in dem Film als positives völkisches2 Modell vorgestellt wird. Sie dient zudem als lose Rahmung, um zu dem zentralen Thema überzuleiten, das seinen eigentlichen Schauplatz in der Schule einnehmen wird. Der Spielfilm Was tun, Sibylle? wurde 1938 von Peter Paul Brauer, einem in der Zeit des Nationalsozialismus erfolgreichen Filmregisseur, in Szene gesetzt. Brauer hat rund dreißig Filme inszeniert, die meisten davon Komödien.3 Als literarische Vorlage für den Jugendfilm dient das Mädchenbuch der Autorin Sofie Schieker-Ebe, das 1930 erschien und gleichnamig betitelt ist. Über die Autorin Schieker-Ebe4 ist heute wenig bekannt,5 gleichwohl sie über zwanzig
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wie im Original. Zitat aus dem Drehbuch zu Was tun, Sibylle? (Neumeister/ Bierkowski o. J., 2). 2Zum Begriff des Völkischen vgl. Hopster 2005, 353; vgl. auch Josting 2020. 3Zur Bedeutung der Komödien im NS-Film vgl. Grimm 2000. 4Die Autorin wurde 1892 in Ulm geboren und starb 1970 in Stuttgart. 5Der nur wenigen Zeilen umfassende Wikipedia-Eintrag nennt als ersten Satz: „Sofie SchiekerEbe war seit 1920 verheiratet mit dem Pädagogen Friedrich Schieker.“ (https://de.wikipedia.org/ wiki/Sofie_Schieker-Ebe (05.09.2017).
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Kinder- und Jugendbücher verfasst hat, die in den Jahren zwischen 1925 und 1952 verlegt wurden. Schieker-Ebes Texte sind vornehmlich an ein jüngeres Lesepublikum adressiert; einige der Titel sind regional ausgerichtet, einige auch jahreszeitliche Veröffentlichungen wie ein weihnachtliches Krippenspiel (1950); Was tun, Sibylle? ist an ein weibliches, jugendliches Publikum adressiert. Nicht unwesentlich erscheint, dass der Ehemann Schieker-Ebes, Friedrich Schieker, ein einschlägig bekannter Verfasser von reformpädagogischen Publikationen6 war und als Leiter der (Grund)Schule am Kräherwald in Stuttgart sich einen Namen in diesem pädagogischen Umfeld machte.7 Von Sofie Schieker-Ebe liegen hingegen keine einschlägigen Schriften vor, dennoch ist davon auszugehen, dass sie in diesem Kontext zu verorten ist. Der Roman Was tun, Sibylle? (1930) erschien in der Erstauflage in dem kleinen Stuttgarter Verlag Silberburg. Alle späteren Auflagen sind bei den ebenfalls in Stuttgart ansässigen Thienemann Verlag aufgelegt.8 Das Buch erwies sich auf dem Markt als erfolgreich und erlangte eine Gesamtauflage von rund 70.000 Exemplaren. Die Publikationsgeschichte reicht von der Erstveröffentlichung über die Zeit des Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit der 1960er-Jahre.9 1931 setzte Schieker-Ebe die Geschichte mit dem Folgeband Sibylle blickt ins Leben (1931) fort, der ebenfalls in einer Gesamtauflage von 44.000 bis 1950 aufgelegt wurde. Zum Erfolg des Romans dürfte beigetragen haben, dass das Buch verfilmt wurde. 1938 kam der Film erstmalig zur Aufführung. Nach 1945 wurde er als sogenannter Vorbehaltsfilm10 eingestuft, ist somit heute keinem öffentlichen Publikum zugänglich, für Forschungszwecke jedoch im Archiv der Deutschen Kinemathek einsehbar.11 Eine Kopie des Films konnte im Bundes Filmarchiv in Berlin gesichtet werden;12 auch das zugehörige Drehbuch bzw. die dritte Fassung desselben (Neumeister/Bierkowski o. J.) liegt im Schriftgutarchiv der Deutschen
6Vgl.
Friedrich Schieker: Die Grundschule und das Kind (1924). Schule erfuhr weit über die Region hinaus Bekanntheit. Zu den Förderern der Schule zählte u. a. der Philosoph Martin Buber. Die Klientel der Schüler/innen war bürgerlich und bot insbesondere jüdischen Kindern bis zur Zeit des Nationalsozialismus ein liberales Umfeld. Zu Schiekers Schülern zählten die Söhne Markus und Konrad von Friedrich Wolfs (vgl. Jacobsen/ Aurich 2005, Kap. 1). 8Bisher nicht zu klären war, ob es sich bei dem Verlag Silberburg um einen Verlag handelt, der jüdische Verleger hatte und nach 1933 dem Thienemann-Verlag eingegliedert wurde oder ob der Grund des Verlagswechsels beispielsweise einer besseren Vermarktbarkeit geschuldet war. 9Es finden sich auch Schulausgaben für die Niederlande und Schweden sowie eine Übersetzung ins Finnische. 10Zum Vorbehaltsfilm vgl. Krah/Wünsch 2000. 11Aktennummer Film Deutsche Kinemathek, Archivsignatur 1/86. 12Vgl. zum Thema Film im NS-Staat den Aufsatz und die zeitgeschichtlichen Dokumente auf: https://www.filmportal.de/thema/film-im-ns-staat (01.07.2019). 7Die
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Kinemathek. Dort findet sich auch eine Reihe von Werbematerialien, die belegen, dass der Film mit großem Aufwand beworben und vertrieben wurde.13 Zur Fragestellung: Der vorliegende Beitrag fokussiert auf die Darstellung der Konstruktion und Ausgestaltung von Mädchenfiguren im medialen Kontext und zwar in der zeitlichen Rahmung der 1930er-Jahre. Hierzu wird das Jugendbuch Was tun, Sibylle? von Sofie Schieker-Ebe exemplarisch herangezogen, um das Mädchenbild, das hierin entworfen wird, in Beziehung zu den zeitgenössischen Figurenzeichnungen weiblicher Protagonistinnen zu setzen, die unter dem Schlagwort Neue Frau (vgl. Becker 1993; Karrenbrock 2003; Drescher 2003) bzw. Neue Mädchen (vgl. Tost 2003)14 Eingang in die literatur- und kunstwissenschaftliche Forschung zur Neuen Sachlichkeit gefunden haben. In einem zweiten Schritt werden die Verfilmung des Romans herangezogen und Veränderungen aufgezeigt, die nicht allein der medialen Adaption geschuldet sind, sondern mögliche Verschiebungen bei der Bewertung von Geschlechterbildern und -arrangements aufzeigen. Der Blick richtet sich zum einen auf den Geschlechterdiskurs und das revanchistische Frauenbild des Nationalsozialismus, zum anderen geht er der Frage nach, inwieweit sich an der Literaturverfilmung weitere ideologische Einschreibungen des Nationalsozialismus nachweisen lassen. Das heißt, gefragt wird, welche Tendenzen in Kinder- und Jugendmedien, die in der NS-Zeit publiziert wurden, sichtbar zu machen sind und ob Kennzeichen einer „reaktionären Moderne“ (Nassen 1987, 10; vgl. Herrmann/Nassen 1993) medial nachweisbar werden. Die medientheoretischen Überlegungen von Harro Segeberg (2004) werden herangezogen, der in seiner Untersuchung des NS-Films Strategien der medialen Mobilmachung untersucht hat. Segebergs Untersuchung folgt dem Diktum, nicht die „Ideologisierung des Medialen, sondern die Medialisierung des Ideologischen in den Vordergrund (zu) rücken.“ (Segeberg 2004, 11) Segeberg konkretisiert diesen Ansatz, wenn er schreibt: Deshalb meint mediale Mobilmachung im Rahmen des Vorhabens nicht […] die Instrumentalisierung des Kinos zugunsten einer politisch-ideologischen Mobilmachung, sondern die Mobilmachung des Mediums, das politische Wirkungen gerade dadurch erzielte, daß es noch weit konsequenter als bisher angenommen darauf abzielte, politische Referenzen in mediale Referenzen zu überführen. (Ebd., 11 f.)
Im Folgenden wird die literarische Vorlage der späteren Verfilmung im Nationalsozialismus vorgestellt.
13Als
Werbematerial findet man Plakate und Werbeanzeigen; als filmisches Material auch einen Vorspann, der den Film ankündigt. 14„Die Autorinnen versuchen mit ihren Schriften den Adressatenkreis innerhalb der Kinderliteratur zu erweitern und überdies Begrenzungen zur Erwachsenenliteratur aufzuheben. Ihre Mädchen stehen nicht mehr als geduldige Nebenfiguren am Rande, sondern agieren als bedeutende Handlungsträger, deren Eingreifen entscheidend für den Verlauf der Geschichte ist.“ (Tost 2003, 242)
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Das Mädchenbuch Was tun, Sibylle?15 „‚Donnerwetter‘, sagte plötzlich Sibylle Brant, ‚mein Geld ist weg‘.“ (WtS 15) Die lakonisch verkündete Nachricht platzt in eine außerordentlich beschauliche Unterrichtssituation: Die Primanerinnen einer höheren Mädchenschule haben sich gerade in die Betrachtung einer Buddha-Statue versenkt. Die Figur diente als Einstieg in die geplante Klassenlektüre „eine(r) Erzählung über Indien“ (WtS 13), gemeint ist damit Rudyard Kiplings Das Dschungelbuch (EA 1894; dt. 1898). Der Ausruf Sibylle signalisiert eine unerhörte Begebenheit, die die kontemplative Schulszenerie aufstört. Unerhört ist dabei nicht nur, dass der Diebstahl mitten im Unterricht stattfindet, sondern auch, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass es sich um eine Täterin aus der Klassengemeinschaft handeln muss. Mit dieser spannungsvoll angelegten Exposition nimmt das Mädchenbuch seinen Ausgang. Der Roman umfasst 130 Seiten und gliedert sich in zehn kurze Kapitel. Der Inhalt lässt sich schnell zusammenfassen: Die 15-jährige Sibylle Brant gerät durch den Diebstahl eines 10 Mark-Scheines, mit dem sie den Beitrag zu einer Klassenfahrt begleichen wollte, in einen Gewissenskonflikt. Denn der Verdacht fällt auf ihre Mitschülerin Lene, die behauptet, der Schein gehöre ihr, als ein Geldschein aus deren Buch fällt. Doch Sibylle identifiziert ihn, da die Banknote eine ungewöhnliche Nummer hat, die sie sich eingeprägt hatte. Die Frage stellt sich für Sibylle: Wie soll sie sich verhalten? Soll Sibylle den Indizien glauben oder ihrer persönlichen (hohen) Wertschätzung der Mitschülerin? Sibylle Brant sah das alles, und sie schüttelte ein wenig verzagt den Kopf. Es war ihr nicht um das Geld zu tun. Aber wenn sie nun schwieg – und sie wußte, dass das Schicksal dieser Stunde an ihr hing – so war ja nicht Recht getan. Man bestahl einander nicht. Man belog einander nicht. Sibylle Brant war nicht in ihrer Person verletzt. Die Welt, das Leben war verletzt worden. Irgend so etwas spürte sie. Sie war erst fünfzehn Jahre alt. Aber sie nahm das Unrecht nicht hin. (WtS, 20)
Obwohl alle Fakten gegen Lene sprechen, beharrt das Mädchen hartnäckig auf seiner Unschuld. Die sich aus diesem Konflikt entwickelte Handlung wird in eine detektivische Spurensuche überführt. Nicht allein das Motiv des gestohlenen und markierten Geldscheins erinnert an Erich Kästners Kinderroman Emil und die Detektive (1929), der nur ein Jahr vor Schieker-Ebes Mädchenbuch erschienen ist. Auch bei der Aufklärung des Diebstahls finden sich Vergleichsmomente, wenn die Protagonistinnen Schieker-Ebes bei ihrer Arbeit an dem Fall sich mobil durch den städtischen Raum bewegen. In dem Mädchenroman steht aber keine Kinderbande im Mittelpunkt, vielmehr wird das kriminalistische Modell des Ermittlungs-Duos gewählt, das aus Sibylle und den ins Vertrauen gezogenen Freund und heimlichen Verehrer Peter besteht. In den folgenden Kapiteln führt die Spurensuche an verschiedene Schauplätze und wird mit unterschiedlichen Konzepten verfolgt.
15Im
weiteren Text werden für eine bessere Lesbarkeit Zitate aus Was tun, Sibylle? aus der Ausgabe von 1941 und mit der Sigle (WtS plus Seitenzahl) ausgewiesen.
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Während Sibylle beispielsweise das Gespräch mit Lene sucht (und hierfür mit der Eisenbahn in deren Heimatstädtchen reist), führen Verdachtsmomente Peter zu seiner eigenen Schule, einem Jungengymnasium. Hier beobachtet er eine Situation zwischen Schülern, die er als Erpressungsszene deutet. In dem beliebten Motiv der Kinderbande der 1920er- und 1930er-Jahre erweisen sich die jungen Protagonist/innen oft als verständiger als die Erwachsenen (so bei Erich Kästner oder Kurt Held).16 Bei Schieker-Ebe ist das Ermittlungsduo anders zu bewerten. Zwar agieren die jugendlichen Figuren ebenfalls selbstständig, deutlich wird aber, dass der Lehrer Dr. Fromann (als erfahrener Pädagoge) während der ganzen (Handlungs-)Zeit die Situation überblickt. Insofern erscheint die Selbstständigkeit der Protagonist/innen angeleitet. In Was tun, Sibylle? stehen insbesondere moralische Fragen der Gemeinschaft im Mittelpunkt der Handlung. Die Aufklärungsarbeit der Jugendlichen erscheint in einem erzieherischen Licht und kann als Lern- und moralischer Reifeprozess verstanden werden, der unter Anleitung erfolgt. Schließlich wird der Fall aufgeklärt und es stellt sich heraus: Die Mitschülerin Käthe hat das Geld entwendet, da ihr kleiner Bruder von einem anderen Jungen erpresst wurde. Käthe stahl also, um zu helfen und versuchte damit ihren Bruder, der zudem familiärer Gewalt ausgesetzt ist, vor dem Schulausschluss zu bewahren (da er eine so genannte Freistelle einnimmt, darf er sich keine Missetaten leisten). Der Roman macht deutlich: Obwohl Lene gelogen hat (um Käthe nicht zu verraten) und obwohl Käthe gestohlen hat, um ihrem Bruder zu helfen, sind beide Mädchen eigentlich frei von Schuld. Wesentlich sind die Motive für das Verhalten, die nicht aus Habgier oder Eigennutz, sondern moralisch motiviert sind. Erkennbar werden soziale Ursachen, die die Taten bedingen und die hohe moralische Integrität der weiblichen Protagonistinnen zusätzlich unterstreichen. Sowohl Lene als auch Käthe kommen aus armen Verhältnissen. Die soziale Frage, die hier aufgeworfen wird, wird allerdings nicht tiefer ausgelotet und vor allem ins Pädagogische gewendet. Der böse Bube hingegen, der den kleinen Bruder erpresste, wird im Vergleich zu den anderen Figuren stereotyp als Bösewicht gezeichnet: „Peter Kurre sah in ein breites, plattes Gesicht mit merkwürdig dünnen Lippen und kleinen tiefliegenden dunklen Augen“ (WtS, 77). Bezeichnenderweise bleibt der Dieb als einzige Figur des Romans namenlos. Interessant ist, er wird nicht zur Verantwortung gezogen, sondern kommt mit einer moralischen Ermahnung davon.
Traditionslinien und Bezugnahmen des Romans Der Roman Schieker-Ebes lässt sich verschiedenen kinder- bzw. jugendliterarischen Traditionslinien zuordnen. Zum einen wäre die des traditionellen Mädchenbuchs zu nennen bzw. die des Backfisch- oder Pensionat-Romans (vgl. 16Zur
Kinderbande vgl. Steinlein 1999.
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Dahrendorf 1978; Grenz 2008). Für die Zugehörigkeit zur Gattung Mädchenbuch spricht nicht nur das nahezu durchgängig agierende weibliche Figurenpersonal der Schülerinnen sowie der Schauplatz Mädchenschule, sondern auch der Fokus des Romans, der auf das Heranwachsen und den Reife- bzw. Sozialisationsprozess gelegt ist, den die Protagonistinnen durchlaufen. Stellt in der traditionellen Pensionatsgeschichte sich der schulische Ort als „pädagogisches Inselleben“ (vgl. Wilkending 1997) bzw. Transitraum einer weiblichen Gemeinschaft dar (vgl. Roeder 2008), nimmt in Schieker-Ebes Geschichte die Schule zwar eine zentrale Rolle als Schauplatz ein, bedeutet aber keinen heterotop gefassten Handlungsraum. Vielmehr dient die Schule als (pädagogischer) Ausgangspunkt für eigenständige Aktivitäten und Handlungen der Protagonistinnen. Auffällig ist, dass die Eingangsszene des Romans intertextuelle Referenzen zu Emmy von Rhodens Mädchenbuchklassiker Trotzkopf (1885 ff.) aufweist. Ablesbar wird dies sowohl in der Personenkonstellation der Familie als auch in der Zeichnung des Mädchens Sibylle. Sowohl die (innig gezeichnete) Vater-TochterKonstellation (Sibylles Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben; die Schwester des Vaters lebt mit in der Familie) als auch die Figurengestaltung des ungestümen Wesens des Mädchens erinnern an den bekannten Prätext und die bekannte Eingangsszene (vgl. Grenz 1997; Roeder 2015). Von einem Modell Trotzkopf (Dahrendorf 1978) zu sprechen, schließt sich bei Schieker-Ebe allerdings aus. Zwar steht der Reifungsprozess Sibylles im Mittelpunkt des Romans, dennoch wird an der Ausgestaltung ablesbar, dass sich das Mädchenbuch keinesfalls um eine Widerspenstigen Zähmung dreht, vielmehr wird der Prozess des Heranreifens und des Ausbildens eigener moralischer Urteile in einem moderneren Kontext reformpädagogischen Zuschnitts gestellt. Die Mädchenfigur Sibylle weist neben der bereits genannten temperamentvollen (und auch etwas burschikosen Art) eine zeitgemäße, im Sinne der Neuen Sachlichkeit zu verstehende moderne Figurencharakterisierung des Neuen Mädchens auf (vgl. Tost 2003). So macht Sibylle Morgengymnastik und wird als sportlich beschrieben; sie flitzt durch die Wohnung oder läuft mit ihrem Hund zur Schule; die Sprache, die der Protagonistin verliehen wird, ist flott und für diese Zeit eher unmädchenhaft (wie exemplarisch ihr Ausruf „Donnerwetter“ (WtS 15) belegt). Der Text ist durch wörtliche Rede gekennzeichnet und gibt damit authentisch die Gespräche zwischen den Jugendlichen wieder. Weitere Attribute, wie der städtische Schauplatz bzw. die Urbanität des literarischen Settings, weisen den Text der Neuen Sachlichkeit zugehörig aus.17 Zwar erfolgt in Schieker-Ebes Roman keine namentliche Nennung eines konkreten Ortes, allerdings führt bereits die Eingangsszene den Blick des Lesenden in eine großstädtische Kulisse, wenn der Roman mit den Sätzen beginnt: 17„Die
Neue Sachlichkeit ist eine urban ausgerichtete Bewegung, auch die Emanzipation von Frauen und Autorinnen ist an den großstädtischen Raum gebunden […] Die von ihnen neu gewonnenen Freiheiten werden hier erprobt, der städtische Raum ist der Ort, an dem das weibliche Geschlecht die Aufbrüche zur Freiheit erfährt oder erfahren hat, die Stadt ist der Ort, wo Autorinnen resp. Frauen neue Lebenskonzepte und Entwürfe realisieren.“ (Becker 1993, 193 f.)
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Sibylle Brant lehnte sich weit zum Fenster hinaus und suchte den Himmel über dem engen Hof zwischen den Häusern. Es war gar nicht einfach ihn zu finden, denn man schaute von diesem untersten Stockwerk wie aus der Tiefe eines Schachtes hoch an kahlen Mauern empor (WtS 5).
Der suchende Blick Sibylles (der durchaus symbolisch für den folgenden Text und seinen Fokus auf den Reifungsprozess des Mädchens zu deuten ist) verweist auf die engen Wohnverhältnisse, wie sie bei Mietskasernen (in städtischer Umgebung) häufig zu finden sind. Dass die Wohnung im untersten Geschoss liegt, gibt auch einen ersten Hinweis auf die soziale Situation der Familie Brant, die nicht wohlhabend zu sein scheint.18 (In der weiteren Handlung verweisen die Fahrten des Ermittlerduos auf die (städtische) Mobilität der Figuren und ebenfalls auf die urbane Umgebung.) Weitere Merkmale der Neuen Sachlichkeit lassen sich anführen, so auch die angestrebten Berufswünsche der Mädchen, die zeitbezogene Entwicklungen junger Frauen spiegelt: Lene möchte später Chemie studieren und lebt allein in einer angrenzenden Stadt. Wesentlich erscheint bei Schieker-Ebes Roman das Modell der erzieherischen Vorstellungen, die in ihrem Roman vertreten werden und auf den reformpädagogischen Hintergrund hinweisen. Dieses Modell wird an der Ausgestaltung der Rolle des Lehrers besonders eindrücklich. Lehrer Fromann erweist sich in dem Roman als moderner Pädagoge; er setzt statt Erziehung durch Bestrafung auf Überzeugungsarbeit. Fragen der Schuld werden von ihm differenziert beantwortet und soziale Ursachen ebenso einbezogen wie die der persönlichen Reife seiner Schülerinnen. Eine programmatische Szene macht diese Haltung des Lehrers deutlich, als Sibylle ihm eine Kardinalfrage stellt (hier geht es darum, ob er den Diebstahl bereits angezeigt hat): „Haben Sie es eigentlich schon nach oben weitergemeldet?“ „Was ist ‚oben‘?“ „Rektorat.“ Doktor Fromann schüttelte nur den Kopf. „Donnerwetter“, sagte Sibylle, „das nenne ich nobel. Denn von Rechts wegen hätten Sie es doch tun müssen, nicht?“ „Von Rechts wegen?“ „Ich meine die Vorschriften und Verordnungen und so“, erklärte Sibylle. „Es gibt allerhand Vorschriften und Verordnungen“, sagte Doktor Fromann, „äußere und innere. Und dann gibt es Fälle, bei denen die äußeren, und solche, bei denen die inneren Vorschriften maßgebend sind.“ „Und hier waren es die inneren, ja?“ „Hier waren es die inneren.“ (WtS, 112 f.)
Fromann widersteht offenbar nicht nur wilhelminischer Gehorsamkeit (oder gar Untertanengeist), sondern legt eigene Maßstäbe an; interessant ist hierbei der Hinweis auf das hierarchische Oben. Auch die erzieherischen Maximen des
18Die
Wohnsituation wird ebenfalls noch differenzierter auf der ersten Seite deutlich, wenn zu lesen ist, dass Sibylle ein so kleines, schmales Zimmer hat, dass sie ihre morgendliche Gymnastik nur zur Not durchführen kann.
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Lehrers kommen deutlich zum Ausdruck, so zum Beispiel, wenn Fromann eine pädagogisch gefasste Erklärung für die Vorkommnisse in der Schule liefert: Es war wahrscheinlich nicht das erste mal [sic!], daß aus Angst und Verwirrung, aus Angst vor Strafe und vor Vätern und Lehrern Schuld und wieder Schuld eines Kindes herauswuchs, und daß dieses Kind dann keinen Ausweg mehr sah. Keinen als Lüge und Betrug und Diebstahl. Aber vielleicht war es das erstemal in Doktor Fromanns Leben, daß ein junger Mensch – fast ein Kind noch – mit solcher Tapferkeit und Aufrichtigkeit durch das Schicksal ging und – es meisterte. (WtS, 111)
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Schieker-Ebes Mädchenroman ist traditionellen Erzählmodellen wie dem Erziehungsroman bzw. dem Modell Trotzkopf verpflichtet; zugleich weist die Figurengestaltung moderne Züge auf, die sich an den reformpädagogischen Erzählmodellen der Neuen Sachlichkeit orientiert und soziale Wirklichkeiten abbildet; veränderte Kindheits- bzw. Mädchenrollen-Vorstellungen werden ablesbar. Die titelgebende Protagonistin Sibylle ist kein kunstseidenes Mädchen (Irmgard Keun), sondern eine selbstbewusste Schülerin. Mit Lene und Käthe stellt die Autorin der Protagonistin weitere starke weibliche Figuren an die Seite; insbesondere Lene verkörpert mit ihrem Wunsch, später einmal Chemie zu studieren,19 und ebenso mit ihrem selbstständigen Leben in der Stadt eine Prototypin des Neuen Mädchens. Die Verfilmung des Mädchenromans weist einige Abweichungen auf, die insbesondere hinsichtlich des ideologischen Potenzial des Films bedeutsam erscheinen.
Der Film als Erzieher oder Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino20 Der Film nimmt im Nationalsozialismus eine bedeutungsvolle Rolle ein. Joseph Goebbels sah das junge Medium als wirkmächtiges Propagandamittel, als eines der „modernsten und weitreichendsten Mittel zur Beeinflussung von Massen“.21 In seiner Rede zur Eröffnung der Filmarbeit der Hitlerjugend 1941 bezeichnet Goebbels den Film als „nationales Erziehungsmittel“ (Goebbels 1941; zit. nach Albrecht 1969, 480). Galt die Aufmerksamkeit der medienwissenschaftlichen Forschung lange Zeit vor allem dem Propagandafilm des NS, verlagerte sich
19Vgl.
zur Berufswahl des Mädchens in einem akademischen und zudem naturwissenschaftlichen Bereich auch den Titel stud. chem. Helene Willfüer von Vicki Baum aus dem Jahr 1928, der 1929 verfilmt wurde. 20vgl. Krakauer 1963. 21Goebbels am 09.02.1934 vor Filmschaffenden; zit. nach Albrecht 1969, 22.
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zunehmend der Fokus des Interesses auch auf Unterhaltungsangebote (vgl. Grimm 2000). 1941 proklamierte Goebbels vor der Reichsfilmkammer in Berlin, dass Unterhaltung die Aufgabe habe, „ein Volk für seinen Lebenskampf auszustatten, ihm die in dem dramatischen Geschehen des Tages notwendige Erbauung, Unterhaltung und Entspannung zu geben“, schließlich sei die beste Propaganda nicht diejenige „bei der die eigentlichen Elemente der Propaganda immer sichtbar zutage treten“, sondern die, die „sozusagen unsichtbar“ wirkt (Goebbels 1941; zit. nach Albrecht 1979, 260 f.).22 Wie hoch bewertet der Film für die Propaganda im Nationalsozialismus einzuschätzen ist, wird auch an der Bedeutung deutlich, die dem Jugendfilm zukam. Stahr weist in seiner Studie darauf hin, dass der Filmkonsum für Jugendliche im Nationalsozialismus außergewöhnlich gefördert wurde: „Die Begriffe ‚Jugend‘, ‚Film‘ und ‚Nationalsozialismus‘ waren nach Ansicht des Medientheoretikers Hans Traub als alle bürgerlichen Konventionen und Traditionen überwindende und neuartige Ausdrucksformen erschließende Kräfte in ihrem Wesen eng miteinander verknüpft“ (vgl. Stahr 2001, 84). Um dieses Propagandainstrument wirkungsvoll zu installieren, wurden rechtliche Voraussetzungen geschaffen, um direkte Steuerungsmaßnahmen in Schule und HJ umsetzen zu können, wie zum Beispiel die regelmäßig stattfindenden Jugendfilmstunden der HJ. An den Besucherstatistiken dieser Jahre wird zudem ablesbar, dass Frauen zu den starken Besuchsgruppen zählten. Keine andere Bevölkerungsgruppe war so umfangreich vertreten. Begünstigend war hierfür sicher, dass „Filme, in denen Frauen eine Hauptrolle spielten, ca. 40 bis 50 Prozent der Gesamtproduktionen aus[machten].“ (Scheidgen 2009, 264). In seiner soziologischen Studie Nationalsozialistische Filmpolitik zum NS-Film (1969) legt Gerd Albrechts die Zahlen für die Gesamtproduktion der Spielfilme im Nationalsozialismus mit 1094 fest und teilt diese in vier Kategorien auf. Bianca Dusdar filtert hieraus in ihrer Untersuchung zum Film als Propagandainstrument in der Jugendpolitik des Dritten Reichs die Zahlen für den Jugendfilm heraus und stellt fest: Von der gesamten Filmproduktion des Dritten Reiches erhielten 297 Filme den Zensurvermerk jugendfrei. Damit waren nur 26 % der gesamten Spielfilmproduktion Kindern und Jugendlichen ohne Alterseinschränkung zugänglich. Zu dem weitaus größten Teil der Spielfilme hatten sie keinen Zugang. Für die Gruppe der 14- bis 18-jährigen wurden darüber hinaus weitere 149 Spielfilme freigegeben, so daß ihnen mit insgesamt 446 Spielfilmen immerhin 41 Prozent der deutschen Spielfilmproduktion zugänglich war. (Dusdar 1996, 46 f.)
Interessant erscheint zudem, Genderaspekte im NS-Film zu untersuchen (vgl. Bechdolf 1992; Jatho 2007; Frietsch 2009). Irina Scheidgen zeigt in ihrer Untersuchung Frauenbilder im Spielfilm, Kulturfilm und in der Wochenschau des >Dritten Reiches< (2009), dass es 22Goebbels
in einer Rede anlässlich der Kriegstagung der Reichsfilmkammer am 15.02.1941; zit. nach Albrecht 1979, 260 f.
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in den NS-Spielfilmen kein einheitliches Frauenbild [gab] und auch nicht alle Frauenbilder waren identisch mit dem Stereotyp der deutschen Frau als Ehefrau und Mutter. Wurde in den meisten fiktionalen Filmen jedoch trotz aller Darstellungen berufstätiger Frauen ein Zugeständnis an das NS-Ideal gemacht, so war im Kulturfilm und in der Wochenschau der Spielraum für die Thematisierung weiblicher Emanzipation wesentlich weiter gefasst und wurde vor allem nach 1939 auch nicht mehr in Frage gestellt. (Ebd., 268)
Die Berufstätigkeit der Frau ist indes eines der großen Themen dieser Filme. Aus heutiger Sicht erstaunt dabei, dass im NS-Film, trotz des Vorherrschens von weiblichen Stereotypbildungen, nach 1939 vermehrt berufstätige Frauen auftraten, die allerdings in der Regel nicht verheiratet sind. Wichtig erscheint insbesondere, dass keinesfalls nur stereotype Zeichnungen von Frauenbildern vorherrschten. Vielmehr findet sich eine Palette unterschiedlicher Frauenbilder und Verhaltensmuster, die die Protagonistinnen durchlaufen: Es erscheint wenig sinnvoll, eine festgeschriebene Typologisierung bestimmter Weiblichkeitscharaktere im Unterhaltungsfilm vorzunehmen, da eine Frau innerhalb ihrer Figurenentwicklung im Laufe der Filmhandlung mehrere Typen verkörpern konnte. Trotzdem zeichnen sich im Film bestimmte, immer wiederkehrende Frauendarstellungen ab, denen durch das Filmende eine Bewertung und damit auch Positionierung zuteilwird. (Ebd., 264)
Die Verfilmung Was tun, Sibylle? Im Folgenden sollen zentrale Elemente der filmischen Umsetzung der literarischen Vorlage kurz vorgestellt werden. Hierbei wird nicht der Handlungschronologie gefolgt, sondern der Film auf ideologische Einschreibungen, Modernisierungen, Fragen der Pädagogik und Dramaturgie untersucht. Zur Rahmenhandlung mit dem Schauplatz Natur: Wie in der eingangs ausgewiesenen Szene vorgestellt, beginnt der Film mit emotionsstarken Naturbildern, die als Vorspann dienen. Damit baut der Film das Schlusskapitel der Buchfassung aus und stellt es an den Anfang. Das Buch endet mit einer vergnüglich-amourösen Szene am Badesee, wo Sibylle und Peter allein sind. In der filmischen Rahmenhandlung wird die sommerliche Szenerie in eine Winterlandschaft umgeformt, zugleich wird so eine Entwicklungslinie ablesbar. Stellen im Film die Eingangsbilder die Gruppe und Gemeinschaft der Schülerinnen dar, fokussiert die Schlusssequenz nur mehr auf Sibylle und Peter. Die Deutung liegt nahe, dass hier der Reifungsprozess, den das junge Mädchen im Filmgeschehen durchlaufen hat, nun mit einer (ehelichen) Partnerschaft versiegelt wird. Insofern kann diese Rahmung so verstanden werden, dass sie von der Volksgemeinschaft und gemeinsam Erlebten kameradschaftlichen Miteinander zum tete à tete auf der Alm führt, als geglückte weibliche Sozialisation gewertet wird, die in die Ehe überführt wird. Die natürliche Bestimmung der Frau erfährt hier eine emotional wirkungsstarke Inszenierung.
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Abb. 1 Sibylle betrachtet versunken die Frauenfiguren. Filmstill. (© Bundesarchiv Berlin, 18821_3)
Das Frauenideal des Nationalsozialismus bemessen am Lektürestoff der Klasse Das Motiv Buch nimmt innerhalb der Handlung – sowohl in der Buchfassung als auch in der Verfilmung – eine tragende Rolle ein. Dabei kann man unterschiedliche Ebenen benennen, die aufgerufen werden. Ein Beispiel wäre die Schullektüre, die die Primanerinnen lesen. Wird in dem Roman das Dschungelbuch ausgeteilt (und das Drehbuch folgt dieser Vorlage)23 weicht im Film das Buch einem sachbuchartigen Text. So wird der Mädchenklasse ein Werk über gotische Frauenfiguren überreicht. Interessanterweise erfolgt auch hier ein didaktisierter Einstieg in den Stoff. Dazu wirft Lehrer Fromann (dargestellt von Hans Leibelt) mit einem modernen Lichtbildprojektor verschiedene Abbildungen von Frauenfiguren an die Wand. Den Mädchen werden zwei weibliche Figuren des Naumburger Doms vorgestellt (Abb. 1), der Lehrer bezeichnet diese Figuren als „Erbe aus dem Gut unserer Ahnen“ (04:07:02). Es handelt sich um die Figur der Reglindis und der Uta von Naumburg. Das Leitmotiv, was man hier erblicke, so der Lehrer, sei: „Gläubigkeit und Schönheit“; beispielhaft habe es der Künstler verstanden, das „Typische der deutschen Frau schlechthin einzufangen“. Fromann fährt weiter fort: „Sehen Sie das aufgeschlossene Antlitz dieser Frau (die Stifterfigur Reglindis, Anm. CR): klar, wahr, heiter“, im Gegensatz dazu Uta „und ihren nach innen gekehrten Blick; welch adliges Antlitz“. Während der Vortrag aus dem Off zu hören ist, sieht man in der Totalen Sibylle verträumt in Großaufnahme; das
23„8.
Bild Klassenzimmer der UI B“ (Neumeister/Bierkowski o. J., 113 f.).
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Mädchen scheint sich ganz in diese Frauenantlitze zu versenken (vgl. 04:02:09). Die Projektion dient dazu: „Das Typische der deutschen Frau schlechthin einzufangen“ (04.07; 2. Rolle). Dramaturgisch dient der Einsatz der Bildprojektion zum einen dazu, die Modernität des medial gestützten Unterrichts zu unterstreichen; zum anderen aber als dramaturgisches Hilfsmittel, denn um den Diebstahl im Klassenzimmer plausibel zu machen, erscheint dieser Vorgang während der Verdunkelung des Klassenzimmers vorstellbar. Aber auch das Buch hat als Medium in der Verbrechensgeschichte eine handlungskonstituierende Funktion. Denn unabhängig von seinem Inhalt, der hier propagandistisch gewendet wird, ist es der Ort, an dem der gestohlene Geldschein versteckt und dann entdeckt worden ist.24
Soziale Situation Veränderungen in der sozialen Rollenausgestaltung werden vor allem bei der Figur Sibylle vorgenommen. In der Buchvorlage lebt das Mädchen mit ihrem Vater in einer Mietswohnung; im Film werden Sibylle und das familiäre Umfeld sozial aufgewertet. Sibylle gerät in der Film-Fassung zu einer Pony Hütchen-Primanerin, auch wenn sie nicht so theatral und versponnen wie Kästners Protagonistin ist. Die Figur ist mit Jutta Freybe besetzt; sie verkörpert eine attraktive blondgelockte junge Frau, die wie eine Diva in ihren Kissen ruht (Abb. 2). Auch ihr Hund, der der Protagonistin im Roman mehr androgyne Züge verliehen hat, erscheint in der filmischen Adaption als teurer und treuer Begleiter der jungen Dame. Dagegen entsprechen Lene und Käthe in der sozialen Zeichnung dem Buch. Die Besetzung der Figuren weist deutlich darauf hin, dass insbesondere Lene (besetzt mit Christine Grabe) es nicht leicht im Leben hat.
Ausgestaltung des Films mit Attributen der Moderne Ulrich Nassen hat Texte der NS-Zeit umfassend untersucht und auf das Paradoxon hingewiesen, dass in Literatur des Nationalsozialismus reaktionäre und moderne Tendenzen verschmolzen werden. Für dieses Phänomen hat er den Begriff der
24Auch
die soziale Haltung des Lehrers Dr. Fromanns wird am Buchmotive ablesbar. Denn es stellt sich heraus, der Lehrer bezahlt aus eigener Tasche die Bücher für seine Schülerinnen, auch wenn er vorgibt, diese geschenkt bekommen zu haben. Mit diesem Engagement unterstützt Fromann zum einen Buchhändler und ermöglicht zum anderen seinen Schülerinnen in den Besitz von Lesestoff zu kommen. Dass Fromann damit die Lektüre auch inhaltlich zu lenken versteht, ist sicherlich nicht ohne Bedeutung.
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Abb. 2 Sibylle zuhause. Filmstill. (© Bundesarchiv Berlin, 18821_2)
reaktionären Moderne geprägt (Nassen 1987). Nassen bestimmt dieses Merkmal genauer, wenn er schreibt: „Atavistischer Germanen- und progressistischer Technikkult sind die beiden Extreme dieses ambivalenten Konglomerats.“ (Nassen 1987, 9)25 Diese Beobachtung erscheint passgenau zu der genannten Szene, in der mit dem Lichtspielprojektor Bilder der gotischen Frauenfiguren auf die Wand projiziert werden. Weitere Kennzeichen der Moderne bzw. Zitate auf diese finden sich in einem programmatisch zu wertenden Eingangsbild des Films. Hier sieht man ein Zugsignal in der Totalen (vgl. Drehbuch 21. Teil). In seiner Ausgestaltung erinnert das Motiv an Ruthmanns Sinfonie einer Großstadt, aber auch in der fotografischen Form an zeitgenössische Fotografien der Avantgarde. Die Mädchen fahren von der Skifahrt nach Hause, der Signalmast schaltet um auf Freie Fahrt. Dieses Motto lässt sich vieldeutig verstehen. Daneben wird die Handlung mit moderner Technik und Requisiten modern aufgeladen. Genannt wurde bereits der Lichtbildprojektor des Lehrers; als weitere Attribute der Moderne wären zu nennen: Sibylle am Telefonapparat, den sie bei ihrer Ermittlungsarbeit bedient; Peter, der mit dem Motorroller fährt, sowie verschiedene Einstellungen im Zug, der für Fahrten zu Lene benutzt wird. Insbesondere ist jedoch eine Szene programmatisch zu nennen, die der Handlung hinzugefügt wurde. Es handelt sich um dramatisch inszenierte Bilder, die auf die Klimax des Geschehens hindeuten. Hierbei verfolgt die Kamera das Mädchen Lene, das verstört durch die Stadt läuft; in der Bildmontage sieht man immer 25„Der
Nationalsozialismus präsentierte sich als Mythos der Aufhebung von Entzweiung und Entfremdung, wodurch der einzelne und die Gemeinschaft in einer ‚höheren‘ Einheit aufgehoben erscheinen konnten […] wo den Menschen durch die Einbettung in die Sicherheit einer ‚Volksgemeinschaft‘ die Furcht vor der Zukunft genommen werden sollte.“ (Herrmann/Nassen 1993, 9)
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Abb. 3 Unfallszene mit Lene. Filmstill. (© Bundesarchiv Berlin, 18821_7)
wieder ein Brückengeländer, das einen Suizid andeutet. Lene strauchelt schließlich durch den tosenden Verkehr, ohne nach rechts oder links zu sehen. Schließlich wird das Mädchen von einem Fahrzeug angefahren. Die ganze Szene erinnert in ihrer großstädtischen Dynamik und in dem Irrlauf des Mädchens an Fritz Langs legendären Film M – eine Stadt sucht einen Mörder (1931). Auch in dem Szenenfoto (Abb. 3) wird diese Parallele offenbar. Im Drehbuch werden als Schauplatz konkret die städtischen Orte Dresden und Pirna benannt (Neumeister/Bierkowski o. J., 2).
Rassisch-propagandistische Ikonografie In den meisten Komödien und abendfüllenden Unterhaltungsfilmen werden, wie in dieser Zeit allgemein üblich und seitens des Propagandaministeriums erwünscht, kaum Hinweise auf den Nationalsozialismus in Form von Hakenkreuz-Fahnen oder Uniformen gegeben. Allerdings findet man in einer bezeichnenden Szene einen konkreten Hinweis. Sie spielt im Kartenzimmer der Schule, ein Ort, der mit viel Hintersinn zu verstehen ist. In dem Zimmer werden die Landkarten und Schautafeln aufbewahrt, die in besonderer Weise die Rassen- und Geopolitik des Nationalsozialismus darstellen. In der Szene treffen der Lehrer Fromann, der hier in der Pause arbeitet und Sibylle zu einer wichtigen Aussprache zusammen (Abb. 4).26
26Im
Drehbuch „102. Bild: Humboldt-Schule/Kartenzimmer“ (Neumeister/Bierkowski o. J., 256).
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Abb. 4 Im Kartenzimmer. Filmstill. (© Bundesarchiv Berlin, 18821_6)
Auf dem Filmstill sieht man die Aufschrift der Karte: Sie lautet: Bilder deutscher Rassen 1. Abgebildet sind darauf 9 Bilder mit Büsten von Männern und Frauen in Profil und Frontalaufnahmen; die Karte weist auf die rassistischen Praktiken des Nationalsozialismus hin. Propagandistisch zu deuten sind auch die Szenen, die gleich zu Anfang des Filmes, in der zweiten Szene, stehen. Die Schülerinnen der hier als Humboldt-Schule benannten Mädchenschule unternehmen einen Besuch des nahe gelegenen Goethe-Gymnasiums, in dem Jungen zur Schule gehen. Hier wird in einer Theaterschulaufführung Wallensteins Lager zur Aufführung gebracht. Der Film zeigt die Schüler in Maskerade und Kostümierungen und das lustige Treiben bei den Proben. Während sich die jungen Darsteller in kriegerische Masken verwandeln, schmettert Peter die berühmten Zeilen aus Schillers Wallensteins Lager in den Raum (Abb. 5): Ein Reich von Soldaten wollt’ er gründen, Die Welt anstecken und entzünden, Sich alles vermessen und unterwinden. (Neumeister/Bierkowski o. J., 35)
Diebstahl – Volksgemeinschaft Neben diesen Massenszenen bei der Theateraufführung, die das kriegerische Leben und deutsche Kulturgut huldigen, wird im Film die Volksgemeinschaft beschworen. Exemplarisch sei hierfür eine Szene zitiert, bei der es um die Bewertung des Diebstahls geht. Fromann postuliert vor der Lehrerschaft:
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Abb. 5 Theaterszene Wallensteins Lager. Filmstill. (© Bundesarchiv Berlin, 18821_5)
Sibylle Brant hat recht – … Sie haben es richtig erkannt: Es geht nicht um verlorene Dinge – es geht um das verlorene Vertrauen! (Ebd., 123; Hervorh. i. O.)
Als Widerspruch aus dem Kollegium laut wird, argumentiert er weiter: Nun hören Sie mal zu! Wir sind eine Kameradschaft Kameradschaft ist Vertrauen und dieses Vertrauen wollen wir auch einem Kameraden erhalten, der sich einmal verirrt hat dann wird er von selbst wieder zu sich kommen. (Ebd.)
Neben diesen kämpferischen Passagen werden auch im Pädagogischen die ns-ideologischen Einschreibungen erkennbar.
Schule und Erziehungsmaxime Vergleichbar der Buchvorlage stellt die Verfilmung die Bedeutung der pädagogischen und erzieherischen Haltung des Lehrers heraus. Dazu werden verschiedene Szenen eingefügt, die Diskussionen des Lehrers Fromann mit dem als rückständig ausgewiesenen Kollegium widerspiegeln. Gleichzeitig wird die Schule zur politischen Arena. Dabei wird Fromann regelrecht zum PädagogenStar stilisiert, der mediale Aufmerksamkeit erfährt und eine Auszeichnung erhält.
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Sibylles Vater entdeckt bei der morgendlichen Zeitungslektüre, dass der Lehrer mit seiner pädagogischen Publikation reüssiert. Auch vom Rektor der Schule wird Fromann belobigt und ihm in Aussicht gestellt, eine Dozentur an der Universität zu erhalten. Aber es gibt auch erboste Widersacher, die den Lehrmethoden Fromanns, der auf Vertrauen setzt, widersprechen. Es kommt zu turbulenten Szenen im Lehrerzimmer mit wütenden Wortgefechten. Den Diebstahl in seiner Klasse verschweigt Fromann darum zunächst. Doch der Vorgang kommt ans Tageslicht und der Lehrer muss sich rechtfertigen. Bei einer Lehrerkonferenz wird er zu Rede gestellt und beharrt auf seiner Vorgehensweise, die nun vom Pädagogischen ins Weltanschauliche gewendet wird, wenn er postuliert: Fromann steht wie ein Kämpfer, sagt männlich: „Es geht nicht nur um meine Berufung an die Universität“, Herr Rektor .. hier steht meine ganze Weltanschauung auf dem Spiel …! (Ebd., 177; Hervorh. i. O.)
Ulrich Nassen und Norbert Hopster haben in ihren Untersuchungen zum Nationalsozialismus und Erziehung auf vergleichbare Koinzidenzen hingewiesen. Zwar bestand, so Nassen, keine genuin nationalsozialistische pädagogische theoretische Haltung, allerdings war die erzieherische Haltung von NS-Idealen geprägt. Auch im Unterricht bzw. Deutschunterricht wird dies ablesbar: Der Deutschunterricht erhielt in dieser Funktionsbestimmung (Schule als Erziehungsfunktion, CR) der Schule einen eigenen Stellenwert, d. h. er wurde zum ersten und wichtigsten Erziehungsinstrument in der Schule, von dem auch deutliche Auswirkungen auf andere Fächer erwartet wurden. Wichtigste Tendenz war, über den Deutschunterricht – anders als in der noch stark von der Reformpädagogik geprägten Zeit vor 1933 – Schule und Leben direkt zu verbinden; Schule und Unterricht gewissermaßen zu entfachlichen. (Hopster/Nasser 1983, 12)
Fazit und Ausblick Aufgezeigt werden sollte, mit welchen komplexen Verschränkungen zu ideologischen Positionen und politisch-rassistischen Ideologemen im Nationalsozialismus Unterhaltung bzw. Jugendfilme aufgeladen wurden, was an einem exemplarischen Beispiel einer „medialen Mobilmachung“ (Segeberg 2004, 11) verdeutlicht wurde. Das heißt, dass nicht „die Instrumentalisierung des Kinos zugunsten einer politisch-ideologischen Mobilmachung […], sondern die Mobilmachung des Mediums, das politische Wirkungen gerade dadurch erzielte, daß es noch weit konsequenter als bisher angenommen darauf abzielte, politische Referenzen in mediale Referenzen zu überführen“ (ebd., 11 f.), wirkungsmächtig wurden. Interessant erscheint, wie das Mädchenbuch Was tun, Sibylle? in der medialen Adaption umgeformt wird bzw. wie die NS-Ideologeme in die filmische Umsetzung implantiert wurden. Die Befunde der medienwissenschaftlichen Unter-
„Donnerwetter, das ist famos“
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suchungen zum Unterhaltungsfilm im Nationalsozialismus und zur Bedeutung des Jugendfilms für die NS-Propaganda werden an diesem exemplarischen Stoff ablesbar. Die Ergebnisse des Beitrags zeigen, dass Kinder- und Jugendmedien jener Jahre ein äußerst ertragreiches Material sind und die bereits profunde Forschung zu Nationalsozialismus und Film um weitere Aspekte erweitern kann.
Literatur Primärliteratur Neumeister, Wolf/Bierkowski, Heinz: Was tun, Sibylle? [Drehbuch]. Film Nr. 944 (Dritte Fassung). Ufa, Herstellungsgruppe Peter Paul Brauer. Akte: Deutsche Kinemathek Museum für Film und Fernsehen Berlin, Aktennummer: 4.4 – 80/19.100. Schieker-Ebe, Sofie: Was tun, Sibylle? Abenteuer eines Mädchens. Stuttgart: Thienemann, 1941 [EA 1930]. Schieker-Ebe, Sofie: Sibylles Weg ins Leben. Stuttgart: Thienemann, 1948 [EA 1931].
Filmografie Was tun, Sibylle [Spielfilm] (D 1938). Regie: Peter Paul Brauer, Drehbuch: Wolf Neumeister und Heinz Bierkowski, Ufa, Berlin (Bundesarchiv, Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung; Archivsignatur 1/86).
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