Kinder- und Jugendliteratur heute: Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten [1 ed.] 9783737014809, 9783847114802


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Kinder- und Jugendliteratur heute: Theoretische Überlegungen und stofflich-thematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten [1 ed.]
 9783737014809, 9783847114802

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 31

Herausgegeben von Carsten Gansel und Stephan Pabst Reihe mitbegründet von Hermann Korte

Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamin´ska-Ossowska (Hg.)

Kinder- und Jugendliteratur heute Theoretische Überlegungen und stofflichthematische Zugänge zu aktuellen kinder- und jugendliterarischen Texten

Benno Pubanz zum 85. Geburtstag Mit 24 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA). © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rosa Loy: Stiller Moment, 2020, Aquarell auf Papier, 31x23 cm (in Privatbesitz); © Rosa Loy; Foto: Uwe Walter, Berlin; courtesy Galerie Kleindienst, Leipzig. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6304 ISBN 978-3-7370-1480-9

Inhalt

Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamin´ska-Ossowska Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

I Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen und Tendenzen in der Kinder- und Jugendliteratur Carsten Gansel Aktuelle Entwicklungen und Störungen im Handlungs- und Symbolsystem Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Cornelius Herz Nordish Noir nicht auf Deutsch? Literatur als Zumutung – Carsten Gansels Subsysteme moderner kinder- und jugendliterarischer Kommunikation aus ethisch-deskriptiver Sicht . . . . . . . . . . . . . . .

49

Thomas Boyken Mediale Konventionsbrüche? Narratologische und poetologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Tobias Kurwinkel / Philipp Schmerheim Adaptionsstrategien von Kinder- und Jugendklassikern – Dennis Gansels »Jim Knopf« als retroromantisches Family Entertainment im Medienverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Martin Blawid Schaurige Bilder im Schlaf. Prophetische Träume als All-Age-Trend in der phantastischen englischsprachigen Literatur am Beispiel von Philip Pullmans »Das Bernstein-Teleskop« (2000) und Joanne K. Rowlings »Harry Potter und der Feuerkelch« (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

6

Inhalt

Eva Rünker Populäre Frühmittelalter-Romane als Indikator gesellschaftlicher Trends. Entscheidet die Gegenwart über die Vergangenheit? . . . . . . . . . . . . 115 Marlene Zöhrer Von A wie Antarktis bis W wie Weltverbessern – Ökologische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche zwischen Erziehungsfunktion und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Jeannette van Laak Zwischen Tradition und Moderne – Die Kinderbuchillustrationen Lea Grundigs in den 1940er und 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . 157 Carsten Gansel Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien – Aspekte einer Theorie der Störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

II Stofflich-thematische Zugänge zu ausgewählten kinder- und jugendliterarischen Texten Petra Josting »Herzfaden« (2020) – Eine Geschichte der Störungen und Erlösungen

. . 191

Ewelina Kamin´ska-Ossowska Störungen in der Adoleszenz in Lilly Axsters »Die Stadt war nie wach« (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Ewa Hendryk Zum Thema des Technologiemissbrauchs in den Romanen von Ursula Poznanski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Anna Kaufmann Peers als Elternersatz? Zu (außer-)familiären Verlusterfahrungen in Lena Goreliks »Mehr Schwarz als Lila« (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Sonja E. Klocke »Ganz schön kross« – Stefanie de Velascos Anti-Märchen »Tigermilch« (2013) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Inhalt

7

Nicola König An den Grenzen des Sagbaren oder zur Abwesenheit des Didaktischen in Manja Präkels Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 José Fernández Pérez Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch am Beispiel von Francesca Sannas »Die Flucht« (2016) und Jose Manuel Mateos »Migrar. Weggehen« (2011) . . . . . . . . . . . . . . 295 Anna Braun »Hast du schon Reis gegessen?« Translation und Transformation im Dritten Raum der Erzählinstanz von Que Du Luus »Im Jahr des Affen« (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Jana Mikota »Es war einmal 1975« – Von interkulturellen Begegnungen, brüchigen und resilienten Kindheiten im Werk von Christian Duda und Martina Wildner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Hadassah Stichnothe Spiegelbilder – Julya Rabinowichs Poetik der Migrationserfahrung in »Dazwischen: Ich« (2016) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Monika Hernik »Als Frau mit Penis hat man nun mal die Arschkarte gezogen« – Zum Störungspotential des Jugendromans »Papierklavier« (2020) von Elisabeth Steinkellner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Joanna Sumbor »Ein Kuss ist ein Kuss« oder »Setzt die Jugend der Erinnerungskultur ein Ende?« – Wenn die Jugend unglücklich liebt und die Erwachsenen fehldeuten. Von der Vielfalt des Gedenkens in »Mehr Schwarz als Lila« (2017) von Lena Gorelik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Caroline Roeder »Wenn ich schreibe, arbeite ich« – Herkunfts(ge)schichten in Kindheit und Jugend erzählender Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

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Inhalt

Paulina Cioroch »Es war einmal ein Coronavirus …« – Zur heilenden Kraft der Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Michael Stierstorfer Zweitklassige Lektüre oder durchdachte literarische Überwindung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft? Zur Darstellung (un-)gleicher Machtverhältnisse in der aktuellen Dystopie-Welle . . . . . . . . . . . . . 429

III Literaturkritik und Kinder- und Jugendliteratur Roswitha Budeus-Budde / Sybil Gräfin Schönfeldt »Wenn sich die Kunst in den Dienst einer Sache stellt, gewinnen oft weder die eine noch die andere« – Roswitha Budeus-Budde und Sybil Gräfin Schönfeldt im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Carsten Gansel / Roswitha Budeus-Budde »Aber grundsätzlich: Du musst die Texte lesen!« Ein Gespräch über Kinder- und Jugendliteratur und Literaturkritik . . . . . . . . . . . . . . 457

IV Prof. Dr. Benno Pubanz – Ehrung seines Engagements für die KJL Benno Pubanz Edith Rimkus-Beseler oder Wie man ein »Guckloch ins Paradies« schafft. Laudatio zum 85. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483 Carsten Gansel Krebsgänge oder Von Toleranz und geistigem Austausch – Für Benno Pubanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Reinhard Rösler Benno Pubanz und der (neue) Kulturbund

. . . . . . . . . . . . . . . . . 497

Rita Buchweiz Ein Dankeschön an einen unermüdlichen Leser und Vermittler von Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Jutta Schlott Das eigene Bild im Bild der Andern oder Der Fährmann Benno Pubanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamin´ska-Ossowska

Vorbemerkungen

Bei der Diskussion über aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) erscheint es angeraten, wenigstens ansatzweise einen Blick auf die Geschichte zu werfen, denn nur vor diesem Hintergrund wird offenbar, wo aktuelle Phänomene – etwa die Orientierung auf All-Age-Texte und die Annäherung zwischen KJL und Allgemeinliteratur – ihren Ursprung haben. Bekannt ist, dass in der Mitte des 18. Jahrhunderts das Bedürfnis nach einer ausdrücklich für Kinder und Jugendliche produzierten Literatur wuchs, die zunächst von jenen geschaffen wurde, die sie in der täglichen Arbeit benötigten: Erzieher, Lehrer, Hofmeister. Mit dem wachsenden Bedürfnis nach spezifischen Lesestoffen für junge Leser wurden die Texte schließlich nicht mehr nur für den eigenen Bedarf produziert, sondern für einen literarischen Markt mit entsprechenden Vermittlungsinstanzen. Mit anderen Worten: Im ausgehenden 18. Jahrhundert entstand ein literarisches Handlungssystem, das sich auf die Produktion und Distribution von Texten für Kinder und Jugendliche spezialisierte und die Rezeption und Verarbeitung durch junge Leser zu motivieren suchte.1 In die nunmehr entstehende spezifische KJL gingen die jeweiligen Erziehungsvorstellungen der aufgeklärten Pädagogen ein. Die ›Funktion‹ der Texte bestand zunächst darin, an die nachwachsende Generation die etablierten Normen und Werte zu vermitteln. Systemtheoretisch kann man ihre ›Leistung‹ vor allem darin sehen, zu erziehen, zu belehren und in bestimmten Regeln zu unterweisen. Dies erklärt, warum die KJL sich in einem engen Bezug zum Erziehungssystem der Zeit entwickelte. Mit Blick auf die kindlichen und jugendlichen Adressaten erfüllten die Texte mithin bis weit ins 20. Jahrhundert vor allem Aufgaben in Hinblick auf Erziehung, Belehrung bzw. Unterweisung und damit sehr praktische Bedürfnisse. Während die Allgemein- bzw. Erwachsenenliteratur sich von dem Zwang befreite, bestimmten Interessen zu dienen, sich von Religion, Philosophie und Moral, Recht und Politik, Wissenschaft und Pädagogik abgrenzte 1 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientieren Unterricht. 8. Aufl., 2. Druck. Berlin: Cornelsen 2021.

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Carsten Gansel / Anna Kaufmann / Monika Hernik / Ewelina Kamin´ska-Ossowska

und einen Autonomieanspruch formulierte, war die Literatur, die sich an Kinder wandte, bestimmten ›Zwecken‹ verpflichtet. Insofern stellte KJL zunächst in der Tat das Gegenteil von autonomer Literatur dar, sie war eine Spielart von heteronomer, also nichtautonomer Literatur. Da für die KJL die Adressatenspezifik historisch wie aktuell eine besondere Rolle spielt, ist es durchaus nachvollziehbar, wenn bis in die Gegenwart die Position existiert, KJL sei zunächst einmal »Zielgruppenliteratur«. Das heißt, sie wendet sich an potentielle Leser, die über spezifische Merkmale verfügen (Alter, kognitive Fähigkeiten, soziale Rolle).2 Wo von »Zielgruppenliteratur« die Rede ist, muss sich dies – so die Konsequenz – auf das »Was« und »Wie« der der Texte auswirken, also das, was man in der Narratologie »histoire« und »discourse« nennt. Mit der stofflichen Weitung der KJL ab den 1970er Jahren und der Auseinandersetzung mit Themen wie Arbeitslosigkeit, Rassismus, Krieg, Tod und Sterben veränderten sich auch die Handlungen, Figuren, Räume sowie die eingesetzen Erzählinstanzen. Zunehmend kam es dazu, dass ausgewählte Texte für junge Leser wie Erwachsene von Interesse waren und sogar zu Bestsellern wurden. Insofern lässt sich für die Gegenwart durchaus von einer All-Age-Orientierung sprechen. Mit der All-Age-Tendenz haben Teile der KJL an Aufmerksamkeit und Reputation gewonnen, was sich auch im wirtschaftlichen Erfolg der Verlage niederschlägt.3 Mit den Veränderungen auf der Ebene der ›histoire‹ (u. a. Handlungen, Figuren, Räume) kam es auf der Ebene des ›dicourse‹ (u. a. Erzählinstanzen), mithin dem »Wie« des Erzählens zu Veränderungen. In Folge des Wandels entstand mit dem modernen Kinder- und Jugendroman im kinder- und jugendliterarischen Handlungs- und Symbolsystem eine neue Gattung. Sie lässt sich in die Subgattungen problemorientierter bzw. sozilogischer Kinderroman, psychologischer, komsicher und phantastischer Kinderroman gliedern.4 Die Herausbildung der neuen Gattung führte sukzessive zu einer Annäherung von KJL und Allgemeinliteratur. Ein Kennzeichen der neuen Gattung des modernen Kinder- und Jugendromans bestand nicht zuletzt im Zurückdrängen von didaktischen Momenten. In den Vordergrund trat zunehmend die (aktuelle) Wirklichkeitserkundung, wodurch die mimetische Relation, mithin die Beziehung zwischen Werk und Realität in den Vordergrund rückte. Dies waren mit Gründe dafür, dass einzelne publizierte Texte für junge Leser wie für Erwachsene gleichermaßen von Interesse waren und zu Bestsellern

2 Zu Fragen der Adaption im Subsystem Kinder- und Jugendliteratur vgl. ebd., S. 23–25; vgl. auch insbesondere Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in grundlegende Aspekte des Handlungs- und Symbolsystems Kinder- und Jugendliteratur. München: Fink 2000, S. 199–242. 3 Vgl. u. a. Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp (Hrsg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Berlin: Metzler 2020. 4 Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2021, S. 107–137.

Vorbemerkungen

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wurden. Insofern hat der aktuelle All-Age-Trend seine Wurzeln in den Wandlungen der KJL seit den 1970er Jahren. Wenn in der Gegenwart in Verbindung mit KJL vom All-Age-Phänomen die Rede ist, also von Texten, die altersübergreifend gelesen werden und erfolgreich sind, so ist zu betonen, dass ein nicht geringer Teil der romantischen Kunstmärchen im besten Sinne als All-Age-Literatur bezeichnet werden kann und inzwischen zu den ›Klassikern der KJL‹ zählt.5 Dazu gehören etwa Ludwig Tiecks »Die Elfen« (1811), E. T. A. Hoffmanns »Nussknacker und Mausekönig« (1816) und »Das fremde Kind« (1816). Sämtliche dieser Texte verdanken ihren Erfolg bei Kindern wie Erwachsenen ihrer Polyvalenz, ihrer Vieldeutigkeit, mithin also zunächst ihrer formalen Struktur, dem »Was« und »Wie« des Erzählens. Dies gilt auch für nachfolgende All-Age-Texte, die zu ›Klassikern der KJL‹ wurden wie Lewis Carolls »Alice im Wunderland« (1865), P. L. Travers’ »Mary Poppins« (1934), Antoine de Saint-Exupérys »Der kleine Prinz« (1943), J. R. R. Tolkiens »Der Herr der Ringe« (1954/55), Micheal Endes »Momo« (1973) und die »Unendliche Geschichte« (1979), dann Jostein Gaarders »Sofies Welt« (1991) und schließlich J. K. Rowlings »Harry Potter« (1997–2007). Die Frage, was den Erfolg der Texte ausmacht, könnte man vereinfacht so beantworten: Es ist – wie auch bei anderen erfolgreichen Texten – die Mischung, die den Erfolg ausmacht. Also vereinfacht gesagt, das »Was« und »Wie« des Textes, die Zeitströmung, die Person der Autorin oder des Autors und natürlich die inzwischen eingetretenen Vermarktungsmöglichkeiten einer Mediengesellschaft. Die Medien spielen nun auch im All-Age-Bereich eine zentrale Rolle, dennn ohne die globale Vernetzung und die sozialen Netzwerke sind Erfolge wie »Harry Potter« schlichtweg nicht denkbar. Aktuelle Entwicklungen zeigen nun, dass der Phantastik-Boom mit seinen Megasellern zwar nicht vorbei ist, aber in den letzten Jahren haben verstärkt Texte Erfolg, die das kultivieren, was man »realistisches Erzählen« nennt.6 In den letzten Jahren sind dabei in der KJL einmal mehr die wachsende gesellschaftliche Verunsicherung in einer zunehmend globalen Welt wie auch die »Ängste der Erwachsenen« zum Gegenstand des Erzählens geworden. Andererseits spielt auch in der KJL das eine Rolle, was man ›Political Correctness‹ nennt. Einher kann dies mit einer Zunahme von moralisierend-didaktischen Implikationen gehen. Dies wiederum führt – so eine zutreffende Beobachtung – beispielsweise 5 Gansel, Carsten: All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht 64, 2012, H. 4. S. 2–11. 6 Vgl. Gansel, Carsten: Realistisches Erzählen. In: Kurwinkel/Schmerheim, Handbuch Kinderund Jugendliteratur. 2021, S. 105–115; vgl. auch Roeder, Caroline: »Meine Sehnsucht heißt Weltumschichtung.« Politische und ideologische Dimensionen von Kinder- und Jugendliteratur. In: Dies. (Hrsg.): Parole(n): Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien. Stuttgart: Metzler 2020, S. 29–48. (Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien; Bd. 2).

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in der aktuellen Literatur für junge Mädchen zu einer Rückkehr von »längst durch die Frauenbewegung überwunden geglaubten Werten«7. Bei den Beiträgen des Bandes geht es im ersten Teil um theoretische Überlegungen, die in Verbindung mit Entwicklungen in der KJL stehen. Angesprochen sind literaturgeschichtliche Tendenzen nach 1968, Fragen zu Adaptionsstrategien, zur Kanonbildung und zur Wertung von kinderliterarischen Texten. Im zweiten Teil steht die Beschäftigung mit aktuellen KJL-Texten und Tendenzen im Zentrum. Anders gesagt, es geht bevorzugt darum, textanalytisch aktuelle Entwicklungen, mithin den Neuerungen – oder auch nicht – auf die Spur zu kommen und dabei die Frage zu beantworten, wie weit die Grenzen der KJL in Richtung Allgemeinliteratur verschoben werden können und ob gegebenenfalls das KJLSpezifische verloren geht.8 Dabei steht die Frage nach konkreten All-Age-Texten ebenso wie es darum geht, aktuelle Themen in den Blick zu bekommen. In den Fokus rückt insbesondere die Darstellung von Störungen, darunter Krieg, Flucht, Migration sowie Verlusterfahrungen, von märchenhaften und phantastischen Elementen, von dystopischen Welten und digitalen Technologien ebenso wie von spezifischen Problembereichen weiblicher und männlicher Adoleszenz. Aufgegriffen werden auch Trends in der Illustration von kinderliterarischen Texten und der Wandel des Buchmarkts, hier sei das Stichwort Medien- und Produktverbundsysteme genannt. Letztlich zielen die Beiträge darauf, über die Auseinandersetzung mit dem »Was« und »Wie« des Erzählens die Rolle der KJL-Texte in einer globalisierten Mediengesellschaft zu hinterfragen. Im dritten Teil geht es gewissermaßen um praktische Fragen der Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur. In zwei Gesprächen wird grundsätzlichen Aspekten der Kritik von Kinder- und Jugendliteratur auf den Grund gegangen. Dabei stehen zwei der wichigen Repräsentanten im Zentrum, die Anteil daran haben, dass die Auseinandersetzung mit KJL einen Platz im öffentlichen Raum gefunden hat. Im Gespräch mit der Autorin und Journalistin Sybil Gräfin Schönfeldt wird hineingetaucht in die 1950er Jahre und das darauffolgende Gespräch mit Roswitha Budeus-Budde führt von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Der vierte Teil des Bandes versammelt Beiträge zu Ehren von Prof. Dr. Benno Pubanz. Anlässlich seines 85. Geburtstages wird sein Engagement als Hochschullehrer wie auch als Präsident des Kulturbundes gewürdigt. Benno Pubanz gehörte in der DDR zu jenen Forschern, die sich mit der Kinder- und Jugendliteratur beschäftigten und dabei auf Entwicklungen in der Bundesrepu7 Budeus-Budde, Roswitha: Literarischer Marktplatz. In: Süddeutsche Zeitung vom 31. 03. 2016. (letzter Zugriff: 16. 03. 2022). 8 Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz. Zu theoretischen Aspekten und aktuellen Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht 68, 2016, H. 2, S. 2–12.

Vorbemerkungen

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blik Deutschland nach 1949 konzentriert waren. Ab den 1990er Jahren ist er als Professor an polnischen Universitäten tätig gewesen, hat zahlreiche Magisterarbeiten betreut und junge Forscherinnen engagiert unterstützt. Nicht zuletzt ist seinem Engagement die Einrichtung und Verleihung des Umweltpreises für Kinder- und Jugendliteratur zu danken, dessen Jury er über viele Jahre vorstand.

I Überlegungen zu aktuellen Entwicklungen und Tendenzen in der Kinder- und Jugendliteratur

Carsten Gansel

Aktuelle Entwicklungen und Störungen im Handlungs- und Symbolsystem Kinder- und Jugendliteratur

1.

Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur oder 1968 und die Folgen

Da wir hier über Entwicklungen und auch über Störungen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) sprechen wollen, lassen sie mich in eine Zeit zurückgehen, die mitunter eher mythisiert, denn analysiert wird: 1968. Dies auch deshalb, weil für die einsetzenden Entwicklungen in der KJL 1968 eine Art Ausgangspunkt bildet.1 Es ist bekannt, dass der Wandel in der KJL mit Veränderungen des Kindheitsbildes bzw. der Auffassungen über die Rolle und den Status von Kindern und Jugendlichen verbunden ist. Es geht also um die Frage, welche Rechte und Pflichten Kinder haben und welche Moralanforderungen an sie gestellt werden. Hinzu kommen die jeweiligen Vorstellungen von Ehe, Liebe, Sexualität, Familie, das Generationenverhältnis oder politische Auffassungen. Diese unterscheiden sich sehr deutlich: Man vergleiche etwa 1850, 1900, 1930, 1945, 1955, 1970 oder eben 2020 oder 2022. Bertolt Brecht hat in den 1930er Jahren für die Allgemeinliteratur das Verhältnis von Gesellschaft und Literatur so auf den Punkt gebracht: »Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel.« Und er notiert weiter: »Es verändert sich die Wirklichkeit, um sie darzustellen, muss die Darstellungsart sich ändern.«2 In der Tat ist es insbesondere seit Ende der 1960er Jahre im Rahmen eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu Wandlungen in der Wirklichkeit gekommen. Die Veränderungen betreffen immer auch die Verhältnisse, unter denen Kinder und Jugendliche leben, ihr Lebensgefu¨ hl, ihre Wirklichkeitsauffassungen, ihr Verhältnis zu den Eltern, ihre Zukunftsperspektiven. In 1 Siehe dazu neuere Sichten auf »1968« in dem Band: Gansel, Carsten/Ludwig, Janine (Hrsg.): 1968 – deutsch-deutsche Kulturgeschichten. Berlin: Okapi 2021. (Edition Gegenwart, Bd. 6); zur Kinderliteratur siehe in dem Band die Beiträge von Katrin Max, Hadassah Stichnothe und Monika Hernik. 2 Brecht, Bertolt: Volkstümlichkeit und Realismus (1938). In: Ders.: Über Realismus. Zusammengestellt und redigiert von Werner Hecht. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1968, S. 128.

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Carsten Gansel

der KJL begannen die Texte zunehmend die Verhältnisse einer Gesellschaft, in der Erwachsene und Kinder leben, kritisch zu reflektieren und auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wie Probleme des damaligen Kind-Seins einzugehen. Ursula Wölfels »Die grauen und die grünen Felder« (1970), HansGeorg Noacks »Rolltreppe abwärts« (1970), Peter Härtlings »Das war der Hirbel« (1973) oder Max von der Grüns »Vorstadtkrokodile« (1976) avancierten zu Trendsettern einer neuen Kinderliteratur. Frühere Tabubereiche wurden sukzessive mit sozialkritischem Anspruch zum Gegenstand literarischer Darstellung, dazu gehörten Themen wie Behinderung, Sterben, Tod, Scheidung, Alkoholismus/Drogen, Arbeitslosigkeit der Eltern, Dritte Welt oder Gastarbeiter- und Ausländerproblematik, wie es damals hieß. Der gesellschaftskritische Anspruch der Texte war durchaus mit jenem in der zeitgleichen Erwachsenenliteratur vergleichbar. Entsprechend begann die neue, die moderne KJL das vielfältige Formarsenal von politischer und sozialkritischer Dichtung für Erwachsene zu nutzen, dazu gehören nicht zuletzt Varianten von Dokumentarliteratur, Reportage oder Montage. Zudem nutzte die KJL zunehmend Darstellungsweisen der modernen Allgemeinliteratur wie den Einsatz von Ich-Erzählern und personalem Erzählen, den Wechsel der Erzählperspektiven, den Zeitwechsel und kompliziertere Erzählanfänge.3 Nun wurde zwar herausgestellt, dass die Veränderungen in der KJL sukzessive zu einer Annäherung von KJL und Allgemeinliteratur geführt haben – das AllAge-Phänomen ist nur ein Ausdruck dieser Näherung –, aber die Diskussion wird zumeist ohne einen Bezug zur Allgemeinliteratur geführt. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn zunächst ging es darum, die Veränderungen im Teilsystem KJL zu erfassen. Betrachtet man das All-Age-Phänomen so zeigt sich, dass der Trend zu Grenzüberschreitungen weiter anhält und die Übergänge zwischen den Gattungen sich fließend gestalten können. Zur All-Age-Literatur rechnet man in historischer Perspektive neben einer Reihe von romantischen Kunstmärchen bekanntlich Lewis Carolls »Alice im Wunderland« (1865), P. L. Travers’ »Mary Poppins« (1934), Antoine de Saint-Exupérys »Der kleine Prinz« (1943), J. R. R. Tolkiens »Der Herr der Ringe« (1954/55), Michael Endes »Momo« (1973) und die »Unendliche Geschichte« (1979), Jostein Gaarders »Sofies Welt« (1991) und 3 Zu den hier nur angedeuteten Entwicklungen gibt es seit den 1990er Jahren zahlreiche Darstellungen und es herrscht innerhalb der KJL-Forschung ein weitgehender Konsens in der Bewertung. Zu denken ist an Beiträge von Hans-Heino Eweres, Maria Lypp, Emer O’Sulivan, Rüdiger Steinlein, Inge und Rainer Wild, Dagmar Grenz, Bettina Hurrelmann, Gisela Wilkending, Bettina Kümmerling-Meibauer, Caroline Roeder sowie Wilhelm Steffens. Einige dieser Kolleginnen und Kollegen sind inzwischen – teilweise viel zu früh – verstorben. Der Verfasser dankt Ihnen Anregungen. Zu den Entwicklungen in der KJL im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen vgl. zusammenfassend Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierte Unterricht. Berlin: Cornelsen 2021(9. Auflage).

Aktuelle Entwicklungen und Störungen

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schließlich J. K. Rowlings »Harry Potter« (1997–2007). Auf den Harry-PotterBoom folgten der weltweite Erfolg von Stephenie Meyers »Biss-Reihe« (2005ff.) und Suzanne Collins »Die Tribute von Panem« (2009) sowie E. L. James erotische Trilogie »Shades of Grey« (2011–2012), die sich in kurzer Zeit weltweit mehr als 100 Millionen Mal verkaufte. Nimmt man noch John Greens »Das Schicksal ist ein mieser Verräter« (2012) hinzu, dann zeigt sich, dass die Klassifizierung der genannten Texte als All-Age- oder Crossover-Literatur – so der im angloamerikanischen Sprachraum genutzte Begriff – erst einmal nur signalisiert, dass hier erfolgreich ein Lesepublikum angesprochen worden ist, das sich zwischen 10 und 35 Jahren bewegt.4 Es ist mithin lediglich auf die Rezeptionsebene verwiesen, inhaltliche, textstrukturelle und gattungstypologische Fragen werden mit einem solchen Terminus mitnichten angesprochen. Das »Was« und »Wie« des Erzählens ist für die Einordnung als All-Age- oder Crossover-Text nicht relevant. Wirft man nun einen Blick auf die Erfolge von All-Age-Texten, dann zeigt sich, dass diese sich nach 2000 zunächst in phantastischem Gewand präsentierten: »Harry Potter«, die »Biss«-Serie, Die »Tribute von Panem«. Und auch Cornelia Funke, die mit »Herr der Diebe« (2000/2002) ihren internationalen Durchbruch hatte, setzte mit der »Tintenherz«-Triologie (2003–2007) auf den Fantasy-Trend. Der Erfolg von All-Age-Texten im Gewand der Fantasy ist von manchen Kritikern als Ausdruck für eine Flucht in phantastische Parallelwelten gewertet worden. Allerdings gibt es für diese These, die bereits Anfang der 1980er Jahre gegen Michael Endes »Die unendliche Geschichte« (1979) ins Feld geführt wurde, keine empirischen Belege. Zustimmen allerdings wird man Kritiken können, die auf die eher »einfache« Machart der Texte verweisen. In der Tat erscheint die erzählerische Vermittlung keineswegs nur in der »Biss«- bzw. »Twiligt«-Serie, sondern auch bei Paolinis »Eragon«, in »House of the Night« und selbst in Cornelia Funkes »Tintenherz«-Triologie konventionell und richtet klassische Muster der Unterhaltungsliteratur für Erwachsene für den Bereich der KJL zu. Dabei werden – wie in der Allgemeinliteratur von Karl May bis zu Rosamunde Pilcher – wiederkehrende Handlungsmuster gebaut, die auf Spannungserzeugung aus sind und über eine stereotype Figurenzeichnung jeweils bestimmte moralische Wertvorstellungen transportieren können. Als Schemaliteratur wurde Texte diesen Typs in den Diskussionen der 1970er und frühen 1980er Jahre in der Allgemeinliteratur bezeichnet.5 Nun führt es nicht weiter, die überkommende Debatte um 4 Vgl. dazu Gansel, Carsten: Adoleszenz. Zu theoretischen Aspekten und aktuellen Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht 68, 2016, H. 2, S. 2–12; siehe dazu bereits Gansel, Carsten: Alle Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht 64, 2012, H. 4, S. 2–11; siehe auch die Beiträge von Norman Ächtler, Rüdiger Steinlein, Caroline Roeder, Jens Thiele, Heike Elisabeth Jüngst, Roswitha Budeus-Budde sowie das Gespräch mit Alexa Hennig von Lange in Der Deutschunterricht, 2012 H. 4. 5 Vgl. Zimmermann, Hans Dieter: Schema-Literatur. Stuttgart: Kohlhammer 1973.

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Trivialliteratur und ihre Didaktik zu erneuern.6 Inzwischen gibt es durchaus Ansätze, die den Erfolg gerade einfach gebauter Texte evolutionspsychologisch erklären und zu bedenken geben, ob es nicht möglicherweise so etwas wie »angeborene epische Schemata«7 gibt. Schemata bzw. Types, die auf Seiten der Leser gewissermaßen nach ›Bestätigung‹ in literarischen Texten ›dürsten‹ und in dem Fall, da dies zutrifft, über kulturelle Grenzen, also global, erfolgreich sind. Unter evolutionären Gesichtspunkten werden sich solche Schemata durchgesetzt haben, »die zur Füllung durch möglichst viele kulturell divergierende Situationen geeignet waren«8. Die Offenheit der Verhaltensprogramme machte es möglich, dass in der Evolution der Literatur das Schema »Lösung einer schwierigen Aufgabe«, das sich in den Volks- und Kunstmärchen findet, eine zentrale Bedeutung zukommt. Im Einzelfall kann es sich bei der dann einsetzenden Queste bzw. Reise um die Suche nach einem Schatz, einem Gral, aber auch einer Prinzessin handeln. In den All-Age-Texten – so kann man annehmen – werden nun neben dem bereits genannten Schema jeweils bestimmte Grundplots bedient: Zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts wollen zueinander kommen, werden durch diverse Umstände davon abgehalten und schaffen schließlich doch die Vereinigung. In Verbindung damit steht der Kampf zwischen zwei männlichen oder inzwischen auch weiblichen Konkurrentinnen. Dieses Schema etwa ist der Ausgangspunkt der »Twilight«-Serie und wird in den verschiedenen Folgen beständig in unterschiedlichen Handlungskonstellationen variiert. Hinzu kommt, dass für All-Age-Texte – keineswegs nur auf den Typ »Twilight« oder weitaus zugespitzter auf den Typ »Shades of Gray« – zutrifft, was Joseph Caroll nach der Auswertung zahlreicher Erfolgsromane vermutet, dass das Interesse der Leser nämlich in dem Maße steigt, wie man sich in literarischen Texten den grundlegenden Prinzipien der indirekten Fitness nähert, also Fragen des Überlebens und der Reproduktion, einschließlich der familiären Beziehungen, behandelt. David Buss hat das so auf den Punkt gebracht: »Macht und Liebe ent6 Siehe Waldmann, Günter: Theorie und Didaktik der Trivialliteratur. Paderborn: Wilhelm Fink 1977. 7 Eibl, Karl: Animal Poeta. Bausteine einer biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn: Mentis 2004, S. 265; siehe dazu bereits Gansel, Carsten: Story Telling – Geschichten erzählen in evolutionspsychologischer Perspektive. In: Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft und die neuen Grenzen des Sozialen. Hrsg. von Georg Peter und Reuß-Markus Krauße. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2012, S. 271–300 (deutsche Fassung des englischsprachigen Beitrags: Gansel, Carsten: Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. In: Telling Stories: Literature and Evolution/Geschichten erzählen: Literatur und Evolution. Hrsg. von Carsten Gansel und Dirk Vanderbeke. Berlin/Boston: De Gruyter 2012, S. 77–109.); zum Versuch, ausgewählte evolutionspsychologische Aspekte auf die KJL anzuwenden vgl. Gansel, Carsten: Von der Evolution des Menschen und dem Erzählen von Geschichten. Zu Aspekten einer evolutionspsychologisch motivierten Narratologie. In: kjl&m 65, 2013, H. 4, S. 3–14. 8 Ebd., S. 267.

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stehen konsequent kulturübergreifend als die beiden wichtigsten Dimensionen zwischenmenschlichen Verhaltens.«9 In der Gegenwart wird man mit einigem Recht davon ausgehen können, dass Verlage das Signum »All-Age« Texten auch aus merkantilen Gründen zuteilen, weil es schlichtweg verkaufsfördernd wirkt. Von daher könnte man folgenden Vorschlag für eine knappe Verständigung machen: Als All-Age-Literatur können Texte bezeichnet werden, die die Grenzen des KJL-Systems hin zum allgemeinliterarischen System überschreiten und vor allem durch die Handlungen in den Bereichen Distribution, also die Tätigkeiten von Verlegern, Lektoren, Kritikern, in beiden Systemen einen Platz erhalten. Aktuelle Entwicklungen zeigen nun, dass der Phantastik-Boom mit seinen Megasellern zwar nicht vorbei ist, aber in den letzten Jahren haben verstärkt Texte Erfolg, die das kultivieren, was man »realistisches Erzählen« nennt. Exemplarisch dafür stand »Das Schicksal ist ein mieser Verräter«, auch dies ein All-Age-Text, der zu einem Weltbestseller wurde. Damit ist ein Trend erfasst, denn es gibt weitere Beispiele. Zu denken ist an Texte wie Marie-Aude Murails »Simpel« (2004), Raquel J. Palacios »Wunder« (2012), Herrndorfs »Tschick« (2010), Becky Albertallis »Love, Simon« (2015/dt. 2016) oder Lena Goreliks »Mehr Schwarz als Lila« (2017). Dieser Trend zeigt sich auch, wenn man danach fragt, welche Texte von jungen Leuten selbst ausgewählt und prämiert werden. Ein Beleg dafür ist die seit 2000 kontinuierlich arbeitende Jugend-Jury, die zum Pegasus-Projekt der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft gehört.10 In der Regel wöchentlich treffen sich sieben bis neun junge Leute der »Lufti«-Gruppe. Sie tauschen sich über ihre Lektüren aus, recherchieren in Verlagsprogrammen und im Internet zur Jugendliteratur, schreiben und prüfen Buchkritiken. zweimal im Jahr würdigen die jungen Kritiker Neuerscheinungen mit einem »Goldenen«, »Silbernen« und »Bronzenen Lufti«. Das enttäuschendste Buch erhält den »Lauen Lufti«. Im Rahmen der Juryarbeit bedeutet Lesen mehr als individuelle Auseinandersetzung mit dem Text, es mündet in die Kommunikation zwischen mehreren Lesern, wobei die Rezeption und Bewertung zu reflexiven und bewussteren Prozessen werden. Von 2003 bis 2008 arbeiteten die Mädchen und Jungen in der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis mit. Für die Jahre 2020, 2021, 2022 ergibt sich folgendes Bild:

9 Vgl. Gansel, Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. 2012, S. 99; »Power and love«, so Buss, »emerge consistently and cross-culturally as the two most important dimensions of interpersonal behavior«. 10 Die Gruppe wird von Dr. Gundula Engelhard, der Geschäftsführerin der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, geleitet. Die Literaturwissenschaftlerin war mehrfach Mitglied der Jury zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Vgl. hier und nachfolgend (letzter Zugriff: 15. 03. 2022).

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2020: Julie Murphy: »Ramona Blue« (Goldener Lufti); Steve Tasane: »Junge ohne Namen« (Silberner Lufti), Marisha Pessl: »Niemalswelt« (Bronzener Lufti, Fantasy). 2021: Becky Albertalli & Adam Silvera: »Was ist mit uns« (Goldener Lufti), Antje Babendererde: »Schneetänzer« (Silberner Lufti), Susan Kreller: »Elektrische Fische« (Bronzener Lufti). 2022: Katharina Herzog: »Die Nebel von Skye« (Goldener Lufti), Kate Jans: »Blizzard. Die weiße Gabe« (Silberner Lufti, Fantasy), Laura Cardea: »Splitter aus Silber und Eis« (Bronzener Lufti, Fantasy)

Die Fantasy-Texte finden also nach wie vor Anklang bei jungen Leuten. Gleichwohl zeigt sich, dass das Interesse – vor allem im höheren Leseralter – an realistisch erzählten Texten zunimmt. Es hängt dies auch mit dem Umstand zusammen, dass es sich hier um zunehmend erfahrene Leser handelt, die bestimmte in Fantasy-Texten wiederkehrende Handlungskonstellationen wahrnehmen und nicht mehr goutieren. Im Zentrum einer Reihe der erfolgreichen realistischen Texten stehen Figuren, die – sagen wir – gehandicapt oder in gewisser Weise Außenseiter sind oder zu einer Minderheit gehören. Mit der Zunahme des Realismus einher geht ein erneuter Anstieg an – sagen wir – politischen Themen. Betrachtet man den Trend zu realistischen Darstellungen, dann wird auf diese Weise, zumindest was die KJL betrifft, an Entwicklungen seit den Endsechziger Jahren angeknüpft. In diesem Prozess haben sich die Gattungskonventionen der KJL gewandelt. Es ist, wovon schon oft die Rede war, zum Entstehen des modernen Kinder- und Jugendromans mit seinen unterschiedlichen Subgattungen gekommen. In den problemorientierten Kinder- und Jugendromanen werden Verhältnisse einer Gesellschaft, in der Erwachsene und Kinder leben, der kritischen Prüfung unterzogen. Nicht (phantastische) Schonräume oder spannungsreiche Abenteuer waren daher die Darstellungsgegenstände, sondern jene »wirkliche Wirklichkeit« mit der Kinder wie Erwachsene tagtäglich konfrontiert wurden (mithin »normale« Alltagswelten). Das führt zu Veränderungen auf der Ebene der ›histoire‹: die Handlungen, die Figuren und Räume sind der auf soziale Erkundung ausgerichteten Darstellung angepasst. Wenn nun vom realistischen Erzählen die Rede ist, dann fällt bei den erfolgreichen All-Age-Texten auf, dass oftmals über Adoleszenz erzählt wird.11 Mit der Thematisierung von Problemen der Adoleszenz sind breite Adressatengruppen angesprochen. Was auf den ersten Blick als Infanilisierung verspottet wird, dass also Erwachsene Texte lesen, die auch Kinder bzw. Jugendliche rezipieren, das hat wiederum seine Ursachen im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung. Dieser Modernisierungsoprozess führt zu einer Annäherung 11 Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik 14, 2004, H. 1, S. 130–149.

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der Lebensalter. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht Gründe für den »Zwang zur Jugendlichkeit« in einer Beschleunigung der spätmodernen Gesellschaft. Dieser Zwang, so Rosa, »entstammt nicht einer kulturellen Laune der spätmodernen Gesellschaft, sondern ist ihren Temporalstrukturen unaufhebbar eingeschrieben«. Dabei ist der Hang zur »›ewigen Pubertät‹« Folge einer Beschleunigung des sozialen Wandels, der sich insbesondere am Verhältnis der Generationen ablesen lässt.12 Auch in Folge der Entdramatisierung der Generationenkonflikte sind Grenzlinien zunehmend fließend geworden, der Erfahrungsvorsprung der Erwachsenen hat abgenommen und sich in manchen Bereichen sogar verkehrt. Über diese Phänomene wird permanent in den Medien berichtet. Kommt man auf die Gegenwart zurück, dann zeigt sich, dass mit dem realistischen Erzählen über Adoleszenz sehr konkrete Fragen der Gegenwart in den Blick gerückt werden. Freilich geht es dabei immer um die Auseinandersetzung mit Störungen in und während der Adoleszenz. Das kann so weit gehen, dass einmal mehr nicht von »normaler Adoleszenz« erzählt wird, sondern es zur literarischen Inszenierung von Randgruppen-Adoleszenzen kommt – die Texte, Filme und auch Pop-Musik leben von der aufstörenden Darstellung und permanenter Grenzüberschreitung. Insofern lässt sich abschließend folgende These vertreten: In der Literatur vor allem ab 1800 ging es darum, eine »Sprache emphatischer Rekonstruktion«13 von Adoleszenz überhaupt erst zu finden. Nach den phantastischen Novellen in der Romantik nahm dann sukzessive der Realismuseffekt zu, was dazu führte, dass die kulturelle Präfiguration in eine literarische Konfiguration, mithin in ein literarisches Gebilde, überführt wurde. Die Schulromane um 1900 leben von diesem Realismuseffekt – mit entsprechenden Folgen für die Refiguration durch die Leser. Einige der hochgelobten Texte nach 2000 gehen einen anderen Weg, sie verlängern in der Wirklichkeit angelegte Tendenzen im Medium der Literatur, um zu provozieren und aufzustören. Insofern handelt es sich weniger um »emphatische Konstruktionen« von Wirklichkeit denn um deren »Ästhetisierung«.

12 Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 189, 184. 13 Böhme, Hartmut: Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodramatik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E. T .A Hoffmann. In: Text & Kontext: Zeitschrift für Germanistische Literaturforschung in Skandinavien 10, 1981, S. 133–176, hier: S. 136.

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Zur Weitung des Literaturbegriffs nach 1968 oder »Cross the Border – Close the Gap«

Wenn man nun den Versuch macht, aktuellere Entwicklungen zu gewichten, dann kann es sinnvoll sein, sich der Einschnitte um 1968 zu versichern. Dies auch deshalb, weil es mitunter den Anschein hat, dass in der Gegenwart zunehmend die historischen Entwicklungen aus den Blick geraten und teilweise nicht mehr gekannt werden: Die Annäherung von KJL und Allgemeinliteratur seit 1968 steht innerliterarisch in Verbindung mit einer Weitung des Literaturbegriffs und dem zunehmenden Aufbrechen der Grenzen zwischen sogenannter U- und E-Literatur. In diesem Rahmen stand auch die Frage nach dem Verhältnis der Populärkultur zur sogenannten ›hohen‹ Literatur. Für die USA und in Folge für die Bundesrepublik spielte Leslie Fiedlers Essay »Cross the Border – Close the Gap« (1968) eine nicht zu unterschätzende Rolle.14 In dem Beitrag vertrat Fiedler die Auffassung, dass es in der Gegenwart der 1960er Jahre schwer möglich sei, die Leser mit Mitteln der historischen Avantgarde aufzustören, ja zu schocken, weil in der Zwischenzeit die ehemals innovativen Verfahren, die avantgardistischen Mittel, längst bekannt seien und auch die neuen Inhalte dieser Literatur zu Allgemeinplätzen verkommen wären.15 Davon ausgehend, stellte Fiedler die Frage, wie eine zeitgenössische Literatur aussehen könne, die an das provokativaufstörende Potential der Avantgarde anknüpft. Der von ihm favorisierte Künstler schafft es, die Kluft zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst zu überwinden und wendet sich jenen Genres zu, die von den Massenmedien am meisten 14 Siehe dazu in neuerer Perspektive Gansel, Carsten/Ludwig, Janine: Das Phänomen »1968« und seine »aufstörenden« Folgen in West und Ost. In: 1968 – Ost – West – Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten. Hrsg. von Carsten Gansel und Janine Ludwig. Berlin: Okapi 2021, S. 9– 20; Gansel, Carsten: 1968, Popkultur und die Literatur in Ost und West. In: Gansel/Ludwig, 1968. 2021, S. 239–278; Positionen aus diesem Beitrag zu Fiedler werden an dieser Stelle im Rahmen der weiteren Argumentation aufgegriffen. Eine profunde Darstellung der Positionen Fiedlers sowie ihrer Rezeption in Deutschland findet sich in der wichtigen Arbeit von Schäfer, Jörgen: Pop-Literatur. Rolf-Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart: M und P 1998; der Essay von Fiedler ist in zwei Teilen erschienen: Fiedler, Leslie A.: Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik. In: Christ und Welt 37, 13. 09. 1968, S. 9–10 (Teil 1) sowie Fiedler, Leslie A.: Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science-Fiction und Pornographie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen. In: Christ und Welt 38, 20. 09. 1968, S. 14–16. Zitiert wird nachfolgend aus dem Nachdruck Fiedler, Leslie A.: Überquert die Grenze, schließt den Graben! (1968) In: Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Hrsg. von Uwe Wittstock. Leipzig: Reclam 1994, S. 14–39. 15 Noch 25 Jahre später muss Uwe Wittstock mit Blick auf die Diskussionen um die deutsche Literatur betonen, dass »bei uns mit eifernder Insistenz die E-Literatur von der U-Literatur geschieden wird, wobei die ernste, wie ihr Name schon sagt, ernst zu sein hat und die andere als wertlos gilt.« Wittstock, Uwe: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995, S. 25.

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bedient und genutzt werden: Western, Science Fiction und Pornographie.16 Fiedlers Hoffnung bestand darin, dass die Literatur ihren sogenannten »antiseriösen«, aufstörenden Charakter wiedergewinnt, indem sie das von modernen Mediengesellschaften produzierte Material für literarische Darstellungen nutzbar macht. Mit und durch die audiovisuellen Medien würden neue (Trivial-) Mythen weltweit popularisiert. »Aber die Helden der Comic Books stehen nicht allein«, so Fiedler. »Aus der Welt des Jazz und der Rockmusik, aus Zeitungsschlagzeilen und politischen Karikaturen, aus alten Filmen, die durch ihr Wiedererscheinen im Fernsehen Unsterblichkeit erhalten, aus dem idiotischen Geschwätz, das aus den Autoradios dringt, erwachsen neue Antigötter und Antiheroen.«17 Für Fiedler gehören fiktive Comic- und Western-Helden wie Supermann, Batman und Captain Marvel, Filmstars wie Humphrey Bogart, James Dean, Jean Harlow, Marilyn Monroe, Rock- und Jazzmusiker wie Elvis Presley, Charlie Parker, John Lennon sowie Polit-Stars wie John F. Kennedy zu den populären Mythen. Diese Figuren bzw. Personen seien es, die Projektionsflächen für kollektive Phantasien abgeben würden und Träume der spätkapitalistischen Industriegesellschaft verkörperten. In diesen Figuren sei Sinn bzw. (vergangene) Wirklichkeit abgelagert. Daher handle es sich bei den Figuren, diesen populären Mythen aus Film, Werbung und Fernsehen, um »symbolische Objektivationen«, in denen sich reale Alltagserfahrungen der Rezipienten niederschlagen.18 Mit seiner Attacke zielte Fiedler darauf, die existierende Grenze zwischen ›Hoch‹ und ›Niedrig‹ nieder zu reißen, also tradierte Normen zu relativieren und auf einen notwendigen Wandel der Literaturbegriffe aufmerksam zu machen. Literatur sollte sich öffnen für die Wirklichkeit und die Aufnahme neuer Stoffe, Themen und Darstellungsweisen. Fiedlers Polemik war nicht zuletzt der Versuch, der Literatur im Medienzeitalter eine neue Rolle zuzuweisen. Buch und Literatur würden nicht verschwinden oder untergehen, sondern im Gegenteil: Die Existenz der Medien eröffne der Literatur neue Chancen. Gegenwärtige Entwicklungen bestätigen Fiedlers Prognose, denn in der Tat bietet der Bezug auf die zeitgenössische Populärkultur der Literatur erstens die Möglich16 Auf Fiedler ist in meinem Beitrag zur Pop-Literatur verwiesen. Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur. In: Pop-Literatur. Text + Kritik. Sonderband. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer. München: Edition Text + Kritik 2003, S. 234–257. Im Beitrag selbst werden aus Platzgründen die Positionen von Fiedler aber nicht dargestellt. 17 Fiedler, Überquert die Grenze, schließt den Graben! 1994, S. 35. 18 Vgl. Schäfer, Pop-Literatur 1998, S. 35; für Fiedler haben die vermeintlich trivialen Genres wie Western und Science-Fiction mit ihren Figurationen und Geschichten deshalb Bedeutung, weil sie nie zur Hochkultur gerechnet worden seien und daher noch im Zustand der Unschuld existierten. Ein Beispiel war für Fiedler die Pop-Art, die in der Bildenden Kunst auf Alltagsgegenstände zurückgreift und auf diese Weise die Formen- und Themenvielfalt vergrößert bzw. erneuert hat.

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keit, mit eben diesen Elementen zu spielen und sie zu kombinieren. Und zweitens kann Literatur sich durch Intermedialität auszeichnen, ja diese zu einer neuen künstlerischen Strategie ausbauen. Zu den engagierten Befürwortern des Ansatzes von Leslie Fiedler gehörte Rolf Dieter Brinkmann, und wie jener vertrat er die Position, dass durch die »Hereinnahme populären Materials, das von vornherein zwar ›ausgezehrt‹ ist, jedoch nicht mit einer hohen ›kulturellen‹ Bedeutung aufgefüllt« sei, die Bewegungslosigkeit in der deutschen Literatur aufgebrochen werden könne.19 Unter Verweis auf Marcel Duchamps Ready-made-Prinzip votierte Brinkmann dafür, in der Literatur die »Überfülle an Material« aufzunehmen. Literatur dürfe um den Preis der Selbsterhaltung »nicht in der Schmollecke liegenbleiben als ein loser Haufen alter abgetragener Kleider, aus dem die Stimme Frank Sinatras oder Udo Jürgens’ kommt«. Programmatisch entwarf Brinkmann einen weiten Begriff von Literatur, denn die habe »auszugehen von dem, was ist – sie hat sich auszuweiten, offen für den ständigen Wechsel.« Entgegen einer Vorstellung, die für Literatur(geschichte) gleichsam eine Fortschrittsmetapher nach sportlichen Prinzipien entwirft, also dem »schneller, höher, weiter«, karikierte Brinkmann ein simples »Denken in Folgerichtigkeiten« und notiert: »Kunst schreitet nicht fort, sie erweitert sich.«20 Genau das ist es, was in der Folgezeit auch für das Handlungs- und Symbolsystem KJL eine Rolle spielte. Vor genau diesem Hintergrund der »Erweiterung« sind die Entwicklungen bis in die Gegenwart zu sehen, wobei der Eindruck entsteht, dass es Tendenzen gibt, die diese »Erweiterung« in Frage stellen, sich mithin eine Gegenbewegung formiert hat, die man im »System Politik« in den späten 1950er und 1980er Jahren als »Roll-Back« bezeichnet hätte.

19 Brinkmann, Rolf D.: Der Film in Worten. In: ACID. Neue amerikanische Szene (1969). Hrsg. von Rolf D. Brinkmann und Ralf-Rainer Rygalla: Reinbek/Hamburg: Rowohlt 1983, S. 291; die Tatsache, dass der Name von Rolf Dieter Brinkmann in der Gegenwart von manchen inzwischen fast schon rituell gebraucht wird und die Folie für eine mediale Selbstinszenierung abgibt, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Positionen und Texte Ende der 60er und 70er Jahren abgewehrt und im Bereich der Germanistik nur von wenigen wirklich ernsthaft bedacht wurden. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Jörgen Schäfer (Anm. 8): vgl. auch Schulz, Gudrun/Kagel, Martin (Hrsg.): Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Beiträge des 1. Internationalen Symposiums zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta: Eiswasser 2001. 20 Ebd., S. 387.

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Was Literatur (nicht) leistet oder Mediale Aufstörungen?

Die nachfolgenden drei Exempel beziehen sich auf das Handlungs- und Symbolsystem Literatur und betreffen die Allgemeinliteratur wie auch die KJL. Wenn vom »Handlungssystem Literatur« die Rede ist, dann meint dies ein spezifisches Teilsystem, das sich von den übergeordneten Systemen von Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien, Kultur durch besondere Handlungen (systemspezifische Handlungen = Handlungsrollen) unterscheidet, ja von ihnen abgrenzt. Konkret geht es um die Handlungsrollen Produktion, Distribution und Rezeption/Verarbeitung. Unter »Literatur als einem Symbolsystem« versteht man vereinfacht gesagt die aus den Handlungsrollen Produktion und Distribution hervorgegangenen Texte mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, Gattungen, Genres.21 Kurzum, es geht um die Gesamtheit der literarischen Texte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen und gelesen werden können.

Beispiel 1 Am 21. Juni 2020 wurde bekannt, dass Helga Schubert, die 1975 mit dem Erzählungsband »Lauter Geschichten« beim Ostberliner Aufbau-Verlag in der DDR ihr erfolgreiches Debüt hatte, den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 erhält. Rundum gab es freudige Reaktionen, zumal Helga Schubert mit 80 Jahren die älteste Teilnehmerin und Preisträgerin war. In Folge gab es verschiedene Interviews mit der Autorin. Ein Ganzseitengespräch erschien unter dem Titel »Im Widerspruch frei« in der Süddeutschen Zeitung vom 27./28. Juni 2020. In dem Gespräch finden sich diverse Einlassungen, etwa der Art, dass Helga Schubert – wie sie sagt – durch ihre DDR-Biographie »vierzig Jahre ihres Lebens fehlen« oder in der DDR nur jene Abitur machen konnten, deren Eltern in der SED waren, die seien dann »aufgestiegen«. Der Interviewer zielt mit den weiteren Fragen darauf, dass die Prämierte sich zu kanonisierten Autorinnen wie Anna Seghers und Christa Wolf äußern kann. Beiden wird »Doppelgesichtigkeit« bescheinigt und zu Christa Wolf wird Folgendes notiert: »Sie kam aus der nationalsozialistischen Zeit, hat die stalinistische Zeit durchlebt, wurde dann Kandidatin des ZK der SED, hat vorher noch für die Staatssicherheit gearbeitet. Diese autoritären Strukturen, die viele in sich aufrechterhalten, sind wirklich sehr gefährlich.«22 Allerdings muss man schon etwas genauer die 1980er Jahre be21 Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2021, S. 31–46. 22 »Man muss die Widersprüche in sich annehmen«. Bachmannpreisträgerin Helga Schubert spricht über das Trauma der Diktatur, die Frage, ob die DDR Glück bereithielt und die blinden Flecken im westlichen Blick. Interview von Felix Stephan. In Süddeutsche Zeitung, 29. Juni 2020.

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trachten, von denen Helga Schubert spricht. Auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR 1987 hielt die Autorin einen Diskussionsbeitrag, in dem sie sich für die Möglichkeit bedankt, im zentralen Parteiarchiv Akten einsehen zu dürfen, die mit ihrem »nächsten Buch über Denunziantinnen in der Nazi-Diktatur«23 zusammenhingen. Letztlich berichtet Helga Schubert von der Einsicht in jene Akte, die auch Hans Fallada von Johannes R. Becher zur Verfügung gestellt worden war und die die Grundlage für seinen Roman »Jeder stirbt für sich allein« (1946) bildete. Die Autorin Schubert stellt heraus, dass die wirkliche Geschichte um Verhaftung, Folter und Hinrichtung sich anders zugetragen hat, als Hans Fallada dies dann in seinem Roman erzählt. Und sie notiert: »Ein Schriftsteller konnte so kurz danach aus historischen Gründen, vermute ich, den Hergang nicht so darstellen, wie er sich zugetragen hatte, weil es zunächst wichtiger erschien, ein aufrechtes Arbeiterehepaar darzustellen. Und so ging das Buch um die Welt.«24

Weil das so ist, habe sie auch ein Beitrag von Hedda Zinner so angesprochen, »daß es nämlich auch heute noch, zweiundvierzig Jahre nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus in Deutschland, selbst für die Autoren unter den antifaschistischen Widerstandskämpfern schwierig sei, ›Ratschläge von direktiver Kraft‹ zurückzuweisen, die die Veröffentlichung blockieren.«25

Die Schlussfolgerung, die Helga Schubert zieht, lautet dann: »Damit könnte, meine ich, auch eine ›konfliktlose Heroisierung der Vergangenheit‹, um auf eine Formulierung von Hedda Zinner zurückzugreifen, verhindert werden.«26 Abgesehen davon, dass Helga Schubert falsch zitiert, überdeckt ihr Beitrag auf dem Kongress die kritische Darstellung von Hedda Zinner, die herausstellt, dass Kunst mit der Wirklichkeit »im Rahmen des Faktischen« frei umgeht.27 »Sie erfindet Figuren und wählt Wirklichkeitsausschnitte nach ihrem ästhetischen Ermessen«, notiert die damals zweiundachtzigjährige Autorin. »Zuweilen stellt sie sogar bewußt oder unbewußt, Wirklichkeit falsch dar – denken Sie etwa an Schillers ›Maria Stuart‹! – und kann dennoch richtige, tiefe, progressive Emotionen und Haltungen vermitteln. So einfach, so kompliziert ist das.«28 Aus den genannten Gründen polemisiert Hedda Zinner gegen Personen und Institutio23 Schubert, Helga: Diskussionsbeitrag. Arbeitsgruppe II. Literatur und Geschichtsbewusstsein. X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin/Weimar: Aufbau 1987, S. 93–95, hier: S. 93. 24 Ebd., S. 95. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Zinner, Hedda: Diskussionsbeitrag. Plenum. X. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik. Arbeitsgruppe 1. Berlin/Weimar: Aufbau 1987, S. 64–68, hier: S. 66. 28 Ebd.

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nen in der DDR, die für sich in Anspruch nehmen, »die ganze historische und künstlerische Wahrheit zu kennen«. Solche falsch verstandene Sachkompetenz habe, so Hedda Zinner, fatale Folgen. »Es behindert die Ausbildung, Weiterbildung und Neubildung gesellschaftlicher Wertungen ethisch-moralischer, politisch-ideologischer wie ästhetischer Art. Es behindert den gesellschaftlichen Verständigungsprozeß über solche Wertungen.« Und es folgt der für die Endachtziger Jahre wichtige Satz: »Indem man die Kunst aus diesem Dialog ausschließt, desensibilisiert man die Gesellschaft, beraubt sie eines der wichtigsten ›Sensorien‹«.29 In Helga Schuberts Einlassung bleibt vom kritischen Impetus der Rede von Hedda Zinner auf dem Kongress nichts! Zur gleichen Zeit, da Helga Schubert mit diesem Redebeitrag auftrat, den man eher als »staatstragend« bezeichnen kann,30 hielt Christa Wolf in München – sich den eigenen »blinden Flecken« stellend – ihre »Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis« und notierte: »Mir scheint, daß vielen Angehörigen meiner Generation – unterschiedlich ausgeformt je nach den unterschiedlichen Angeboten und Zwängen in Ost und West – von ihren frühen Prägungen her der Hang zur Ein- und Unterordnung geblieben ist, die Gewohnheit zu funktionieren, Autoritätsgläubigkeit, Übereinstimmungssucht, vor allem aber die Angst vor Widerspruch und Widerstand, vor Konflikten mit der Mehrheit und vor dem Ausgeschlossenwerden aus der Gruppe. Es ist uns schwergefallen, erwachsen zu werden. Selbständigkeit, Souveränität zu erwerben und eine im guten Sinn soziale Haltung. Das ist eine Erfahrung, die ich von innen her kenne und die nicht beschrieben ist, eine noch uneingelöste Schreibschuld.«31

Helga Schubert, die sich im Verlauf des Gesprächs weiter mit Christa Wolf auseinandersetzt, teilt dann mit, dass Joachim Walther »ihre Akte als ›IM Margarete‹ gefunden« hat und darauf Christa Wolf »nicht mit ihm gesprochen hat«. Hier nun sind Denunziationen am Werk, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben, denn: Dass Joachim Walther die Akte »IM Margarete« gefunden hat, hat der nie behauptet und es ist auch schlichtweg falsch. Richtig ist, dass Christa Wolf vier Jahre vor der Veröffentlichung von Joachim Walthers Studie »Sicherungsbereich Literatur« ihre Geschichte selbst als erste in der Berliner Zeitung publik machte. Und drei Jahre vor der Veröffentlichung von Walter ist auf ihren Wunsch im

29 Ebd., S. 67. 30 Es sei deutlich hervorgehoben: Der Bezug auf Positionen von Helga Schubert auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 erfolgt nicht, um die Autorin nachträglich zu kritisieren, sondern einzig deshalb, weil Helga Schubert sich in dem Gespräch auf die DDR und auch die 1980 Jahre bezieht und diese zum Ausgangspunkt der Kritik an Anna Seghers und Christa Wolf macht. 31 Wolf, Christa: Dankrede für den Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München. In: Angela Drescher (Hrsg.): Christa Wolf – Ein Arbeitsbuch. Studien – Dokumente – Bibliographie. Berlin: Aufbau 1989, S. 448–453, hier S. 459.

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Luchterhand-Verlag das Buch »Akteneinsicht Christa Wolf« erschienen, dass die Akte vollständig veröffentlicht. Zu bedenken ist ebenfalls Folgendes: Wer würde wohl in der Gegenwart vor einem großen Plenum die Zivilcourage aufbringen, allein und auf sich gestellt den versammelten Mächtigen, die großen Zeitungsredaktionen eingeschlossen, sich öffentlich gegen die herrschende Meinung zu stellen und sich für einen Kollegen, einen Autor, einsetzen, der im Zentrum einer vernichtenden Kritik steht? Christa Wolf hat es getan. Das war auf dem 11. Plenum des ZK der SED 1965, dem sogenannten Kahlschlags-Plenum, und der Autor, um den es ging, das war Werner Bräunig.32 Davon ist in den Einlassungen von Helga Schubert nicht die Rede, und der Interviewer fragt nicht kritisch nach. Er kann es nicht oder will es nicht.

Beispiel 2 Eine Woche später erschien im Feuilleton der Süddeutschen ein Beitrag von Birgit Schmitz, die von 2017 etwa zwei Jahre den Verlag Hoffmann und Campe geleitet hatte und seither als freie Lektorin arbeitet. Birgit Schmitz verwies auf den Bestseller »White Fragility« (2011) von Robin DiAngelo aus den USA »über die Unfähigkeit weißer Menschen, ihre Privilegien zu hinterfragen«33. Diese Einstellung sieht Schmitz auch in deutschen Verlagen. Das mache – so die communual voice – »uns blind«. Hinzu komme bei Autoren eine Klage, die so laute: »Früher durfte man noch, aber heute muss man ja aufpassen, was man schreibt.« Solche Sätze, heißt es weiter, »habe ich mehr als einmal von Autoren gehört, und ich benutze hier bewusst die männliche Form, denn diese Behauptung trafen ausnahmslos ältere, weiße Männer«. Nachdem eingestanden wird, dass »die Verlagsbranche schon länger über Verschiedenheit und Diversität, sowie über sexistische, rassistische oder antisemitische Vorstellungen in Texten [diskutiert], die gerade verlegt werden oder lange Zeit verlegt wurden«, geht es um den Roman »American Dirt« (2020) von Jeanine Cummins, der in den USA dafür gefeiert wurde, »das Leid der mexikanischen Migranten und Migrantinnen sichtbar gemacht zu haben.« Dann aber hätten sich Autorinnen und Autoren hispanischer Herkunft darüber beklagt, dass der Roman »ein Musterbeispiel für kulturelle Aneignung« sei. In Deutschland habe man diese Kritik vor allem als Vorwurf an die Autorin gelesen, die vermeintlich »nicht den richtigen ethnischen 32 Vgl. Gansel, Carsten: Störfall im Literatursystem DDR. Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz«. In: Der Deutschunterricht 66, 2014, H. 4, S. 46–57. 33 Hier und nachfolgend Schmitz, Birgit: Neues Lesen, Süddeutsche Zeitung vom 03. 07. 2020. (letzter Zugriff: 16. 03. 2022).

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Hintergrund« habe. (»Sie ist in Main in einer weißen Mittelschichtsfamilie aufgewachsen, ihre Großmutter stammte aus Puerto Rico«). Dazu der Kommentar von Schmitz: »Wie konnte es sein, so der Tenor in Deutschland, dass es plötzlich wichtiger war, wer etwas schreibt, als das, was geschrieben wird? Da schienen wieder einmal die dunklen Mächte der Political Correctness und Identitätspolitik am Werk.« Daher sei der Fall das perfekte Beispiel für »weiße Empfindlichkeit«. Man würde »die Anderen zum Problem« machen, »wenn sie auf ungerechte Strukturen in der Verlagsbranche aufmerksam machten«. Schließlich fordert Schmitz, dass es notwendig sei, sich gegen die »tagtäglich blödsinniger werden Klagen [zu] stellen, dass nun vor allem ›weiße alte Männer‹ diskriminiert« würden: »Niemand braucht ›Zensur‹ zu rufen, wenn der einst unangreifbar erscheinende Kanon der Weltliteratur auf antisemitische, sexistische und rassistische Vorstellungen überprüft wird. Kein Verlag schaut auf eine unschuldige Publikationsgeschichte zurück.«

Die hier formulierte Position, die in Diskussionen um Literatur in der Gegenwart zunehmend eine Rolle spielt, geht nolens volens davon aus, dass es Autorinnen und Autoren versagt sein soll, sich des historischen Materials und der Geschichte von Personen in dem Fall zu bemächtigen, da sie nicht zu der »Gruppe« gehören, von der erzählt wird. Vor fast 20 Jahren, also zu einem Zeitpunkt, da die aktuellen Debatten auch nicht ansatzweise absehbar waren, hat Norbert Gstrein überzeugend gezeigt, wie »beim Erzählen eine neue Art von Realität konstruiert wird«34. Auf die Unterstellung, dass er sich beim Schreiben seines Romans »Das Handwerk des Tötens« (2003) vermeintlich eine fremde Geschichte angeeignet habe, argumentiert er, dass auch sein früherer Text »Die englischen Jahre« (1999) nicht hätte entstehen dürfen, »weil das unter anderem eine jüdische Geschichte« gewesen sei »und damit nicht meine«.35 Er findet es problematisch, »dass Leute Anspruch auf eine Geschichte erheben wie auf einen Besitz«. Wenn das so wäre, dann würde man einem »Nichterzählen das Wort reden, einem flächendeckenden Schweigen«, denn die Toten können »nicht mehr erzählen«.36 Unter solchen Vorzeichen hält er es für absurd, »in Zuständigkeiten zu denken, die sich aus der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben oder aus einem wie auch immer zu definierendem wirklichen oder allein angemaßten Naheverhältnis«.37 Norbert Gstrein ist zuzustimmen, denn wenn es in der Literatur nach »Zuständigkeiten« ginge, dann wäre – um nur ein Beispiel zu geben – nicht nur Ursula Krechels 2012 mit dem »Deutschen Buchpreis« ausgezeichneter 34 Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 10. 35 Ebd., S. 52. 36 Ebd., S. 52f. 37 Ebd., S. 53.

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Roman »Landgericht« nie entstanden und im kulturellen Gedächtnis würden weiterhin jene »weißen Flecken« existieren, die der Roman ausfüllt. Dazu gehören nicht zuletzt das Schicksal der Re-Emigranten oder die traumatisch zu nennenden Folgen, denen jüdische Kinder und Erwachsene ausgesetzt waren.38 Mit Blick auf die USA hat Bret Easton Ellis in seinem autobiographischen Essay »Weiss« (2019) das Problem der Ausdifferenzierung in alle denkbaren Opfergruppen angesprochen. Diese »grassierende Selbstviktimierung«, also die »Selbstdefinition über etwas Schlimmes« aus der Vergangenheit würde eine Barriere darstellen, um am »gesellschaftlichen Leben« ernsthaft teilzunehmen. »Einen Witz nicht anhören zu können«, so Ellis, »bestimmte Bilder nicht anschauen zu können (ein Gemälde oder sogar einen Tweet), alles Mögliche entweder sexistisch oder rassistisch einzustufen (ob berechtigt oder nicht) und damit als schädlich und unerträglich – weshalb es auch niemand sonst hören oder ansehen oder ertragen sollte –, das ist eine neue Manie, eine Psychose, die unsere Kultur gehegt und gepflegt hat. Dieser Wahn läßt Leute glauben, dass unser Leben ein kantenfreies Utopia sein sollte, ganz nach ihren zarten und komplizierten Empfindungen eingerichtet.«39

Beispiel 3 Am 11. Januar 2019 fand sich in der Süddeutschen Zeitung ein Beitrag mit dem Titel »Wie gleichberechtigt sind Kinderbücher?« von vier Redakteurinnen der SZ. Sie hatten nicht nur, wie für die Medien üblich, aus einer Studie zitiert. Sie hatten sich selbst an einer Datenrecherche versucht. Es geht also nicht um die Analyse von Texten, mithin darum, das »Was« und »Wie« des Erzählens zu hinterfragen, sondern einzig darum, nach Schlagworten zu suchen. Bereits zu Beginn des Beitrags sind Zielrichtung und Vorgehen klar konturiert. Erich Kästners »Emil und die Detektive«, der gewissermaßen die Geburtsstunde von »Romanen für Kinder« ist, gerät wegen seiner Figurenanlage unter Kritik. »Der Held dieser Geschichte ist ein Junge und Emils Bande besteht nur aus Jungs«, heißt es. »Es kommt auch ein Mädchen vor, das Pony Hütchen heißt, Emils Cousine ist und am Abenteuer Diebesjagd so teilnimmt.« Zitiert wird sodann ein erster Hinweis des Erzählers, der so lautet: »Pony Hüttchen radelte strahlend in den Hof […], sprang aus dem Sattel, begrüßte Vetter Emil, den Professor und die übrigen und holte dann einen kleinen Korb, den sie

38 Vgl. Carsten Gansel: Erinnerungskulturen zwischen Verdrängen und Vergessen: Ursula Krechels »Landgericht« und die »verlorenen Erinnerungen« der Nachkriegszeit. In: Der Deutschunterricht 71, 2019, H. 6, S. 32–43. 39 Ellis, Breat Easton: Weiss. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019, S. 174.

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an der Lenkstange festgebunden hatte. ›Ich bring euch nämlich Kaffee mit‹, krähte sie, ›und ein paar Buttersemmeln!‹«40

Der Kommentar lautet daraufhin wie folgt: »Kaffee und Buttersemmeln statt Detektivarbeit also. Mädchen, das muss man daraus schließen, haben bei einem richtigen Abenteuer nichts verloren. Es sei denn, sie versorgen die Jungs. Klar: Emil und die Detektive ist 1928 (sic) erschienen, vor 90 Jahren. Aber Emil wird immer noch gelesen und vorgelesen.«41

Allem Anschein nach wurde aber selbst dieser Klassiker nicht hinreichend gelesen, denn dann hätte auffallen müssen, dass es vor allem der kleine Dienstag ist, der den Auftrag erhält, Telefondienst zu übernehmen. Im Figurendialog wendet der Protagonist ein: »›Ach, ich möchte aber lieber dabeisein, wenn der Verbrecher gefangen wird. Kleine Jungens kann man bei so was sehr gut verwenden.‹« Die Antwort vom Professor lautet: »›Du gehst nach Hause und bleibst am Telefon. Es ist ein sehr verantwortungsvoller Posten.‹« Der kleine Dienstag fügt sich in sein Los: »›Na schön, wenn ihr wollt‹«, lautet die Antwort.42 Ponny Hütchen allerdings spielt im Figurenensemble im weiteren eine zentrale Rolle. Aber darum geht es den Beiträgerinnen allem Anschein nach gar nicht, denn das Ergebnis der Schlagwortsuche steht vorab fest: »Was Mädchen in der Tendenz vorgesetzt bekommen, ist eher einseitige Ernährung, zu süßlich, zu fad, zu kalorienarm. Denn gleichberechtigt sind Jungen und Mädchen in den Kinderbüchern allzu oft nicht. Und das ist ein Problem, denn Kinderbücher bilden, prägen, sozialisieren, erziehen mit. Und sie können die Welt verändern, zumindest die zwischen Kuscheltieren und Murmelbahn.«43

Um zu diesem Ergebnis zu kommen, hatten die Journalistinnen eine Schlagwortanalyse in der Bibliothek des Instituts für Jugendbuchforschung in Frankfurt am Main vorgenommen. Dort seien die »Schlagworte ›Abenteuer‹ und ›Abenteuererzählung‹ wesentlich häufiger mit dem Schlagwort ›Männlicher Protagonist‹ verknüpft als mit ›Weiblicher Protagonist‹ (sic)«. Die Erkenntnis lautete: »Männliche Helden erleben unserer Analyse zufolge im Schnitt weit mehr als doppelt so viele Abenteuer wie ihre weiblichen Pendants.« Die Erlebniswelt von Mädchen dagegen, das zeige die Schlagwortanalyse, kreise stattdes-

40 Ebd. 41 Ebd. 42 Kästner, Erich: Emil und die Detektive. Ein Roman für Kinder. 144. Aufl. Zürich: Atrium 2000 [1929] S. 88. 43 Hier und nachfolgend Brunner, Katharina/Ebitsch, Sabrina/Hildebrand, Kathleen/Schories, Martina: Blaue Bücher, rosa Bücher. Süddeutsche Zeitung vom 11. 01. 2019. (letzter Zugriff: 16. 03. 2022).

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sen »häufiger um Themen wie Tiere, Schule und Familie und verlässt damit die bekannte Alltagswelt weniger.« Es wird dann auch ein Beispiel aufgeführt: »Zum Beispiel die omnipräsente Conni mit mittlerweile mehr als 100 Geschichten, in denen ihre Leser sie in den Kindergarten oder später in die Schule begleiten. Mal backt Conni Pfannkuchen, mal geht sie reiten. Meistens (nicht immer – gerade in den jüngeren Ausgaben scheint der Verlag neue Impulse zu setzen) macht sie all das mit Mama, weil Papa auf Arbeit ist. Wenn Mama sich den Fuß verletzt, hilft Conny ihr und macht das, was Mama sonst tun würde: kochen, staubwischen, staubsaugen.«

Die Beiträgerinnen wissen mitzuteilen, dass die offensichtliche »Kluft zwischen den Geschlechtern« keine Zahlenspielerei ist, sondern maßgeblich: »Weil die Figuren in Kinderbüchern den jungen Lesern Orientierung geben, weil sich Kinder mit den Figuren in ihren Büchern identifizieren (wollen), weil solche Rollenvorbilder nachweislich das Selbstbewusstsein stärken.« Und abschließend ergibt sich folgende Erkenntnis: »Wenn die Erlebniswelt der Figuren stark auf ihr Geschlecht hin zugeschnitten und damit eingeschränkt ist, werden Kindern nicht nur beim Lesen Erfahrungen und Möglichkeiten vorenthalten, sondern auch in ihrer Vorstellung von der Wirklichkeit.«

Um diese These zu untermauern, die nichts mit Entwicklungen in der gegenwärtigen KJL zu tun hat, wird schließlich ein Autor zitiert, der zwar nicht Literaturwissenschaftler oder mit Arbeiten zur KJL ausgewiesen ist, sondern zu »Geschlechterrollen in Kinderbüchern forscht« und mitzuteilen weiß: »Wenn immer süße Prinzessinnen oder tollkühne Helden abgebildet sind, hat das einen subjektivierenden Effekt auf die Kinder. Das ist dann in Ordnung, wenn sich Kinder ohnehin damit identifizieren können – aber wenn ein Mädchen nicht die süße Prinzessin sein, sondern Abenteuer erleben möchte, wirkt das einschränkend.«44

Nun ist es nicht möglich, die Entwicklungen seit 1968 schlichtweg zu ignorieren. Von daher ist es zu begrüßen, das mit Caroline Roeder eine ausgewiesene Wissenschaftlerin zu Wort kommt, die zur KJL forscht und mit Blick auf die Geschichte der KJL treffend vermerkt: »In den Siebzigern hat sich die Mädchenliteratur emanzipiert, es stehen mehr weibliche Figuren im Mittelpunkt.«45 Es folgt zwar noch ein Hinweis auf Astrid Lindgrens Kinderroman »Ronja Räubertochter«, der 1981 erschien und auf Roald Dahls »Matilda« (1988), allerdings findet die Breite der Arbeiten zur Theorie und Geschichte der Mädchenliteratur nicht

44 Burghardt, Lars zitiert nach Brunner/Ebitsch/Hildebrand/Schories, Blaue Bücher, rosa Bücher. 2019. 45 Roeder, Caroline zitiert nach Brunner/Ebitsch/Hildebrand/Schories, Blaue Bücher, rosa Bücher. 2019.

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einmal Erwähnung.46 Letztlich hätten jedoch die »Galionsfiguren einer frauenbewegten Zeit« nicht ausgereicht, »um einen Umsturz auf dem gesamten Buchmarkt anzuzetteln«. Derzeit schlage das Pendel »wieder in eine andere Richtung« aus, was mit einem »Gendermarketing« zusammenhänge, so die These der SZ-Autorinnen.47 Wenig später gesteht der Erziehungswissenschaftler ein, dass Gleichberechtigung kein neues Thema sei, »aber wenn man in Bilderbücher schaut, geht es dort nicht so gleichberechtigt zu, wie wir es vielleicht gerne hätten«48. »Wie wir es gerne hätten« dieser Hinweis signalisiert, dass es allem Anschein nach in der Gegenwart Instanzen gibt, denen wie im ausgehenden 18. Jahrhundert das Recht zukommt bzw. die es sich nehmen, die »Eignung« von Texten für junge Leser zu prüfen. Damals war es vor allem die Institution Kirche, die neben Erziehern, Pädagogen und Eltern vorgab, welche Texte man Kindern zuteilen könne. Schließlich unterbreiten die Autorinnen nach dem Hinweis, dass bei 344 Titeln, die auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis standen, Geschlechterstereotype »offenbar eine weniger große Rolle spielen«, einen Vorschlag: »In einem guten Bücherregal oder im Idealfall in ein und demselben Buch stehen daher eben nicht nur Rückversicherungen, dass die Welt schon so in Ordnung ist, wie sie der Mehrheit erscheint. Sozusagen die Annika-Settergren-Seite des Kinderbuchmarkts. Sondern vertreten ist dort auch die Pippi-Langstrumpf-Seite: Irritationen, Visionen – eben das, was darüber hinaus noch denk- und machbar ist.«

Die hier praktizierte Einordnung und Bewertung von Texten, die eingestandenermaßen eine Ausnahme sein mag, provoziert einen Vergleich mit Verhältnissen, von denen man glaubt, dass sie längst überwunden sind und in dieser Weise nicht reaktivierbar. Man fühlt sich erinnert an einen Autor, der vor kurzem den 100. Geburtstag gefeiert hätte und der für zu den gewichtigen Autoren gehört, die für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geschrieben haben, Franz Fühmann. Auf dem VII. Schriftstellerkongress in der DDR, der 1973 stattfand, lieferte Fühmann eine Diskussionsgrundlage, die an den Kern der damaligen Widersprüche ging. Fühmann sah die Probleme der Literaturkritik letztlich im 46 Siehe die maßstabsetzenden Arbeiten u. a. von Dagmar Grenz und Gisela Wilkending. Grenz, Dagmar (Hrsg.): Mädchenliteratur. Von den moralisch-belehrenden Schriften im 18. Jahrhundert bis zur Herausbildung der Backfischliteratur im 19. Jahrhundert. Stuttgart: Metzler 1981; Grenz, Dagmar/Wilkending, Gisela (Hrsg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Weinheim/München: Juventa 1997; vgl. auch den wichtigen Aufsatz von Gisela Wilkending: Man sollte den »Trotzkopf« noch einmal lesen. Anmerkungen zu einer anderen Lesart. In: Ebd., S. 123–137. 47 Brunner/Ebitsch/Hildebrand/Schories, Blaue Bücher, rosa Bücher. 2019; die These wird unter Bezugnahme auf Ralf Schweikart, Vorsitzender des Arbeitskreises Jugendliteratur, begründet. 48 Burghardt, Lars. In: Brunner/Ebitsch/Hildebrand/Schories, Blaue Bücher, rosa Bücher. 2019.

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gesellschaftlich sanktionierten Literaturbegriff. »Der Hauptmangel im Gesamtsystem der Kritik«, so Fühmann, scheine darin zu bestehen, »an der Spezifik der Literatur vorbeizusehen«. Das »spezifische Element der Literatur« könne »durch keine andere Bewußtseinskategorie ersetzt werden«. In der Folge stellt er heraus, wie unzureichend es sei, »den Inhalt eines Werkes nur von der Ideologie her zu bestimmen«. Wenn Literatur auf ihren »ideologischen Aspekt« reduziert würde, zumeist etwa auf die »Heldenwahl oder das Thema«, dann seien »seltsame Wertordnungen« die Folge. Dies zeige sich etwa, wenn man Sarah Kirschs »Zaubersprüchen« – für Fühmann ein »zauberhaftes Buch« – »Schwermütigkeit« vorwerfe und durch diese »Denunziation bereits die Kritik geleistet glaubt«.49 Dieser Auffassung liege ein, so Fühmann, merkwürdiger animistischer Glaube zugrunde, daß nämlich Gleiches durch Gleiches verursacht werde: »Mut durch das Verspeisen eines Löwenherzes, Feigheit durchs Essen eines Hasenherzes, und also auch Schwermut im Leben durch Schwermut in der Literatur und Frohsinn in allen Lebenslagen durch Frohsinn in Büchern«.50

4.

Zur Wertung von Literatur oder zwischen Kanonisierung und Dekanonisierung

Was haben die drei Beispiele mit dem in Rede stehenden Thema zu tun, also Entwicklungen in der Gegenwartsliteratur? Damit kein falscher Eindruck entsteht, es geht hier nicht um die – man wird es wohl nicht anders sagen können – denunziatorischen Aussagen einer Autorin oder um kritische Einlassungen zum Verlagswesen und die »alten, weißen Männer«. Aber es geht schon um die Rolle der Medien, die selektiv berichten, gleichwohl ihre Verstärkerfunktion wahrnehmen, politisch agieren und aufstörend bzw. irritierend in das Handlungssystem Literatur hineinwirken und deren Werteorientierungen zu beeinflussen suchen. Es geht im Falle von Christa Wolf, den Kritiken an einer vermeintlichen oder wirklichen »kulturellen Aneignung« wie auch den Aussagen zum Bücherregal um literarische Produktion, Distribution und die Rezeption. Angesprochen sind zudem das kulturelle Gedächtnis und der Kanon der Literatur. Im Kern sind mit den drei Beispielen die Bewertungskriterien für Literatur angesprochen wie auch der Literaturbegriff. Denn es ist bekannt: In historischer Perspektive und in Verbindung mit den jeweiligen Literaturbegriffen gelten im Handlungs- und Symbolsystem Literatur bestimmte Kriterien, Regeln bzw. Wertmaßstäbe für den 49 Fühmann, Franz: Diskussionsgrundlage der Arbeitsgruppe IV. Literatur und Kritik. VII. Schriftstellerkongreß der Deutschen Demokratischen Republik, 14.–16. November 1973 in Berlin. In: Neue deutsche Literatur, 1974, H. 2, S. 160–168, hier: S. 163. 50 Ebd.

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Umgang mit den Texten. Anders gesagt, es wird über spezifische Leitcodes vorgegeben, was »kommunizierbar« bzw. »nicht-kommunizierbar« ist und wo die »Grenzen des Sagbaren« (Christa Wolf) liegen.51 Von daher lässt sich eine Typologie von (axiologischen) Werten aufstellen, die eine Art Maßstab dafu¨ r abgibt, was im Rahmen eines bestimmten Literaturbegriffs als literarisch anspruchsvoll oder literarisch weniger anspruchsvoll gilt. Was publizierbar oder nicht publizierbar ist.52 Renate von Heydebrand und Simone Winko haben eine solche Typologie von axiologischen Werten vorgeschlagen. Diese Werte geben eine Art Maßstab dafu¨ r ab, was im Rahmen eines Literaturbegriffs als innovativ gilt und was nicht.53 Auch in Hinblick auf Texte der KJL lassen sich modellhaft Werte von formaler, inhaltlicher, relationaler und wirkungsbezogener Art unterscheiden. Diese axiologischen Werte sind maßgeblich für die Bewertung von Texten und letztlich auch für das Zustandekommen eines Kanons. Dabei besteht eine Art Konsens zum Begriff Kanon, der eine »strenge Auswahl von Autoren und Werken der Literatur« bezeichnet, die »eine Gemeinschaft für sich als die vollkommensten anerkennt und mit Argumenten verteidigt«.54 Auch die Unterscheidung in einen »materialen Kanon« (als Menge von Autoren und Werken) sowie einen »Deutungskanon«, der die »jeweilig maßgeblichen Kriterien (Kriterienkanon) und Methoden (Methodenkanon)« enthält, auf »Grund deren das kanonisierte Textverständnis entsteht«, ist akzeptiert.55 Am materialen Kanon unterscheidet Heydebrand den sogenannten Kernkanon, den sie als »sehr langlebige ›große Tradition‹ auch weltliterarisch gültiger Autoren und Werke« sieht sowie einen »akuten Kanon« von »geringerer Festigkeit«, der »nach dem Bedürfnis der jeweiligen Stunde eine Auswahl aus der weiteren Literaturtradition und aus der gegenwärtigen Literatur (enthält)«.56 Doch der Kanon ist keineswegs 51 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer 2006, S. 127. 52 Nun ist ein Wandel im Literatursystem, das ist weitgehend unbestritten, zunächst Folge von veränderten Wirklichkeitsverhältnissen und -erfahrungen. Jörg Schönert hat in diesem Sinne herausgestellt, dass Veränderungen im »System der Gattungen und Genre« (und ihrer Wertung) eine Reaktion auf »die Umwelt, auf die Entwicklungen in den Sozialsystemen, auf Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung« sind. Das meint auch die jeweiligen Parameter, die die Rezeption und Bewertung von literarischen Texten betreffen. Vgl. Schönert, Jörg: Zur Kategorie der Modernisierung in kultur- und literaturgeschichtlichen Rekonstruktionen. In: Differenzierung und Integration. Sprache und Literatur deutschsprachiger Länder im Prozeß der Modernisierung. Mitteilungsbulletin 2, 1993, S. 30–53, hier: S. 42. 53 Heydebrand, Renate von/Winko, Sabine: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn u. a.: Schöningh 1996. 54 Heydebrand, Renate von: Probleme des ›Kanons‹ – Probleme der Kultur- und Bildungspolitik. In: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik 4. Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen: Max Niemeyer 1993, S. 3–22. 55 Hermann Korte: Neue Blicke auf den literarischen Pantheon? Paradigmen und Perspektiven der historischen Kanonforschung. In: Der Deutschunterricht 50, 1998, H. 6, S. 15–28. 56 Heydebrand, Probleme des ›Kanons‹. 1993, S. 5.

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– wie dies der Begriff »materialer Kanon« nahelegen könnte – eine naturgegebene Größe, sondern Kanones sind »Produkte sozialer Handlungen, deren Entstehungs- und Tradierungsmechanismen zu untersuchen und kritisch zu hinterfragen« sind.57 Das bedeutet: Der Kanon und sein Entstehen hängt zusammen mit einem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. Dabei erstreckt Modernisierung sich über einen langen historischen Prozess, der im 16./ 17. Jahrhundert wie im 18./19. Jahrhundert sowie in den 1950er und dann 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts entscheidende Schübe erhalten hat. Ackerpflug, Dampflokomotive und Mikrochip sind nach Ulrich Beck in sozialwissenschaftlichem Verständnis Indikatoren, die die Prozesshaftigkeit, die lange Dauer wie den tief greifenden Wandel des gesellschaftlichen Gefüges signalisieren.58 Historisch gesehen – und das ist für die Literatur, eben auch die KJL, von entscheidender Bedeutung – werden im 18./19./20. Jahrhundert nicht nur die Ideen der politischen und kulturellen Moderne diffundiert und in entsprechenden Institutionen materialisiert (parlamentarische Demokratie, allgemeines Wahlrecht, Rechtsstaat, universalistische Prinzipien der Menschenrechte), sondern eben auch ihre gegenmodernen Elemente wie Unterdrückung von Frauen/Kindern, Ausbeutung der Dritten Welt, Nationalismus, Rassismus, Militarismus, Weltkriege, Konzentrationslager, Umerziehungslager umgesetzt. Die moderne Ausdifferenzierung der Geschlechter und Lebensalter ist mit der gegenmodernen Tendenz gekoppelt, dass Frauen und Kinder von den »unteilbaren Prinzipien der Moderne wie Freiheit und Gleichheit jenseits der Beschränkung von Geburt« zunächst ausgeschlossen bleiben.59 Gleiches galt in den USA für die sogenannte schwarze Bevölkerung, ja für Minderheiten insgesamt. Insofern war der in den USA entbrannte Kanonstreit seit den 1970er Jahren Ausdruck einer längst fälligen Demokratisierung, die gegenmoderne Elemente (keine gleichen Rechte für Minderheiten) werden modernisiert, die Käfige aufgesprengt. Mit dem Kanonstreit wird die Struktur des institutionalisierten Gedächtnisses problematisiert. In kulturgeschichtlicher Perspektive und mit Beate Lachmann könnte man for57 Barsch, Achim: Probleme einer Geschichte der Literatur als Institution und System. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 19, 1994 H. 2, S. 207–225, hier: S. 208f. 58 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986. Ulrich Becks »Risikogesellschaft« war die Grundlage für die Darstellung des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Modernisierung und Herausbildung einer modernen KJL, wie sie im Band des Verfassers: Moderne Kinder- und Jugendliteratur (1999/2021) vorgeschlagen wurde. Auch die weiteren Texte von Ulrich Beck wie »Die Erfindung des Politischen« (1993) oder der mit Elisabeth Beck-Gernsheim herausgegebene Band »Riskante Freiheiten« (1994) sind im Zusammenhang mit Modernisierungsfragen von KJL ebenso bedeutsam wie die Publikationen von Ulrich Beck und Anthony Giddens zur »Zweiten Moderne«. Vgl. u. a.: Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. 59 Beck, Risikogesellschaft. 1986, S. 179.

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mulieren: Wenn die Diskrepanz zwischen institutionalisierter Geschichte (Kernkanon) und ausgegrenzter Geschichte (Gegenkanon, Negativkanon) »unerträglich wird und die Kultur in eine Aporie treibt, werden Modi der Rekonstruktion durchgesetzt, die Fälschungen aufdecken und Lücken schließen, globale Reinterpretationen der Nationalgeschichte bzw. des Kanons versuchen«.60 Dies gilt – und das zeigt die postkoloniale wie die feministische Kanonkritik in den USA – eben nicht nur für totalitäre Gesellschaften (»weiße Flecken«), sondern auch für moderne westeuropäische. Dass dies Vertreter eines klassischen Kanons wie Harold Bloom61 oder Jan Gorak62 auf den Plan rief, ist nicht pauschal als konservativ abzuwehren. Denn Bloom oder Theodore Ziolkowski63 machen nichts anderes, als dass sie die postkolonialen oder feministischen Revisonsvorschläge mit dem bis dahin gültigen Literaturbegriff kontern und politische bzw. ideologiekritische Parameter als kanonunwürdig ablehnen. Langfristig gesehen werden also feministische Texte, übrigens auch solche der KJL, nur dann eine Chance haben, in den von der Literaturwissenschaft gepflegten Kanon aufgenommen zu werden, wenn sie dem dominanten Literaturbegriff entsprechen. Dieser Literaturbegriff hat trotz eingetretener Umakzentuierungen seit Beginn des neuen Jahrtausends nach wie vor auf Originalität wie Innovation gesetzt. Es steht die Frage, ob die hier durch die drei Exempel pointiert angedeuteten Tendenzen langfristig zu Veränderungen führen werden. Anders gefragt: Was bedeuten die angedeuteten Befunde in theoretischer Hinsicht?

5.

Zur Logik des Systems Literatur oder Wie man gewünschte Geschichten baut?

Wenn es darum geht, die Veränderungen bzw. den Wandel in der KJL theoretisch fassen, dann besteht die Möglichkeit, auf die Systemlogik des Literatursystems zu sprechen zu kommen. Wie die anderen Systeme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Kultur) lässt sich auch das Literatursystem – ausgehend von der Luhmannschen Systemtheorie – mit fünf Parametern kennzeichnen: Es sind

60 Lachmann, Beate: Kultursemiotischer Prospekt. In: Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartkunst. Hrsg. von Kai-Uwe Hemken. Leipzig: Reclam 1996, S. 47–64. 61 Bloom, Harold: The Western Canon: The Books and School of the Ages. New York u. a.: Harcourt Brace 1994. 62 Gorak, Jan: The Making of the Modern Canon. Genesis and Crisis of a Literary Idea. London u. a.: Athlone 1991. 63 Ziolkowski, Theodore: Das Neueste aus USA: Der Text als Feind. In: Jahrbuch der Deutsche Schillergesellschaft 39, 1995, S. 454–462.

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dies: 1) Funktion, 2) Leistung, 3) Medium, 4) Code und 5) Programm.64 Während es die Funktion der Wissenschaft ist, neues wahres Wissen zu erzeugen, besteht die Funktion der Literatur in modernen Gesellschaften darin, die Wirklichkeit zu beobachten und über die Präsentation von Geschichten mit interessanten Stoffen und Themen eine Kommunikation über die Welt zu ermöglichen. Der Aspekt der »Leistung« sagt etwas über die Beziehungen von Systemen aus und macht eine Unterscheidung möglich: Die einen stellen für die anderen »Leistungen« zur Verfügung. Literatur dient unter anderem der Unterhaltung der Leser, sie kann Entlastung und Lebenshilfe bieten, aber auch Aufgaben von Bildung und Erziehung übernehmen. Ebenso kann Sie durch die in die Kommunikation gebrachten Geschichten das jeweilige Wirklichkeitsverständnis der Leser bestätigen oder aber irritieren und verstören (»Leistung«). Das »Medium« konditioniert die Motivationen der Autorinnen und Autoren. So kann das Schreiben für einen konkreten Autor der Selbsterkenntnis dienen oder aber auch eine Art Selbsttherapie sein (»Medium«). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es den Schreibenden darum geht, gesellschaftliche Anerkennung und möglicherweise sogar Ruhm zu erlangen (»Medium«). Der »Code«, der jeweils in Bezug zum »Medium« steht, meint mit Blick auf Literatur die »Vereinbarungen« um Literatur, es geht letztlich um die ästhetischen Prinzipien, die jeweils als verbindlich gelten, um der Wirklichkeit beizukommen und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Hier wäre die bereits zitierte Typologie von (axiologischen) Werten zu verorten, denn diese Werte geben eine Art Maßstab dafür ab, was im Rahmen eines bestimmten »Codes« bzw. im größeren Rahmen eines Literaturbegriffs als innovativ gilt und was nicht. Das gilt für die Allgemeinliteratur wie auch für die KJL. Die »Programme« sind die flexibelsten Bereiche funktional ausdifferenzierter Systeme. Sie versorgen das System mit den zulässigen Regeln des Kommunizierens.65 Es steht außer Frage, dass die jeweiligen Poetiken historisch wandelbar sind, ebenso die Gattungs- und Genrekonventionen. Mit der Systemlogik nach Niklas Luhmann existiert eine Art Modell, an und mit dem sich analytisch Veränderungen in der Literatur auf den Punkt bringen lassen. Mit Blick auf die KJL lässt sich sagen, dass es seit den 1970er Jahren in Verbindung mit einem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess zu neuen Regeln des Kommunizierens gekommen ist. Mit anderen Worten: Im Teilsystem KJL haben sich Funktion, Leistung, Medium, Code und Programme verändert. Genau dies führte zu einer Annäherung zwischen moderner KJL und Allgemeinliteratur. Beide Teilsysteme unterscheiden sich in ihrer Systemlogik nur 64 Vgl. zur Anwendung der fünf Kategorien auf die KJL die neu bearbeitete Auflage von Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2021, S. 31–35. 65 Detlef Krause: Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 151.

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noch graduell.66 Dies war bei der sogenannten traditionellen KJL (KJL 1) noch anders, sie besaß eine Systemlogik, die eine hohe Affinität zum Erziehungssystem aufwies. Diese Nähe zum »System Erziehung« hatte historische Gründe. Die seit der Epoche der Aufklärung entstehende spezifische KJL hatte primär die »Funktion« im didaktischen Sinne den kindlichen Adressaten Normen und Werte zu vermitteln und sie mit dem notwendigen Wissen auszustatten. Entsprechend bestand ihre »Leistung« vor allem darin, zu erziehen, zu belehren und in bestimmten Regeln zu unterweisen.67 Entsprechend sahen der »Code« und die »Programme« aus.68 Es ging vor allem darum, die Werte, Normen, Regeln der älteren Generation über Texte (auch literarische) an die jungen Leser zu bringen. Aber eben hier kam es 1968 in Folge eines gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zu Wandlungen. Und genau hier, bei den Programmen, setzen gegenwärtig allem Anschein nach Veränderungen insofern ein, als Texte produziert und positiv bewertet werden, in denen über das »Was« und »Wie« des Erzählens solche ideologischen Marker gesetzt werden, von denen bestimmte Gruppen hoffen, dass sie zunehmend den Mainstream der Gesellschaft ausmachen. Inwieweit dies auch in der KJL eine Rolle spielt, sei exemplarisch an zwei Texten angedeutet, die zwar gänzlich unterschiedliche Geschichten erzählen, aber Denk- und Verhaltensweisen der Figuren vorführen, die allem Anschein nach ›gewünscht‹ sind. Es geht zunächst um einen im Frühjahr 2020 bei Hanser erschienenen Text, nämlich Katrin Bongards »Es war die Nachtigall«. In einem Beitrag im Tagesspiegel wird mitgeteilt, dass es sich hier um einen »an Shakespeares ›Romeo und Julia‹ angelehnten Roman über zwei Jugendliche ›mit ganz unterschiedlichen Wesenszügen‹ handelt«: »die vegan lebende Greenpeace-Aktivistin und Hühnerbefreierin Marie und Ludwig, Sohn einer traditionsbewussten Hof- und Waldbesitzerfamilie, der gerade seinen Jagdschein gemacht hat.«69 Der Figurenaufbau liefert bereits eine Art ideologische Kartierung, auf der einen Seite die guten Veganer, Greenpeace-Aktivisten und Tierschützer und auf der anderen die reichen Jäger, die Tiere erlegen und Fleisch essen. In dem Beitrag 66 Vgl. Gansel, Moderne Kinder- und Jugendliteratur. 2021, S. 33. 67 Nun sind derartige Kategorien auch für die aktuelle KJL nicht ausgeschlossen, vor allem in der Literatur für jüngere Lesealter finden sich Texte, die erziehen und aufklären wollen. Auch in der sogenannten problemorientierten KJL lebt das Muster der didaktische Implikation durchaus weiter. 68 Diese erzieherischen Intentionen können auch über Warngeschichten funktionieren, indem etwa auf der Ebene der ›histoire‹ »Figuren der Aufstörung« platziert werden (u. a. Struwwelpeter, Max und Moritz). Der Trick besteht dann im Weiteren darin, dass auf der Ebene der ›histoire‹ eine Wandlung vorgeführt oder auf der Ebene des ›discourse‹ durch Erzählerkommentare entsprechende Wertungen mitgeteilt werden. 69 Pyanoe, Steffi: Wenn eine Tierschützerin und ein Jäger sich verlieben. In: Tagesspiegel. Potsdamer Neueste Nachrichten vom 30. 01. 2020. (letzter Zugriff 16. 03. 2020).

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wird betont, dass Bongard die Idee vor zwei Jahren gekommen sei. »Eine Gegenüberstellung von Jägern und Veganern – das sei beim Verlagsagenten gut angekommen«, betont sie. »Aber«, so die Journalistin, »sie hörte auch Warnungen: Sie werde sich mit dem Buch ordentlich in die Nesseln setzen. Den Zorn gleich beider Lager auf sich ziehen. ›Glaub ich nicht‹, sagte Bongard. Und wenn doch, dann wäre es eigentlich gut: Es sei doch wünschenswert, Dinge und Diskussionen anzustoßen.«70 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Irritationen und Aufstörungen haben in der modernen KJL unbedingt einen Platz.71 Allerdings sollten die Figuren dann mehr sein als »Sprachröhren« für eine bestimmte Lebenshaltung, ein vermeintliches Milieu oder eine politische Botschaft. Roswitha Budeus-Budde hat im Gespräch eine Maxime formuliert, an der Literatur für junge Leser wie für Erwachsene sich messen lassen muss: »Es muss Literatur sein! Es muss um Qualität gehen. Warum? Also, weil mir diese Bücher, diese Endlosbücher, die heute die Welt verbessern wollen, diese Problembücher, die auf Ansage geschrieben werden. Das ist aus meiner Sicht etwas, das die Kinder und Jugendlichen vom Lesen abhält. Die Medienvielfalt ist heute so groß. Literatur muss sich anstrengen. Und das gelingt zum Glück immer wieder, jedes Jahr finden sich Autoren, die keinen Mainstream machen, die keine Political Correctness machen, sondern Geschichten erzählen. Es muss in jedem Buch, egal worum es sich handelt, sei es ein Bilderbuch oder sei es ein Buch für young adults, es muss ein Überraschungseffekt im Text sein, der einfach zum Lesen und Weiterlesen der Geschichte reizt. Es kann nicht sein, dass du anfängst mit dem Text und weißt schon nach zehn Seiten, wie es hinten ausgeht. Nochmal: Es muss Literatur sein. Der Text muss einen ästhetischen Anspruch erfüllen.«72

Ein ästhetischer Anspruch ist noch nicht erfüllt, wenn man zwei (adoleszente) Ich-Erzähler – in diese Fall Marie und Ludwig – agieren lässt und damit suggeriert, hier würde es um einen multiperspektivischen Blick gehen. Auch wird man mitnichten von einem modernen Erzählen in dem Fall sprechen können, da ein Paratext existiert, der jeweils ein Zitat aus Shakespares »Romeo und Julia« und dem autobiographischen Riesenprojekt von Karl Ove Knausgård »Sterben« (2011) enthält. Das nachfolgende und ebenfalls zum Paratext gehörende Schlagwort »#fridaysforfuture« soll allem Anschein nach werbend auf eine mögliche Lesergruppe abzielen.73 Auf Knausgård bezieht sich die Ich-Erzählerin dann 70 Ebd. 71 Zur Rolle von Störungen im »System Kinder- und Jugendliteratur« siehe Gansel, Carsten: Störungen in (Kinder- und Jugend) Literatur und Medien. In: kjl& medien. Sonderheft 2015, S. 15–28 (Der Beitrag wird in diesem Band erneut abgedruckt). 72 Carsten Gansel und Roswitha Budeus-Budde: »Aber grundsätzlich: Du musst die Texte lesen!« Ein Gespräch über Kinder- und Jugendliteratur und Literaturkritik (in diesem Band, S. 457–480). 73 Zum Inhalt des Textes und der Machart heißt es dann: »Maries Greenpeace-Gruppe will eine Wildschweinjagd mit einer Störaktion abbrechen. Beim Gerangel zwischen Jägern und Ak-

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auch kurz, allerdings bleibt es bei Behauptungen. Warum das Buch »grandios« ist und die Protagonistin es »schon nach den ersten Seiten« liebt, obwohl der erste Band mit »Sterben« beginnt, das bleibt offen. Stattdessen heißt es identifikatorisch: »Ich nehme das Lesezeichen aus dem Buch, lese über den Tod, wie Knausgård ihn beschreibt. Knausgård hat recht, niemand lässt Tote herumliegen, sie werden immer sofort weggeschafft, als würden wir uns dafür schämen. Ich denke wieder an den Rehbock.«74

Letztlich sind die Figuren Marie und Ludwig das, was man »Sprachröhren« nennt. Die Bewusstseinsdarstellung bleibt zwar vermeintlich durchaus im Sinne einer modernen KJL auf das reduziert, was das Ich denkt und fühlt. Allerdings handelt es sich keineswegs um komplexe Figuren, denn beide Ich-Erzähler stehen einzig für bestimmte politisch-ideologische Auffassungen, zum einen für die sozial engagierte Greenpeace-Aktivistin Marie und zum anderen für den im reichen Jäger-Milieu groß gewordenen Ludwig. Ihre Positionen markiert die IchErzählerin Marie in etwa so: »Ich fächle mir mit dem Greenpeace-Flyer Luft zu. Es ist verdammt heiß heute, und eigentlich würde auch ich lieber schwimmen gehen, statt hier mitten in der Fußgängerzone zu stehen und Leute an den Stand zu rufen, damit sie eine Unterschrift gegen Walfang oder Tierversuche abgeben. Doch das hier ist wichtig. Jede Unterschrift zählt.«75

Im Verlauf der Handlung kommt es zwar zu einer Annäherung der stark typisierten Vorstellungen der beiden »Lager«, aber warum die beiden Liebenden in einem trivialen Deus-ex-Machina-Schluss zu Tode kommen, das bleibt gänzlich ungeklärt. Dies betrifft auch die Frage, warum Protagonisten, die unter postmodernen Verhältnissen agieren, überhaupt in eine Art »Romeo und Julia«Schema gezwängt werden. Ein zweiter Text aus dem Bereich der KJL soll nachfolgend für aktuelle Tendenzen stehen. Pünktlich zum Jubiläumsjahr 2019 hat Dorit Linke ein »Wendebuch« vorgelegt. Ihr Jugendbuch »Wir sehen uns im Westen« reiht sich in die Tradition von Texten ein, in denen ein Liebespaar dramatisch durch die Mauer getrennt wird. Der Text erschien in der pädagogischen Reihe »Carlsen Clips«, die tivisten gibt es einen Verletzten, und im Grunde könnte die Romanze von Marie und Ludwig hier enden – weil beide doch nicht zusammenpassen. Aber dann wäre es nicht Shakespeare. Eine Nacht auf dem Hochsitz, zum Lieben, nicht zur Jagd, schenkt die Autorin den beiden zuletzt. ›Ich wollte immer eine Shakespeare-Adaption schreiben und zeigen, was alles in den Klassikern steckt‹, sagt Bongard. Ihr Buch sei eben keine Liebesgeschichte, es stelle stattdessen die Fragen, woher der Hass kommt und warum Menschen so verbohrt und nachtragend sein können.« Pyanoe, Wenn eine Tierschützerin und ein Jäger sich verlieben. 2020. 74 Bongard, Katrin: Es war die Nachtigall. München: Hanser Verlag 2020, S. 55. 75 Ebd., S. 48.

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an eine jugendliche Zielgruppe adressiert ist. Wie schon ihr erster Roman »Jenseits der blauen Linie« (2014) wurde ihre Wende-Geschichte von der Literaturkritik durchaus positiv aufgenommen. Hilde Elisabeth Menzel hob in der Süddeutschen Zeitung den authentischen und autobiographischen Charakter des Textes hervor.76 Die Geschichte wird multiperspektivisch von zwei jugendlichen Figuren erzählt. Beide Ich-Erzähler präsentieren abwechselnd ihre Liebesgeschichte. Nina und Lutz werden durch die Ausreise von Ninas Familie in die Bundesrepublik zwanghaft getrennt, bleiben sich aber emotional verbunden und führen eine Brief-Beziehung weiter. Mit der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 wird das lang ersehnte Wiedersehen der Protagonisten möglich.77 Für die Darstellung der Liebesgeschichte bedient sich die Autorin einer Reihe von Stereotypen, die bereits in anderen kinder- und jugendliterarischen Texten zur »Wende« vorzufinden sind.78 Insbesondere Lutz’ Eltern fungieren als Prototypen linientreuer Staatsbürger. Manifest wird ein Bruch des jugendlichen Protagonisten mit der Elterngeneration, die als blinde Anhänger des Systems erscheinen und zu keinem Nachdenken bereit sind. Es ist insbesondere die dominante Vater-Figur, die mit repressiven Mitteln versucht, die Identitätsfindung des Protagonisten einzuschränken und seine zunehmend systemkritische Haltung zu verhindern. Erteilung des Westfernsehen-Verbots, Stubenarrest und Kontaktverbot zu Nina sowie seine durch Gewaltbereitschaft geprägte Haltung gegenüber Andersdenkenden machen klar, dass es sich hier um den Typ des ›kalten Funktionärs‹ handelt, und ein klares Feindbild beim Leser erzeugt wird. »Hätte er etwas zu melden, würde er auf die Leute, die gerade Richtung Mauer laufen, schießen lassen«, fasst der Sohn die Ansicht des Vaters zusammen.79 Für die zunehmende Flucht aus der DDR macht dieser die inkompetente DDR-Funktionärselite verantwortlich und erwartet, dass sie mit Repression reagiert: »Wieso machen die denn nichts? […] Die müssen die Leute zurücktreiben! Das können 76 Vgl. Menzel, Hilde E.: Treffpunkt Neptunbrunnen. In: Süddeutsche Zeitung vom 03. 11. 2019.

(letzter Zugriff: 16. 03. 2022). 77 Der nachfolgende Teil basiert auf folgender Darstellung: Gansel, Carsten/Fernández Pérez, José: Erinnerungskulturen im Streit, oder Zwischen Diktaturgedächtnis und Fortschrittsgedächtnis – Zu Aspekten des Wende-Motivs in der deutschsprachigen Literatur (für junge Leserinnen und Leser) nach 1989. In: Kurwinkel, Tobias/Jakobi, Stefanie (Hrsg.): Narratoästhetik und Didaktik kinder- und jugendmedialer Motive. Von literarischen Außenseitern, dem Vampir auf der Leinwand und dem Tod im Comicbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto 2022, S. 51–87. 78 Gansel, Carsten: Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. In: Dettmar, Ute/Oetken, Mareile (Hrsg.): Grenzenlos. Mauerfall und Wende in (Kinder- und Jugend-) Literatur und Medien. Heidelberg: Winter 2010, S. 17–50, hier: S. 39ff. 79 Linke, Dorit: Wir sehen uns im Westen. Hamburg: Carlsen Clips 2019, S. 15 [Seitenangaben nachfolgend unter der Sigle »WSW« mit Seitenzahl im Text].

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sie doch nicht zulassen!« (WSW, 15) Neben dem »Feindbild-Eltern« fungieren auch die Lehrer als linientreue Figuren, die die Entwicklung der Schüler einschränken. Sie lehnen das Punk-Outfit von Lutz ab und bestrafen Nina mit schlechten Noten, weil ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt haben. Mit diesem geraten Nina und ihre Familie in eine Opfer-Rolle, sie werden ausgegrenzt und sozial stigmatisiert. Mit Blick auf die fehlende Solidarität wird eine Art Resümee über die Schikanen gezogen, wenn Nina erinnert: »Zu oft hat uns niemand geholfen. Stattdessen gab es schlechtere Noten in der Schule und in der Kaufhalle ernteten wir abfällige Blicke. Ich wurde einfach so aus der Handballgruppe ausgeschlossen.« (WSW, 73)

Willkürlichen Kontrollen ausgesetzt, lebt Nina ständig in einer Atmosphäre der Angst. Durch die Dämonisierung der Polizei und der Grenzsoldaten muss für den jugendlichen Leser der Eindruck entstehen, dass im DDR-Alltag ein allgegenwärtiger Repressionsapparat eine dauernde Atmosphäre der Bedrohung erzeugt hat. »Ob in den dunklen, unheimlichen Ecken ein Soldat hockt und die Maschinenpistole griffbereit hat?« (WSW, 31), fragt sich Lutz in der U-Bahn. Auf dem Rückweg nach Ost-Berlin befürchtet er, dass der Staat alle zurückkehrenden Bürger ins Gefängnis bringen wird. Der bedrohliche Eindruck wird ebenso von Nina vermittelt, die nach der Öffnung der Grenze mit einer gewaltsamen Repressionswelle rechnet. Entgegen der realen Verhältnisse im Kontext der Maueröffnung wird ein simpler Vergleich zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und 1989 in Peking hergestellt: »Morgen sind vielleicht schon Panzer aufm Alex« (WSW, 11), vermutet die Protagonistin. Eng mit dieser Bedrohungsatmosphäre hängt die Sehnsucht der Jugendlichen nach Freiheit und den bislang nicht möglichen Reisen zusammen, um der gesellschaftlichen Einengung zu entkommen: »Ich war in Gedanken am Kolosseum und auf der Spanischen Treppe und er dachte vermutlich an die Freiheitsstatue und das World Trade Center. Dieses Spiel spielten wir später noch oft, entführten uns gegenseitig an Orte, die uns gefielen, träumten uns nach Australien oder Feuerland, nach Island oder in die Karibik.« (WSW, 77f.)

Die an der »Tatsächlichkeit gelebten Lebens«80 in der Wende-Zeit vorbeigehende Darstellung wird möglich, weil diese Phase des gesellschaftlichen Umbruchs auf circa zwölf Zeilen radikal verkürzt wird. Die zahlreichen Demonstrationen, bei denen allein die hergestellten Plakate und Spruchbänder das Selbstbewusstsein wie auch die Kreativität der DDR-Bevölkerung zeigten, schrumpfen gewissermaßen auf einen Slogan zusammen, den die Autorin auf der Ebene der ›histoire‹ 80 Heselhaus, Clemens: Das Realismusproblem (1959). In: Begriffsbestimmung des literarischen Realismus. Hrsg. von Richard Brinkmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 337–364, hier: S. 352.

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für die Konstruktion der Handlung und die damit im Zusammenhang stehende »Message« benötigt: »Das Volk braucht die SED wie der Fisch das Fahrrad« (WSW, 38). Mehr an Erinnerung wird dem Protagonisten nicht zugestanden. Nun wird man freilich einwenden können, dass durch die Konzentration auf zwei jugendliche Ich-Erzähler mit Notwendigkeit eine begrenzt-subjektive Perspektive auch auf die dargestellten historischen Ereignisse erfolgt. Wenn dem so sein sollte, dann wird man allerdings auch eingestehen müssen, dass eine an junge Leser adressierte »Zielgruppenliteratur« schwerlich in der Lage ist, eine auch nur ansatzweise differenzierte Darstellung des gesellschaftlichen Umbruchs zu erfassen. Im vorliegenden Fall wird man zudem zu dem Ergebnis kommen, dass die eingebaute Analepse, also der Wechsel von der Gegenwarts- auf die Vergangenheitsebene, so rudimentär ist, dass nur ein »Phantombild« von dem übrig bleibt, was einmal »Die Wende« war. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Hinweis auf sozialwissenschaftliche und historische Kriterien bedeutet nicht, dass diese zum Wertungsmaßstab für die literarischen Texte zu erklären wären. Wenn aber Autorinnen und Autoren den Anspruch erheben, mit ihren Texten die deutsche Geschichte für die jüngere Generation lebendig zu machen und das historische Wissen über die DDR-Geschichte zu fördern, stellen sich doch Bedenken ein. Mit ihrer verkürzten Darstellung und ihrem Rückgriff auf Figurentypen sowie auf Stereotype wie den Täter-Opfer-Topos oder das »Feindbild Eltern« und »Lehrer« besteht die Gefahr, dass in einem für die Lesesozialisation wichtigen Bereich schlichtweg Vereinfachungen bzw. Klischees ins kommunikative und kulturelle Gedächtnis transportiert werden, die schließlich die klaren Schwarz-Weiß-Linien des von Martin Sabrow ausgemachten »Diktaturgedächtnisses« einlinig bestätigen.81

6.

Zur Ablösung von Mehrheits- durch Minderheitenrechte oder gibt es eine »Kultur des Denunziatorischen«?

Eine abschließende These: In Folge von 1968 haben die – wenn man so will – ursprünglich linken Bewegungen eine Transformation durchgemacht. Klassische Themen wie die »Eigentumsfrage« oder die »soziale Frage« sind an den Rand gerückt oder ganz von der Agenda verschwunden. Andere – durchaus wichtige – Themen wie Umweltschutz, Forderungen nach der Befreiung der Sexualität, Feminismus, Minderheitenrechte sind stattdessen ins Zentrum gewandert. Pointiert könnte man sagen: Vom Kampf für Mehrheitsrechte zum Betonen von Minderheitenrechten. Dazu zählt auch der Ansatz, historisches Unrecht gegen81 Sabrow, Martin: Die DDR erinnern. In: Ders. (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2010, S. 9–25, hier: S. 15.

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über Minderheiten aufzuarbeiten und zu kompensieren. Problematisch wird es, wenn sich die Dominanzen verschieben und es nicht nur zu Einschränkungen des öffentlichen Diskurses kommt, sondern zu Umwertungen, die auch die Geschichte betreffen und letztlich auf den Kanon der Literatur zurückwirken. Bernhard Schlink hat auf das Problem 2011 in einem Aufsatz verwiesen. Er schildert, in welcher Weise die »Selbstzeugnisse der Kriegsgeneration«, die letztlich eine »Rechtfertigung und Entschuldung« darstellten, demontiert werden mussten. »Das Demontieren«, so Schlink, »begegnete erheblichem Widerstand und musste mutig erkämpft werden, das rebellische Aufbegehren der sechziger und siebziger Jahre wurde dadurch auch zu einer moralischen Leistung«.82 Bernhard Schlink betont, dass es zu diesem Zeitpunkt darum ging, die »Beschönigungen und Verfälschungen« zu demontieren und nicht angesagt war, sie im »Horizont ihrer Zeit und ihrer Lage [zu] sehen«. Das sei verständlich gewesen, denn: »Sie waren die Gegner.«83 Aber heute, mithin in der Gegenwart, seien sie tot, sie »leisten keinen Widerstand mehr, sie müssen nicht mehr bekämpft werden. Ihre Legenden, Beschönigungen und Verfälschungen sind erledigt. Ihre Geschichte so zu schreiben, wie sie war, erfordert keinen Mut mehr. Der rebellische und moralische Anspruch geht ins Leere«, so Schlink.84 Das Problem, das Schlink sieht, könnte man so bezeichnen: Es wird in aktuellen Darstellungen ein »Papiertiger« aufgebaut, gegen den sich gut kämpfen lässt. »Es muß«, so Schlink, »moralisch Gericht gehalten werden – mit heutigen Maßstäben über gestriges Verhalten«. Ein solches Vorgehen bezeichnet der Autor nun als denunziatorisch, denn: »Es unterwirft Personen einem Maßstab, der ihnen nicht gemäß ist, und überantwortet sie einem Gericht, das ihnen nicht gerecht wird.«85 Dies schaffe eine »Kultur des Denunziatorischen, weil es den Umgang mit der Geschichte insgesamt prägt, den wissenschaftlichen wie den alltäglichen, den Umgang mit der politischen Geschichte wie mit der Literatur- und Kulturgeschichte.«86 Letztlich habe die »Vergangheitsbewältigung« den Abstand zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen eingeebnet, »indem der Maßstab der Gegenwart an die Vergangenheit angelegt wurde, wurde der Entlarvungs- und Demontierungsimpuls, der sich zunächst auf die Vergangenheit richtete, auch auf die Gegenwart erstreckt.«87 Man muss Bernhard Schlinks Überlegungen, die 82 Schlink, Bernhard: Die Kultur des Denunziatorischen. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 65, 2011, H. 6, S. 473–486, hier: S. 480. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 481. 86 Ebd. 87 Und mit Blick auf die Ursachen für eine solche »Kultur des Denunziatorischen« verweist er auf »ein Geflecht von Gründen«. »Der denunziatorische Zugriff auf die Vergangenheit und auch die Gegenwart ist einfach. Moralisieren reduziert Komplexität.« Ebd., S. 484.

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hier nur angedeutet sind, nicht folgen, aber darüber nachzudenken, welche Wertmaßstäbe bei der Beschäftigung mit vergangenen Ereignissen wie literarischen Texten angelegt werden, das sollte man schon.88

88 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Bernhard Schlinks Essay Hahn, Hans-Joachim: Kulturen des Denunziatorischen Oder: »In richtig funktionierenden Institutionen versteht sich das Moralische von selbst«. literaturkritik.de vom 05. 04. 2012. (letzter Zugriff: 16. 03. 2022).

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Nordish Noir nicht auf Deutsch? Literatur als Zumutung – Carsten Gansels Subsysteme moderner kinder- und jugendliterarischer Kommunikation aus ethisch-deskriptiver Sicht

1.

Einleitung

Wie vorgehen, wenn man ein Kinderbuch schreibt, das abgestimmt auf die Klassen 3–5 den Lesekompetenzerwerb unterstützt? Was ist zu bedenken, wenn die Grundidee dazu einen kindlichen Protagonisten und eine Detektivgeschichte beinhaltet? Es ist wohl davon auszugehen, dass sich die Kinder- und Jugendbuchautorin Annette Herzog vergleichbare Fragen gestellt hat, als sie das 2009 schließlich erschienene »Edderkoppe-manden« (auf Deutsch: »Spinnenmann«) vorbereitete.1 Hinzu kommt, dass Sie in der DDR geboren und aufgewachsen ist, mittlerweile allerdings in Dänemark lebt und publiziert, so dass sie zumindest zu bedenken hatte, inwiefern die Möglichkeit besteht, in zwei verschiedenen Sprachen zugleich zu veröffentlichen. In ihrer Geschichte jedenfalls vermisst ein junger Protagonist namens Herman seine Mutter. Weil sein Vater die Sorgen um seine verschwundene Frau in Alkohol ertränkt, macht sich Herman selbst auf die Suche. Dabei freundet er sich mit dem Besitzer einer Zoohandlung an. Bei ihm darf das Kind nach ein wenig Zeit nicht nur die normalen Tiere, sondern auch eine besondere Gruppe, nämlich Spinnen füttern – ganz zuletzt sogar die großen Exemplare. Als er nun diese Aufgabe verrichtet, merkt der Junge plötzlich, wie die Schuhe seiner Mutter im Netz einer Riesenspinne hängen. Erschrocken muss er daraufhin feststellen: Als nächstes soll er selbst gefressen werden, vom Fütternden ist er zum Fraß geworden. Und mit diesem eher grausamen Tod ist es, überspitzt formuliert, mit Geschichte und Protagonist zu Ende. Gegebenenfalls ist an dieser Stelle bereits zu erahnen, dass im vorliegenden Text in Bezug auf Zumutbarkeit danach gefragt werden soll, ob ein solcher Handlungsplot für Kinder im Grundschulalter angemessen ist. Allerdings: Was für an den deutschsprachigen Markt gewöhnte Ohren eher weniger vorstellbar klingen mag und in dieser Form auf Deutsch (zumindest bisher) auch nicht erschienen ist, ist in Dänemark verlegt worden. Was damit berührt ist, ist die 1 Herzog, Annette: Edderkoppemanden. Kopenhagen: Gyldendal 2009.

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Frage nach dem, was Kunst bzw. Literatur darf und was nicht. Eigentlich müssten diese Grenzen im Rahmen der Kunstfreiheit relativ stark dehnbar sein. Aber es steht, wie bekannt, zu überlegen, inwieweit für kinder- und jugendliterarische Literatur (KJL) bzw. für kinder- und jugendliterarische Medien (KJLM2) insgesamt andere Regeln gelten als für Literatur und Kunst allgemein und ob diese Regeln zwischen dem deutschen und dem dänischen Sprachraum differieren. Die Vermutung liegt bei einem recht grausamen Ende der Geschichte zumindest nahe, dass dänischsprachige Kinderliteratur anders funktioniert als deutschsprachige. Genau um dieses Spannungsfeld soll es im weiteren Verlauf gehen, wobei, um den Ergebnissen bereits vorzugreifen, die Antwort nicht ganz einfach ausfallen wird. Denn auch wenn für den dänischen Markt andere Prinzipien gelten, ist es doch nicht ganz so evident, wie es scheint. Mithin geht es nicht nur um Literaturproduktion, sondern auch um deren Einbindung in didaktische Kontexte und damit ebenfalls um grenzüberschreitend ähnliche Verfahren. Um sich diesem Problemkomplex zu nähern, ist zunächst die Feststellung genauer unter die Lupe zu nehmen, dass kinder- und jugendliterarische Kommunikation anders als Literatur allgemein nicht nur den Regeln der Kunstfreiheit folgt, sondern – und auch zum Beispiel trotz aller Tendenzen zur All-AgeLiteratur – sich zugleich immer der Frage nach Kindgemäßheit stellen muss.3 Der Autonomie-Status von KJL bzw. KJLM lässt sich in der Forschung klassisch mit Carsten Gansels Unterscheidung zwischen zwei kinder- und jugendliterarischen Subsystemen näher fassen (bei ihm »KJL1« und »KJL2«), so dass auch im weiteren Verlauf von dieser zentralen Modellierung ausgegangen wird. Auf diese Weise, so ist zu zeigen, lässt sich auch die Differenz zwischen Deutschland und Dänemark nachvollziehen. Allerding ist das Modell dazu zusätzlich zu variieren. Das Verständnis von Erziehung bzw. Bildung muss einerseits weiter gefasst 2 KJLM wird als vergleichbarer Terminus zu KJL gebraucht, um zu betonen, dass sich kinderund jugendliterarische Kommunikation nicht allein auf Literatur bzw. Lesetexte beschränkt. Dabei gilt, dass der Terminus KJLM in einem weiten Text- bzw. Medienverständnis schriftsprachliche Texte ebenfalls umfasst und kein Gegenbegriff zu ihnen darstellt. 3 Zu unterschiedlichen Bezugsnormen der deutschsprachigen KJL vgl. Ewers, Hans-Heino: Grundlegende Kinder- und Jugendliteraturnormen. In: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. Hrsg. von dems. Paderborn: Wilhelm Fink 2012, S. 135–154; sowie Ders.: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre. In: Literaturanspruch und Unterhaltungsabsicht. Studien zur Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert. Hrsg. von Hans-Heino Ewers. Frankfurt/Main: Peter Lang 2013, S. 15–43 (mit Fokus auf Westdeutschland). Da sich diese Normen auf die deutschsprachige Tradition beziehen, könnten mit Sicht auf das anhand von Annette Herzog skizzierte Problem zusätzliche Normen diskutiert werden. Das würde jedoch eher ein additives Vorgehen bedeuten, indem internationale Normen ergänzt würden, als das Problem für den deutschsprachigen Raum selbst in seinen Herausforderungen zu untersuchen. Entsprechend stehen im Folgenden die letzteren Fragen im Zentrum.

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werden, nämlich als moralische Kommunikation, so die erste These, da erzieherische Kommunikation sich niemals allein auf die Schule bezieht (Abschnitt 2). Zweitens ist Bildung andererseits aber auch enger zu konzeptionieren, nämlich aus schuldidaktischer Sicht als eine auf Qualifikation bezogene Kommunikation (Abschnitt 3).4 Auf diese Weise ist ein doppeltes Verständnis von Erziehung nötig, das sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten zwischen Deutschland und Dänemark erfassen und darüber hinaus didaktisch verorten kann. So wird neben dem spezifischen Fall von Annette Herzog in Bezug auf eine deskriptiv verstandene Form moralischer Kommunikation zugleich ein allgemeines Prinzip von KJLM-Kommunikation für eine systemtheoretische Betrachtungsweise der Bezugs- bzw. Referenzsysteme von KJLM neu konturiert. Damit geht der Vorschlag einher, die bisherige Verortung nach Gansel ethisch-deskriptiv zu ergänzen (Abschnitt 4).

2.

Eine erweiterte Fassung von erzieherischer Kommunikation (These 1)

Eine mögliche Antwort darauf, warum KJL bzw. KJLM nicht nur als Literatur und damit im Rahmen von Kunstfreiheit und Autonomie, sondern immer auch in Bezug auf Kindgemäßheit verstanden werden kann, zeigt das erwähnte Modell von Carsten Gansel. Es beruht bekanntlich auf den systemtheoretischen Annahmen von Niklas Luhmann. Dieser geht – und in Anbetracht des vorliegenden Rahmens kann das nur verkürzt ausgeführt werden – bei seiner sozialwissenschaftlichen Betrachtung moderner Gesellschaften von einer Art Arbeitsteilung, das heißt einer Ausdifferenzierung in gesellschaftliche Teilsysteme aus. Hierunter werden etwa Wissenschaft, Wirtschaft, Recht oder auch Religion und Kunst gerechnet. KJLM wäre nun eigentlich ein Bereich von Kunst in dieser Logik. Allerdings ist mit Gansel zusätzlich von einem zweiten Referenzpunkt auszugehen, nämlich dem Teilsystem der Erziehung. Die Kunstfreiheit, die für Literatur gilt, findet für KJLM deswegen beispielsweise Begrenzungen im Rahmen des Jugendschutzes. Diesen Unterschied in den beiden Bezugssystemen 4 Damit fällt diese Erweiterung m. E. auch nicht mit Luhmanns Differenzierung zwischen Erziehung und Sozialisation zusammen, da er tendenziell von einerseits zielgerichteter Veränderung von Individuen – bzw., mit Luhmann gesprochen, psychischer Systeme – im Erziehungssystem und andererseits eher unkontrollierter, gewissermaßen scheinbar automatisch ablaufender Sozialisation ausgeht (vgl. Corsi, Giancarlo: Erziehung. In: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Hrsg. von Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2015, S. 50–52. Im vorliegenden Fall ist auch außerhalb des Erziehungssystems etwa in Religion oder in der Familie von zielgerichteter Unterweisung auszugehen, die sich nicht allein durch Sozialisation beschreiben lässt.

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benennt Gansel in der Folge als Unterschied zwischen KJL1 mit dem Erziehungssystem und KJL2 insbesondere ab den 1970er Jahren mit dem allgemeinen Literatur- bzw. Kunstsystem als Referenzpunkt. Die dadurch entstehenden Konfliktlinien werden nicht nur im Eingangsbeispiel ersichtlich. Sie zeigen bzw. zeigten sich beispielsweise ebenfalls (und öffentlichkeitswirksam) in der sog. Kinderbuchdebatte oder auch in Äußerungen wie in dem Zeitungsartikel der Autorin und Journalistin Christine Knödler. 2014 schrieb sie in der Tageszeitung »Die Welt«, dass »Amok und Alzheimer, Krieg und Krebs, Missbrauch und Völkermord«5 keine sinnvollen Themen für Kinder- und Jugendliteratur darstellen würden, solche Inhalte aber häufig – und das kritisiert sie in diesem Artikel – in KJLM aufgegriffen würden bzw. mittlerweile Mainstream seien. Neben diesen nachvollziehbaren Spannungsfeldern ergeben sich jedoch auch Unklarheiten schon in Luhmanns Ansätzen. Das betrifft insbesondere die systemtheoretische Modellierung von Erziehung, das heißt zum einen die zentralen Leitunterscheidungen, die das Erziehungssystem bestimmen, und zum anderen, wo genau die Grenzen des Erziehungssystems anzusetzen sind. In beiden Fällen geht es damit im Folgenden um einen erweiterten Blick. Luhmann geht von der Annahme aus, dass moderne Gesellschaften aus Kommunikationen unterschiedlicher Teilbereiche bzw. Teilsysteme bestehen.6 Unter diese gesellschaftlichen Teilsysteme rechnet er, wie erwähnt, Wirtschaft, Recht, Politik, Medizin und Religion, aber auch Erziehung, Kunst oder Wissenschaft.7 Solche Systeme werden als selbstregulierend verstanden, weil sie sich, um ihre Leistungen zu erbringen (wie zum Beispiel Recht sprechen, wirtschaftliches Wachstum garantieren oder in der Forschung neue Erkenntnisse gewinnen usw.), anhand einer jeweils nur ihnen zugeordneten Leitdifferenz, einem binären Code orientieren. Teil des Systems ist, knapp gesagt, jeweils nur, was sich anhand dieses Codes fassen lässt.8 Für die wissenschaftliche Kommunikation 5 Knödler, Christine: Wir haben da ein Problem für dich [welt.de 12. 03. 2014]. (letzter Zugriff: 08. 10. 2020); vgl. dazu bereits Anselm, Sabine: Literatur als Zumutung. Herausforderungen ästhetischer und ethischer Bildung. In: Temeswarer Beiträge zur Germanistik 14, 2017, S. 9–28; hier: S. 11. 6 Vgl. Baraldi, Claudio: Gesellschaft. In: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 2015, S. 63f. 7 Vgl. dazu u. a. die verschiedenen Einzelpublikationen Luhmanns zu den unterschiedlichen Teilsystemen, wie Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem und die Systeme seiner Umwelt. In: Schriften zur Pädagogik. Hrsg. von Dieter Lenzen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2017, S. 209– 244. Oder vgl. Ders.: Die Religion der Gesellschaft. Hrsg. von André Kieserling. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2000. Zum Überblick vgl. etwa die Schautafel im Anhang von Reese-Schäfer, Walter: Niklas Luhmann zur Einführung. Hamburg: Junius 2011 [e-book-Ausgabe], n. p.; oder bei Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena: Lesewege. In: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 2015, S. 12–17; hier: S. 15f. 8 Vgl. Esposito, Elena: Code. In: ebd., S. 33–37; hier: S. 36.

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etwa lautet er wenig überraschend ›wahr‹ oder ›unwahr‹, für das Rechtssystem ›Recht‹ oder ›Unrecht‹. Nun ist das aber gerade bei dem für KJLM so wichtigen Erziehungssystem nicht einheitlich. Bereits bei Luhmann ist eine Unsicherheit bei der Codierung zu erkennen.9 Er stellt sie nämlich immer wieder zur Debatte. Insbesondere geht es um das Schwanken zwischen ›besser‹ versus ›schlechter‹ (bzw. bessere versus schlechtere Noten)10 und ›vermittelbar‹ versus ›nicht-vermittelbar‹ in Auseinandersetzung mit Jochen Kade.11 Aber nicht nur bei Luhmann, sondern auch in der sich auf ihn beziehenden Literatur wurden weitere dieser binären Codes vorgeschlagen, darunter etwa bei Gansel ›Lob‹ versus ›Tadel‹, ›gut gelernt‹ versus ›schlecht gelernt‹ oder ›versetzt‹ versus ›nicht versetzt‹.12 Auffällig ist dabei, dass bei Lob versus Tadel schon so etwas wie eine Wertung mitschwingt, was bei einem weiteren von Gansel vorgeschlagenen Code mit ›moralisierend‹ versus ›nicht moralisierend‹ dann noch eindeutiger auf Moral statt auf Erziehung anspielt. Allerdings bleibt moralische Kommunikation in dieser Form lediglich eine Option, nämlich dann, wenn sich im Rahmen des Codes für die Variante ›moralisierend‹ entschieden wird. Kippt diese Entscheidung zugunsten der Variante ›nicht-moralisierend‹, fällt Moral wieder als irrelevant heraus. Bereits hier also kommt der Moral ein zumindest ambivalenter Status zu. Als neuer Ansatz für KJLM wird nun vor diesen Hintergründen vorgeschlagen, Moral nicht als Option zu setzen, sondern Luhmanns Moralbegriff insgesamt ernst zu nehmen. Das hätte mindestens zwei Vorteile: Denn so könnten nach wie vor Gansels Referenztheorie und damit seine Grundstatik genutzt werden, der 9 Vgl. zu folgender Aufschlüsselung die entsprechende Passage bei Benner, Dietrich: Rezension zu Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. In: Zeitschrift für Pädagogik 49, 2003, H. 1, S. 151–155; hier: S. 151. 10 Vgl. Brüsemeister, Thomas: Das Erziehungssystem zwischen Code und regionaler Differenzierung – Vergleiche mit dem Wirtschaftssystem. In: Beobachtungen des Erziehungssystems. Systemtheoretische Perspektiven. Hrsg. von Yvonne Ehrenspeck und Dieter Lenzen. Wiesbaden: VS 2006, S. 192–207; hier: S. 199. 11 Vgl. Kade, Jochen: Vermittelbar/nicht-vermittelbar: Vermitteln: Aneignen. Im Prozeß der Systembildung des Pädagogischen. In: Bildung und Weiterbildung im Erziehungssystem. Lebenslauf und Humanontogenese als Medium und Form. Hrsg. von Dieter Lenzen und Niklas Luhmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 30–70. Vgl. dazu zusammenfassend Brüsemeister, Das Erziehungssystem. 2006, S. 199, Anm. 6. Gegenüber ›vermittelbar‹/›nichtvermittelbar‹ erhielt die vorherige Differenzierung zwischen ›besser‹/›schlechter‹ den Status einer Zweitcodierung (vgl. Benner, Rezension. 2003, S. 153). Während ›besser‹/›schlechter‹ noch Selektionscode war, ist ›vermittelbar‹/›nicht-vermittelbar‹ ein kommunikativer Code (vgl. Kurtz, Thomas: Bildung und Erziehung in der soziologischen Theorie. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 10, 2007, H. 2, S. 231–249; hier: S. 241). Hinzu tritt etwa zudem der Vorschlag, gar keinen Code anzusetzen, da es nicht um Gesellschaft, sondern um Individuen gehe und nur Gesellschaftssysteme codiert würden (vgl. Corsi, Erziehung. 2015, S. 50). 12 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen 2014, S. 33.

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Zugriff selbst wird allerdings genauer beschreibbar. Worum geht es konkret? Kurz gesagt, konstituiert moralische Kommunikation für Luhmann anders als die Kommunikation gesellschaftlicher Teilsysteme wie Kunst oder Erziehung kein eigenes System, sondern tritt in allen gesellschaftlichen Kommunikationsformen auf. Dabei ist die Herausstellung wichtig, dass Luhmann Moral nicht etwa im Sinne der philosophischen Tradition als praktische Ethik oder im allgemein umgangssprachlichen Verständnis als sittlich-normative Vorschrift versteht, sondern sie von einem dezidiert soziologischen Standpunkt für seine Zwecke als deskriptiven Begriff nutzt. Es gilt also nachdrücklich zu betonen, dass Moral damit nicht normativ, sondern erstens als soziologischer Beobachtungsgegenstand und zweitens sachlich-beschreibend verstanden wird. Das ist auch deswegen wichtig, weil Luhmann selbst herausstellt, dass es sich bei Moral, bildlich gesprochen, um einen »hochinfektiösen«13 Gegenstand handelt, so dass konstant die Gefahr besteht, in Werturteile abzugleiten. Genau darum soll es aber nicht gehen (nämlich etwa darum, KJLM zu bewerten), sondern darum, zu beobachten, welche Rolle die Bewertung von KJLM spielt. Diese soziologisch verstandene Sichtweise auf Moral nach Luhmann operiert, für den vorliegenden Fall zugespitzt, vor allem mit zwei relevanten Unterscheidungen. Die eine davon betrifft die Tatsache, dass etwas als ›moralisch gut‹ oder als ›moralisch schlecht‹ gelten kann. Die zweite Unterscheidung bezieht sich darauf, dass in der Bewertung von moralisch gut und moralisch schlecht zugleich immer auch Achtung und Missachtung kommuniziert werden. Gerade das garantiert, dass die so zu beobachtende moralische Kommunikation grundsätzlich ein konfliktuöses Potenzial in sich birgt – schließlich geht mit der moralischen Beurteilung immer auch die genannte Achtung und Missachtung einher.14 Das kann sich in der Folge zum Beispiel darauf beziehen, dass man es für gut oder schlecht heißt, Kindern Literatur nahezulegen, in denen die kindliche Identifikationsfigur eher grausam stirbt und es kein Happy End gibt.15 Zudem ist von

13 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 359. 14 Vgl. konzise dazu Corsi, Giancarlo: Moral. In: Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. 2015, S. 119–121. Um es genauer auszuführen: Nach Luhmann basiert diese Konflikt-katalytische Qualität von Moral auf drei Unterscheidungen: Zunächst wird zwischen zwei Personen sowie zwischen einer Zuschreibung von Achtung und Missachtung zwischen diesen Personen unterschieden (vgl. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. 2012, S. 361ff.). In einem doppelten Sinne ist der Anspruch der Moral damit universalistisch. Einerseits bezieht er sich auf die Person als Ganzes und – das wäre eine dritte Unterscheidung – nicht nur auf einzelne fachliche Kompetenzen oder spezifische Fähigkeiten (z. B. in Bezug auf sportliche oder wirtschaftliche Leistung). Andererseits bezieht er sich zugleich immer auf alle Kommunikationsbeteiligten in gleichem Maße (vgl. ebd., S. 365). 15 Ein anderes Beispiel ist der kanonische Sammelband von Hahn, Heidi/ Laudenberg, Beate/ Rösch, Heidi (Hrsg.): »Wörter raus!?« Zur Debatte um eine diskriminierungsfreie Sprache im

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Bedeutung, dass moralische Kommunikation, wie erwähnt, an kein gesellschaftliches Teilsystem allein gebunden ist. Es geht nunmehr also um die zweite erwähnte Problemstelle und somit um die Frage danach, wo eigentlich die Grenzen des Erziehungssystems anzusetzen sind – also um eine weitere Perspektive der Erweiterung. Das ist gerade deswegen wichtig, weil Erziehung nicht nur in der Schule (das wäre eine Verkürzung), sondern ebenso in anderen Teilsystemen kommuniziert wird. Wenn es um das Erziehungssystem geht, kann man bei Luhmann immer wieder einen mehr oder weniger eindeutigen Bezug zum Unterricht erkennen, was beispielsweise mitschwingt, wenn über eine Leitdifferenz von bessere versus schlechtere Noten oder von versetzt versus nicht versetzt nachgedacht wird (vgl. oben). Das ist natürlich nicht falsch, aber man weiß allgemein darum, dass Schule bzw. das Schulwesen nicht allein verantwortlich für Erziehung ist. So ist etwa die eminente Relevanz von Familie in Bezug auf literarische Sozialisation bzw. Bildung, Sprach- und Leseförderung hinreichend bekannt. Was ›gute‹ KJLM ist, wird darüber hinaus genauso in Gerichtsprozessen oder im Religionssystem ventiliert.16 Auch in Anbetracht dieser Lage, dass erzieherische Kommunikation zumindest in einem weiten Verständnis über die klaren Grenzen von (schulischem) Unterricht hinausreicht und so nicht mit einem gesellschaftlichen Teilsystem allein fassbar ist, bietet sich wieder die Möglichkeit an, die Vorgänge mithilfe moralischer Kommunikation zu beobachten. Sie kann ja immer und überall auftreten, so dass sie verschiedene Situationen zu integrieren vermag.17 Aus dieser Sichtweise ist erklärlich, wieso KJLM-Kommunikation als moralische Kommunikation sowohl die verschiedenen Teilsysteme wie Erziehung, Recht, Kunst, Religion etc. als auch – durch Achtung und Missachtung – die Persönlichkeit einzelner Beteiligter betrifft. Und dadurch wird sichtbar, was in unterschiedlicher Form als gute bzw. schlechte Erziehung verstanden wird und welche unterschiedlichen Prinzipien von Erziehung zu erkennen sind. Mit diesem erweiterten Verständnis lässt sich auch zum Eingangsbeispiel der Spinnengeschichte zurückkehren. In der Tat scheint der dänische Markt diesbezüglich nach anderen Prinzipien zu operieren als der deutsche; auch scheint es um moralische Kommunikation und um das Ausreizen von Grenzen zu gehen – also darum, ob etwas als gut oder schlecht bzw. akzeptabel gilt oder nicht und inwiefern damit Achtung/Missachtung von etwas kommuniziert wird. Annette Herzog selbst bringt das zur Sprache, wenn sie sagt: Kinderbuch. Weinheim/Basel: Beltz 2015, mit programmatisch sowohl Ausrufe- als auch Fragezeichen. 16 Etwa wenn es darum geht, ob man sein Kind aus religiösen Gründen vom Unterricht zu Otfried Preußlers »Krabat« befreien dürfe, wie es beispielsweise vor Gericht verhandelt worden ist (vgl. dazu konzise Anselm, Literatur als Zumutung. 2017, S. 14 sowie passim). 17 Vgl. Corsi, Moral. 2015, S. 119.

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»Ich habe zwei Jahre eine Schule für Kinderbuchautor*innen in Dänemark besucht. Dort wurde man regelrecht dazu aufgefordert, Grenzen zu überschreiten und zu schreiben, was uns einfällt oder irgendwie befremdlich oder provozierend wirkt […]. Wir wurden richtig dazu gezwungen, etwas Anderes als das zu schreiben, was wir normalerweise für Kinder schreiben würden.«18

3.

Eine auf Qualifikation bezogene Fassung erzieherischer Kommunikation (These 2)

Ist damit also die unterschiedliche Wahrnehmung des Spinnenbeispiels vom Anfang erklärt? Leider scheint es dann doch nicht so einfach zu sein. Erziehung als Referenzpunkt ist schließlich, wie gezeigt, nur schwer genau zu fassen. Denn trotz all der bisherigen Ausführungen wäre die Behauptung vermessen, dass Erziehung vollständig in moralischer Kommunikation aufginge. Das gilt auch, sobald mitschwingt, dass bewertet wird, was gut oder schlecht für Heranwachsende ist. So ist neben diesem ausgeweiteten Verständnis, das Wertungen in Bezug auf gute Erziehung thematisiert, auch ein »klassisches« Verständnis von Erziehung nach wie vor von Relevanz. Gemeint ist damit geplante Bildung und Qualifizierung, die gerade im Kontext des Lehramtes von besonderer Bedeutung sind. Schüler*innen sollen schließlich einen Kompetenzzuwachs erzielen. Und so unterscheidet sich die dänische Situation nicht einfach nur von der deutschen. Ein genauerer Blick auf Herzogs Publikation zeigt beispielsweise, dass ihr ein LIX-Kennwert beigegeben ist. Dieser LIX-Kennwert bezieht sich auf die Messung bzw. Angabe der Textschwierigkeit einer Lektüre nach Carl-Hugo Björnsson.19 Klassisch und wie in der deutschen Debatte ›post-PISA‹ geht es also auch hier für dänische Leselerner*innen um Lesekompetenzstandards und um eine der jeweiligen Stufe angemessene Förderung. Das ist zusätzlich auch an der entsprechenden Altersangabe zu erkennen, die sich auf den Leseprogress im schulischen Curriculum im Rahmen der 3. bis zur 5. Klasse bezieht. Genauso gut also wie Unterschiede können auch Gemeinsamkeiten betont werden. Das gilt hier für Lesekompetenzförderung, aber auch für weitere Dimensionen der Lesedidaktik. Gemeint sind zum Beispiel Lesemotivationsförderung bzw. die Subjektebene und das lesebezogene Selbstkonzept (nach Cornelia Rosebrock und Daniel Nix).20 So zeigt der Ansatz, Gruselgeschichten zu wählen, um damit ein möglichst attraktives Angebot für Kinder zu schaffen, 18 Herz, Cornelius/Stremmer, Lisa Marie: Interview mit Annette Herzog [zur Publikation eingereicht bei kjl & m]. 19 Vgl. Björnsson, Carl-Hugo: Läsbarhet. Stockholm: Liber 1968. 20 Vgl. Rosebrock, Cornelia/Nix, Daniel: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung. Baltmannsweiler: Schneider 2015, S. 20ff. sowie passim.

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Ähnlichkeiten mit vergleichbaren Initiativen in Deutschland. Das gilt beispielsweise für die Webseite von »boys and books«. Das Projekt entstand auf Initiative Christine Garbes und Frank Maria Reifenbergs in Köln und hat sich – mittlerweile in Kooperation mit der KU Eichstädt – seit 2012 zum Ziel gesetzt, insbesondere Jungen als Nicht-Leser in den Fokus zu nehmen. Dazu sollen in der Literaturvermittlung Tätige an Schulen oder in Bibliotheken usw. in Bezug auf Lektüren beraten werden. Da es um die Entwicklung einer konstanten und allgemeinen literarischen Lesehaltung und weder um spezifische Lesekompetenzförderung noch um literarische Hochkultur, sondern eher um erhoffte Vielleseverfahren geht, werden programmatisch gerade unterhaltungsorientierte Titel aufgenommen und damit eben auch Gruselgeschichten, um einem potenziell ab acht Jahren einsetzenden Leseknick vorzubeugen.21

4.

Ergebnisse

Was lässt sich auf diese Weise abschließend festhalten? Zum einen wurde versucht, Carsten Gansels Modellierung von KJLM in einer neuen Perspektive zur Erklärung zu nutzen. Dazu wurde in Bezug auf Erziehung ein Kontinuum zwischen einem weiten und einem engen Verständnis erörtert. Das weite Verständnis bezieht moralische Kommunikation mit ein, wenn zur Debatte steht, was als gut oder als schlecht für Kinder gilt. Das enge Verständnis bezieht sich demgegenüber vor allem auf institutionelle Bildung und Angemessenheit. Annette Herzogs dänische Publikation hat in ihren vermeintlichen Abweichungen und Parallelen zum deutschsprachigen Raum beides aufgezeigt. Aus didaktischer Sicht verweist dieses Reflektieren von vermuteten Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf typische Handlungsfelder des Lehrer*innenberufs. Es sensibilisiert beispielsweise dafür, welche Diskussionen in Lehrer*innenzimmern und anderswo zu erwarten sind, was als angemessen gilt. Zweitens verweist ein Reflektieren aber auch darauf, dass Diskussionen nicht nur individuellen oder internationalen Unterschieden in der Auffassung von Angemessenheit für Kinder geschuldet sind, sondern auch Modeerscheinungen. Man kann hier beispielsweise an die oft anti-autoritär bzw. egalitär oder sozialkritisch genannten Veröffentlichungen der 1970er Jahre denken, als es darum ging, Kinder als gleichwertige Gesprächspartner*innen möglichst ohne hierarchisches Gefälle zu adressieren. Ob und inwiefern das angemessen ist und war, ließe sich sicherlich bis heute diskutieren – genauso wie die Frage, welche aktuellen Tendenzen virulent für den Schulalltag sind. Zusätzlich sensibilisiert das angesprochene Re21 Vgl. Brendel-Perpina, Ina (Projektleitung): boys & books e. V. (letzter Zugriff: 08. 10. 2020).

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flektieren für klassische Abwägungen: Was soll zum Beispiel im Unterricht im Vordergrund stehen? Die Förderung der Lesekompetenz als Informationsverarbeitung und Technik? Die Förderung einer stabilen Lesehaltung und eines positiven lesebezogenen Selbstkonzepts? Oder etwa die Förderung sozialer Kompetenzen? Und nicht zuletzt: Nehme ich Kinder- und Jugendliteratur eigentlich als Literatur wahr und ernst – oder eher als didaktisches Vehikel? Wie man sich entscheidet, hängt maßgeblich davon ab, von welchem Beobachtungsstandpunkt man auf den Einsatz von KJLM im Deutschunterricht schaut. Kehrt man abschließend zum Eingangsbeispiel der Spinnengeschichte und zur dabei immer schon mitschwingenden Frage zurück, warum sie nicht in Deutschland verlegt wurde, lassen sich unterschiedliche Antworten geben. Das alleinige Erscheinen auf dem dänischen Markt dem Inhalt zuzuschreiben, würde die didaktische Rahmung missachten. Herzog hat hier schließlich »Gebrauchsprosa« für die nationalen Bedingungen der Leselernliteratur produziert, die nicht in allem kongruent mit dem deutschen Markt sein müssen. Das heißt bei sicherlich international geteilten Zielen (Lesekompetenzförderung) können die Maßnahmen dazu national unterschiedlich gewichtet und damit auf dem Markt unterschiedlich profitabel sein. Dennoch zeigt das obige Zitat von Annette Herzog zur Aufforderung in der dänischen KJLM-Autor*innenausbildung, Provokationen zu erproben, dass Unterschiede zwischen Deutschland und Dänemark nicht allein durch Marktgegebenheiten und didaktische Schwerpunkte zu erklären sind. Diese Differenz lässt sich nun schließlich m. E. nicht nur anhand dieses einen Einzelfalls fassen, sondern auch systematisieren, wie anhand der obigen Thesen ausgeführt wurde. Was ist nun damit Neues gewonnen? Wenn man die Unterteilung von KJLM 1 und KJLM 2 zwischen Kunst- und Erziehungssystem aus Sicht des Erziehungssystems »von innen« erweitert, bietet sich die Möglichkeit, Störungen, Auffälligkeiten oder Irritationen nicht allein mit Verweis auf die Kunstfreiheit zu erklären und so gewissermaßen auszulagern. Vielmehr können diese Irritationen aus systemtheoretischer Sicht genauer gefasst werden, wenn man sie in einem erweiterten Verständnis von Erziehung nicht allein auf dessen problematische Leitcodierung und mit Fokus auf (schulischen) Unterricht, sondern als moralische Kommunikation fasst. Denn es ist nicht allein Kommunikation im schulischen Erziehungssystem, die debattiert, was angemessen für KJLM ist. Es gibt schließlich Gerichtsakten, religiöse oder ökonomische Interessen, die mitverhandeln, wenn es darum geht, was gut oder schlecht oder schlicht machbar im Rahmen von KJLM ist. Weil moralische Kommunikation diese Wertungspraktiken sichtbar machen kann, macht sie die Probleme, auf die Störungen etc. in Bezug auf KJLM hinweisen, klarer als ein Fokus auf Erziehung und Kunst allein, ohne dabei die Fragen nach Kunst und Erziehung verlassen zu müssen.

Thomas Boyken

Mediale Konventionsbrüche? Narratologische und poetologische Überlegungen

1.

Zur Aktualität von Materialität und Medialität

Seit einigen Jahren lässt sich in den Kultur- und Literaturwissenschaften ein breites Interesse an materalitäts- und medialitätstheoretischen Fragestellungen konstatieren.1 Dass auch in der Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur diese Perspektive eine Rolle spielt, ist nicht überraschend,2 thematisieren kinderund jugendliterarische Texte doch immer wieder ihre eigene material-mediale Vermitteltheit, was man auf den spezifischen Adressatenbezug zurückführen kann. So konstatiert Klaus Müller-Wille: »Kinder- und jugendliterarische Texte beteiligen sich noch sehr aktiv an dem Versuch, ihre LeserInnen in den Umgang mit Büchern – insbesondere in das Lesen – einzuüben. Sie setzen den Umgang mit Medien und Materialien nicht einfach voraus, sondern versuchen genau diesen Umgang selbst noch zu vermitteln.«3

1 Für den deutschsprachigen Raum kamen die ersten Impulse schon 1988 von Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig (Hrsg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt/Main 1988. Mittlerweile ist das Forschungsfeld insbesondere mit Blick auf Materialitätsaspekte breit aufgestellt. Vgl. u. a. Quenzer, Jörg B./Bondarev, Dimitry/Sobisch, Jan-Ulrich (Hrsg.): Manuscript Cultures: Mapping the Field. Berlin/München/Boston 2014; sowie Bausi, Alessandro/ Friedrich, Michael/Maniaci, Marilena (Hrsg.): The Emerge of Multiple-Text Manuscripts. Berlin/Boston 2019. 2 Vgl. Hubli, Katharina: Kunstprojekt (Mumin-)Buch. Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission. Tübingen 2019; Rigler, Petra Bäni: Bilderbuch – Lesebuch – Künstlerbuch. Elsa Beskows Ästhetik des Materiellen. Tübingen 2019; Lötscher, Christine: Technik des Sinns. Hermeneutik des Unsinns. Materialität, Medialität und ästhetische Erfahrung in Lewis Carrolls Alice-Büchern. In: Magnus, David/Rickenbacher, Sergej (Hrsg.): Technik – Ereignis – Material. Neue Perspektiven auf Ontologie, Aisthesis und Ethik der stofflichen Welt. Berlin 2019, S. 71–86; oder Dies.: Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur. Stuttgart/Weimar 2020. 3 Müller-Wille, Klaus: Das Lesen neu erfinden. Zu Aspekten der Materialität in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Dettmar, Ute/Roeder, Caroline/Tomkowiak, Ingrid (Hrsg.): Schnittstellen der Kinder- und Jugendmedienforschung. Aktuelle Positionen und Perspektiven. Stuttgart 2019, S. 11–26, hier: S. 13.

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Es geht also zumindest bei Kinderliteratur darum, über ein begreifendes Lesen an ein kognitives Lesen heranzuführen. Um den kindlichen Rezipienten die Lektüre zu erleichtern, operieren Kinderbücher mit »visuelle[n] Aspekte[n] des Schriftbildes sowie haptische[n] Qualitäten des Buches«.4 Neben den Illustrationen, die ein etabliertes Verfahren sind, um kindliche Leserinnen und Leser mit buchmedialen Rezeptionskonventionen vertraut zu machen, macht Müller-Wille aber auch auf die grundsätzliche Bedeutung der typographischen Gestaltung von Kinder- und Jugendbüchern aufmerksam.5 Am Beispiel von Kurt Schwitters Märchen »Die Scheuche« zeigt er, dass die typographische Gestaltung des Textes nicht nur eine Diegese erzeugt, sondern die Art und Weise, wie die fiktive Welt erzählt wird, reflektiert. Schwitters Märchen, das er zusammen mit Käte Steinitz und Theo van Doesburg 1925 gestaltet hat, operiert mit typographischem Material, das sich teilweise zu Figuren formt und die handelnden Akteure des Märchens repräsentiert. Insofern führe »Die Scheuche« aufgrund der Seitenkomposition dazu, »eine in mehrfacher Hinsicht oszillierende Lektüretätigkeit einzuüben, bei der die kindlichen LeserInnen ihre Aufmerksamkeit (wie bei einem Blick durch die Fensterscheibe) wahlweise auf die repräsentierte Diegese (die sichtbare Landschaft im Fenster) oder die materielle Präsenz des Textes (die Fensterscheibe selbst) richten können«.6 Müller-Wille wendet sich damit gegen eine Ästhetikvorstellung, die Literatur vornehmlich als geistigen Gehalt versteht. Am Beispiel der Märchen von Hans Christian Andersen zeigt er zudem, dass Andersen seine Texte mit dem Fluchtpunkt der Repräsentation im Medium Buch geschrieben und so eine spezifische »Form der literarischen Materialästhetik entwickelt« hat.7 In den Analysen zu Andersens ›Materialästhetik‹ greift MüllerWille auf buchwissenschaftliche Forschungsparadigmen, medien- und materialitätstheoretische Diskurse und (traditionell) poetologische Ansätze zurück. Medientheoretisch stützt er sich auf Modellierungen, die Dieter Mersch in seiner negativen Medientheorie geprägt hat und die oftmals unter dem Konzept der ›Störung‹ verhandelt werden.8 Daneben führen diese Beobachtungen m. E. auch zu einem narratologischen Desiderat. Denn in gedruckten Erzähltexten hat sich 4 Ebd., S. 15. 5 Vgl. ebd. Inwieweit sich das Erklärungsmodell, dass Kinderbücher ihre material-mediale Vermitteltheit thematisieren, um in die Kulturtechnik ›Lesen‹ einzuführen, auch auf Jugendbücher ausweiten lässt, wäre zu prüfen. 6 Ebd., S. 17. 7 Vgl. Müller-Wille, Klaus: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017, S. 17. 8 Zu Merschs Medientheorie vgl. Mersch, Dieter: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002. Zur medialen Störung vgl. Rahn, Thomas: Das Auftauchen der Schrift im Text. Typographische Schrift-Bilder und Textpräparate in Rilkes früher Lyrik. In: Endres, Martin/ Pichler, Axel/Zittel Claus (Hrsg.): Textologie. Theorie und Praxis interdisziplinärer Textforschung. Berlin/Boston 2017, S. 299–321, hier: S. 300.

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die Konvention etabliert, dass die spezifisch buchmediale Repräsentation in den Hintergrund tritt. Im Gegensatz zur Lyrik, deren material-mediale Vermitteltheit in Analysen stets berücksichtigt wird (oder zumindest berücksichtigt werden sollte), ist es für literaturwissenschaftliche Studien zumeist nicht relevant, wo im Roman welches Wort auf der Seite steht. Die typographische Gestaltung eines Romans ist im Gegensatz zur lyrischen Dichtung arbiträr bzw. von verlegerischen Entscheidungen geprägt, weswegen Gérard Genette sie bekanntlich zur Paratextualität zählt.9 Dass es sich hierbei lediglich um eine Darbietungskonvention handelt, erkennt man, wenn man sich mit Romanen des 18. Jahrhunderts befasst. Laurence Sternes »Tristram Shandy« (1759–67) lotet beispielsweise die buchmedialen Ausdrucksmöglichkeiten förmlich aus, indem er die typographische Gestaltung und die buchmediale Repräsentation für die Erzählung extensiv nutzt.10 Insofern muss eine literaturgeschichtliche Perspektive angelegt werden, die auch Fragen der Distribution und die Einflussmöglichkeiten von Autorinnen und Autoren hinsichtlich der konkreten Druckgestalt ihrer Bücher berücksichtigt. Ferner sind auch medientechnische Entwicklungen zu bedenken, wenn man erklären will, wie und warum sich die Konvention sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch durchgesetzt hat, dass ein Prosatext seine material-mediale Vermitteltheit zurückstellt.11 Ein wichtiger Grund für die Durchsetzung der Konvention scheint mir jedoch die Vorstellung, dass Erzählen ein genuin mündlicher Akt sei. Als Referenz kann für diese These neben Walter Benjamin12 auch der Kinderbuchautor Otfried Preußler angeführt werden, der 1985 in »Die Kunst des Erzählens« feststellt: »Als Geschichtenerzähler repräsentiere ich seit Adams und Evas Zeiten das älteste Medium der Unterhaltung, Belehrung, der Nachrichtenübermittlung schlechthin – eine Tatsache, die mich mit Stolz erfüllt, ohne dass sie mich überheblich machte. Vielmehr

9 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 6. Aufl. Frankfurt/Main 2016, S. 22. 10 Zu Sternes »Tristram Shandy« vgl. Schmitz-Emans, Monika: Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–1767). In: Dies. (Hrsg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium. Berlin/Boston 2019, S. 735–739. Ausführlicher zur diachronen Perspektive Boyken, Thomas: Medialität des Erzählens. Die Wiederentdeckung des Buches im Roman. Göttingen 2020, S. 48–55. 11 Vgl. dazu Boyken, Thomas: Formexperimente? Über die Funktion der Typographie im deutschsprachigen Gegenwartsroman am Beispiel von Jan Brandts Gegen die Welt (2011). In: Niefanger, Dirk/Weber, Alexander (Hrsg.): Zur Druckgeschichte und Intermedialität frühneuzeitlicher Dramendrucke. Münster 2018, S. 11–34. 12 Vgl. Benjamin, Walter: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Ausgewählt von Siegfried Unseld. 18. Aufl. Frankfurt/Main 2018, S. 385–410.

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verleiht sie mir eine gewisse Sicherheit der Einschätzung meiner selbst, zudem meines Handwerks. Oder sollte ich Mundwerk sagen? Die Unterscheidung ist schwierig.«13

Es geht an dieser Stelle nicht um Mündlichkeitseffekte einer nachgeahmten Erzählsituation, wie sie beispielsweise in Textsorten wie dem Märchen auftreten. Vielmehr sieht Preußler zwischen dem Erzähler und dem Schriftsteller eine deutliche Differenz: Während der Erzähler noch im direkten Kontakt mit seiner Zuhörerschaft stehe und durch Modulation der Stimme, durch Pausen, Gestik und Mimik das Erzählte vermittele, sei der Schriftsteller »im Vergleich zum Geschichtenerzähler ein armer Hund. […] Sobald du aber Geschichten aufschreibst, bist du mit dir allein, mit dir und deinem Bleistift, der Schreibmaschine, dem elektronischen Textsystem.«14

Für Preußler geht es nun darum, die mündlichen Geschichten in schriftliche Erzählungen zu transponieren, ohne dass die spezifische Qualität der mündlichen Erzählung verlorengeht.15 Diese Wechselwirkung zwischen mündlichem und schriftlichem Erzählen ist eine poetologische Konstante von Preußlers Kindererzählungen. Auch wenn sie in Buchform erscheinen, sind sie strukturell auf der Grenze von mündlichem und schriftlichem Erzählen verortet. Damit erhellt Preußlers kinderliterarisches Werk ein Axiom, das erzähltheoretischen Überlegungen zumeist unterlegt wird. Das mündliche Erzählen wird als ›Ursprung‹ des schriftlichen Erzählens vorgestellt, an dem sich das schriftliche Erzählen orientiere.16 Preußlers poetologische Position kann allerdings auch irritieren. Schließlich funktionalisieren seine Texte – ganz in der kinderliterarischen Tradition – die material-mediale Vermitteltheit für ihre Erzählung. Zudem ist zwischen mündlichem und schriftlichem Erzählen systematisch zu unterscheiden: Im Gegensatz zum mündlichen erfolgt das schriftliche Erzählen nicht notwendig linear. Schrift kann die Zweidimensionalität der Seite oder des Bildschirms und die Dreidimensionalität des Buches nutzen, womit mehr Informationen codiert werden 13 Preußler, Otfried: Die Kunst des Erzählens. In: Ders.: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Hrsg. von Susanne Preußler-Bitsch und Regine Stigloher. Stuttgart 2010, S. 91–96, hier: S. 91. 14 Ebd., S. 92f. 15 Preußler assoziiert die Differenz zwischen dem mündlichen Erzählen und dem schriftlichen Erzählen mit der auf Platon zurückgehenden Vorstellung einer Opposition zwischen der lebendigen Sprache und der toten Schrift (vgl. ebd., S. 93). 16 Beispielsweise stellt bereits 1910 Käte Friedemann fest: »Aus dem mündlichen Erzähler wird also der schriftliche, der aber noch immer die Fiktion des mündlichen Berichts zu erhalten strebt« (Friedemann, Käte: Die Rolle des Erzählers in der Epik. Reprograf. Nachdruck d. Ausgabe Berlin 1910. Darmstadt 1965, S. 35). Diese Vorstellung findet sich auch in gegenwärtigen narratologischen Ansätzen. So geht beispielsweise auch Monika Fludernik vom mündlichen Erzählen als Prototyp des Narrativen aus (vgl. Fludernik, Monika: Towards a Natural Narratology. London 1996, S. 13).

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können als im mündlichen Erzählakt.17 Während die mündliche Erzählung in der Zeit erfolgt, ist das schriftliche Erzählen von der Zeit entkoppelt und verräumlicht.18 Dass die Rezeption ausschließlich in der Zeit erfolgt, ist evident. Dies ficht jedoch nicht die Tatsache an, dass die schriftliche Erzählung als Text in einem spezifischen Medium gespeichert ist. Im Folgenden wird das narratologische Desiderat, das sich aus einem materialitäts- und medientheoretisch informierten Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur ergibt, näher bestimmt, wobei es an dieser Stelle nicht um Vollständigkeit geht. Vielmehr stehen zwei Phänomene im Mittelpunkt: Mediensimulationen und typographische Markierungen des Erzählerwechsels. Zunächst wird das narratologische Desiderat am Beispiel der ›klassischen Narratologie‹, wie sie Gérard Genette maßgeblich entworfen hat, erörtert. Hierbei gehe ich auch auf einige aktuelle kinder- und jugendliterarische Textbeispiele ausführlicher ein, um die beiden Phänomene zu konturieren. Die Argumentation läuft dabei auf eine Re-Formulierung der Konzepte showing und telling hinaus, die sich aus einer engen Auseinandersetzung mit Otfried Preußlers »Der Räuber Hotzenplotz« (1962) ergibt. Die Textbeispiele konzentrieren sich auf schriftliche Erzählungen im Medium Buch und insbesondere auf deren Seitenkomposition.19 Abschließend werden die narratologischen Überlegungen poetologisch kontextualisiert. Da sich Preußlers Poetik auf der Grenze von ›Mund‹- und ›Handwerk‹ bewegt, werde ich abschließend eine poetologische Erweiterung anstreben. Der vorliegende Beitrag unternimmt insofern einen Problemaufriss, der sich auf zwei Gebiete erstreckt (Narratologie und Poetik).

17 Vgl. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Frankfurt/Main 2015, S. 607; zur ›Zweidimensionalität‹ vgl. Raible, Wolfgang: Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg 1991; zur ›Dreidimensionalität‹ vgl. Spoerhase, Carlos: Linie, Fläche, Raum. Göttingen 2016. 18 Vgl. Strätling, Susanne/Witte, Georg: Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung in diesen Band. In: Dies. (Hrsg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 7–18, hier: S. 17f.; sowie Krämer, Sybille: Sprache, Stimme, Schrift. Zur impliziten Bildlichkeit sprachlicher Medien. In: Deppermann, Arnulf/Linke, Angelika (Hrsg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York 2010, S. 13–28, hier: S. 13. 19 Zum Begriff ›Seitenkomposition‹ vgl. Boyken, Medialität des Erzählens. 2020, S. 39–42.

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2.

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Von Mund- und Handwerk: Linearitäts- und Mündlichkeitsparadigma in der Narratologie

Dass erzähltheoretische Ansätze die schriftliche Vermitteltheit ihres Gegenstands zumeist unberücksichtigt lassen, wurde bereits von Klaus Weimar herausgestellt.20 Wie eingangs angedeutet, ist der ›blinde Fleck‹ der sog. ›klassischen Narratologie‹ möglicherweise auf das Mündlichkeits- und das Linearitätsparadigma zurückzuführen.21 Erzähltheorien setzen die ursprünglich mündliche Vermitteltheit der Erzählung und die daraus resultierende Linearität implizit voraus. So konstatiert Eberhard Lämmert zu Beginn seiner »Bauformen des Erzählens« (1955): »Das allgemeinste Aufbauprinzip, das die Erzählkunst mit jeder Sprachkundgebung zunächst teilt, ist das Prinzip der Sukzession, in der sie allein dargeboten und auch aufgenommen werden kann.«22 Mit Blick auf den Rezeptionsakt ist Lämmerts These richtig. Allerdings kann eine Erzählung ihre Linearität in ihrer Darbietungsform aufheben, wenn beispielsweise zwei Geschichten auf der oberen und der unteren Hälfte der Seite oder im Mehrspaltendruck parallel gesetzt werden.23 Insofern scheint Lämmerts These hinsichtlich der textuellen Verfasstheit differenzierungsbedürftig, da die Seitenkomposition nicht notwendig dem ›Prinzip der Sukzession‹ folgt. Auch Gérard Genette interessiert sich in seinen narratologischen Schriften eigentlich nicht für den spezifisch schriftlichen Akt des Erzählens, wenngleich er in Auseinandersetzung mit dem Linearitätsparadigma die schriftliche Verfasstheit der buchhaften Erzählung erkennt: »Das Buch gehorcht denn doch etwas mehr, als man heute oft sagt, der berühmten Linearität des sprachlichen Signifikanten, die sich leichter in der Theorie negieren als faktisch aufheben läßt. Dennoch soll hier nicht der Status der (literarischen oder sonstigen) schriftlichen Erzählung mit dem der mündlichen gleichgesetzt werden: ihre Zeitlichkeit ist gewissermaßen bedingt oder instrumentell; wie jeder Gegenstand in der Zeit produziert, existiert die schriftliche Erzählung im Raum und als Raum, und die Zeit, die man braucht, um sie zu ›konsumieren‹, ist die, die man braucht, um sie zu durchlaufen oder zu durchmessen – wie eine Straße oder ein Feld.«24

20 Vgl. Weimar, Klaus: Wo und was ist der Erzähler? In: Modern Language Notes 109, 1994, S. 495–506, hier: S. 499. 21 Vgl. Boyken, Medialität des Erzählens. 2020, S. 12f. 22 Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. 3., unv. Aufl. Stuttgart 1968, S. 19. 23 Vgl. Zubarik, Sabine: Kein Normalzustand: Simultane Materialanordnungen in zeitgenössischen Romanen. In: Caduff, Marc/Heine, Stefanie/ Steiner, Michael (Hrsg.): Die Kunst der Rezeption. Bielefeld 2015, S. 207–220. 24 Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. 2. Aufl. München 1998, S. 21f.

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Genette differenziert zwischen dem literarischen Gegenstand und seiner Rezeption. Diese kann nur in der Zeit erfolgen, während der Text als Buch materialisiert und auf den Seiten verräumlicht wird. Für Genette ist diese Differenz nun Anlass, um die Zeitrelationen in Erzählungen zu spezifizieren. Ihre Zeitlichkeit erzeugt die schriftliche Erzählung einerseits über die Zeitdeiktika ihrer Geschichte (erzählte Zeit). Andererseits ist ihr über ihre räumliche Repräsentation bereits eine (individuelle) Lesezeit eingeschrieben (Erzählzeit).25 Um diese Erzählzeit, also die Zeit, die ein Leser für die Lektüre benötigt, zu konturieren, greift Genette auf das Bild des zu durchschreitenden Raumes zurück. Dabei wechselt Genette das sprachliche Register und vergleicht die schriftliche Konstitution einer Erzählung und die an dieses Medium gebundene Lektüre mit dem ›Durchlaufen‹ einer Straße oder dem ›Durchmessen‹ eines Feldes. Damit wird die Differenz zwischen der schriftlichen und der mündlichen Erzählung insofern markiert, als Genette den genuinen Speicherungs- und Verräumlichungscharakter der schriftlichen Erzählung ins Bild setzt. Zwar verfolgt er die Differenz von erzählter Zeit und Erzählzeit weiter, doch die Potenziale der ›Verräumlichung‹ werden analytisch nicht weiter berücksichtigt, auch weil sie sich laut Genette »leichter in der Theorie negieren als faktisch aufheben« lassen.26 Das ist insofern überraschend, als Genette im »Nouveau discours du récit« (1979) mit Blick auf die von ihm gern genutzten doppelwertigen Tabellen die »Möglichkeiten des zweidimensionalen Raums«27 der schriftlichen Aufstellungen explizit hervorhebt. Während Genette also im analytischen Sprechen über Literatur die Potenziale der Schriftlichkeit zumindest an einer Stelle betont, werden sie für die Analyse der literarischen Gemachtheit einer Erzählung nicht systematisch erfasst. Faktisch ist es wohl so, dass unterschiedliche Ausprägungen von Mündlichkeiten und Schriftlichkeiten in intrikater Vermittlung und systematischer Überkreuzung Teil der generativen Poiesis von Erzählungen sind.28 Gleichzeitig

25 Nicht umsonst wird die Erzählzeit in Ermangelung einer Alternative in Seitenzahlen ›gerechnet‹. Vgl. Müller, Günther: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst (Bonner Antrittsvorlesung 1946. Bonn 1947). Mit Genehmigung des Athenäum-Verlages, Bad Godesberg. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1968, S. 247–268. Allerdings handelt es sich hierbei um einen Raum-Zeit-Kurzschluss. Die Raum-Zeit-Analogie ist auch deswegen prekär, weil im Zeitalter des E-Books keine festen Seitenzahlen mehr bestehen; je nach Bedürfnis kann die Schriftgröße variiert werden. Die Erzählzeit variiert jedoch nicht. Konsequenterweise müsste man also nicht von der Seitenzahl, sondern vom Zeichenumfang ausgehen, um die Erzählzeit zu bestimmen. 26 Genette, Die Erzählung. 1998, S. 22. 27 Ebd., S. 278. 28 Vgl. Ong, Walter: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. New York 1982, S. 127; Krämer, Sybille: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2001, S. 95–108; sowie Aeberhard, Simon: Mündlich-

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nutzen Erzählungen immer wieder ihre schriftliche Verfasstheit, um Dinge zu erzählen, die nicht im engeren Sinne ›erzählt‹ werden. In Anne Beckers Debütroman »Die beste Bahn meines Lebens« (2019) werden diagrammatische Zeichen für die Erzählung genutzt. Der Roman handelt von Jan, der mit seiner Familie in den Sommerferien umzieht, und seiner neuen Nachbarin Florentine, die im Roman konsequent mit Flo bezeichnet wird. Neben den üblichen Problemen, die ein Ortswechsel für einen Jugendlichen mit sich bringt, geht es um die Annäherung der beiden Protagonisten. Dabei wird vornehmlich aus der Perspektive von Jan erzählt, der auch der autodiegetische Erzähler des Romans ist. Ihm wird eine zweite Stimme an die Seite gestellt: Hierbei handelt es sich um Flo, die aber nicht ›erzählt‹, was sie erlebt und denkt. Vielmehr präsentiert der Roman Flos Tagebuch, das im Buch auf spezifische Art dargeboten wird: Auf Karopapier sind Säulen- und Kreisdiagramme abgebildet, die durchgängig in Schwarz-Weiß gehalten sind. Neben Jans Erzählungen, die seine Begegnungen mit Flo, seine Schwimmerlebnisse und seine Gedanken und Gefühle schildern, stehen also Diagramme, nichtalphabethische und alphabetische Zeichen, die die Ich-Erzählung von Flo ›ersetzen‹. Begründet wird diese etwas ungewöhnliche Art, ein Tagebuch zu führen, mit Flos Mathematikbegabung: »Aber Flo ist genial. Bei ihr ist alles Mathe. Sogar ihr Tagebuch besteht nur aus Säulendiagrammen und Prozenttorten«.29 Es mag einigermaßen überraschen, dass Jan als traditioneller Erzähler fungiert, da er innerhalb der fiktiven Welt unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche leidet. Entscheidender ist jedoch, dass die fiktive Welt des Romans erst aus der Wechselwirkung von Flos diagrammatischen Tagebuch und Jans Erzählpassagen entsteht. Im Prinzip handelt es sich hierbei um eine Mediensimulation, die die Schriftbildlichkeit für die Erzählung funktionalisiert.30 Markiert wird dieser Erzählerwechsel im Paratext: Bei der ersten Simulation einer Seite aus Flos Tagebuch steht in der oberen Ecke der Seite: »Flo (Tagebuch)«.31 Nach dieser Erwähnung wird der paratextuelle Hinweis für alle folgenden Seiten auf »Flo« reduziert. Das Spektrum solcher Mediensimulationen ist recht weit und findet sich sowohl in der Kinder- und Jugend- als auch in der Allgemeinliteratur: Die Seitenkomposition kann sowohl Arztbriefe32 als auch Whatsapp-Nachrichten33 oder

29 30 31 32 33

keit, Schriftlichkeit. In: Simon, Ralf (Hrsg.): Poetik und Poetizität. Berlin/Boston 2018, S. 475– 490. Becker, Anne: Die beste Bahn meines Lebens. Weinheim/Basel 2019, S. 75. Vgl. zur Schriftbildlichkeit Krämer, Sybille: ›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift. In: Krämer, Sybille/ Bredekamp, Horst (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 157–176. Becker, Meine beste letzte Bahn. 2019, S. 6. Vgl. Wagner, David: Leben. Reinbek bei Hamburg 2013, S. 13, 128, 137, 233, 255 287. Vgl. Rhue, Morton: Dschihad online. Ravensburg 2016, S. 80. In Rhues Jugendbuch werden auch Twitter-Feeds emuliert (vgl. ebd., S. 78).

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vermeintlich historische Texte,34 fingierte Stasi-Akten,35 den Verlauf eines Chats36 oder Museumstafeln37 imitieren. Besonders beliebt sind Schrifttypen, die Handschriften nachahmen und somit Briefe auszeichnen, die in der fiktiven Welt geschrieben werden.38 Medien, die innerhalb der fiktiven Welt von den Figuren genutzt werden, werden in ihrem Erscheinungsformat simuliert (also: schriftlich konstruiert und damit ›gezeigt‹). Bei diesen Beispielen handelt es sich um Mediensimulationen im engeren Sinne (diegetische Mediensimulation). Sie entwickeln kein selbstreflexives Potenzial, sondern erzeugen insofern einen Realitätseffekt, als sie auf bekannte Medienverfahren und -darstellungen verweisen. Die diegetischen Mediensimulationen lassen sich auf der Ebene der histoire verorten (die Tagebuchseiten in »Die beste Bahn meines Lebens« behaupten, das fiktive Tagebuch von Flo zu sein).39 Narratologisch nicht eindeutig zu klären ist, welcher heuristischen Instanz der Abdruck der Tagebuchseiten in Beckers Roman zugeschrieben werden kann. Der autodiegetische Erzähler Jan weiß nicht, was im Tagebuch steht. Insofern muss man wohl dem impliziten Autor – quasi als übergeordnete Kompositionsinstanz der Erzählung – die Zuständigkeit für diese Mediensimulation zusprechen. Anne Freytags Jugendroman »Nicht weg und nicht da« (2018) operiert ebenfalls mit Mediensimulationen. Es finden sich emulierte Whatsapp-Nachrichten und Schrifttypen, die Handschriften imitieren.40 Auch ein Klingelschild wird seitenkompositionell nachgeahmt.41 Narratologisch bemerkenswert sind 34 Setz, Clemens J.: Indigo. Frankfurt/Main 2012, S. 80f. Hier wird eine Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel über eine gesprochene Schrifttype und eigener Seitenzählung fingiert. 35 Vgl. Fürstenberg, Paula: Familie der geflügelten Tiger. Köln 2016, S. 18, 38f., 52f., 68–70, 81f., 94–97, 119–122, 139–141, 160–162, 170, 182–185, 194–198, 209–212, 217–226; oder die Akten »aus dem archiv für staatssicherheit« bei Trojanow, Ilija: Macht und Widerstand. Frankfurt/ Main 2015, S. S. 34, 75f., 106f., 141–144, 182–190, 231–235, 257–261, 272–274, 288–295, 323, 342–345, 367f., 388–391, 408–410, 421–427. 36 Vgl. Varatharajah, Senthuran: Von der Zunahme der Zeichen. Frankfurt/Main 2016. Der Roman wird konsequent als Chatprotokoll des Social-Media-Dienstes Facebook präsentiert. Senthils Passagen sind kleingeschrieben, aber mit korrekter Kommasetzung, und unterscheiden sich dadurch von Valmiras Nachrichten. Im Prinzip markiert die Kleinschreibung damit einen Stimmenwechsel. 37 Vgl. Martynova, Olga: Mörikes Schlüsselbein. München 2015, S. 31. 38 Vgl. Freytag, Anne: Mein bester letzter Sommer. München 2016, S. 363–365. 39 Man kann mit Remigius Bunia hier von syndiegetischen Elementen sprechen: Flos Tagebücher sind sowohl »Teil der Diegese« als auch Element des discours. Allerdings muss die ontologische Differenz zwischen dem faktischen Buch und der fiktiven Welt bedacht werden, da es sonst so viele Tagebücher wie Bücher von »Die beste Bahn meines Lebens« geben würde. Vgl. Bunia, Remigius: Die Stimme der Typographie. Überlegungen zu den Begriffen ›Erzähler‹ und ›Paratext‹, angestoßen durch die Lebens-Ansichten des Katers Murr von E.T.A. Hoffmann. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 37, 2005, S. 374–392, hier: S. 375. 40 Vgl. Freytag, Anne: Nicht weg und nicht da. München 2018, S. 42f., 252, 269f., 63–65. 41 Vgl. ebd., S. 238.

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ferner zwei Dinge: Einerseits finden sich zahlreiche Mails, die in einer anderen Schrifttype und durch einen typischen Mailkopf vom übrigen Fließtext abgehoben werden. Andererseits werden Vorsatz und Anpappblatt (also die Innenseiten des Buchdeckels) typographisch so gestaltet, dass sie auf Dinge der erzählten Welt verweisen. Die im Roman eingefügten Mails sind für die Erzählung zentral, da sie als Katalysator des Handlungsgangs fungieren. Auch hier wird die Geschichte von mehreren Erzählinstanzen präsentiert. Die 15-jährige Luise erzählt vom Suizid ihres älteren Bruders Kristopher. Ihre Erzählpassagen wechseln sich in schneller Folge mit der Erzählerrede des vier Jahre älteren Jacob ab, der sich in Luise verliebt. Der tote Kristopher erhält im Rahmen der Erzählung aber auch eine eigene Stimme: Vor seinem geplanten Suizid hat er mehrere Mails verfasst, die er über die Internetplattform »futureme.org« an seine jüngere Schwester adressiert. Die Internetplattform ermöglicht es, sich selbst oder anderen Mails zu schreiben, die aber erst zu einem späteren Zeitpunkt – der mitunter Jahre in der Zukunft liegt – versendet werden.42 Kristopher hat seiner Schwester mehrere Nachrichten geschrieben, die erst nach seinem Suizid als »Lebenszeichen aus der Zwischenwelt« verschickt werden.43 Insofern liegt auch hier nicht nur ein multiperspektivisches Erzählen, sondern eine Erzählung mit mehreren Stimmen vor, wobei die typographische Markierung den besonderen Status der Mails, die vom toten Kristopher stammen, hervorheben.44 Im Vorsatz wird ein handschriftliches Notizblatt, von dem in der Diegese erzählt wird, simuliert. Es erstreckt sich über das Anpappblatt und imitiert ein liniertes Blatt, das leicht schräg abgebildet wird. Auf dem Blatt finden sich einige Stichworte, die mit einem Kugelschreiber handschriftlich festgehalten wurden. 42 Die Internetplattform ist keine literarische Fiktion. Der Anbieter wirbt mit einer Kundenmeinung: »I love this. I’ve sent myself 5 letters so far and every year it’s a surprise. Because I forget so easily. It turns into such a deep reflective process, that I usually weep and laugh while I write.« (letzter Zugriff: 22. 12. 2020). 43 Freytag, Nicht weg und nicht da. 2018, S. 145. 44 Die über den Tod hinausreichende Kommunikation über das Medium Mail stellt einen intertextuellen Bezug zur US-Serie »Thirteen Reasons Why« (2017–2020) her. Im Gegensatz zur Serie, die in »Nicht weg und nicht da« explizit erwähnt wird, variiert Freytags Roman jedoch das Suizid-Motiv: Mit den Mails des Toten werden keine Vorwürfe artikuliert. Vielmehr sollen sie als Unterstützung der Trauerbewältigung fungieren. In den ca. monatlich eintreffenden Mails erläutert Kristopher die Gründe für seinen Suizid und versucht so, seine Schwester von Schuldgefühlen zu entlasten. Zudem stellt er seiner Schwester mehrere Aufgaben, die sie erfüllen muss, damit er die ›Zwischenwelt‹, in der er sich als Suizident befinde, verlassen könne. In lockerer Anlehnung an die griechische Mythologie muss ein Lebender stellvertretend für den Toten Aufträge erfüllen. Insofern resultiert die eigentliche Erzählhandlung aus diesen Aufgaben, die Luise zur Selbstständigkeit ›erziehen‹ sollen. Auf einer ethisch-moralischen Ebene könnte sich diese Erzählstruktur als problematisch erweisen, da der Suizid des Bruders auf kompositioneller Ebene zur ›Selbstfindung‹ der Protagonistin eingesetzt wird.

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Hierbei handelt es sich um die Abbildung eines Notizzettels, den Kristopher angelegt hat und der auch in der erzählten Welt eine besondere Rolle spielt. Auch das Ende des Buches nutzt den Raum, der üblicherweise nicht mehr zur Erzählung der Geschichte verwendet wird, sondern als paratextueller Schwellenraum fungiert.45 Hier findet sich ebenfalls eine Abbildung, die sich über den fliegenden Vorsatz und das Anpappblatt erstreckt. Im Design des Musik-Streamingdienstes Spotify wird eine Playlist mit Titeln abgebildet, die auch im Roman erwähnt werden. Diese Playlist findet sich wiederum im realen Streamingdienst unter dem Titel »Luise & Jacob (& Kristopher) – Die Playlist zum Buch ›Nicht weg und nicht da‹ von Anne Freytag«. Der Heyne-Verlag hat die Playlist angelegt. Insofern führt dieses Erzählverfahren nicht nur zur Infragestellung von paratextuellem und textuellem Raum, sondern zielt auch auf die Ausweitung der Fiktion in die Wirklichkeit. Die typographische Auszeichnung avanciert in Freytags Roman zu einem textuellen Element und gliedert sich in ein realistisches Schreiben ein, indem die Diegese mit vermeintlichen Realien und Mediensimulationen durchzogen wird, die die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit permeabel erscheinen lassen.46 Bei allen genannten Beispielen wird die typographische Auszeichnung zur Markierung eines Erzählerwechsels genutzt. Auch in Stefanie Höflers »Tanz der Tiefseequalle« wird – ähnlich wie in Beckers »Die beste Bahn meines Lebens« – eine Geschichte von zwei jugendlichen Protagonisten erzählt. Pro Kapitel wechselt die Stimme, zunächst erzählt Sera, danach berichtet Niko von seinen Erlebnissen und Gedanken. Auch hier geht es um die Annäherung der beiden Jugendlichen, die dann in einer Wechselrede im Schlusskapitel ihren Ausdruck findet. Zwar unterscheiden sich die Erzählpassagen von Sera und Niko auch stilistisch, allerdings gibt es im Gegensatz zu Beckers Roman keinen expliziten Hinweis auf einen Erzählerwechsel. Gleichwohl wird auch hier die paratextuelle Auszeichnung funktionalisiert: Während die Passagen, die von Sera stammen, in der Schrifttype Legacy Serif Book gehalten sind, wird Nikos Rede in der Type Syntax Roman präsentiert. Ferner markiert zu Beginn eines jeden Kapitels die Buchstabenvignette, in der der erste Buchstabe des ersten Wortes gesetzt ist, ob

45 Vgl. Genette, Paratexte. 2016, S. 23–40. 46 Ich beziehe mich hier auf ein realistisches Textverfahren, wie es Moritz Baßler konturiert hat. Vgl. Baßler, Moritz: Die Unendlichkeit des realistischen Erzählens. Eine kurze Geschichte moderner Textverfahren und die narrativen Optionen der Gegenwart. In: Rohde, Carsten/ Schmidt-Bergmann, Hansgeorg (Hrsg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 1993, S. 27–45, hier: S. 27; sowie Ders.: Populärer Realismus. In: Lüdke, Roger (Hrsg.): Kommunikation im Populären. Interdisziplinäre Perspektiven auf ein ganzheitliches Phänomen. Bielefeld 2011, S. 91–103, hier: S. 91.

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es sich um die Erzählerin Sera (eckige Vignette) oder um den Erzähler Niko (runde Vignette) handelt.

3.

Kann eine Erzählung auch zeigen? Diegetische Mediensimulationen und das ›Erzählerproblem‹ in Preußlers Der Räuber Hotzenplotz

Die Auseinandersetzung mit der Seitenkomposition im schriftlichen Erzählen von kinder- und jugendliterarischen Texten führt zu zwei narratologischen Problemstellen: Zum einen wäre ausführlicher zu diskutieren, wie man mit diegetischen Mediensimulationen und der typographischen Auszeichnung des Erzählerwechsels narratologisch umgeht. Zum anderen wäre die Frage der heuristischen Zuständigkeit für die Seitenkomposition zu klären. Bislang habe ich angenommen, dass dem impliziten Autor diese Kompositionsfunktion zugeschlagen werden könnte.47 Dass diese beiden Aspekte zusammenhängen, wird abschließend an Otfried Preußler »Der Räuber Hotzenplotz« (1962) gezeigt. Es handelt sich um eine Kasperlgeschichte, die eindeutig Kinder als Rezipienten adressiert. Dies sieht man an den kindgerechten Illustrationen, der schematischen Handlungsführung, der eher einfachen Geschichte und der deutlichen Tendenz zur Parataxe und zum einfachen Stil. Preußlers Kinderroman nutzt vor allem die Seitenkomposition, um Dinge zu vermitteln, die nicht von der extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählinstanz erzählt werden. Neben den Illustrationen fallen die unterschiedlichen Schrifttypen auf: Im »Räuber Hotzenplotz« finden sich zahlreiche handschriftliche Passagen. Im Gegensatz zu den diegetischen Mediensimulationen wird hiermit kein anderes Medium simuliert. Mit diesen zwei Schrifttypen manifestiert sich ein ›Stimmenwechsel‹: Es stellt sich nämlich die Frage, ob die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz, die die Geschichte um den Räuber Hotzenplotz, Kasperl, Seppel und den Zauberer Petrosilius Zwackelmann erzählt und in der für den ›Haupttext‹ durchgängig verwendeten Garamond-Schrift angezeigt wird, mit der Erzählinstanz, die sich in der Handschrifttype realisiert, identisch ist. Sowohl stilistisch als auch funktional erscheint es daher angebracht, von zwei Erzählinstanzen zu sprechen. Reduziert sich die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz auf die Vermittlung der Geschichte, so kommentiert, reflektiert und ironisiert der handschriftlich markierte Erzähler die Geschichte. Insofern lässt sich hier durchaus von zwei Erzählinstanzen sprechen, wobei die erste Stimme (Garamond-Schrift) die narrative 47 Vgl. auch Bunia, Die Stimme der Typographie. 2005, S. 390f.

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Funktion übernimmt und die zweite Stimme (Handschrift) eine metanarrative Funktion besitzt. An neun Stellen finden sich im »Hotzenplotz« solche handschriftlichen Bemerkungen: »Denn Knoten im Taschentuch sind oft schon nützlich gewesen«, »Aber Räuber sind oft gar nicht so dumm, wie sie manchmal ausschauen« oder »Was kann man von so einem Bösewicht auch anderes erwarten?« Sie kommentieren das Erzählte und geben der Geschichte mitunter eine ironische Wendung, ohne dass die extradiegetisch-heterodiegetische Erzählinstanz davon Kenntnis nimmt.48 Interessant ist dieser Sachverhalt auch, weil es sich bei diesen handschriftlichen Passagen nicht um Preußlers Handschrift handelt. Sie stammen vom Illustrator Franz Josef Tripp, der für die Drucklegung eng mit Preußler zusammengearbeitet hat. Während es heute in den Verlagen Spezialisten für das Handlettering gibt, wurden solche Arbeiten in den 1950er und -60er Jahren von den Illustratoren erledigt. Die handschriftlichen Kommentare wirken wie eine Ergänzung, die womöglich erst später beigefügt wurden. Funktional reflektieren diese Passagen womöglich auch die Vorlesesituation, da sie wie Kommentare der vorlesenden Person wirken. Insofern könnten diese Passagen eine Technik sein, um die Mündlichkeit des Erzählten im schriftlichen Erzählen zu realisieren. So fordert Preußler in »Die Kunst des Erzählens«: »Alles, was dir beim unmittelbaren Erzählen zur Verfügung gestanden hat: Nun musst du versuchen, es in den geschriebenen Text hineinzulegen.«49 Aufgrund des Medienwechsels nutzt der Kinderroman aber eben die material-medialen Verfahren des Buches, indem auch der Illustrator Tripp in die Erzählung der Geschichte eingebunden wird. »Der Räuber Hotzenplotz« ist möglicherweise das Produkt einer kollaborativen Autorschaft von Preußler und Tripp.50 Gleichzeitig wird so auch die Grenze von Text und Illustration unsicher. Denn auch die Kapitelüberschriften sind von Tripps Hand, was mitunter zu Irritationen führt. So kommt es im Kapitel »Vorsicht, Gold!« zu einer Wiederholung der Kapitelüberschrift im Fließtext.51 Während die handschriftliche Kapitelüber48 Preußler, Otfried: Der Räuber Hotzenplotz. Eine Kasperlgeschichte. 73. Aufl. Stuttgart 2018 [1962], S. 22, 31, 56. In dieser Auflage fehlt jedoch eine handschriftliche Passage, die noch in der 53. von 2003 vorhanden war. Als Kasperl in den verbotenen Keller des Zauberschlosses geht, heißt es: »Ein Schritt, dann ein Griff nach der Klinke – und knarrend und quietschend (sehr hässlich quietschend) öffnete sich auch diese Tür.« Hiernach folgt ein handschriftlicher Kommentar, der auf dem Kopf steht. Wenn man das Buch dreht, kann man lesen: »Und wenn Türen quietschen, dann wird es meistens sehr spannend« (Ders.: Der Räuber Hotzenplotz. Eine Kasperlgeschichte. 53. Aufl. Stuttgart 2003 [1962], S. 72). 49 Preußler, Die Kunst des Erzählens. 2010, S. 92. 50 Es bleibt zu prüfen, ob die handschriftlichen Passagen des Drucks auch im Manuskript von Preußler zu finden sind oder ob Tripp sie tatsächlich ergänzt hat. Zur Bedeutung von Franz Josef Tripp vgl. Steinhauser, Mirijam: Von Jim Knopf bis Hotzenplotz. Die Kinderbuchwelten des Franz Josef Tripp. Würzburg 2018. 51 Vgl. Preußler, Der Räuber Hotzenplotz. 2018, S. 18f.

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schrift eindeutig zum Paratext gehört, gilt dies für die Handschrift im Fließtext nicht. Die mittelaxial im Text gesetzte Schrift verweist auf eine handschriftliche Aufschrift auf einer Kiste in der fiktiven Welt. Es wird nicht erzählt, wie die Schrift auf der Kiste aussieht, sondern sie wird gezeigt. Der Doppelpunkt markiert, dass nun keine paratextuelle Illustration, sondern Text folgt. Dass die Erzählinstanz schriftlich erzählt und die medialen Möglichkeiten der Seite dafür funktionalisiert, sieht man auch an einer anderen Stelle, wo nochmals die Schrift auf der Kiste aufgenommen wird. Nur wenige Seiten später wird nämlich das »Vorsicht, Gold!« auf der Kiste zitiert – diesmal jedoch in einer Kursiv- und nicht als Handschrift im Fließtext.52 Warum aber wird die Aufschrift in der Kursivtype des ›Haupttextes‹ wiedergegeben? Dies mag darin begründet sein, dass der Schrifttypenwechsel an dieser Stelle einen Perspektivwechsel indiziert. Der Leser nimmt die Schrift nun durch die Augen der Figur Hotzenplotz wahr. Dass die Figur die Aufschrift liest und es sich also nicht um die Aufschrift auf der Kiste handelt, sondern um das Ausgesprochene oder Gedachte, wird mittels Typographie angezeigt. Oder: Die Typographie dient als Mittel der internen Fokalisierung. Wie dies in einem anderen Medium, beispielsweise im Hörbuch, umgesetzt wird, ist eine eigene Frage. Wenn man das Hörbuch aber als hypothetische Substitutionsprobe anlegt, dann dürfte deutlich werden, dass es sich bei diesen Phänomenen um Elemente handelt, die eng an das gedruckte Buch geknüpft sind. In Preußlers Kinderroman finden sich auch diegetische Mediensimulationen. So schreibt Wachtmeister Dimpfelmoser auf einen Bogen Kanzleipapier eine öffentliche Bekanntmachung, die als Schriftstück im Buch abgebildet wird.53 Hier ist es erneut ein Doppelpunkt im Text, der die Differenz zwischen Illustration und Text, zwischen Paratext und Text kollabieren lässt. Während die typographische Gestaltung der Seite 115 eigentlich auf der Ebene des Paratextes zu verorten wäre, markiert der Doppelpunkt auf der gegenüberliegenden Seite die »Öffentliche Bekanntmachung« als Text. Ich gehe auf dieses vermeintliche Detail deswegen ein, weil in narratologischer Perspektive das bereits benannte Zuständigkeitsproblem nun augenscheinlich wird: Welche Instanz vergibt diese Informationen, wenn die Typographie doch eigentlich Paratext ist und damit keine narrative Funktion besitzt? Zu lösen wäre dieses Problem, wenn man für »Der Räuber Hotzenplotz« eine Erzählinstanz annimmt, die nicht nur ein Schrift-, sondern auch ein Buchbewusstsein besitzt. Allerdings gibt es keine expliziten Hinweise, dass entweder die extradiegetisch-heterodiegetische oder die Erzählinstanz, die über die Handschrift markiert wird, ein solches Bewusstsein besitzt. 52 Vgl. ebd., S. 26. 53 Vgl. ebd., S. 114f.

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Somit kann man sowohl für die diegetischen Mediensimulationen als auch für die Markierung des Erzählerwechsels zwei Konzepte fruchtbar machen, die Genette in seiner Systematik ablehnt. Genette argumentiert gegen showing und telling als Modi des Erzählens, weil er von einer grundlegenden Differenz zwischen Diegesis und Mimesis ausgeht.54 Eine Erzählung könne nichts zeigen, weil sie Nicht-Sprachliches in Sprachliches überführe. Daher sei »bereits der Begriff showing – wie der der narrativen Darstellung oder Nachahmung und wegen seines naiv visuellen Charakters sogar mehr noch als dieser – völlig illusorisch«.55 Genette insistiert auf die erzählerische Vermittlung einer jeden Erzählung, die eine Darstellung wie im Drama per definitionem ausschließe: »Im Gegensatz zur dramatischen Darstellung kann keine Erzählung ihre Geschichte ›zeigen‹ oder ›nachahmen‹. Sie kann sie nur möglichst detailliert, präzis oder ›lebendig‹ erzählen und dadurch eine Mimesis-Illusion hervorrufen, die die einzige Form narrativer Mimesis ist, aus dem einzigen, aber hinreichenden Grund, weil alle Narration, mündliche sowohl wie schriftliche, sprachlicher Natur ist und weil sie Sprache bezeichnet ohne nachzuahmen.«56

Obwohl Genette sich der Differenzen von schriftlicher und mündlicher Erzählung bewusst ist, unterlaufen ihm zwei Ungenauigkeiten: (i) Er setzt Sprache mit Schrift gleich und (ii) behauptet, dass Narrationen ausschließlich sprachlicher Natur seien. Sprache kann sich aber sowohl in der schriftlichen als auch in der mündlichen Rede realisieren, wobei das Zeichen- und Ausdrucksinventar der Schrift andere Vermittlungsmöglichkeiten bereithält als die mündliche Rede (beispielsweise nicht-alphabetische oder diagrammatische Zeichen). Dass Narrationen nicht notwendig sprachlicher Natur sein müssen, wurde von Studien,

54 Henry James (1843–1916) hat showing und telling in »The Art of Fiction« (1884) eingeführt, um das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Erzählrede zu beschreiben: Mit showing wird eine szenische Darstellung bezeichnet, in der die Rede der Erzählinstanz zurücktritt und dadurch eine Nähe zum erzählten Geschehen erzeugt. Telling meint den Erzählbericht, der auch wertend vorgeht und so eine größere Distanz zum Erzählten erzeugt. Vgl. James, Henry: The Art of Fiction. In: Ders.: The Art of Fiction and other essays. With an introduction by Morris Robberts. Oxford 1948, S. 3–23. Insbesondere in der anglo-amerikanischen Erzähltheorie wurden James’ Begriffe von Percy Lubbock verbreitet. Vgl. Lubbock, Percy: The Craft of Fiction. London 1954 [1922]. Zur Kritik vgl. bereits Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1983 [1961], S. 16, 154f. 55 Genette, Die Erzählung. 1998, S. 116f. Als Alternative zu showing und telling führt er die Unterscheidung von dramatischem und narrativem Modus ein: »Denn noch einmal, das einzig vorstellbare Äquivalent zu Diegesis/Mimesis ist Erzählung/Dialog (narrativer Modus/ dramatischer Modus), was sich auf keinen Fall durch erzählen/zeigen wiedergeben läßt, denn ein Zitieren von Worten wird man wohl kaum als ein ›Zeigen‹ ansprechen dürfen« (ebd., S. 221f.). 56 Ebd., S. 117.

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die sich einer transmedialen Narratologie widmen, nachdrücklich aufgezeigt.57 Laut Genette könne showing nur eine »Weise des Erzählens«58 sein, die den Fall bezeichnet, dass die Erzählinstanz zurücktritt oder abwesend erscheine. So entstehe zwar eine Mimesis-Illusion, die aber dennoch erzählt werde. Beschreibungsprobleme entstehen dann, wenn andere Medien in den Text gesetzt werden, wie beispielsweise Fotos oder Bilder. Diese Montagefälle lassen sich als Medienkombinationen bezeichnen, die den narrativen Modus um andere mediale Modi ergänzen und damit in eine intermediale Analyse auslagern. Es wird jedoch komplizierter, wenn über Schrift eine Mediensimulation erzeugt wird. Hier kommt es nicht zu Medienkombinationen, wiewohl andere Medien über die Schriftkomposition emuliert werden. Wenn man die Erzählinstanz jedoch als eine abstrakte und formale »Produktionsinstanz des narrativen Diskurses«59 versteht, könnte man auch in Erwägung ziehen, der Erzählinstanz die Verantwortung für die Seitenkomposition zuzuschreiben. Insofern wäre die ›Stimme‹ der systematische Ort, der den Text in seiner Darstellungs- und Darbietungsform organisiert und damit auch für die schriftsprachliche und typographische Gestaltung verantwortlich gemacht werden müsste. Diese Operation wäre auch mit Genettes Überlegungen kompatibel. So werden der ›Stimme‹ in einem nur wenig beachteten Unterkapitel des »Discours du récit« fünf Erzählfunktionen (in Anlehnung an Roman Jakobson Sprachfunktionen) attestiert.60 Neben der offensichtlich elementaren »narrativen Funktion« besitzt die ›Stimme‹ auch eine »Regiefunktion«, die die Art und Weise der Vermittlung des Erzählten organisiert.61 Mit der ›Regiefunktion‹ könnte man auch die Anordnung der Erzählung in Buchform beschreiben, sofern hierfür Indizien vorliegen. In diesem Fall wäre von einer buchbewussten Erzählinstanz zu sprechen.

57 Vgl. Wolf, Werner: Probleme der Narrativität in Literatur, Bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104. Wolf tritt hier für eine transgenerische und transmediale Narratologie eintritt und geht von einem weiten, kognitionswissenschaftlichen Erzählbegriff aus, der das Narrative als mentales Schema begreift. 58 Genette, Die Erzählung. 1998, S. 118. 59 Blödorn, Andreas/Langer, Daniela: Implikationen eines metaphorischen Stimmenbegriffs. Derrida – Bachtin – Genette. In: Blödorn, Andreas/Langer, Daniela/Scheffel, Michael (Hrsg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York 2006, S. 53– 82, hier: S. 55. 60 Genette benennt die »narrative Funktion«, »Regiefunktion«, »Kommunikationsfunktion«, »Beglaubigungsfunktion« und »ideologische Funktion« (vgl. Genette, Die Erzählung. 1998, S. 183f.). 61 Genette entlehnt den Begriff »Regiefunktion« beim französischen Romanisten Georges Blin und denkt ihn rein auf der Ebene der sprachlichen Informationsvergabe (vgl. ebd., S. 183).

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Nimmt man nun den Doppelpunkt als deiktisches Element, das quasi einen Moduswechsel von telling zu showing anzeigt, so könnte die extradiegetischheterodiegetische Erzählinstanz im »Räuber Hotzenplotz« durchaus für die Seitenkomposition verantwortlich gemacht werden. Die Stimme ›zeigt‹, indem sie den Modus wechselt. Jedoch ist zu betonen: Heuristisch gesehen, kann man die Erzählinstanz als buchbewusst bezeichnen und sie deswegen für die Typographie verantwortlich machen. Faktisch hat der Illustrator Tripp in enger Zusammenarbeit mit Preußler die Gesamtausstattung des Buches besorgt. Es geht mir also um eine narratologische Beschreibung des Phänomens, dass typographische Gestaltung und Darbietungsform erzählerisch funktionalisiert werden.

4.

Zusammenfassung und eine poetologische Skizze zu Otfried Preußler

Im Anschluss an diese Überlegungen sind drei narratologische Komplexe literaturtheoretisch näher zu konturieren: a) Auf welcher Ebene der Erzählung lassen sich Formen der material-medialen Vermitteltheit verorten? Es scheint so zu sein, dass diese Schriftphänomene zwischen den drei Ebenen der Erzählung diffundieren: Als diegetische Mediensimulation kann die Seitenkomposition zur histoire gerechnet werden. Genauso ist sie aber auch ein Element des récit, da sie Teil des schriftlichen Diskurses ist, der von der Geschichte erzählt und ihr erst ihre Gestalt gibt. Möglicherweise könnten die Funktionalisierungen der Darbietungsform auch zur narration gerechnet werden, da sie teilweise auf den Akt des Erzählens ausgreifen und so die Medialität des Erzählens sichtbar machen. b) Welcher narrativen Instanz sind diese Phänomene zuzurechnen? Wenn über den Wechsel der Schrifttype ein Wechsel der Erzählinstanz angezeigt wird, wie dies beispielsweise in »Tanz der Tiefseequalle« oder »Meine beste letzte Bahn« der Fall ist, dann muss man womöglich eine Instanz annehmen, die den autodiegetischen Erzählinstanzen übergeordnet und für die Druckorganisation des Buches verantwortlich ist. Gleichzeitig kann es auch eine schrift- und buchbewusste Erzählinstanz geben, die die buchmediale Vermitteltheit der Erzählung reflektiert und ausstellt. c) Schließlich wäre auf extrafiktionaler Ebene die Frage nach Intentionalität und Autorschaft zu stellen. Auf welche empirische Instanz geht die Seitenkomposition zurück? Ist es der Autor, der Typograph, der Setzer oder der Verlag? Oder handelt es sich um ein Zusammenspiel aus verschiedenen Akteuren, also um eine Art kollaborativer Autorschaft? Es liegt auf der Hand, dass dies wohl nicht in allen Fällen eindeutig geklärt werden kann. Im Fall von Preußlers »Der Räuber Hotzenplotz« kann jedoch eine solche kollaborative Autorschaft plausibilisiert werden.

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Die hier umrissenen narratologischen Fragen resultieren aus dem vertrackten Verhältnis von mündlichem und schriftlichem Erzählen, das auch eng mit medientechnischen Entwicklungen verknüpft ist. Schon Friedrich Schiller hat sich daher eine Studie gewünscht, die sich mit denjenigen medientechnischen Verhältnissen auseinandersetzt, mit denen sich der moderne Schriftsteller auseinandersetzen muss.62 So versucht Schiller den Breslauer Philosophen Christian Garve zu einer solchen Studie förmlich zu überreden. Schiller konstatiert einen tiefgreifenden Medienwandel: Während der Schriftsteller früher noch direkt in mündlicher Rede zu den Zuhörenden sprach, könne der Schriftsteller heute – also zu Schillers Zeit – nur mittels schriftlicher Rede sein Publikum erreichen. Dass Garve diesen Sachverhalt nicht erörtern will, bedauert Schiller und unternimmt offensichtlich einen letzten Überzeugungsversuch, wenn er ausführt, warum es wichtig sei, sich mit der Situation des schreibenden Schriftstellers zu befassen: »Aus dem ganz eigenem Umstand, daß der Schriftsteller gleichsam unsichtbar und aus der Ferne auf einen Leser wirkt, daß ihm der Vortheil abgeht, mit dem lebendigen Ausdruck der Rede und dem accompagnement der Gesten auf das Gemüth zu wirken, daß er sich immer nur durch abstrakte Zeichen, also durch den Verstand an das Gefühl wendet, daß er aber den Vortheil hat, seinem Leser eben deswegen eine größere Gemüthsfreyheit zu lassen, als im lebendigem Umgang möglich ist u.s.f. Aus Allem diesem scheinen mir ganz eigene Regeln hervorzugehen, die eine nähere Entwickelung verdienten.«63

Während der Dichter in mündlicher Rede unmittelbar auf die Sinne der Zuhörenden einwirken könne, könne der Dichter in schriftlicher Rede nur mittelbar wirken. Was an unmittelbarer, sinnlicher Wirkung jedoch verloren gehe, gewinne das Publikum an Freiheit. Mittels der schriftlichen Rede, so könnte man Schiller verstehen, kann sich der Leser emanzipieren. Allerdings wird es bei diesen Andeutungen bleiben. Weder Garve noch Schiller nehmen sich dieser Schrift über den modernen Dichter und seine Medien an. Schiller präsentiert sich hier als Vertreter der Vorstellung, dass sich Mündlichkeit und Schriftlichkeit ausschließen. Mündlichkeit lasse sich nicht friktionsfrei in die Schrift transponieren. Mit Mündlichkeit ist laut Schiller der Modus der Nähe, Anwesenheit und Dialogizität verbunden, mit Schriftlichkeit der Modus der Distanz, Abwesenheit und Reflexivität. Auf eine ähnliche Differenz hebt auch Preußler ab, wenn er konstatiert, dass der Erzähler »sein Publikum leibhaftig vor Augen« hat. »Er sieht, hört und spürt, wie das Auditorium rea-

62 Vgl. Till, Dietmar: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004, S. 40f. 63 Friedrich Schiller an Christian Garve am 25. Januar 1795.

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giert.«64 Dagegen müsse der Schriftsteller mit der Trennung von seiner Leserschaft leben; was ihm zur Verfügung steht, »sind sechsundzwanzig stumme Buchstaben zuzüglich einiger Umlaute, zuzüglich einiger Satzzeichen, mehr auch nicht.«65 Der ›stumme Buchstabe‹ verweist auf die Vorstellung einer toten Schrift, die Preußler in seinen schriftlichen Erzählungen zum Leben erwecken will.66 Alles, was »beim unmittelbaren Erzählen zur Verfügung gestanden hat«, muss nun »in den geschriebenen Text hineingeleg[t]« werden. Um diesen Akt des Medienwechsels zu beschreiben, spricht Preußler schließlich von »Magie«: »Magie ist im Spiel, es kommt auf die richtige Formel an. Du musst deine Wortwahl, du musst die Länge der einzelnen Sätze richtig dosieren. Nicht zu viel, nicht zu wenig, das ist des Pudels Kern. Und du musst, jedem wirklichen Zauberer gleich, ein gewaltiges Quantum an Kraft an die Texte verschwenden, an eigener Lebenskraft. Erst dann darfst du darauf hoffen, der Leser werde imstande sein, deine Formeln in Bilder umzusetzen, kraft seiner Phantasie, dank der eigenen Schöpferkraft, die du ihm abverlangst.«67

Auch Preußler geht es um die ›eigenen Regeln‹ des schriftlichen Erzählens, deren Explikation sich Schiller von Garve gewünscht hat. Allerdings ist Preußlers Blick nicht sentimentalisch; vielmehr geht es ihm um den Erhalt oder die Wiederbelebung des mündlichen Erzählens im schriftlichen.68 Da die spontane Ergänzung als Reaktion auf die Zuhörenden dem Schriftsteller nicht mehr möglich ist, weil seine Erzählung material-medial fixiert ist, muss der Schriftsteller laut Preußler präzise arbeiten, um den mündlichen Charakter im Lesenden zu erzeugen. Der Vergleich mit dem Zauberer dürfte an dieser Stelle nicht zufällig sein. Schließlich geht es Preußler hier um die Illusion, dass die schriftliche Erzählung wie eine mündlich vorgetragene Geschichte wirkt. Um diese Illusion zu erzeugen, müsse die ›Schöpferkraft‹ des Rezipienten aktiviert werden. Wie kann die schriftliche Erzählung jedoch Unmittelbarkeit evozieren? Einerseits geht es darum, den mündlichen Kern des Erzählens zu erhalten. So berichtet Preußler, dass er sich ein Diktiergerät angeschafft habe, um seine »Arbeitsstunden im Freien« zu verbringen: »Seit dem ›Krabat‹ habe ich alle Bücher zunächst auf Band gesprochen.«69 Preußlers Erzählungen entstehen, wenn man Preußler hier Glauben 64 Preußler, Die Kunst des Erzählens. 2010, S. 92. 65 Ebd., S. 93. 66 Zu denken ist hier auch an das Paulus-Zitat: »Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig« (2. Korinther 3,6). 67 Preußler, Die Kunst des Erzählens. 2010, S. 94. 68 Damit tendiert Preußler zu einer Position, die schon von Johann Gottfried Herder vertreten wurde. Vgl. Herder, Johann Gottfried: Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten [1778]. In: Ders.: Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher. Werke in zehn Bänden, Bd. 4. Frankfurt/Main 1994, S. 149–214, hier: S. 200f. 69 Preußler, Otfried: Zwiegespräch mit Herrn Johann Daniel (2003). In: Ders., Ich bin ein Geschichtenerzähler. 2010, S. 243–251, hier: S. 247.

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schenkt, aus dem mündlichen Erzählakt. Andererseits werden die spezifischen Ausdrucks- und Darbietungsmöglichkeiten des Mediums Buch genutzt; die Geschichten müssen fixiert und gesichert werden: »Natürlich bleibt es mir nicht erspart, die Texte hinterher zu Papier zu bringen.«70 Diese Arbeitstechnik hat womöglich sein Vorbild in den Sammlungsarbeiten des Vaters, der »Märchen, Sagen und andere […] Geschichten, die er dem Volksmund abgelauscht hat«, erfasst und selbst verschriftlicht hat.71 Gleichzeitig hat Preußler darauf verwiesen, dass die mündlichen Erzählungen seiner Großmutter die ersten wesentlichen Prägungen seiner literarischen Sozialisation waren.72 Während es dem Vater, zumindest in Preußlers Erinnerung, um das Bewahren und Archivieren dieser Geschichten ging, geht es Preußler bei seinen eigenen Geschichten nicht um das bloße Aufschreiben. Wenn die mit dem Diktiergerät aufgenommen Erzählungen verschriftlicht werden, werden sie auch bearbeitet: »Auch um die mühsame Arbeit des Feilens, des Schleifens, des Ziselierens am Schreibtisch komme ich nicht herum.«73 Insofern konstruiert Preußler in seinen autobiographischen Texten eine Kindheit, die zwischen der Oralität der Großmutter und der Verschriftlichung des Vaters die eigene Autorschaft aus eben diesem Spannungsfeld erklärt.74 Zum ›Feilen‹, ›Schleifen‹ und ›Ziselieren‹ gehört es sicherlich, die Erzählung in Form zu bringen, ihr eine schriftliche Form zu geben. Dies kann am Schreibtisch geschehen oder in enger Kooperation mit Illustratoren, Typographen oder dem Verlag. Das Medium, für das Preußler schreibt, bleibt Fluchtpunkt seiner Erzählungen. Wie eng poetologische und narratologische Fragen verbunden sein können, kann an Preußler Poetik exemplarisch herausgearbeitet

70 Ebd. 71 Preußler, Otfried: Mein Vater, ein Geschichtensammler (1985). In: ebd., S. 30–34, hier: S. 30. Inwieweit Preußlers Poetik aus der Orientierung an Volks- und Sagenliteratur resultiert, müsste geprüft werden. Vgl. dazu Lange, Günter: Otfried Preußler und die Volksliteratur am Beispiel ausgewählter Bilderbücher und des Krabat. Preußlers Interesse an der Volksliteratur. In: Seibert Ernst/Kovacˇková, Katerˇina (Hrsg.): Otfried Preußler. Werk und Wirkung. Von der Poetik des Kleinen zum multimedialen Großprojekt. Frankfurt/Main 2013, S. 231–265; sowie Petzoldt, Leander: Otfried Preußler und die Tradition. In: Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Otfried Preußler – Werk und Wirkung. Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Otfried Preußler als Begleitbuch zu der Ausstellung in der Internationalen Jugendbuchbibliothek München. Stuttgart 1983, S. 42–50. 72 Vgl. Preußler, Otfried: Ein Buch, das es nicht gegeben hat (1972). In: Ders., Ich bin ein Geschichtenerzähler. 2010, S. 19–23, hier: S. 21. Zur Bedeutung der Erinnerung für Preußlers Poetik vgl. Gansel, Carsten: Kindheit und Jugend erfahren, erinnern und erzählen. Zu Otfried Preußlers literarischen Anfängen. In: Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hrsg.): Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Geschichten vom Aufwachsen in Ost und West. Berlin 2019, S. 205–243. 73 Preußler, Zwiegespräch mit Herrn Johann Daniel. 2010, S. 247. 74 Vgl. dazu auch Maeder, Elisabeth: Kolportierte kollektive Erinnerung in Otfried Preußlers Werken. In: Otfried Preußler. Werk und Wirkung. 2013, S. 129–148, hier: S. 133.

Mediale Konventionsbrüche? Narratologische und poetologische Überlegungen

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werden. Die (vermeintlichen) medialen Konventionsbrüche verweisen auf ein spezifisches poetologisches Programm.

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Adaptionsstrategien von Kinder- und Jugendklassikern – Dennis Gansels »Jim Knopf« als retroromantisches Family Entertainment im Medienverbund

Dieser Beitrag skizziert den Medien- und Produktverbund, der sich um Michael Endes »Jim Knopf« herausgebildet hat. Im Fokus stehen dabei die jüngsten Filmadaptionen unter der Regie von Dennis Gansel: Im Einzelnen soll herausgearbeitet werden, wie diese im und durch den Medien- und Produktverbund narratoästhetisch formatiert und als aktuelles Family Entertainment retroromantisch inszeniert werden. Letzteres erreichen die Filme insbesondere durch aurale1 Inszenierungsstrukturen.

1.

Der Medien- und Produktverbund um »Jim Knopf«

Ein kurzer Text für ein Bilderbuch sollte es werden, doch nach dem ersten Satz, der die Erzählwelt als Staat en miniature, als Welt im Spielzeugeisenbahn-Format pointierte, wollte die Erzählung kein Ende mehr nehmen: Mehr als 500 Seiten zählte das Manuskript von Michael Ende schließlich und wurde, vermutlich seiner Länge wegen, von zehn Verlagen abgelehnt, bis der Thienemann-Verlag es annahm – und seine Verlegerin Lotte Weitbrecht den Text auf zwei Bänden aufteilte.2 Der erste Band erschien 1960 mit dem Titel »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«, wurde bis heute in 33 Sprachen übersetzt und 3,7 Millionen 1 Vgl. Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp: Kinder- und Jugendfilmanalyse. Konstanz: UVK 2013, S. 124–138; Dies.: Film. In: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim. Stuttgart: J. B. Metzler 2020, S. 230–245, bes. S. 241–243; sowie Dies.: Das rhythmische Fundament des Bilderbuchs. Überlegungen zur Auralität im Bilderbuch. In: farbe, klang, reim, rhythmus. Interdisziplinäre Zugänge zur Musik im Bilderbuch. Hrsg. von Lars Oberhaus und Mareile Oetken. Bielefeld: transcript 2017, S. 233–255. (Edition Kulturwissenschaft; Bd. 113). 2 Vgl. Boccarius, Peter: Michael Ende. Der Anfang der Geschichte. Frankfurt/Main: Ullstein 2004, S. 272–277; Dankert, Birgit: Michael Ende. Gefangen in Phantásien. Darmstadt: Lambert Schneider 2016, S. 97–125; sowie Pohlmann, Carola: Michael Ende: Jim Knopf. In: Unter dem roten Wunderschirm: Lesarten klassischer Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Christoph Bra¨ uer und Wolfgang Wangerin. Go¨ ttingen: Wallstein 2013, S. 297–312.

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Mal verkauft.3 Der Welterfolg war zunächst nicht absehbar; das änderte sich jedoch mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, der Ende für seinen phantastischen Kinderroman am 2. Juli 1961 verliehen wurde. Die Adaption als Marionettenfilmserie steigerte diesen Erfolg: Drei Monate nach der Preisverleihung wurde die erste Episode der fünfteiligen Serie im Fernsehen ausgestrahlt, verantwortlich war die Augsburger Puppenkiste unter Regie von Manfred Schäfer, produziert wurde die Serie vom Hessischen Rundfunk für das Deutsche Fernsehen. Ein Jahr danach – und damit noch im Erscheinungsjahr des zweiten Bandes »Jim Knopf und die Wilde 13« – folgte die Fortsetzung, wieder in fünf Teilen und vom selben Team der Augsburger Puppenkiste. Spätestens mit dem »Schauspiel für Kinder«, einer dramatischen Adaption des ersten Bandes von Michael Ende, die 1968 veröffentlicht und 1972 im Theater der Jugend in Wien uraufgeführt wurde, liegt ein kinderliterarischer Medienverbund4 vor. Grundsätzlich lassen sich zwei verschiedene Typen derartiger Verbundsysteme als »medienübergreifende Verbreitungsformen populärkultureller Stoffe«5 unterscheiden: Der erste, dem das beschriebene System um Jim Knopf entspricht, setzt sich aus mindestens drei narrativen Medientexten zusammen. Ausgangspunkt ist ein Originärtext, dem eine als Bilderbuch, Roman, Hörspiel, Film, Computerspiel o. Ä. realisierte Erzählung zugrunde liegt. Dieser originäre Text steht mit den Medientexten in intra- und/oder intermedialen Beziehungen: Auf intramedialer Ebene spielen sich diese Beziehungen innerhalb eines Mediums ab, auf intermedialer Ebene überschreiten sie als Medienwechsel und intermediale Bezüge Mediengrenzen. Medien verdrängen sich in derartigen Verbundsystemen nicht gegenseitig, stattdessen konvergieren und koexistieren sie und nehmen aufeinander Bezug.6 Der frühe Medienverbund um Jim Knopf weist, berücksichtigt man die Entstehungsgeschichte der zwei Bände aus den Jahren 1960 und 1962, zwei originäre Texte auf, die in intramedialer Beziehung zueinander und zur genannten dramatischen Fassung stehen. Das gilt auch für die Variante des ersten Romans, die Ursula Reinecke in einfacher Sprache 1973 veröffentlichte. In intermedialer, die Mediengrenzen des Buchs überschreitender Relation stellen sich u. a. die filmi3 Für Auskunft über die Übersetzungen und Verkaufszahlen danken die Verfasser Frau Amelie Sturm vom Thienemann-Verlag. 4 Vgl. hierzu und im Folgenden: Kurwinkel, Tobias: Medien- und Produktverbund. In: Kurwinkel/Schmerheim, Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. 2020, S. 14–19. 5 Vgl. Weinkauff, Gina: Das Sams. Betrachtung eines prominenten kinderliterarischen Medienverbundes und seiner Rezeption in der Fachöffentlichkeit. In: Kinder- und Jugendliteratur in Medienkontexten. Adaption – Hybridisierung – Intermedialität – Konvergenz. Hrsg. von Gina Weinkauff, Ingrid Tomkowiak, Thomas Möbius und Ute Dettmar Frankfurt/Main: Peter Lang 2014, S. 127–146, hier: S. 131. (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien; Bd. 89). 6 Vgl. Jenkins, Henry: Convergence culture. Where Old and New Media Collide. New York: NYU Press 2006.

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schen Adaptionen dar, ein Musical von Emil Moser und Jörg Schneider (Uraufführung am Opernhaus Zürich 1970) sowie die Hörspiele in drei bzw. zwei Teilen aus den Jahren 1971 und 1975, bei denen Michael Ende bzw. Anke Beckert Regie führten. Weiter kommen die Neuverfilmungen der Augsburger Puppenkiste7 in Farbe mit diesmal insgesamt acht Folgen (1976 bzw. 1978, Regie: Manfred Jenning), verschiedene Hörspielfassungen und Lesungen dazu. Eine Inszenierung von »Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer« von Hildegard Gerster-Schwenkel, die während eines Kinderumzuges in Wilhelmsdorf stattfand, zählt – nicht zuletzt aufgrund der positiven Bewertung seitens Michael Endes – ebenfalls dazu. Um die Jahrtausendwende wächst der Medienverbund nicht nur um zwei weitere Musical-Adaptionen der Kinderromane von Christian Berg und Konstantin Wecker, die von zahlreichen Medien wie Musik-CDs und Liederbüchern begleitet werden, sondern auch um eine Animationsfilmserie mit 52 Episoden in zwei Staffeln. Regie führte bei der deutsch-französischen Koproduktion, die von 1999–2000 in Kooperation mit der ARD entstand, Bruno Bianchi. Inhaltlich entfernt sich die Serie von ihrer Vorlage und schreibt diese weiter. So nimmt der Oberbonze Pi Pa Po beispielsweise eine wesentlich umfangreichere Rolle als Antagonist ein: Im Roman wird Li Si während der großen Ferien von der Piratenbande entführt, weil sie zu weit vom Schloss wegläuft. In der Serie will Pi Pa Po den Kaiser stürzen, wovon die Prinzessin erfährt – weshalb Pi Pa Po sie durch die Piraten entführen lässt.8 Wie in diesem Fall wird im Laufe der Entwicklung eines Medienverbunds immer weniger auf den bzw. auf die originären Texte zurückgegriffen. Ist die Organisation des Verbunds zu Beginn noch streng hierarchisch auf den originären Text ausgerichtet, entwickelt sich diese – im Rückgriff auf das Konzept von Gilles Deleuze und Félix Guattari – zunehmend rhizomatisch: Entsprechend kann ein Medienverbund »die verschiedensten Formen anneh7 Einen intermedialen Bezug auf »Jim Knopf« enthält die Weihnachtssondersendung »Wir warten aufs Christkind« (1979) der Augsburger Puppenkiste: In der letzten Arbeit des zu diesem Zeitpunkt bereits unheilbar erkrankten Manfred Jenning tauchen Jim und Lukas ebenso wie die Mumins, Urmel aus dem Eis und Herr Taschenbier auf. Figuren, Motive und Schauplätze verschiedenster Herkunft überlagern sich in dem Stück, das Jenning mit Paul Maar entwickelte. Siehe im Detail hier: O. V.: Wir warten aufs Christkind. Film & Fernsehen 1979. (letzter Zugriff: 10. 05. 2021). 8 1974/1975 wird auch eine 26-teilige japanische Anime-Serie (Kiyoshi Ono) produziert, die Endes »Jim Knopf« sehr frei adaptiert und in Deutschland nicht verfügbar ist. In dieser Variante jagt Jim Knopf mit Emma die Piraten, die seine Mutter Nina entführt haben; sein bester Freund Bocco wurde unterdessen in eine Taube verwandelt. Diese im internationalen Vergleich frühe Aneignung von Endes Werk spiegelt dessen intensive Rezeption in Japan wider, die sich in zahlreichen Übersetzungen, Lesereisen und letztlich auch in Endes zweiter Ehe mit der japanischen Übersetzerin Mariko Sato äußert (vgl. zu Letzterem Dankert, Michael Ende. 2016, S. 232–243).

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men, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen«9. An »jeder beliebigen Stelle« kann ein Rhizom »gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter«10, wie Deleuze und Guattari das Prinzip des asignifikanten Bruchs bezeichnen. Im Medienverbund um Jim Knopf können die Bilderbücher, die seit 2005 im Thienemann-Verlag erscheinen, als Beispiele für eine solche Entwicklung dienen: Mit »Nach Motiven von Michael Ende« sind sie untertitelt – und nehmen auf die Erzählungen der Originärtexte kaum noch Bezug. Sie bilden eine andere Linie mit eigenen Verästelungen des Medienverbunds aus. Literarische Motive sind dabei jedoch nicht die Elemente, die die Schnittmenge von Originärtexten und Bilderbüchern noch enthält, sondern die (Haupt-)Figuren, die als Aktanten das narrative Fundament, den Nukleus, darstellen, »that endlessly allows narratives to emerge«.11 Abgesehen von dieser Reihe, die mit Titeln wie »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer machen einen Ausflug« (2005) oder »Jim Knopf und das Geheimnis der Gondel« (2021) an Kinder ab vier Jahren adressiert ist, hält der Verlag entsprechend weitere vor: Seit 2020 gibt es für Kleinkinder ein Pappbilderbuch in LokomotivenForm, für ältere Kinder ab acht Jahren erscheint seit 2010 die Kinderbuchreihe »Jim Knopf will’s wissen«. Auch Aspekte des Forschungsdiskurses um Jim Knopf finden sich im Medienverbund wieder: 2009 veröffentlichte die Journalistin und Darwin-Forscherin Julia Voss die Monographie »Darwins Jim Knopf«, in der sie nicht nur die bereits in der früheren Ende-Forschung vermerkten intertextuellen Verweise auf die Rassenlehre des Nationalsozialismus aufarbeitet (ist doch der »Eintritt [in die Drachenstadt – T.K./P.S.] nicht-reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten!«, wie auf einem Schild über dem von Rauchschwaden umflorten Einfang vermerkt ist).12 Sie arbeitet zudem heraus, dass »die Figur des Jim Knopf […] in der Gestalt des Jemmy Button ein historisches Vorbild«13 habe, ein Junge aus Feuerland, der im Rahmen der Expeditionsfahrten der Beagle, auf der auch Charles Darwin Passagier war, nach England verschleppt und erst ein Jahr später wieder zurückgebracht wurde. Diesen Bezug des Romans zur Evolutionstheorie Darwins greift wiederum die Augsburger Puppenkiste in dem kurzen Lehrfilm »Jim Knopf und die Evolutionstheorie« auf, den Uwe Ebbinghaus nach einer Idee von

9 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom. Berlin: Merve 1977, S. 11. 10 Ebd., S. 16. 11 Steinberg, Marc: Anime’s Media Mix. Franchising Toys and Characters in Japan. Minneapolis: University of Minnesota Press 2012, S. 191. 12 Voss, Julia: Darwins Jim Knopf. Frankfurt/Main: S. Fischer 2009. 13 Ewers, Hans-Heino: Michael Ende neu entdecken. Was Jim Knopf, Momo und Die unendliche Geschichte Erwachsenen zu sagen haben. Stuttgart: Alfred Kröner 2018, S. 38.

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Julia Voss gedreht hat. Hier lässt sich Jim von einer mittlerweile geläuterten Frau Mahlzahn die Grundlagen der Evolutionstheorie erklären.14 Merchandising-Produkte, die als Spielzeug und Alltagsbegleiter von der bedruckten Brotdose bis zum Schlafanzug die Rezipierenden allumfänglich begleiten, finden sich zu Beginn bzw. in der frühen Phase des Medienverbunds nur vereinzelt. Dies ändert sich mit den Realfilmadaptionen der beiden Kinderromane von Dennis Gansel aus den Jahren 2018 und 2020. Das Angebot von Produkten, die wie die Medientexte zur narratoästhetischen Ausgestaltung der Verbundsysteme beitragen und die Rezeption beeinflussen, nimmt nun zu: Waren es bis dato Kamishibai-Bildkarten, eine Mini-Drehorgel mit dem Lummerlandlied sowie T-Shirts, mit denen sich Erwachsene nostalgisch als ehemalige Rezipienten identifizierten, erscheinen nun Ausgaben der Romane als Filmbücher sowie -hörspiele, Emma als Modelleisenbahn von Märklin, Happy Meals bei McDonald’s mit Emma-, Jim- und Lukas-Figuren – und die genannte Butterbrotdose. Der Spielzeugeisenbahnwelt Lummerlands mit ihrer hohen Dichte an ikonischen Bildern, Figuren und Schauplätzen ist die Umsetzbarkeit als Produkt geradezu eingeschrieben. Von der heterodiegetischen Erzählinstanz als »ganz außerordentlich klein« und »ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung«15 beschrieben, bildet die Insel ebenso wie die weiteren Schauplätze eine kinderzimmerkompatible Umgebung. Derart hat Michael Ende die Welt vom Lummerland auch explizit angelegt, wie er in einem Brief an seinen Verleger Richard Weitbrecht vom 04. 09. 1960 darlegt: »[I]ch [bin] beim Schreiben meines Buches davon ausgegangen […], daß möglichst jede Szene für Kinder spielbar sein sollte, daß alle ihre Spielsachen darin vorkommen und daß alles im Kinderzimmer vor sich geht und daß schließlich auch bei den schauerlichsten Abenteuern niemals die Behaglichkeit der Geborgenheit ganz verloren geht.«16

2.

»Jim Knopf« als Family Entertainment im Medienverbund

Family Entertainment Filme, die in vielen Fällen als Originärtexte Medien- und Produktverbünde ausbilden oder als Medientexte Bestandteile dieser sind, gehören zum Korpus des originären Kinder- und Jugendfilms. Damit nehmen sie sowohl inhaltlich als auch formal Rücksicht auf Verständnis, Auffassungsvermögen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, darüber hinaus spre14 O. V.: Jim Knopf lernt die Evolutionstheorie. In: faz.net. (letzter Zugriff: 10. 05. 2021). 15 Ende, Michael: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer. Stuttgart: Thienemann, 1960, S. 3. 16 Brief an Richard Weitbrecht, zitiert nach Dankert, Michael Ende. 2016, S. 109.

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chen sie aber auch Erwachsene an.17 Für den Kinder- und Jugendfilm sind Erwachsene nur Vermittelnde oder ›Mitsehende‹, für den Family Entertainment Film sind sie hingegen nicht nur auch, sondern im Besonderen Rezipierende. Family Entertainment Filme sind mehrfachadressiert und zugleich doppelsinnig. Dieser Begriff meint, Hans-Heino Ewers folgend und hier von der Literatur auf das Medium Film übertragen, das Angebot unterschiedlicher Rezeptionsarten, einer exoterischen für Kinder und Jugendliche und einer esoterischen für Erwachsene.18 Verwirklicht werden diese Lesarten vor allem über intra- und intermediale Codierungen, über die der Filmtext im Schnittpunkt anderer Texte, zu denen er in Beziehung steht, positioniert ist.19 So finden sich in Family Entertainment Filmen zumeist explizit markierte Einzeltext- und Systemreferenzen, deren Entschlüsselung den Rezipierenden neue Bedeutungshorizonte eröffnen, mit denen ein Vergnügen am Filmtext einhergeht. Intra- und Intermedialität zählt zu den vier narratoästhetischen Merkmalen oder Merkmalsbereiche, die für den Family Entertainment Film seit den 1990er Jahren charakteristisch sind: Abgesehen von der Intra- und Intermedialität, handelt es sich dabei um Selbstreferentialität, Ästhetisierung und Auralität. Durch die spezifische Ausprägung, Kombination und Vernetzung der Merkmalsbereiche lässt sich der Family Entertainment Film charakterisieren und von anderen Genres bzw. Formen filmischen Erzählens, abgrenzen.20

3.

Intra- und intermediale Archive und die Inszenierung von Kindheitsnostalgie21

Intra- und intermediale Verweise können (kindheits-)nostalgische Gefühle bei dem Teil des Publikums, der bereits über eine umfangreichere Konsumbiographie verfügt, evozieren. Svetlana Boym beschreibt Nostalgie als ambivalentes 17 Völcker, Beate: Kinderfilm oder Family Entertainment? In: Kindheit und Film. Geschichte, Themen und Perspektiven des Kinderfilms in Deutschland. Hrsg. von Horst Schäfer und Claudia Wegener. Konstanz: UVK 2009, S. 231–241. 18 Vgl. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung. 2. Aufl. München: facultas wuv 2012. 19 Vgl. hierzu Mikos, Lothar: Film- und Fernsehanalyse. 3., überarbeitete und aktualisierte Aufl. Konstanz: UVK 2015, S. 264–275. 20 Die Ausführungen in diesem Abschnitt orientieren sich an Kurwinkel, Tobias: Von »Schneewittchen« zu »Bibi & Tina« und »Alles steht Kopf«. Merkmale des Family Entertainment Films seit den 90er Jahren. In: Kindermedienwelten: Hören – Sehen – Erzählen – Erleben. Hrsg. von Kurt Franz, Gabriele von Glasenapp und Claudia Maria Pecher. Baltmannsweiler: Schneider 2017, S. 103–115. 21 Die Ausführungen zur Inszenierung von Kindheitsnostalgie orientieren sich eng an entsprechenden Überlegungen in Schmerheim, Philipp: Zwischen Kindheitsnostalgie und Film-

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Gefühl, als »a longing for a home that no longer exists or has never existed. Nostalgia is a sentiment of loss and displacement, but it is also a romance with one’s own fantasy.«22 Medial induzierte Kindheitsnostalgie ist in diesem Zusammenhang eine Art Sehnsucht nach der eigenen Kindheit, die Erwachsenen unverfügbar geworden ist (ein »sentiment of loss and displacement«), sie kann sich aber auch als Sehnsucht nach einem Kindheitsgefühl, das man in dieser Form nie gehabt hat, manifestieren (eine »romance with one’s own fantasy«).23 Kindheitsnostalgie liefert einen Erklärungsrahmen für das Massenappeal von Remakes, Reboots und neuen Klassikeradaptionen, die ein integraler Bestandteil der Populärkultur des 21. Jahrhunderts sind. Georg Seeßlen spricht in diesem Zusammenhang, mit Bezug auf die Entwicklungen im zeitgenössischen Kinderfilm, von »retroromantischen Affekten«: »Übrigens folgen auch die meisten deutschen Kinderfilme der letzten Jahre retroromanischen Affekten: von den Verfilmungen der Kinderkassetten-Kultur der Achtzigerjahre mit Benjamin Blümchen (nächstes Remake im kommenden Jahr) über Bibi und Tina (nächstes Sequel) bis zu Das doppelte Lottchen – eine der Kästner-Verfilmungen, die offensichtlich für jede Generation von Kinozuschauern neu aufbereitet werden muss, ein Leitfossil zur immer neuen Verkennung von Kindheit. Können wir uns an einen halbwegs erfolgreichen Kinderfilm nach einem Originalstoff erinnern? Auch die Kino-Kinder wachsen in eine Welt hinein, in der das Neueste immer nur das neueste Gespenst des alten ist.«24

Dabei lassen sich drei Inszenierungsstrategien unterscheiden. Nostalgisierende Erzähltexte können beispielsweise generationale Ereignisse adressieren. So erzählt das Filmdrama »Das Wunder von Bern« (Regie: Sönke Wortmann, 2003) vom schwierigen Verhältnis eines deutschen Kriegsheimkehrers zu seinen Kindern, eingebettet in den sensationellen WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft von 1954; Mawils Comic »Kinderland. Eine Kindheit im Schatten der Mauer« (2014) thematisiert das (kindliche) Alltagsleben in der DDR, das erwachsene Rezipierende teils noch persönlich erinnern können. Eine weitere Möglichkeit der Nostalgisierung besteht darin, Lebenswirklichkeiten einer bestimmten Epoche zu ästhetisieren, etwa in Leander Haußmanns Spielfilm »Sonnenallee« (1999) oder in der retroromantischen Serie »Stranger Things«

Spielen in digital(isiert)en Welten: Jim Knopf, Offline und der aktuelle deutsche Kinder- und Jugendfilm. In: Ästhetik – Leserbezug – Wirkung. Ansprüche an Kinder- und Jugendliteratur im Wandel der Zeit. Hrsg. von Christoph Jantzen, Petra Josting und Michael Ritter. München: kopaed 2019, S. 173–186. 22 Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic Books 2001, S. XIII. 23 Einen anderen, an empirischen Untersuchungen ausgerichteten Denkrahmen bietet Alison Wallers Studie »Rereading Childhood Books«; vgl. Waller, Alison: Rereading Childhood Books: A Poetics. London: Bloomsbury 2019. 24 Seeßlen, Georg: Der Retro-Wahn des Gegenwartskinos. In: Die Zeit, 2018, H. 31, S. 44.

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(seit 2016). Diese inszeniert anhand einer Vielzahl popkultureller Referenzen ein kindliches Lebensgefühl der 1980er Jahre, und zwar ein solches, wie es in Hollywood-Filmen der Zeit, etwa in »E.T. – The Extraterrestrial« (Regie: Steven Spielberg, 1982), »Stand By Me« (Regie: Rob Reiner, 1986) oder »Back to the Future« (Regie: Robert Zemeckis, 1985) narratoästhetisiert wird. Eine dritte retroromantische Inszenierungsstrategie – und diese wird von Dennis Gansels »Jim Knopf«-Family Entertainment Filmen aufgegriffen – besteht darin, nicht konkrete historische Ereignisse oder (medial gespiegelte) Lebenswirklichkeiten zu re-inszenieren, sondern Filme, Serien, Musikstücke oder andere popkulturelle Artefakte, die ein wichtiger bzw. populärer Teil der Kindheit heutiger Erwachsener waren. Es geht dabei nicht um die bloße Neuinszenierung, sondern darum, dass im Zuge dieser der Bezug zu den ursprünglichen Erzähl- bzw. Medientexten markiert wird. Auf diese Weise speisen sich Family Entertainment Filme aus Erinnerungsarchiven, die sich aus den durch Medienkonsum generierten Kindheits- und Jugenderinnerungen erwachsener Rezipierender konstituieren. Solche Erinnerungsarchive beinhalten etwas, das sich mit Alison Landsberg als »prosthetic memories« beschreiben lässt: »memories of events through which one did not live«.25 Dennoch sind prosthetische Erinnerungen »indeed ›personal‹ memories, as they derive from engaged and experientially-oriented encounters with the mass media’s various technologies of memory. But because prosthetic memories are not natural, not the possession of a single individual, let alone a particular family or ethnic group, they conjure up a more public past, a past that is not at all privatised.«26

Prosthetische Erinnerungen sind Landsberg zufolge aus vier Gründen »prosthetic«: Sie generieren sich erstens aus einem »engagement with mediated representations (seeing a film, visiting a museum, watching a television show, using a CD-ROM)«27 und sind somit nicht am eigenen Leib gemachte Erfahrungen; sie sind – zweitens – nichtsdestotrotz »sensuous memories produced by an experience of mass mediated representations«28; massenmedial induzierte Erinnerungen sind aber drittens, wie Prothesen, kommodifiziert und damit austauschbar; dennoch bilden sie – viertens – eine »basis for mediated collective identification«29, denn massenmedial induzierte Rezeptionserfahrungen »condition how an individual thinks about the world, and might be instrumental in

25 Landsberg, Alison: Prosthetic memory: The ethics and politics of memory in an age of mass culture. In: Memory and popular film. Hrsg. von Paul Grainge. Manchester/New York: Manchester University Press 2003, S. 144–161, hier: S. 148. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 150.

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generating empathy and articulating an ethical relation to the other.«30 Die erwachsene Re-Rezeption von Erzähltexten, die einem aus der eigenen Kindheit und Jugend vertraut sind, kann insofern an eigene gemeinschaftliche Medienerfahrungssituationen erinnern, die ggf. mit den eigenen Kindern oder Familienangehörigen repliziert werden soll. Sie kann aber auch stellvertretend das Gefühl evozieren, selbst auch einmal ein Kind gewesen zu sein, denn die Erinnerung an die eigene Kindheit ist auch mit der Erinnerung an die Geschichten, mit denen man damals aufgewachsen ist, verbunden. Kindheitsnostalgische Inszenierungsstrategien bieten sich somit geradezu an bei mehrfachadressierten Medientexten in Medien- und Produktverbünden, die auf Originärtexten beruhen, die der zeitgenössischen Eltern- bzw. Großelterngeneration vertraut sind und deshalb von diesen eher an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden. Gansels »Jim Knopf«-Filme sind als nach den drei Fernsehserien (1961/1962; 1976/1978; 1999/2000) vierte im deutschsprachigen Raum in signifikantem Ausmaß rezipierte audiovisuelle Adaption von Michael Endes Romanen in dem eben skizzierten Sinne kindheitsnostalgisch bzw. retroromantisch.

4.

»Jim Knopf« als retroromantischer Film

Die »Jim Knopf«-Filme greifen in zweierlei Hinsicht auf kindheitsnostalgische Archive zurück: Zum einen nutzen sie wie die Originärtexte intra- und intermediale Systemreferenzen, die auf kindheitsprägende popkulturelle Artefakte referieren. Zum anderen beziehen sie sich selbstreflexiv auf narratoästhetische Merkmale früherer Medientexte des Medien- und Produktverbunds um Jim Knopf.31 Bezüglich der ersten Hinsicht verweisen bereits Michael Endes Kinderromane ebenso wie Dennis Gansels Adaptionen generell auf Topoi des Abenteuerfilms und -romans, auf Motivkonstellationen der phantastischen Literatur im weiten Sinne und – als »milde[..] Travestien«32 – auf die »Tradition des europäischen Feenmärchens des 17. und 18. Jahrhunderts und der späteren europäischen Märchennovellistik«33. Der literarische »Jim Knopf« ist zumindest 30 Ebd., S. 149. 31 Endes Werk ist generell offen für kindheitsnostalgische Überlegungen, schrieb er doch weniger für Kinder als »eher für das Kind im Menschen. Das ewig Kindliche, das sich sein Staunen bewahrt, das überrascht werden will, das nicht von Vorurteilen verformt ist und Selbstverständliches hinterfragt« (Roman Hocke in Hörnlein/Otto, Fragen an Roman Hocke. 2018, S. 69). 32 Ewers, Michael Ende entdecken. 2018, S. 26. 33 Ebd., S. 21. Vgl. auch Ewers, Hans-Heino: Entmythisierung und Remythisierung. Michael Endes erste Jim Knopf-Erzählung (1960) und deren Verfilmung von Dennis Gansel (2018). In: Märchenfilme diesseits und jenseits des Atlantiks. Hrsg. von Ludger Scherer. Frankfurt/Main: Peter Lang 2020, S. 29–41. (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien; Bd. 124). Ewers

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in Teilen (bzw. im Mittelteil) eine ironisierte Heldenreise-Geschichte, in der ein auserwählter Held (Jim Knopf) mit einer Mentorenfigur (Lukas) Aufgaben mit Questcharakter erfüllt: Jim und Lukas retten eine gefangene Prinzessin aus der Gewalt eines Drachen; die parallel verlaufende Suche Jims nach seiner eigenen Identität resultiert in der Entdeckung seiner adligen Abstammung und einer versunkenen Stadt am Fuße Lummerlands. Die von Drachen, Kaisern und Königen, (Schein-)Riesen und Piraten bevölkerte Diegese beinhaltet einsame Inseln und phantastische Landschaften.34 Die beiden Filme steigern diese Ansätze und inszenieren die Abenteuer von Jim und Lukas explizit als Heldenreise-Geschichten, in denen sich insbesondere Jim als Heldenfigur erweist, der sich dank seines Muts und Einfallsreichtums in der Logik der Geschichte letztlich als würdig erweist, das Geheimnis seiner (adligen) Herkunft zu erfahren. Die Suche nach der eigenen Herkunft ist in Endes Romanen noch eher ein Zufallsprodukt der Abenteuerreise; insbesondere im zweiten Gansel-Film ist sie ein in der Exposition als solcher positionierter Handlungsantrieb für Jim. Jim-Knopf-spezifisch sind die selbstreferenziellen Bezüge der Filmadaptionen nicht nur auf Endes Kinderromane mit den Illustrationen von F. J. Tripp, sondern auch auf deren seriellen Adaptionen durch die Augsburger Puppenkiste, die Endes Geschichten um Jim Knopf maßgeblich im bundesdeutschen popkulturellen Gedächtnis verankert haben. Dazu trugen etwa die prägnant geschnitzten Puppen bei, die mit ihren mondrunden Gesichtern auf Tripps markante RomanIllustrationen verweisen.35 Die Puppenkisten-Adaptionen audiovisualisieren mit ihren auf Niedlichkeit getrimmten Holzfiguren und dem als Spielzeugeisenbahnwelt gestalteten Inselschauplatz mit Frischhaltefolienmeer geradezu quintessenziell Endes bereits zitiertes Ansinnen, eine Geschichte für das Kin-

koppelt diese Zuschreibung u. a. an den Plot der Erzählungen, an den »über beide Bände sich erstreckenden, großen Handlungsbogen, der für ein höfisches Feenmärchen geradezu klassisch ist. Ein junger Held von – freilich noch verborgenem – Prinzengeblüt muss gezwungenermaßen die Heimat – das Inselkönigreich Lummerland – verlassen, begibt sich in Begleitung eines Mentors – Lukas der Lokomotivführer – auf große Fahrt, gelangt in ein fremdes Königreich, um dort zu erfahren, dass die Tochter des Regenten entführt worden ist und sich in der Gewalt eines grimmigen Drachens – Frau Mahlzahn – befindet. Wer die Prinzessin Li Si zu befreien vermag, erhält diese – wie kann es anders sein – zur Gemahlin. Die Befreiung gelingt und am Ende des ersten Teils darf Jim Knopf sich mit Li Si verloben. Die endgültige Vermählung von Jim Knopf und Li Si findet allerdings erst am Schluss des zweiten Bandes statt und besitzt – übrigens ganz in Übereinstimmung mit der Gattungstradition – durchaus auch einen politischen Charakter: Die Hochzeit geht einher mit der Gründung eines neuen Reichs, des multiethnischen ›Jimballa‹, und lässt die Erzählung dergestalt mit einer politischen Utopie ausklingen« (ebd., S. 30). 34 Vgl. Ewers, Michael Ende entdecken. 2018, S. 19–57. 35 Zu einer Analyse der Jim Knopf-Illustrationen Tripps vgl. Steinhauser, Vom Jim Knopf bis Hotzenplotz. 2018, S. 164–215.

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derspielzimmer zu schreiben, in der »möglichst jede Szene für Kinder spielbar« ist. Ein wesentlicher Teil des erwachsenen Kinopublikums der späten 2010er Jahre ist mit dem Medien- und Produktverbund »Jim Knopf« vertraut. Mit dieser popkulturellen Verankerung kalkulieren Gansels Family Entertainment Filme und gestalten Handlung, Ausstattung sowie sonstige Filmsprache so, dass sie nostalgische Erinnerungen der erwachsenen Rezipienten an ihre eigene »Jim Knopf-Kindheit« evozieren. Auch der bereits skizzierte Produktverbund mit seinen Fast-Food-Beilagen und Märklin-Eisenbahnen zählt dazu. Dementsprechend ist die Ästhetik beider Filme auf Verwertbarkeit im Verbundsystem ausgerichtet. Adaptiert werden somit nicht lediglich Endes Romane, adaptiert werden durch intermediale Verweisketten auch narratoästhetische Merkmale des Medien- und Produktverbunds. Darin liegt das kindheitsnostalgische, retroromantische Potenzial selbstreferenzieller, gleichsam auf ihr eigenes Verbundarchiv deutender Verweisstrukturen: Erwachsene rezipieren nicht nur die »Jim Knopf«-Adaption aus den Jahren 2018 bzw. 2020, sondern auch die Erinnerung an die eigene Medienkindheit.

Paratextuelle Retroromantik Beim Blick auf die retroromantische Inszenierungsstrategie der beiden GanselFilme zeigt sich eine erstaunlich geradlinige narratoästhetische Verwertungskette: Handlungsstränge, Figuren, Schauplätze und auch Ausstattungsmerkmale sind in nuce bereits in den Originärtexten angelegt, aber dort nicht immer ausformuliert. An solchen Stellen übernehmen die Illustrationen von F. J. Tripp eine prägende Darstellungsfunktion. Diese wird von der seriellen Adaption der Augsburger Puppenkiste teils übernommen, teils ergänzt. Daraus ergibt sich eine Art rezeptionsprägende Dreierkonstellation aus literarischem, um Illustrationen ergänztem Prätext und figurentheatralischer Fernsehadaption. Diese Konstellation wird von Gansels Filmen zum Zwecke einer retroromantisch evokativen Inszenierung aufgegriffen. Bereits die Para- und Peritexte des ersten Kinofilms offenbaren diese Erzählstrategie. Beispielsweise orientiert sich der krakelig-verspielte Titelschriftzug der Filmplakate (vgl. Abb. 1) an demjenigen der jüngeren Buchausgaben (vgl. Abb. 2), was sich u. a. am Schwung des Buchstaben »J« im Namen des Titelhelden gut erkennen lässt. Eines der ersten Ankündigungsplakate zeigt eine im Vollmondlicht über das spiegelglatte Meer fahrende Emma (vgl. Abb. 1), wodurch die Szene dargestellt wird, in der Lukas und Jim mit der Lokomotive Emma Lummerland verlassen und ihrer Abenteuerreise entgegensegeln. Diese Einstellung findet sich intramedial in ähnlicher Form in der Puppenkisten-Version (vgl.

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Abb. 3), die wiederum intermedial auf eine Illustration Tripps verweist (vgl. Abb. 4). Im Romantext wird die Präsenz des Mondes beim nächtlichen Aufbruch der Helden hingegen nur kurz erwähnt: »Lukas hatte seinen Arm um Jims Schulter gelegt und beide schauten schweigend zu, wie Lummerland mit dem Haus von Frau Waas und dem Haus von Herrn Ärmel, mit der kleinen Bahnstation und dem Schloss des Königs zwischen den beiden ungleichen Gipfeln immer weiter zurückblieb, still und mondbeschienen.«36

Abb. 1: Emma im Mondschein auf dem Meer. Filmplakat von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Gansel 2018).

36 Ende, Jim Knopf. 1960, S. 30.

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Abb. 2: Cover von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, ill. F. J. Tripp, koloriert von Roman Lang, Einbandtypographie von Michael Kimmerle (Ausgabe von 2004).

Abb. 3: Emma im Mondschein auf dem Meer. Szene aus der Adaption der Augsburger Puppenkiste (Amann, 1976).

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Abb. 4: Abschied von Lummerland (Ende, Jim Knopf. 1960, S. 33).

Retroromantische Ausstattung Die retroromantische Ausrichtung des Films lässt sich auch grundsätzlich an der Ausstattung des Films feststellen: Zwar orientiert sich die filmische Inszenierung der Schauplätze der lummerländischen Welt grundsätzlich an der Formensprache des internationalen Abenteuerkinos, dezidiert lassen sich aber die Trippschen und Augsburgschen Vor-Bilder erkennen. Topographisch ist die Insel Lummerland in allen medialen Spielformen ähnlich aufgebaut, auch die Kaiserstadt findet sich in Film, Puppenkisten-Adaption und literarischem Prätext auf ähnliche Weise dargestellt. Auffällig sind die Ähnlichkeiten an JimKnopf-typischen Schauplätzen wie dem Tal der Dämmerung und dem Klassenzimmer von Frau Mahlzahn in der Drachenstadt. Hier zeigt sich, dass der Film von 2018 sich insbesondere an den ästhetischen Lösungen der PuppenkistenAdaption orientiert.

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Was für die filmische Inszenierung der Schauplätze gilt, findet sich auch bei der Ausstattung: Die Titelhelden wie auch viele anderen Figuren tragen Kleidung, wie sie in den Vorgängertexten und -filmen des Medienverbunds beschrieben bzw. verwendet werden: Lukas, gespielt von Henning Baum, trägt seine hellblaue Latzhose mit hellblau gestreiftem Leinenhemd; Jim, gespielt von Solomon Gordon, trägt seinen ikonischen roten Rollkragenpullover und die namensgebende Jeanshose mit Knopf; Frau Waas (Annette Frier) verkauft im Hausfrauengewand der 1950er Jahre ihren Tante-Emma-Laden und König Alfons der Viertelvorzwölfte (Uwe Ochsenknecht) wandelt im halboffenen Morgenrock durch sein Königreich. Lediglich Herrn Ärmel wurde mit einem gut geschnittenen dunklen Sonntagsanzug mit Fliege, hohem Kragen und Zwirbelschnurrbart ein eleganteres Erscheinungsbild verpasst, das von Christoph Maria Herbsts satirischer Interpretation des unbeholfenen männlichen Bundesbürgers aber genussvoll konterkariert wird.

5.

Musikalische Retroromantik: Auralität, das Lummerlandlied und das Lied der Wilden 13

Retroromantisch lesbar sind aber nicht nur die Marketingstrategie und die Ausstattung der Filme, sondern auch die Auralität als weiteres Merkmal der Family Entertainment Filme. Das betrifft die Funktion der Filmmusik im engeren Sinne sowie die filmische Umsetzung im weiteren Sinne, bei der auditive Elemente eine dominante Rolle im Zusammenspiel von Bild und Ton übernehmen. Im engeren Sinne reinszenieren beide Filme Lieder, die durch die Puppenkisten-Adaptionen bekannt geworden sind, Lieder, die selbst wiederum Aneignungen von Textstellen der Ende’schen Originärtexte darstellen. Dies zeigt exemplarisch, wie intermediale Bezüge in einem Medien- und Produktverbund aufeinander verweisen.

Lummerlandlied Die bundespopkulturelle Wirkmächtigkeit der Puppenkisten-Inszenierung resultiert zu einem guten Teil auch aus der anhaltenden Beliebtheit der von Hermann Amann komponierten Lieder, darunter vor allem das Lummerlandlied »Eine Insel mit zwei Bergen«, dessen Text vom Drehbuchautor Manfred Jenning geschrieben wurde.37 Das Lummerlandlied wurde derart populär, dass das 37 Für die erweiterte Version des Titellieds für die Reinszenierung 1976/1978 wird Josef Furchtner als Mitkomponist genannt. Vgl. O. V.: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.

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Dancefloor-Projekt »Dolls United« 1995 mit einer Techno-Instrumentalversion eine Nummer-2-Platzierung in den deutschen Charts erreichte. Für das Gansel’sche Film-Reboot wurde das Lummerlandlied gleich zweimal neu eingespielt: Der österreichische Musiker Andreas Gabalier legte eine mit Violinensoli unterlegte Popballade vor, für den Film selbst arrangierte Ralf Wengenmayr eine Orchesterversion, die in verschiedenen Varianten die Handlung der Kinofassung unterlegt.38 Wengenmayer ist auch der Hauptkomponist des Scores der Filme von 2018 und 2020 (für den zweiten Film arbeitete er mit Marvin Miller zusammen). Das Lummerlandlied dient für die Filme wie für die Fernsehfassung der Augsburger Puppenkiste als Erkennungsmusik und übernimmt dramaturgische Funktionen des Underscoring, denn Variationen in der Spielweise und im Liedtext kommentieren wie strukturieren die Filmhandlung.39 Beispielsweise begleitet die Melodie, jeweils unterschiedlich (und im Film in orchestraler Form) eingespielt, die Zwischensequenzen der handlungsrelevanten Abschnitte, in denen Lukas mit Emma beispielsweise in der Puppenkisten-Version kreuz und quer durch Lummerland fährt. Entsprechend den vorhergegangenen Ereignissen wirkt die Melodie mal fröhlich oder nachdenklich, mal entspannt oder melancholisch, mal schnell oder langsam. Durch diesen Liedeinsatz werden zum einen verschiedene Sequenzen deutlich voneinander differenziert, zum anderen durch die musikalische Spielweise der Stand der Ereignisse kommentiert. In der Puppenkisten-Version wird auch der Liedtext variiert, etwa um den bisherigen Handlungsverlauf zusammenzufassen (in den Filmen wird das Lied nur in instrumentaler Form eingesetzt): So schicken Jim Knopf und Lukas den daheim gebliebenen Lummerla¨ ndern einen im Reimschema des Lummerlandlieds verfassten Brief aus China, in dem sie von ihren bisherigen Abenteuern berichten. Vorgesungen durch den Ko¨ nig von Lummerland, Alfons der Viertelvorzwo¨ lfte, u¨ bernimmt der Liedtext eine narrative Funktion innerhalb der Handlung, erfahren hier doch die Lummerla¨nder von den Abenteuern ihrer Freunde. In dieser Version geht die Einbindung des Lummerlandlieds über die reine musikalische Begleitung von Bewegtbildern hinaus; sie ist über die explizite Verschra¨ nkung von Bild und Ton aural strukturiert. Als musikalisches wie narratives Leitmotiv dient in diesem Zusammenhang die Eisenbahn, personifiziert durch die Lokomotiven Emma und Molly. Über das Leitmotiv werden visuelle und auditive Informationen miteinander verzahnt, greift doch der Rhythmus des Film & Fernsehen 1976. (letzter Zugriff: 10. 05. 2021). 38 Siehe hierzu Vogt, Lasse: Jim Knopf und die Wilde 13 – Ralf Wengenmayr & Marvin Miller. (letzter Zugriff: 10. 05. 2021). 39 Zu den Funktionen von Filmmusik vgl. Bullerjahn, Claudia: Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. 4., unveränderte Aufl. Augsburg: Wißner 2019.

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Lummerlandlieds das charakteristische Schnaufen von Dampflokomotiven auf. Zusätzlich untermalt wird dies dadurch, dass die nicht-diegetische (und somit nur für die Rezipierenden, nicht für die Figuren wahrnehmbare) Filmmusik durch synchrone Pfeif- und Schnaufgera¨ usche sowie im Bild sichtbare Dampfwolken der über die Insel fahrenden Lokomotive ergänzt und mit der Bildspur synchronisiert wird.40

Seeräuberlied Signaturstück des zweiten Films von 2020 ist das »Seeräuberlied« der Wilden 13. Auch dieses wurde ursprünglich von Hermann Amann komponiert, mit einem von Manfred Jenning geschriebenen Liedtext, bei dem es sich wiederum um eine abgewandelte Version des bereits in Endes Roman aufgeschriebenen »Lieds der Wilden 13« handelt. Bei Ende liest sich das Seeräuberlied wie folgt: »Dreizehn Mann saßen auf einem Sarg, ho, ho, ho, und ein Fass voller Rum! Sie soffen drei Tage, der Schnaps war stark, ho, ho, ho, und ein Fass voller Rum! Sie liebten den Sturm und den Schnaps und das Gold, ho, ho, ho, und ein Fass voller Rum! Bis einst alle dreizehn der Teufel holt, ho, ho, ho, und ein Fass voller Rum!«41

Jennings Version erhöht die Singbarkeit und Einprägsamkeit: »Dreizehn Kerle auf dem Totensarg Ho ja ho – He ja ho – ha ha ha Soffen drei Tage und der Schnaps war stark Ho ja ho – He ja ho – ha ha ha Als dann leer war das Fass mit dem Schnaps, Hatten sie alle einen Klapps Hooo! (Jaaa!)

40 Die Ausführungen zum Lummerlandlied aktualisieren entsprechende Passagen in Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp: Kinder- und Jugendfilmanalyse. Konstanz: UVK 2013, S. 132–134. 41 Ende, Michael: Jim Knopf und die Wilde 13. Stuttgart: Thienemann, 1962, S. 205. Das Seeräuberlied verweist intertextuell auf den Einfluss von Bertolt Brecht und dessen epischem Theater auf den jungen Michael Ende. Es lässt sich als intertextuelle Referenz auf die Ballade von Seeräuber Jenny sowie inhaltlich auf die »Moritat von Mackie Messer« in der »Dreigroschenoper« (1928) lesen. Zum Einfluss Brechts auf den jungen Michael Ende siehe Hocke, Roman/Neumahr, Uwe: Michael Ende – Magische Welten. Leipzig: Henschel 2007, S. 49–51; 70–73.

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Als dann leer war das Fass mit dem Schnaps, Hatten sie alle einen Klapps.«

In allen medialen Spielarten der »Jim Knopf«-Erzählung dient das Seeräuberlied nicht nur der atmosphärischen Begleitung der Handlung. Es übernimmt insbesondere in Endes Fassung narrative, dramaturgische und charakterisierende Funktionen: So kündigt das Lied auf dem Meer den Angriff der Seeräuberbande auf das Schiff von Jim, Lukas und Prinzessin Li Si an.42 Der Liedtext wiederum charakterisiert die Mitglieder der Wilden 13 in ihren Eigenschaften und Vorlieben und weissagt zugleich – damit dramaturgische Funktionen übernehmend – das Schicksal, das sie erwartet. Jennings Liedfassung, die auch der Gansel-Film übernimmt, verdünnt den Gehalt des Ende’schen Liedtextes und reduziert die Wilde 13 auf eine am Rande des Wahnsinns delirierende Bande von Alkoholikern. Die Filmadaption »Jim Knopf und die Wilde 13« von 2020 nutzt das Seeräuberlied in der Fassung von Amann/Jenning für eine auralisierende Inszenierung, die bereits im ersten Film im Prolog vorweggenommen wird: Der Prolog des 2018er-Films eröffnet mit einer Einstellung auf einen nachts in einem stürmischen Meer inmitten von Resten eines Schiffswracks treibenden Bastkorb. In diesem befindet sich das Baby Jim, das vom Piratenschiff der Wilden 13 aufgegriffen wird, die sich über ihren unverhofften Zahltag freuen. Inmitten des Gewitterdonners ist das Lied der Wilden 13 zu hören, dessen Instrumentierung im Arrangement von Ralf Wengenmayer mit donnernden, hallenden perkussiven Instrumenten inszeniert wird – und damit in Bild und Ton die Wilde 13 als gefährliche Räuberbande charakterisiert. Mit diesem Prolog weist der Film bereits in seiner ersten Szene über die im Kinderroman »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« beschriebene Handlung hinaus, denn explizit thematisiert wird Jims Herkunft erst im zweiten Buch, »Jim Knopf und die Wilde 13«. Zugleich aber ordnet der erste Film die Chronologie der Handlung: Anders als Endes Roman beginnt die Handlung mit Jim selbst, und nicht mit einem Blick auf die kleine Insel Lummerland (dieser ist im Film der ersten Szene der Exposition vorbehalten).43 Im zweiten Film initiiert das Lied der Wilden 13 die zweite Hälfte der Filmhandlung: Während in der ersten Hälfte die Rekrutierung von Herrn Tur-Tur als Leuchtturmwärter im Fokus steht, die als Nebenergebnis hervorbringt, den 42 Vgl. Ende, Die Wilde 13. 1962, S. 187. 43 Auch der zweite Film, »Jim Knopf und die Wilde 13«, eröffnet mit einem Prolog, in dem die Wilde 13 im Fokus steht: Hier ankert das Piratenschiff, diesmal bei glatter See, am Ufer einer Vulkaninsel, wo der Anführer der Wilden 13 von einem Drachen erfährt, dass Frau Mahlzahn – mit der die Wilde 13 ja einen lukrativen Kinderhandel betrieben hat – von »zwei Lokomotivführern« besiegt worden sei. Diese Nachricht veranlasst die Piraten, eine Drohung gegen die beiden auszusprechen.

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Halbdrachen Nepomuk zum Wächter über den Magnetberg zu machen, versuchen Lukas und Jim in der zweiten Filmhälfte, das Geheimnis um Jims Herkunft zu lüften (die, wie bereits angemerkt, das eigentliche Handlungsmotiv der Filmadaption darstellt). Während die kaiserliche Barke auf dem windstillen Meer dahintreibt, kündigt die Filmmusik bereits die Ankunft der Wilden 13 an, die das Schiff überfallen und alle Insassen (außer Jim, der sich im Wasser verstecken kann) gefangen nehmen.

»Jim Knopf« als musikaffine Erzählung »Jim Knopf« erweist sich als musikaffine Erzählung, die dementsprechend auch zwei Musical-Adaptionen inspiriert hat: eine 1970 entstandene Version von Emil Moser und Jörg Schneider sowie eine 1999 veröffentlichte Version von Christian Berg mit Musik von Konstantin Wecker, die bis heute regelmäßig aufgeführt wird (auch diese Version enthält eine Fassung von »Eine Insel mit zwei Bergen«). Damit ist die musikalische Überlieferungsgeschichte des »Jim Knopf«-Medienverbunds aber noch nicht erschöpft, denn auch die bereits erwähnte 52-teilige deutsch-französische Zeichentrickserie von 1999/2000 beinhaltet ein Titellied, das ein Eigenleben angenommen hat. Diese Serie hat – nicht-repräsentativen Umfragen in Lehrveranstaltungen zufolge – bei jüngeren, in den 1990er Jahren oder später geborenen Menschen die Version der Augsburger Puppenkiste als Referenzpunkt autobiographischer »Jim Knopf«-Erinnerungen abgelöst. Es ist somit auch eine Generationenfrage, was eigentlich als Referenzpunkt für die Erinnerung an »Jim Knopf« angesehen wird. Das hat auch zur Folge, dass jüngere Menschen weniger das Lied »Eine Insel mit zwei Bergen« mit den Geschichten um Jim Knopf verknüpfen, sondern das Titellied der 1999er-Zeichentrickserie, das von der populären Band »Die Prinzen« geschrieben und eingespielt wurde: »Jim Knopf uhuhuhuhuhuhuhuhuhuh Mach Dampf uhuhuhuhuhuhuhuhuhuh Wer kennt viele Abenteuer, Drachen, Prinzen, Ungeheuer? Wer ist nachts heimlich weggerannt Einfach raus aus Lummerland? Wer fährt mit Emma über’s Meer, Wem hilft Lukas dabei sehr? Schnappt die Bösen, hilft den Schwachen, Bei wem hab’n Drachen nichts zu lachen? Mach Dampf (Jim Knopf) Gib Gas (Jim Knopf), Mach Dampf (Jim Knopf) Viel Spaß (Jim Knopf),

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Mach Dampf mit deiner Eisenbahn, mit der man gut verreisen kann Jim Knopf uhuhuhuhuhuhuh…«44

Wo das Lummerlandlied noch den Schauplatz des Geschehens mit seinen EinwohnerInnen beschreibt und sich dabei satirisch als Tourismus-Werbung geriert (»Jeder sollte einmal reisen / in das schöne Lummerland«), fokussieren die Prinzen den Helden der Geschichte als furchtlosen Abenteurer und Drachenkämpfer, womit sie die Rezeption der Jim Knopf-Geschichten als Abenteuergeschichten perpetuieren.

6.

Fazit

Dennis Gansels »Jim Knopf«-Filme stehen exemplarisch für eine in der jüngeren Filmgeschichte häufiger angewandte retroromantische Inszenierungsstrategie: Aufwändige Kinderfilmproduktionen greifen auf den bzw. die Originär- und frühere Medientexte in den Verbundsystemen zurück, die noch die Kindheit der Eltern- oder Großelterngeneration geprägt haben und dadurch deren Neigung zum gemeinsamen Kinobesuch mit ihren Kindern und/oder Enkeln erhöhen. Dieser Sogeffekt filmischer Reinszenierungen auf ältere Rezipierende ist einkalkuliert, weshalb nicht nur der (literarische) Originärtext, sondern auch dessen Adaptionsgeschichte als Aneignungsmaterial dient. Im Fall von »Jim Knopf« betrifft dies vor allem die Illustrationen von F. J. Tripp und die Adaptionen durch die Augsburger Puppenkiste, die Michael Endes »Jim Knopf« maßgeblich im bundesdeutschen kulturellen Gedächtnis verankert haben. Damit zeigt sich im Fall von »Jim Knopf« der Medien- und Produktverbund, der sich um die literarischen Prätexte gebildet hat, als Ausgangspunkt für Gansels Family Entertainment Filme. Diese werden über die vier Merkmale – Intra- und Intermedialität, Selbstreflexivität, Auralität und Ästhetisierung – retroromantisch inszeniert.

44 Interessanterweise spielen Jim-Knopf-Lieder auch für die bereits erwähnte japanische Zeichentrickserie eine Rolle: Das Titellied der Serie (das sich auf YouTube findet) wurde in Japan sogar als Single-Auskopplung veröffentlicht.

Martin Blawid

Schaurige Bilder im Schlaf. Prophetische Träume als All-Age-Trend in der phantastischen englischsprachigen Literatur am Beispiel von Philip Pullmans »Das Bernstein-Teleskop« (2000) und Joanne K. Rowlings »Harry Potter und der Feuerkelch« (2005) »Ist das hier wirklich, oder findet es nur in meinem Kopf statt?«1 Diese Frage stellt der Zauberschüler Harry Potter seinem akademischen Lehrer und Mentor Albus Dumbledore kurz vor dem Ende der Romanreihe. In der filmischen Umsetzung (2011, Regie: David Yates) befindet er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Art Zwischenwelt, die im Stile des High-key-lightnings extrem überbelichtet und somit verfremdet – als Gegenpol zu der ihm vertrauten Welt – wirkt. Daraufhin reagiert der Schulleiter wie folgt: »Es findet in deinem Kopf statt, Harry. Warum muss das bedeuten, dass es nicht wirklich ist?«2 Eine Szene aus einem anderen Roman zeigt ebenfalls eine in einer Zwischenwelt gefangene Figur. Während sie in einer »dunkle[n] Höhle und einen[m] Wald voller Geräusche«3 schläft, wendet sich Lyra Belacqua, die Hauptfigur in Philip Pullmans Romanreihe »His Dark Materials«, an ihren verstorbenen Freund Roger, dessen Seele sie aus der Dunkelheit befreien möchte. Da heißt es: »Ich glaube, ich träume, Roger«4, woraufhin Roger ihr antwortet: »Aber wenn du jetzt träumst, Lyra, glaubst du vielleicht etwas ganz anderes, wenn du aufwachst. So würde es mir gehen. Ich würde denken, ach, das war doch nur ein Traum.«5 Dunkle Landschaften und finstere Gestalten, Erlebnisse an der Schwelle zwischen Leben und Tod, unbekannte Formen und seltsame Botschaften – sowohl Philip Pullmans »His Dark Materials«-Romanfolge als auch Joanne K. Rowlings »Harry Potter«-Heptologie weisen zahlreiche anspruchsvoll gestaltete Traumsequenzen auf. Diese als All-Age-Trend der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur vorzustellen, ist die Grundlage und Zielsetzung für den vorliegenden Beitrag.

1 Rowling, Joanne K.: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes. Hamburg: Carlsen 2011, S. 579. 2 Ebd. 3 Pullman, Philip: Das Bernstein-Teleskop. Hamburg: Carlsen 2002, S. 7. 4 Ebd., S. 39. 5 Ebd., S. 46.

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1.

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Kinder- und Jugendliteratur, Phantastik und Träume

Zunächst soll ein kurzes Augenmerk auf die Verbindung der Themenbereiche Kinder- und Jugendliteratur, Phantastik und Literarische Träume gelegt werden. Im Hinblick auf die hier besprochenen Texte fällt dabei zuerst eine genretypische Gemeinsamkeit auf: Beide Romanreihen werden der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur zugerechnet und gelten innerhalb dieser als prototypisch für die sog. All-Age-Literatur, indem sie – wie Ulf Abraham formuliert – davon profitierten, »Altersgrenzen und Zielgruppen zu überspringen«6: »Der Zyklus [die »Harry Potter«-Heptologie – M.B.] thematisiert ›Familie‹, und er erwies sich bald nach Erscheinen der ersten Bände als attraktives Lektüreangebot, das Generationen verbinden kann. Ein Indiz dafür ist, dass Rowlings Verleger in England und Deutschland eigene Ausgaben für Erwachsene anbieten, die sich nur im Cover von den Ausgaben für Heranwachsende unterscheiden.«7

Beide Autoren8 stellen mit Lyra und Harry zwei anfangs noch kindlich-jugendliche, später zunehmend erwachsener agierende Helden in das Zentrum der Handlung. Demnach werden die Romane im engeren Sinne als Literatur für Kinder und Jugendliche, im weiteren Sinne jedoch als Literatur über Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene deutlich.9 Da beide Protagonisten schließlich nicht nur sich selbst, sondern letztlich nichts weniger als die Welt retten10, bedienen sie gleichsam die Erwartungshaltung jüngerer Leser nach Abenteuer und Identifikationspotenzial sowie einer reiferen Leserschaft nach dem Anreiz, existenzielle Fragestellungen zu reflektieren. Unter anderem auch deshalb gilt die generationenübergreifende Faszination an Pullmans und Rowlings Romanen als ebenso wenig strittig wie deren Einordnung in die phantastische Literatur. So lässt sich die in der einschlägigen Literatur beschriebene Unsicherheit in der Bewertung eines Elements, das sich als inkompatibel mit den Regeln der Welt 6 Abraham, Ulf: Fantastik in Literatur und Film. Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 11. 7 Ebd., S. 185. 8 Das generische Maskulinum wird bewusst aus Gründen der besseren Lesbarkeit im Fließtext verwendet. In den im Folgenden genannten Fällen (Autoren, Leser, Helden etc.) schließt es sowohl männliche als auch weibliche Entsprechungen mit ein. 9 Interessant ist in diesem Zusammenhang Maria Nikolajevas Feststellung: »The eternal question with the essence of children’s literatur ist the adult athor’s capacity to adopt a child subject perspective« (Heilman, Elisabeth E. (Hg.): Critical Perspectives on Harry Potter. London/New York: Routledge 2003, S. 133). Die von Nikolajeva angesprochene ›child subject perspective‹ kann sowohl für »His Dark Materials« als auch für die »Harry Potter-Romane« als ein konstituierendes Element angenommen werden, wenngleich insbesondere für Pullmans Trilogie hinzugefügt werden muss, dass es eine unter vielen weiteren Perspektiven im Roman darstellt – ein weiteres Indiz für den Erfolg von »His Dark Materials« insbesondere auch unter Erwachsenen. 10 Vgl. Appelbaum, Peter: »Harry Potter’s World: Magic, Technoculture, and Becoming Human.« In: ebd., S. 31.

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erweist11, an beiden Texten schnell nachweisen. Je nachdem, welche theoretische Grundlage der neueren Forschungsarbeiten zur phantastischen Literatur herangezogen wird, bieten zudem beide Fälle verschiedene »Realitätssysteme« und »Systemsprünge« an, die in kunstvoll-kreativer Art miteinander verbunden werden.12 Zugleich entwerfen beide Romanreihen Beispiele einer sog. open world, in die das Übernatürliche an einem bestimmten Punkt hereinbricht und als solches im Text erkennbar bleibt.13 Eine spezielle Frage, die auch in der jüngeren Forschung noch kontrovers diskutiert wird, zielt auf das Verhältnis der phantastischen Literatur zum Traum ab. Dabei wird deutlich, dass der Topos des literarischen Traums keinesfalls exklusiv der phantastischen Literatur und ebenso wenig exklusiv der Kinder- und Jugendliteratur vorbehalten ist.14 Zahlreiche Beispiele zeigen, dass literarische Träume zu den prominentesten Topoi in der Literatur überhaupt gehören. Sie sind allein durch ihre Struktur ambivalent und facettenreich zugleich – zeigen Manches, aber verhüllen Anderes: »Der Traum bietet der Phantastik eine Form an, in der ein Dissenz im Subjekt oder zwischen Mensch und Umwelt verdeutlicht werden kann: Schreckens- und Angstbilder, dissoziierte Bilder, Visionen, Halluzinationen usw., die aus dem Kontakt zwischen Subjekt und Umwelt entstehen, jedoch die Subjektseite in der rationalen Unangemessenheit bei gleichzeitiger subjektiver Evidenz berühren.«15

Peter-André Alt arbeitet in seiner Monographie mit dem Titel »Der Schlaf der Vernunft« eindrucksvoll heraus, welche prominente Bedeutung insbesondere 11 Vgl. Todrorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 26; sowie Caillois, Roger: Au cœur du fantastique. In: Ders.: Cohérences aventureuses. Paris: Gallimard 1976, S. 161. 12 Vgl. Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Lit 2010, S. 80, 146. 13 Vgl. Nikolajewa, Maria: The Magic Code. The Use of Magical Patterns in Fantasy for Children. (Diss.) Stockholm: Almqvist & Wiksell International 1988, S. 35ff. Zum Beispiel wird zu Beginn des Romans »Harry Potter und der Feuerkelch« ein weitestgehend realistisch-mimetischer Weltentwurf vorgestellt, der erst im Laufe des ersten Kapitels durch Begriffe wie ›Muggel‹, ›Zauberer‹ oder ›Hexe‹ relativiert wird. Gleichzeitig bleibt das Nebeneinander der Welt der Muggel und der zauberhaften Welt rund um Hogwarts als konstitutiv für die gesamte Romanreihe erhalten. Noch komplexer gestaltet sich die Konstruktion der Weltentwürfe in Pullmans Romanfolge: Die parallel existierenden Welten sind – wie insbesondere der zweite Teil mit dem Titel »Das magische Messer« eindrucksvoll zeigt – potenziell unendlich; und einzelne Figuren aus mehr oder weniger mimetisch bzw. poetisch angelegten Welten können sich mithilfe magischer Artefakte und wissenschaftlicher Errungenschaften weitestgehend frei zwischen den Welten bewegen. 14 Zum Zusammenhang zwischen phantastischer Literatur und Traum vgl. Geisenhanslüke, Achim/Rauch, Marja: Traum und Rausch. In: Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hrsg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler 2013, S. 568–583. Die besondere Verbindung zur Kinder- und Jugendliteratur zeigt Abraham anhand von verschiedenen Leitmotiven auf, zu denen er auch den Traum bzw. die Traumlandschaft zählt: vgl. Abraham, Fantastik in Literatur und Film. 2012, S. 147–148. 15 Geisenhanslüke/Rauch, Traum und Rausch. 2013, S. 569.

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prophetischen Träumen in der Kulturgeschichte seit der Antike immer wieder eingeräumt wird.16 Nun hat man es auch in den beiden hier vorgestellten Texten jeweils mit prophetischen Träumen zu tun, und zu fragen ist daher sowohl nach der Struktur als auch nach der Funktion der Träume innerhalb der Texte. Der dritte Aspekt neben Struktur und Funktion berührt die Wirkung der Träume – und zwar innerhalb des Kommunikationssystems des Textes und darüber hinaus. Einem Bonmot von Arthur Schopenhauer zufolge sei das Träumen mit dem Durchblättern eines Buches vergleichbar. Es vollziehe sich »ohne Ordnung und Zusammenhang«, und der Träumer schlage »bald hier, bald dort ein Blatt auf.«17 Dieser Diskurs der Unordnung ermöglicht assoziative Gedankensprünge, durch die der Träumer seine Vorstellungskraft ohne intendierte inhaltliche Verbindungen und vor allem ohne klar definiertes Ziel nicht mehr kontrollieren kann. Träume lassen die Schlafenden (und unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten: die Leser) allerdings nicht nur blättern, sie führen sie in ein labyrinthähnliches Gebilde ein, in dem die Regeln der Orientierung neu definiert werden. Nach der berühmten Klassifikation von Labyrinthen durch Umberto Eco18 können literarische Träume als Beispiel für alle drei Arten des Labyrinths angesehen werden: Entweder wird der Träumer gezielt zu einem Zentrum geführt, wo er eine Probe bestehen muss, was auf das Modell des antiken Labyrinths und den Daedalus-Mythos verweist. Oder aber der Träumer verliert sich im Traum nach dem Vorbild des barocken Irrgartens. Schließlich bieten sie dem Träumenden unendlich viele Ein- und Ausgänge und erfüllen dadurch auch die Kriterien eines für die Postmoderne charakteristischen Rhizoms: Sie sind potenziell unendlich – und dadurch für die breite Leserschaft generationenübergreifend faszinierend. So soll im Folgenden gezeigt werden, weshalb literarische Träume in der Literatur an sich, aber auch speziell für die Kinder- und Jugendliteratur einen AllAge-Trend darstellen. Als Orientierungspunkt dazu dienen drei Thesen: Erstens, Traumerzählungen sind ein Trend in der Kinder- und Jugendliteratur, die die Grenzen zwischen Aktion und Reaktion – zwischen Handlung und Beobachtung – verschwimmen lassen. Zweitens, das Faszinationspotenzial für Jugendliche und Erwachsene erschöpft sich nicht nur in opulenten Bildern auf der Ebene des discours, sondern erfüllt auch innerhalb der erzählten Geschichte, der histoire, wichtige Funktionen: Träume deuten an, was kommen mag; sie zeigen und verschleiern. Und schließlich drittens, Traumerzählungen sind auch deshalb ein 16 Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit. München: C. H. Beck 2002, S. 41–55. 17 Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. München: dtv 1998, S. 167. 18 Eco, Umberto: Nachschrift zum »Namen der Rose«. München: dtv 1986, S. 64–65.

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All-Age-Trend, da sie insbesondere für jugendliche Figuren identitätsstiftende Prozesse befördern. Allen drei Thesen ist eines gemein: Sie lassen Träume in mehrfacher Hinsicht als Übergangssituation erscheinen: Zum einen loten sie die Grenze zwischen Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft aus. Zum anderen spielen sie durch diskontinuierliche Erzählstrukturen mit den erzähltechnischen Kategorien des showing und des telling und stehen somit für eine grundsätzliche Mehrdeutigkeit des Erzählten. Schließlich bewirken sie nicht selten das Überschreiten der Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz oder zwischen Adoleszenz und Erwachsensein.

2.

Träume als Schwellensituation zwischen Handlung und Beobachtung

Das erste Beispiel findet sich in einer sehr prominenten jugendlichen Figur, die von schaurigen Bildern im Schlaf auf- und heimgesucht wird: Harry Potter in Joanne K. Rowlings gleichnamiger Romanserie. Zuvor lohnt sich eine kurze inhaltliche Einbettung der Traumsequenzen im Roman »Harry Potter und der Feuerkelch«: Der vierte Band der Romanserie markiert endgültig den Übergang zwischen den märchenhaften Erlebnissen rund um Harry, Hermine und Ron zu einem Genre der eher dunklen Fantasy-Geschichten. Es ist aus diesem Grund kaum verwunderlich, dass auch die Verfilmung (2005, Regie: Mike Newell) zum ersten Mal intensiv auf ihre Altersfreigabe »ab 12 Jahren« hin diskutiert wurde.19 Trotz der Tatsache, dass dieser Umstand es theoretisch auch Siebenjährigen ermöglicht, den Film in Begleitung eines Erwachsenen zu sehen, wird an mehreren Stellen deutlich, dass es sich keinesfalls um einen für Kinder geeigneten Film, geschweige denn: um einen Kinderfilm handelt. Die filmische Umsetzung bemüht sich in ihrer dunklen Ästhetik offenkundig um eine gezielte Nähe und Treue zur Romanvorlage. Doch worum geht es genau? Harry wird durch einen Plan seines Widersachers, Lord Voldemorts, gezielt durch verschiedene magische Prüfungen hin zu einem finalen Aufeinandertreffen gelotst. Voldemort kehrt zum ersten Mal in den Kreis seiner Anhänger zurück und fordert Harry zu einem Kampf auf Leben und Tod heraus. Wichtig ist, dass die Gegenüberstellung von Harry und Voldemort eine Klimax bildet, die über die ersten drei Romane hinweg äußerst sorgfältig vorbereitet wurde. Auch innerhalb des vierten Romans wird die Spannungskurve daraufhin gezielt aufgebaut. Dabei treten vermehrt Pro-

19 Vgl. Filmdatenbank der Jugendmedienkommission: Alterskennzeichnung zu »Harry Potter und der Feuerkelch« unter (letzter Zugriff: 16. 07. 2020).

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lepsen auf, die der Text auf eine Metaebene des Erzählens verlegt: in Harrys Träume. Der Roman beginnt mit einer Szene in Voldemorts Elternhaus. Der Haushälter Frank Bryce bemerkt durch Zufall seltsame Aktivitäten in dem verlassen geglaubten Anwesen, wird schließlich von Voldemort entlarvt und ermordet. In diesem Moment springt die Handlung zu Harry Potter um (»[…] 300 km entfernt fuhr der Junge namens HP erschrocken aus dem Schlaf«20). Interessant ist die Verbindung, die der Text zwischen beiden Erzählsträngen knüpft: Während der Leser zunächst annimmt, es handle sich um eine chronologische Abfolge von Ereignissen an zwei unterschiedlichen Orten der erzählten Welt, wird diese Erwartung zu Beginn des zweiten Kapitels aufgelöst: »Er [Harry – M.B.] war gerade aus einem sehr fiebrigen Traum aufgewacht.«21 Der gesamte Inhalt des ersten Kapitels war demnach ein Albtraum Harrys. Die Art des Erzählens – der discours – kann entsprechend sowohl als sukzessiv als auch als diskontinuierlich beschrieben werden. Sukzessiv erscheint die Abfolge von Ereignissen, indem das Geschehen aus Kapitel 1 Harrys Erwachen vorausgeht. Die Art der diskontinuierlichen Informationsvergabe steigert die Erwartungshaltung des Lesers bereits zu Beginn des Romans, indem zentrale Fragestellungen aufgeworfen, aber zunächst nicht beantwortet werden. Zudem formuliert Harry grundlegende Zweifel an dem Geträumten: Namen werden vergessen, die Figur Frank Bryce ist Harry unbekannt und ihm fehlen wesentliche Informationen zur räumlichen Deixis. Eine onirisch inspirierte Lesart der beiden Textpassagen fragt nun gewöhnlich nach der Position des Träumers: Ist Harry innerhalb der Traumerzählung noch ein Beobachter, wird er in dem Moment zum Handelnden, als er sich mit dem Geträumten im Wachzustand auseinandersetzt. Nun sind zwei Punkte besonders interessant: Zum einen vermag Harry nicht genau zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Erschwert wird dieser Prozess durch die Lücken, die er in seiner Erinnerung ausmacht. Zum anderen scheint der Traum stark mimetisch ausgerichtet gewesen zu sein: »Es war ihm alles so wirklich vorgekommen.«22 Dennoch ist es gerade die Diskrepanz zwischen der lückenhaften Erinnerung und der scheinbaren Nähe zur Realität, die Harrys Zweifel im Todorovschen Sinne hervorrufen. Dieser Zweifel wird insbesondere im Medium der Literatur ausgenutzt, indem sich der Wissensvorsprung des empirischen Lesers gegenüber der Figur Harry Potter daraus ergibt, dass zentrale Elemente der Traumerzählung in Harrys Erinnerung fehlen. Die Rekonstruktion des Geträumten ist für die Figur – nicht aber für den Leser – mühsam und lückenhaft. Anschaulich wurde dieser Sonderstatus literarischer 20 Rowling, Joanne K., Feuerkelch. 2008, S. 20. 21 Ebd., S. 21. 22 Ebd.

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Träume durch Peter-André Alt beschrieben: Literarische Träume seien sowohl imaginär als auch fiktiv – einerseits also von der Vorstellungskraft des Träumers anhängig und andererseits den Gesetzen der Wiedergabe in einer Erzählsituation – einem literarischen Text – unterworfen.23 Diese Mehrfachcodierung betrifft jedoch nicht nur den Text, sondern auch die Figur des Träumers im Schlaf, die Elisabeth Lenk in ihrer Studie »Die unbewusste Gesellschaft« anschaulich beschreibt: Jeder Träumer sei im Traum sowohl Schauspieler, Regisseur als auch Publikum zugleich.24 Harry »dirigiert« seinen Traum, indem seine Vorstellungskraft sehr präzise Vorgaben zur räumlichen Deixis vorgibt: Die Beschreibung des Riddle-Anwesens im ersten Kapitel weist teilweise eine große Detailtreue auf, wobei die Perspektive des träumenden Harry durch die Sicht einer anderen Figur (des Hausverwalters Frank) gefiltert wird. Harry ist folglich in seinem Traum gleichsam Teil des Publikums als Beobachter des Geschehens vor Ort. Schließlich bleibt offen, inwiefern er auch die Funktion des Schauspielers erfüllen kann, da er ja nicht sich selbst im Traum beobachtet, sondern den Hausverwalter. Dieser Gedanke verhärtet sich, wenn wir einen weiteren prophetischen Traum einbeziehen, der sich später im Roman ereignet: »Seine [Harrys – M.B.] Lider wurden schwer … Er flog jetzt auf dem Rücken eines Uhus, schwebte am klaren blauen Himmel auf ein altes, mit Efeu überwachsenes Hauch hoch am Hügel zu. […] auf dem Boden neben dem Lehnstuhl waren zwei dunkle Gestalten zu sehen … beide bewegten sich … […] Wurmschwanz schrie, schrie, als ob jeder Nerv seines Körpers brennen würde, das Schreien erfüllte Harrys Ohren, und die Narbe auf seiner Stirn entflammte vor rasendem Schmerz; auch Harry schrie jetzt laut … Voldemort würde ihn hören, würde wissen, dass er da war … ›Harry! Harry!‹ Harry öffnete die Augen.«25

Hier tritt Harry in seinem Traum selbst auf und wird Zeuge, dass Voldemort seinen Diener Wurmschwanz foltert. Nach dem Erwachen wirkt die beobachtete Gewalt der Traumerzählung im Wachzustand weiter, indem Harrys berühmte Narbe schmerzt, wodurch der letzte sensomotorische Eindruck aus dem Traum die Brücke zum Wachzustand schlägt. Dieser realistisch fühlbare Schmerz führt zur zweiten These.

23 Alt, Schlaf. 2002, S. 142. 24 Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum. Berlin: Matthes & Seitz 1983, S. 128. Die Zuschreibung des Träumers als Schauspieler geht in der deutschen Tradition auf Johannes Volkelt zurück: vgl. Volkelt, Johannes: Die Traum-Phantasie. Stuttgart: Meyer & Zeller 1875, S. 156. Vgl. dazu auch Geisenhanslüke/Rauch, Traum und Rausch. 2013, S. 573. 25 Rowling, Feuerkelch. 2008, S. 602–604.

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3.

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Träume als Schwellensituation zwischen Verschleierung und Enthüllung

Auch in Bezug auf Philip Pullmans Roman »Das Bernstein-Teleskop« soll eine knappe Einordnung in den Gesamtzusammenhang gegeben werden: Lyra, ein elfjähriges Mädchen, lebt in einer von vielen parallel existierenden Welten, in der die Seelen der Menschen in der Form eines tierartigen Schutzgeistes außerhalb des Körpers existieren. Diese Welt ist geprägt durch den erbitterten Kampf zwischen Lyras Vater, dem Metaphysiker und Abenteurer Lord Asriel, und dem totalitär herrschenden Magisterium, einer kirchenähnlichen Organisation. Lyra spielt in dieser Auseinandersetzung eine Schlüsselrolle – von der sie allerdings zu Beginn und über lange Zeit der drei Romane nichts ahnt. Ihr Ziel ist es, ihren Kinderfreund Roger, der bei einem Experiment geopfert und von seinem Dämon (also seiner Seele) getrennt wurde, im Jenseits wiederzufinden und zu erlösen. Zu Beginn des dritten Romans liegt sie in einer Höhle, schläft und träumt.26 Ähnlich prophetisch wie Harrys Traum mutet auch Lyras Traum an, wobei bereits der Titel des ersten Kapitels Zweifel an der Natürlichkeit des Schlafes aufkommen lässt. Dort heißt es: »Die verzauberte Schläferin«27 – eine beinahe wortgetreue deutsche Übersetzung des märchenhaften Dornröschen-Topos aus anderen Sprachen (englisch: sleeping beauty, italienisch: la bella addormentata). Die Traumerzählung beginnt am Ende des Kapitels und markiert zugleich einen Wechsel der Erzählsituation: Während der Roman mit einem heterodiegetischen Erzähler mit Null-Fokalisierung beginnt, ist die Traumerzählung zwar noch immer heterodiegetisch angelegt. Die Fokalisierung ist jedoch intern, indem sich der Erzähler selbst bestimmte Umstände nicht erklären kann, was durch zahlreiche rhetorische Fragen und Dialogsequenzen betont wird. Interessant ist hier jedoch zunächst, wer spricht und wo sich das Gespräch ereignet. Nur im Schlaf kann Lyra mit einem »kleinen Jungen«28 interagieren, und beinahe scheint die Kommunikation so real, dass sie von Lyras Erinnerungen an ihre Wirklichkeit kaum zu unterscheiden ist. Die Frage nach dem Ort lässt Lyra zunächst im Unklaren: »Aus dem Dunkel« tritt der noch namenlose Junge auf sie zu, indem er »schattenhaft wirkt, wie etwas, das man fast vergessen hat«, und seine Stimme »nie lauter als ein Flüstern« klingt.29 Die Erscheinung des Jungen gleicht einem geisterhaften Wesen, wobei Lyras Phantasie eine entscheidende Rolle spielt. Ein in diesem Zusammenhang 26 Auf die offensichtlichen intertextuellen Verweise zu Platons Höhlengleichnis weist Kleczkowska hin: vgl. Kleczkowska, Katarzyna: Greek and Roman Elements in His Dark Materials by Philip Pullman. In: S´wiaty alternatywne. Krakow 2015, S. 125–133. 27 Pullman, Teleskop. 2002, S. 5. 28 Ebd., S. 10. 29 Ebd.

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häufig zitiertes Kunstwerk stammt aus den »Caprichos« von Francisco de Goya und trägt den Titel »El sueño de la razón produce monstruos«. Dabei ist die Polysemie des spanischen Ausdrucks sueño bedeutsam: Sueño steht gleichsam für Schlaf als auch für Traum. Übertragen auf Lyras schauderhafte Begegnung, ließe sich demnach entweder annehmen, die Vernunft würde schlafen, und dadurch könnte die gespenstische Atmosphäre ungefiltert hervortreten, oder aber die Vernunft träumt und bringt die Geisterwelt damit erst aktiv hervor.30 Der Begriff ›Geisterwelt‹ scheint nicht zu weit zu gehen, da elementare Regeln der Lyra bekannten Welt außer Kraft gesetzt sind. Die Zeit »steht still«, der Ort scheint Lyra »das Ende aller Orte« und »die letzte aller Welten«.31 Die Intertexte, die Pullman hier inspiriert haben mögen, umfassen neben der »Aeneis« des Vergil weiterhin John Miltons »Paradise Lost« und zweifelsohne auch Dantes »Divina Commedia«. Dennoch unterscheidet sich die Jenseitserfahrung Lyras von literarischen Vorbildern, indem Pullman den Ort der Zusammenkunft im Foucaultschen Sinne heterotopisch anlegt32: Der Ort, an dem Lyra dem Jungen begegnet, befindet sich in einem literarischen Traum und stellt somit einen Ort dar, der – auch jenseits der Feststellung, dass es sich um einen fiktiven Text handelt – im doppelten Sinne nicht existiert: Zum einen nimmt er das tatsächliche Aufeinandertreffen Lyras und Rogers zu einem späteren Zeitpunkt im Roman vorweg und ist somit nur eine Andeutung dessen, was kommen mag; zum anderen ist er der Träumerin selbst fremd, worin sich eine intertextuelle Parallele zu Harrys Reflexion des Geträumten eröffnet. Der Junge gibt sich schließlich als ihr toter Freund Roger zu erkennen, der ihr enthüllt, sich »in der Welt der Toten«33 zu befinden. Während der Traumerzählung wird der Dialog zwischen Lyra und Roger weitergeführt, wobei Lyra ihren eigenen Traum hinterfragt: »Ich glaube, ich träume, Roger«34. Der Traum wird auch weiterhin auf einer Metaebene behandelt: Lyra versucht aufzuwachen und wird zugleich von der Angst ergriffen, »ihr Leben lang zu schlafen« und »dann zu sterben« – sie wolle »zuerst aufwachen«.35 Die weiteren Gesichter, die Lyra erblickt, zeigen »aufgerissene Augen«, sind »hoffnungslos«, »bleich, dunkel, alt, jung, stumm und angstvoll«.36 Auch an dieser Stelle erhärtet sich der Verdacht, Pullman habe sich der breiten Klaviatur intertextueller und intermedialer Verfahren bedient – erneut wirkt die Passage wie eine Reminiszenz an die lite30 Vgl. Alt, Schlaf. 2002, S. 182. 31 Pullman, Teleskop. 2002, S. 11. 32 Vgl. Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u. a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1992, S. 34–46. 33 Pullman, Teleskop. 2002, S. 11. 34 Ebd., S. 39. 35 Ebd., S. 46. 36 Ebd., S. 55.

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rarischen Vorgänger Dante und Milton oder aber die entsprechenden Illustrationen Gustave Dorés. Der literarische Traum eröffnet auch an dieser Stelle die Möglichkeit zu einem multisensorischen Vexierspiel zwischen Nähe und Ferne, zwischen Andeutung und Gewissheit, zwischen Zeigen und Verhüllen. Dieser Vorgang schlägt sich ebenfalls auf der Ebene des discours nieder: Die bemerkenswerte Erzählstrategie, die sich durch den ersten Teil des Romans zieht, besteht im abrupten Abbruch der Traumerzählung zugunsten der unterschiedlichen Parallelhandlungen, die sich zeitgleich zu Lyras Traum vollziehen. Dadurch wird der Traum sowohl in seinem dargestellten Inhalt als auch in seiner Erzählstruktur diskontinuierlich transparent. Das Charakteristikum der Polyvalenz, der »Vieldeutigkeit […], dem ›Wie‹ und ›Was‹ des Erzählens«, offenbart nach Carsten Gansel ein Kennzeichen der kommerziell erfolgreichen Kinderund Jugendliteratur, die sich in die All-Age-Tradition einschreibt.37 Es findet sich in frühen phantastischen Texten (z. B. den Märchen Wilhelm Hauffs) ebenso wie in postmodernen Bestsellern an der Grenze zwischen Phantastik, Dystopie und Entwicklungsroman. Lyras Traum endet, indem sich »ihre Gedanken zerstreuen und sich wie Schafe auf einem Feld verirren«38 und sie schließlich erwacht. Die prophetische Qualität ihres Traums erschließt sich ihr erst wesentlich später, als es ihr gelingt, ihren Freund Roger tatsächlich in der Welt der Toten zu finden und zu erlösen. Einzelne Elemente des Traums werden dabei im Text wieder aufgegriffen – die Dunkelheit, die Geister der Verstorbenen, die apokalyptisch anmutende Landschaft. Der Traum nimmt die Mission Lyras vorweg, was zur dritten und letzten These führt.

4.

Träume als Schwellensituation zwischen Kindheit und Erwachsensein

Trotz der mannigfaltigen Parallelhandlungen, die mit opulenten Bildern in Pullmans Roman inszeniert werden, bleibt eine Kette von Handlungselementen in der gesamten Trilogie »His Dark Materials« dominant: die Entwicklung Lyras von einem 11-jährigen, etwas vorlauten Kind39 hin zu einer reiferen, altruistisch handelnden jugendlichen Figur. Diese Tatsache, dass Lyra zu Beginn der Romanreihe exakt 11 Jahre alt ist, verdient ein gesondertes Augenmerk. Maria Niko37 Gansel, Carsten: »All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser.« In: Der Deutschunterricht 4/12. Hannover: Friedrich-Verlag 2012, S. 5. 38 Pullman, Teleskop. 2002, S. 65. 39 Nikolajeva, Maria: »Harry Potter – A Return to the Romantic Hero.« In: Heilman, Elisabeth E. (Hrsg.): Critical Perspectives on Harry Potter. London/New York: Routledge 2003, S. 136.

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lajeva betont die kulturelle Präferenz der Altersstufe 11 als Beginn der adoleszenten Initiationsphase in der Kinder- und Jugendliteratur.40 Diese Initiationslinie beschreibt die zentrale Thematik, die »His Dark Materials« insgesamt der Coming-of-Age-Tradition zuweist.41 Vielleicht mag das überraschen, wird doch Pullmans Trilogie in der öffentlichen Diskussion vor allem durch die beschriebene Rebellion gegen eine gottähnliche Autorität und eine mehr oder weniger explizit vorgetragene Kritik an der katholischen Kirche als Institution wahrgenommen.42 Mögen die Befürworter und Gegner dieser Handlungsstränge auch noch so engagiert diskutieren, sie ändern nichts an der Frage, welche Funktion Lyra als Hauptfigur erfüllt. Diese Funktion bringt nun Werte zum Vorschein, die durchaus auch in der christlichen Tradition gedeutet werden können: Lyra fühlt sich für den Tod ihres Freundes Roger verantwortlich und knüpft die Schuldgefühle an die Aufgabe, ihn zu finden und zu erlösen. Dabei muss sie zahlreiche Opfer erbringen. Geliebte Personen werden auf dem gefahrvollen Weg sterben, und über diese Verlustgefühle hinaus wird Lyra mit physischer und psychischer Gewalt konfrontiert. Zugleich wird sie gezwungen, ihr Wertesystem mehrfach auf die Probe zu stellen und zu enthüllen, was ihr wirklich wichtig ist. Die Freundschaft zu Roger schwebt über diesen Gedanken. Und auch wenn der Weg zu ihrem Freund sie durch zahlreiche gefährlichen Situationen führt, stellt sie in diversen Konstellationen unter Beweis, dass sie ihren kindlichen Ego-

40 Ebd., S. 137. Entsprechend beginnt Lyras Abenteuer in diesem Alter – ebenso wie Harrys Initiation in Hogwarts exakt auf diese Altersstufe fällt. Allerdings zeigt die Entwicklung beider Hauptfiguren zu Beginn immer noch vereinzelt kindlich-egozentrische Verhaltensmuster, die erst im Laufe des Reifeprozesses abgebaut werden. Lyra ist dabei als Figur deutlich ambivalenter angelegt als Harry: Sie nimmt es mit der Wahrheit nicht besonders genau, was zugleich auf ihre enorme (kognitive) Kombinationsfähigkeit und sprachliche Kreativität (›Lyra silvertongue‹) hindeutet. Zudem ist sie insbesondere gegenüber Erwachsenen deutlich renitenter als Harry. Zur Entwicklung bei Harry vgl. De Rosa, Deborah: »Wizardly Changes to and Affirmations oft he Initiation Paradigm in Harry Potter.« In: ebd., S. 181–183. 41 Die Identitätsfindung, die u. a. auch eine religiöse Komponente hat, betont u. a. Gray, Mike: Transfiguring Transcendence in Harry Potter, His Dark Materials and Left Behind. Fantasy Rhetorics and Contemporary Visions of Religious Identity. Göttingen: V&R 2013. Vgl. auch Blawid, Martin: Jugendliche Erlöserfiguren in dunklen Zeiten. Zur Struktur »phantastischer« Welten am Beispiel von Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romanreihe und Philip Pullmans Trilogie His Dark Materials. In: Kritische Ausgabe. Nr. 35/2018, S. 7–15. Als spezifisch ›englisches‹ Phänomen der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur arbeitet Fenske die Suche nach Identität heraus: Fenske, Claudia: Muggles, Monsters and Magicians. A Literary Analysis oft he Harry Potter Series. Frankfurt/Main: Peter Lang 2008, S. 430. 42 Dazu stellvertretend: Yeffeth, Glenn (Hrsg.): Navigating the Golden Compass. Religion, Science and Dæmonology in His Dark Materials. Dallas: Benbella Books 2005; RaymentPickard, Hugh: The Devil’s Account. Philip Pullman and Christianity. London: Darton, Longman + Todd 2004; sowie Freitas, Donna/King, Jason: Killing the Imposter God. Philip Pullman’s Spiritual Imagination in His Dark Materials. San Francisco: John Wiley & Sons 2007.

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zentrismus zugunsten einer von Nächstenliebe geprägten, empathiegeleiteten Handlungsfähigkeit immer stärker aufgibt. Der Traum markiert in diesem Reifeprozess einen entscheidenden Passus: Er zeigt ihr in einer eher abstrakten Lesart, dass sie ihre Mission erfüllen kann, und er zeigt ihr zudem in einem sehr praktischen Sinne, wo sie Roger suchen muss. Darüber hinaus wird ihre immer stärker werdende emotionale Bindung an ihren Begleiter Will Parry, mit dem sie einen Großteil ihrer Abenteuer erlebt, deutlich. Während Lyra mit Roger eine kindhafte, unschuldige, aber zugleich tiefe Freundschaft verbindet, zeigt ihre Einstellung gegenüber Will eine neue Qualität an Emotion: Zuneigung, die sich schließlich in Liebe verwandelt. Die Seelenverwandtschaft, die Lyra mit Will verbindet, deutet zudem auf eine schicksalhafte Beziehung im Hinblick auf Lyras Schlüsselrolle in der Romanserie hin, die jedoch Gegenstand einer anderen Untersuchung ist. Lyras Traum könnte dazu einen Ausgangspunkt bieten, schließlich endet er mit dem unerschöpflichen Vertrauen, das sie in Will setzt: »Wir können ihm vertrauen, denn er heißt ›Will‹«43. Auch im Roman »Harry Potter und der Feuerkelch« beschreibt der Traum, den Harry gleich zu Beginn träumt, einen Meilenstein in seiner Entwicklung. Ähnlich wie bei Lyra ist die Reifung auch hier an die Kategorie des Wissens um die Zukunft geknüpft, und obwohl Harry im Gegensatz zu Lyra nur eine vage Ahnung über die Identität der im Traum erschienenen Figuren – insbesondere Voldemorts – hat, legt ihm der Traum gleich mehrere wichtige Entwicklungen offen: die Rückkehr seines Widersachers, die bereits angedeutete Stärke der dunklen Magie und nicht zuletzt den perfiden Plan, ihn zu töten. Darüber hinaus tritt dieses auf ihn selbst bezogene Wissen um die Zukunft in einen größeren Kontext. Harry lernt, dass die Rückkehr Voldemorts und der damit verbundene Durst nach Rache sich nicht auf ihn allein beschränkt. Je mehr er über den Mörder seiner Eltern erfährt, desto größer wird die Gewissheit, nur eine Figur – freilich die erste und zunächst wichtigste – in dessen Rachefeldzug gegen Andersdenkende und Nicht-Magier zu sein. Peter Appelbaum bezeichnet den Prozess der Reife bei Harry entsprechend als das Zusammenspiel von »selfknowledge und self-care«.44 Dieser Selbsterhaltungstrieb ist dabei allerdings weitestgehend frei von Egozentrismus: Mehrfach äußert Harry in den Bänden, die dem »Feuerkelch« folgen, den Willen, seinen Kampf gegen Voldemort und notwendigerweise auch seinen eigenen Tod für das Wohl seiner Freunde einzukalkulieren, gewissermaßen ein Opfer zu bringen, um die Welt zu retten.

43 Pullman, Teleskop. 2002, S. 78. 44 Appelbaum, Peter: »Harry Potter’s World: Magic, Technoculture, and Becoming Human.« In: Heilman, Elisabeth E. (Hrsg.): Critical Perspectives on Harry Potter. London/New York: Routledge 2003, S. 44.

Schaurige Bilder im Schlaf

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Die Vorbereitung auf das finale Duell mit Voldemort wird deshalb für Harry zu einem mentalen Trainingsprogramm, dessen er sich nach dem Traum nicht mehr entziehen kann. Der Traum nimmt ihm weder die physische Vorbereitung auf den Kampf mit Voldemort ab noch verrät er ihm entscheidende Details, wie genau dieser Kampf gewonnen werden könnte. Wohl aber konfrontiert er Harry mit bislang nur schemenhaften Ur-Ängsten, mit dem Mörder seiner Eltern und mit seinem Schicksal, das in einem späteren Roman schließlich in die apodiktische Formel mündet: »[…] denn keiner von beiden kann leben, solange der andere überlebt.«45 In diesem Sinne können Harrys und Lyras prophetische Träume auch als Teil einer codifizierten Heldenreise angesehen werden. Julia Boll hat diesen archetypischen Ritus im Sinne einer Abfolge von Stationen an Harry Potter nachvollzogen, wobei sie sich an dem in der aktuellen Heldenforschung inzwischen kontrovers diskutierten Schema Joseph Campbells orientiert.46 Trotz der zweifelsfrei berechtigten Einwände gegen eine allzu sorglose Übernahme von C. G. Jungs Psychologie durch Campbell überzeugt Bolls Herausarbeitung der Trias »separation, initiation and return« anhand von Harry Potter vor allem mit Bezug auf das ›Trimagische Turnier‹ im »Feuerkelch«.47 Noch überzeugender wird die Argumentation in Kombination mit Nikolajevas Problematisierung der Heldentypologie, die sie anhand von Lyra und Harry illustriert. In Anlehnung an Northrup Fryes Schema (mythologische, romantische, hoch-mimetische, flach-mimetische und ironische Erzähltypen und deren Heldenfiguren) weist sie konsistent nach, dass Harry zwar vor allem als romantischer Held in Erscheinung tritt, aber durchaus auch einzelne Charakteristika von weiteren Kategorien erfüllt. Noch komplexer gestalte sich die Zuordnung Lyras in das Fryesche Schema.48 Die Ambiguität, die den jugendlichen Figuren inhärent ist und die sie einer eindeutigen Klassifikation entzieht, erfüllt schließlich auch ihre Träume, in denen weitere Stationen der Heldenreise angedeutet werden. Vielleicht ist es gerade diese tiefenpsychologische Komponente der Träume – die Konfrontation mit dem Unerwarteten, unwirklich Erscheinenden, Unaussprechbaren – die Harry den nächsten Entwicklungsschritt gehen lässt. Schließlich mündet die mentale Vorbereitung auf den Kampf in die letzte Probe des ›Trimagischen Turniers‹, und es ist in der Forschung wiederholt betont worden, dass Harrys Entwicklung sich nicht zuletzt auch daran messen und nachweisen lasse, dass er sich im Labyrinth und im ersten Aufeinandertreffen mit Voldemort auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen kann – weder Hermine, Ron 45 Rowling, Joanne K.: Harry Potter und der Orden des Phönix. Hamburg: Carlsen 2009, S. 987. 46 Boll, Julia: »Harry Potter’s Archetypical Journey.« In: Berndt, Katrin/Steveker, Lena (Hrsg.): Heroism in the Harry Potter Series. Farnham: Ashgate 2011, S. 85–104. 47 Boll, Julia: »Harry Potter’s Archetypical Journey.« In: ebd., S. 97. 48 Vgl. Nikolajeva, Maria: »Harry Potter – A Return to the Romantic Hero.« In: Heilman, Critical Perspectives. 2003, S. 135–136.

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noch Dumbledore können ihm dabei unterstützend zur Seite stehen.49 Entsprechend muss Harry sich auch mit seinen Träumen auseinandersetzen – und der Roman illustriert, wie ihm das Schritt für Schritt gelingt.

5.

Zusammenfassung

Die geschilderten literarischen Träume wirken sowohl in Pullmans als auch in Rowlings Text weit über die Grenze des Aufwachens der Figuren hinaus fort. Doch wie lautete die Formel bei Goya? »Der Traum der Vernunft bringt Monster hervor.« In Lyras Fall ist die monströse Erscheinung die Versinnbildlichung ihres großen Wunsches, eine unschuldige Seele zu erlösen; bei Harry ist es das Monster selbst, das den Träumer herausfordert. Sehnsucht und Angst sind dennoch beiden Träumen gemein und dominieren fortan den Handlungsverlauf beider Romane. Vielleicht ist das die Essenz des All-Age-Trends prophetischer Träume in der Kinder- und Jugendliteratur: Sie zeigen nicht nur den Figuren, was kommen mag – sie spielen durch das Netz von Andeutungen, Metaphern und schemenhaften Nuancen auch mit der Phantasie eines nicht nur jugendlichen, sondern durchaus auch erwachsenen Publikums, das durch sie inspiriert wird. So ist es bereits in vielen Texten gewesen, und so wird es auch weiterhin sein, solange die Autoren ihre Figuren träumen lassen.

49 Vgl. ebd., S. 139.

Eva Rünker

Populäre Frühmittelalter-Romane als Indikator gesellschaftlicher Trends. Entscheidet die Gegenwart über die Vergangenheit?

1.

Einleitung

Bereits von einigen Jahren hat der Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink von einer »Kultur des Denunziatorischen« gesprochen: Er beobachtet in der Rechts-, der Geschichts- und der Literaturwissenschaft einen Hang zur moralischen Bewertung, der denunziatorisch gerät; Bewertungen von der Höhe heutiger Moral würden die in anderer Zeit und anderer Situation handelnden Menschen aber verfehlen.1 Gleichzeitig besteht seit längerer Zeit eine Kritik an bestimmten, vermeintlich rassistischen Begriffen in Kinder- und Jugendbuchklassikern, teilweise bis hin zu einer (heimlichen) »Bereinigung« der Texte durch die Verlage, was im Rahmen einer »Kultur des Löschens« gesehen werden kann.2 Was verbindet diese Phänomene? Andere Epochen bzw. deren Erzeugnisse werden mit den Maßstäben der Gegenwart be- oder sogar verurteilt. So zeigt sich in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur ein Trend zur Political Correctness, die Zunahme von moralisierend-didaktischen Implikationen; in der Literatur für junge Mädchen erfolgt eine Rückkehr von durch die Frauenbewegung überwunden geglaubten Werten.3 Ähnliches passiert im »populären Geschichtsroman«: In Bezug auf dessen Figuren spricht der Germanist Daniel Fulda von »hier und heute lebenden Schauspielern in altertümlichen Kostümen und Kulissen«. Das irritierend Fremdartige (Sitten und gesellschaftliche Strukturen) und das scheinbar Ähnliche (menschliche Gefühle und Interessen) der Vergangenheit würden sich in den Romanen als säuberlich geschieden darstellen, was »einem 1 Vgl. Schlink, Bernhard: Die Kultur des Denunziatorischen. In: Merkur 65, 2011, H. 745, S. 473– 486. 2 Zur Cancel Culture vgl. aktuell Alt, Peter-André: Die Geschichte ist das Andere. In: Berliner Zeitung vom 24. 9. 2020. (letzter Zugriff: 05. 12. 2020). 3 Vgl. auch »Gute Unterhaltung kommt zu kurz«. Interview mit Roswitha Budeus-Budde. In: Börsenblatt vom 18. 08. 2016. (letzter Zugriff: 05. 12. 2020).

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historischen Verstehen, das die Fremdheit der Vergangenheit weder leugnet noch aufzuheben versucht, sondern als solche offenbar machen möchte«, nicht dienlich sei.4 Im Kern geht es um die Frage, wie man bzw. wer über andere Zeiten oder Situationen angemessen schreiben kann. Auch wenn gegenwärtig Ansichten vertreten werden, dass nur die selbst Betroffenen sich zu ihren Themen äußern dürfen, leben Literatur, Kunst oder Theater vom Einnehmen anderer Perspektiven. Die angesprochenen Phänomene sollen im Folgenden an aktuellen populären Romanen, die im frühen Mittelalter spielen, diskutiert werden. Anhand dieser Romane lässt sich der Umgang mit einer vergangenen Geschichtsepoche ebenso untersuchen wie die Deutung der eigenen Gegenwart der Autoren und Leser.5 In die beispielhafte Analyse der Themen Mönchtum und Ehe in zwei Romanen werden auch Trends der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur einbezogen. Das gesamte Feld der populärkulturellen Mittelalterinszenierung ist interessant für Fragen der Rezeption. Bemerkenswert ist dabei, dass Wissenschaftler ebenso wie Romanautoren ihr gegenwartsgeleitetes Bild des Mittelalters konstruieren. Viele Texte der gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur werden altersübergreifend gelesen, Kinder- und Jugendliteratur und Allgemeinliteratur haben sich angenähert. Gerade weil den modernen Kinder- und Jugendroman seit den 1970er Jahren ein Zurückdrängen von didaktischen Momenten kennzeichnete, waren einzelne Texte für junge Leser wie für Erwachsene interessant und wurden Bestseller.6 Ein ebensolches »All-Age-Phänomen« ist die »popu4 Fulda, Daniel: Zeitreisen. Verbreiterungen der Gegenwart im populären Geschichtsroman. In: Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Hrsg. von Silke Horstkotte und Leonhard Hermann. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 189–211, hier: S. 202f. (Spectrum Literaturwissenschaft; Bd. 37). 5 Vgl. Rünker, Eva: Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart. Göttingen: V & R 2020 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien; Bd. 26). Untersucht wurden 43 populäre historische Romane (22 Autoren) aus den letzten 20 Jahren, die auf Deutsch oder in deutscher Übersetzung erschienen sind. Sie spielen vom Beginn des 8. bis zum Beginn des 10. Jahrhunderts, also zur Zeit der Karolingerherrschaft/der karolingischen Renaissance in Westeuropa, in einer Epoche des Übergangs vom Heiden- zum Christentum. Zahlreiche Themen und Aspekte sind enthalten, näher untersucht wurde die Darstellung christlicher Lebensformen: Missionierung als Zugang sowie Mönchtum und Ehe als Entfaltungen. Durch die Beschränkung auf einen umgrenzten Zeitraum der Entstehung und des Settings lassen sich Trends erkennen. Nach der Vorstellung der Romanebene, einem Forschungsüberblick und einer Synthese zu jedem Thema (nicht Zuordnung richtig – falsch, sondern Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden), erfolgt eine religionssoziologische Vergewisserung, um Gegenwartstrends, die sich in den Romanen zeigen, abzusichern. 6 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 8. Aufl. Berlin: Cornelsen 2019; Ders./Zimniak, Paweł (Hrsg.): Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Heidelberg: Winter 2012 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Bd. 293).

Populäre Frühmittelalter-Romane als Indikator gesellschaftlicher Trends

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larkulturelle Mittelalterrezeption«.7 Populäre historische Romane finden ein breites Publikum, darunter sicher auch Jugendliche. Für dieses können sie einen Zugang zu Geschichte und Literatur darstellen. Als spannende Pageturner sind sie nicht allzu schwer zu lesen, haben einen unterhaltenden Charakter, weisen eine klare Gut-Böse-Verteilung auf, arbeiten mit Schemata und enthalten nur wenige metafiktionale Elemente. Prägend für diese realistischen historischen Romane sind die (Sub-)Genres Abenteuer, Liebesgeschichte und Kriminalroman. Wie Carsten Gansel feststellt, ist der »Phantastik-Boom« mit seinen Megasellern zwar nicht vorbei, aber zuletzt sind verstärkt Texte erfolgreich, die realistisches Erzählen kultivieren.8 Interessanterweise erinnert die Kulisse von Fantasy-Romanen häufig an das Mittelalter. Hinsichtlich der Charakteristika der hier untersuchten Frühmittelalter-Romane ist vorauszuschicken, dass historische Romane immer durch ein Spannungsverhältnis verschiedener Zeitebenen und eine Dynamik von Historie und Fiktion geprägt sind.9 Im populären Frühmittelalter-Roman kommen historische Ereignisse, Institutionen und Personen durchaus vor. Durch verschiedene Merkmale wird die Romanhandlung zeitlich und räumlich klar verortet. Auffällig sind intertextuelle Bezüge: Die Autoren greifen auf etablierte »Wissensbestände« und Chiffren aus anderen Romanen, Filmen oder sonstigen Medien zurück – ein »Medievalismus des Medievalismus in Perpetuation«, so die Germanistin Ina Karg.10 Einige wissenschaftliche Erkenntnisse werden in den Romanen rezipiert,

7 Vgl. Schmideler, Sebastian: Vergegenwärtigte Vergangenheit. Geschichtsbilder des Mittelalters in der Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 9f. (Epistemata/Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 740). Die kinder- und jugendliterarischen Perspektivierungen historischer Ereignisse, Phänomene und Gestalten würden auf denselben jahrtausendealten spezifischen Traditionen basieren wie die Geschichtsdarstellungen für Erwachsene. »Fiktionale Einflüsse des Mythos, der Legende, der Sage und des Märchens einerseits vermischten sich mit quellenorientierten, wissenschaftspropädeutisch-kritischen und aufgeklärt-rationalen Geschichtsdarstellungen sowie didaktisch-moralischen Aspekten einer systematisch vermittelten Tugendlehre andererseits« (ebd., S. 10). Schmideler sowie Rossi, Melanie: Das Mittelalter in Romanen für Jugendliche. Historische Jugendliteratur und Identitätsbildung. Frankfurt/Main: Peter Lang 2010 (Kinderund Jugendkultur, -literatur und -medien; Bd. 64), haben ausführlich das Thema Mittelalter in Sachbüchern bzw. Romanen für Kinder und Jugendliche untersucht, aber sehr umfangreiche Zeiträume gewählt, in denen die Bücher spielen bzw. erschienen sind. 8 Vgl. Gansel, Carsten/Maldonado Alemán, Manuel (Hrsg.): Realistisches Erzählen als Diagnose von Gesellschaft. Berlin: Okapi 2018 (Edition Gegenwart). 9 Vgl. Geppert, Hans Vilmar: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen: Francke 2009; Nünning, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans; Bd. 2: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950. Trier: WVT 1995 (Literatur – Imagination – Realität; Bd. 11.12). 10 Karg, Ina: Fantasy – das neue Mittelalter? In: Das Bild vom Mittelalter. Hrsg. von Johannes Grabmayer. Klagenfurt: Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Geschichte 2013,

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andere nicht, wieder andere verzerrt. Dabei erzeugen die Autoren durch ihre Darstellungsweise ein bestimmtes Mittelalterbild, das von Skandalen, Dunkelheit und Ursprünglichkeit geprägt ist und mit Religion garniert wird.11 Häufig wird das Mittelalter in den Romanen mit Geschlossenheit assoziiert, es erscheint als Fluchtpunkt, als Gegensatz zur komplexen heutigen Welt.12 Die Fremdheit des Mittelalters wird für eine spannende und exotische Handlung genutzt (Abenteuer-, Kriminalromane) mit ungewöhnlichen Orten und Lebensformen wie dem Kloster und dem Mönchtum. Die frühmittelalterliche Mentalität, das Mittelalterliche am Mittelalter, wird insgesamt jedoch kaum deutlich. Zugleich weisen die Romane Bezüge zur Gegenwart, zur Zeit ihrer Entstehung, auf. In ihnen spiegeln sich gesellschaftliche und religiöse Gegenwartstrends13 wie Individualisierung, Ganzheitlichkeitsstreben, Institutionenkritik, brüchige Lebenswege und (Selbst-)Ermächtigung von Frauen.14 Wie sich unten an den beiden untersuchten Romanen zeigen wird, transportieren Figurenkonstellationen und -darstellungen sowie behandelte Themen und Erzählweisen eine Wertung im Verhältnis von Geschichte und Gegenwart: In populären Geschichtsromanen stehen vor allem Frauen, Außenseiter und einfache Menschen im Mittelpunkt.15 Geschichte wird aus deren Sicht, aus der Sicht

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S. 43–61, hier: S. 51 (Schriftenreihe der Akademie Friesach NF; Bd. 3). Sie betont, dass Vorstellungen vom Mittelalter bedient oder auch erst geschaffen werden. In den untersuchten Romanen wird das Frühmittelalter überwiegend mit dem Label der Ursprünglichkeit belegt und als dunkel, schmutzig, grausam, bezugs- und voraussetzungslos charakterisiert. Sie enthalten kaum Reflexionen darüber, wie es zu den Zuständen gekommen ist, etwa durch den Zusammenbruch der Zivilisation der Antike oder das Zusammentreffen der Hochreligion Christentum mit einfachen Kulturen, die archaisierende Elemente mit sich brachten. Kulturelle Errungenschaften dieser Zeit wie Bücher und deren Abschriften, Erfindungen oder die Differenzierung zwischen privat und öffentlich kommen in den Romanen nur vereinzelt vor. Auch positive Effekte des frühmittelalterlichen Christentums in Bezug auf Lebensschutz oder die Stellung der Frau bleiben unklar, so dass das negative Kirchenbild der Romane verstärkt wird. Für Korte, Barbara/Paletschek, Silvia: Geschichte und Kriminalgeschichte(n): Text, Kontexte, Zugänge. In: Geschichte im Krimi. Beiträge aus den Kulturwissenschaften. Hrsg. von Barbara Korte und Silvia Palteschek. Köln u. a.: Böhlau 2009, S. 7–27, hier: S. 9, reflektiert die derzeitige Geschichtskonjunktur »das Bedürfnis nach Orientierung und Identitätsstiftung in einer komplexer werdenden und sich schnell verändernden Gegenwart« und bietet »Zerstreuung, Entspannung und ein unterhaltsames Abtauchen in fremde, vergangene Welten«. Vgl. Höllinger, Franz/Tripold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur. Bielefeld: transcript 2012 (Kulturen der Gesellschaft; Bd. 5); Bochinger, Christoph/Engelbrecht, Martin/Gebhardt, Winfried: Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion – Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur. Stuttgart: Kohlhammer 2009 (Religionswissenschaft heute; Bd. 3). Vgl. Rünker, Konstruktionen. 2020, S. 463–465. Zum »Abweichler-Geschichtsroman« vgl. Rauen, Christoph: Spektakuläre Geschichtsverbesserung. Iny Lorentz, Die Wanderhure (2004). In: Der historische Roman. Erkundung einer populären Gattung. Hrsg. von Hans-Edwin Friedrich. Frankfurt/Main: Peter Lang 2013,

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der Verlierer, erzählt, was an den mittleren Helden der frühen historischen Romane erinnert. In den Frühmittelalter-Romanen werden Männer und Christen, welche die Mehrheit der Figuren bilden, überwiegend negativ gezeichnet, sie denken und handeln mittelalterlich.16 Die frühmittelalterliche Kirche und Gesellschaft werden als frauenverachtend und sexualitätsfeindlich dargestellt. Frauen und Heiden hingegen, die in der Minderheit und häufig die Helden der Romane sind, werden überwiegend positiv gezeichnet. Sie denken und handeln »nach-aufgeklärt«, modern, wie unsere Zeitgenossen, und stellen somit Identifikationsfiguren für die Leser dar; sie klären vermeintlich überzeitliche Fragen. Die Romanautoren scheinen von einem konstanten Humanum auszugehen, das sie mit mittelalterlicher Ausstattung garnieren. Somit erscheint das fremde Mittelalter zugleich vertraut und verstehbar.

2.

Zwei Romane als Beispiel: »Die Abbatissa« und »Das Geständnis der Amme«

Im Folgenden werden zwei Romane exemplarisch vorgestellt: »Die Abbatissa«17 von Regina Maria Kaiser und »Das Geständnis der Amme«18 von Julia Kröhn. Beide Romane sind in jüngerer Zeit auf Deutsch in großen Verlagen erschienen. Die Autorinnen mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund haben auch Kinderbzw. Jugendbücher geschrieben. Im Mittelpunkt der Romane steht, wie schon anhand des Titels und des Covers ersichtlich, jeweils eine Frauengestalt.19 Dabei

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S. 229–243 (Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts; Bd. 23). Karg, Fantasy. 2013, S. 51, beobachtet in Fantasy mit Mittelalterbezug für Kinder und Jugendliche Ähnliches: Die Handlungsmotivation der (positiven) Figuren sei nicht mittelalterlich, sondern gegenwärtig; sie würden Identifikationsangebote für die heutigen Leser darstellen, sich nachvollziehbar und politisch korrekt verhalten. »Wo das Mittelalter dann tatsächlich aktiviert wird, ist es entweder Kulisse oder wird für vermeintlich überzeitliche Werte bzw. Klischeevorstellungen davon vereinnahmt« (ebd., S. 52). Diese Beobachtung teilt Brauch, Nicola: Die vergessenen Fragen an die mittelalterliche Geschichte. Mittelalterbilder im Geschichtsbewusstsein Jugendlicher zwischen populärer Vorprägung und dem Anspruch wissenschaftsorientierter Bildung. In: Das Bild vom Mittelalter. 2013, S. 169–198, hier: S. 193f. Kaiser, Maria Regina: Die Abbatissa. Historischer Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008 [im Folgenden unter der Sigle »DA« mit Seitenzahl im Text]. Kröhn, Julia: Das Geständnis der Amme. Roman. München: btb 2008 [im Folgenden unter der Sigle »GdA« mit Seitenzahl im Text]. Der Autor Müller, Titus: Historische Romane schreiben. In: Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen. Hrsg. von Sabine Horn und Michael Sauer. Göttingen: V & R 2009, S. 203–208, hier: S. 208 (UTB; Bd. 3181), meint, historische Romane würden viel gelesen (sie seien in Deutschland erfolgreicher als in jedem anderen Land und begeistern weite Teil der Bevölkerung für historische Themen) und gleichzeitig von Feuilletonjournalisten belächelt. Dazu trage bei, dass sich Autoren und Verlage beim Versuch, erfolgversprechende

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sind junge Menschen Protagonisten der Romane; der Fokus liegt auf Mädchen bzw. Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Erzählt wird das Aufwachsen der Figuren bis hin zu wichtigen Lebensereignissen, man könnte sagen, es geht um die Phase der Adoleszenz, auch wenn diese Einteilung für das Mittelalter so nicht zutrifft.20 Für beide Romane wird zunächst ein Überblick zu Autorin, Aufbau, Inhalt, zentralen Themen sowie Historischem gegeben. Mit diesen Romanen wurden literarisch etwas anspruchsvollere Texte ausgewählt, die vereinzelt Reflexionen über Geschichte aufweisen. Aber selbst in diesen Texten zeigen sich typische Muster des Verhältnisses von Vergangenheit und Gegenwart. Die Romanbefunde werden dazu punktuell mit wissenschaftlichen Sichtweisen21 konfrontiert, denn die beiden Romanautorinnen erheben und begründen für Teile ihrer Erzählung einen zum Genre des historischen Romans gehörenden Anspruch auf Historizität, an dem sie sich auch messen lassen müssen.22 Maria Regina Kaiser, die 1952 in Trier geborene Autorin des Romans »Die Abbatissa«, studierte Alte Geschichte, Archäologie und Hispanistik und promovierte über die Münzprägung des Kaisers Commodus. Darüber schrieb sie Romane zu publizieren, mitunter zu Einseitigkeit verlocken ließen. Starke Frauen im Mittelalter würden als am besten verkäufliches Thema gelten, u. a. weil statistisch mehr Frauen als Männer historische Romane lesen. Bei einer Umfrage von Quo Vadis (Autorenkreis historischer Roman) hätten 2007 aber fast 90 % der Leser angegeben, das Geschlecht der Protagonisten spiele für sie beim Kauf keine Rolle; auch die Lesepräferenzen in Bezug auf das Zeitalter seien breit gestreut. »Sicher würde dem Genre mehr Mut für Experimente gut tun«. – Die von mir untersuchten Frühmittelalter-Romane sind ausgewogen hinsichtlich der Themen sowie des Geschlechts der Hauptfiguren und Autoren. 20 Vgl. Gansel, Carsten/Zimniak, Paweł (Hrsg.): Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter 2011 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Bd. 280). 21 Vgl. grundsätzlich Angenendt, Arnold: Das Frühmittelalter. Die abendländische Christenheit von 400–900. 3. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2001; zu Frauenklöstern z. B. Felten, Franz Josef: Vita religiosa sanctimonialium. Norm und Praxis des weiblichen religiösen Lebens vom 6. bis zum 13. Jahrhundert. Hrsg. von Christine Kleinjung aus Anlass des 65. Geburtstags von Franz Josef Felten. Korb: Didymos 2011 (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters; Bd. 4); Melville, Gert/Müller, Anne (Hrsg.): Female vita religiosa between Late Antiquity and the High Middle Ages. Structures, developments and spatial contexts. Münster: LIT 2011 (Vita regularis; Bd. 47); zur Ehe z. B. Weber, Ines: Ein Gesetz für Männer und Frauen. Die frühmittelalterliche Ehe zwischen Religion, Gesellschaft und Kultur. Ostfildern: Thorbecke 2008 (Mittelalter-Forschungen; Bd. 24/1); sowie Goetz, Hans-Werner: Frauen im frühen Mittelalter. Frauenbild und Frauenleben im Frankenreich. Weimar u. a.: Böhlau 1995. 22 Gössmann, Elisabeth: »Die Päpstin Johanna«. Der Skandal eines weiblichen Papstes. Eine Rezeptionsgeschichte. 4. Aufl. Berlin: Aufbau 2000, S. 396, kann dem Nachwort des Romans »Die Päpstin«, in dem Donna W. Cross die Historizität der Päpstin behauptet, kein historisches Profil bescheinigen. Zur Frage, ob Cross als Romanautorin überhaupt eine gute Historikerin sein müsse, meint Gössmann: »Die Frage könnte man getrost hintanstellen, wenn sie selbst nicht so großen Wert darauf legen würde, dass der historische Hintergrund und das Zeitkolorit ihres Romans stimmen«.

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auch Sachbücher. Sie war an der Universität Frankfurt/Main in der Forschung tätig, inzwischen arbeitet sie als freie Autorin und Lektorin und verfasst historische Romane, Kinder- und Jugendbücher, Krimis, Kurzgeschichten und journalistische Arbeiten.23 Dem Roman »Die Abbatissa«, der in vier »Bücher« eingeteilt ist, ist ein Zitat des Mediävisten Arno Borst vorangestellt, das direkt die Verwobenheit von Vergangenheit und Gegenwart verdeutlicht: »Außerdem sind morgen wir die Toten, dann sind unsere Zukunftsträume nichts weiter als alte Geschichten« (DA, 5). Als literarische Technik fällt eine Rahmung auf: Bevor die Erzählung mit Immas Kindheit einsetzt (»Ein neuer Anfang«), wird im »Vorspiel« ein Kameo thematisiert, der Kaiser Konstantin und seine Familie zeigt und im Verlauf eine Rolle für das Ergehen der karolingischen Familie spielt. Er verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die sich anschließende Situation der im Kloster gefangen gesetzten Imma wird am Ende des Romans forterzählt (»Wieder zurück«). Am Schluss stehen ein »Epilog« mit Erklärungen der Autorin, ein Glossar, eine Zeittafel und eine Stammtafel. Zum Inhalt: Imma, zunächst bei Pflegeeltern aufgewachsen, wird Ende des achten Jahrhunderts im Kloster Sankt Irminen in Trier zusammen mit Widukinds Nichte Gerswind und Rotrud, der Tochter Karls des Großen, unterrichtet. Sie reist als Cancellaria mit der Laienäbtissin Ada umher und legt nach einiger Zeit die vorläufigen Gelübde ab. Als Imma dann ein Kind von Wikbert bekommt, der sie für seine Verlobte Gerswind gehalten und nach seiner (und Widukinds) Taufe in Attigny geschwängert hatte, muss sie außerhalb des Noviziats leben. Ada glaubt nicht, dass Gott Imma zur Nonne berufen hat, und hindert sie (die durch den Schleier Frieden vor den Männern haben will) daran, die Profess abzulegen. Während Imma im Aachener Skriptorium an der Ausgestaltung eines von Karls Mutter Bertrada in Auftrag gegebenen Evangeliars arbeitet, lernt sie den Gelehrten Alkuin und den Schreiber Einhard kennen. Sie und Einhard kommen sich näher und stehlen in Rom Reliquien sowie einen Kameo für den Einband des Evangeliars. Karl ernennt Imma zur Laienäbtissin des Klosters der heiligen Priscilla, sie aber glaubt, den Nonnen kein Vorbild sein zu können, und flieht mit dem Kameo nach Bagdad zu Karls muslimischem Übersetzer Yussuf, in den sie sich am Hof verliebt hatte. Yussuf kann sie nur noch einmal vor dessen Hinrichtung besuchen; sie bekennt sich zu seinem Glauben. Nachdem Imma mit einer Kopie des Kameo zurückgekehrt ist und den echten vernichtet hat, der vielen Menschen Unglück bringt, erfährt sie das Geheimnis ihrer Herkunft und wird von Karl begnadigt. Sie, die die Dreieinigkeit bestreitet, soll für den Kalifen von Bagdad das Werk des Augustinus über den dreieinigen Gott auf Arabisch 23 Vgl. (letzter Zugriff: 05. 12. 2020).

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übersetzen. Offen bleibt, ob Imma das Buch selbst dorthin bringt, in Aachen oder bei Einhard bleibt. Neben historischen Personen werden auch historische Ereignisse eingespielt. Es geht unter anderem um das Verhältnis von Papst und Kaiser, konkret um den Überfall auf Papst Leo, den folgenden Prozess, die Kaiserkrönung Karls, den Bau der Pfalzkapelle in Aachen und die Bilderverehrung. Einige Geschichtsreflexionen, verbunden mit Institutionenkritik, sind enthalten: Imma entdeckt entsetzt, dass die Konstantinische Schenkung eine Fälschung der Päpste ist. Die Sichtweise von »Fälschungen« war im Mittelalter allerdings eine andere als heute. Diese waren sehr häufig und hatten die Funktion, gewordene Zustände durch Projektion in die Vergangenheit rechtlich abzusichern. Modern klingende Institutionenkritik äußert in »Die Abbatissa« auch der Muslim Yussuf. Er wirft den Christen, besonders den Herrschern, ein Abweichen von der Bibel vor. Julia Kröhn, die Autorin des Romans »Das Geständnis der Amme«, wurde 1975 in Linz geboren, studierte Geschichte, Philosophie und Theologie und absolvierte eine Ausbildung zur Fernsehjournalistin. Sie war Mitarbeiterin an der Universität Salzburg sowie bei der Katholischen Fernseharbeit. Inzwischen hauptsächlich als Schriftstellerin tätig, hat sie u. a. mehrere historische Romane verfasst.24 Kröhn erklärt, dass sich vieles in ihrem Roman an historischen Tatsachen orientiert und vieles erfunden ist. Zeitgenössische Quellen würden nur ein ungenaues Bild zeichnen, vieles nicht erwähnen, über manches gebe es widersprüchliche Aussagen. Ihre Hauptfigur Judith werde in den Quellen zunächst als tatkräftige, am Beginn einer später einflussreichen Dynastie stehende Frau wahrgenommen, dann »zunehmend zum Spielball eines der heroischen Männer Flanderns degradiert«. Diesem Trend zu einer männlichen Geschichtsschreibung will Kröhn bewusst entgegenwirken (GdA, 637f.). Auf ihrer Homepage gibt es zu vielen Romanen ein »Making of«, in dem Kröhn die Idee zum Buch, die Entwicklung der Geschichte und ihre Recherche erläutert. Im Roman »Das Geständnis der Amme« wird die Erzählung durch einen »Prolog« und einen »Epilog« gerahmt, die im Jahr 864 spielen und intern auf die Amme Johanna fokalisiert sind. Jedem der nun folgenden sieben Teile, die chronologisch ab 842 über Balduin und Judith erzählen, ist ein Quellenzitat vorangestellt, das dem Erzählten eine historische Verortung verleiht: Zitiert werden Ermentarius von Noirmoutier, Paulus Diaconus, ein Liebesbrief des neunten Jahrhunderts, das Rolandslied und die Annalen von Saint-Bertin. Jeder dieser Teile wird durch eine fortgesetzte Passage zum Erleben Johannas im Jahr 864 beendet. Am Schluss stehen ein Personenverzeichnis, eine Zeittafel, ein Glossar sowie eine »Historische Anmerkung« der Autorin mit Erläuterungen, was aus den Hauptpersonen wurde. 24 Vgl. (letzter Zugriff: 05. 12. 2020).

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Zum Inhalt: Der im Jahr 842 geborene Balduin wächst beim Grafen von Laon auf. Johanna, die aus ihrem von Normannen zerstörten Dorf fliehen musste und dabei ihr schwer verletztes Kind ins Feuer geworfen hatte, ist seine Amme. Balduin wird zum Krieger und kämpft gegen die Normannen. Er lernt Königin Judith, die Tochter Karls des Kahlen, kennen und verhilft ihr zur Flucht aus Senlis. Johanna will die Beziehung von Judith und Balduin verhindern, begleitet das Paar aber gemeinsam mit dem Mönch Wunibald über die Alpen nach Rom, wo der Papst ihre Ehe, die im Frankenreich nicht anerkannt wird, bestätigen soll. Besonders Bischof Hinkmar von Reims hatte sich gegen diese Ehe ausgesprochen; es entbrennt ein Streit darum, wer über die Rechtmäßigkeit einer Ehe entscheiden darf. Unterwegs treffen Judith und Balduin auf König Lothar II., dessen Ehe ebenfalls umstritten ist. Schließlich wird Judiths und Balduins Ehe im Jahr 863 vom Papst anerkannt. Judiths Damen Joveta und Madalgis, mit denen Balduin Affären hatte, kommen durch Johannas Schuld zu Tode. Weil Johanna die Schuld, die sie auf sich geladen hat, nicht mehr ertragen kann, geht sie mit Gott einen Handel ein und gibt ihr Leben für das von Judith, die bei der Geburt ihres Kindes um ihr Leben kämpft. Zentral geht es um Ehe, Liebe und Begehren, um Ehen aus politischen Erwägungen, besonders um den Konsens, den Raub, die Gültigkeit und die Bedingungen für Trennung und Wiederheirat. Die Rolle von Königen und Päpsten bei der Entscheidung über Ehen wird thematisiert, vor allem die Ansichten von Papst Nikolaus I. sowie Bischof Hinkmar von Reims werden dargestellt, auch weitere Bischöfe kommen vor und Mönche wie der asketische Bruder Ambrosius oder der aus dem Kloster entlaufene, lebensfrohe Bruder Wunibald. Die Themen Schuld, Sühne und Opfer spielen ebenfalls eine zentrale Rolle. Indem die Familie, besonders die karolingische, in beiden Romanen im Mittelpunkt steht, wird die Suche nach der eigenen Herkunft und Identität bzw. das Aufdecken von Familiengeheimnissen thematisiert. Konkret geht es in »Die Abbatissa« um den Inzest zwischen (Halb-)Geschwistern – hier zwischen Karl dem Großen und seiner Schwester –, allgemeiner gesprochen, um uneheliche Kinder der Herrscherfamilie.25 Über die Rahmung, die sich mit dem Kameo befasst, wird nicht nur das Thema Familie direkt eingespielt, sondern auch das magische Denken des Frühmittelalters sowie der für die karolingische Renaissance typische Rückgriff auf die Antike. Anders als es die Germanistin und Historikerin Melanie Rossi in Bezug auf Romane für Kinder und Jugendliche

25 Vgl. zu diesem Thema Mielke, Thomas R. P.: Karl der Große. Der Roman seines Lebens. München: Schneekluth 1992; Kempff, Martina: Die Beutefrau. Roman um die letzte Liebe Karls des Großen. Gebundene Ausgabe München: Piper 2006; Winter, Maren: Das Erbe des Puppenspielers. Roman. München: Heyne 2003; Noske, Edgar: Der sechste Tag. Ein Kriminalroman aus dem Mittelalter. Köln: Emons 2006.

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zum Mittelalter feststellt, kommen in diesen Romanen also durchaus Figuren mit historischen Vorbildern vor. In den von Rossi untersuchten Texten seien die am häufigsten ins Zentrum gestellten Persönlichkeiten nicht Kaiser, Papst und Könige, sondern gänzlich fiktive oder historisch nur vage belegte Figuren. Zentrale Personen des Mittelalters würden als aktive Figuren keine (größere) Rolle spielen.26 Rossi geht davon aus, »dass eine respektvoll eingeführte historische Persönlichkeit als Besonderheit wirken und durch ihre Handlungen die Neugier der Leser zu wecken vermag. Je mehr Autoren diese Prominenz in ihren Romanen agieren lassen wollen, umso mehr sind sie zu deren fiktiver Ausgestaltung aufgerufen – und mit wachsender Detailliertheit wird die Persönlichkeit letztlich doch zur fiktiven Figur«.27

Karl der Große etwa kommt gerade einmal in drei Romanen am Rande vor, wobei er nicht spricht und kaum handelt. Historische Persönlichkeiten, allen voran die Herrscher,28 auch ihre Frauen, weitere Familienmitglieder, Kirchenmänner oder Verlierer wie Widukind spielen in einigen Frühmittelalter-Romanen für Erwachsene eine zentrale Rolle. Sie handeln und sprechen, der Leser bekommt mitunter einen deutlichen Einblick in ihr Innenleben. Dieses Personal der Romane wird durch fiktive Figuren ergänzt. Mehrfach wird die Sicht von weniger bekannten Personen auf die Herrscher eingenommen. Dass die Romanautoren unbefangen mit historisch belegten Personen umgehen und diese erzählerisch ausgestalten, könnte einerseits der Versuch sein, mit bekannten Namen Aufmerksamkeit zu erregen und die ferne Zeit, in die sie die Leser versetzen, zu veranschaulichen. Andererseits könnte die freie Ausgestaltung der historischen Personen auf eine geringe Distanz zu ihnen bzw. zur Geschichte hinweisen, und somit auf den Wunsch, Geschichte darzustellen, nachzuerzählen, und nicht über sie zu reflektieren. Dies zeigt einmal mehr den unterhaltenden Charakter vieler Romane an. Das Gegenüber von Jung und Alt wird in den Romanen von Kaiser und Kröhn dargestellt, Probleme zwischen den Generationen werden erfasst, in diesem Fall

26 Vgl. Rossi, Mittelalter. 2010, S. 25. 27 Ebd., S. 74. 28 Leiendecker, Thorsten: Authentizität als literarischer Effekt: Auf der Suche nach dem echten Shakespeare. In: Echte Geschichte. Authentizitätsfiktionen in populären Geschichtskulturen. Hrsg. von Eva Ulrike Pirker u. a. Bielefeld: transcript 2010, S. 195–213, hier: S. 201 (Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen; Bd. 3), betont, dass vor allem im (populären realistischen) historischen Roman reale und pseudo-reale Instanzen oft ohne metafiktionale und -historische Distanz vermischt würden und gleichermaßen zum Geschehen beitrügen. In der Regel werde ein fiktiver Plot in einen realen Rahmen eingebettet, größere historische Ereignisse und Hintergründe seien authentisch, während die einzelnen Figuren gänzlich fiktiv oder pseudo-real seien.

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zwischen Eltern und Kindern. Imma (»Die Abbatissa«) muss erst einmal herausfinden, wer ihre Eltern überhaupt sind. Karls Entscheidungen, den sie als »Riesen« beschreibt, sind bestimmend für ihr Leben. Paare, die gegen den Willen ihrer Eltern oder ihres Umfeldes zusammen sind und ihren eigenen Weg gehen, gibt es in vielen Frühmittelalter-Romanen. Figuren wie Judith in »Das Geständnis der Amme« sollen verheiratet werden und kämpfen für ihren selbst gewählten Partner, hier Balduin. Zum Teil sind die Partner verschiedenen Alters und Standes,29 einige auch verschiedener Religion, wobei letztere Paare häufiger scheitern, oft aufgrund der Umstände: Beziehungen zwischen Heiden und Christen kommen vor, etwa zwischen einem Missionar und einer Heidin,30 auch Beziehungen zwischen Christen und Muslimen.31 Ein Beispiel dafür sind Imma und Yussuf in »Die Abbatissa«.

3.

Frauen (und Männer) im Kloster: Zwischen Romanwelt und Forschung

»Die Abbatissa« ist einer der wenigen (Früh-)Mittelalter-Romane, die das Leben von weiblichen Religiosen in den Mittelpunkt rücken. Während im Bestseller »Die Päpstin« die Hauptfigur Johanna nur Bildung erlangen und aufsteigen kann, indem sie als Mann verkleidet ins Kloster eintritt, werden hier die Bildungsmöglichkeiten für Frauen in einem frühmittelalterlichen Kloster ange-

29 Vgl. Cross, Donna W.: Die Päpstin. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Neuhaus. Berlin: Rütten & Loening 1996 (älterer, verheirateter Adeliger – junge Tochter eines Dorfpriesters); verschiedene Varianten (alternde Könige – junge Frauen, verwitwete Kaiserin – junger Edelknecht etc.) bei Kempff, Beutefrau. 2006; Dies.: Die Welfenkaiserin. Historischer Roman. Gebundene Ausgabe München: Piper 2008; Herrscherin – Bauernsohn bei Vanek, Tereza: Die Träume der Libussa. Historischer Roman. Berlin: Ullstein 2008. 30 Vgl. Kraus, Susanne: Das Amulett der Seherin. Historischer Roman. Bergisch Gladbach: Lübbe 2008; Sundberg, Catharina: Wikingerblut. Historischer Roman. Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. München: Random House 2004; Dies.: Wikingersilber. Historischer Roman. Aus dem Schwedischen von Friederike Buchinger. München: Random House 2005 (allerdings von Gewalt geprägt); Vanek, Träume. 2008 (neben Missionar – Heidin auch getaufter Heide – Christin); Müller, Titus: Die Priestertochter. Historischer Roman. Berlin: Aufbau 2003 (Heidin, Priestertochter – Christ, Soldat); Lieckfeld, Claus-Peter: Das Buch Haithabu. Die Aufzeichnungen eines Mönchs aus der Wikingerzeit. Roman. München: Goldmann 1999; Ders.: Das Buch Glendalough. Roman. München: Goldmann 2000 (Mönch, Priester – verschiedene, z. T. getaufte, Heidinnen). 31 Vgl. Lawhead, Stephen: In geheimer Mission für den Kaiser. Roman. Aus dem Englischen von Marcel Bieger und Barbara Röhl. Ungekürzte Taschenbuchausgabe München: Piper 2001 (Mönch, Priester, der zeitweise seinen Glauben verliert – gläubige Muslima). Lawhead hat auch Kinder- und Jugendbücher verfasst.

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messen dargestellt.32 Verschiede Aspekte des Klosterlebens wie Schriftkultur, Gebet, Gehorsam und Keuschheit werden beleuchtet. So wird die Tätigkeit der Buchmalerei in »Die Abbatissa« ausführlich beschrieben: Ältere Nonnen erstellen unter Aufsicht des Mönchs Marso, später der Nonne Leontina aus Rom, in der Schreibhalle von Sankt Irminen in Trier Abschriften von heiligen Büchern. Marso beaufsichtigt auch die Goldmalerinnen; die Farben stellen die Nonnen selbst im Kloster her. Die junge Nonne Lilia, die zusammen mit weiteren Nonnen unterrichtet, erklärt ihren Schülerinnen: »Das Evangelium ist mit Buchstaben geschrieben, schon deshalb müsst ihr sie alle lesen und schreiben können. Nur wenn Gott das richtig gesprochene Wort hört, öffnet sich sein Ohr« (DA, 54). Der Gelehrte Alkuin ist der Ansicht, dass »die Frauenklöster wohltuend von den von Äbten geführten abstachen, was Bildung und Fleiß anging« (DA, 210). Ada, die Halbschwester Karls des Großen, ist Laienäbtissin, »eine weltliche Frau, die, eingesetzt durch den König, ein Kloster führte« (DA, 247). Sie isst zu viel Fleisch und trinkt zu viel Wein, liebt den Prunk und die Schönheit, worin sie keinen Widerspruch zu ihren Gelübden sieht. Karls Schwester Gisela hingegen hat alle Weihen, sie ist »eine vergeistigte Asketin, den Freuden des Lebens abhold« (DA, 210). Hochgeborene Franken hatten sich in sie verliebt, aber sie war früh freiwillig ins Kloster gegangen, obwohl es ihren Eltern nicht recht war, in eine Welt, »in der kein Blut floss, wo man freundlich miteinander umging, wo niemand fluchte und keine Köpfe rollten« (DA, 211). »Sie wollte nur Gott dienen«, es ging ihr nicht »um die Machtstellung einer Äbtissin«, sie wäre »auch als einfache Nonne glücklich geworden« (DA, 212). Ordensleute tun vereinzelt Buße für andere: Indem sie hungert, betet und sich geißelt, büßt Laurentia in »Die Abbatissa« für die Sünden der Äbtissin, die wegen ihrer Verpflichtungen dazu keine Zeit hat. Bruder Wunibald in »Das Geständnis der Amme«, klein und von nicht geringem Umfang (vgl. GdA, 401), findet es sehr einträglich, für einen Reichen die Buße zu übernehmen: Zwölf mal drei Tage Fasten habe er für einen Mann übernommen, der sein Weib betrogen hatte, und dabei 26 Schilling verdient. Da es nicht sein Ehebruch war, hat Wunibald heimlich gegessen; der arme Sünder habe gedacht, seine Schuld sei getilgt, und im Himmelreich werde man ihm daraus schon keinen Vorwurf machen. Nachdem er das Kloster verlassen hat, ohne es dem Abt zu sagen, hat Wunibald sich einmal hungrig einige Haare vom Haupt gerissen und ein paar Fingernägel abgeschnitten und behauptet, sie stammten vom heiligen Jonathan. Dafür habe er 32 Zur karolingischen Bildungs- und Wissensoffensive vgl. Becker, Julia/Licht, Tino/Weinfurter, Stefan (Hrsg.): Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation. Berlin u. a.: de Gruyter 2015 (Materiale Textkulturen; Bd. 4). – Eine ausführliche Thematisierung der Lebenswelt weiblicher Religiosen würde womöglich die Romanbotschaft von einer sexualitäts- und frauenfeindlichen Kirche und Gesellschaft stören.

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mehr als nur eine warme Mahlzeit bekommen. Statt im kalten Skriptorium zu arbeiten, war Wunibald lieber im Garten, der viele Versuchungen bot, weshalb er oft vor dem Kapitel die Sünde der Maßlosigkeit bekennen musste. Er findet es gemein, dass ein vogelfreier, heimatloser Mönch wie er ständig verdächtigt wird, Irrlehren zu verbreiten wie einst Bruder Gottschalk, so dass ihm Verhaftung und Auslieferung an das Heimatkloster drohen. Wunibald kennt das Credo und das Vaterunser, kann Psalmen in Verse modulieren und die Bibel lesen, es macht ihm aber keinen Spaß, zu predigen. Es gelüstet ihn nach Essen, Wärme und schöner Kunst. Weil er sein Gelübde nicht für alle Zeit brechen will, nimmt er schließlich in einem römischen Kloster die Stellung eines Cellerars ein (GdA, 396–399). Um sich des fürbittenden Gebets der Mönche zu versichern, gaben Gläubige im Frühmittelalter – so weiß man aus der Forschung – Almosen an Klöster, die angesichts hoher Gedenkpflichten eine ideale Gebetsgemeinde darstellten. Bereits im irischen Bußsystem überwogen entsprechend einem archaischen Denken das äußere Werk und die zählbare Leistung, wobei Buße und Strafe aufgerechnet wurden. Zur Ableistung langer Bußzeiten konnte ein Mönch als betender Helfer herangezogen werden, der entlohnt wurde. Wenn eine solche Stellvertretung in den Romanen überhaupt einmal vorkommt, dann vor allem in missbräuchlicher Form. Dem frühmittelalterlichen Denken völlig fremd ist die Schilderung des Romans »Das Geständnis der Amme«, nach der ausgerechnet Wunibald eine stellvertretende Buße übernimmt – ein Mönch, der das Kloster verlassen hat sowie faul und gefräßig ist. Im Mönchtum des frühen Mittelalters hatte der Klostervorsteher, der Abt, eine überragende Stellung und galt als »lebendige Regel«.33 Der Gehorsam der Mönche, der gemäß der monastischen Forschung in den Regeln Benedikts und Columbans eine zentrale Position einnimmt, wird in den Romanen infrage gestellt: Kann man Äbten gehorchen, die sich selbst unmoralisch verhalten? Manche Mönche verlassen das Kloster, weil sie es als einen Hort der Unmoral empfinden, und kritisieren damit ihre Oberen und die Institution; einzelne Mönche wollen selbst über ihr Leben bestimmen, darunter Wunibald in »Das Geständnis der Amme«, dem viele Vorgaben als zu anstrengend erscheinen, oder Gottschalk in »Die Päpstin«, der als Kind ins Kloster gegeben wurde. Der Forschung zufolge wurde im frühen Mittelalter die Verbindlichkeit des elterlichen Versprechens betont; auch bei Erreichen des Reifealters bestand für pueri oblati keine realistische Möglichkeit einer Rückkehr in die Welt. Ein Einfluss der heutigen Wertschätzung individueller Lebensentscheidungen auf die beschriebene Darstellung 33 Zu diesem und den weiteren Aspekten des Mönchtums vgl. Lutterbach, Hubertus: Monachus factus est. Die Mönchwerdung im frühen Mittelalter. Zugleich ein Beitrag zur Frömmigkeitsund Liturgiegeschichte. Münster: Aschendorff 1995. (Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinertums; Bd. 44).

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der Romane ist vorstellbar. Dies könnte sich auch darin zeigen, dass manche ehemaligen Mönche als die wahren Mönche gezeichnet werden: Sie tragen weiterhin die entsprechende Kleidung und leben als Mönche, aber losgelöst von einer Institution. Andere Figuren verbleiben im Kloster, distanzieren sich aber innerlich von Vorgaben und treffen eigene Entscheidungen. Einige Mönche, so erzählen es die Romane, versehen Dienste in Frauenklöstern: Im Kloster Sankt Irminen nahm der Mönch Marso, der »die priesterlichen Weihen hatte, […] die Handlungen vor, die das Brot und den Wein verwandelten, und teilte das Brot an die Klosterbewohnerinnen aus« (DA, 53); die Predigt hielt jedoch Äbtissin Ada und nahm allen die Beichte ab. Hier begegnet ein Verhältnis von zwei Religiosen miteinander: Lilia glaubt, im Schutz des Klosters könne man in Gesundheit alt werden, während Frauen die Freuden der Ehe und das Glück, Kinder zu haben, mit einem frühen Tod bezahlen. »Es gab nichts Höheres als das Leben im Kloster« (DA, 84). Dann bekommt Lilia allerdings ein Kind von Marso. Dieser hatte vorgegeben, Lilia zu helfen, ihren Bruder aus der Hölle zu befreien. Zudem hat Lilia »das Gold des Herrn« gestohlen und Marso zukommen lassen. Marso, der auch andere Nonnen verführt und geschwängert hat, wird mit dem Tod bestraft. Für Lilia sucht Ada einen Ehemann und verschafft ihr eine Mitgift. Ada behauptet, Lilias Kind sei tot, zieht es aber im Kloster auf. Später versorgen Lilia und ihr Mann Immas Kind mit dem Sachsen Wikbert. In »Die Abbatissa« hat der Laienabt Alkuin »eine seltsame Art, jungen Mönchen tief in die Augen zu sehen und sie ohne jeden Grund abzuküssen« (DA, 205). Er trinkt etwas mehr, als ihm guttut, und erzählt in elegantem Latein schlüpfrige Witze. Er überschätzt »die geistigen Fähigkeiten junger, gutaussehender Männer« (DA, 342); die hübschen Jünglinge, mit denen er sich umgibt, berührt er freudig und küsst sie, wenn der Abend fortgeschritten ist. Alkuins gleichgeschlechtliches Begehren (der wohl Diakon und später Laienabt war, aber in einigen Romanen als »Mönch« bezeichnet wird) ist auch Thema in anderen Romanen wie »Karl der Große« oder »Die Beutefrau«. Womöglich legen einzelne Formulierungen in Alkuins schriftlichen Äußerungen, etwa in Briefen an seine Freunde, dies nahe bzw. verleiten zu solch einer Deutung, wenn man nicht von einer Intertextualität zwischen Romanen ausgehen möchte. Alkuin war das Zentrum des klerikalen Freundschaftskultes am karolingischen Hof; ob dabei die Grenzen des damals Erlaubten überschritten wurden, ist in der Forschung umstritten. Die frühmittelalterliche Vorstellung der kultischen Reinheit, wofür eine sexuell enthaltsame, mönchische Lebensweise die beste Versicherung darstellt, kommt in den Romanen kaum zum Tragen; einige der dargestellten Mönche scheinen diesbezüglich keine Bedenken zu haben. Wie der Kirchenhistoriker Hubertus Lutterbach festhält, gilt gleichgeschlechtliches sexuelles Verhalten den frühmittelalterlichen Bußbüchern als stark kultisch verunreinigend. Unzucht

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zwischen einem Kleriker und einer Nonne wurde als besonders gravierendes und verunreinigendes Delikt gesehen, ebenso wie das Zusammensein eines Klerikers und einer Frau in einer Kirche.34 Genau dies wird mehrfach im Roman erzählt, zum Beispiel das Verhältnis von Marso und Lilia (»Die Abbatissa«). Spielen Romanautoren das Reinheitsdenken überhaupt einmal ein, setzen sich sowohl Mönche als auch Laien schließlich darüber hinweg.35 Diese Figuren erleben es in der Erzählung als Befreiung, hier eigene Wege zu gehen. Die Vereinheitlichung des Klosterlebens im frühen Mittelalter hin zur alleinigen Ausrichtung an der Benediktsregel wird in den Romanen meist mit einer bestimmten Wertung versehen: So empfindet die Laienäbtissin Ada (»Die Abbatissa«) die unter anderem durch Angilram von Metz vorangetriebene Vereinheitlichung als Bevormundung und als Beschneidung ihrer Entscheidungsfreiheit. Hier könnte man zumindest die frühmittelalterliche Vorstellung vom Klostervorsteher als »lebendiger Klosterregel« aufscheinen sehen. Die Charakterisierung Adas in »Die Abbatissa« wird stark vom Thema Macht bestimmt. Die Stellung von Frauen im Kloster, die Möglichkeiten der Bildung sowie die Leitungsgewalt der Äbtissin werden zunächst angemessen, aber letztlich überspitzt dargestellt: Ada träumt davon, im Fall von Karls Tod die Regierung zu übernehmen. Viele Romane erzählen von Klosterbewohnern unterwegs, einige treffen auf Muslime. Diese Kontakte mag es im frühen Mittelalter vereinzelt gegeben haben, aber die Erzählung, dass eine Klosterfrau sich in einen Muslim verliebt und sich zu dessen Glauben bekennt (»Die Abbatissa«), geht sehr weit. Dabei ist zu bedenken, dass Glaube im Frühmittelalter kaum eine individuelle Entscheidung war, sondern ein kollektiver Religionswechsel, hin zum Christentum, stattfand. Eine negative Sicht auf andere Religionen war vorherrschend, die Christen waren überzeugt, dass die Heiden missioniert werden müssen, um sie den Klauen des Teufels zu entreißen.36 Die Romandarstellungen entstammen wohl unserer heutigen, von Toleranz und Religionsfreiheit geprägten, multikulturellen westeuropäischen Gesellschaft.

34 Vgl. Lutterbach, Hubertus: Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts. Köln u. a.: Böhlau 1999, S. 143f., 160f. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte; Bd. 43). 35 Vgl. besonders Kraus, Amulett. 2008. 36 Vgl. Goetz, Hans-Werner: Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert). Bd. 1. Berlin: Akademie Verlag 2013.

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Ehe und andere Beziehungen: Liebe im Frühmittelalter?

Selbstbestimmung über ihr eigenes Leben ist ein großes Anliegen der Romanfiguren, die frei sein wollen von den Vorgaben der Eltern, der Familie und der Kirche und sich eine Ehe aus Liebe statt einer arrangierten Ehe wünschen. Im Roman »Das Geständnis der Amme« werden diverse Beziehungen von Mitgliedern des Herrscherhauses zwischen Arrangement durch die Eltern und freier Wahl der Kinder erzählt. Irmintrud wurde früh mit Karl dem Kahlen, dem Sohn Kaiser Ludwigs des Frommen, verlobt. Dabei habe es sich um eine passende Verbindung gehandelt, wenngleich Irmintruds Vater zweifelte, ob sich die Ehe für seine Tochter lohnen würde und Karl sich gegen die Übermacht seiner älteren Brüder durchsetzen könnte. Für eine Allianz bot Karl später König Ethelwulf von Wessex seine Tochter Judith als Braut an. Judith war nicht geschlechtsreif, hatte aber das »kanonische Mindestalter« von 12 Jahren, als sie »auf dem heiligen Altar der Ehe geschlachtet wurde« (GdA, 188). Irmintrud hat ihrer Tochter nicht verziehen, dass diese vor der Hochzeit drei Tage geweint hat: Warum sollte es Judith besser gehen als ihr? Judith hatte von ihrer Mutter keinen Protest gegen die Eheschließung erwartet, war aber entsetzt über deren Kälte. Nach dem Tod Ethelwulfs wurde Judith mit dessen Sohn Ethelbald verheiratet. Das Urteil mancher Kirchenmänner, es sei »nichts Geringeres als die Sünde des Inzests, wenn ein Sohn seines Vaters Gattin zur Frau nehme«, schien ihrem zweiten, unbeholfenen Mann während der Hochzeitsnacht »stets im Ohr zu rauschen« (GdA, 377), so Judith. Obgleich sie kirchlichem Recht zuwiderlief, habe Bischof Hinkmar von Reims diese Ehe geduldet, um das Königreich von Wessex als Bündnispartner zu halten. Als zweifache Witwe lebt Judith nun mit ihrem Brautschatz in Senlis, das sie kaum verlassen darf. Man gewährt ihr kein Kloster als Zufluchtsort, da sie dann für die hohe Politik und ihre Bündnisse verloren wäre. Judiths Brüder Ludwig und Karl haben gegen den Willen des Vaters geheiratet. Auch Judith will sich eigenmächtig einen Gatten nehmen, damit alle erkennen, dass selbst die engste Familie nicht mehr zum König steht. Als sie aus freien Stücken eine Ehe mit Balduin eingeht, bezeichnet Irmintrud Judith als »Schande« für ihr Geschlecht. Judith sieht sich, die »glückliche, befreite Tochter«, als »Stachel« in der Seele ihrer verbitterten Mutter (GdA, 590f.). Balduins Ziehvater Graf Robert hat die junge Ovida als Frau für seinen Neffen Gerold auserwählt. Ovida, die ihrem Gatten ohne echte Zuneigung begegnet, ist begeistert davon, »dass sich zwei Menschen fanden, die nicht dem Kalkül anderer folgten, sondern sich frei gewählt hatten«, und will erfahren, wie genau Judith »ihr Herz an Balduin verloren hatte« (GdA, 558). Während die Forschung herausgearbeitet hat, dass die Menschen im frühen Mittelalter auf die Stabilität von Gruppenbeziehungen angewiesen und allein auf

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sich gestellt extrem gefährdet waren, gehen solche zentralen Romanfiguren ganz allein bzw. als Paar ihren Weg fernab der Verwandtschaft, geleitet vom Gefühl der Liebe. Hierin ähneln sie heutigen Menschen, sie denken und handeln nicht mittelalterlich. Aus der Sicht der Forschung ist ein solcher Gegensatz zwischen Verpflichtungs- und Liebesehe nicht haltbar, da auch die Ehepartner von den Familien um ihre Zustimmung gefragt wurden; zudem ist der Stellenwert der Kategorie Liebe für das Frühmittelalter fraglich. Der Roman greift einen historischen Ehestreitfall auf: Anhand des Paares Judith und Balduin wird ausführlich die Frage thematisiert, welche Charakteristika eine Ehe konstituieren und wer über die Geltung und Erfüllung dieser Kriterien entscheidet. Im Zentrum der Debatte steht der Konsens der Brautleute: Judith und Balduin sind gemeinsam aus Senlis geflohen. Obwohl Balduin bei vielen Frauen gelegen hat, habe er nie ein solches Maß an Vertrauen und Nähe gespürt wie gegenüber Judith. Manche behaupten, dass Balduin »gewaltsam die Königstochter entführt hätte«, andere, dass Judith »den armen Krieger verführt hätte wie die listige Eva ihren Adam« (GdA, 294). Bischof Hinkmar von Laon erinnert Judith daran, dass die Voraussetzung für eine »echte Ehe« die »Verlobung«, »Dotierung« und »Trauung« ist; die »Väter der Brautleute müssen den Konsens erklären«. Judith hält ihm entgegen, dies sei die Vorstellung des Bischofs Hinkmar von Reims über die christliche Ehe; dieser sieht die Ehe von Judith und Balduin als Auflehnung gegen Gott und den König an. Papst Nikolaus aber stelle den »Konsens der Eheleute« in den Vordergrund, ohne diesen sei »jede eheliche Vereinigung nichtig« (GdA, 303). Auf dem Weg nach Rom treffen Judith und Balduin auf ihren Cousin Lothar II., der betont, dass die Kirche seit vielen Jahren den »Brautraub«, einen Brauch der heidnischen Vorfahren, bekämpft. Jeder Bischof Karls des Kahlen würde erklären, dass ihre Ehe darum nicht gültig sei. Die Synode von Ver habe beschlossen, dass alle Weltlichen, ob adelig oder nicht, ihre Hochzeit öffentlich feiern sollen. Als Judiths Cousin Ludwig II. sie und Balduin an Judiths Vater übergeben will, wird ein weiterer historischer Ehestreitfall eingespielt: Judith will Ludwig auf ihre Seite ziehen, indem sie erklärt, eine päpstliche Anerkennung des »Konsens« zwischen ihr und Balduin sei ein deutliches Zeichen dafür, dass eine auf noch so wackeligen Beinen stehende Ehe nicht einfach gelöst werden dürfe. Ludwig erhoffe sich Ähnliches für die Ehe zwischen seinem Bruder Lothar II. und Theuteberga. Wenn sie für gültig erklärt wird, ist dessen einziger Sohn Hugo (mit Waltrada) ein »Bastard«, Lothar steht ohne Erben da und Ludwig kann sich dessen Reich aneignen.37 37 Dem Ehestreit Lothars II. widmet sich ein eigener Roman: Wies, Ernst Wilhelm: Bei meiner Seele Seligkeit. Lothar II. und sein Traum vom karolingischen Reich. Historischer Roman.

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Für Papst Nikolaus ist entscheidend, wer über Judiths und Balduins Ehe urteilen darf, der Papst oder der König. Balduin hält Nikolaus vor, der Papst treffe seine Entscheidungen nur mit Rücksicht auf das Wort Gottes, dass der Mensch »nicht trennen soll, was der Allmächtige verbunden hat«. Nikolaus fragt, ob Gott denn ihre Ehe »gesegnet« habe oder nicht ebenso empört wie der König über ihre Anmaßung sei, einen solchen Bund »ohne jeglichen Respekt vor Stand und Sitte« zu schließen. Eine Entscheidung des Papstes, so Balduin, würde sie, nachdem die fränkischen Bischöfe sie »exkommuniziert« haben, vor einem Leben im »Zustand der Sünde« bewahren (GdA, 484f.). Judith bekennt, dass sie Balduin über alles liebt und ihm freiwillig gefolgt ist. Nikolaus erklärt die Ehe für gültig, weil sie »aufgrund von freiem Willen, nicht von gewaltsamem Brautraub« zustande kam (GdA, 520). König Karl ist bereit, diese Ehe zu akzeptieren, um Balduin als Verbündeten zu gewinnen. Judith erhält keine Mitgift; die beiden müssen noch einmal heiraten. Der Konsens steht auch im Zentrum der Forschungsdiskussion. In der frühmittelalterlichen Lebenswelt diente die arrangierte Ehe der Sicherheit und Wohlfahrt der nachfolgenden Generationen, was Einschränkungen oder Verletzungen der persönlichen Freiheitsrechte des Einzelnen, besonders der Frauen, mit sich bringen konnte. Die Kirchenhistorikerin Ines Weber betont, es sei den frühmittelalterlichen Autoren an keiner Stelle um eine Stärkung der männlichen Vorherrschaft gegangen. Beim consensus handelt es sich nicht um einen Personenkonsens im heutigen Sinn (freie und subjektive Entscheidung der Eheschließenden selbst), sondern um einen Sippen- oder Familienkonsens, welcher den Willen der beteiligten Verwandten spiegelt und den Konsens der Heiratenden nicht völlig ausschließt.38 Wenn in den historischen Romanen überhaupt eheliche Beziehungen vorkommen, dann die der Herrscher, worin sich, so könnte man mithilfe geschichtswissenschaftlicher Einordnungen formulieren, eine Nähe zur Institutionengeschichte zeigt. Das politische Kalkül, welches vor allem hinter den Eheschließungen der Herrscher und vielen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Ehe stand, wird in den Romanen durchaus thematisiert: In »Das Geständnis der Amme« kommen neben den Paaren auch die Päpste, Herrscher und Bischöfe vor, mit unterschiedlichen Positionen zu Eheschließung, Konsens, Scheidung und Wiederheirat und mit je eigener Motivation. Nach frühmittelalterlichem Denken, so die Forschung, war dem Tun-Ergehen-Zusammenhang entsprechend das rechte Leben des Herrschers, auch in ehelichen Fragen, keine PrivatangeleEsslingen: Bechtle 1998. Anders als Judith, die für ihren Weg kämpft, erscheinen die Frauen dort als Spielball der Männer und der Kirche. 38 Vgl. Weber, Ines: »Consensus facit nuptias!« Überlegungen zum ehelichen Konsens in normativen Texten des Frühmittelalters. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 87, 118, 2001, S. 31–66.

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genheit, sondern bedeutsam für das Wohlergehen des Reiches, sonst drohten der Zorn und entsprechende Strafen Gottes. Zur Zeit Lothars II. war die Herrscherethik so stark verchristlicht, dass ein Herrscher in einer illegitimen Ehe nicht mehr geduldet wurde. In den Romanen hingegen bleibt diese tiefere religiöse Dimension undeutlich. Auch die (kirchen-)politische Relevanz wird vereinzelt verkannt: Nach Ansicht von Historikern verbot Karl der Große seinen Töchtern eine Heirat aus Angst vor der Macht möglicher Schwiegersöhne. Die Romanautorin Maria Regina Kaiser hingegen interpretiert deren Beziehungssituation im »Epilog« zu »Die Abbatissa« als Beleg für Emanzipation: »Wenn es überhaupt emanzipierte Frauen zur Zeit Karls gab, so waren es die privilegierten Damen des Hofes, insbesondere seine Töchter […], die sich ihre Liebhaber selbst aussuchten und mit ihnen unter den Augen des Frankenkönigs Kinder in die Welt setzten« (DA, 492). Einige Hauptfiguren der Romane führen bewusst Liebesbeziehungen, ohne eine Ehe einzugehen, so Imma in »Die Abbatissa« mit Yussuf bzw. Einhard. In Bezug auf (Ehe-)Männer wie Karl den Großen und Ludwig den Frommen ist in vielen Romanen eine Dekonstruktion großer Namen zu beobachten: Lücken der Geschichtsschreibung werden von den Romanautoren genutzt, um die »private«, menschliche Seite der großen Gestalten zu zeigen. Karl der Große vertritt als Romanfigur zwar nur nach außen hin die kirchliche Ehemoral und tut selbst, was er will, ist aber ein zärtlicher Liebhaber. Im Roman »Die Abbatissa« werden Karls Liebschaften und seine Kinder mit Konkubinen thematisiert: Himiltrud wird seit seiner Heirat mit Desiderata im Kloster in Trier festgehalten. Als ihr Sohn Pippin an den Hof geholt wird, erhängt sie sich. Da »Karolus« glaubt, die Sächsin Gerswind habe ihn vor einem Attentat gerettet, macht er sie zu seiner »Friedelfrau«.39 Gerswind tötet allerdings die gemeinsamen Kinder und hofft auf die Rückkehr zu ihrem sächsischen Verlobten Wikbert. Karl wird dort sogar Inzest zugeschrieben:40 Mit seiner Halbschwester Ada, der Tochter König Pippins und seiner »Friedelfrau« Swana, zeugte »Karolus« zwei Kinder, Ruoland und Imma. Karolus war Adas erste Liebe, danach konnte sie sich nie mehr länger in einen Mann verlieben. Sie stehen sich auch im Alter noch sehr nahe. Imma erfährt am Hof, dass sie die »Frucht einer blutschänderischen Beziehung« ist (DA, 487). Bei ihrem Kennenlernen wussten Karolus und Ada allerdings nicht, 39 Aus der Forschung sind Karls Konkubinate und uneheliche Kinder bekannt. In den Romanen werden die Konkubinen oft als »Friedelfrauen« bezeichnet. Entgegen früheren Forschungsmeinungen ist mittlerweile, besonders von philologischer Seite (Else Ebel und Andrea Esmyol), der Nachweis erbracht, dass es im Frühmittelalter neben der Muntehe nur den Konkubinat gab und keine »freiere« Eheform wie die Friedelehe. 40 Von einem Inzest Karls mit seiner Schwester Ada bzw. Gisela erzählen auch andere Romane, vgl. Mielke, Karl der Große. 1992; Kempff, Martina: Die Königsmacherin. Roman über die Mutter Karls des Großen. Gebundene Ausgabe München: Piper 2005; Dies., Beutefrau. 2006.

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dass sie Geschwister sind; sie haben Buße getan. Zu einer solchen skandalträchtigen Romanhandlung könnte die Autorin die bereits nach Karls Tod im Rahmen eines negativen Karl-Bildes aufgekommene Kritik an seinem Sexualleben inspiriert haben.41 Romanautoren nehmen sich die Freiheit, die (geschichtlich dokumentierte) Behauptung eines Inzests Karls zur Erzählung desselben umzugestalten. Neben dieser Thematisierung des ehelichen Verhaltens der Männer dominiert in den Romanen allerdings die Sicht der (Ehe-)Frauen auf die Herrscher und ihre Ehen bzw. Beziehungen. Karls Schwestern Ada und Gisela, seine Töchter Imma und Rotrud, seine Mutter Bertrada und sogar die Sächsin Gerswind42 sind zentrale Figuren in »Die Abbatissa«. In den frühmittelalterlichen Quellen hingegen sind Frauen und ihre Äußerungen wenig präsent und ihre Gefühle bleiben weitgehend verborgen. Die jüngere Forschung versucht verstärkt, diesen auf die Spur zu kommen. Der Fokus vieler Romane liegt auf dem konkreten ehelichen Leben, bis hinein ins Schlafzimmer. Somit weisen die Romane auch einen Bezug zur Alltagsgeschichte auf. Aufgrund mangelnder Quellen – so demgegenüber die Geschichtswissenschaft – sind Aussagen über den ehelichen Alltag der Herrscher im frühen Mittelalter (und erstrecht der Menschen aus dem Volk) nur schwer zu treffen. Der Historiker Johannes Fried schreibt in Bezug auf Karl den Großen: »Kein Wort seiner vier oder fünf Ehefrauen ist überliefert, keines seiner bekannten und unbekannten ›Beischläferinnen‹ […], keines seiner Söhne und Töchter. Schweigen hüllt sie alle ein«.43 Karls emotionales Verhältnis zu seinen Gemahlinnen verberge sich hinter dürftigsten Informationen. Man erfahre nichts darüber, ob Karl die Frauen, mit denen er das Lager teilte, liebte, ob diese ihn liebten, ob er das von ihnen erwartete, und müsse es eher bezweifeln: »Subjektiv-emotionale Bindungen in der Hofgesellschaft verschwanden hinter den objektiven Verpflichtungen christlicher Gatten- oder Freundesliebe. […] Die Sprache der Liturgie und des Gebets, die Sprache der Vernunft, die Sprache des Rühmens wurden bei Hofe gepflegt und geübt, nicht aber die Sprache der menschlichen Liebe«.44

41 Aspekte dieses negativen Karl-Bildes erläutert Hartmann, Martina: Die Königin im frühen Mittelalter. Stuttgart: Kohlhammer 2009, S. 220: In spanischen und französischen Epen des 14. Jahrhunderts seien Karl und seine Tochter Berta zu Eltern des Helden Roland gemacht worden. Bereits zuvor sei dieses Motiv auf Karls Schwester Gisela bezogen worden. Hartmann ordnet diese Behauptung eines Inzests als »Reflex auf die Berichte über das Leben von Karls unverheirateten, aber in eheähnlichen Verhältnissen lebenden Töchter sowie seine zahlreichen Ehefrauen und Konkubinen« ein. Schon in der »Visio Wettini« des neunten Jahrhunderts sei Kritik an Karls Sexualleben geübt worden: In der Hölle, so heißt es da, pickt zur Strafe ein Vogel Karls Scham. 42 Gerswind ist ein eigener Roman gewidmet: Kempff, Beutefrau. 2006. 43 Fried, Johannes: Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. München: C. H. Beck 2013, S. 21. 44 Ebd., S. 378f.

Populäre Frühmittelalter-Romane als Indikator gesellschaftlicher Trends

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Heute ist es unvorstellbar, dass die Gefühle des Einzelnen einmal so wenig Beachtung erfuhren. Im Mittelpunkt vieler Romane stehen gerade die Gefühle von Menschen wie Karl dem Großen oder seinen Verwandten. Liebe und Hass werden ebenso beschrieben wie sexuelles Begehren. Es geht nicht nur um die politischen Hintergründe von Eheschließungen oder Trennungen, sondern es wird erzählt, was diese Vorgänge womöglich für die einzelnen (historischen) Personen bedeutet haben. So wird in »Das Geständnis der Amme« ein besonderes Augenmerk auf die sich entwickelnde und gefährdete Liebe zwischen Judith und Balduin gelegt. Judith wird als recht eigenständig und für ihren Weg kämpfend dargestellt. Man könnte in Bezug auf die Romanhandlungen von einer Biographisierung der Ehe(diskussion) sprechen. Mit ihren Empfindungen wirken die Romanfiguren insgesamt wie heutige Zeitgenossen, durch Generationen verbindende und unveränderliche Gefühlsketten werden Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. Viele Romanautoren scheinen davon auszugehen, dass menschliche Gefühle in allen Epochen gleich beschaffen und bestimmend waren. Diesbezüglich stellt der Historiker Peter Dinzelbacher heraus: »Auch der historische Roman von Scheffel bis Eco, d. h. also auch von sehr guten Kennern der Originalquellen, projiziert ja nach wie vor die jeweils gegenwärtige Mentalität in die Vergangenheit und setzt voraus, dass Ekkehart genauso geliebt habe wie ein romantischer Jüngling des 19. Jahrhunderts oder William von Baskerville […] genauso kausallogisch vorgehe wie der Kriminalist der Gegenwart«.

Dieses Phänomen zeigt sich noch deutlicher in den untersuchten populären historischen Romanen. Dinzelbacher kritisiert die von einigen Literaturwissenschaftlern »ohne Auseinandersetzung mit der (mentalitäts)geschichtlichen Forschung« vertretene Kontinuitätstheorie in Bezug auf die Liebe im Frühmittelalter.45 Hinsichtlich der frühmittelalterlichen Ehe betont er: »Die in unserem Denken unwillkürlich immer im Hintergrund stehende ursächliche Verbindung von Liebe und Ehe war bekanntlich sowieso noch nicht existent, da die Ehe keine Eigengründung eines Liebespaares war, sondern fast immer die Sippe bzw. die Eltern die Kinder gemäß ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen verheirateten«.46 45 Dinzelbacher, Peter: Liebe im Frühmittelalter. Zur Kritik der Kontinuitätstheorie. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 19, 1989, H. 74: Konzepte der Liebe im Mittelalter. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, S. 12–38, hier: S. 13. Dinzelbachers eigene Untersuchung der Quellen ergibt, dass »amor« in lateinischen Texten nicht »Liebe«, sondern »sexuelle Begierde« bedeutet. Auch im Altenglischen und Altnordischen ist nicht »sehnsuchtsvolle Liebe«, sondern »sexuelles Begehren« und »ganz unmittelbares Haben-Wollen« gemeint (ebd., S. 22). Die von Literaturwissenschaftlern für Liebeslyrik gehaltenen volkssprachlichen Texte seien wahrscheinlich keine Liebeslieder in unserem heutigen Verständnis. Die angelsächsischen Elegien seien für viele Interpretationen offen und die erst sehr spät überlieferten südromanischen Jarchas könnten nicht als Beweis einer eigenen Liebestradition im christlichen Europa gelten. 46 Ebd., S. 32.

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In manchen Quellen klinge zwar an, dass es auch damals Paare gab, die in unsentimentaler Zuneigung und freundschaftlicher Vertrautheit zusammenlebten. Aus Erwähnungen von Paaren, die in schwierigen Situationen zusammenhielten, auf Liebesbeziehungen in unserem Verständnis zu schließen, wie dies etwa für Judith und Balduin geschieht, scheint Dinzelbacher aber nicht beweisbar.47

5.

Zusammenführung

Zurück zur Ausgangsfrage: Wie können wir bzw. wer kann und darf über vergangene Zeiten sprechen? Ebenso wie andere Produkte der populären Geschichtskultur existiert eine Vielzahl von historischen Romanen. Was zeichnet diese aus, gerade wenn man aktuelle Entwicklungen in der Kinder- und Jugendliteratur einbezieht? Die typische Dynamik von Historie und Fiktion, das Spannungsfeld verschiedener Zeitebenen, zeigt sich auch in den beiden vorgestellten Romanen. Sie greifen zahlreiche Ereignisse und Personen des frühen Mittelalters, besonders aus der karolingischen Familie, auf, die aus den Quellen bekannt sind. Zusammenhänge und Hintergründe werden dargestellt. »Die Abbatissa« würdigt das Leben und die Bildungsmöglichkeiten in einem Frauenkloster, »Das Geständnis der Amme« führt einen bekannten Ehestreitfall mit verschiedenen Beteiligten und deren Sichtweisen vor Augen. Immer wieder zeigt sich jedoch, dass die frühmittelalterliche Mentalität kaum zur Geltung kommt48 und viele Aspekte zuspitzt bis negativ dargestellt werden, zum Beispiel die stellvertretende Buße. So kann schwer Verständnis für die damalige Zeit und ihre Sichtweisen geweckt werden. Die Autorinnen führen viele Unwahrscheinlichkeiten zusammen. Ver47 Hartmann, Wilfried: Über Liebe und Ehe im früheren Mittelalter. Einige Bemerkungen zu einer Geschichte des Gefühls. In: De Iure Canonico Medii Aevi. Festschrift für Rudolf Weigand. Hrsg. von Peter Landau. Rom: Libreria Ateneo Salesiano 1996, S. 189–216 (Studia Gratiana; Bd. 27), versucht, einige Ansichten von Dinzelbacher (und George Duby), u. a. zum Begriff und der Bedeutung der Liebe im Frühmittelalter, zu widerlegen, indem er sie mit Quellentexten konfrontiert. Er tritt der Vorstellung entgegen, »dass wir es im Bereich einer Geschichte des Gefühls mit einer ständigen Aufwärtsbewegung zu tun haben, die v. a. im 12. Jahrhundert einen entscheidenden Impetus erhalten habe«. Hartmann meint, dass auch schon das frühe Mittelalter, insbesondere das neunte Jahrhundert, »Feinheit des Gefühls und psychologisches Einfühlungsvermögen gekannt hat, daneben sicherlich auch Brutalität und Barbarei – wie jede Epoche der menschlichen Geschichte« (ebd., S. 215f.). 48 Der Historiker Grabmayer, Johannes: Unser Mittelalter – Das Denken über das Mittelalter heute. In: Das Bild vom Mittelalter. 2013, S. 11–41, hier: S. 25, schreibt (in Bezug auf Mittelalterspektakel): »Eigentlich geht es nicht um ein Interesse an der Epoche ›Mittelalter‹, es geht um ›Entzeitlichung‹, die letztlich aber sinnentleerte Verflachung sein muss, wenn man Geschehen ohne die dazugehörige Vorstellungswelt anbietet«.

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einzelt mag es Kontakte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen gegeben haben, auch Ordensleute, die weite Reisen unternommen haben, Klosterfrauen, die sehr gebildet waren, Nonnen, die sexuelle Kontakte hatten, aber in »Die Abbatissa« wird all dies zusammengebracht. In beiden Romanen wird die Perspektive von Frauen auf die Ereignisse eingenommen, diese Figuren haben historische Vorbilder oder sind (teil-)fiktiv. In die Erzählungen mischen sich an vielen Stellen unsere gegenwärtigen Themen und Fragen, besonders deutlich Individualisierung, Institutionenkritik und Selbstermächtigung der Frauen. Angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Verunsicherung in einer zunehmend globalen Welt, die zusammen mit den Ängsten der Erwachsenen zum Gegenstand des Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur wurde, erscheint das Mittelalter der Populärkultur zunächst als Fluchtpunkt und Gegenwelt. Charakteristisch für die jungen Protagonisten der historischen Romane ist allerdings eine Haltung des Protests mit dem Ziel, sich aus dem »finsteren« Mittelalter heraus zu entwickeln. Die »Leuchtturmgestalten« des frühen Mittelalters, die als Vorbild für die Romanfiguren dienen, zeigen, so die Botschaft, dass ein anderes Denken schon damals möglich war. – Heute gibt es in Westeuropa weniger Möglichkeiten zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, weil wir bereits in Demokratien leben, die vom Prinzip der Volkssouveränität ausgehen. »Fridays for Future« findet vielleicht deshalb so viel Anklang bei Jugendlichen (und Erwachsenen), weil es eine Möglichkeit ist, sich für seine Ideale, für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, einzusetzen. – Das herausragende Denken eines Alkuin, des größten Gelehrten seiner Zeit, wird in den Romanen so weit ausgebaut, dass er wie einer unserer Zeitgenossen wirkt. Dass auch er im Horizont seiner Zeit hinsichtlich wichtiger Fragen vor-aufgeklärt dachte, wird nicht klar. Sein Kerngedanke, nur eine rechte Lebensführung bei Herrscher und Volk finde Gottes Wohlgefallen und erhalte im Gegenzug Frieden und Wohlergehen, trägt zum Beispiel den Tun-Ergehen-Zusammenhang in sich – dies bleibt in den Romanen allerdings weitgehend unberücksichtigt. Moralisierend-didaktische Elemente sind in den historischen Romanen, wie aktuell in der Kinder- und Jugendliteratur, durchaus vorhanden: Die Interessenschwerpunkte, welche Romanautoren und Historiker verbinden, sind zwar Alltag, Frauen, Außenseiter und Verlierer der Geschichte, im Mittelpunkt vieler Romane stehen – wohl für die Zielgruppe der Leserinnen – Rebellinnen und Heldinnen. Aber letztlich wird oft vom Scheitern erzählt oder von einer Entscheidung für die Familie (obwohl Frauen alles können).49 In vielen Romanen 49 Vgl. Skow, Katya: The »Women-in-Trade« Novel – Popular Historical Fiction in Germany: By, About and For Women. In: The German Historical Novel since the Eighteenth Century: More than a Bestseller. Hrsg. von Daniela Richter. Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2016, S. 245–259. Die meisten Protagonistinnen würden letztlich ihre Karriere für Ehemann und Kinder opfern.

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wird deutlich, dass die Autoren »Wissen« über Geschichte vermitteln wollen, was lange, erklärende Monologe oder Dialoge der Figuren sowie Anmerkungen, Verweise auf Quellen und Arbeiten von Historikern oder Nachworte zur Historizität zeigen. Nach Ansicht des Soziologen Hartmut Rosa können wir fremde Kulturen und Lebensformen nur verstehen, wenn wir annehmen, dass sie etwas Wertvolles enthalten, das potenziell unserer eigenen Kultur in nichts nachsteht, und wenn wir die signifikanten Kontraste so artikulieren, dass das Andere in seiner Eigenart bestehen bleibt.50 Um das Frühmittelalter zu verstehen, wäre also ein Auswandern in ein vor-aufgeklärtes Bewusstsein erforderlich. Der Historiker Hans-Werner Goetz sieht eine gewisse Nähe zwischen Mittelalterroman und Mediävistik, da beide ein gegenwartsgeleitetes Geschichtsbild entwerfen, wobei das Mittelalterbild der Mediävistik stärker wissenschaftlich fundiert ist. Romane könnten gerade dort unbefangen mit der Vergangenheit umgehen, wo die Geschichtswissenschaft passen muss.51 Historische Romane entwerfen ebenso Bilder von Karl dem Großen oder Einhard wie die wissenschaftlichen Biographien von Johannes Fried52 und Steffen Patzold.53 Diese Bilder sind jeweils von Vor50 Vgl. Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. 2 Aufl. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 38–52 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 1977) (im 1. Kapitel »Lebensformen vergleichen und verstehen. Eine Theorie der dimensionalen Kommensurabilität von Kontexten und Kulturen«). 51 Vgl. Goetz, Hans-Werner: Umberto Eco und das Interesse am Mittelalter: Zum Umgang der Mediävistik mit historischen Romanen und populären Mittelalterbildern. In: Ecos Echos. Das Werk Umberto Ecos: Dimensionen, Rezeptionen, Kritiken. Hrsg. von Tom Kindt und HansHarald Müller. München: Wilhelm Fink 2000, S. 37–52. 52 Fried erklärt direkt im ersten Satz, dieses Buch sei kein Roman, aber dennoch eine Fiktion. »Die Tiefe eines Lebens vor 1200 Jahren ist heute nicht mehr auszuloten. So bleibt nur die eigene Imagination« (Fried, Karl der Große. 2013, S. 9). Eine objektive Darstellung des großen Karolingers sei nicht möglich, kaum Privates und nichts Persönliches sei zu fassen, kein einziger Ausspruch könne mit letzter Gewissheit auf ihn zurückgeführt werden. Wissen, Sprache und Denkweise der Menschen vor 1.200 Jahren seien uns Heutigen fremd geworden. »Ihre Emotionen teilen wir nicht mehr, ihr Können steht uns nicht mehr zur Verfügung, ihr Wollen und Planen mutet uns rückständig an, ihre Werte und Ethik sagen uns […] kaum noch etwas« (ebd., S. 10). Diese Welt lasse sich nur vage und hypothetisch erschließen und darstellen. 53 Patzold bekennt: »Der Held dieses Buches ist mein Geschöpf. Er kommt nicht ohne Voraussetzungen aus, die aus meiner Gegenwart erwachsen sind […].« Phantasie sei notwendig, um die wenigen erhaltenen Splitter zueinander in Beziehung zu setzen und die Leerstellen zu füllen. Das Material aus dem Frühmittelalter spreche nur anhand von Fragen und Vorannahmen zu uns. Er grenzt sich von Romanautoren ab: Sein Held sei »mehr als ein lupenreines Phantasieprodukt, mehr auch als eine Figur eines historischen Romans. Mein Einhard war ein Mensch« (Patzold, Steffen: Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. Stuttgart: Klett-Cotta 2013, S. 287f.). Dieser habe bis heute wahrnehmbare Spuren außerhalb des Textes hinterlassen. Der wissenschaftliche Apparat, der auf Texte anderer Historiker verweise sowie Überreste aus Einhards Welt zitiere, bedeute eine nicht nur symbolische Trennung vom Poeten. Da wir in unserer Lebenswelt Menschen ganz selbstverständlich Emotionen, Ideen

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aussetzungen geprägt, die unserer Gegenwart entstammen. Romanautoren und Historiker sind gleichfalls »Schöpfer« von Karl und Einhard. Beide nutzen – in unterschiedlicher Intensität – die frühmittelalterlichen Quellen und füllen die Leerstellen der Überlieferung mithilfe ihrer Phantasie. Vor allem die Historiker bringen ihr Wissen über das Frühmittelalter und damalige Vorstellungen ein. Angesichts der fehlenden Quelleninformationen sind Erzählungen über das persönliche Leben Karls und seiner Familie, ihre Empfindungen oder Worte eingeschlossen, ein gewagtes Unternehmen. Fraglich ist, ob sich die Romanautoren bewusst sind, dass ihre Erzählungen über eine vergangene Epoche auch ihre eigene Gegenwart spiegeln. In den Romanen weisen viele Figuren Emotionen auf, die unseren sehr vergleichbar bzw. für uns nachvollziehbar sind. Die von den Historikern betonte Fremdheit des Frühmittelalters wird, zumindest hinsichtlich der Empfindungen der Figuren, in den Romanen weniger deutlich. Ob in den Romanen und in der Forschung das Mittelalter nun als fremd oder als vertraut gezeichnet wird – bei beiden Blickwinkeln handelt es sich um Zuschreibungen an das Mittelalter aus einer heutigen Warte, die immer wieder zu überprüfen sind.54 Der Historiker Steffen Patzold stellt die beiden klassischen Antworten auf die Frage nach der Relevanz der mittelalterlichen Geschichte vor: »Überall ist Mittelalter!« (bis heute prägen Dinge, Praktiken und Institutionen aus dem Mittelalter unser Leben; um unsere eigene Welt zu verstehen, müssen wir ihre Ursprünge und die lange Geschichte bis zu uns selbst kennen) – »Nirgendwo ist Mittelalter!« (das Mittelalter, eine fremde Welt, war zutiefst anders als unsere Moderne; so lernen wir, nichts für selbstverständlich zu halten und immer auch Alternativen zu denken).55 Die zentralen Oppositionen, mit deren Hilfe die Mediävisten das Mittelalter von der Moderne abgegrenzt haben, ließen sich aber heute weniger einfach heranziehen, da gegenwärtige Entwicklungen Kernzuschreibungen an die Moderne infrage stellen würden. Patzold ergänzt deshalb eine dritte Antwort: Das Mittelalter ist heute relevant, »weil sich unsere eigene Welt verändert – und in vielerlei Hinsicht in merkwürdig interessante Analogien und Überzeugungen zuschreiben, musste Patzold auch seinen Einhard damit ausstatten. Diese Zuschreibungen mögen für Leser der Gegenwart plausibel sein, sind als historische Phänomene des achten und neunten Jahrhunderts jedoch nicht zu beweisen. »Doch wie könnte Einhard sonst ein Mensch sein?« (ebd., S. 288). – Eine interessante Parallele zeigt sich jedoch: Thomas R. P. Mielke schreibt im Vorwort zu seiner Romanbiographie (!), Karl sollte 1.250 Jahre nach seiner Geburt »das Recht erhalten, auch einmal Mensch zu sein – ein ganz normaler Mensch« (Mielke, Karl der Große. 1992, S. 8). 54 Grabmayer betont: »Das Mittelalter ist in unseren Köpfen, das heißt, wir produzieren es selbst« (Grabmayer, Mittelalter. 2013, S. 41). 55 Vgl. Patzold, Steffen: Das eigene Fremde. Ein Versuch über die Aktualität des Mittelalters im 21. Jahrhundert. In: »Überall ist Mittelalter«. Zur Aktualität einer vergangenen Epoche. Hrsg. von Dorothea Klein. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 1–18, hier: S. 2–4 (Würzburger Ringvorlesungen; Bd. 11).

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zum Mittelalter gerät, ohne sich deshalb einfach historisch dorthin zurückzuentwickeln«.56 Auch Kinder und Jugendliche, die heute historische Romane lesen, leben in dieser sich verändernden Welt und werden von religiösen und gesellschaftlichen Gegenwartstrends geprägt, die sich womöglich in Zukunft noch verstärken werden. Blickt man auf die jungen Figuren in den Frühmittelalter-Romanen, ist zu bedenken, dass im frühen Mittelalter noch kein eigenes Verständnis von Kindheit und Jugend existierte, die Menschen mussten damals viel früher erwachsen sein. Die Fragen, die junge Menschen heute in ihrem Aufwachsen umtreiben, werden vielmehr den jungen Protagonisten der Romane in den Mund gelegt, ihre Problemlagen werden in einer anderen Zeit durchgearbeitet. Gleichzeitig könnten interessierte junge Leser durch die Romane zu einer vertieften Beschäftigung angeregt werden: Ein Vergleich mit den damaligen Verhältnissen und damit eine Konturierung der eigenen Situation wäre möglich, das Erkennen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, im besten Fall ein Verständnis für die damalige Zeit und die Umstände, die die Menschen in ihrem Denken und Fühlen, das nicht das unsere ist, prägten.

56 Patzold, Fremde. 2015, S. 18. Das Mittelalter werde als »ein eigenes Fremdes« für die Gegenwart interessant, für das die Mediävisten »ureigene Kompetenz und Zuständigkeit haben« (ebd., S. 14). Sie sollten auch »die neuen, komplexen Bezüge zu ihrer sich wandelnden Gegenwart ernster nehmen und genauer zu beschreiben suchen« (ebd., S. 18).

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Von A wie Antarktis bis W wie Weltverbessern – Ökologische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche zwischen Erziehungsfunktion und Innovation

1.

Einleitung

Der deutschsprachige Sachbuchmarkt für Kinder und Jugendliche ist heute vor allem durch eines geprägt: Vielfalt. Das eine typische Sachbuch gibt es nicht. Vielmehr dient die Bezeichnung ›Sachbuch‹ als Sammelbecken für Bücher und Medien(kombinationen), die unterschiedlicher kaum sein könnten und die von in internationaler Zusammenarbeit produzierten Sachbuchreihen bis hin zu Autorentiteln reichen.1 Die Heterogenität der Buchgattung zeigt sich dabei einerseits an der Breite der behandelten Themen sowie andererseits in Form, Gestaltung und Alterszuschreibung der Adressat*innen. Neben vielfältigen bildkünstlerischen und literarästhetischen Mitteln nutzt das Sach(bilder)buch auch Darstellungsmodi faktualer Literatur und Medien, wobei die Grenzen zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen fließend sind. Als gemeinsame Basis dient der Sachliteratur für Kinder und Jugendliche das primäre Ziel einer gleichzeitig belehrenden und unterhaltenden Wissensvermittlung an ein interessiertes Laienpublikum.2 Wenngleich diese Zielsetzung, wie der folgende Beitrag mit Blick auf aktuelle Entwicklungen auf dem deutschsprachigen Sachbuchmarkt aufzeigen möchte, Verschiebungen unterliegt: Während das Ziel der Wissensvermittlung weitgehend unangetastet bleibt, tritt das der Unterhaltung mitunter zugunsten einer primär erzieherischen Funktion zurück. Wie die ausgewählten Bespiele zeigen, manifestiert sich diese Verschiebung im kinderlite1 Einen Überblick über Sachbuchmarkt und Publikationsformen gibt z. B. Grubert, Renate: Das Sachbilderbuch – Konzepte, Typen, Trends. In: Wie im Bilderbuch. Hrsg. von Arno Rußegger und Tonia Waldner. Innsbruck: Studien 2016, S. 88–103; einen aktuellen Forschungsüberblick zum Sachbuch für Kinder und Jugendliche bietet u. a. Merveldt, Nikola von: Sachbuch. In: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Tobias Kurwinkel und Philip Schmerheim. Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 189–200. 2 Ossowski, Ekkehard/Ossowski, Herbert: Sachbücher für Kinder und Jugendliche. In: Kinderund Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Hrsg. von Günter Lange. Baltmannsweiler: Schneider 2011, S. 366.

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rarischen Symbolsystem insbesondere auf der Textebene. Der den Texten eingeschriebene appellative Charakter wie auch veränderte Annahmen hinsichtlich der impliziten Adressaten deuten darüber hinaus auf Veränderungen im Handlungssystem und nicht zuletzt des Kindheitsbildes hin. Exemplarisch für diese Beobachtung kann der Bereich der ökologischen Kinder- und Jugendliteratur3 bzw. der ökologischen Sachliteratur für Kinder und Jugendliche gelten.4 Wobei Artensterben, Umweltkatastrophen, Klimawandel, Globalisierung, Technisierung, Ausbeutung und Zerstörung natürlicher Ressourcen bei weitem keine neuen Themen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) sind. Ein Paradigmenwechsel in den 1970er Jahren sorgte dafür – wie unter anderem Gabriele von Glasenapp ausführt5 –, dass aktuelle gesellschaftspolitische und -kritische Themen aufgegriffen werden, so dass auch der Themenkreis Nachhaltigkeit, Ökologie und Umweltschutz bereits seit den 1980er Jahren in der deutschsprachigen KJL zum festen Repertoire gehört.6 Als Reaktion auf den – nicht zuletzt durch die jugendliche Klimaaktivistin Greta Thunberg befeuerten – erneut entbrannten öffentlichen Diskurs um Klimawandel und Erderwärmung ist seit 2019 ein deutlicher Anstieg von ökologischer KJL zu verzeichnen, »was auch an der Bewegung Fridays for Future liegen mag. Es erscheinen insbesondere Sachbücher, aber auch Kinderromane zum Thema Natur-, Klima- und Umweltschutz«7. Auffallend sind dabei zum einen die bereits 2019 zahlreich publizierten Biographien zur Umweltaktivistin Greta Thunberg8 sowie in der erzählenden KJL die Vielzahl an weiblichen Protago3 Als ökologische KJL bezeichnet Dagmar Lindenpütz Texte, »in denen es um Probleme der natürlichen, sozialen und gebauten Umwelt unter dem Leitgedanken der ökologischen Krise geht« (Lindenpütz, Dagmar: Natur und Umwelt als Thema der Kinder- und Jugendliteratur. In: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur 2. Medien und Sachbuch, ausgew. thematische Aspekte, ausgew. poetologische Aspekte, Produktion und Rezeption, KJL im Unterricht. Hrsg. von Günter Lange. Baltmannsweiler: Schneider 2002, S. 728). 4 Zur ökologischen KJL siehe Wanning, Berbeli/Stemmann, Anna: Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ecocriticism. Eine Einführung. Hrsg. von Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe. Köln: Böhlau 2015, S. 258–270. 5 Vgl. Glasenapp, Gabriele von: Apokalypse now! Formen und Funktionen von Utopien und Dystopien in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Hans-Heino Ewers, Gabriele von Glasenapp und Claudia Maria Pecher. Baltmannsweiler: Schneider 2013, S. 67–86. 6 Vgl. Glasenapp, Apokalypse now! 2013, S. 74f. 7 Mikota, Jana: Epische Texte: Kinderroman der 2000er Jahre. In: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Tobias Kurwinkel/Philipp Schmerheim. Berlin: J. B. Metzler 2020, S. 162. 8 Die Publikationen zu Greta Thunberg umfassen neben mehr oder weniger umfangreichen biographischen Erzählungen, Zitaten und Informationen zum Klimawandel auch Tipps für klima- und umweltfreundliches Handeln sowie mitunter auch Ratschläge für Diskussionen mit Leugner*innen des Klimawandels. »Trotz des zu begrüßenden Themeninteresses kritisch anzumerken bleibt dessen teils sehr schnell produzierte, plakative und repetitive Darbietung

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nistinnen, die sich für Umwelt- und Klimaschutz einsetzen, und der Zuwachs an Eco-Dystopien. Sowohl in der Sach- als auch in der erzählenden Literatur lässt sich dabei der Ansatz erkennen, die Leser*innen emotional zu involvieren, um so den Wunsch, selbst aktiv zu werden, zu generieren.Berbeli Wanning und Anna Stemmann weisen auf den didaktischen Mehrwert hin, der ökologischer KJL zugeschrieben wird, die durch ästhetische Sensibilisierung ein vertieftes ökologisches Bewusstsein hervorbringen9 und mit Lauwrence Buell dem sogenannten »Environmental Doublethink« vorbeugen soll: »Mit diesem Ausdruck beschreibt Lawrence Buell das Phänomen, dass man sich zwar der Faktenlage über mögliche Umweltgefährdung bewusst ist, diesem Wissen jedoch keine veränderten Denk- und Handlungsabläufe entspringen. Durch die Welterfahrung, die Literatur bietet, kann alternatives Denken auf neue Weise affektiv codiert werden. Dies ist Voraussetzung, um die Motivation für tief greifende Veränderungen zu schaffen.«10

Umdenken, verantwortungsvoll und nachhaltig handeln, Veränderungen schaffen – das sind die Aufgaben, die Kindern und Jugendlichen in aktuellen Publikationen explizit übertragen werden. Meist ist die appellative Funktion der Werke bereits den Paratexten abzulesen, so dass durch Titelgebung oder Klappentext bereits ersichtlich ist, dass es darum geht, die Leser*innen aufzuklären, sie zum Handeln zu motivieren und sie in die Lage zu versetzen, die Welt positiv zu verändern, gegen Missstände, Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt anzukämpfen.11

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Rettet die Erde!

Adressiert werden mit den appellativen Texten Jugendliche, Kinder und sogar Kleinkinder ab drei Jahren. So etwa mit dem im englischsprachigen Original über Crowdfunding finanzierten »Rettet die Erde!«12 von Patrick George. Über den

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im Sinne des Mainstreams. Unzulängliche Sachrecherche, vordergründige Befriedigung des Unterhaltungswunsches und trendorientierter Erzählpragmatismus scheinen nicht selten zu Ungunsten eines angemessenen literarischen Mehr- sowie sachgeleiteten Informationswerts vorgezogen werden« (Mikota, Jana/Pecher, Claudia Maria: Klima-, Umwelt-, und Naturschutz in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. In: kjl & m 72, 2020, H. 4, S. 13). Wanning/Stemmann, Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur. 2015, S. 259. Ebd., S. 259f. Die Titel der Sachbücher lauten beispielsweise: »Alles auf Grün! Wie du der Umwelt helfen kannst«, »So viel Müll! Wie du die Umwelt schützen kannst«, »Wale retten, Igeln helfen, Erde schützen: 70 Ideen für kleine Naturschützer«, »100 Dinge, die du für die Erde tun kannst« oder »Every Day for Future: 100 Dinge, die du selbst tun kannst, um das Klima zu schützen, nachhaltig zu leben und die Natur zu bewahren«. George, Patrick: Rettet die Erde! Übersetzt von Markus Weber. Frankfurt/Main: Moritz 2020.

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Einsatz von Folienseiten werden Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter elf Handlungsanweisungen vermittelt, die ihnen – so die Ankündigung des Verlags – das Gefühl geben sollen, »etwas verändern zu können – erst im Buch, dann in der Realität«13. Es geht in diesem Bilderbuch aufgrund des jungen Alters der Betrachter*innen weniger um den Anstoß zum Umdenken oder die Vermittlung von Faktenwissen,14 als vielmehr um die Erziehung zu einem umweltfreundlichen Handeln. Die erste Doppelseite beispielsweise fordert: »Lasst das Auto stehen.«15 Die linke Buchseite zeigt einen in grau gehaltenen Raum mit Werkzeug an der Wand, die rechte Buchseite ist in kräftigen, bunten Farben mit hohem Grünanteil und kreisrunder gelber Sonne gestaltet. Die Folienseite, die in der Mitte eingebunden ist und über beide Buchseiten gelegt werden kann, zeigt die stilisierte Silhouette eines Autos. Liegt die Folie über der rechten Buchseite, sieht man dort Vater mit Kind im Auto durch die Landschaft fahren. Klappt man die Folie um, steht das Auto auf der linken Buchseite in der Garage und Vater und Kind radeln gemeinsam mit einem kleinen Hund, der im Fahrradkorb sitzt, durch die Natur (neben dem Fahrrad ist ein Hase zu sehen). Auffallend ist dabei der rote Umhang des Kindes, der erst durch das Umblättern sichtbar wird und der durch den Fahrtwind in der Luft weht. Auch in »Rettet die Erde!« wird – wie in zahlreichen anderen Publikationen für ein älteres Lesepublikum – wiederholt das ikonografische Bild des Superhelden/der Superheldin bedient, das symbolisch für das Empowerment der kindlichen Adressat*innen steht. Die Botschaft – Kinder können die Welt retten – geht dabei Hand in Hand mit elf konkreten, erzieherischen Handlungsaufforderungen, die mal mehr, mal weniger lebensnah erscheinen und die im besten Fall im intergenerationalen Dialog erörtert (und umgesetzt) werden: »1. Lasst das Auto stehen; 2. Haltet die Umwelt sauber; 3. Verschwendet keinen Strom; 4. Gebt Bienen Nahrung; 5. Esst mehr Gemüse – und weniger Fleisch; 6. Gebt Dingen neunen Sinn; 7. Recycelt Plastik; 8. Spart Wasser, badet gemeinsam; 9. Lasst Tieren ihre Freiheit; 10. Pflanzt neue Bäume; 11. Und spielt öfter draußen!«16

13 (letzter Zugriff: 08. 05. 2021). 14 Hintergrundinformationen zur Notwendigkeit, Funktion und Wirkung der geforderten Handlung fehlen auf Textebene ebenso wie eine durchgehende Handlung. Vielmehr ist das Buch nach dem für das Sachbuch typische Doppelseiten-Prinzip gestaltet, das auch auf Frühe-Konzepte-Bücher angewendet wird. Vgl. Ku¨ mmerling-Meibauer, Bettina/Meibauer, Jörg: First Pictures, Early Concepts: Early Concept Books. In: The Lion and the Unicorn 29, 2005, H. 3, S. 324–347. 15 George, Rettet die Erde! 2020, o. S. 16 Ebd.

Von A wie Antarktis bis W wie Weltverbessern

3.

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Weltrettung = Kindersache

Mehr Hintergrundwissen liefert das erzählende Sachbilderbuch »Die Klimaschweine«17 von Julia Neuhaus und Till Penzek, das, eingebunden in eine Narration, Sachinformationen zu Erderwärmung und Klimawandel präsentiert und Leser*innen im Alter von vier bis sechs Jahren adressiert. Erzählt wird in zwei, zunächst parallel verlaufenden Handlungssträngen von Schweinen und Pinguinen: Während die Schweine ihrem konsumgetriebenen, egoistischen Handeln frönen und damit die Erderwärmung vorantreiben, schmilzt den Pinguinen am »anderen Ende der Welt« nicht nur das Himbeereis am Stiel, sondern auch ihr Lebensraum unter den Füßen weg. Der Pinguinprofessor kennt die Ursache der Entwicklung und kann die Pinguine aufklären: »›Die Schweine produzieren so viele Treibhausgase, dass die Hülle um die Erde immer dicker wird. Es werden mehr Sonnenstrahlen als früher zur Erde zurückgeworfen. Dadurch wird es wärmer und wärmer.‹ ›Und wie produzieren die Schweine so viele Treibhausgase?‹, fragten die Pinguine verwundert. ›Treibhausgase entstehen bei vielen alltäglichen Dingen. Das ist den Schweinen oft gar nicht bewusst. Schaut her!‹«18

An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der Multimodalität und Hybridität des (Sach-)Bilderbuchs besonders deutlich: Während die Aussage des Pinguinprofessors im Schrifttext vage formuliert ist, werden im Bild unterschiedliche Quellen von Treibhausgasen gezeigt. Genutzt wird hier die Form der Schautafel, die auf faktenbasierte Wissensvermittlung referenziert und den Leser*innen auf der Bildebene Kraftwerke, Fahrzeuge, Flugzeuge, Waldrodung, Landwirtschaft und Tierbestände als Ursachen für die Erderwärmung präsentiert (vgl. Abb. 1). Die Pinguine, die dank der Erklärung des Professors begriffen haben, wie dramatisch es um ihren Lebensraum und die Erde steht, beschließen etwas zu unternehmen und die Schweine zum Umdenken zu bewegen. Die Tatsache, dass die großen Schweine die Warnungen und Apelle der Pinguine ignorieren, spiegelt den aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs. Auch in dieser Umweltparabel19 ist es die junge Generation, die versteht und handelt: »Vor allem die jungen Schweine bekamen es mit der Angst zu tun. Sie trafen sich mit den Pinguinen, um mit ihnen zu sprechen. ›Was können wir tun, um die Erderwärmung aufzuhalten?‹, fragten sie den Pinguinprofessor. 17 Neuhaus, Julia/Penzek, Till: Die Klimaschweine. Mannheim: Kunstanstifter 2020. 18 Ebd., o. S. 19 Vgl. Ritter, Alexandra: Natur- und Umweltschutz im Bilderbuch. In: kjl & m 72, 2020, H. 4, S. 58.

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[…] ›Alte Gewohnheiten zu verändern, ist sehr unangenehm. Aber jeder Einzelne von euch kann etwas tun!‹ ›Und der Rat der Schweine muss neue Ideen entwickeln, wie man viel weniger Treibhausgase produziert. Ihr dürft euch nicht abwimmeln lassen!‹«20

Abb. 1: »Die Klimaschweine« (2020).

Der abschließende Appell, der sich auf der Ebene der Narration an die jungen Schweine richtet, gilt den anthropomorphisierten Stellvertreter*innen und kindlichen Leser*innen gleichermaßen. Sie, das heißt die junge Generation wird aufgefordert, zu handeln, und mehr noch: den Erwachsenen zu zeigen, wie die Rettung der Erde funktioniert. Diese Dichotomie zwischen Kindern/Jugendlichen als Weltrettern einerseits und Erwachsenen als Weltzerstörern andererseits lässt sich auch in anderen Sachbüchern ausmachen21 und geht einher mit der Verbündung der Autor*innen mit den jungen Leser*innen. Andere Erwachsene kommen in Sachen Klimaschutz hingegen nicht gut weg. Im Gegenteil vermittelt aktuelle ökologische Sachliteratur nicht selten den Eindruck, es sei vorrangige

20 Neuhaus/Penzek, Die Klimaschweine. 2020, o. S. 21 Zur Problematik der Polarisierung vgl. auch Ritter, Natur- und Umweltschutz im Bilderbuch. 2020, S. 61.

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Aufgabe der Kinder, die Erwachsenen zu bekehren, sie zu erziehen und zu besseren Menschen zu machen. »Erwachsene können manchmal schwierig sein. Vor allem, wenn sie meinen, alles besser zu wissen. Wie sprichst du mit Leuten, die glauben, dass es den Klimawandel nicht gibt? Wie erklärst du anderen, warum die Dinge, die du tust, sinnvoll für den Klimaschutz sind? […] Dann holst du alle Argumente und Fakten hervor, die du gesammelt hast. Zeig, dass es dir ernst ist: ›Ich habe mir da schon was überlegt. Aber das müssen wir zusammen anpacken!‹ Deine Leute sind immer noch nicht überzeugt? Dann gib ihnen dieses Buch zu lesen! Vor allem aber: Lass dich nicht entmutigen! Jeder noch so kleine Beitrag ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Die Welt braucht Klima-Helden wie Greta, all die Fridays-for-Future-Kids – und dich.«22

Der kurze Auszug, der dem Abschnitt »Richtig diskutieren« des Kinderbuchs »Unsere Zukunft ist jetzt! Kämpfe wie Greta Thunberg fürs Klima«23 entnommen ist, zeigt exemplarisch Verfahren, die in der aktuellen ökologischen Sachliteratur zum Einsatz kommen: angefangen bei einer kämpferischen Grundhaltung, die sich in der sprachlichen Gestaltung und nicht zuletzt in der Held*innen-Metaphorik zeigt, bis hin zum Empowerment der kindlichen Leser*innen, das an dieser Stelle auf der wissensbasierten Argumentation gegenüber Klimaleugner*innen basiert. Die direkte Leser*innenansprache vermittelt den Lesenden mit Nachdruck, dass es auf sie persönlich und ihr individuelles Handeln ankommt. Wie sie zu handeln haben, erfahren sie ebenfalls in diesem schmalen Band, der Greta Thunberg und ihren Werdegang zur Klimaaktivistin als Ausgangpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel nutzt. Ergänzt wird die biographische Skizze, die Greta als Vorbild zeigt, um lebensweltnahe Hintergrundinformationen, die offenlegen, wie das eigene Verhalten das Klima beeinflusst, sowie konkrete Ratschläge für ein umweltbewusstes Verhalten: Energie sparen, bewusste und nachhaltige Ernährung (inkl. Kuchenrezept), Mobilität (inkl. Müsliriegel-Rezept), richtiges Konsumverhalten, persönliches Engagement und nicht zuletzt: oben angeführte Tipps für eine überzeugende Argumentation, die auf guter Vorbereitung und fundierter Faktenkenntnis basiert. Abschließend findet sich ein kleines »Klima-ABC«, das zentrale Begriffe der Klima-Debatte grob erklärt und somit einen Ausgangspunkt für eine eigene Klima-Diskussion mit Erwachsenen bilden kann. Die Abgrenzung und Abwertung der Erwachsenen als Klimasünder, die sich in ökologischer Sachliteratur für Kinder und Jugendliche wie auch in erzählenden 22 Hecking, Claus/Schönberger, Charlotte/Sokolowski, Ilka/Zobel, Franziska Viviane: Unsere Zukunft ist jetzt! Kämpfe wie Greta Thunberg fürs Klima. Hamburg: Oetinger 2019. S. 75f. 23 Ebd.

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Genres finden lässt und die, wie oben beschrieben, auf aktuelle Entwicklungen rekurriert, ist dabei als Verfahren zu verstehen, das auf die Aktivierung der Lesenden abzielt und das eine Leser*innenmotivation gerade aus dieser Polarisierung und Stereotypisierung generiert. Einerseits ermöglicht die schematische Darstellung von Jung versus Alt, Klimaheld versus Klimasünder eine klare und eindeutige Zuordnung, die leicht nachzuvollziehen ist und den Wunsch hervorruft, zu den ›Guten‹ gehören zu wollen. Andererseits knüpft sie an das Gefühl vieler Jugendlicher an, nicht ernst genommen oder nicht verstanden zu werden. Die emotionale Involviertheit, die Handlungsmotivation sein soll, gründet hier gerade nicht in empathischem Mitfühlen, sondern in geteilter, kollektiver Wut, die in einem individuellen Aufbegehren mündet (oder münden soll). Das Fehlverhalten der Erwachsenen wird als Antrieb und Rechtfertigung erzieherischer Mittel gleichermaßen benutzt: Die Handlungsanweisungen für richtiges, klimagerechtes Verhalten können aufgrund der so etablierten Negativschablone statt als Instruktionen als Tipps und Hilfestellungen formuliert werden. Autor*innen (wie auch Wissenschaftler*innen oder erwachsene Aktivist*innen), die wie die Kinder und Jugendlichen um die Bedeutung der Klimaerwärmung und das menschliche Zutun wissen, können sich in dieser Argumentationslogik als Helfer*innenfiguren auf die Seite der Kinder und Jugendlichen schlagen und sich mit ihnen verbünden, so dass die dominante erzieherische Funktion gewissermaßen verschleiert bzw. verdeckt wird.

4.

Emotion und Empowerment

Tatsächlich bedienen aber nicht alle Texte ausschließlich diese Negativschablone, die auf Empörung und Wut basiert, zur Aktivierung der Leser*innen für den Umwelt- und Klimaschutz. Auch narrative Verfahren, die aus der erzählenden Literatur bekannt sind, werden für die emotionale Ansprache genutzt. So etwa in »Paulas Reise oder Wie ein Huhn uns zu Klimaschützern machte«24 von Jana Steingässer. In dieser Sacherzählung, die als Reisebericht gestaltet ist, sind die Eltern die Verbündeten der Kinder und ermöglichen die kritische und subjektive Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. Erzählt wird aus Sicht der jugendlichen Paula; Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Klimawandel ist die Tatsache, dass ihr Haushuhn Emma Mitte Dezember ein Ei legt. Als die Mutter erklärt, dass dieses unnatürliche Verhalten im Klimawandel begründet liegt, nimmt die Geschichte ihren Lauf: 24 Steingässer, Jana: Paulas Reise oder Wie ein Huhn uns zu Klimaschützern machte. Hamburg: Oetinger 2019.

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»Wären wir eine ganz normale Familie, wäre vielleicht nichts weiter passiert. Vielleicht hätten wir Emmas Eier in die Pfanne gehauen und den Klimawandel einfach wieder vergessen. Aber meine Eltern sind Journalisten. Sie stecken ihre Nase gerne in alles Mögliche. Deshalb beschlossen sie, auf einer Reise um die Welt all unseren Fragen nachzugehen. Mittendrin meine Geschwister und ich.«25

Paula dient den jugendlichen Leser*innen als Identifikationsfigur, um ihnen eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Klimawandel zu ermöglichen. Angestrebt wird an dieser Stelle ein Einfühlen, das Interesse weckt sowie Verstehen und Verständnis für den Sachverhalt fördert und vertieft.26 Gemeint ist hiermit ein Einfühlen im Sinn einer empathischen Einlassung; eine Perspektivübernahme, die Gedanken und Gefühle anderer emotional und/oder kognitiv verständlich und nachvollziehbar macht. Tatsächlich schließen faktuale Erzählungen wie sachbezogene Deskriptionen emotionale Erfahrungen der Leser*innen nicht aus, doch sind es insbesondere fiktionale Narrationen, denen eine hohe emotionale Beteiligung der Rezipient*innen zugeschrieben wird. Wobei es narrative Strukturen und Darstellungsmittel sind, die eine emotionale Involviertheit bedingen.27 Diese Erzählverfahren kommen auch im Sachbuch zum Einsatz und können so eine empathische Annäherung an den Sachgegenstand evozieren.28 Mit Blick auf eine empathische Einlassung auf den Text ist insbesondere die Figurendarstellung relevant, denn es ist davon auszugehen, »dass Empathie mit einer fiktionalen Figur entsteht, sobald sich der Rezipient in die Figur einfühlen kann. Dafür benötigt er zum einen Informationen zur Gefühlswelt der Figur und zum anderen muss er verstehen können, warum sie so handelt wie sie handelt, d. h. er muss die Motivationen des Figurenverhaltens kennenlernen. Zur Vermittlung dieser grundsätzlichen Pole der Empathieförderung bieten sich bestimmte narrative Techniken (wie z. B. Emotionsberichte, Figurenreden, Bewusstseinsdarstellung etc.) besonders an.«29 25 Ebd., S. 9. 26 Sandra Siewert zeigt für das Sachbuch Tuckermann, Anja/Schulz, Tine »Alle da! Unser kunterbuntes Leben« Leipzig: Klett Kinderbuch 2014 exemplarisch auf, dass emotionale Involviertheit ein vertieftes Verständnis ermöglicht. Siehe Siewert, Sandra: »›Wir schlafen auf dem Feld. Dort ist es bitterkalt.‹ Emotionale Zugänge zur außersprachlichen Wirklichkeit in Folge faktualen und fiktionalen Erzählens im Sachbilderbuch.« In: Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung. Hrsg. von Gabriele von Glasenapp u. a. Open Access-Publikation 2019, S. 27–38. 27 Ebd., S. 29. 28 Oftmals kommt es zu einer Verschränkung oder Durchdringung von faktualer und fiktionaler Narration, von narrativem und deskriptivem Modus. Literarästhetische und bildkünstlerische Mittel werden dabei ebenso genutzt wie Darstellungsmodi faktualer Literatur und Medien. Vgl. hierzu auch Martínez, Mathias: Grenzgänger und Grauzonen zwischen fiktionalen und faktualen Texten. Eine Einleitung. In: Der Deutschunterricht, 2016, H. 4, S. 2–8. 29 Barthel, Verena: Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm-Stoffs. Berlin: de Gruyter 2008, S. 32.

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Im Fall von »Paulas Reise« bedeutet das, dass die Leser*innen zwar von einer faktualen Erzählung ausgehen, das heißt von der Annahme, dass die Erzählstimme der realen Autorin entspricht30, dass aber durch die Schilderung im narrativen Modus und der konsequent eingehaltenen Ich-Perspektive (Emotionsbericht) sowie den hohen Dialog-Anteil (Figurenreden), der sich im Text finden lässt, ein hoher Grad an Empathieförderung vorliegt. Ergänzt wird die Narration durch zahlreiche Infokästen, die im deskriptiven Modus und kollegialen Ton Hintergrundwissen vermitteln, sowie durch Fotografien, die der Vater Jens Steingässer während der Reise der sechsköpfigen Familie aufgenommen hat. Beide diskontinuierlichen Darstellungsformen bekräftigen den Authentizitätsanspruch der Erzählung ebenso wie die faktischen Folgen des Klimawandels, die in der Verschränkung von Bild und Text für unterschiedliche Regionen der Erde sichtbar gemacht werden. Der dokumentarische Charakter wie auch die subjektive Erzählhaltung dienen der Identifikation sowie der Aktivierung der Leser*innen – die abenteuerliche Reise der Familie Steingässer soll durch die gewonnenen und geschilderten Erkenntnisse die Augen öffnen und zum Nachdenken anregen. In abgeschwächter Form findet sich auch in »Paulas Reise« die oben beschriebene Ermächtigung der Kinder, denn auch hier wird ihnen die Aufgabe zugeschrieben, die Erwachsenen wachzurütteln; auch hier finden sich am Ende des Buches Anweisungen bzw. Verhaltensregeln für ein umwelt- und klimafreundliches Handeln. Gestaltet sind sie in diesem Fall als »ultimative HühnerWeisheiten für Zukunfts-Klima-Helden«31; dennoch sind die erzieherische Funktion und das angestrebte Empowerment auch in »Emmas Supertipps«, die abermals aus der Position einer Verbündeten – hier der Haushenne – formuliert sind, unübersehbar: »* Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen, die immer weniger werden, können wir nicht unendlich viel neu herstellen, verkaufen und kaufen. Unnützer Plunder, das zehnte T-Shirt und überquellende Schränke sind sowieso Schnee von gestern. Zukunftsmusik klingt so: reduce, reuse, recycle – reduzieren, wiederverwenden, recyceln! * Nicht einfach alles schlucken, was Erwachsene so von sich geben. Denn erwachsene Politiker, Unternehmenschefs, Lehrer, Eltern und sogar Hühnerbesitzer treffen manchmal unsinnige Entscheidungen und vergessen dabei, dass sie damit unserem Planeten und damit eurer Zukunft richtig schaden. […] * Auch Kleinvieh macht Mist – ich weiß, wovon ich rede. Und ganz viel Kleinvieh macht richtig viel Mist. Je mehr Kinder und Jugendliche sich für Klimaschutz und damit für eine gerechtere Welt einsetzen, umso schwerer können Erwachsene wegsehen und umso schneller können Ziele erreicht werden. Nicht jeder muss gleich so ein Superheld 30 Tatsächlich ist die Verfasserin des Textes die Mutter, das heißt die Autorin Jana Steingässer, so dass eigentlich eine fiktionalisierte Erzählung vorliegt. 31 Steingässer, Paulas Reise. 2019, S. 149.

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werden wie Boyan Slat oder Felix Finkbeiner. Es reicht auch schon erst mal ein dickes Emelchen32 im eigenen Haus, in der eigenen Schule oder dem Stadtteil oder dem Dorf zu züchten. […] * Und das Allerwichtigste zum Schluss: Kauft keine Eier mehr, sondern holt euch eigene Hühner!«33

Das Huhn, das zu Beginn des Buches als genereller Erzählanlass eingesetzt wird, tritt am Ende als fiktive Sprechinstanz auf und dient ebenso wie die betont humorvolle Sprache sowie die anekdotischen Einschübe als auflockerndes Element. Ziel könnte sein, die eingangs erwähnte Unterhaltungsfunktion von Sachbüchern für Kinder und Jugendliche zu bedienen. Dennoch ist auch diesem Beispiel, wie den zuvor genannten, ein Bild von Kindheit und Jugend eingeschrieben, das Vorstellungen der Epoche der Aufklärung aufgreift: »Es handelt sich […] um eine ihrem Charakter nach explizit didaktische und didaktisierende Literatur, der, wie im 18. Jahrhundert, zugleich die Fähigkeit eingeschrieben ist, ihre Leser auch erziehen zu können.«34

Dieser Befund wäre – würde sich diese Tendenz auf die ökologische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche beschränken – wohl mit Blick auf die Traditionslinien vernachlässigbar. Tatsächlich aber stehen diese Sachbücher in Deutlichkeit und Vehemenz ihrer aufklärerischen und erzieherischen Intention exemplarisch für eine Tendenz der Funktionszuweisung von KJL, die sich auch an anderer Stelle und im Zusammenhang mit anderen Themenkreisen (und über die Grenzen des Sachbuches hinaus) beobachten lässt.

5.

Innovative Perspektiven

Dass ökologische Sachliteratur, die sich für einen bewussten Umgang mit dem Planeten und ein klima- und umweltfreundliches Verhalten starkmacht, auch abseits der erzieherischen Funktionalisierung und Aktivierung funktionieren

32 Das »Emelchen« leitet sich aus den Anfangsbuchstaben der Wörter Ernährung (was wir essen), Mobilität (wie wir uns fortbewegen) und Energie (woher unser Strom kommt und unsere Heizwärme) ab; es stellt somit ein personifiziertes, klimafreundliches und ressourcenschonendes Verhalten dar. Vgl. ebd., S. 134. 33 Ebd., S. 149ff. [Hervorhebungen im Original]. 34 Glasenapp, Apokalypse now! 2013, S. 75; vgl. auch: »Insbesondere in der reichhaltigen Sachliteratur für Grundschulkinder mit Tipps und Experimentieranleitungen zur Schonung, wenn nicht gar Rettung der Umwelt findet die aufgeklärte naturkundliche Kinderliteratur des späten 18. Jahrhunderts eine würdige Nachfolgerin« (Ewers, Hans-Heino: Kinder und Natur, Kinder der Natur. In: Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinderund Jugendliteratur. Hrsg. von Hans-Heino Ewers, Gabriele von Glasenapp und Claudia Maria Pecher. Baltmannsweiler: Schneider 2013, S. 7).

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kann, zeigen Sachbücher wie »A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt«35, das 2020 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Wie ein Großteil der Autorentitel (und zum Teil auch der Reihentitel), die aktuell auf dem Kinder- und Jugendbuchmarkt publiziert werden, versucht »A wie Antarktis« das innovative Potenzial auszuschöpfen, das dem Sachbuch nicht zuletzt durch die aufgrund der Digitalisierung erweiterten Produktionsverfahren eingeschrieben ist. Dem Sachbuch für Kinder und Jugendliche scheinen als Buchgattung weder mit Blick auf die Text- noch auf die Bildebene gestalterische Grenzen gesetzt; es bewegt sich frei zwischen Deskription und Narration und nutzt bildnerische Verfahren von Fotografie bis Illustration; es etabliert textuelle Mischformen, die Sachinformation mit Fiktion verbinden und bedient sich nahezu aller literarischer Formen der Epik und Lyrik. »A wie Antarktis«, dem ein Appell für einen bewussten und rücksichtsvollen Umgang mit unserem Planeten eingeschrieben ist, kann der ökologischen Sachliteratur für Kinder und Jugendliche zugerechnet werden oder vielmehr einer im besten Sinn entgrenzten Sachliteratur, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen adressiert und nicht gegeneinander ausspielt. Wobei die erzieherische Funktion, die in den bisherigen Beispielen dominant gesetzt war, zugunsten der unterhaltsamen, faktenbasierten Wissensvermittlung zurücktritt und der Autor/Illustrator David Böhm einen ebenso aufschlussreichen, ambitionierten wie abwechslungsreichen Weg zur Annäherung an den Sachgegenstand findet, der zentrales Wissen zu Klimaschutz und Umweltverschmutzung einbindet, ohne zu didaktisieren oder eine rein appellative Argumentation zu bemühen. Die Aktivierung für den Klima- und Umweltschutz wird hier über eine emotionale Ansprache der Leser*innen erreicht. Eine subjektive Perspektive ergänzt und durchzieht die deskriptiven Informationstexte und wird durch die innovative und vielschichtige Gestaltung des Sachbuches,36 die unterschiedliche inhaltliche Ebenen verbindet, zusätzlich verstärkt. Böhm kombiniert für seine Annäherung und Auseinandersetzung mit Antarktika, dem südlichsten und größtenteils noch unerforschten Kontinent der Erde, Fotografien, Kartenmaterial, Comicelemente, Infografiken und Illustrationen. Ferner nutzt er Typographie, Seitenlayout und Aufklappseiten, um die unterschiedlichen Themenbereiche, die geographisches, biologisches, politisches und historisches Faktenwissen mit philosophischen Fragestellungen umfassen, zu präsentieren. Neben Entdeckern und Abenteurern nimmt »A wie Antarktis« beispielsweise Barttierchen, Robben, Pinguinarten, (fehlende) Bäume, Vulkane, Schnee, Tro35 Böhm, David: A wie Antarktis. Ansichten vom anderen Ende der Welt. Übersetzt von Lena Dorn. Leipzig: Karl Rauch 2019. 36 David Böhm hat sein Buchprojekt in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstler*innen realisiert.

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Abb. 2: »A wie Antarktis« (2019).

ckenheit, Eis(berge) sowie den Antarktisvertrag in den Blick. Zentral und wiederholt stellt Böhm dabei die Frage nach der Perspektive und dem Weltbild der Leser*innen und fordert so zum genauen Hinsehen und Hinterfragen von Vorstellungen und Einstellungen auf: »Eine Kugel hat keinen Anfang und kein Ende, auch die Erdkugel nicht. Wo fängt also die Welt an, und wo hört sie auf ? Vielleicht ja hier unten … Aber Moment mal! Ist unten wirklich unten? Für wen oder was? Fangen wir lieber alphabetisch an: A wie Antarktis. Die Antarktis ist der fünftgrößte Erdteil und gleichzeitig der einzige, der nie von Menschen bewohnt war. Sie ist kein Staat, aber eine Landfläche – wem gehört sie denn dann? Kann überhaupt jemand einen Erdteil besitzen? Und das Meer und den Himmel? Muss immer alles irgendwem gehören? Bei der Antarktis ist es anders, sie gehört nämlich allen. Sie mag eine Eiswüste sein, aber sie hat unersetzliche Funktionen: Sie beeinflusst zum Beispiel das Wetter auf der ganzen Welt. Sie ist viel mehr als nur ein zugeschneiter Keks unten auf dem Erdball. Unten? Wirklich?«37

Es sind Ausführungen wie diese, die die Leser*innen aktivieren, indem sie zur Perspektivübernahme (im wörtlichen wie übertragenen Sinn) herausfordern und dazu, die Gedanken(spiele) emotional und kognitiv nachzuvollziehen. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur mit Faktenwissen rund um die Antarktis versorgt, 37 Böhm, A wie Antarktis. 2019, S. 6 [Hervorhebung im Original].

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sondern auch dazu angeregt, Handeln und Einstellungen zu identifizieren und zu hinterfragen, die der Antarktis und letztlich auch dem Planeten schaden. Auch hier ist ein Umdenken das Ziel. Allerdings wird dieses über die Thematisierung von Perspektive auf der Metaebene realisiert und nicht über Belehrungen. Empowerment der Leser*innen erfolgt hier gewissermaßen eigenverantwortlich und nicht aufoktroyiert. In einem Interview erklärt Böhm diesen Ansatz und die Thematisierung von Perspektive, die als zweite Ebene des Buches fungiert, folgendermaßen: »I didn’t just want to make a book with information about Antarctica, it would be such an illustrated wikipedia. So the second layer of the whole book is just that it always depends from where we are looking. And how we look. […] There are not many places in the world that have not yet been discovered, but I see it as a challenge to discover a new perspective on how to look at the earth. To change the view and approach to the Earth is, in the end, the instinct of self-preservation, we have nothing much left …«38

Der Wechsel der Perspektive ist somit der Weg zur Rettung der Erde – und dieses Sachbuch eine Anstiftung zum Perspektivwechsel, zur Offenheit gegenüber neuen und anderen Blickwinkeln. Ein Weg dies sinnstiftend anzubahnen, führt auch in »A wie Antarktis« über die emotionale Involvierung der Leser*innen. Wie in »Paulas Reise« finden sich auch in diesem Sachbuch mitunter persönliche Schilderungen und subjektive Eindrücke, die mit einem Reisebericht verknüpft sind und narrative Techniken wie Emotionsberichte, Bewusstseinsdarstellung und dialogische Darstellungen nutzen. 2017 ist Böhm gemeinsam mit seinen beiden Söhnen in die Antarktis gereist; ihre Schilderungen, Reisetagebücher, Fotografien39 und sogar die leidvolle Erfahrung der Seekrankheit40 sind in das Sachbuch eingeflochten und untrennbar mit den faktenbasierten Informationstexten verwoben. Auch Klimawandel und Umweltverschmutzung werden explizit thematisiert41 und die Rolle des Menschen unmissverständlich visualisiert, wenn etwa unter der Überschrift »Berührung mit dem Menschen« die schwarze Silhouette eines Menschen mit Konsumgütern bzw. Abfallprodukten wie etwa Batterien, Baumwollshirt, Tetrapak, Bananenschale, Lederschuh, Aludose ›gefüllt‹ und ihre jeweilige Halbwertszeit daneben notiert wird (vgl. Abb. 3). Wer dieser Grafik die Information entnimmt, dass ein »Kaffeebecher 50–100 Jahre«, »Einwegwindeln 38 Zöhrer, Marlene: Interview mit David Böhm. (letzter Zugriff: 08. 05. 2021). 39 Vgl. Böhm, A wie Antarktis. 2019, S. 64f.: Die Doppelseite ist als altes Journal/Mitteilungsblatt mit Tage/Logbucheinträgen, Skizzen und Fotografien gestaltet. 40 Die Seekrankheit wird als düsterer, textfreier Comic inszeniert (vgl. ebd., S. 36–39; vgl. auch Abb. 2). 41 Vgl. z. B. Böhm, A wie Antarktis. 2019, S. 70f.

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Abb. 3: »A wie Antarktis« (2019).

250 Jahre«, eine »Angelschnur 600 Jahre« und ein »Plastikkanister 800–∞ Jahre«42 überdauert, kann die Ausführungen auf der gegenüberliegenden Buchseite zweifelsohne nachvollziehen, die davon berichten, wie wichtig es ist, die Antarktis vor menschlichen Eingriffen zu schützen, und dass Plastikmüll ein globales Problem darstellt. Bezeichnend für den Ansatz des Buches ist dabei, dass neben zwei Textblöcken, die die Problematik beschreiben, unter der Überschrift »Was tun?« ein dritter Block mögliche Lösungsansätze aufgreift. Und auch hier zeigt sich, dass sich ein Perspektivwechsel lohnt, etwa wenn Müll als Rohstoff begriffen wird: »Kann Müll auch ein Rohstoff sein? Das holländische Paar Edwin und Liesbeth ter Velde begann, anders über Plastikmüll nachzudenken. Welches Potenzial darin steckt, das wird sich erst noch zeigen. Aber weil es auf der Welt ungefähr 8 Milliarden Tonnen Plastik gibt, von denen 7 Milliarden Müll sind, klingt es nach einer guten Idee.«43

Der ökologischen Sachliteratur für Kinder und Jugendliche eröffnet der Ansatz, der in »A wie Antarktis« verfolgt wird und der sich auf das innovative Potenzial der Buchgattung stützt sowie die Gestaltungsfreiheit nutzt, die das Sachbuch im Hinblick auf textliche und visuelle Erzählstrategien bietet, neue Perspektiven.

42 Ebd., S. 71. 43 Ebd., S. 70.

Jeannette van Laak

Zwischen Tradition und Moderne – Die Kinderbuchillustrationen Lea Grundigs in den 1940er und 1950er Jahren

1.

Einleitung

Wie nebenbei erwähnt Lea Grundig in ihrer Autobiographie »Gesichte und Geschichte«, dass sie in Palästina Kinderbücher illustriert hat. Dies beschreibt sie mit wenigen Sätzen: »Ich fand Arbeit als Buchillustratorin. Das erste Buch waren gute Gedichte für Kinder, es war echte Poesie, und ich machte mit großer Sorgfalt dazu Zeichnungen. Dann kamen andere Aufträge. Niemals hätte ich gedacht, daß ich zu dieser Arbeit befähigt wäre, aber es erwies sich, daß ich es konnte und selbst große Freude daran hatte.«1

Der Leser erfährt also, dass sie Kinderbücher illustrierte, hierbei sehr gewissenhaft war, dass sie Selbstzweifel ob der eigenen Fähigkeiten gehabt hätte und dass ihr diese Arbeit schließlich doch »große Freude« bereitet habe. Gern hätte man noch mehr hierüber erfahren, etwa darüber, welche Bücher sie illustrierte und mit welchen Autoren sie zusammenarbeitete. Ob es sich tatsächlich um eine Zusammenarbeit oder eher um Zuarbeiten handelte und an welchen Vorbildern sie sich dabei orientierte. All das erfährt man jedoch nicht, vielmehr scheint es, als hätten Ausführungen hierüber damals nicht in die Gesamterzählung der Autobiographie gepasst. Maria Heiner, eine langjährige Vertraute der Künstlerin, hat es sich zur Aufgabe gemacht, nach den von Grundig in Palästina illustrierten Büchern zu fahnden und dabei mittlerweile etwas mehr als 20 Bücher der in Dresden geborenen Künstlerin zusammengetragen.2 Nach ihrer Rückkehr nach Dresden hat Grundig ebenfalls hin und wieder Kinderbücher illustriert, unter anderem die »Märchen der Gebrüder Grimm«, die der Kinderbuchverlag der DDR in drei Bänden 1953/54 herausgab. Einige dieser Bücher und ihrer Zeichnungen gilt es im Folgenden unter der Frage vorzustellen, inwieweit sich diese in den 1940er und 1950er Jahren entstandenen Zeichnungen zwischen Tradition 1 Grundig, Lea: Gesichte und Geschichte. 4. Aufl. Berlin: Dietz 1961, S. 235. 2 Heiner, Maria: Lea Grundig. Kunst für die Menschen. 2. Aufl. Leipzig: Hentrich & Hentrich 2019, S. 61ff.

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und Moderne bzw. zwischen Kunst und Pädagogik bewegen. Was ist an ihnen eher konventionell und was modern? Außerdem bleibt zu überlegen, ob der aufgezeigten Dualität – zwischen Kunst und Pädagogik – nicht ein weiterer Begriff hinzugefügt werden müsste, nämlich der der Aufklärung? Doch zuvor gilt es, die Künstlerin vorstellen.

2.

Zur Biographie

Lea Grundig wurde 1906 als Lina Langer in eine jüdisch-orthodoxe Familie in Dresden geboren. Hier hatte sich ihre Familie um die Jahrhundertwende, aus Galizien kommend, niedergelassen. Der Vater Moses Langer war österreichischungarischer Staatsangehöriger und zog als Soldat für Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg. Vor und nach dem Krieg betrieb Langer als Kaufmann ein Möbel- und Bekleidungsgeschäft für die jüdische Kundschaft in Dresden. Die Geschäfte waren gerade in der Nachkriegszeit erfolgreich und der Vater ein gern gesehenes Mitglied der Jüdischen Gemeinde. Seinen Töchtern ließ er eine musikalische Grundausbildung zuteilwerden, wie das in den bürgerlichen Kreisen damals üblich war, zugleich legte er großen Wert darauf, die jüdische Tradition und Religion an die Töchter weiterzugeben. Inwieweit er davon überzeugt war, dass Frauen berufstätig sein sollten, muss dahingestellt bleiben.3 Folgt man Grundigs Autobiographie, so hätte er immerhin erwogen, dass seine jüngste Tochter eine kaufmännische Ausbildung absolvieren sollte. Sie hingegen ertrotzte sich den Besuch der Dresdner Kunstgewerbeschule. Hier erhielt sie eine grundständige Ausbildung in allen Bereichen der Malerei und lernte ihr künstlerisches Handwerk.4 Fast alle in Dresden lebenden Künstler besuchten die Kunstgewerbeschule, deren Ruf weit über die Stadt und sächsischen Landesgrenzen hinausreichte.5 Grundigs Aufnahme an die Dresdner Kunstakademie gestaltete sich etwas schwieriger, weil die junge Frau zunächst Vorbehalte gegen die akademische Ausbildung in der Malerei hegte. Nach einem kurzen Intermezzo in Edmund Kestlings Kunstschule »Der Weg – Schule für Gestaltung« wurde sie in die Meisterklasse von Otto Gussmann aufgenommen, der zum damaligen Zeitpunkt vor allem Ornamentik unterrichtete. Nicht auszuschließen

3 Vgl. Kaplan, Marion A.: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich. Hamburg: Delling und Galitz 1997. 4 Grundig, Gesichte. 1961; Heiner, Lea Grundig. 2019. 5 Vgl. Gambke, Petra Klara: Tradition als Innovation? Dresdner Reformkunst am Beginn der Moderne. München: Dt. Kunstverlag 2005.

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ist, dass Gussmann ein liberaler Geist war und seinen Studenten den Freiraum gewährte, den sie brauchten.6 Mit dem Begriff des Freiraums ist ein weiterer Aspekt in Grundigs Leben angesprochen. In ihrer Autobiographie stilisiert sich die Künstlerin als Rebellin, die gegen jegliche zu erstarren drohenden Strukturen aufbegehrte. Hierzu gehörte etwa in ihrer Jugend die Enge des orthodoxen Judentums, wie es ihr Vater zu jener Zeit zu pflegen schien. Dieser hatte schon die erste Tochter erfolgreich mit einem gläubigen Juden verheiratet und plante das nun auch für seine jüngste Tochter. Erste Versuche, sich von den Ansichten und Vorstellung der Eltern zu lösen, hatte Lea bereits als 13- oder 14-Jährige unternommen, als sie sich dem jüdischen Wandervogel »Blau-Weiss« anschloss und eine Alija nach Palästina erwog. Schon damit hatte sie den Vater provoziert.7 Nach der Selbstauflösung des »Blau-Weiss« 1926 wandte sich Lea mit anderen Gleichgesinnten der kommunistischen Idee zu, was den Konflikt mit den Eltern kaum milderte. Dieser spitzte sich zu, als sich die Tochter in den deutschen, mittellosen Kunststudenten Hans Grundig verliebte. Und der Name verrät es: Auch in diesem Fall setzte sich Lea gegen den Vater durch und heiratete Hans 1928. Die 1930er Jahre waren von der gemeinsamen Arbeit als Künstlerpaar in Dresden geprägt. Erst engagierte sich das Paar in der ASSO, der Assoziation revolutionärer bildender Künstler,8 bald rückte der Kampf gegen die Nationalsozialisten in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen und politischen Arbeit. Diese Auseinandersetzung konnte das Paar nicht für sich entscheiden, vielmehr wurde es zu Pfingsten 1938 zusammen mit knapp zwanzig weiteren Personen unter dem Verdacht des Hochverrats festgenommen. Unter den Inhaftierten befand sich auch Leas Vater, der zwar bald freigelassen, dann aber bei den Novemberpogromen des Jahres 1938 erneut verfolgt wurde.9 Auch ein Großteil der anderen Häftlinge wurde bald entlassen, Lea jedoch verblieb als Jüdin und als Kommunistin knapp achtzehn Monate in Haft. Erst zu dieser Zeit begannen die Grundigs ernsthaft über eine Emigration nachzudenken – Leas Schwester war schon 1934 nach Palästina gegangen, Moses Langer brach im März 1939 mit seiner Frau auf –; sie erwogen anfangs die Schweiz, dann England und die USA.10 Diese Pläne zerschlugen sich allerdings.

6 Grundig, Gesichte. 1961; Grundig, Hans: Zwischen Karneval und Aschermittwoch. Berlin: Dietz 1958. 7 Hierzu und im Folgenden Grundig, Gesichte. 1961; Heiner, Lea Grundig. 2019. 8 Wagner, Mathias: Kunst als Waffe. Die »ASSO« in Dresden (1930 bis 1933). In: Neue Sachlichkeit in Dresden. Hrsg. von Birgit Dalbajewa. Dresden: Sandstein 2011, S. 130–135. 9 Brüne, Gerd: Von Dresden nach Tel Aviv. Zu Themen und Motiven in den Werken der 1930er und 1940er Jahre. In: Lea Grundig. Jüdin – Kommunistin – Graphikerin. Ausstellung Ladengalerie Berlin 1996, S. 16–55, hier: S. 38. 10 Vgl. Grundig, Hans: Briefe an Lea Grundig ins Gefängnis, 1938/1939. Yad Vashem, Jerusalem, Inv.-Nr.: 0.75/200.

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Schließlich wurde Lea im Januar 1940 aus Deutschland ausgewiesen und reiste über Wien und Bratislava nach Haifa.

3.

Zu den Kinder- und Jugendbüchern in Palästina

In ihrer Autobiographie beschreibt Lea Grundig wiederholt, dass die aus Europa kommenden jüdischen Immigrantinnen und Immigranten nicht selten ihren Beruf wechselten. Sie erklärte es sich damit, dass viele es nun wagten, in der Fremde unkonventionelle Wege oder neue Pfade zu beschreiten, das heißt etwas zu tun, was man sich bislang versagt hatte.11 Die Studien zur Exilforschung und zum jüdischen Leben in Palästina haben außerdem gezeigt, dass es viele der in Europa bekannten Berufe in Palästina entweder nicht gab, oder man ihrer dort nicht bedurfte.12 Auch das erklärt, warum viele Immigranten sich beruflich veränderten. Für Lea Grundig bestanden die neue Wege in Palästina darin, dass sie sich als Künstlerin einen Namen machte, die das Leben von Flüchtlingen künstlerisch ins Bild setzte. Da die Mitglieder des Jischuw, der in Palästina lebenden jüdischen Gesellschaft, darum bemüht waren, die Immigranten rasch in den Alltag einzubinden, erhielt sie zum einen die Möglichkeit, ihre Zeichnungen auszustellen, zum anderen wurde sie alsbald als Illustratorin angefragt. In den acht Jahren in Palästina illustrierte sie etwa zwanzig in hebräischer Sprache erscheinende Kinder- und Jugendbücher. Hierbei handelte es sich vorrangig um Märchen, Gedichte, Almanache und Jugendbücher. Diese Bücher zeigen, wie vielfältig die hebräische Kinder- und Jugendliteratur in den Jahren bis zur Staatsgründung Israels aufgestellt war. Auf Grundigs Illustrationen bezogen, lässt sich bislang Folgendes festhalten: Während sie die Illustrationen für Märchen, Gedichte und für den Almanach in aller Regel farbig gestaltete, beschränkte sie sich bei den Jugendbüchern, die sich mit den Folgen der NS-Verfolgung und des Holocaust auseinandersetzen, auf das Farbspektrum der Tuschzeichnung. Gerade diese Bücher können als »All-Age-Bücher« bezeichnet werden, denn sie thematisieren Erfahrungen, die sowohl Jugendliche als auch Erwachsene gemacht hatten. Beispielhaft sei auf die »Erfahrungen des jungen illegalen Einwanderers« verwiesen, auf hebräisch »Korot ma’ apil tsair«, der allein in ein neues Land kommt und sich zurechtzufinden versucht. Grundigs Bilder erzählen von der Reise des jungen Mannes und von seiner Ankunft in Palästina. Diese versteht man auch ohne den hebräischen Text. So erzählen die Zeichnungen von einer bewegten Reise auf einem Flüchtlingsschiff. Metaphorisch und reich an 11 Grundig, Gesichte. 1961, S. 224. 12 Schlör, Joachim: Tel Aviv. Vom Traum zur Stadt. Reise durch Kultur und Geschichte. Geringen: Bleicher 1996, S. 265.

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Bezügen zur jüdischen Religion zeichnet Grundig mit wenigen Strichen den Land verkündenden Vogel. Sie zeichnet den Alltag auf dem ausgemusterten Flüchtlingsschiff, verweist auf den auf wenige Habseligkeiten geschrumpften Besitz, der in einen Rucksack zu passen scheint, zeichnet die neuen Bewacher und die das Lager umgebenden Wachtürme und dokumentiert ferner die Begegnungen am Lagerzaun und wie man sich Rat suchend an die Alten wandte und damit Tradition und Herkunft befragte.13 Damit erzählen die Zeichnungen eine eigene Geschichte. In der Kunstgeschichte besteht Einigkeit darüber, dass, wenn die Illustrationen dieses vermögen, sie als ästhetisch gelungen gelten.

Abb. 1: Lea Grundig: Begegnung am Lagerzaun, In: Khabas, Bracha: Korot ma’ apil tsair. Tel Aviv: Am Oved 1942. (Privatarchiv Sammlung Maria Heiner).

Befragt man nun diese Bilder auf das Kriterium der Modernität, muss geklärt werden, was unter Modernität begriffen wird. In diesem Zusammenhang wird er nicht auf die Diskurse der »Moderne« im herkömmlichen Sinne angewendet, 13 Khabas, Bracha: Korot ma’ apil tsair. Tel Aviv: Am Oved 1942.

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sondern im Hinblick darauf, was neu und anders war. In diesem Sinne gewendet bleibt Folgendes zu konstatieren: In der hier skizzierten Erfahrungswelt von Menschen, die in einer Person Emigranten und Immigranten waren, befanden sich damals nicht nur jugendliche Einwanderer, sondern auch unzählige Erwachsene, als sie aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in Palästina ankamen. Hinter ihnen lagen zahlreiche Verluste und vor ihnen eine Zeit der Neuorientierung in geographischer und klimatischer Hinsicht sowie in vielen Alltagsbereichen. Neu bzw. modern ist ebenfalls, dass die für die Jugendlichen aufbereiteten literarischen Stoffe nun auch die Erfahrungswelt der Erwachsene widerspiegelte, die sich auf diese Weise mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit auseinandersetzen konnten. In den 1920er und 1930er Jahren waren Themen und Stoffe der Erwachsenen kinder- bzw. jugendgerecht aufbereitet worden.14 Da in den 1930er Jahren nun Kinder und Jugendliche in gleichem Maße wie ihre Eltern oder wie ihre erwachsenen Verwandten – sofern sie sie begleiten konnten – durch die nationalsozialistische Verfolgungspolitik zu Emigranten und Immigranten wurden, nahm man auch sie fortan als Akteure wahr und begann man, ihre alltäglichen Erfahrungen im Prozess der Migration in Jugendbüchern zu thematisieren. Damit liegt in diesem Fall eine neues Thema in der Jugendliteratur vor: die Zwangsmigration von Kindern und Jugendlichen, das von Bracha Khabas gesetzt wurde. Die künstlerische Gestaltung der Illustrationen zu Khabas’ »Korot ma’ apil tsair« durch Grundig sind als »klassisch« zu bezeichnen: Es handelt sich um Zeichnungen mit Tusche und Feder, die in ihrer technischen Ausführung den früher üblichen Kupferstichen ähneln. Das gilt auch für die Zeichnungen, mit denen die Künstlerin ein ganz eigenes Anliegen verfolgt. Zwar wird erst der Textvergleich zeigen, ob die nationalsozialistische Verfolgungspraxis tatsächlich thematisiert wurde, auffällig ist aber, dass sie hier gezeigt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass die Künstlerin die Zeichnungen von entlassenen KZHäftlinge aus Dachau aus eigenem Ermessen mit eingegliedert hat. Auf dem Schiff, mit dem die Künstlerin nach Palästina gekommen war, hatten sich knapp 300 entlassene Insassen des Lagers Dachaus befunden. Grundig war es nach ihrer eigenen Verfolgungserfahrung und nach dem Anblick der ehemaligen Lagerinsassen ein wichtiges Anliegen, die Mitglieder des Jischuws über das Schicksal der Juden in Deutschland und über die Verfolgungspolitik der Nazis aufzuklären und für diese Erfahrungswelt zu sensibilisieren. Deshalb hat sie drei solcher

14 Völpel, Annegret: Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945. In: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Reiner Wild und Otto Brunken. 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Metzler 2008, S. 260–275, hier: S. 264.

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Zeichnungen in die »Geschichte des jungen illegalen Einwanderers« eingefügt. Auch hierbei handelte es sich um ein neues Thema im Bereich der Illustration.15 Farbige Zeichnungen zu Märchen, Gedichten und zu Almanachen bildeten quantitativ den Schwerpunkt ihrer Arbeit als Illustratorin. Dabei changierte sie zwischen Anleihen an mittlerweile bekannte Märchenzeichnungen und künstlerisch neuen Ansätzen. Die Illustrationen von Märchen haben sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts grundsätzlich verändert; manche sprechen von einer Weiterentwicklung und/oder Modernisierung. So begannen die Illustratoren, eine größere Sorgfalt auf eine detailgetreue Darstellung der Landschaft und Natur in den Märchen zu legen. Außerdem erlaubten sie es sich, die eine oder andere Märchenfigur zu karikieren und damit eigene Interpretationen vorzunehmen. Diese Entwicklung konnte sich auch auf Märchenmotive beziehen. Nicht zuletzt spiegelten die Illustrationen die zeittypischen künstlerischen Stilrichtungen.16 Obwohl sich die jüdische Kinderbuch-Branche zunächst langsam entwickelte, vor allem was Zeichnungen für Märchen anbetraf, machten diese Entwicklungen vor ihr nicht halt. Da im jüdischen Palästina ein jüdischer literarischer Kanon mit einem nationalstaatlichen Charakter in dieser Zeit fehlte, übersetzten vor allem die aus Osteuropa kommenden Autoren seit den 1930er Jahren ihre Werke oder ihre Bearbeitungen von Märchen und Volkssagen ins Hebräische.17 Anfang der 1940er Jahre erhielt diese Entwicklung einen weiteren Schub, denn nun suchte man verstärkt auch nach Illustratorinnen und Illustratoren, um die Werke im Sinne der Adressaten aufzubereiten und die Lektüre zu vereinfachen. Grundig selbst changierte hier zwischen den Rückgriffen auf traditionelle Bilderwelten und dem Experimentieren mit neuen Formen und Darstellungsweisen. Zu ersteren gehört zum Beispiel das Märchen von der »Goldenen Fliege« von Korney I. Chukovsky, das ins Hebräische übersetzt wurde. Hier griff sie auf eher konventionelle Vorstellungen des Märchenhaften zurück, wenn sie die Märchenfiguren personifizierte und typisierte. So wird die Fliege als junge Frau und Braut, die Mücke als junger Mann bzw. Bräutigam dargestellt. Der Moment des Neuen oder Ungewohnten mag wohl in der Kontextualisierung des Märchens in den jüdischen Traditionsraum liegen, wie der Hochzeitsbaldachin zeigt.18 Ein weiteres neues Moment besteht darin, dass sie die Geschichte meist so zeichnete, dass die Re15 Khabas, Korot ma’ apil tsair. 1942. 16 Bode, Andreas: Märchenillustrationen im Wandel der Zeiten. In: Faszinierende Märchenwelt. Das Märchen in Illustration, Theater und Film. Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e. V. 39. Hrsg. von Kurt Franz. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2011, S. 37–98. 17 Vgl. Steffi, Na’ama: Vom Deutschen ins Hebräische. Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882–1948, Göttingen: V & R 2011. 18 Chukovsky, Korney I.: Zvuva zehuba [Die goldene Fliege]. Tel Aviv: Mesada 1944.

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zipienten nicht vollumfänglich sprachmächtig sein müssen. Das war zur damaligen Zeit innerhalb des Jischuws ohnehin kaum gegeben. Zwar hatte man sich im Jischuw auf Hebräisch als Nationalsprache geeinigt, aber vielen Immigranten gelang es nicht, diese zu erlernen und verhandlungssicher anzuwenden.

Abbildung 2: Lea Grundig: Hochzeit der goldenen Fliege, In: Chukovsky, Korney I.: Zvuva zehuba [Die goldene Fliege]. Tel Aviv: Mesada 1944. (Privatarchiv Sammlung Maria Heiner).

In den Zeichnungen für den 1946 herausgegebenen Almanach »Ha Keschet. Shnaton liyladim« (dt. »Der Regenbogen – Kinderjahrbuch«) experimentierte Grundig und probierte neue Darstellungsweisen aus.19 Auf den von ihr gestalteten Kalenderblättern, die in die jüdische Religion und die aktuelle Lebensweise einführen, sieht man zweidimensionale und somit flächige Kinderfiguren mit teils einfachen, teils rundlichen Körperzeichnungen, die sich sowohl an kindliche Fähigkeiten und Fertigkeiten anlehnen als auch sie abbilden. Auf Charaktere oder andere Typisierungen wird bewusst verzichtet; zugleich sind Verantwortung übernehmende Figuren wie der Rabbi, der Soldat oder der Bootsführer eindeutig erkennbar. Gerade in diesen Figuren verbindet Grundig Tradition und Gegenwart miteinander, etwa wenn der Soldat am Shabatt in Uniform teilnimmt. Neben 19 Hierzu und im Folgenden Avital, L. [Kipnis, Levin]/Melamed, Naftali: Keshet. Shnaton leyeladim [Regenbogen. Almanach für Kinder]. Tel Aviv: Mesada 1946.

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der flächigen Darstellung der Figuren fällt auf, dass sie eher androgyn wirken. Vielleicht wollte sie somit auf die Idee des »neuen Menschen« hinweisen, ein Leitbild, das innerhalb des Jischuws damals ebenfalls diskutiert wurde. Insgesamt besticht die Nähe zu Tom Seidemanns-Freuds Zeichnungen aus den 1920er Jahren.20 Zusätzliche Komplexität wird durch die Einbeziehung jüdischer Symbole und andere Bildmetaphern aus dem Jahreskreis, wie den Tierkreiszeichen, erreicht.

Abbildung 3: Lea Grundig, Shabat, in: Avital, L. [Kipnis, Levin]/Melamed, Naftali: Keshet. Shnaton leyeladim [Regenbogen. Almanach für Kinder]. Tel Aviv: Mesada 1946. (Privatarchiv Sammlung Maria Heiner).

Die vielleicht modernste Illustration ist die des lesenden Mädchens in »Otyiot mesaprot« (dt. »Buchstaben erzählen/berichten«). Hierbei handelt es sich um ein Geschichtenbuch durch das hebräische Aleph Beth. Die Geschichten verfasste Rose Wuhl, damals eine enge Freundin Grundigs, in englischer Sprache, 1948 wurden sie dann ins Hebräische übersetzt. Zeitgleich fertigte Grundig verschiedene Zeichnungen an. Das genannte Bild zeigt ein junges Mädchen, das durch ein 20 Seidemann-Freud, Tom: Die Fischreise. Berlin: Peregrin 1923.

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Abbildung 4: Lea Grundig, Lesendes Mädchen, In: Wool, Roza: Otiyot mesaprot [Buchstaben erzählen]. Tel Aviv: Dvir 1947. (Privatarchiv Sammlung Maria Heiner).

Buch blättert; damit beginnt das Buch in der Gegenwart des Jahres 1947. Die Figur lässt auf ein Alter von etwa acht bis neun Jahre schließen. Während das Mädchen durch das Buch blättert, sind einige der Inhalte, meist in Form von hebräischen Buchstaben, im Hintergrund sichtbar. Besonders deutlich ist das »Sch« mit einem Strahlenkranz erkennbar, das für das Wort »Sonne« steht,.21 Zum einen gibt es eine ganzseitige Abbildung für eine längere Geschichte, zum anderen wird lediglich der Buchstabe eingeführt. Als eine klassische LeseSchreib-Fibel kann man dieses Buch nicht bezeichnen, wenngleich den hebräischen Worten die Vokalzeichen hinzugefügt wurden, um wichtige Worte schnell erlernen zu können. Es ist anzunehmen, dass das Buch den Immigranten die Orientierung sowohl innerhalb der eigenen Traditionen als auch innerhalb des Aleph Beths erleichtern sollte. Damit richtete es sich an Kinder und an erwachsene Immigranten, die sich auf tradierte jüdische Geschichten zurückbesinnen

21 Wool, Roza: Otiyot mesaprot [Buchstaben erzählen]. Tel Aviv: Dvir 1947.

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wollten und sollten.22 Bei diesem Buch handelt es sich um Lea Grundigs letzte Arbeit als Illustratorin in Palästina. Mit dem Geld, das sie damit verdiente, organisierte sie ihre Rückreise nach Europa.

4.

Illustratorin in der SBZ

Für deutsch-jüdische Kommunisten, die im westlichen Exil überlebt hatten, gestaltete sich die Ankunft in der sowjetischen Besatzungszone nicht einfach. Während sie sich wie selbstverständlich als Kommunisten verstanden, begegneten ihnen die deutschen Kommunisten aus dem sowjetischen Exil mit großen Vorbehalten. Dies fand seinen Ausdruck darin, dass sie sich ab 1950 immer wieder vor den Parteikontrollkommissionen erklären mussten und unter fadenscheinigen Vorwürfen von ihren Ämtern enthoben und mit Parteiausschluss belegt wurden.23 Auch Lea Grundig war solchen Anfechtungen ausgesetzt. So wurde ihr vorgeworfen, dass ihre in Palästina entstandenen Bilder formalistische Elemente enthielten.24 Bilder, die man auf diese Weise in Misskredit brachte, wurden kaum mehr ausgestellt. Zudem kauften die Parteiorganisationen ihre Bilder nur sehr selten, was damals in der SBZ/DDR nicht üblich war.25 Überdies erhielt die Künstlerin keine Aufträge, öffentliche Propaganda-Bildflächen zu gestalten. Um sich abzulenken und die eigenen Fähigkeiten und die eigene Produktivität nicht zu gefährden, besann sie sich auf das, was sie konnte und ihr schon einmal, nach der Ankunft in Palästina, geholfen hatte. So kam es, dass sie sich 1951/52 bereit erklärte, die »Märchen der Gebrüder Grimm« für den Kinderbuchverlag der DDR zu illustrieren.26 Sie wusste aus ihrer Zeit in Palästina und durch ihre Arbeit innerhalb des Jischuws, dass dies für die junge DDR ein wichtiger Meilenstein in der Vergegenwärtigung der eigenen Herkunft und der Traditionslinien bedeutete. Künstlerisch und stilistisch betrat sie dabei auf den ersten Blick kein Neuland. Sie hatte die Grimmschen Märchen ebenso traditio22 Heiner, Lea Grundig. 2019; Laak, Jeannette van: Aufbruch ins Morgen. Zum Werk Lea Grundigs in Palästina. In: Zeitschrift für Museum und Bildung. Hrsg. vom Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche Forschung e. V. an der Universität Potsdam. Reckahn 2019, S. 102–114. 23 Vgl. Hartewig, Karin: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR. Köln u. a.: Böhlau 2000; Danzer, Doris: Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutschsprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960) Göttingen: V & R unipress 2012. 24 Vgl. Orlow, N.: Wege und Irrige der modernen Kunst. In: Tägliche Rundschau vom 21. 01. 1951, Teil 1, S. 4; sowie vom 23. 01. 1951, Teil 2, S. 4. 25 AAdK, Grundig, AR: V/ 2.20–22, Brief von Lea Grundig an Genosse Wandel, undatiert, unpag. 26 Archiv der HfBK, Signatur 07.03.04, Verlagsvertrag zwischen Kinderbuchverlag Berlin und Lea Grundig vom 25. 03. 1952.

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nell oder traditionsbewusst illustriert wie seinerzeit in Palästina, wenngleich sie auch in Deutschland den jeweiligen Kulturraum berücksichtigte.27 Auffällig ist jedoch, dass sie ihre Zurückhaltung, bezogen auf die Charakterisierungen und Typisierungen, die sie bei den hebräischen Märchen an den Tag gelegt hatte, in den Grimmschen Märchen aufgab. Neben Hexen und Stiefschwestern wurden auch Könige und Königinnen als arrogant, herablassend, hinterhältig und im Ganzen als unsympathisch dargestellt. Eine solche Typisierung könnte auf das unterschiedliche Personal in deutschen und jüdischen Märchen zurückgeführt werden. So wurde in der Literaturwissenschaft darauf aufmerksam gemacht, dass deutsche Märchen eher auf der Ebene von Despoten und Despotinnen, Prinzen und Prinzessinnen und ihrem Gefolge erzählt und dadurch die »große unterdrückte Mehrheit der Bevölkerung ein zusätzliches Mal verächtlich« gemacht würde.28 Bei den jüdischen Märchen ist das anders: Hier überwiegen Märchenfiguren aus allen Bevölkerungskreisen und Propheten als handelnde Akteure, die eher nach Erkenntnis und Erleuchtung streben. Grundig hat der Tendenz der Herabsetzung mit einem Großteil ihrer Illustrationen zweifelsohne entgegengewirkt und deutlich gemacht, auf wessen Seite sie steht, nämlich auf der der unterdrückten Mehrheit bzw. des einfachen Volkes. Die Illustrationen lassen keinen Zweifel daran, wer zu den »Guten« und wer zu den »Bösen« gehört, so dass sie eine Orientierung im Wertekanon des »neuen Menschen« ermöglichten. Vielleicht hat sie damit indirekt auf die jüdische Märchentradition mit ihrem bodenständigen Personal Bezug genommen, vielleicht trafen sich hierbei zufällig jüdische und kommunistische Vorstellungen vom Märchenpersonal und dessen Darstellung. Dass sie als Überlebende der Shoa die »Märchen der Gebrüder Grimm« für den Kinderbuchverlag der DDR und somit für einen Nachfolgestaat des Dritten Reiches überhaupt illustriert hat, hat sie vermutlich als eine Form der Wiedergutmachung verstanden. Hatte Grundig in Palästina mit vielen bedeutenden Kinderbuchautoren der Zeit zusammengearbeitet, so zeigte sich in den 1950er und 1960er Jahren bald, dass ihre Illustrationen technisch zwar nicht zu beanstanden waren, aber andere Künstler und Illustratoren frischer und moderner sowohl Märchen- als auch Kinderbücher illustrierten. Die Kontextualisierung der Grimmschen Märchen in die verschiedenen deutschen Zeitepochen sollte 27 Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Illustrationen von Prof. Lea Grundig. Pösneck: Kinderbuchverlag 1953. 28 Pirschel, Reinhard: Wer will schon gerne Goliath sein? Jüdische Märchen als Kinderliteratur in Deutschland bis 1938. In: Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher. Hrsg. von Helge-Ulrike Hyams. Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1998, S. 193–204, hier: S. 203; Laak, Jeannette van: Liebeserklärung und Volkserziehung. Lea Grundigs Kinderbücher. In: Jüdische Geschichte & Kultur. Magazin des Dubnow-Institutes. Hrsg. von Yfaat Weiss, 05/2021, Thema: Exlibris, S. 26–30.

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Abbildung 5: Lea Grundig, Zeichnung zu Aschenputtel, In: Die Kinder- und Hauskräche der Brüder Grimm, 1. Aufl., Pösneck 1953, S. 113–119, hier S. 114.

eigentlich auf die Überwindung des Gestrigen abzielen. Da es jedoch ein wenig aufgesetzt wirkte, war es in seiner Wirkung möglicherweise kontraproduktiv. Denn ein anderes wichtiges Merkmal von Märchen wurde damit negiert, nämlich das der Zeitlosigkeit der Märchenhandlung, was jedem Leser und jeder Leserin das Eintauchen in die Märchenwelt ermöglicht.

5.

Zwischen Kunst und Pädagogik – das Prinzip Aufklärung

Das Angebot, Illustrationen für Kinder- und Jugendbücher anzufertigen, hatte Lea Grundig nach ihrer Ankunft in Palästina erhalten. An der Dresdner Kunstgewerbeschule, an der sie zweifelsohne berufsorientiert unterrichtet worden war, wird man diesen Bereich unter dem Aspekt der »Gebrauchsgraphik« zumindest in Grundzügen aufgegriffen haben. Es ist davon auszugehen, dass die Künstlerin wusste, was von ihr erwartet wurde, als sie um Illustrationen gebeten wurde. Und ihre Produktivität zeigt, dass sie sich als Illustratorin in Palästina durchaus einen Namen gemacht hatte. Im Falle der »Geschichte des jungen illegalen Einwanderers« konnte sie außerdem ihre eigenen Erfahrungen einfließen lassen, weshalb die Bilder – unabhängig vom hebräischen Text – eine Geschichte »erzählen«. Die Vielzahl der literarischen Genres verweist auf die Breite der hebräischen

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Kinder- und Jugendliteratur jener Jahre. Grundig zeichnete für zahlreiche damals bedeutenden Autoren wie Bracha Khabas, Levin Knipis, Leah Goldberg, Anda Pinkerfeld-Amir und Anatol Stern. Damit bediente sie zwei miteinander konkurrierende bzw. sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehende Auffassungen innerhalb der hebräischen KJL: diejenige um Khabas und Knipis, die sich als Pädagogen und Erzieher verstanden. Ihnen ging es um das »richtige Verhalten« bzw. um die »richtige Einstellung« und weniger um textliche Kreativität und Vielfalt.29 Dieser Position standen jüngere Autoren wie Goldberg oder Pinkerfeld-Amir gegenüber, die großen Wert auf die literarische Qualität ihrer Texte legten. Diese war ihnen wichtiger als die Indoktrination der Jugend. Als Illustratorin musste Grundig zwar beiden Seiten zuarbeiten, hin und wieder konnte sie aber auch zwischen den Ansichten vermitteln.30 Die Zeichnungen machen zudem deutlich, dass Grundig auch so etwas wie eine eigene Agenda verfolgte. 1945 hatte sie im Dawar einen Aufsatz unter dem Titel »Kunst in Zeiten des Krieges« veröffentlicht. Darin formuliert sie, wenn auch sehr allgemein, ihr Kunstverständnis: »Die besondere Eigenschaft von Kunst ist ihr sozialer Charakter.«31 Kunst habe der Gesellschaft zu dienen und diese in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst zu unterstützen sowie sie inhaltlich und vermutlich auch ideologisch weiterzubringen. Wenn sie nun selbst solche Botschaften transportieren wollte, griff sie in der Regel auf die Grafik zurück, in Palästina war dies die Tuschezeichnung. Darüber hinaus ist ein dritter Begriff zu berücksichtigen, nämlich der der Aufklärung: Grundigs Bilder changieren zwischen diesen drei Polen: Kunst, Pädagogik und Aufklärung, die einander ergänzen. Sicherlich könnte man den Aspekt der Aufklärung sowohl der Kunst als auch der Pädagogik zuschreiben. Er zeigt sich immer dann in ihrem Werk, wenn sie die nationalsozialistische Verfolgungspolitik und deren Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden thematisiert, wie zum Beispiel im Fall der Zeichnungen zur »Geschichte des jungen illegalen Einwanderers«, der sie die Zeichnungen von überlebenden KZ-Häftlingen beifügte. Auch in anderen in Palästina erschienenen Büchern kam sie hierauf zurück, beispielhaft sei auf die Illustrationen von »Kinder im Untergrund« oder »Hinter Ghettomauern« verwiesen.32 Wie wichtig ihr die Aufklärung über den 29 Laak, Aufbruch. 2019, S. 111. 30 Vgl. Darr, Yael: A Confrontation between Two Doctrines. The Birth of Struggle for Hegemony in Hebrew Children’s Literature during the 1930s and 1940s. In: International Research in Children’s Literature 1, No. 2, Dec 2008, S. 139–155. (letzter Zugriff: 09. 09. 2021). 31 Grundig, Lea: Kunst in Zeiten des Krieges. Hrsg. von Thomas Flierl. Berlin: Hans-und-LeaGrundig-Stiftung 2015, S. 12–27, hier: S. 12. 32 Avital, L. [Kipnis, Levin]: Yeladim bamahteret [Regenbogen. Almanach für Kinder]. Tel Aviv: Dvir 1946; Reuven Feldschuh, Beyn homot hageto [Hinter Ghettomauern]. Tel Aviv: Tversky 1947.

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Nationalsozialismus war, kann man daran ablesen, dass sie es auf sich nahm, die Geschichte eines jüdischen Mädchen im Warschauer Ghetto zu illustrieren. Man kann den aufklärenden Impetus aber auch daran erkennen, dass sie einige der Zeichnungen aus »Kinder im Untergrund« auch in DDR-Publikationen veröffentlichte, wenn auch in scheinbar anderen Kontexten.33 Abschließend bleibt zu konstatieren, dass es ihr ein lebenslanges Anliegen war, über den Nationalsozialismus und dessen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik mit den Mittel der Kunst, in ihrem Fall der Grafik, aufzuklären, und zwar nicht nur die Erwachsenen, sondern besonders auch Kinder und Jugendliche. Dabei waren ihre Ansätze in den 1940er Jahren ungewöhnlich, betrat sie dabei doch vor allem thematisches Neuland auf dem Gebiet der Illustrationen für Kinder und Jugendliche.

33 Zenker, Edith: Die vergessenen Schulbücher. Eine Sammlung von Gedichten u. Geschichten aus nicht allzu ferner Vergangenheit. Berlin: Kinderbuchverlag 1960.

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Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien – Aspekte einer Theorie der Störung

Vor einigen Jahren gelang es einem Autor, im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) aufstörend zu wirken. Jaromir Konecny hatte mit seinem Text »Doktorspiele« (2009), der unübersehbar nicht zur Allgemeinliteratur, sondern zur spezifischen KJL gehört, provoziert. Der Text beginnt – vom Autor bewusst kalkuliert – mit einer irritierenden Episode: »Der Schnee lag auf den Schwarzwaldhügeln wie ein großer Doktorkittel. Anfang März und echt höchste Zeit, den Rock auszuziehen. ›Zieh das Höschen aus!‹, sagte Tim. ›Na, gut!‹, sagte Lilli, hob ihren Bauch hoch, als baue sie eine Brücke, und zog sich das Höschen runter. Wir schoben ihre Beine auseinander und guckten uns ihr Ding aus der Nähe an. Sah saukomisch aus!«1

Zweifellos wird hier vor allem der erwachsene (Mit)Leser aufgestört. Doch wer über den Textanfang hinaus kommt und weiterliest, kann schnell erkennen, dass es bei dieser Episode keineswegs um die Darstellung von Gruppensex in der KJL geht, wenngleich der Autor diese Assoziation gezielt anregt. Beim Textanfang handelt es sich um die Erinnerung des männlichen Ich-Erzählers an frühe Kindertage, eben an sogenannte Doktorspiele von Siebenjährigen. Mit Jaromir Konecnys »Doktorspiele«, der letztlich nichts anderes als ein komischer Jugendroman ist, steht die Grundfrage, um die es nachfolgend gehen soll, nämlich die Frage nach Aufstörungen in der KJL. Neben Konecnys »Doktorspiele« finden sich weitere Texte, die nach dem Erscheinen Irritationen auslösten, bisherige Grenzen der KJL anscheinend überschritten. Dazu gehören Texte wie Melvin Burgess »Doing it« (2004), John Greens »Eine wie Alaska« (2007), Andy Behrens’ »Spritztour« (2006/2008), Alina Bronskys »Scherbenpark« (2008), Tobias Elsäßers »Abspringen« (2009), Martina Wildners »Grenzland« (2009), Beate Teresa Hanikas »Rotkäppchen muss weinen« (2009), Janne Tellers »Nichts. Was im

1 Konecny, Jaromir: Doktorspiele. München: cbt 2011, S. 11 [im Folgenden unter der Sigle »DS« mit Seitenangabe im Text].

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Leben wichtig ist« (2000/2010) oder jüngst Ted van Lieshouts »Sehr kleine Liebe« (2014). Der Beitrag wird nachfolgend zunächst Aspekte einer Theorie der Störung diskutieren und ausgehend davon nach Störungen im Handlungs- und Symbolsystem (Kinder- und Jugend-) Literatur fragen.

Aspekte einer Theorie der Störung2 Bei der Erzeugung wie Wahrnehmung von Störungen lassen sich – das zeigen viele Beispiele vor allem im Mediensystem – durchaus gewisse Muster ausmachen. Die über Monate andauernde mediale Skandalisierung, mithin Störung, um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, bis hin zu den wiederum medial in Szene gesetzten staatsanwaltlichen Ermittlungen sind ein inzwischen hinreichend belegtes Exempel, das Schemata einsehbar macht. Es beginnt a) mit der Irritation, der Überraschung, der vermeintlichen Normverletzung bzw. der Grenzüberschreitung, darauf folgen b) Erkennen, Enthüllung und gegebenenfalls Verstärkung, es schließen sich c) Kommunikation, Empörung und Anklage an, auf die d) Begründung, Kommentar, Beichte oder standfestes Beharren folgen können, bevor e) der Konflikt entstört und von der Agenda verdrängt wird, wonach schließlich das Vergessen einsetzt.3 Dabei werden einerseits die Halbwertzeiten für Aufstörungen in der Gegenwart zunehmend geringer – es hängt also von der Intensität der gesamtgesellschaftlichen Erregung 2 Der Beitrag basiert auf einer Reihe von Beiträgen des Verfassers, die in den letzten Jahren im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens an der Universität Gießen entwickelt und publiziert wurden. Für die Argumentation maßgebliche Überlegungen – nicht nur von Niklas Luhmann – werden in diesem Rahmen erneut expliziert. Siehe Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 315–332; Ders.: Störfall im Literatursystem DDR. Werner Bräunigs Roman »Rummelplatz«. In: Der Deutschunterricht 66, 2014, H. 4, S. 46–57; Ders.: Störungen und Entstörungsversuche im Literatursystem DDR. DDR-Schriftstellerverband, »harte Schreibweise« und literarische Vorgriffe. In: DDR-Literatur. Eine Archivexpedition. Hrsg. von Ulrich von Bülow und Sabine Wolf. Berlin: Ch. Links 2014, S. 62–80; Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächter. Berlin u. a.: De Gruyter 2013, S. 31–56; Ders.: Aufstörung und Denormalisierung als Prinzip? Zu aktuellen Entwicklungen zwischen KJL und Allgemeinliteratur. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 13–36. 3 Vgl. Detel, Hanne: Grenzüberschreitung – Enthüllung – Empörung. Der entfesselte Skandal als gesellschaftliches Störphänomen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 374–386.

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ab, ob sich etwas in das kollektive Gedächtnis einschreibt –, andererseits ist in Zeiten des Internets das Vergessen kaum noch möglich. Nun wird man davon ausgehen können, dass Aufstörungen im System Kunst bzw. Literatur schwieriger zu erzeugen sind als im Mediensystem oder in den Systemen Politik und Wirtschaft. Denn anders als etwa in diesen gesellschaftlichen Teilsystemen gehört das Durchspielen von Störungen zu den Regularitäten des Systems Kunst. Als Teilbereich des Systems Kultur handelt es sich beim System Kunst in der Tat um einen jener Dritten Räume (third space) ungebändigter Kommunikation4, in bzw. auf denen es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und der Aushandlung von gesellschaftlichen Toleranzgrenzen kommt. Insofern ist das System Kultur über Grenzen definiert, die »nicht nur Ordnung und Chaos, sondern auch Eigenes und Fremdes, Hier und Dort, befriedete und feindliche Sphären trennen«5. Kulturelle Zwischenräume lassen sich somit auch als Räume der Störung beschreiben. In allen Gesellschaften, so hat bereits der Kulturanthropologe Victor Turner festgestellt, gibt es liminale Bereiche, in denen die Entstrukturierung von Ordnung und das Durchspielen von Störungen in spezifischer Weise geprobt werden.6 In Gestalt von Kunst, Musik und Literatur leisten sich Gesellschaften gewissermaßen mediatisierte Strukturen, deren Störcharakter toleriert, in unterschiedlichem Maße kontrolliert und in differenter Skalierung erwünscht ist. Als kommunikative Konfliktzonen werden kulturelle Zwischenräume wiederum von Akteuren bevölkert, die über medial oder performativ sublimierte Formen des Aufstörens dazu beitragen, den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung voranzutreiben. Handlungsrollen und Kulturpraktiken des Störens machen in diesem Bereich modellhaft wie stellvertretend das Infragestellen und Überschreiten der temporär gesetzten Toleranzgrenzen von Systemen möglich. Mit anderen Worten: Kulturelle Zwischenräume sind der bevorzugte Ort, an dem Störungen offenbar und gegebenenfalls symbolisch ausgehandelt werden. Man kann es auch mit Niklas Luhmann so sagen: Mit Kunst und Literatur schaffen (moderne) Gesellschaftssysteme sich Formen der Autopoiesis, »um sich selbst zu beobachten: in sich selbst gegen sich selbst«7. Literarische Texte praktizieren mithin das »Sichtbarmachen des Unsichtbaren«8 und haben – wie die Kunst insgesamt – die Aufgabe, die »( jeder4 Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. 5 Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs. In: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Hrsg. von Renate Glaser und Matthias Luserke. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 54. 6 Vgl. Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/M. u. a.: Fischer 1982. 7 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2006, S. 127. 8 Ders.: Schriften zur Kunst und Literatur. Hrsg. von Niels Werber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 201.

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mann geläufige) Realität mit einer anderen Version derselben Realität«9 zu konfrontieren. Jürgen Link hat – einen anderen Ansatz entwickelnd – eine Hauptfunktion von Literatur in offenen und geschlossenen Gesellschaften in der »Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen«10 gesehen. Die Tatsache, dass Störungen in der Lage sind, eingeschliffene Denk- und Verhältnisdispositionen aufzubrechen und Neuerungen in Gang zu bringen, unterstreicht einmal mehr, wie fragwürdig es ist, die Kategorie Störung bevorzugt in Verbindung mit Devianz, Dysfunktion, Unfall zu bringen. Neuere epistemologische und semiologische Definitionen verändern bzw. erweitern denn auch diese eingeschränkte Perspektive und untersuchen die Kategorie der Störung in ihrer Eigenschaft als einer Grundvoraussetzung von Kommunikation und als »zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion«11. Ludwig Jäger hat treffend herausgearbeitet, wie durch das permanente Wechselspiel von Störimpuls und transkriptiver Bearbeitung Kommunikationsprozesse angeregt und ihnen eine selbstreflexive Dimension eingezogen wird, also Kommunikation über Kommunikation möglich macht. Nehmen wir als ein einfaches Beispiel folgenden Dialog: Vater: Wenn Du heute einkaufst, bring doch bitte Zigeunersauce mit. Tochter: Zigeunersauce sagt man nicht. Vater: Oh, entschuldige. Bitte bring Paprikasauce ungarischer Art. […]

Der knappe Dialog zwischen Vater und Tochter signalisiert, wie Störungen in der Kommunikation zu Repair-, also Reparaturhandlungen führen und auf diese Weise eine Kommunikation in Gang kommt. Insofern hat der Gebrauch des Kompositums »Negerkuss« eine konstruktive Funktion, es wird eine Verständigung über ein konkretes Problem eingeleitet. Eine solche mögliche und notwendige Kommunikation wird verhindert, wenn – wie vor einigen Jahren geschehen – aus einem der wichtigsten Texte der Kinder- und Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts, nämlich Astrid Lindgrens »Pippi Langstrumpf« (1945/1949), zu den Figuren gehörende Bezeichnungen getilgt werden. Nach der »Reinigung« bzw. Entstörung wird aus Pippi Langstrumpfs Vater, den die Protagonistin als »Negerkönig« präsentiert, ein »Südseekönig«. Vergleichbares musste Ottfried Preußler über sich ergehen lassen. Astrid Lindgren hat sich sehr zu Recht gegen solche Eingriffe in ihre Texte gewehrt. Das aus heutiger Sicht »Unkorrekte« gehört zur Figur Pippi Langstrumpf und macht nicht zuletzt ihre Faszination aus. 9 Ebd., S. 144. 10 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: V & 2006, S. 41. 11 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Wilhelm Fink 2004, S. 41.

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Das Tilgen von Bezeichnungen, das Retuschieren von Bildern und der Versuch, Irritationen zu verhindern, erinnert – das sei hier nur angedeutet – an fatale historische Perioden. Ganz abgesehen davon: Literatur, auch Kinder- und Jugendliteratur, hat nicht den Prinzipien einer Political Correctness zu folgen. Im Gegenteil, sie kann und soll aufstören! Weiter geführt, lässt sich sagen: Störungen irritieren die Toleranzgrenzen von Systemen, dies können psychische Systeme sein, also ganz konkrete Personen oder aber gesellschaftliche Teilsysteme (das System Politik, das System Wirtschaft, das Mediensystem). Störungen sind insofern daher eben keineswegs nur als Unfälle anzusehen, als etwas zu Verhinderndes, sondern sie sind ein wesentliches Mittel, um gesellschaftliche Wandlungsprozesse anzuregen. Weil Störungen im Sinne Links eine »Denormalisierung« bedeuten, provozieren sie ein beständiges Ausloten der existierenden Normen, ja sie fordern eine Überprüfung des bestehenden kollektiven Konsensus. Über Störungen werden mithin die Grenzen eines Systems offenbar bzw. die Grenzen werden markiert. Ausgehend davon ist es möglich, auf einer Skala nach oben a) Intensitätsgrade von Störungen zu unterscheiden (»Aufstörung«, »Verstörung«, »Zerstörung«); b) nach dem Ort zu fragen, an dem eine Störung stattfindet (Topizität), und c) die Zeit ihres Auftretens (Temporalität) zu betrachten.12 Zusammenfassend lässt sich sagen: Ausgewählte Ereignisse, Handlungen, Informationen werden in einem Reflexionsprozess von den jeweiligen Systemen (durch Selektion) als Störung bewertet. Alle Systeme haben dann im Luhmannschen Sinne die Chance, die »Ursache der Irritation in sich selber zu finden«, damit Lernprozesse in Gang zu setzen, zu reagieren und Vorsorge zu treffen oder aber die Irritation der Umwelt zuzurechnen, sie als Zufall zu behandeln, zu ignorieren und abzuwehren. Durch Irritation kann ein System motiviert werden, die eigenen Strukturelemente neu zu koppeln. Das könnte dann wiederum zu einer Restabilisierung führen.

12 Gansel, Aufstörung. 2011; Ders., Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013.

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Störungen im Handlungs- und Symbolsystem (Kinder- und Jugend-) Literatur Wollte man nunmehr konkret Störungen im Bereich Literatur erfassen, hat es sich als produktiv erwiesen, zwischen Handlungs- bzw. Sozialsystem auf der einen und Symbolsystem Literatur auf der anderen Seite zu unterscheiden.13 Im literarischen Handlungssystem kann es zu Störungen auf den Ebenen von Produktion, Distribution und Rezeption kommen. Im Symbolsystem, also den aus den Handlungsrollen von Produktion und Distribution hervorgegangenen Texten mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, betreffen Störungen das Was und Wie der Darstellung, also histoire und discourse. In historischer Perspektive und in Verbindung mit den jeweiligen Literaturbegriffen gelten im Handlungsund Symbolsystem Literatur bestimmte Regeln bzw. Wertmaßstäbe für den Umgang mit den Texten. Anders gesagt, es wird über spezifische Leitcodes vorgegeben, was »kommunizierbar« bzw. »nicht-kommunizierbar«14 ist und wo die Grenzen des Sagbaren liegen, wie Christa Wolf es formulierte. Kommen wir ausgehend davon auf Konecnys »Doktorspiele« zurück. Bekannt ist, dass der Text nach seinem Erscheinen im Handlungssystem KJL – wie auch im System Erziehung – aufstörend gewirkt hat. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass der Autor mehrfach von Lesungen ausgeladen wurde, weil besorgte Eltern wie Lehrer meinten, der Text könne die Moral ihrer Kinder gefährden und gehöre nicht in schulische Kontexte. Zu diesem Zeitpunkt allerdings war noch nicht absehbar, dass die britische Autorin E. L. James mit »Fifty Shades of Grey« (2011/12) einen Welterfolg verbuchen würden. Von der Trilogie, die inzwischen dem All-Age-Bereich zugeordnet wird und diverse Spielarten von Sexualität inszeniert, verkauften sich mehr als 100 Millionen Exemplare. Dies mitgedacht, würde Konecny mit seinem Jugendroman in der Gegenwart schwerlich jene Aufmerksamkeit erreichen, derer er sich 2009 noch sicher sein konnte. Es steht die Frage nach Gründen. Niklas Luhmann begreift – durchaus vergleichbar mit Adaptionsmodellen aus der Evolutionstheorie, der Biologie und der Kybernetik – Umweltphänomene dann als »aufstörend«, wenn sie einen »Informationsverarbeitungsprozess in Gang setzen«, mithin eine auf (Re)Stabilisierung angelegte innersystemische Kommunikation anregen. Nun darf man allerdings nicht annehmen, dass in der Umwelt von Systemen ständig Störungen stattfinden. Es gibt in der Umwelt des Systems keine Irritation an sich und entsprechend kann auch keine Übertragung 13 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹. 2013; Ders.: Moderne Kinderund Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 8. Aufl., Berlin: Cornelsen 2021. 14 Luhmann, Systemtheorie. 2006, S. 127.

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von Irritation aus der Umwelt in das jeweilige System stattfinden. »Es handelt sich immer«, so Luhmann, »um ein systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirritation – freilich aus Anlass von Umwelteinwirkungen«15. Mit anderen Worten: Das System selbst, also psychische wie gesellschaftliche Systeme, verarbeiten Informationen, die sie aus bzw. in der Umwelt wahrnehmen. In den Status einer Irritation geraten sie allerdings erst durch den »internen Vergleich von (zunächst unspezifizierten) Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit etablieren Strukturen, mit Erwartungen«16. Auf Konecnys Jugendroman »Doktorspiele« bezogen bedeutet dies, dass Teile der Elternschaft sich durch den Ich-Erzähler und seine Redeweise über Sexualität irritiert bzw. aufgestört fühlten, weil die über den Ich-Erzähler praktizierte freizügig-lockere Rede ihren Erwartungen und Normen widersprach. Vergleichbares gilt in der Pop-Musik für sexuell konnotierte Inszenierungen von Popstars wie Madonna, Britney Spears, Shakira, Lady Gaga und in letzter Zeit Miley Cyrus, die in ihrem Video »Wrecking Ball« nackt auf einer Abrissbirne schaukelt. Die Videos provozieren mit lasziven Gesten und sexuellen Anspielungen. Auch hier betrifft das Moment der Aufstörung weniger die Jugend denn besorgte Eltern, Musikkritiker oder Publizisten. In der deutschen Musikszene hat es Bushido immer wieder durch provokante Imagewechsel geschafft, ins Zentrum der Diskussion zu gelangen und sich erfolgreich zu vermarkten. Vergleichbares lässt sich in anderer Weise für Rammstein sagen, die als die international populärste deutsche Band gelten. Eine genauere Betrachtung zeigt aber, dass die Gesten der Provokation eher jene Öffentlichkeit aufstören, die nicht Teil der Szene sind. Man kann nun in systemtheoretischer Perspektive die Frage nach dem Auftreten von Störungen noch weiter theoretisieren. Niklas Luhmann unterscheidet innerhalb der Gesellschaft folgende soziale Systeme: a) Interaktionssysteme (Familie, Liebesbeziehung, Seminargespräch), die auf Anwesenheit der Interaktionspartner basieren, b) Organisationssysteme (Schule, Verlag, Universität), die auf Mitgliedschaft basieren, c) funktional ausdifferenzierte Teilsysteme der Gesellschaft wie Recht, Erziehung, Religion, Wirtschaft, Politik oder Kunst. Diese funktionalen Teilsysteme haben sich im Prozess der Modernisierung von Gesellschaft herausgebildet und unterscheiden sich voneinander grundlegend durch die Systemlogik, in der sie operieren, wenn sie kommunizieren. Die genannten Systeme bilden zueinander ihre jeweilige Umwelt. Auch das Literatursystem lässt sich nun – ausgehend von der Luhmannschen Systemtheorie – mit fünf Kategorien fassen: Es sind dies: 1) Funktion, 2) Leis15 Ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1987, S. 118. 16 Ebd.

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tung, 3) Medium, 4) Code und 5) Programm.17 Nur einige der Kategorien möchte ich erläutern. Die Funktion eines Systems (1) besteht darin, für ein spezifisches Problem »funktional äquivalente Problemlösungen« anzubieten. Was ist damit gemeint? Während es die Funktion des Teilsystems Wissenschaft ist, neues wahres Wissen zu erzeugen, besteht die Funktion der Literatur darin, die Welt bzw. die Wirklichkeit zu beobachten und über die Präsentation von Geschichten mit interessanten Stoffen und Themen eine Kommunikation über diese Welt zu ermöglichen. Die Kategorie Leistung (2) sagt etwas über die Beziehungen zwischen den Systemen aus. Systeme stellen für andere Systeme jeweils Leistungen zur Verfügung. So erfüllt Literatur für psychische Systeme, also die Rezipienten, eine unterhaltende Funktion. Im Rahmen des Systems Gesellschaft stellt Literatur eine der herausragenden Formen der Selbstbeobachtung von Gesellschaften dar. Die Kategorie Medium (3) meint ein symbolisch generalisiertes Medium oder auch Erfolgsmedium. Dieses Medium ist nicht mehr Sprache oder Verbreitungsmedium. Es konditioniert für Motivationen und Selektionen unbestimmter Kommunikationen. Das Wirtschaftssystem operiert im Medium Geld. Ohne Geld keine Ware, ohne Geld keine Teilhabe an den Prozessen, Aktionen, Kommunikationen des Wirtschaftssystems. Anders im Literatursystem: Im Literatursystem geht es einem Autor letztlich darum, dass seine Texte anerkannt und viel gelesen werden und ihm eine möglichst hohe gesellschaftliche Anerkennung, gegebenenfalls sogar Ruhm, einbringen. Ruhm scheint daher das symbolisch generalisierte Medium des Systems Literatur zu sein. Wesentliche Kommunikationen im Literatursystem laufen letztlich darauf hinaus. Der Code (4) bildet die binäre Leitdifferenz des Systems, von der bereits die Rede war. Programme (5) sind schließlich die flexibelsten Bereiche funktional ausdifferenzierter Systeme. Sie versorgen das System mit den zulässigen Regeln des Kommunizierens.18 Als Programme eines Literatursystems können unter anderem die Gattungs- und Genrekonventionen gelten, die Autorpoetiken, die Realismuskonventionen, die etablierten Normen und Erwartungen und natürlich bestimmte Handlungsmuster und Figurenanlagen. Wenn wir nun von Störungen und Grenzüberschreitungen in der Allgemeinliteratur wie der KJL sprechen, dann beziehen wir uns zumeist auf die Programme (5). Dies zeigt sich im Subsystem KJL bei einem literaturhistorischen Blick auf Entwicklungen seit den 1970er-Jahren. In diesem Prozess ist es zu neuen Regeln des Kommunizierens gekommen, die Gattungskonventionen der KJL haben sich gewandelt, was zum Entstehen des modernen Kinderromans mit seinen unterschiedlichen Subgattungen führte. In Folge dieses Wandels ist es zu 17 Vgl. zur Anwendung der fünf Kategorien auf die KJL Gansel, Kinder- und Jugendliteratur. 2014, S. 31–35. 18 Vgl. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005, S. 151.

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einer Annäherung zwischen moderner KJL und Allgemeinliteratur gekommen. Beide Teilsysteme unterscheiden sich in ihrer Systemlogik nur noch graduell.19 Dies war bei der sogenannten traditionellen KJL (KJL 1) noch anders, sie besaß eine Systemlogik, die eine hohe Affinität zum Erziehungssystem aufwies (vgl. Tabelle20). Diese Nähe zum System Erziehung hatte historische Gründe. Die seit der Epoche der Aufklärung entstehende spezifische KJL hatte das vordergründige Ziel bzw. die Funktion, im didaktischen Sinne den kindlichen Adressaten Normen und Werte zu vermitteln und sie mit dem notwendigen Wissen auszustatten. Entsprechend bestand ihre Leistung vor allem darin, zu erziehen, zu belehren und in bestimmten Regeln zu unterweisen. Diese erzieherischen Intentionen können durchaus auch über Warngeschichten funktionieren, indem etwa auf der Ebene der histoire »Figuren der Aufstörung« platziert werden (Struwwelpeter, Max und Moritz). Der Trick besteht dann im Weiteren aber darin, dass auf der Ebene des discourse jeweils entsprechende Erzählerkommentare eine entsprechende Wertung liefern. Die Annäherung von KJL und Allgemeinliteratur hat letztlich Konsequenzen: Wenn man nämlich von einer vergleichbaren Systemlogik von moderner KJL und Allgemeinliteratur ausgehen kann, dann fragt sich, auf welche Weise auch in der KJL Störungen produziert werden können und gegebenenfalls sollen.

Störungen in der KJL Bei der Frage nach Störungen in der KJL dürfte mithin klar sein, dass der Blick zunächst auf das Symbolsystem zu richten ist, also auf die Texte selbst. Denn: Es ist das Was und Wie des Erzählens, das bisherige Erwartungen, Normen, Werte, Konventionen, die innerhalb des Teilsystems KJL gelten, irritiert und aufstört und gegebenenfalls gesetzte Grenzen des Systems überschreitet. Erst wenn ein Text diese Voraussetzungen erfüllt, besteht die Chance, dass ein Autor und sein Text dann auch im Handlungssystem als Störung wahrgenommen werden. Dabei sind es vor allem die entsprechenden Vermittlungsinstanzen (Leser, Eltern, Kritiker, Lehrer), die diese Irritationen wahrnehmen, weniger die kindlichen und jugendlichen Leser. Ganz im Sinne von Luhmann wird also ein Informationsverarbeitungsprozess in Gang gesetzt, das Ereignis wird im KJL-System und vielleicht darüber hinaus thematisiert und operativ gehandhabt: im Bewusstsein von Personen etwa durch Überlegung oder durch Umlenkung der Wahrnehmung auf eben diese Störstelle. Konsens dürfte darüber herrschen, dass Störungen in der KJL weit weniger als in der Allgemeinliteratur über Selbstinszenierungen der 19 Vgl. Gansel, Kinder- und Jugendliteratur. 2021, S. 33. 20 Ebd.

[Selektion für Karrie- [Ermöglichung unwahrscheinlicher ren] Kommunikation] (Adressaten-spezifiUnterhaltung sche) Beobachtung Unterscheidung von der Gesellschaft Fiktion/Nicht-Fiktion (Selektion von Stofim Rahmen kognitiver fen, Themen) Entwicklung

[Vergleichsgröße: Erziehungssystem]

KJL 2: Moderne KJL

Normen- und Wertevermittlung

Subsystem KJL 1: Klassische KJL

Erziehung Belehrung Unterweisung Didaktik

Beobachtung der Ge- Unterhaltung sellschaft (Selektion Entlastung von Stoffen, Themen) Lebenshilfe Bildung

Literatur

Leistung

Funktion

System

Systemlogik

[Lob/Tadel] schön/hässlich interessant/ uninteressant spannend/ nicht spannend (polyvalent/ nicht polyvalent)

Ruhm Erfolg Kanonisierung Gedächtnis Archivierung

Gattungen Darstellungsweisen

[Bildung, Lehr- und Lernpläne]

Gattungen Darstellungsweisen

Gattungen Darstellungsweisen

schön/hässlich interessant/ uninteressant polyvalent/ nicht polyvalent moralisierend/ nicht moralisierend

Programm

Code

[Lebenslauf (Kind)]

Moral

Ruhm Erfolg Kanonisierung Gedächtnis Archivierung

Medium

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Autoren in der medialen Öffentlichkeit erreicht werden können. KJL-Autoren haben hier eingeschränkte Möglichkeiten, da ihr Ruhm als das symbolisch generalisierte Medium des Systems Literatur – bis auf einige Ausnahmen – letztlich doch begrenzt ist. Wenn daher von den Texten die Rede ist, dann geht es um zwei Fragen: Die erste Frage betrifft das Was der Geschichte, gemeint ist die Ebene der story, das Dargestellte selbst bzw. das, was man histoire nennt. Die zweite Frage zielt darauf, wie die Geschichte erzählt wird, es geht um die Art und Weise des Erzählens, insbesondere darum, wer erzählt und aus wessen Perspektive die Welt dargestellt wird. Auf der Ebene der histoire oder story sind es vor allem die präsentierten Handlungen der Figuren, die in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Mit anderen Worten: Es sind bevorzugt die entworfenen Figuren, Ereignisse, Geschehnisse, Räume, die aus den bisherigen Konventionen der KJL herausfallen und eine Irritation erzeugen. Konecnys »Doktorspiele« realisiert diese Irritation bzw. Störung über die Verbindung von Figur, Handlung, Ereignis. Offensichtlich ist aber auch, dass der Autor in diesem Fall – und das ist für die KJL kennzeichnend – die kalkulierte Aufstörung durch eine Reihe von Paratexten absichert. Der Text setzt nach dem Titel »Doktorspiele« mit einem Statement des Autors ein, der dem cbt-Team dafür dankt, dass er endlich sein »Lieblingsthema zum Roman machen (konnte)« (DS, S. 5). Es folgt ein weiterer Paratext mit einer Art Motto: »Für die Jungs, damit sie alles geben, und für die Mädels, damit sie ihren Spaß dabei haben.« (DS, S. 7) Schließlich findet sich ein Auszug aus dem populärwissenschaftlichen Band von Louann Brizendine »Das weibliche Gehirn«21, der herausstellt, dass »Halbwüchsige Jungen […] sich vielfach ausschließlich mit sexuellen Fantasien, den Körperteilen der Mädchen oder dem Bedürfnis zu masturbieren« (DS, S. 9) beschäftigen würden. Erst nach diesen Paratexten setzt das erste Kapitel mit der Überschrift Pimmelparade ein. Die diversen Paratexte haben dabei verschiedene Funktionen. Einmal geben sie dem jugendlichen Leser Hinweise darauf, was ihn erwartet, nämlich die Darstellung von Sex, für den erwachsenen Leser wird zugleich durch die populärwissenschaftlichen Hinweise eine Legitimation für das Erzählen über Sex gegeben und der Realismuseffekt betont. Durchweg wird mit der paratextuellen Einordnung einmal mehr bestätigt, dass eine spezifische Darstellung von Sexualität in der KJL der Gegenwart in besonderer Weise in der Lage ist, durch eine entsprechende Konzentration auf Darstellung von Sexualpraktiken Aufmerksamkeit zu erzeugen und aufstörende Wirkungen zu provozieren. Konecnys Geschichte für Jungen ist eine Variante. Grundsätzlich zu sagen ist, dass trotz der zugenommenen Offenheit in der KJL die literarische Darstellung von Tabu-Bereichen zwischenmenschlicher Bezie21 Brizendine, Louann: Das weibliche Gehirn. Warum Frauen anders sind als Männer. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Hamburg: Hoffmann & Campe 2013.

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hungen ein bevorzugtes Störungspotenzial entfalten kann. Dafür gibt es gute Gründe, denn die Gesetze zum Jugendschutz sind gerade in einer gleichermaßen offenen wie modernen Gesellschaft durchaus ernst zu nehmen. Dies umso mehr in den Fällen, da die Übergänge zu dem, was man pornografisch nennen kann, fließend sind und auch für die Allgemeinliteratur gelten. Catherine Millets Buch »Das sexuelle Leben der Catherine M.« (2001) hat dort eine ebenso skandalisierende Wirkung erzielt wie Charlotte Roches »Feuchtgebiete« (2008) oder Helene Hegemanns Debütroman »Axolotl Roadkill« (2010). Die skandalisierende Wirkung bei Hegemann bestand nicht zuletzt darin, dass in diesem Text eine Adoleszente über diverse Spielarten von Sexualität und harten Drogen erzählt. Wollte man die Frage nach Störungen noch grundsätzlicher diskutieren, dann ließe sich thesenartig formulieren: Störungen der Kommunikation – und damit eine in Gang gebrachte Kommunikation über Kommunikation – gibt es immer dann, wenn die für Gesellschaften aktuellen Masternarrative bzw. Meistererzählungen infrage gestellt oder außer Kraft gesetzt werden. Für die Historiker Konrad Jarausch und Martin Sabrow geht es bei Meistererzählungen um »eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt«. Masternarrative gewinnen erst »durch ihre Materialisierung, Verbreitung und Institutionalisierung […] ihre gesellschaftliche Geltungsmacht«.22 Es sind dabei insbesondere die jeweiligen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, die zur Etablierung bestimmter historischer Narrative und zur Unterdrückung anderer, alternativer Gegen-Entwürfe führen. Eben diese Überlegung von historischen Masternarrativen lässt sich auf die in literarischen Texten erzählten Geschichten auch in der KJL übertragen: Immer dann, wenn ein Text bisherige Normen, Regularitäten, Werte oder eben gar Meisterzählungen infrage stellt, irritiert, korrigiert, umwertet, kann die Umwelt aufgestört werden. Dass dabei das Medium Ruhm, also die soziale Macht des jeweiligen Autors eine Rolle spielt, ist bekannt. Fragte man nach den aktuellen Meistererzählungen der Deutschen, dann gehören dazu nach wie vor Zweiter Weltkrieg und Holocaust, Flucht und Vertreibung, die Oder-Neiße-Grenze, der Deutsche Herbst mit dem Terrorismus der RAF, die Wende in der DDR und die Bewertung der DDR als Diktatur, Migration und Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft sowie die vielen Spielarten von Gewalt. In dem Fall, da die dafür bereitgestellten Interpretationen bzw. Stereotype dekonstruiert werden, ist abzusehen, dass Irri22 Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin: »Meistererzählung« – Zur Karriere eines Begriffs. In: Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Hrsg. von Konrad Jarausch und Martin Sabrow. Göttingen: V & R 2002, S. 16f.

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tationen die Folge sind. Allgemeiner formuliert: Wer beim Erzählen der genannten Geschichten die zu einem bestimmten Zeitpunkt geltenden Normen überschreitet oder verletzt, kann mit Aufmerksamkeit rechnen. Dies umso mehr in einem Subsystem wie der KJL, in dem entsprechend der Systemlogik und trotz aller Modernität die Grenzen des Sagbaren enger gezogen sind.23 Ein ausdrucksstarkes Beispiel innerhalb der KJL stellt Janne Tellers Jugendroman »Nichts. Was im Leben wichtig ist« (2010) dar.24 Nun geht es hier zwar um keine historische Mastererzählung, wohl aber um ein Makronarrativ schlechthin, es geht um die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Und eben dies wird in dem Jugendroman über das Was und Wie des Erzählens in Frage gestellt. Auf der Ebene der histoire wird folgende Geschichte entworfen: Eine siebte Klasse versucht ihren Mitschüler Pierre Anthon davon zu überzeugen, dass er nicht Recht hat mit seiner These, es gäbe keinen Sinn im Leben. Der hat sich nämlich am ersten Schultag nach den Sommerferien dazu entschlossen, ab jetzt seine Tage auf einem Baum zu verbringen. Auf diese Weise will er seine Klassenkameraden aufstören bzw. provozieren. Die Situation entwickelt sich so: »›Kinder freut euch über den heutigen Tag‹, sagte er. ›Ohne Schule gäbe es auch keine Ferien.‹ Wir lachten. Nicht, weil wir das witzig fanden, sondern weil er es sagte. Genau da stand Pierre Anthon auf. ›Nichts bedeutet irgendwas‹, sagte er. ›Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.‹ Ganz ruhig bückte er sich und packte die Sachen, die er gerade herausgenommen hatte, wieder in seine Tasche. Mit gleichgültiger Miene nickte er uns zum Abschied zu und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen.«25

Seine Mitschüler wollen sich mit dieser These nicht abfinden und kommen auf die Idee, einen »Berg aus Bedeutung« anzuhäufen. Dafür hat jeder einzelne etwas sehr Persönliches zu opfern, etwas, das ihr oder ihm wichtig ist und Bedeutung besitzt. Das Spiel beginnt noch harmlos mit der »Opferung« von Schuhen, für die die Protagonistin lange gespart hat. Sukzessive kommt es zu einer Steigerung der Opfergaben. Es entsteht so etwas wie ein »Wettlauf der Grausamkeiten«26. Janne Teller hat eine Geschichte konstruiert und eine Versuchsanordnung entworfen, 23 Die Vermutung liegt nahe, dass in dem Fall, da in einem Jugendroman Andreas Baader als Identifikationsfigur entworfen würde, er gar als sympathisch-postadoleszenter Ich-Erzähler agierte und in der Darstellung kein hinreichender Abstand zum Terrorismus zustande käme, mit einiger Wahrscheinlichkeit der gesellschaftliche Normalismus nicht nur des KJL-Systems aufgestört wäre. 24 Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: dtv 2012. 25 Teller, Nichts. 2010, S. 9 [nachfolgend mit der Sigle »N« mit Seitenzahl im Text]. 26 Budeus-Budde, Roswitha: Grenzüberschreitende Programme des deutschen Kinder- und Jugendbuchmarktes – ein Praxisbericht mit aktuellen, literarischen Beispielen. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? 2011, S. 37–46, hier: S. 43.

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vergleichbar wie dies etwa Morton Rhue bereits in »Die Welle« getan hat. Auch in diesem Fall entsteht gewissermaßen ein Sog, dem sich keiner der Protagonisten entziehen kann und die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verwischen. Die Opfer werden zu Tätern und umgekehrt. Ein muslimischer Junge hat seinen Gebetsteppich zu opfern, es kommt zu einer Grabschändung, ein Junge hat Christus vom Kreuz zu nehmen, ein Hund wird brutal geköpft, ein Mädchen hat seine Unschuld zu opfern. Erst als einem hoffnungsvollen Gitarristen der Zeigefinger abgehackt wird und dieser nicht mehr schweigt, greifen die Erwachsenen ein. Aber das Spiel geht weiter und der inzwischen angehäufte »Berg der Bedeutung« wird zum medialen Ereignis und als Kunst gefeiert. Die Katastrophe folgt. Die Gruppe tötet Pierre Anthon, er und der Berg verbrennen. Doch das ändert nichts, eine Lösung im Sinne eines ›geschlossenen Endes‹ gibt es nicht. Die Gruppe hört Pierre Anthon rufen: »Und wenn der Tod keine Bedeutung hat, dann deshalb, weil das Leben keine Bedeutung hat. Aber amüsiert euch gut!« (N, S. 139) Tilman Spreckelsen hat in der FAZ darauf verwiesen, in welcher Weise der Text aufstörende Wirkungen erzielt hat: »Wer immer sich seit dem Erscheinen der deutschen Ausgabe über ›Nichts‹ geäußert hat, wies gern auf das ›Skandalöse‹ hin, das diesem Buch anhafte. Von einer ›perfiden Geschichte‹, mit der Teller ›provoziere‹, schrieb Focus Online, ›verstörende Fragen‹ und ›Brutalität‹ fand die ›Berliner Zeitung‹ in dem Roman, die ›Welt‹ witterte gar einen ›Skandalroman‹, und der ›Berliner Kurier‹ porträtierte Teller (›eine freundliche, gutaussehende Frau, die viele Lachfältchen im Gesicht trägt‹) unter der Überschrift: ›Vergiftet ihr Buch die Seelen unserer Kinder?‹«27

Zutreffend weist Spreckelsen darauf hin, dass in dem Text keine »explizite[n] Gewaltszenen« zu finden sind, »von Sex ganz zu schweigen«, und betont, dass die Aussage der Ich-Erzählerin angesichts der Amputation eines Fingers (»Es war doch ganz interessant zu sehen, wie der Finger zu Fetzen und Knochensplittern wurde«) bereits »das Äußerste« sei, »was dem Leser an direkter Beschreibung von Gewalt zugemutet wird«. Die aktuelle Jugendliteratur oder Filme würden im Vergleich dazu »ein Vielfaches an breit ausgemalter Grausamkeit zutage fördern.«28 Dem ist zuzustimmen. Denn in der Tat stört der Text nicht auf durch einen »pornographischen Stil« und auch nicht durch Gewaltdarstellungen. Die Frage, was denn nun eigentlich das Skandalöse oder Unerhörte an dem Text ist, beantwortet Tilman Spreckelsen so: »Genau dort, in Agnes’ ungerührter Feststellung zum amputierten Finger, und darin, welcher monatelanger Prozess diesen Worten vorausgegangen ist. Angefangen hat es mit Pierre Anthons Provokation, die einen Impuls auslöst, den doch jeder begrüßen 27 Spreckelsen, Tilmann: Janne Tellers verstörender Bestseller. Wie man zum Fanatiker wird. In: FAZ vom 23. 10. 2010. 28 Ebd.

Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien

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müsste, der sich ernsthaft um Kinderseelen Sorgen macht: 21 Siebtklässler wollen dem selbsternannten gleichaltrigen Welterklärer beweisen, dass das Leben tatsächlich einen Sinn hat. Das klingt fast wie eine Projekttags-AG.«29

Janne Teller entwirft auf der Ebene der story eine Versuchsanordnung und spielt das Experiment mit allen Konsequenzen bis zum Ende durch. Zudem wird durch die Entscheidung, die Geschichte von einer Ich-Erzählerin präsentieren zu lassen, die Darstellung einzig auf die subjektive Perspektive dieser auto-homodiegetischen Erzählerin beschränkt. Die Ich-Erzählerin Agnes, die im Rückblick erzählt, bewertet dabei auch sechs Jahre später das Geschehen nicht, es finden sich keine observer memories, eine Evaluation der vergangenen Ereignisse gibt es nicht, eine Läuterung hat nicht stattgefunden. Folglich bleibt der Leser mit den Antworten allein und muss eine eigene Position zum Dargestellten finden. Das offene Ende sowie die Tatsache, dass der kindliche bzw. jugendliche Standpunkt nicht korrigiert wird, gehört eigentlich zu den grundlegenden Merkmalen einer modernen KJL. Seit den 1970er-Jahren hat daher die Zahl der Ich-Erzähler in der KJL radikal zugenommen, und in der Gegenwart hat die Ich-Erzählsituation Dominanz erlangt. Allerdings zeigen die scharfen Attacken auf Tellers »Nichts«, dass im Handlungssystem KJL Grenzen dann markiert werden, wenn der IchErzähler – wie im vorliegenden Fall – selbst im Rückblick, also im zeitlichen Abstand, darauf verzichtet, kommentierend einzugreifen und eine auktoriale Bewertung vorzunehmen. Dies wäre im Falle von »Nichts« durchaus möglich gewesen, da das Geschehen aus der Erinnerung sechs Jahre später erzählt wird. Aber die Ich-Erzählerin verweigert eine harmonisierende Bewertung, sie liefert kein Eingeständnis von Schuld und glaubt auch jetzt noch, dass sie nicht anders handelt konnte. Das gewaltvolle Ausrasten der Gruppe und ihre Rache an Pierre Anthon wird auch im Abstand gerechtfertigt: »Ich weiß nicht, ob es schlimm war oder nicht. Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, muss es sehr schlimm gewesen sein. Aber so habe ich es nicht in der Erinnerung. Mehr, dass es chaotisch war. Und gut. Es war sinnvoll, Pierre Anthon zu schlagen. Sinnvoll, ihn zu treten. Das hatte Bedeutung, selbst als er am Boden lag und sich nicht mehr wehren konnte und es irgendwann auch nicht mehr versuchte.« (N, S. 134)

Es ist vor allem der Blickwinkel, aus dem erzählt wird, der discourse und die damit in Verbindung stehende Weigerung, eine sinnstiftende Antwort zu geben und zivilisatorische Normen und Werte zu befestigen, die die kritischen Reaktionen auf den Text in Dänemark und später in Deutschland auslösten. Letztlich allerdings hat die Aufstörung den Erfolg von Teller nur befördert und sie geradezu populär gemacht. Zudem zeigt Tellers Geschichte, dass nicht nur das Thema Sexualität in der Lage ist, im Bereich der KJL Aufstörungen zu produzieren. Und 29 Ebd.

188

Carsten Gansel

das ist – bei aller Problematik im Hinblick auf Grenzüberschreitungen und Störungen in der KJL – eigentlich eine Nachricht, die hoffen lässt.

Abschluss Vor Kurzem hat Bettina Kümmerling-Meibauer in einem Beitrag Jugendromane untersucht, in denen die Hauptfiguren – vergleichbar wie bei Teller – zu Mördern werden und auf diese Weise im Handlungssystem Literatur eine Störung provozieren.30 Das zeigen die Rezensionen oder auch Diskussionen, die nach dem Erscheinen der Texte in Gang kamen. Dazu gehören neben dem inzwischen zum Klassiker avancierten Roman von William Golding »Herr der Fliegen« solche Texte wie Anne Cassidys »Wer ist Jennifer Jones?« (»Looking for JJ«, 2004), die dystopische »New World«-Trilogie von Patrick Ness (Chaos Walking, 2008–2010) oder Robert Cormiers »Zärtlichkeit« (Tenderness, 1998). Kümmerling-Meibauer fragt danach, ob es kindlichen und jugendlichen Lesern möglich ist, »Empathie mit einem Serienmörder« zu empfinden und sie verweist zutreffend darauf, dass etwa Cormiers Roman »eine große Herausforderung an die kognitiven Fähigkeiten« der Leser darstellt.31 Hier sind dann in der Tat Empathie, Perspektivenübernahme und das angesprochen, was man Theory of Mind nennt, nämlich die Fähigkeit des Menschen, sich in den geistigen Zustand von anderen Personen hineinzuversetzen, dies betrifft mögliche Handlungen, Gefühlszustände, innere Überzeugungen.32 Aber, so abschließend die Frage, wie weit und wie sinnvoll kann es sein, sich in die Psyche von kindlichen bzw. jugendlichen Tätern, Mördern, ja Serienmördern zu versetzen und ab welchem Alter werden jugendliche Leser dazu in der Lage sein? Unabhängig von der Antwort dürfte feststehen, dass derartige Figuren ein in hohem Maße aufstörendes Potenzial besitzen, und dies meint sowohl die Texte selbst wie auch die möglichen Reaktionen auf sie im Handlungssystem Literatur.

30 Kümmerling-Meibauer, Bettina: Wenn Kinder zu Mördern werden – Störungen in der Kindheit im Spiegel der Kinderliteratur. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 362–373. 31 Ebd., S. 369. 32 Welche Bedeutung die Theory of Mind für die menschliche Kultur besitzt, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, was geschieht, wenn genau die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, nicht existiert. Vgl. Gansel, Carsten/Vanderbeke, Dirk: Telling Stories: Literatur and Evolution. Berlin: De Gruyter 2012.

II Stofflich-thematische Zugänge zu ausgewählten kinder- und jugendliterarischen Texten

Petra Josting

»Herzfaden« (2020) – Eine Geschichte der Störungen und Erlösungen

1.

Die Augsburger Puppenkiste – eine Kulturinstitution

Mit der Augsburger Puppenkiste, dem bekanntesten Puppenspieltheater Westdeutschlands, dessen Ursprung in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückreicht, sind seit den 1950er-Jahren viele Fernsehkinder der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen. Die erste Fernsehproduktion lief am 21. Januar 1953 live, als der Nordwestdeutsche Rundfunk das Musikmärchen »Peter und der Wolf« im Abendprogramm ausstrahlte. Wenig später interessierte sich der Hessische Rundfunk für die Puppenspiele und bot den Augsburgern die Sendereihe »Kinderbücher für Erwachsene« im Fernsehen an, die mit dem »Kleinen Prinz« (2020) von Antoine Saint-Exupéry im März 1953 startete.1 Andere Sender zeigten ebenfalls Interesse und übernahmen Produktionen, doch der eigentliche Durchbruch und damit die große Popularität dieser bis heute legendären Bühne setzte erst in den 1960er-Jahren mit der massenhaften Verbreitung des Fernsehens ein, das das Puppenspieltheater zum zentralen Bestandteil seines Kinderprogramms machte.2 Ein besonderes Verdienst der Augsburger Puppenkiste ist es, neben Märchen neu erschienene Kinderbücher ins Repertoire aufgenommen zu haben. Den Anfang machte die in schwedischer Sprache ab 1945 erschienene »Mumin«-Serie der Schriftstellerin Tove Jansson im Jahr 1959. Es folgten Kinderbücher deutschsprachiger Autor/innen, wie 1960 »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« von Michael Ende, Otfried Preußlers »Kater Mikesch« (1962), Max Kruses »Der Löwe ist los« (1965), Preußlers »Der Räuber Hotzenplotz« (1962), Kruses »Urmel aus dem Eis« (1969), Tilde Michels’ »Kleiner König Kalle Wirsch« (1969) oder Paul Maars »Am Samstag kam das Sams zurück« (1980). 1 Steinbach, Fred (Hrsg.): Das große Buch der Augsburger Puppenkiste. Vom Wohnzimmer in die weite Welt. Eine Erfolgsgeschichte. Redaktion, Recherche und Texte von Barbara van der Speulhoff unter Mitarbeit von Matthias Böttger. Köln: Bastei Lübbe 2013, S. 101f. 2 Buresch, Wolfgang: Von Puppen und dem (Zeit-)Geist im deutschen Kinderfernsehen. Entwicklungen der letzten 40 Jahre. In: Ders. (Hrsg.): Kinderfernsehen. Vom Hasen Cäsar bis zu Tinky Winky, Dipsy und Co. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 11–37, hier: S. 16.

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Petra Josting

Auch wenn viele der genannten Bücher hohe Auflagen erzielten und sich zudem in etlichen Fällen ein größerer Medienverbund um diese Stoffe bildete, so ist doch zu unterstreichen, dass es in den 1960er und -70er-Jahren vor allem die Marionetten der Augsburger Puppenkiste waren, die die Herzen der jungen wie auch älteren Zuschauer/innen eroberten und noch heute fest in ihrem Gedächtnis verankert sind. Mit ihnen konnten sie lachen und weinen, mitfühlen, vielleicht wurden sie auch zum Nachdenken angeregt. Angesichts der Bedeutung der Augsburger Puppenkiste, nicht nur für die Geschichte des Kinderprogramms im Fernsehen, sondern insbesondere für die literarische Sozialisation von Millionen von Kindern verwundert es nicht, dass sich Forscher/innen und Journalist/innen mit dieser Institution beschäftigt haben. Überblicksdarstellungen zur institutionellen und personellen Entwicklung bieten ein Artikel im »Historischen Lexikon Bayern« und kürzere Beiträge, wie zum Beispiel Ausführungen im Augsburger Stadtführer, ein Werkstattgespräch mit dem jetzigen Leiter der Puppenkiste Klaus Marschall oder die Festrede anlässlich der Verleihung des »Großen Preises« der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e. V.3 Hervorzuheben sind eine Studie über »Die Augsburger Puppenkiste und ihre Rezeption in den Medien« sowie das kurzweilig zu lesende Buch »Von Titiwu bis Lummerland« (1998), eine Hommage des Redakteurs Holger Jenrich an die Augsburger Puppenkiste und ihre vielen unvergesslichen Figuren.4 Darüber hinaus liegen drei Bände zum 40-, 50- und 65jährigen Jubiläum vor,5 die Entwicklungslinien aufzeigen, vor allem aber auf der Basis von zahlreichem Fotomaterial die Geschichte der Produktionen dokumentieren.

3 Hammerl, Michaela: Augsburger Puppenkiste (23. 11. 2010). In: Historisches Lexikon Bayerns. (letzter Zugriff: 07. 03. 2021); Gardner, Judith: Augsburger Puppenkiste. In: Hollo, Harald (Hrsg.): Augsburg. Cityscapes. Augsburg: Satz und Graphik Partner 2007, S. 128–131; Franz, Kurt/ Janning, Jürgen/Pecher, Claudia M./Richter, Karin (Hrsg.): Faszinierende Märchenwelt. Das Märchen in Illustration, Theater und Film. Baltmannsweiler: Schneider 2011 (Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e. V.; Bd. 39), S. 211–225; Jooß, Erich: Eine Zeitreise mit Marionetten. Großer Preis für die Augsburger Puppenkiste. In: Volkacher Bote 33, 2013, H. 99, S. 6–8. Vgl. auch die hauseigene Homepage: (letzter Zugriff: 05. 03. 2021). 4 Löffler, Dorothee: Die Augsburger Puppenkiste und ihre Rezeption in den Medien. Dokumentation eines Traditionstheaters im Spiegel der Presse. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2008; Jenrich, Holger: Von Titiwu bis Lummerland. 50 Jahre Augsburger Puppenkiste. Essen: Klartext 1998. 5 Geis, Christa B. (Hrsg.): 40 Jahre Augsburger Puppenkiste. Das Farbjournal zum Jubiläum. Ein herrliches Dokument über Augsburgs populärste Institution. Augsburg: Vindelica-Verlag 1988; Geissler, Claus-Dieter: 50 Jahre Augsburger Puppenkiste. Berlin: Rütten & Loening 1997; Steinbach, Das große Buch der Augsburger Puppenkiste. 2013.

»Herzfaden« (2020) – Eine Geschichte der Störungen und Erlösungen

2.

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»Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste« – Inhalt, Aufbau und Rezeption

Im Herbst 2020 veröffentlichte Thomas Hettche, einer der bekanntesten Gegenwartsautoren, der sich in seinem Werk schon mehrfach mit zeitgeschichtlichen Themen beschäftigt hat,6 den Roman »Herzfaden« mit dem Untertitel »Roman der Augsburger Puppenkiste«.7 Geschrieben hat er dieses Buch, wie er in vielen Interviews sagte, aufgrund seiner Faszination für die Augsburger Puppenkiste, die auch seine Kindheit begleitete. Ein anderer Beweggrund sei die Frage gewesen, wie die Generation seiner Eltern, aufgewachsen in den 1930erJahren, mit den Erfahrungen des Nationalsozialismus und Krieges umgegangen sei.8 Hettches 279 Seiten umfassender Roman besteht aus zwei Handlungssträngen und verbindet auf der Vergangenheitsebene (blaue Schrift und im Präsens erzählt) die Geschichte der Augsburger Puppenkiste mit der Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik, zentral aber mit der Geschichte der Familie Oehmichen, in deren Mittelpunkt die Tochter Hannelore Marschall (1931–2003) steht, genannt Hatü. Auf der Gegenwartsebene bzw. in der Rahmenhandlung (rote Schrift und im Präteritum erzählt), die nur ca. 50 Seiten ausmacht, ist die Protagonistin ein 12-jähriges, namenloses Mädchen, das mit seinem Vater eine Aufführung der Puppenkiste besucht, sich dafür jedoch viel zu alt fühlt. Aufgebracht rennt es deshalb nach der Vorstellung dem Vater davon und begibt sich im Foyer durch eine unscheinbare Tür hinauf auf den Dachboden, wo es – mittlerweile auf Marionettengröße geschrumpft – nicht nur unzählige Puppen trifft, sondern auch die längst verstorbene Hatü, die ihm fast ausschließlich auf der Vergangenheitsebene von ihrer Kindheit, Jugend und Zeit als junge Frau erzählt. Geschickt hat Hettich das Ende der einen Ebene mit dem Beginn der anderen verbunden. So endet zum Beispiel das erste Gegenwartskapitel mit der Vorstellung Hatüs, während die Vergangenheitsebene damit beginnt (Hf, 13f.); wenig später berichtet Hatü auf dieser von einer Explosion, woraufhin sich das Mädchen zu Beginn der folgenden Gegenwartsebene erschrocken mit beiden Händen die Ohren zuhält (Hf, 25). Nachdem Hatü das sog. Judenhaus aufgesucht hat – in der Hoffnung, die Schulfreundin Bernadette im Elternhaus anzutreffen – und 6 Kozlowski, Timo: Thomas Hettche. In: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, 2020. (letzter Zugriff: 05. 03. 2021). 7 Hettche, Thomas/Beckmann, Matthias (Ill.): Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020 [im Folgenden unter der Sigle »Hf« mit Seitenzahl im Text]. 8 Vgl. z. B. Thomas Hettche im Interview in der Sendung »Aspekte« am 23. 10. 2020. (letzter Zugriff: 05. 03. 2021).

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Petra Josting

erfährt, dass die wenigen noch in der Stadt lebenden Juden hier zusammengepfercht leben müssen (Hf, 29ff.), setzt sich auf dem Dachboden der Kleine Prinz in Bewegung, ein Sinnbild für die Kritik am Werteverfall der Gesellschaft (Hf, 33f.). Die Resonanz auf diesen Roman war groß, die Literaturkritik im Rundfunk, Fernsehen, Internet und den Feuilletons äußerte sich überwiegend positiv und Hettche landete mit diesem Titel auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Aber einige Kritiker/innen äußerten sich auch negativ. So wurde im »Spiegel« die Parallelhandlung als »pseudoliterarisch« beurteilt, »die beiden Stränge« seien »fast gar nicht verknüpft«, es gebe »kaum Psychologie und auch keine wirklichen Konflikte.« Des Weiteren ist von »bemüht eingearbeiteten historischen Ereignisse[n]« die Rede.9 Wenn ein Roman auf Seiten der Kritik so viel Aufmerksamkeit erregt, ist ihm ein großes Lesepublikum in der Regel gewiss, zumal wenn er Epochen wie den Nationalsozialismus behandelt und diese zudem mit der Geschichte der Augsburger Puppenkiste verbindet bzw. einem »Portrait der Puppenschnitzerin Hannelore Marschall«, wie Hettche im Nachwort schreibt. Es stellt sich die Frage, worin das Besondere, Aufstörende, vielleicht auch Innovative von »Herzfaden« besteht. Angesichts der Thematik liegt es auf der Hand, der erinnerungskulturellen Perspektive nachzugehen. Ergiebig erscheint es zugleich, Aspekte der Störung aufzuspüren und abschließend zu erörtern, ob es sich nicht nur um ein Erwachsenen-, sondern auch um ein Jugendbuch handelt.

3.

»Herzfaden« – eine Geschichte der Störungen in erinnerungskultureller Perspektive

Grundlegende Überlegungen zur Kategorie der Störung, die gleichermaßen in der Erwachsenenliteratur wie auch in der Kinder- und Jugendliteratur zur Analyse herangezogen werden kann, hat Carsten Gansel in mehreren Beiträgen vorgestellt. Gansel zufolge ist davon auszugehen, »dass es a) unterschiedliche Intensitätsgrade von Störung gibt« – Aufstörung, Verstörung und Zerstörung –, »die sich b) in verschiedenen Räumen und c) in einer zeitlichen Dimension vollziehen.«10 Wichtig sei es zudem, zwischen dem literarischen Handlungs- bzw.

9 Hammerlehle, Sebastian/Keller, Maren: »Ich erinnere mich gut an das Urmel«. Besprechung im »Spiegel« vom 13. 10. 2010. (letzter Zugriff: 10. 03. 2021). 10 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel, Carsten/

»Herzfaden« (2020) – Eine Geschichte der Störungen und Erlösungen

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Sozialsystem sowie dem Symbolsystem zu unterscheiden. Während sich Störungen im Handlungssystem auf der Ebene der Produktion, Distribution, Rezeption und/oder Verarbeitung11 ergeben können, »betreffen Störungen« auf der Textebene »das ›Was‹ und ›Wie‹ der Darstellung.«12 Auch in erinnerungskultureller Perspektive sind die Ebene der histoire in den Blick zu nehmen sowie die narrative Struktur auf der des discours,13 da zum Beispiel ein auktoriales im Unterschied zum Ich-Erzählverhalten besser geeignet ist, »dem Dargestellten einen monumentalen, offiziellen Modus zu verleihen«, und damit weitaus größere Möglichkeiten bestehen, »das kulturelle bzw. offiziöse Gedächtnis zu festigen.«14 Wie erwähnt, sorgte Hettches Roman im Handlungssystem Literatur für Aufstörung. Zum einen aufgrund seiner Thematik, zum anderen aufgrund der Darstellungsform, die aber auch negative Kritik erntete und sich, wie angeführt, auf die vermeintlich kaum miteinander verwobenen Handlungsebenen bezieht. Positive Beurteilungen nehmen u. a. auf intertextuelle Bezüge zu Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur Bezug. So vergleicht man die Schrumpfung des Mädchens oft mit Lewis Carrolls »Alice im Wunderland«, oder der Druck in zwei Schriftfarben und die Tatsache, dass sich der Protagonist ebenfalls auf einen Dachboden zurückzieht, wird in Verbindung mit Bastian Balthasar Bux gebracht, dem Protagonisten aus Michael Endes »Die unendliche Geschichte« (1979).15

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12 13

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Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin [u. a.]: de Gruyter 2013, S. 31–55, hier: S. 53. Mit diesen Ebenen wird terminologisch der »Medienkompaktbegriff« von Siegfried J. Schmidt zugrunde gelegt. Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Der Medienkompaktbegriff. In: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hrsg.): Was ist ein Medium? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 144–157. Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ – Theorie und Praxis. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Boston: de Gruyter 2020, S. 29–47, hier: S. 35. Gansel, Carsten: Rhetorik und Erinnerung – Zur narrativen Inszenierung von Erinnerungen in der Kinder- und Jugendliteratur und der Allgemeinliteratur. In: Gansel, Carsten/Korte, Hermann (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur und Narratologie. Göttingen: V & R unipress 2009, S. 11–38, hier: S. 24f. Ebd., S. 22. Z. B. bei Porombka, Wiebke: »Herzfaden«. Die Unschuld der Marionetten. Rezension im Deutschlandfunk Kultur vom 11. 09. 2010. (letzter Zugriff: 08. 03. 2021); sowie Harff, Laura: Porträt einer Puppenmacherin. Thomas Hettche haucht Jim Knopf, dem Urmel und Kale Wirsch neues Leben ein. Rezension in literaturkritik.de 2020, H. 10. (letzter Zugriff: 10. 03. 2021).

196 3.1.

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Hatü im Nationalsozialismus/Krieg und in der frühen Bundesrepublik

Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1939 bis 1961, erstreckt sich somit auf den Zweiten Weltkrieg und die frühe Bundesrepublik, zentraler Handlungsort ist Augsburg. Da es sich bei dieser Binnenhandlung um einen Teil der Alltags- und Familiengeschichte handelt, die die Protagonistin Hatü peu à peu dem Mädchen auf dem Dachboden überwiegend chronologisch, aber auch immer wieder mit kurzen Rückblenden erzählt, irritiert beim Lesen zunächst die Wahl der auktorialen Erzählform. Das Erzählverhalten ist jedoch überwiegend personal und maßgeblich ausgerichtet auf Hatü, wobei Außen- und Innensicht wechseln, die Erzählhaltung ist neutral. Somit ist man als Leser/in der Wahrnehmung sowie den Gedanken der Protagonistin nahe und erfährt eine Vielzahl von Verstörungen, die ihr widerfahren. Gleichzeitig geht der Verzicht auf die Ich-Erzählform, die man hier zunächst erwartet, mit mehr Authentizität einher. Zu welchem Zeitpunkt genau es dazu kommt, bleibt aufgrund nur vereinzelter Datumsangaben oft unklar, lässt sich aber meistens erschließen. Der Einstieg in die Vergangenheitsebene erfolgt in medias res mit der ersten Verstörung Hatüs, die sozusagen aus der Idylle herausgerissen wird. Sie liegt im Alter von acht Jahren mit der ein Jahr älteren Schwester Ulla auf einer Wiese in den Bergen, wo die Familie zwei Wochen Sommerurlaub gemacht hat, als die Mutter sie überraschend zum Aufbruch ruft, ohne den Grund mitzuteilen (Hf, 14f.). Erst am Abend, der Vater steht in Uniform im Flur vor ihnen, begreift Hatü die Situation und ist erneut verstört. Sie begreift, »es ist Krieg«, und beginnt zu weinen, »mit hängenden Armen schluchzt sie los, ihr ganzer kleiner Körper wird geschüttelt und die Tränen tropfen auf die rote Schürze. […] Es dauert lange, bis sie aufhören kann zu weinen« (Hf, 19). Zu weiteren Verstörungen kommt es, weil Hatü die öffentlich sichtbare Ausgrenzung und Vertreibung ihr bekannter jüdischer Mitbürger/innen erlebt. Im Biologieunterricht, mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn, doziert der vom Nationalsozialismus überzeugte Lehrer Dr. Fischer über die »Nürnberger Gesetze« und die »Rassenschande«, womit »nicht nur Juden, sondern auch Zigeuner, Neger und ihre Bastarde« (Hf, 26f.) gemeint sind. Hatü fällt die Konzentration schwer, sie versteht das alles noch nicht richtig, ahnt jedoch, dass diese Gesetze auch etwas mit ihr bzw. ihrem Umfeld zu tun haben. Auf dem Platz der Mitschülerin Bernadette sitzt nun ein anderes Mädchen. Frau Friedmann, die im Haus gegenüber der Schule wohnte und mit der sich Hatü und ihre Freundin Vroni oft unterhielten, trägt nun den gelben Stern (Hf, 27). Beunruhigt darüber, dass Bernadette nirgendwo mehr erscheint, will sie zusammen mit Vroni die Klassenkameradin zu Hause aufsuchen, doch deren Elternhaus16, an dessen Tür 16 Es handelt sich im Roman um die Familie Polascheck in der Hallstraße 4 (Hf, 29). Vgl. dazu

»Herzfaden« (2020) – Eine Geschichte der Störungen und Erlösungen

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ein »schwarzer Judenstern aus Pappe« prangt (Hf, 29), ist voller aufgetürmter Kisten, Möbel und Menschen. Hatü erkennt den alten Mann, dessen Geschäft zerstört worden war, »und die Erinnerung lässt sie erstarren« (Hf, 31), als sie daran denkt, wie er in den Scherben kniete und Mützen und Hüte aufsammelte. Nur mühsam, gelingt es ihr, sich von den Bildern zu befreien. Auch Frau Friedmann treffen sie hier an, die zu berichten weiß, dass Bernadette mit den Eltern nach Amerika ausgewandert ist. Auf ihre Frage, wo denn all die anderen Juden seien, erhält Hatü keine Antwort (Hf, 33), und auch die Eltern weichen ihren Fragen oftmals aus. Als die beiden Mädchen im folgenden Jahr kurz vor Weihnachten den Christkindlmarkt besuchen und sich bei der Gelegenheit am Bahnhof rationierte Äpfel abholen, sehen sie einen Lastwagen mit Menschen, die gelbe Sterne tragen, Frau Friedmann ist ebenfalls dabei. »Hatü ist so erschrocken, dass sie nicht weiß, ob sie sich vielleicht [alles] nur eingebildet hat« (Hf, 56), und rennt so schnell sie kann zum »Judenhaus«, dessen Tür offensteht, doch kein Stern ist mehr zu sehen. »Hier ist niemand mehr, denkt sie, und Traurigkeit schnürt ihr die Kehle zu« (Hf, 57). Als sie abends mit dem Vater in der Küche sitzt, der nach über einem Jahr endlich wieder zu Hause ist, muss sie immer noch an Frau Friedmann denken, aber auch an die Wochenschaubilder von den »Soldaten im russischen Winter«, an »totgefrorene Pferde und an vermummte Gesichter mit vereisten Bärten« (Hf, 59). Noch als junge Frau denkt sie immer wieder an jenen sie so verstörenden Winterabend zurück (Hf, 160), aber erst als Erwachsene wagt sie, mit dem Vater darüber zu sprechen. Auf ihre Frage, »habt ihr das gewusst mit den Juden«, antwortet er: »Tatsächlich gewusst haben wir nichts […]. Wollten es wohl auch nicht« (Hf, 263). Zum Krieg gehört für Hatü nicht nur, dass der Vater lange Zeit abwesend ist. Bereits seit 1940 ist vieles rationiert und nur über Marken oder Tauschgeschäfte erhältlich (Hf, 39). Wegen der Bombenangriffe muss die Wohnung verdunkelt werden, Straßenlaternen sind ausgeschaltet (Hf, 28). Lange Zeit bleibt Augsburg verschont. Am 23. 02. 1944 sitzt Hatü wieder einmal mit ihrer Familie im Luftschutzkeller, der Vater – inzwischen freigestellt als Landesleiter der Reichstheaterkammer – hält Brandwache im Theater, als plötzlich eine Explosion in nächster Nähe zu hören ist. Die Glühbirne im Bunker erlischt, Hatü »sieht jeden einzelnen Stein der Wände erzittern«, »Staub hüllt sie im Dunkeln ein«, der »Betonboden vibriert«, »alle kämpfen hustend um jeden Atemzug« (Hf, 88f.). Nach der Entwarnung begibt sie sich an der Hand der Mutter auf die Straße:

die von Alfred Hausmann 2019 herausgegebene Broschüre Das »Judenhaus« Hallstraße 14 in Augsburg (1939–43). (letzter Zugriff: 08. 03. 2021).

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»Alles scheint verschwunden in Feuer und dichtem Rauch. Von überall hört man Menschen schreien im ohrenbetäubenden Lärm, vor Angst oder vor Schmerz, sieht sie fliehen vor den Explosionen, den zusammenstürzenden Fassaden, dem Feuerregen, der aus den brennenden Dächern herabweht. Hatü starrt reglos in das Inferno, als könnte sie sich nicht sattsehen daran« (Hf, 89).

Nachdem der Vater am nächsten Morgen erzählt, dass auch das Theater völlig zerstört sei, stürmt sie los, vorbei an verkohlten Bäumen, Kadavern und Körpern, um nach dem Puppenschrein zu sehen, den die Familie im Theater abgestellt hatte (Hf, 90f.). Mit Ausnahme von Gretel kann sie keine Puppe mehr finden. Diese Zerstörung und verstörende Erfahrung in der Bombenacht vermittelt Hatü das Gefühl, »erwachsen zu sein, ohne zu wissen, was das bedeutet. […] Dass sie keine Schuld hat und sich doch schuldig fühlt« (Hf, 96). In den folgenden Jahren beschäftigt sie das immer wieder (Hf, 110, 118, 244, 255); je älter sie wird, um so differenzierter kann sie darüber nachdenken (Hf, 199), aber los lässt dieses Geschehen sie nie. Mit Blick auf die Familien- und Mentalitätsgeschichte kombiniert Hettche faktuales und fiktionales Erzählen. Was die Nachkriegszeit betrifft, werden die heftigen Spuren des Krieges deutlich, die Jahre sind von Entbehrungen, aber auch vom Aufbauwillen geprägt. Hatü, 1945 nun 14 Jahre alt, erlebt die Befreiung vom Faschismus, überall im Stadtbild sind amerikanische Soldaten zu sehen. In der Nacht herrschen Ausgangssperren, Lebensmittel werden weiterhin rationiert, an den Mauern finden sich noch die alten Parolen wie »Sieg oder Sibirien« (Hf, 105), aus dem Schutt kommt Leichengestank, die Schulen sind geschlossen; der Vater, nach der Bombennacht wieder eingezogen, befindet sich in Kriegsgefangenschaft (Hf, 106). Bei seiner Rückkehr im Spätsommer 1945 bringt er aus dem Lazarett selbstgeschnitzte Marionetten mit, einen Storch und Gevatter Tod (Hf, 113), Sinnbilder vom Beginn und Ende des Lebens. Er ist fest entschlossen, ein mobiles Puppentheater zu bauen und davon zukünftig den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Die Wohnung teilt man sich mit der ausgebombten Familie Kroher. Auf der Straße leben viele Waisen, schmutzige und hungrige Kinder (Hf, 130). Mit der Währungsreform 1948 ändert sich dann viel, von einem Tag auf den anderen sind Schaufenster und Regale gefüllt, aber die Ersparnisse der Familie sind damit nichts mehr wert (Hf, 189). Dennoch geht es in jeder Hinsicht langsam aufwärts. Während die verstörenden Erfahrungen mit der Deportation der Juden und der Bombennacht von 1944 in Hatüs Gedächtnis fest verankert sind und fortwirken, ist sie neuen, wenn auch weniger dramatischen Störungen ausgesetzt. Dazu gehört, als 14-Jährige zu sehen, wie ihr Vater und Frau Kroher sich küssen, also ein Verhältnis haben. Sie ist »enttäuscht und wütend über diesen Anblick« (Hf, 151), am nächsten Abend »zu Hause steht ihr alles wieder vor Augen« (Hf, 153), und auch später »holt sie diese Erinnerung wieder ein« (Hf, 156). Dennoch

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spricht sie nicht einmal mit ihrer Schwester darüber, sie erfährt von dieser lediglich, die Krohers seien ausgezogen, weil sie überraschender Weise eine Wohnung gefunden hätten. Viele Jahre später (1958), sie ist inzwischen frisch verheiratet, hat sie ihren ersten Sohn zur Welt gebracht und führt ihr Leben als Puppenspielerin, Ehefrau und Mutter; kurz nach der Geburt kommt ihre Freundin Vroni zu Besuch. Schon viele Jahre zuvor hatte Hatü darüber nachgedacht, dass sie einander fremd geworden waren (Hf, 209), und so ist es auch jetzt, die beiden jungen Frauen haben sich nicht mehr viel zu sagen und versuchen zunächst an die Schulzeit und Jugendjahre anzuknüpfen (Hf, 252f.). Im Laufe des Gesprächs äußert sich Hatü unwillentlich unangemessen über den amputierten Fuß von Vronis Freund, von dem französischen Film »Nacht und Nebel« über Konzentrationslager hat sie noch nie etwas gehört, und an Frau Friedmann, auf die Vroni sie anspricht, möchte sie nicht denken, was ihr aber misslingt (Hf, 254). Als sie daraufhin auch noch den Tod im Konzentrationslager mit dem von Vronis Eltern im Bombenhagel vergleicht, schaut diese die Freundin nur noch reglos an, und Hatü spürt, »dass ihre Freundschaft in diesem Moment vorbei ist« (Hf, 255).

3.2.

Hatü und das Puppentheater

Hatüs erste Erfahrungen mit dem Puppentheater reichen in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück und finden sich im dritten Kapitel der Rahmenhandlung. Im Gespräch mit dem Mädchen auf dem Dachboden erinnert sie sich an »Zigeuner« (Hf, 24), die mit ihnen verbundenen negativen Stereotype wie den Kindsraub,17 aber insbesondere an deren Spiel mit Kasperl, Polizisten, Gretel und Großmutter im Stadtpark, was allen Kindern sehr viel Vergnügen bereitete. Jetzt, als längst Verstorbene, weiß sie, was mit den Sinti und Roma passierte: »Alle Zigeuner kamen ins KZ« (Hf, 25). Die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste aber ist in der Binnenhandlung bzw. auf der Vergangenheitsebene angesiedelt, bei deren Beschreibung sich Hettche nicht immer an die Fakten hält, wie ein Vergleich u. a. mit dem Sammelband »Das große Buch der Augsburger Puppenkiste« zeigt.18 Zur Premiere des »Puppenschreins« am 15. 11. 1942, wie die Bühne zunächst heißt, die in der Wohnung der Familie Oemichen stattfindet, wird im Roman das

17 Das Mädchen kritisiert sofort den Gebrauch des Wortes »Zigeuner« und wendet sich auch gegen das Stereotyp des Kindsraubs (Hf, 24). 18 Steinbach, Das große Buch der Augsburger Puppenkiste. 2013, S. 20–53.

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Märchen »Hänsel und Gretel« aufgeführt (Hf, 75ff.).19 Nach vielen Vorstellungen für Freunde und Bekannte tritt der Puppenschrein gut ein Jahr später erstmals öffentlich vor verwundeten Soldaten im Kloster auf (Hf, 65). Die Bombennacht vom Februar 1944 setzt der kleinen Bühne jedoch zunächst ein Ende. Nach dem Krieg will der Vater nicht ans Theater zurückkehren, nur noch Puppentheater will er spielen: »Marionetten seien die ehrlichsten Schauspieler. Sie ließen sich nicht verführen, und die Freude an ihnen sei eine wahre, unschuldige Freude« (Hf, 158). Am 26. 02. 1948 ist ein Neustart möglich, nun aber nicht mehr nur mit den Familienangehörigen als Ensemble, sondern erweitert um Sprecher, Komponisten etc. (Hf, 157ff.). Der neue Name lautet schließlich »Augsburger Puppenkiste«, deren fester Sitz das Augsburger Heilig-Geist-Spital ist. Als Premierenstück wählt der Vater den »Gestiefelten Kater« (Hf, 142, 173). Auf Wunsch der jungen Ensemblemitglieder, die sich für neue Texte aussprechen und zu denen auch Hatü gehört, wird der »Der kleine Prinz« ins Repertoire aufgenommen. Die Reaktionen der Zuschauer/innen und Presse sind derart positiv,20 dass sie 1951 nach München in die Bayerische Akademie der Künste eingeladen werden und in viele andere Städte (Hf, 209). Die hohen Fixkosten erfordern jedoch auch Kompromisse, zumal viele Menschen mit steigendem Wohlstand – anders als noch 1948 – immer weniger bereit sind, Geld für Kultur auszugeben (Hf, 189). Die Augsburger Puppenkiste tritt deshalb auch mit Werbespots auf Messen auf (Hf, 229f.), auf denen Vater Oemichen allerdings das Glück hat, vom Oberspielleiter des Nordwestdeutschen Rundfunks, der auf der Suche nach Attraktionen für seinen neuen Fernsehsender ist, nach Hamburg eingeladen zu werden (Hf, 231). Wenig später folgt ein Angebot des Hessischen Rundfunks zur Fernsehübertragung (Hf, 245). Dominant im Spielplan bleiben Märchen, bis 1960 Manfred Jenning, Spielführer und Sprecher, mit einem Kinderbuch von Michael Ende erscheint: »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« (Hf, 257), womit die Inszenierung neuer Kinderliteratur einsetzt, die von den jungen Ensemblemitgliedern als »Reeducation« (Hf, 259) bewertet wird.21 In diese Geschichte der Augsburger Puppenkiste ist Hatü engstens eingebunden. Ihre erste Marionette bekommt sie wie die Schwester Weihnachten 1940 geschenkt. Es sind zwei der Heiligen Drei Könige, die der Vater während des Krieges in Calais schnitzte, für Ulla den Balthasar, für Hatü den Kaspar (Hf, 42), 19 Laut Steinbach war das Premierenstück des Puppenschreins das Märchen »Die drei Wünsche« von Franz Graf von Pocci, »Hänsel und Gretel« hingegen das ab Juni 1943 aufgeführte Stück (vgl. ebd., S. 27). 20 Vgl. Löffler, Die Augsburger Puppenkiste. 2008, S. 33f. 21 So bewerten die jungen Ensemblemitglieder das Warnschild vor der Drachenstadt mit der Aufschrift »Eintritt nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten« als Kritik an der Rassenideologie des Nationalsozialismus und nicht als rassistisch, wie in jüngsten Debatten vereinzelt zu vernehmen war.

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dessen hölzerner Kopf schwarz angemalt ist und krauses Haar trägt (Hf, 40).22 Fasziniert und versiert zugleich bringt Hatü ihren Kaspar in Bewegung, und bereits hier deutet es sich an, dass sie später nicht nur die Marionetten auf der Spielbühne führen, sondern auch das Schnitzen übernehmen wird: »Wir müssen noch Melchior machen, den dritten König« (Hf, 43), sagt sie dem Vater. Zunächst aber schaut sie ihm nur beim Schnitzen zu (Hf, 59) und liest Theodor Storms »Pole Poppenspäler«, »das schönste Buch über Marionetten« (Hf, 61), wie ihr Vater urteilt, dessen Protagonist Paul sich wie sie selbst für das Puppenspiel begeistert, insbesondere für die Figur des Kasperl. Mit Kasperl ist für Hatü seit 1944 etwas verbunden, was sie zeitlebens nicht bewältigt. Hat sie diese Figur als kleines Kind beim Spiel der Sinti oder Roma noch als belustigend empfunden, selbst noch bei der Lektüre »Kasperle auf Reisen«, die die Großmutter ihr als 11/12-Jährige schenkte (Hf, 82), so ändert sich das, nachdem sie selbst eine Kasperle-Figur geschnitzt hat. Das geschieht wenige Wochen nach dem Bombenangriff Anfang 1944 während der sog. Kinderlandverschickung. Wieder einmal liest Hatü den Zeitungsartikel über die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste, den sie in ihrer Jackentasche immer bei sich trägt, doch »er berichtet aus einer Welt, die es nicht mehr gibt«, denn »alles ist in jener Nacht verbrannt« (Hf, 95f.). Getrieben von dem Willen, zumindest einen Teil dieser Welt wiederherzustellen, begibt sie sich erstmals daran, selbst einen Kopf zu schnitzen. Dabei versucht sie, sich daran zu erinnern, wie es der Vater machte und was er ihr alles erklärte. Ein Kasperl entsteht. »Doch je länger sie ihn betrachtet, um so mehr beginnt sie, sich vor ihm zu fürchten. Denn das Lachen, das sie ihm gemacht hat, ist nicht fröhlich, sondern böse« (Hf, 97). Verstört greift sie erneut zum Schnitzmesser und will ihm ein fröhliches Gesicht verleihen, doch schon hat sie sich verletzt: »Blut tropft auf den Boden. Sie sieht, wie die Holzspäne die roten Tropfen aufsaugen wie Mohn« (Hf, 98). Da sich der Erzähler mit Kommentaren völlig zurückhält, bleibt unklar, was genau die Verstörung in Hatü auslöst, die sie selbst nicht versteht. Deutlich ist hingegen die Benutzung des Blut-Topos,23 der mit Blick auf das Ende der Geschichte darauf verweist, dass Hatü sich schuldig gemacht hat und mit dem Blut gewissermaßen ihre Schuld zu sühnen versucht. Aber das Gefühl der Verstörung wird sie nicht loslassen. Nach der Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft zeigt sie ihm in der Werkstatt ihre erste Schnitzarbeit. Der Kopf liegt neben dem Storch und Gevatter Tod auf der Werkbank, jenen beiden Figuren, die der Vater aus dem Lazarett mitbrachte, »noch immer ist er ihr so unheimlich, 22 Ein Nachfahre des Heiligen Kaspar ist Jim Knopf, wie Hatü von Michael Ende erfährt, den sie als Erwachsene zur Vorbereitung des gleichnamigen Stückes in München aufsucht (Hf, 273). 23 Braun, Christina von: Blut als Metapher in Religion und Kunst. Evangelischer Kirchentag Frankfurt 15. 6. 2001, S. 6. (letzter Zugriff: 10. 03. 2021).

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dass sie ihn nicht ansehen mag« (Hf, 124). Und selbst nachdem der Vater aus ihm einen bayrischen Kasperl gemacht hat, der wie »ein liebenswerter Bursche« (ebd.) aussieht, ängstigt sie sich noch immer vor ihm. Das ändert sich auch in den folgenden Jahren nicht, wenn der Vater gegen ihren Willen diesen Kasperl im Vorspann zur Premiere 1948 auftreten lässt (Hf, 174ff.) oder als Werbefigur auf der Messe (Hf, 230). Erst als fast 30-Jährige erfährt Hatü, was es mit ihrem Kasperl auf sich hatte: »Er war nicht böse«, wie ihr der Vater erklärt, sondern »hatte einfach nur eine Hakennase und einen wulstigen, grinsenden Mund« (Hf, 266), womit er dem verunglimpfenden NS-Stereotyp des Juden entsprach. Endlich begreift sie, was sie damals tat, und dass auch sie sich schuldig gemacht hat.

3.3.

Störungen und Erlösungen auf dem Dachboden

Die Geschichte um Hatü und ihren Kasperl ist von zentraler Bedeutung auf der märchenhaft anmutenden Gegenwartsebene bzw. der Rahmenhandlung, die mit einer Verstörung des 12-jährigen Mädchens beginnt, das mit seinem von der Familie getrennt lebenden Vater eine Vorstellung der Augsburger Puppenkiste besucht hat und sich, wie erwähnt, für eine solche Veranstaltung viel zu alt vorkommt. Zunächst ist dem Mädchen unklar, »weshalb es plötzlich so furchtbar traurig war […] und ihm Tränen in die Augen schossen. Verzweifelt drängte es sich durch die Horden kleiner Kinder«, »kauerte sich schließlich in der hintersten Ecke des großen Raumes […] und schickte allen seinen Freundinnen TränenSmileys« (Hf, 7). Über eine Wendeltreppe und zwei Türen gelangt es, derweil auf Marionettengröße geschrumpft, auf den dunklen Dachboden des Heilig-GeistSpitals. Dort trifft es als erstes die Prinzessin Li Si, die es seit frühen Kindertagen kennt und ihm deshalb alle Angst nimmt, sowie auf einen Storch. Dass ausgerechnet die Prinzessin das Mädchen empfängt, deutet bereits auf das Befreiungsbzw. Erlösungsmotiv hin, denn bei Ende ist es Li Si, die von Jim Knopf aus den Fängen des Drachen befreit wird. Kurze Zeit danach setzen sich auch all die anderen ihr vertrauten Marionetten in Bewegung, »sprachen und wieherten und meckerten« (Hf, 12). Schließlich erscheint noch »eine wunderschöne Frau […], in einem altmodischen Damenkostüm aus cremeweißer, glänzender Seide, das dem Mondlicht glich« (ebd.), die sich als Hatü vorstellt und dem Mädchen erklärt, schon lange tot zu sein. Hatü trägt offensichtlich ihr Hochzeitskleid (Hf, 250) als Totenkleid. Kasperl hat seinen ersten Auftritt auf dem Dachboden, nachdem Hatü dem Mädchen von der Bombennacht und dem zerstörten Puppenschrein erzählt hat. »Alles verbrannt, alles verbrannt!« (Hf, 91), ruft er in die Finsternis und sorgt mit seinem hämischen Lachen und der langen Nase nicht nur bei dem Mädchen für Verstörung, sondern auch bei den Marionetten und Hatü, die ihn vergeblich zum

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Schweigen auffordert. Doch er lässt sich von ihr nicht den Mund verbieten und klagt sie an, keine ihrer Marionetten im Krieg beschützt zu haben, und fragt ebenso bedrohlich, was sie damals mit ihm gemacht habe (Hf, 92). Abrupt greift er nach dem Mädchen, schleppt es über den Dachboden (Hf, 91f.) und entwendet ihm sein iPhone, als es die Dunkelheit nicht mehr aushält und mit dem Handybildschirm sein Gesicht anleuchtet (Hf, 99). Wiederholt will das Mädchen von nun an wissen, was es mit dem Kasperl auf sich hat, doch Hatü verweigert eine Antwort und schickt es stattdessen los, das Handy zurückzuholen, da sonst der Dachboden und damit die ganze Marionettenwelt zerstört würde (Hf, 107). Nach anfänglicher Weigerung und der Versicherung Hatüs, sie selbst könne diese Aufgabe nicht übernehmen, macht sich das Mädchen auf den Weg und bekommt dabei von drei Marionetten freiwillige Unterstützung (Hf, 108ff.): Urmel (das stets für Heiterkeit sorgt), Jim Knopf (der Prinzessin Li Si befreite) und Kalle Wirsch (dem König der Erdmännchen und damit vertraut mit der Dunkelheit). Auch diese drei können dem Mädchen nichts über den Kasperl erzählen, sie wissen nur, dass er mit dem Krieg zu tun hat und Hatü ihm den Aufenthalt bei den anderen Marionetten untersagte (Hf, 120). Nach langer Wanderung durch die Dunkelheit des Dachbodens entdecken sie den Kasperl »im bunten Licht des iPhones« (Hf, 180), der plötzlich enorm gewachsen war. »Riesengroß« (Hf, 181) ist er in den Augen des Mädchens, genauso »riesengroß« (Hf, 12) wie Hatü bei der ersten Begegnung vor ihm gestanden hatte. Nun »überschlugen sich die Ereignisse« (Hf, 181): Kasperl will wissen, wie das Handy funktioniert, wirbelt das Mädchen in die Luft und droht es zu töten, bis Kalle Wirsch es mit dem Zauberspruch »schrumpfe, schrumpfe« (Hf, 184) probiert, der aber erst beim zweiten Mal wirkt, als dem Kasperl das Handy aus der Hand gefallen ist. »Verblüfft hielt der Kasperl in seiner Raserei inne, […], schnurrte […] mit einem bösen Fauchen in sich zusammen« (ebd.) und ist wieder so klein wie die anderen. Seine Stimme klingt nicht mehr wütend, sondern traurig, als er sagt, niemals aus dem Dunkel hinaus gehen zu können, weil er böse sei (Hf, 185). Das Mädchen widerspricht dem Kasperl, hat nun Mitleid mit ihm und fotografiert ihn. Nach langem Zögern wagt er einen Blick auf sein Foto und stellt fest: »Ich lächle. […] Dann bin ich erlöst« (Hf, 186). Danach verschwindet er in der Dunkelheit. Als die vier wieder bei den anderen Marionetten eintreffen, lobt Hatü das Mädchen und kann es kaum fassen, dass Kasperl »für immer verschwunden« (Hf, 192) ist. Vor Erleichterung weint Hatü, doch ist sie immer noch nicht bereit, dem Mädchen die Geschichte vom Kasperl zu erzählen. Als es aber schließlich so weit ist – es geschieht wieder auf der Vergangenheitsebene –, weiß das Mädchen, dass Hatüs Geschichte vom iPhone, das den ganzen Dachboden zerstören würde, gelogen war (Hf, 267). Hatü gibt das zu, erklärt zudem, dass sie erst nach dem Gespräch mit dem Vater verstanden habe, was sie als Kind tat, und dass »sie

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überhaupt nicht besser gewesen« (Hf, 268) sei als alle anderen. Das Sprechen über die Vergangenheit brachte somit Klarheit, doch Scham und Schuldgefühl blieben, weshalb sie den Kasperl, der auf dem Dachboden dergestalt war, wie sie ihn einst geschnitzt hatte, in die Dunkelheit verbannte. Nun hatte das Mädchen ihn erlöst und damit auch Hatü, die die ganze Zeit vergeblich überlegt hatte, weshalb das Mädchen auf den Dachboden gekommen war (ebd.). Zum Schluss richtet sich der alte Storch auf und redet zum ersten Mal: »Du musst nun gehen Mädchen. […] Wir wünschen dir viel Glück in der Welt der Menschen, Mädchen […] und bedanken uns dafür, dass du den Kasperl vertrieben hast« (Hf, 278). Was der Holzschnitzer einst zu Hatü sagte, »Die Vergangenheit ist Gegenwart, die Gegenwart ist Vergangenheit« (Hf, 190), hat auch das Mädchen verstanden (Hf, 193). Von Schuldgefühlen kann man befreit werden, wie das Beispiel Hatü zeigt, von Erinnerungen nicht, zumal wenn es sich um Störungen handelt, die zum Teil traumatisch und in das individuelle Gedächtnis eingeschrieben sind. In der märchenhaften, dunklen Welt des Dachbodens, der nur durch das Mondlicht erhellt wird und in der die Zeit außer Kraft gesetzt zu sein scheint, ist neben der Figurenrede passend zum Märchen – und im Unterschied zur Binnenhandlung – das auktoriale Erzählverhalten dominant. Aufgrund der Verschränkung beider Handlungsstränge klärt sich die Geschichte um Kasperl wie auf der Vergangenheitsebene erst zum Schluss auf, endet hier aber mit der Befreiung Hatüs von ihrem Schuldgefühl, so dass sie als Tote endlich zur Ruhe kommt. Wie im Märchen fungiert das Mädchen somit als Erlöserfigur für Hatü und hat zugleich den Kasperl von dem befreit, was ihm angetan wurde. Neben diesen beiden großen Aufgaben hat es sich selbst einer Entwicklungsaufgabe gestellt, denn es konnte auf dem Dachboden die Marionettenwelt mit anderen Augen kennenlernen, die ihm gar nicht mehr wie »Kinderkram« (Hf, 192) erschien. Die anfängliche Verstörung, die ihm widerfuhr, leitete somit einen Lernprozess ein. Dieser findet wie die Erlösungen auf dem Dachboden des Heilig-Geist-Spitals statt, in der Marionettenwelt also, wo alle Puppen hängen, die jemals mitgespielt haben. In dieser Welt tritt eine Tote wie lebendig auf, ein Mädchen schrumpft auf Marionettengröße, eine Kasperl-Marionette wächst auf Menschengröße an und schrumpft wieder und Zaubersprüche zeigen Wirkung – wie im richtigen Marionettentheater, das die Menschen ›verzaubert‹: »Alles […] geschieht im Kopf des Zuschauers« (Hf, 167). Dabei ist der »Herzfaden«, so die Erklärung von Hatüs Vater, »der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns«; der Herzfaden »macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht« (Hf, 64).

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4.

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»Herzfaden« – ein All-Age-Roman?

Die Entstehung des Puppenschreins und später der Augsburger Puppenkiste in Form eines Romans ist eine spannende Geschichte über eine Institution und die mit ihr verbundene Familie Oemichen. Es wird viel Zeit- und ebenso Mentalitätsgeschichtliches eingefangen, das jedoch angesichts der Fragestellung in diesem Beitrag im Hintergrund steht.24 Beispielsweise wird die Frage nach der Schuld und Zukunft der Deutschen gestellt, wie in der Rede des Schriftstellers Ernst Wiechert, die teils auf heftige Kritik stößt (Hf, 125ff.). Frauen wie Frau Kroher können den Männern nur noch »misstrauen« (Hf, 169), weil sie versagt haben, und die Jugendlichen lesen neue Autoren wie Sartre (Hf, 156) und hören amerikanische Musik etc. Aus gattungstheoretischer Perspektive finden sich in »Herzfaden« auch Elemente des Adoleszenzromans.25 Das 12-jährige Mädchen muss mit der Problematik fertigwerden, dass die Eltern sich getrennt haben, sie fühlt sich vom Vater unverstanden und denkt an all den »Kinderkram« in ihrem Zimmer, der ihr nur noch »peinlich« ist, sowie an den Jungen aus der Klasse, in den sie »ein bisschen verliebt« ist (Hf, 192). Hatü wird als Zehnjährige rot, wenn Hanns sie »mit einem verschmitzten Lächeln« (Hf, 36) anschaut. Als Teenager schlägt »ihr Herz vor Aufregung« (Hf, 157), wenn sie den etwas älteren Michel sieht, und seit seinem Kuss, den sie erwiderte, weiß »sie gar nicht mehr, wer sie ist« (Hf, 175). Nachdem sie Hanns wiedergetroffen hat, der als Flakhelfer in amerikanische Gefangenschaft geriet, errötet sie in seiner Gegenwart (Hf, 122). Später kommen sie sich näher und es kommt offenbar zum Ersten Mal, was aber nicht näher beschrieben wird: »Das Erste, woran Hatü denken muss, dass sie sich nicht schämt« (Hf, 198). Sie ist so glücklich darüber, dass sie ihrem Vater erzählt, einen Freund zu haben (Hf, 208). Neben dieser Liebesgeschichte, die mit der Heirat und Familiengründung endet, spielen nach dem Krieg auch Unternehmungen mit Freund/ innen eine wichtige Rolle. Sie fahren mit dem Rad ins Grüne, hören Musik von Bing Crosby in den Ruinen, verfolgen aber auch den Hauptkriegsverbrecherprozess (132f.), besuchen die ersten Kunstausstellungen (Hf, 144), den Zoo (Hf, 194) und reden über Literatur. Thomas Hettche gelingt mit seinem facettenreichen Roman ein wichtiger Beitrag zum kulturellen Gedächtnis. Es ist der erste fiktionale Text über die Augsburger Puppenkiste und Hannelore Oemichen, die von Kindesbeinen an daran mitwirkte und deren Ehemann Hanns-Joachim Marschall später die Lei24 Insbesondere Thomas Hettches Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit wäre eine eigene Untersuchung wert. 25 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 7. Aufl. Berlin: Cornelsen 2016, S. 165–200.

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tung übernahm.26 Die 27 filigranen Zeichnungen von überwiegend Marionetten, aber auch von Schnitzwerkzeug oder Kulissen – je nach Ebene in Blau oder Rot – unterstreichen, dass die Augsburger Puppenkiste im Mittelpunkt steht. Über Alltag, Familie und Mentalität des Nationalsozialismus oder auch der Nachkriegszeit kann man aus vielen anderen Romanen etwas erfahren, sowohl aus dem Bereich der Erwachsenen- wie auch der Kinder- und Jugendliteratur. Das Besondere an Hettches Roman aber ist die Darstellungsform, vor allem die Verknüpfung der Ebenen. Genauso wie seine beiden Hauptfiguren verstört und die Kritiker/innen aufgestört sind, so ergeht es vermutlich zu Beginn der Lektüre auch vielen Leser/innen. Die Farbe des Schriftsatzes und die Wahl des Tempus für die beiden Zeitebenen irritieren, es gilt Verbindungen herzustellen, den Erzähler zu bestimmen und den ›roten Faden‹ auf der Gegenwartsebene zu suchen. Hat man ihn gefunden und ist eingestiegen in die Marionettenwelt, kommt es einem vor, als ob der Autor auch die Leser/innen zu einer Marionettenfigur erkläre. Einerseits indem er sie in die Welt der graziös tanzenden Figuren hineinzieht, d. h. in einen Tanz, den, wie schon Heinrich von Kleist 1810 in »Über das Marionettentheater« betont, kein »geschickter Tänzer seiner Zeit […] zu erreichen imstande wäre«,27 und den auch das Mädchen so genießt, wenn Hatü es durch die Lüfte schwingt (Hf, 69ff., 274). Andererseits indem er sie vor allem infolge der Handlungsführung wie Marionetten an den Fäden hält und von einer Szene zur nächsten tanzen lässt: von der roten Marionetten- zur blauen Menschenwelt und innerhalb dieser häufig von einer zur anderen Szene. Kommt der Leser dann an jene Stelle, in der Hatüs Vater erklärt, rot sei die Farbe des Blutes, also die des Menschentheaters, Marionetten hingegen hätten kein Blut, weshalb ihr Theater die Farbe des Himmels aufweise (Hf, 67), stellt sich angesichts der gewählten Schriftfarben erneut Verwirrung ein. Aber vielleicht gehört das ebenfalls zu dem Spiel mit den Leser/innen, und auch das macht Hettches Roman lesenswert. Eigenen Aussagen zufolge wollte Hettche seinen Roman ursprünglich für seine Tochter schreiben, die mit 13 oder 14 Jahren ihn würde lesen können, wie er dachte. Dann aber entwickelte die Geschichte ihr Eigenleben und ihn habe nicht mehr interessiert, »ob dies nun ein Buch für Erwachsene oder Jugendliche wird.«28 Ein Kinderbuch zu verfassen, war also von Hettche nie intendiert. Ist es 26 Vgl. Steinbach, Das große Buch der Augsburger Puppenkiste. 2013, S. 54. 27 Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Ders: Werke und Briefe. Bd. 3., 2. Aufl. Berlin: Aufbau 1984, S. 473–480, hier: S. 475. 28 Bartels, Gerrit: Thomas Hettche: »Unsere Fantasie bedeutet Freiheit.« Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Hettche über die Augsburger Puppenkiste, Jim Knopf als erste deutsche Fernsehserie und seinen Roman »Herzfaden«. In: Der Tagesspiegel vom 10. 10. 2020. (letzter Zugriff: 02. 04. 2021).

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dennoch ein sog. Crossover- oder All-Age-Roman geworden?29 Unter marktstrategischen Gesichtsprunkten ist die Frage zu verneinen, denn die seit langem zu beobachtende Tendenz, in diesem Fall den Titel in zwei Verlagen mit je unterschiedlichen Covern, aber identischem Text zu publizieren,30 trifft nicht zu. »Herzfaden« erschien nur in einem Verlag, bei Kiepenheuer & Witsch, der für Erwachsenenliteratur bekannt ist. Konkrete strukturelle Merkmale, die einen literarischen Text als All-Age ausweisen, gibt es jedoch nicht, so dass dieses Phänomen immer am Einzeltext festzumachen ist.31 Wie die zahlreichen positiven Rezensionen zeigen, begeistert »Herzfaden« vor allem jene älteren Erwachsenen, die mit den legendären Fernsehproduktionen der Augsburger Puppenkiste in den 1960/70er-Jahren großgeworden sind. Spätere Generationen haben nur noch einzelne Serien kennengelernt, die als Klassiker zum Beispiel im Kinderkanal wiederholt werden oder auf DVD erhältlich sind. Sie werden daher mit einem anderen Blick an diese Lektüre herangehen. Aber warum sollten nicht auch junge Erwachsene Gefallen an der Geschichte der heranwachsenden Hatü und ihrer Puppenkiste finden, an der verzaubernden Marionettenwelt und nicht zuletzt an dem Spiel, auf das man sich als Leser/in einlässt? Insofern: Ja, Hettches »Herzfaden« ist ein All-Age-Roman, aber Genaues können uns – wie bei solchen Fragen immer – nur Rezeptionsstudien sagen.

29 Zur Erörterung der unterschiedlichen Termini vgl. Bertling, Maria: All-Age-Literatur. Die Entdeckung einer neuen Zielgruppe und ihrer Rezeptionsmodalitäten. Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016, Kap. I. 30 Ebd., S. 21. 31 Vgl. Blümer, Agnes: Crossover/All-Age-Literatur. In: Baumgärtner, Alfred Clemens/Pleticha, Heinrich/Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): Kinder- und JugendLiteratur. Ein Lexikon. 41. Erg.-Lfg. Meitingen: Corian 2011, S. 1–15, hier: S. 10.

Ewelina Kamin´ska-Ossowska

Störungen in der Adoleszenz in Lilly Axsters »Die Stadt war nie wach« (2017)

1.

Einleitung

Lilly Axster ist seit 1996 Mitarbeiterin bei der Beratungsstelle »SELBSTLAUT gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Vorbeugung – Beratung – Verdachtsbegleitung« in Wien.1 Der Verein zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch möchte mit seinen Seminaren und Broschüren »Eltern und Erziehungsberechtigten Anregungen geben, wie sie mit ihren Kindern über unterschiedlichste Themen, wie zum Beispiel Gefühle, Zukunftsängste, Isolation, Konflikte, Gewalt oder Eigenverantwortung, ins Gespräch kommen können.«2 Zuhören und Verstehen sind dabei häufig erwähnte Eigenschaften, eigentlich eine Voraussetzung für dieses Gespräch. Die Erfahrungen aus dem Verein liegen Axsters Roman »Die Stadt war nie wach« unmissverständlich zugrunde, die Autorin bedankt sich nämlich am Ende bei den Mitarbeitern des Teams. Die Protagonisten sind alle Fünf, eine aus Minh, Hannes, Reza, Ayo und Tony bestehende Freundesgruppe an der Schwelle zum Erwachsenwerden, begleitet vom Hund Nelson Mandela. Fünf Freunde und ein Hund führen wohl die Assoziation mit »The Famous Five« aus Enid Blytons 21-bändiger Serie aus den Jahren 1942–1963 vor Augen, zuweilen fallen auch Ähnlichkeiten in Bezug auf die Problemstellung, etwa die Identitätssuche der Figuren, sowie eine gewisse Auflehnung gegen gesellschaftliche Rollen und Erwartungen auf. Doch bei Lilly Axster handelt es sich nicht um Abenteuer von pubertierenden neugierigen Teenagern, sondern um Adoleszente, die mit den Gefahren der modernen Gesellschaft konfrontiert werden und ihre eigene Ahnungs- sowie Hilflosigkeit vor sich selbst eingestehen müssen. Unter den aufgegriffenen Problemen wären zu nennen: Veränderungen der für ewig gehaltenen Freundschaft, erste sexuelle Erfahrungen und Suche nach der sexuellen Orientierung, beschränkte Kommunikationsfähigkeit und Wunsch nach Ausbruch aus dem Alltag in Familie und 1 Vgl. (letzter Zugriff: 24. 07. 2021). 2 (letzter Zugriff: 02. 07. 2020).

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Schule. Im Hintergrund erscheinen noch Migrationshintergrund3 und Adoption, doch haben sie keinen Einfluss auf die Handlungsentwicklungen. Zum zentralen Punkt wird der sexuelle Missbrauch seitens eines Erwachsenen, der seine dienstliche Machtposition ausnutzt: Reza wird zufällig Zeuge, dass der Förderund Vertrauenslehrer Stoibler eine Gruppe von Schülern zum Onanieren anregt, diese Situation von einem anderen Kind filmen lässt und alles schließlich für eine Art Gruppentherapie für sexuell Traumatisierte erklärt. Der Junge spürt, etwas Verbotenes und Gefährliches gesehen zu haben, weiß aber nicht, wem und wie er seine Gefühle anvertrauen kann. Er will es jemandem erzählen, wagt es jedoch nicht, selbst vor seinen Freunden verschweigt er lange seine Gefühle und Zweifel.

2.

Zur Form- und Gattungsspezifik des Romans

Bereits in den 1980er Jahren erfolgte die Enttabuisierung der Erzählstruktur in der KJL, der Beschäftigung mit existenziell-philosophischen Fragen und der Beschreibung seelischer Prozesse, der die Tendenz zum psychologischen Realismus entsprang. »Zur bevorzugten Form der neuen erzählenden Kinderliteratur hat sich der psychologische Roman mit seiner Dominanz des inneren Geschehens und seiner auf Ich-Stabilisierung und Selbstfindung konzertierten Thematik entwickelt.«4 Der Leser sollte nun die Werke auf besondere ästhetische Art und Weise rezipieren, dabei Empathie und seine eigene innere Selbstwahrnehmung reflektieren, die Welt aus einer anderen Perspektive als aus der eigenen betrachten und so eigene Ideen oder eine kritische Wahrnehmung der geschilderten Probleme entwickeln.5 Carsten Gansel erläutert die Bedeutung der problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur wie folgt: »Problemorientierte Texte wollen, nahe an der Wirklichkeit bleibend, aktuell aufklären, Einstellungen ändern, für politische und soziale Forderungen sensibilisieren. Das ist

3 Davon könnten die Vor- und Nachnamen der Figuren zeugen: Hannes Hilic´, Reza Rahmay, Minh, vor allem aber Ayo Nneoma Oghame-Wiesenauer, bei der eine hybride Identität möglich wäre – so werden Menschen bezeichnet, die mindestens zwei unterschiedlichen Kulturen (meist auch differenten Ethnien) entstammen. Vgl. Papadimitriou, Marina/Rosebrock, Cornelia: Identitätsentwürfe in der Differenz. Thema eines transkulturellen Literaturunterrichts. In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 1, 2014, H. 1, S. 1–14, hier: S. 3–4. (letzter Zugriff: 24. 07. 2021). 4 Ewers, Hans-Heino: Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur um 1970. Erstveröffentlichung: 11. 05. 2013 (letzter Zugriff: 24. 07. 2021). 5 Vgl. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, S. 73.

Störungen in der Adoleszenz in Lilly Axsters »Die Stadt war nie wach« (2017)

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neben dem unterhaltenden, lesefördernden Anspruch eine ihrer Aufgaben, der exemplarische Fall steht im Vordergrund. Um die Erfassung von epischer Totalität mit existenziellen Sinnangeboten geht es ebenso wenig wie um die Darstellung des Einmaligen einer Figur oder die psychologische Analyse. Die Wirksamkeit gewinnen problemorientiere Texte aus der Authentizität des Dargestellten, dem Bezogensein auf jeweils aktuelle Wirklichkeitsfelder und vor allem aus dem Wiedererkennungseffekt.«6

Lilly Axster behandelt in ihrem Roman Themen, die seit den 1990er Jahren in der KJL kein Tabu mehr sind: adoleszente Identitätskrisen, Gewalt, Sexualität und sexuellen Missbrauch und weibliche Homosexualität – hier aber ohne eindeutiges homosexuelles Coming-out.7 Für die Zuordnung zum modernen Adoleszenzroman sprechen viele Merkmale,8 unter anderem das Alter der Protagonisten, wichtige männliche Figuren (Reza und Hannes), die zum Teil als Einzelgänger oder Außenseiter dargestellt werden, aber auch moderne Erzähltechniken wie die personale Ich-Erzählung (in Dialogen und Chatmitteilungen), die erlebte Rede oder der Innere Monolog, die der Exploration der Innenwelten und Krisen der Handlungsträger dienen. Unter den Protagonisten gibt es keine typisierten Figuren mit beispielhaften Handlungen, es sind »je individuelle und unverwechselbare Einzelpersonen […]«.9 Bei der Untersuchung der Handlung fällt auf, dass hauptsächlich der Prozess der Identitätssuche mit vielen Krisenerfahrungen, die auf bestimmte Problembereiche hinweisen, reflektiert wird: »die Ablösung von der Herkunftsfamilie, die Entwicklung eines eigenen Wertesystems, die ersten sexuellen Erfahrungen mit heterosexuellen oder gleichgeschlechtlichen Partnern, der Aufbau eigenständiger Sozialkontakte in der Peergroup und die Übernahme einer neuen sozialen Rolle.«10

Die obigen Punkte lassen sich mit Axsters Figuren gut belegen. Die Ablösung ist vor allem für Ayo bedeutend, die von dem geordneten Alltag müde ist und irgendetwas Aufregendes wünscht: »[…] anhaltende Dramatik, Teenegerinnenschwangerschaft, große Veränderungen, Wichtig-Sein. Nur nie wieder Frühstück Mittagessen Abendbrot und so weiter«.11 Schließlich finden aber alle Fünf Zuflucht in der von Hannes unter falschem Namen gemieteten Wohnung. Ihr Wertesystem gründet auf Misstrauen gegenüber den Erwachsenen, auf 6 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen 2016, S. 163. 7 Vgl. ebd., S. 164. 8 Vgl. dazu Kaulen, Heinrich: Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmoderne. In: 1000 und 1 Buch, 1999, H. 1, S. 4–12, hier: S. 6. 9 Ebd., S. 7. 10 Ebd. 11 Axster, Lilly: Die Stadt war nie wach. Roman. Wien: Zaglossus 2017, S. 23 [im Folgenden unter der Sigle »DS« mit Seitenzahl im Text].

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Loyalität gegenüber den Clique-Mitgliedern und der Überzeugung, Unrecht vorbeugen zu müssen, auch wenn man nicht richtig weiß, was man dafür unternehmen sollte. Tony und Reza kuscheln miteinander, ihre Intimität geht in das intensive Streicheln und Reiben von Geschlechtsorganen über, bei dem Jungen kommt es zum Samenerguss; nachdem er sie beide mit einem Handtuch abgewischt hat, hat das Mädchen Angst, infolge dieses »Nicht-Geschlechtsverkehrs« (DS, 18) schwanger zu werden. Andererseits fühlt sich Tony zu Minh hingezogen, die ihre lesbische Veranlagung entdeckt und unter den beiden Freundinnen nach der Richtigen sucht. Mit Ayo tauscht sie vielsagende Blicke und ihre Mütze aus. »Minh will mit Tony schlafen. Und es auch so nennen. Plötzlich, mitten am Nachmittag, ist ihr das klar. Und sonst nichts. Bevor sie dieser Klarheit einen Namen gibt, lesbisch, aussichtslos, verliebt, eifersüchtig oder sehnsüchtig, wählt sie Tonys Nummer« (DS, 44f.).

Die Sozialkontakte von allen Fünf sind auf diese Gruppe reduziert, von anderen erfährt der Leser nicht. Mit Eltern reden die Figuren nicht immer offen, aber Minhs Mutter erweist sich als eine offene Frau, die der Tochter relativ große Freiheit einräumt und Vertrauen entgegenbringt. Das Schulpersonal täuscht Hilfsbereitschaft und Interesse vor, es sind aber diejenigen, die am meisten die Jugendlichen enttäuschen. Die Hoffnung auf eine rechtliche Untersuchung des Falls und Bestrafung des Täters erblicken sie dann in den Mitarbeitern der Kinder- und Jugendanwaltschaft, die die von Reza beobachtete Situation ernstnehmen. Wie im typischen Adoleszenzroman wird hier aber nichts abgeschlossen, die Klärung des Machtmissbrauchs des Lehrers und auch des Prozesses der Suche nach der eigenen Identität der Protagonisten bleiben offen, es gibt keine konkreten Vorschläge zur Lösung der aufgegriffenen Probleme. Die Fokussierung auf die Körperlichkeit und die sexuelle Identitätssuche lassen den Text teilweise im Umfeld des Initiationsromans situieren, in dem ein Wandel der Wahrnehmungsgrenzen stattfindet. Infolge dieses Prozesses verlassen die Figuren ihren bisher vertrauten Raum, erleben einen Übergang – hier zu neuen gesellschaftlichen Strukturen (die gemeinsame Wohnung als Schutz- und Wahlraum) und betreten so den Weg zur Eigenständigkeit und zu bewussten Entscheidungen, das heißt sie wählen ihren Eingang in die nächste Lebensetappe – das Erwachsensein. Andererseits – darauf deutet die Mitarbeit Axsters in der Beratungsstelle »SELBSTLAUT« hin – kann es sich auch um ein sog. Problembuch handeln, das vor allem auf eine thematische Informations- und Aufarbeitungslücke aufmerksam machen sollte. Axsters Buch trägt auch die Züge eines postmodernen Adoleszenzromans, für den unter anderem verschiedene Provokationen, das Abschaffen der Grenzen zwischen Hoch- und populärer Unterhaltungsliteratur sowie die Einbeziehung der Elemente der Alltagskultur im Bereich der Themenwahl und des Schreibstils

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typisch sind. Die Identitätssuche verwandelt sich gewöhnlich in eine Suche nach immer neueren Erlebnissen und Sinnengenüssen auf einer Endlosparty;12 dies gilt aber für »Die Stadt war nie wach« nur beschränkt. Im postmodernen Adoleszenzroman wirkt nicht die Thematik selbst provokant, sondern, so Heinrich Kaulen, »[…] der Umstand, dass sich diese Romane bei der Schilderung jugendlicher Normverstöße von jeder moralisierenden Außenperspektive und von jedem pädagogischem Meta-Diskurs freimachen und, wenn man genau hinsieht, unsere traditionellen Vorstellungen von Identitätsfindung, von Autonomie und Persönlichkeit, unterminieren.«13

Die Probleme, hier vor allem Körperlichkeit und Sexualität, werden ohne Hemmungen, sogar obszön zur Sprache gebracht, was in derartigen Texten »mit aufstörender Intention […], […] Tabus zu brechen«14, geschieht. Axster verzichtet auf eine feste Sinnkonstruktion und demzufolge auf eine lineare Handlung – es sind 30 Kapitel, eigentlich locker nacheinander folgende Texte, in der Überschrift stehen immer ein Wochentag und ein Satz oder Ausdruck, die nur vage die Problematik andeuten. Die erzählte Zeit umfasst nämlich 30 Tage, innerhalb deren sich alles im Leben der Protagonisten verändert. In den fragmentarischen Episoden werden die Entwicklungen aus der Perspektive immer einer anderen Figur skizziert. Als ein Spiel mit traditionellen Konventionen kann man hier die per SMS oder Chat geführten Dialoge der Jugendlichen betrachten, so dass eine Collage entsteht: Passagen mit Schilderungen eines extradiegetischheterodiegetischen Erzählers mit Nullfokalisierung (auktorialer Erzähler), der Sich-Abspielendes berichtet, traditionelle Dialoge (direkte Rede, transponierte Figurenrede), für die modernen Kommunikationsformen typische Mitteilungen (direkte Rede, transponierte Figurenrede, Gedankendarstellung) und die mit Kursivdruck markierten, von Minh verfassten Personenprofile und ihre den Handlungsrahmen sprengenden Blogeinträge (Gedankendarstellung). In der Position des Erzählers überwiegen der narrative (Bericht, Wiedergabe der Gedanken) und der deskriptive Modus, die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, Gedanken und Gefühle an Personen oder Situationen entfaltet die räumliche Ordnung. Unerwartete Szenenwechsel, schnelle Schnittfolgen, das hohe Erzähl12 Vgl. Gansel, Carsten: Der Adoleszenzroman. Zwischen Moderne und Postmoderne. In: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd 1. Hrsg. von Günter Lange. 4. unveränderte Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2005, S. 359–398, hier: S. 381: »[…], was zählt, ist die Gegenwart. Das Leben als Endlosparty und die Welt als Erlebnispark.« 13 Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 9. 14 Gansel, Carsten: Adoleszenzkrisen und Aspekte von Störung in der deutschen Literatur um 1900 und um 2000. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder der Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 261–287, hier: S. 284.

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tempo oder rasche Dialoge im postmodernen Adoleszenzroman sind auf den Einfluss der durch die Medien geprägten Techniken der filmischen Schreibweise zurückzuführen.15 Entsprechend dieser Zuordnung sollte der Leser alle Entwicklungen akzeptieren, auch wenn sie mit seinem Weltbild nicht übereinstimmen. Zu dieser Situation notiert Carsten Gansel: »Die Erzählhaltung gegenüber den dargestellten Verhältnissen ist keineswegs ablehnend-aggressiv, vielmehr neutral, ironisch. Auf moralische Wertungen wird verzichtet. Nicht Rebellion gegen die Konsum- und Medienwelt ist angesagt, sondern die eines uneingeschränkten Hedonismus wie einer postmodernen Polyvalenz des Ich.«16

Der postmoderne Adoleszenzroman bietet ein neues Bild von dem Ablauf der Adoleszenzphasen und somit die Möglichkeit, neu über die Welt, in der die Jugendlichen zusammen mit den Erwachsenen leben, nachzudenken. Das gilt auch für »Die Stadt war nie wach«. Der Text richtet sich in erster Linie an Jugendliche ab 14 Jahren, aber der Ernst der Problematik verursacht, dass in einer Rezension ein deutlicher Hinweis auf begleitetes Lesen und ein Gespräch mit einer erwachsenen Bezugsperson steht.17 Die empfohlene Anwesenheit eines erwachsenen Mitlesers,18 also die Erweiterung des Rezipientenkreises, würde es erlauben, den Roman von Axster auch in der All-Age- oder Crossover-Literatur zu situieren.19

15 Vgl. Kaulen, Jugend- und Adoleszenzromane. 1999, S. 9. 16 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 122. 17 viki: Die Stadt war nie wach. Gegen die Gewalt (an)schrei(b)en. (letzter Zugriff: 24. 07. 2021). 18 Vgl. Kümmerling-Meibauer, Kinder- und Jugendliteratur. 2012, S. 27. 19 Zu der Komplexität dieser Literatur vgl. Glasenapp, Gabriele von: Grenzüberschreitungen. Kinderliteratur und ihre erwachsenen Leser. In: Quo vadis, Kinderbuch? Hrsg. von Christine Haug und Anke Vogel. Wiesbaden: Harrassowitz 2011, S. 37–49, hier: S. 37: »Mehrfachadressierung, Doppelsinnigkeit, All-Age-Literature, Crosswriting, Crossreading, Crossover, Cross-Fiction, Cross-Literature – die Vielfalt der Begrifflichkeiten entspricht der Komplexität des Gegenstandes, der damit bezeichnet werden soll. Es handelt sich in diesem spezifischen Kontext zunächst um literarische Texte, die sich aus vielfältigen Gründen und auf vielfältige Weise einer eindeutigen Zuordnung hinsichtlich ihrer Rezipienten verweigern. Die Begrifflichkeiten erstrecken sich aber auch auf die Rezipienten selbst, die den impliziten wie expliziten Adressierungen der Texte keine Folge leisten, sondern sich der Lektüre von Werken […] hingeben, die nicht an ihre, sondern an eine andere Generation gerichtet sind.«

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Grenzüberschreitungen »Lilly Axster erzählt in ihrem dichten Text über den auch gefährlichen Transitraum Adoleszenz, über eine Phase, in der sich viel verändert und die Kommunikation mit den Veränderungen bisweilen nicht mithält. Sie erzählt über die Schwierigkeit von Kindern und Jugendlichen, sich gegen Übergriffe Erwachsener zu wehren.«20

Für diese Lebensetappe sind Ausbrüche aus dem vertrauten Schutzraum und Grenzüberschreitungen in vielerlei Hinsicht charakteristisch. Auch wenn keine schweren Störungen dargestellt werden, wollen die meisten Jugendlichen Grenzen austesten oder überschreiten – in Bezug auf soziale Regeln, die eigene Belastbarkeit oder im Zuge der Suche nach ungewöhnlichen Erfahrungen.21 In der ersten Szene des Romans lernt der Leser die Figuren als Schüler und Schülerinnen der Wald-Gesamtschule kennen, die vor einer Eisdiele sitzen und am Vortag von Tonys 17. Geburtstag die letzten Stunden im September genießen. Zu diesem Zeitpunkt sind sie fest von einem überzeugt: »alles geht durch fünf zu teilen, sogar die vier farben im kartenspiel, kreuz pik herz karo, die himmelsrichtungen, alle guten dinge die sieben weltwunder, die drei heiligen könige, eine fussballelf, jede pizza, die zwölf stufen vor der eisdiele, ein sechser im lotto, alles, einfach alles geht durch fünf zu teilen. auch du und ich. Durch alle und uns zwei. und die anderen drei. macht fünf« (DS, 8).

Die innige Freundschaft zersetzen bald Geheimnisse, die Jugendlichen belügen sich und misstrauen einander. Übergänge im Leben der Figuren sind stark mit Körperlichkeit und der sexuellen Sphäre verbunden. Als Erste versucht Tony ihre Angst vor der möglichen Schwangerschaft mitzuteilen und wiederholt dreimal einen Satz: »Ich verstehe das nicht« (DS, 17). Noch bevor genaue Ausführungen folgen, brummt Ayo: »Das ist mir zu intim« (ebd.). Ihre Vorahnung täuscht sie nicht, Tony erzählt von ihrer ersten sexuellen Erfahrung mit Reza. Die Reaktion der Zuhörerinnen offenbart ihre Ratlosigkeit, die Situation überfordert die Jugendlichen: »Die Freundinnen nicht ansehen müssen. So genau haben die drei noch nie über Sex gesprochen. Die Worte aussprechen oder anhören, die Nase hinein und Penis und herumwischen und Gefühl und reiben. Der Nicht-Geschlechtsverkehr steht da herum im Esszimmer und sie wissen alle drei nicht, was damit geschehen soll. Tony ist womöglich schwanger und damit hat keine gerechnet. Jede fühlt sich allein« (DS, 18).

20 Aus der Empfehlung vom Institut für Jugendliteratur. (letzter Zugriff: 28. 06. 2020). 21 Vgl. Gansel, Carsten: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Gansel/Zimniak, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. 2011, S. 17–48, hier: S. 44f.

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Die Entdeckung der eigenen Sexualität wird als plötzliche Störung in dem bisherigen Lebensschema angesehen. Die Jugendlichen scheinen mit der intimen Aussage überfordert zu sein, als würden sie erahnen, dass ihre vertraute Ordnung bald gänzlich verschwände. Ayo sieht aber in der Störung etwas Positives, sie erklärt Tonys Schwangerschaft für eine Möglichkeit des Ausbruchs aus der Alltagsmonotonie und versucht diesen Gedanken nicht einmal zu verbregen. Ihr Trostversuch klingt kindlich und stellt ihre Naivität bloß: »Falls du wirklich schwanger bist, wird Reza da sein. Wenn nicht, kannst du ihn gleich vergessen. Oder Hannes übernimmt das. Er macht alles für Reza. Beide wären gut. Einer würde es schaffen. Seid nicht engstirnig« (DS, 19).

Alle begreifen zwar den Ernst der Lage, sind aber nicht imstande, die Wahrheit laut zu sagen, was schließlich der Erzähler übernimmt: »Die drei Freundinnen ahnen, dass Reza sich weigern würde, Kindergeburtstage zu organisieren. Und sie selbst würden sich auch weigern« (ebd.). Der Schritt in Richtung Erwachsenenleben misslingt. Tony kauft einen Schwangerschaftstest, öffnet aber die Packung nicht, »weil es einfach nicht gegangen ist, allein die Vorstellung, dass der Test positiv ausfallen würde, also negativ, also schwanger, also alles auf einmal, ist nicht gegangen« (DS, 37). Das Gedankenchaos zeigt, dass sie immer noch ein Kind ist, das vor Verantwortung zurückschreckt. Die Erleichterung bringt erst ein Besuch bei der Gynäkologin, ehe sie ein Gespräch mit Reza wagt, dem sie eine Falle stellt und ihn zu der nicht mehr nötigen Entscheidung »Kind oder Abbruch« zwingt. Er weigert sich und schreibt eine SMS mit dem Wort »«, sendet sie aber nicht. Er macht sich Gedanken über eine Wohnung für sie (vgl. DS, 50f.) und über seine Lage: »Wenn Tony die Schwangerschaft abbricht, merkt niemand, dass er erwachsen ist und selbstständig. Das traut ihm niemand zu. […] Er fürchtet sich vor seiner neuen Macht […]« (DS, 51). Beide potenzielle Eltern sind der Situation nicht gewachsen. Der Eintritt in das Erwachsenenleben erfolgt zu schnell und stellt ihre eigentlich erst aufkeimende Beziehung auf die Probe. Eine andere Form der Grenzüberschreitung sind Minhs Überlegungen zu ihrer Homosexualität. Zunächst sind es kleine Experimente, so der Blicktausch mit Ayo und das Handhalten mit Tony. Später schläft sie mit dieser im Beisammensein von Ayo, die Geräusche wie Stöhnen und Seufzen hört. Ihre Veranlagung wird als etwas Natürliches angesehen. Einem Gespräch mit Ayo entnimmt man die Vermutung, dass auch die Mutter die homosexuelle Neigung akzeptiert: »Ich dachte, deine Mutter weiß, dass du dich nicht in XYs verliebst« (DS, 124).22 Das Thema Homosexualität erscheint ebenfalls in der Vermutung von Hannes, 22 Ähnliches auch bei DS, 129.

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»dass sein Bruder schwul sein könnte. Ihm kann er es doch sagen, er wird ihn unterstützen, er wird für ihn da sein, er setzt sich für ihn und gleiche Rechte für alle ein, er wird dafür sorgen, dass niemand, wirklich niemand an der Schule auch nur eine blöde Meldung macht, er wird dafür sorgen, dass von den Eltern keine unpassende Frage kommt, er wird Homophobie an der Waldschule und überall bekämpfen« (DS, 30).

Er informiert die Freunde über Bedeutung und Herkunft der Begriffe Heteronormativität und Homophobie, die anderen reagieren darauf mit Verständnis und liefern Hinweise auf Internetseiten zu dieser Thematik. Als eine besondere Grenzüberschreitung, mit gravierenden Folgen, muss hier das Verhalten des Lehrers angesehen werden. Sex, Gewalt und Manipulation wechseln dabei miteinander ab und verunsichern zunächst Reza, dann die anderen, die schließlich davon erfahren. Stoibler manipuliert auf Schritt und Tritt: Alle in der Nachbarschaft und Arbeit sind von seiner Ehrlichkeit und seiner pädagogischen Kompetenz überzeugt – in Wirklichkeit ist es jedoch nur eine Scheinheiligkeit. Reza wird Zeuge einer angeblichen sexuellen Therapie der Schüler, Stoibler verbreitet dann unter Bekannten (Minhs Mutter) Lügengeschichten über den Jungen, redet dem kleinen Bruder von Hannes sexuellen Missbrauch in der Kindheit ein und veranlasst ihn, Reza einen Film mit Kinderpornografie zu schicken. Er unternimmt auch weitere Abwehrmaßnahmen, unter anderem fabriziert er den angeblich im Einverständnis der Schulleiterin geschickten Brief an Rezas Eltern mit der Schulverweis-Drohung, schließlich weiß er sogar die direkte Anklage gegen sich mit pseudowissenschaftlichen Theorien abzuwenden. Reza soll eine als Korrektiv gemeinte Rede vor der Schulgemeinschaft halten und sein in Wirklichkeit nicht vorhandenes Interesse an der Kinderpornografie kommentieren. Der erschütterndste Teil von Rezas Rede ist das Ergebnis des langen inneren Kampfes mit sich selbst sowie der viel zu späten, aber aufschlussreichen Absprache mit den Freunden und Minhs Mutter, die ihm geglaubt und somit die nötige Unterstützung gegeben haben: »[…] Sie schließen die Tür auf. Sie sehen drei entblößte Schüler und Schülerinnen, die sich je selbst befriedigen. Verschwitzte, verzerrte Gesichter, Scham, Trotz. Sie sehen ferner einen jüngeren Schüler, ein Kind, das die anderen mit einem Telefon filmt. Zudem sehen Sie einen Lehrer, der Sie freundlich auffordert, zu bleiben und mit Ihrer Anwesenheit die therapeutischen Maßnahmen zur Heilung von in der frühen Kindheit traumatisierten Jugendlichen zu unterstützen. Sie bleiben. Und wissen nicht, wieso« (DS, 139).

Die Reaktionen des Publikums sind Stille, Unsicherheit, Anerkennung seitens Minhs Mutter und schließlich die Frage einer Schülerin nach dem hier gemeinten Lehrer. In dem alle betreffenden »Sie« als Anredeformel anstelle des auf ein individuelles Erlebnis hinweisenden »Ich« bemerkt man kaum all die Ängste, die der Junge hat ausstehen müssen. Die Satzkonstruktionen sind komplizierter und

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reifer, da es sich um einen gut durchdachten und geordneten Text handelt. Wird der Name des Täters genannt, spricht die Direktorin von einer Provokation, Stoibler aber fällt aus seiner Rolle des Vertrauenslehrers nicht aus: »Ich bin sicher, es gibt einen wahren Kern in diesem schrecklichen Beispiel, das Reza vorgetragen hat, und wie wir alle wissen, werden, gerade im Fall von sexualisierter Gewalt, von Betroffenen häufig Vertrauenspersonen an Täterstelle gesetzt, aus der Hoffnung heraus, diese mögen Verständnis haben und die Beschuldigung, die eigentlich ein Hilfeschrei ist, aushalten. Ich gebe zu, dass es mich persönlich schockt und kränkt, für diese Rolle offenbar auserkoren worden zu sein. […] ich halte es aus, an die Stelle von jemand anders gesetzt worden zu sein, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Licht in die Sache zu bringen und einem möglichen Missbraucher das abscheuliche Handwerk zu legen« (DS, 141).

Der nach außen mitfühlend, nachsichtig und kompetent wirkende Lehrer bekommt Applaus. Er scheint weiter den psychischen Zwang auszuüben, während die Schwächeren sich den Macht- und Herrschaftsverhältnissen unterordnen müssen. Rezas Eltern verlassen schnell den Saal mit lauter Fragen, die sie weder beantworten können noch wollen. Die Verwirrung setzt langsam ein, viele wollen die Wahrheit nicht zulassen, andere Eltern suchen den längst abgeschwächten Kontakt zueinander, an der Schulhofmauer malt jemand die Aufschrift »STOIBLER STOPPEN!« (DS, 153) Die Schulrede wird zum Auslöser wichtiger Entscheidungen der Adoleszenten. Sie entdecken sowohl ihre eigene Verführbarkeit als auch die Macht der Manipulation des Pädagogen und begreifen, dass sie jetzt auf sich selbst angewiesen sind: »Alle Elternteile kommen für die Hilfe […] keinesfalls in Frage. Hannes’ Eltern wegen Brôr, es würde ihnen das Herz brechen. Rezas Eltern wegen ihrer obersten Maxime, keinen Ärger zu kriegen oder zu machen. Minhs Mam wegen Stoibler. Minhs Vater ist nie da, wenn man ihn braucht. Ayos Mutter würde Stoibler vielleicht kurzerhand verprügeln. Oder kommentarlos zum Tagesprogramm übergehen. […] Ayos Vater kommt nicht in Frage, weil er vermutlich Ayo sofort von der Schule abmelden würde. Tony […] könnte […] sich garantiert nicht vorstellen, etwas Wichtiges mit ihrer Mutter zu teilen« (DS, 145).

So werden jene innerlich infrage gestellt, von denen die Figuren bisher immer abhängig waren. Die Haltung von allen Fünf resultiert zwar einerseits aus der erlebten Störung, ist aber andererseits für die in ihrer Lebensetappe erfolgende Individuation charakteristisch: »Indem Adoleszente ihre eigene Welt erschaffen, müssen sie – phasenweise – auf die Zustimmung und Anerkennung der generational bedeutsamen Anderen verzichten.

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Adoleszente treten notwendigerweise […] im Verhältnis zu Erwachsenen in ein ›Anerkennungsvakuum‹ ein.«23

Die Situation stellt sie vor die Entscheidung, allein das Problem zu bewältigen. Es ist ihre Wahl, die Kinder- und Jugendanwaltschaft einzuschalten und die Tage bis zur Vernehmung fern von Zuhause zu verbringen. Sie finden Unterschlupf in der von Hannes und Ayo widerrechtlich, unter falschem, nämlich Rezas Namen gemieteten Wohnung.24 Somit erfolgt ihre Ablösung früher als geplant, denn nun zeigen auch die Eltern Verständnis für den Wunsch, mit Freunden die schwierige Zeit zu teilen.25 Erst hat ein beobachteter Vorfall in der Schule zum Auseinandergehen der Gruppe beigetragen, zum Schluss ist es ein gemeinsames Erlebnis in der Schule, das ihnen zum Zusammenfinden verhilft und die Freundschaft stärkt. Sie sind wieder füreinander wichtig, betrachten sich wie eine Familie, unterstützen sich und jeder von ihnen gehört wieder zum Alltag der anderen. Gleichwohl sei angemerkt, dass die Institution Schule hier nicht als Ort der Entwicklung und Sicherheit, sondern als einer des Zwangs und der Oppression fungiert. Dies erklärt auch die Tendenz der Jugendlichen, nach (Frei-)Räumen zu suchen, in denen sie dem institutionellen Einfluss nicht ausgesetzt sind. Treffpunkte wie die Treppe vor der Eisdiele und zum Schluss die gemeinsame Wohnung bieten Schutz- und Diskussionsraum, im Fall der Treppe kann zudem auf deren Lage hingewiesen werden – Begegnungen im Freien oder vor dem Lieblingslokal seien eine Form der Manifestation von Unabhängigkeit. Alle Fünf erleben somit Typisches für die Übergangsphase der Adoleszenz: innere Konflikte, Identitätssuche und die Veränderung vom Kind zum Erwachsenen. Einerseits brauchen sie noch einen geschützten Rahmen (Familie), in dem sie alles ausprobieren können, andererseits sind sie bereit, ihn zu verlassen, und so beginnt die Ablösung von den Eltern, indem sie sich am Aufbau oder an 23 King, Vera: Aufbruch der Jugend? Adoleszenz und Ablösung im Spannungsfeld der Generationen. In: Gansel/Zimniak, Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. 2011, S. 49– 61, hier: S. 54. 24 Die Angabe von einer falschen Identität des Mieters, eine Regelverletzung oder, rechtlich gesehen, eine Straftat kann ebenfalls von der Absicht des Jugendlichen zeugen, Grenzen auszutesten. 25 Vgl. King, Aufbruch. 2011, S. 55: Die Autonomisierung der Jugendlichen ist für die Eltern eine ambivalente und schwierige Herausforderung. Die Wiener Soziologin – Ulrike Zartler stellt diesbezüglich fest, dass der Ablösungsprozess koevolutiv verläuft und von beiden Seiten: Eltern und Kindern Anpassungsleistungen gefordert sind. Die Älteren müssen sich an die neue Rolle der Jüngeren, an sich verändernde Gegebenheiten und Strukturen anpassen, also die zunehmende Loslösung von den Kindern und die Aufgabe von zumindest einem Teil ihrer Eltern-Identität akzeptieren. Vgl. Zartler, Ulrike: Pubertät und ihre Bedeutung für Eltern und Kinder – ein Literaturüberblick.. Wien: Österreichisches Institut für Familienforschung an der Universität Wien 1997, S. 47–48. (Working Paper/Österreichisches Institut für Familienforschung; Bd. 3). (letzter Zugriff: 18. 12. 2020).

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der Festigung von anderen Strukturen (Freundschaft), die ihnen Halt geben würden, beteiligen. Sie stehen an einer Schwelle zur autonomen Mitwirkung am sozialen Leben: Sie erkennen bereits die sie betreffenden Handlungsanforderungen und -möglichkeiten sowie deren Gefahren: die Umstrukturierung des vertrauten Beziehungsgeflechts, die Veränderungen des eigenen Status und der Selbstwahrnehmung und den zumindest vorübergehenden Auszug aus dem Elternhaus.26

4.

Sprachlosigkeit

Sprachlosigkeit ist ein Untersuchungsgegenstand von Medizin und (Entwicklungs-)Psychologie. Das Phänomen umfasst unter anderem den Sprachverlust (Aphasie) infolge eines Gehirnschadens, zum Beispiel »eines Tumors, eines Schlaganfalls oder einer Hirnblutung«27, Mutismus – oft eine Angststörung – infolge kognitiver Probleme oder eines Traumas sowie das Verstummen in sozialen Beziehungen als Störung von Kommunikation. In Lilly Axsters Roman handelt es sich zunächst eindeutig um die psychologisch bedingte Unfähigkeit, reale traumatische Erlebnisse sprachlich zu fassen, zum Teil auch um eine kulturgeprägte Unwissenheit, Bedenken oder Scham, über Heikles zu reden. Die betroffenen Figuren wollen weder Mentalisieren noch Verbalisieren und wählen zunächst das Verdrängen, bis sie merken, dass diese Wahl keine Lösung ist. Ein derartiges Verhalten zeugt von ihrer Angst vor Ablehnung oder Verurteilung, vor der Ratlosigkeit und Einsamkeit, auch inmitten der Familie oder Freundesgruppe. Zum Teil resultiert ihre Sprachlosigkeit aus dem Unvermögen, für das Gesehene oder Erlebte richtige Worte zu finden, weil es Grenzüberschreitungen sind, die den vertrauten Rahmen sprengen und sie überfordern. Ehrlich und aufgeschlossen sind grundsätzlich jene, die sich versorgt, sicher, geborgen und verstanden fühlen und Unterstützung in verbaler und nonverbaler Form bekommen. Die Sprachlosigkeit von allen Fünf ist ein Beweis dafür, dass die Überzeugung, alles durch Fünf teilen zu können, eher ein kindliches Wunschbild anstatt Wirklichkeit ist. Reza weiß nicht, ob, wie und wem er über das in der Schulabstellkammer Gesehene erzählen soll. Er meidet Kontakt mit anderen und will selbständig alles überdenken. Die Ausdrucksmittel sind kurze, in der Umgangssprache formu-

26 Damit sind die psychologische, kulturelle und räumliche Ebene der Ablösung gemeint. Es fehlt nur noch die finanzielle und wirtschaftliche Selbständigkeit auf der materiellen Ebene. Vgl. ebd., S. 47. 27 (letzter Zugriff: 24. 07. 2021).

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lierte, emotionsgeladene Sätze, darunter viele mit Fragewörtern, was eine sprachlich-stilistische Adaption an die kognitiven Fähigkeiten der Leser darstellt: »Wie kann Selbstbefriedigung Heilung sein. Vor mehreren anderen Schüler_innen und vor einem Lehrer. Heilung von Kindern, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Hat Stoibler gesagt. Durch das Wiedererlernen von Liebe zu ihrem eigenen Körper. […] Wieso denken sie, dass ihnen das hilft. Gruppensex oder was das war. War es nicht. Eher Sex vor einem Lehrer. […] Wieso bin ich geblieben. Wieso bin ich nicht gleich hinausgegangen. Wieso habe ich zugeschaut« (DS, 32).

Die Fragen mischen sich bei ihm mit Zweifeln an seiner eigenen Haltung, die Gewissensbissen ähneln. Die Assoziation mit Sex ist ihm peinlich und stört eine andere, als positiv und schön empfundene Erfahrung. »Er würde gerne mit Tony über alles reden und andererseits ist Tony die Letzte, mit der er sich vorstellen kann, zu reden. Er will mit nichts Verwirrendem an seinen und Tonys Sex anstreifen. Er will das Schöne bewahren. Sich und ihnen beiden bewahren. Keine anderen Bilder zulassen« (DS, 33).

Der Bericht des Erzählers ersetzt die Ich-Aussage, was mit der Unfähigkeit des Jungen, diese zu formulieren, gleichzusetzen ist. Tonys Angst, Reza von der möglichen Schwangerschaft zu verraten, und dessen Angst, Vater zu werden, werden ebenfalls nicht offen eingestanden. Beide merken, dass sich in der Beziehung etwas verändert, sind aber zu einem offenen, erwachsenen Gespräch nicht bereit: »Das will Tony alles sagen. Aber sagt es nicht. […] Es wäre wichtig, dass Reza weiß, was los ist, was los war. Das nichts mehr wirklich los ist. Aber los gewesen sein könnte. […] Es wäre wichtig, dass er nicht denkt, es sei etwas zwischen ihnen nicht in Ordnung, weil sie ihm auf seine Fragen, was eigentlich los ist, nicht geantwortet hat. […] Wenn Tony wüsste, denkt er sich, wenn sie wüsste« (DS, 37f.).

Das Unausgesprochene belastet beide. Er bekommt zufällig ein Gespräch von der möglichen Schwangerschaft mit, ohne aber zu wissen, dass es sich um einen falschen Alarm handelte. Seine Reaktion fällt daher ironisch aus und per SMS schreibt er: »gut, dass ich das auch erfahre, reza-daddy« (DS, 39). Hierzu muss man anmerken, dass die meisten Aussagen in der Ich-Form per SMS, Chat oder am Telefon formuliert werden, als ob Axster damit andeuten möchte, dass Jugendliche neue Kontaktformen bevorzugen. Das SMS-Schreiben fällt ihnen offenbar leichter als Dialoge im Direktkontakt. Dies veranschaulicht ein Treffen von Tony und Reza: »Es wäre die erste wirkliche Gelegenheit, zu reden. Aber sie wissen nicht, wie das geht. Und installieren neue Apps« (DS, 71). Sprachlosigkeit ist auch ein Anzeichen der sich verändernden Beziehung unter den Geschwistern. Hannes und sein kleiner Bruder Brôr sind nicht mehr ehrlich zueinander:

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»Brôr raunzt wie oft in letzter Zeit, seit er auf Fragen nicht antwortet, ununterbrochen Aufmerksamkeit will, aber nichts mit ihm anzufangen ist. Hannes erkennt seinen kleinen Bruder nicht wieder. […] Er wird ihn ignorieren, bis der Kleine sich eingekriegt hat. Der Kleine, der nicht klein ist, sondern elf. Aber seit Neuestem höchstens fünf, höchstens. Im Sommer war er noch wie immer« (DS, 70).

Der Ältere ahnt nicht, dass die Verwandlung aus der Manipulation des Lehrers resultiert. Er kommt langsam hinter die Kulissen dieser Persönlichkeitsveränderung. Brôr redet schlecht von seinem Freund Reza, wird angriffslustig und beschuldigt schließlich Hannes, dieser habe ihn in der Kindheit angefasst, weil er als Pflegekind auf den echten Sohn eifersüchtig sein sollte (vgl. DS, 88f.). Der Kleine ist ein Opfer des Machtmissbrauchs und glaubt deshalb, sich an die schlimmen Sachen zu erinnern. Warum er sich so benimmt, wird nur beiläufig erwähnt. Hannes findet bei ihm ein neues teures Telefon, in dem Kontaktdaten von Unbekannten stehen, u. a. von einem Augustin, »ohne Foto, nur ein kitschiger Slogan zu Liebe und Leben im Allgemeinen und Besonderen« (DS, 131). Hannes ahnt nicht, dass dies der dritte Vorname von Stoibler ist. Der Leser bekommt es aber mit, weil Minh in einem Gespräch mit Ayo die Details über Stoiblers Familie preisgibt. Auch Tony könnte zu dem Bild von Brôr einiges liefern. Zufällig erfährt sie, dass der Kleine über Geld verfügt, von dem er als Überraschung für den Bruder die neue Ausstattung des gemeinsamen Zimmers spendet. »Tony nickt anerkennend und leicht verwundert über diese, für einen Elfjährigen, nicht unbeträchtliche Investition. Er sei offenbar gut bei Kasse. Brôr reagiert nicht auf Tonys Bemerkung« (DS, 159). Er ist in die Lügen von Stoibler verwickelt, man vermutet einen Bestechungsversuch oder Schweigegeld, doch die Protagonisten agieren hier einzeln und aufgrund ihrer mangelnden Kommunikation, so dass diese Spuren nicht verknüpft miteinander werden. Andererseits ist das Schweigen des Kleinen verständlich. Er muss ahnen, in eine zwielichtige Situation geraten zu sein. Das Interesse des Lehrers an seiner Kindheit könnte ihm auch schmeicheln. In seinem Fassungsvermögen kann er den Machtmissbrauch nicht richtig einschätzen. Ein interessanter Fall ist Minhs Mutter. Familie Stoibler sind ihre Nachbarn, der Lehrer ist ein enger Freund und Kollege aus dem Chor. Die langjährige Bekanntschaft hat ihn in ihren Augen zur Autorität in Sachen Erziehung gemacht. Zunächst glaubt sie an seine Lügen über Rezas Interesse für Kinderpornografie und sonstige Ausschreitungen, doch im entscheidenden Moment der Konfrontation mit der eigenen Tochter und Ayo stellt sie sich auf die Seite der Kinder. Ihre Unterstützung verhilft ihnen zum Ausbruch aus ihrer Sprachlosigkeit und lässt sie um die Wahrheit kämpfen. Reza wird seine Rede in der Schule halten, Ayo schlägt als Lösung ein Telefonat bei der Kinder-und Jugendanwaltschaft vor. Auf der anderen Seite kann die Erwachsene kaum ihre eigenen Gedanken in Worte fassen. Ihre gebrochenen Sätze sind nun Ausdruck

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der Sorge, dass sie etwas Wichtiges verpasst habe: »›Minh, hat er, dich, auch?‹ Ihr steigen Tränen in die Augen. Minh schüttelt den Kopf« (DS, 128). Sie formuliert im Kopf ihre Rede an Stoibler, dem sie wie immer im Chor begegnen soll: »Für den Fall, dass du alles abstreitest, ich glaube dir nicht. Ich glaube den Schülern und Schülerinnen, die du sexuell ausgenutzt hast. So schwer es mir über die Lippen kommt. […] Der Boden unter meinen Füßen ist weg. […] Wenn du vorhast, weiter in den Chor zu kommen, werde ich aussteigen. Das schaffe ich nicht. Ich kann nicht neben dir stehen und singen. […] Meine Wut auf dich ist eher Hass. Ich fühle mich verraten. Reden können wir nur, wenn du nicht versuchst, mich zu manipulieren. Du hast mich manipuliert und alle anderen auch. Den Kick, den du daraus ziehst, verstehe ich nicht. […] Ich hole mir Hilfe, um mit der Situation umzugehen. Ich weiß noch nicht, wo, aber ich stehe das allein nicht durch« (DS, 163).

Sie kann die geplante Rede nicht festhalten, ist aber fest entschlossen, alles zu sagen. Ihr Gedankenstrom wird von den Kommentaren des Erzählers verstärkt: »Das wird sie sagen« (ebd.), »[s]ie weiß die ersten Sätze nicht mehr, aber sie wird ihm alles sagen. Hier. Heute« (DS, 164). Ob Stoibler zur Chorprobe kommt und sie standhaft bleibt, wird der Leser nicht erfahren. Das offene Ende führt ihn zu dem Platz, wo die Geschichte angefangen hat, zu den Treppen der Eisdiele, vor der sich die Fünf stets mit einem Hund treffen. Die Problematik des Romans betrifft eine Straftat, mit der sowohl Erwachsene als auch Jugendliche weder umzugehen noch zurechtzukommen wissen. Diese befinden sich in der Position der Unterprivilegierten: Sie haben zu wenig Erfahrung und Selbstbewusstsein und zu viel Angst, der Sache auf den Grund zu gehen, aber auch für Lügner gehalten oder stigmatisiert zu werden, zumal der Lehrer sein Prozedere unter dem Vorwand einer Therapie betreibt. Bei den Erwachsenen tritt gepaart mit der Sprachlosigkeit eine Wahrnehmungsblockade auf, sie wollen den Gedanken an einen solchen Macht- und Vertrauensmissbrauch nicht wahrhaben, möglicherweise aus dem Gefühl heraus, zu den Betrogenen zu gehören. Sexualität und viele mit ihr verbundene Fragestellungen sind zwar längst enttabuisiert worden, doch sie scheinen immer noch ein heikles Thema für eine öffentliche Aussprache zu sein. Verallgemeinernd kann man hier die Sprachlosigkeit als gesellschaftliche Kommunikationsunfähigkeit und mangelndes Vertrauen gegenüber anderen diagnostizieren, das gilt sowohl für die Peergroup als auch für Kontakte verschiedener Generationen. Für die Jüngeren ist die Clique eine Art Parallelwelt, die die gleiche Sprache benutzt und ihre Bedürfnisse befriedigt, während in den Familien (und Schulen) Befehle erteilt werden sowie Austausch von Belanglosigkeiten28 und gegenseitiges Anschreien überwiegen.29 Auch die scheinbar

28 Z. B. Rezas Vater und Tonys Mutter (vgl. DS, 32).

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Ewelina Kamin´ska-Ossowska

aufgeschlossenen Eltern, im Roman zum Beispiel Minhs Mutter, werden kritisch wahrgenommen. »Eltern sonnen sich im Gefühl ihrer scheinbaren Toleranz, ihre Kinder trifft es eher als Ignoranz.«30 Im Zuge der Ablösung suchen Jugendliche nach erwachsenenfreien Zonen und finden diese unter Freunden oder im scheinbar Zugehörigkeit31 versprechenden Chatroom. Die Konfrontation mit den Störungen beschleunigt bzw. erzwingt die Entwicklung der Protagonisten, die über die anfangs als unüberwindlich empfundenen Krisen – Identitätskrise, Vertrauenskrise, Beziehungskrise – hinwegkommen. Gemäß den Forschungen im Bereich der Soziologie erleben sie den Prozess der Adoleszenz »intrapsychisch als Dreischritt von Trennung, Umgestaltung und Neuschöpfung«, indem sie Abschied und Trauer verarbeiten, die Fähigkeit, Bestehendes infrage zu stellen, entwickeln und »aus den vorhandenen Ressourcen Vergangenes und Gegenwärtiges zu einem neuen Lebensentwurf«32 zu verknüpfen lernen.

5.

Schlussbemerkungen

Lilly Axsters Roman reflektiert mehrere Situationen der Adoleszenten auf dem Weg zum Erwachsenwerden, vor allem die für diese Phase typischen realitätsnahen Probleme (etwa Identitätssuche, Liebesbeziehungen, Familienkonflikte) sowie die wohl eher seltene Erfahrung der erzwungenen Zeugenschaft bei sexuellen Handlungen von Anderen, hier Minderjährigen. Es wird deutlich, dass die von einem einzelnen Lehrer unter Berufung auf seine Autorität ausgehende Gewalt strukturell-institutionelle Formen annehmen kann, wenn niemand sie unterbricht.33 Jugendliche, deren Individuationsprozess noch nicht abgeschlossen ist, können leicht in die Positionen von Opfern oder Schuldigen gedrängt werden, insbesondere wenn ihnen keine Bezugspersonen zur Seite stehen, mit denen sie offen sprechen können. Erfahrungen im Privaten und Schulischen, mit der Peergroup und den Eltern sind ineinander verschränkte und aufeinander 29 Vgl. Sprachlosigkeit schafft immer neue Opfer. In: Sonntag aktuell vom 15. 03. 2009, S. 2: »Die Sprache, zu der die Jugendlichen im Internet oder beim pausenlosen Versenden von SMS finden, vereinfacht das gegenseitige Verständnis nicht – im Gegenteil: ›Für viele Eltern ist die mediale Sprache ihrer Kinder wie eine Fremdsprache‹«. (letzter Zugriff: 24. 07. 2021). 30 Ebd. 31 Vgl. DS, 32f. (Überschrift des 6. Textes: Includi, ergo sum), S. 131 (Brôr und eine InternetPlattform, »wo ›die anderen sind‹«). 32 King, Aufbruch. 2011, S. 54. 33 Vgl. Dalhoff, Maria/S¸ims¸ek, Nilüfer/Vasold, Stefanie: Achtsame Schule. Leitfaden zur strukturellen Prävention von sexueller Gewalt. Wien: Selbstlaut – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen Vorbeugung – Beratung – Verdachtsbegleitung 2020. (letzter Zugriff: 24. 07. 2021).

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bezogene Entwicklungsfaktoren, die auf die Partizipation am sozialen Leben vorbereiten sollen.34 Der positive sozialisatorische Wert der Gleichaltrigenbeziehungen basiert auf Vertrauen und Offenheit: Axsters Figuren erleben diesbezüglich zunächst eine Krise, sind aber imstande, ihre Freundschaft aufrechtzuerhalten oder infolge der Solidarität, die eine Reaktion auf die sie alle betreffende Störung ist, sogar zu stärken und produktiv zur Ausarbeitung neuer Lebensentwürfe zu nutzen. In Bezug auf ihr Handeln wird kein ethisch-moralisches Korrektiv angeboten, im Gegenteil, den Adoleszenten wird ein Recht auf Entwicklung zugestanden, während der auch Abweichungen von dem KulturellNormativen, sogar Fehltritte für die Persönlichkeitsgestaltung erkenntnisfördernd sind. Die Haltungen der meisten erwachsenen Buchfiguren können dagegen kritisch bewertet werden, sie spiegeln die auf Oberflächlichkeit, Schein, Problemvermeidung oder -verdrängung gebauten gesellschaftlichen Interaktionen wider. Bei der Lektüre kann deshalb die Vermutung entstehen, Axster möchte auf die Notwendigkeit der Restaurierung oder Intensivierung sowohl der familialen als auch im Allgemeinen der zwischengenerationellen Kommunikationsbereitschaft aufmerksam machen.35 Der Titel des Romans und des 23. Kapitels »Die Stadt war nie wach« deutet auf die gemeinsame Verantwortung aller hin, die der Gewalt und verschiedenen Formen von allerlei Missbrauch vorbeugen oder sie stoppen könnten, bevor es zu spät ist.

34 Vgl. Zartler, Pubertät. 1997, S. 52–57. Auch: King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Opladen: Leske und Budrich 2002, S. 257: »Familiale und Peer-Group-Erfahrungen ergänzen und beeinflussen sich wechselseitig und tragen gemeinsam zur Entstehung – oder Verhinderung – des Neuen bei.« 35 Zur Rolle der Gespräche bei der Prävention und Klärung von sexuellem Missbrauch im schulischen Umfeld vgl. Dalhoff/S¸ims¸ek/Vasold, Schule. 2020, S. 32, 48. Eines der wichtigsten Gebote lautet: »Interessieren Sie sich« (ebd., S. 17).

Ewa Hendryk

Zum Thema des Technologiemissbrauchs in den Romanen von Ursula Poznanski

Ursula Poznanski, eine österreichische Schriftstellerin, die nach ihrem vielseitigen Studium erst über Umwege zum Schreiben kam, erlebte ihren Durchbruch 2010 mit dem Roman »Erebos«, der ein Jahr nach seinem Erscheinen mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Dieser Roman leitete eine Reihe von Büchern der Autorin ein, die hauptsächlich zu den Jugendthrillern gezählt werden, die aber auch zu der Gruppe der All-Age-Literatur sehr gut passen, weil sie offensichtlich ein altersübergreifendes Lesebedürfnis erfüllen können. Zu dieser Kategorie gehören unter anderem »Layers« (2015), »Elanus« (2016) sowie die nach knapp zehn Jahren erschienene Fortsetzung des ersten Erfolgsbuchs, »Erebos 2« (2019). Hauptziel des vorliegenden Beitrags ist es, an diesen ausgewählten Werken die Auseinandersetzung von Poznanski mit dem verstärkten Einsatz digitaler Medien und dem Technologiemissbrauch aufzuzeigen. Das Eintauchen in virtuelle Welten, ein gänzlich neues Erleben in Computerspielen, sozialschädliche Auswirkungen der »Neuen Medien« auf die Gesellschaft, das Verwischen der Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sind Themen, deren sich Poznanski in ihren Werken intensiv annimmt. Sie zeigt den modernen Medienmenschen, dessen ständige Begleiter Handy und andere digitale Medien sind, und sie lässt darüber nachdenken, wie sehr die digitale Technik abhängig macht und was heutzutage alles möglich sei. Die Romane von Poznanski weisen eine Gattungsvermischung von Fantasy, Science-Fiction und Anti-Utopie auf. Sie können auch als Cyberspace-Novels bezeichnet werden, bei denen es sich – so Carsten Gansel – um Texte handelt, »die zwar traditionelle Motive des Phantastischen nutzen wie Verwandlung, Zeitreise, Sprung in andere Welten, Gedankenlesen, aber diese […] durch den Einsatz von audiovisuellen Medien bzw. Computern motivieren. Nicht geheime Mächte oder phantastische Fähigkeiten führen zur Wirklichkeitsdehnung, sondern die Computer- bzw. Mediensimulation.«1 1 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 7. Aufl. Berlin: Cornelsen 2016, S. 146.

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Ewa Hendryk

Die Besonderheiten der modernen medialen Landschaft, wie Virtualität, Multimedialität, Simulation, führen also zur Veränderung des schriftlichen Ausdrucks und der Literaturrezeption. Sie setzen neue montagehafte Formate und Narrationsformen, das Wechselspiel zwischen fiktionaler und virtueller Realität sowie die damit zusammenhängende Genre-Überschreitung voraus. Die von Thilo Hagendorff gestellte Frage »Wie kann und sollte Wirklichkeit definiert sein in Zeiten von virtuellen und alternativen Realitäten […]?«2 trifft auf die von Poznanski erzählte Wirklichkeit zu. Ihren Großteil bildet nämlich die virtuelle Welt, die den Figuren oft viel echter als die Realität selbst erscheint. In jedem der im Folgenden zu untersuchenden Romane steht ein technisches Gerät oder Computerprogramm im Mittelpunkt der Handlung. Es bestimmt das Leben und Handeln der Hauptfigur, ist zwar anfangs nur deren Begleiter, wird jedoch allmählich zu einer machtvollen, alles regierenden Instanz. In »Erebos« ist das ein selbständig agierendes Computerspiel, das an die bekannten Spiele wie »Pokémon GO« und »Blue Whale Challange« erinnert. Poznanski zeigt die Gefährlichkeit dieses Spiels auf drei Handlungsebenen: Zunächst wird das veränderte, seltsame Verhalten der Schüler in einer Londoner Oberschule geschildert. Sie vernachlässigen ihre Pflichten, laufen extrem erschöpft herum oder tauchen in der Schule gar nicht auf. Ein solches Benehmen ist das Ergebnis des Spiels mit dem Titel »Erebos«, dessen Raubkopien in der Schule kursieren und großes Interesse bei den Jugendlichen wecken. Es entsteht unter den Schülern eine ungebrochene Verschwörung des Schweigens, weil diejenigen, die darin eingeweiht wurden, darüber nicht sprechen und nur in Einsamkeit spielen dürfen. Die Hauptfigur, der 16-jährige Junge Nick Dunmore, anfangs dem Spiel gegenüber sehr negativ eingestellt, lässt sich doch darauf ein, als eine seiner Mitschülerinnen ihm diskret die DVD zusteckt und versichert, dass das Spiel nur für Auserwählte bestimmt sei. Die virtuelle Spielwelt wird nun aus Nicks Erfahrungshorizont heraus erkundet. Seine Neugierde und die Versuchung, das Spiel auszuprobieren, sind unwiderstehlich. Nach einem mühsamen Installationsprozess, begleitet von Momenten des Unbehagens wie einem schwarzen Bildschirm und dem Eindruck, dass der Computer abstürzt, betritt der Protagonist das elektronische Universum, durchläuft die Stufe des Namenlosen und weitere Einweihungen, kann schließlich seinen Avatar wählen und ihn für den Kampf ausrüsten, dessen Ziel es ist, den »Inneren Kreis« zu betreten und den Feind Ortolan zu besiegen. Ein entzückendes Fantasy-Setting sowie Anlehnungen aus der griechischen Mythologie, zum Beispiel Erebos, Gott der Finsternis – im Spiel ein geheimer, allwissender Herrscher des Spieluniversums –, versetzen den

2 Hagendorff, Thilo: Was ist Realität? Wirklicher als die Wirklichkeit. 2019. (letzter Zugriff: 12. 02. 2021).

Zum Thema des Technologiemissbrauchs in den Romanen von Ursula Poznanski

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Spieler in eine phantastische Welt, die alles andere als die triste Alltagsrealität darstellt: »Wie wohltuend es ist, aufzugeben. Die Tage und Nächte verfliegen zu lassen, den Gang der Welt nicht mehr zu sehen, zu hören oder zu spüren. In der eigenen Welt zu leben, in der selbst geschaffene Regeln gelten. Nicht mehr unzähligen Zielen nachlaufen, sondern nur ein einziges zu verfolgen, stetig und konsequent.«3

Den virtuellen Raum des Spiels, den Nick nun als eine andere Figur, Sarius, ein Dunkelelf und Krieger, betritt, bietet die zweite Handlungsebene dar. Sarius kämpft gegen verschiedene Kreaturen, wehrt Angriffe ab, nimmt an blutigen Auseinandersetzungen teil und verdient für die korrekte Erledigung der Aufgabe eine Nominierung und den Aufstieg in die nächste Stufe. Seine Tapferkeit bringt ihm Belohnungen wie Medizin, Extrapunkte und das Lob des Boten ein. Zu weiteren Aufgaben gehört es, den Boten mit Informationen über die Feinde von Erebos zu versorgen, ihnen Drohbriefe unterzuschieben und Raubkopien an Leute zu verteilen, die diese Ehre verdienen. Das Spiel regelt alles. Anfänglich harmlos und mitreißend, wird es immer ernster und beängstigender, weil die Schüler alle Aufträge, die sie bekommen, in der Realität ausführen sollen. Die Gegner fallen dem geheimnisvollen Spiel zum Opfer: Eines von ihnen ist zum Beispiel Nicks Mitschüler Greg, der nach seinem Versagen einen verdächtigen Unfall erleidet, weil eine Mitspielerin das Bremszeug an seinem Fahrrad durchgeschnitten hat.4 Als Nick den Auftrag bekommt, einen Lehrer, der den wahren Hintergrund des Spiels entlarven will, umzubringen, indem er ein gefährliches Herzmittel in hoher Konzentration in seine Thermoskanne kippt, erkennt er, wie gefährlich Erebos wirklich ist. Da Nick – dank der Nüchternheit seines Geistes – diesen Befehl nicht befolgt, wird sein Avatar Sarius für seinen Ungehorsam und seine Untreue bestraft und stirbt in Schande unter großen Schmerzen und Qualen. Auf dem höchsten Level müssen die Spieler den größten Gegner Ortolan töten. Poznanski zeigt an dieser Spielstrategie, wie Erebos die Schüler zu Spitzeln, Gewalttätigen und potenziellen Mördern macht. Sie lässt den Leser darüber nachdenken, warum sich junge Leute so einfach von den Spielmechanismen manipulieren lassen. Die Antwort auf diese Frage lässt sich mit der These von Jean Baudrillard begründen, insofern die Zeichen, die den virtuellen Raum ausmachen, vollkommene Simulakren der Gegenwart sind. Die virtuelle Welt

3 Poznanski, Ursula: Erebos. Bindlach: Loewe 2011, S. 82. 4 Vgl. ebd., S. 253, 274.

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erscheint den Spielern oft realer als die sie umgebende Wirklichkeit, weil die Grenze zwischen Realität und Fiktion in der Simulation verschwindet.5 Das Ende des Romans, das den Leser aufs Höchste überraschen soll, entblößt den Hintergrund dieses geheimnisvollen Spiels. Es geht hier um die Vorgeschichte, die neben Wirklichkeit und virtueller Realität die dritte Handlungsebene bildet. Zu ergründen ist nämlich die Frage, wer »auf eine so makabre Idee«6 gekommen sein könnte. Die Ermittlungen weisen auf den Konkurrenzkampf der Computerfirmen hin, bei dem der Erfinder des Spiels, Larry McVay, zum Opfer einer ungleichen Machtverteilung wird. Kurz vor dem Prozess gegen ihn begeht er Selbstmord, doch zuvor programmiert er diese hochentwickelte künstliche Intelligenz, die ein Instrument der Rache und Selbstjustiz, aber auch des Missbrauchs der Schüler darstellt. Poznanski zeigt, wie die Erebos-Spieler zu bloßen Spielfiguren unsauberer Geschäfte und Manipulation wurden. Die Frage, wer hinter dem hochmodernen Computerspiel steht, erscheint in »Erebos 2« noch spannender. In diesem Buch, dessen Geschichte zehn Jahre nach den Ereignissen von Erebos spielt, zeigt Poznanski neue, viel modernere technische Möglichkeiten, die den aktuellen Entwicklungen entsprechen. Das Spiel wird nicht mehr – so wie damals – auf DVD weitergegeben, sondern es installiert sich selbständig auf Computer und Handy. Es hat zudem Zugriff auf die mit diesen Geräten synchronisierten Kameras, Mikrofone, GPS, Google Maps und Sicherheitssysteme. Die neue Technik entwickelte sich weiter, so dass die Reichweite des Erebos-Spiels nun folglich viel größer ist. Der aus dem ersten Teil von »Erebos« bekannte Hauptprotagonist Nick, der jetzt Student ist und nebenbei als freier Fotograf auf Hochzeiten arbeitet, will sich auf Erebos – nach all seinen Erfahrungen mit diesem Spiel als Jugendlicher – auf keinen Fall einlassen. Doch als das rote »E« auf seinem Handy auftaucht, wird er unter Druck gesetzt und muss das Programm betätigen. Zu seiner Überraschung findet er als der ehemalige Avatar Sarius schnell wieder in das Spiel hinein und gerät in den Sog vieler Abenteuer: »Alles, was ihn umgab, war gleichzeitig vertraut und neu; es wirkte noch lebensechter als beim ersten Mal, noch detailreicher. Das Spiel war mit der Zeit gegangen.«7 Da er sich aber dem Spiel entziehen will, wird er von Erebos auf eine bittere Art und Weise bestraft: So verliert er etwa die Kontrolle über seine Fotos und andere Dateien oder geht ihrer verlustig; dazu wird mit einer Fake-E-Mail ein wichtiger Gesprächstermin bei seinem Professor abgesagt. Erebos lässt sich auch nicht überlisten, als Nick ohne Handy und PC

5 Vgl. Hendryk, Ewa: Zum Einfluss des Internets auf die Wirklichkeitsdarstellung in der heutigen Kinder- und Jugendliteratur. In: Colloquia Germanica Stetinensia 26. Szczecin: Wydawnictwo Naukowe Uniwersytetu Szczecin´skiego 2017, S. 75–89, hier: S. 84. 6 Poznanski, Erebos. 2011, S. 433. 7 Poznanski, Ursula: Erebos 2. Bindlach: Loewe 2019, S. 31.

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ausgeht. Er verfolgt jeden seiner Schritte und lässt ihn erst dann in Ruhe, wenn er wieder in die dunkle Spielwelt eintaucht. Der Kontrolle von Erebos kann man also nicht entgehen. Die geheime allmächtige Instanz kann jetzt noch mehr als vor einigen Jahren auf die Aktionen der Spieler reagieren, sie noch restriktiver kontrollieren und manipulieren. Ein Beispiel dafür ist ein neuer, 16-jähriger Spieler namens Derek, dessen Perspektive die zweite Erzählebene bildet. Ähnlich wie Nick vor zehn Jahren wird er von Erebos angeregt, einzusteigen: »Wir werden miteinander spielen. Wenn du gut bist, gewinnen wir beide. Wenn nicht, gewinne nur ich. Derek lachte ungläubig auf. ›Netter Witz. Und wenn ich nicht spielen will?‹ Die Schrift veränderte erneut ihre Form. Dann verlierst du sofort. Von nun an jeden weiteren Tag. Alles, was dir wichtig ist.«8

Der Spieler wird also schon zu Beginn des Spiels bedrängt und dazu gezwungen, mitzumachen. Trotz der beunruhigenden Drohungen lässt sich Derek schnell in den Bann der lebensecht inszenierten Fantasy-Spielwelt ziehen und wird zu einem der begeisterten Spieler, die alle Aufträge erfüllen. Die Welt von Erebos erscheint ihnen, »als verharre sie vollkommen ruhig, als lauere sie auf ein wichtiges Ereignis, das auf keinen Fall verpasst werden darf.«9 Doch wenn Erebos strafbare Dinge begeht – etwa dem Jungen für eine Klausur die Aufgaben und Lösungen bereitstellt oder wenn er ihn seine Mitschüler demütigen oder mobben lässt –, fühlt er sich erpresst und hintergangen. Auch Maia, in die Derek verliebt ist, lässt sich – wie viele andere Spieler – von Erebos manipulieren und handelt in der Überzeugung, dass sie eine wichtige Mission erfüllen muss: »Wir wussten, dass jemand bald sterben würde, der die Wahrheit über unsere Herkunft recherchiert hatte. Dass wir den Anweisungen des Spiels folgen sollten, um diese Person zu retten. Und die Informationen. Dass Erebos mit seiner künstlichen Intelligenz die richtigen Wege finden würde, um die richtigen Leute zu rekrutieren. Und … zu beeinflussen.«10

An diesem Punkt stellt Poznanski die Frage, wie man einen Menschen mit den neuen Technologien zur Teilnahme, weiteren Bearbeitung und Überwachung anregen kann. Das Spiel wandte sich etwa an den Spieler mit der verlockenden Frage, ob er mehr über seine Herkunft erfahren möchte, und installierte sofort die Antwort »Ja«. Die Folge dessen war es, dass einige Schüler Dinge erfuhren, die sie nie von einer solchen Instanz hätten erfahren dürfen, nämlich dass sie zum Beispiel adoptiert wurden. Die doppelte Perspektive (von Nick und von Derek), 8 Ebd., S. 21. 9 Ebd., S. 455. 10 Ebd., S. 496.

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aus der die Geschichte erzählt wird, umfasst sowohl die im Spiel etablierte phantastische Welt als auch die erzählte Alltagsrealität der Jugendlichen. Die beiden Sphären stehen in enger Verbindung miteinander, was den steten Wechsel der Erzählperspektive und eine große Spannung bewirkt sowie den Leser fast unmittelbar am Geschehen teilhaben lässt. Auch in ihren anderen Cyber-Novels rechnet Poznanski mit der Gefahr ab, der man in der modernen hochtechnisierten Welt ausgesetzt sein kann, obwohl sie auch auf die wichtigen Funktionen und Vorteile der digitalen Medien verweist. In »Layers« handelt es sich um eine Datenbrille, die, wenn man sie aufsetzt, Informationen über Menschen einblendet, sobald man sie anschaut. Die Auskünfte betreffen ihre Vergangenheit, politische und wirtschaftliche Rechtschaffenheit, Schwächen und Stärken. Die Brille vermag auch Betrügereien von ausbeuterischen Unternehmen aufzudecken und diese herabzusetzen. Mit dem Visioner kann man, wie sich aus Dorians Gespräch mit seinem Freund ergibt, die Wirklichkeit vielschichtig darstellen: »›Dort ist ein Layer.‹ Du weißt schon, englisch für Schicht. Weil du mit dem Visioner das sehen kannst, was sie [Bornheims Mitarbeiter – E.H.] wie Schichten über die Wirklichkeit legen.«11 Es geht also um eine Art VR-Brille, mit der man die aufgezeichnete Realität erweitern und neue Perspektiven wahrnehmen kann. Poznanski geht hier der Frage nach, ob virtuelle und nicht-virtuelle Realität eines Tages möglicherweise ununterscheidbar werden. Diese neuen technischen Möglichkeiten flicht Poznanski in die Geschichte des 17-jährigen Jungen Dorian ein, der von seinem gewalttätigen Vater weggelaufen ist und seitdem auf der Straße lebt. Nach einem geheimnisvollen Ereignis – er erwacht neben einem ermordeten Obdachlosen und sieht sein Taschenmesser in dessen Blut liegen – beginnt für ihn ein erschütterndes Leben. Aus lauter Angst vor der Polizei nimmt er die Hilfe eines Jungen an und wird in eine Villa aufgenommen, in der zahlreiche obdachlose Jugendliche Schutz und Asyl finden. Für den Lebensunterhalt verrichten sie kleine Dienste, verteilen Flugblätter für wohltätige Zwecke und manche, darunter Dorian, bekommen den Auftrag, einflussreichen Leuten und Konzernchefs kleine Geschenkboxen, deren Inhalt sie nicht kennen, zu überbringen. Einer der Bescherten lehnt das Geschenk ab und warnt Dorian mit den Worten: »Was hast du ihnen eigentlich getan, dass sie dir sowas antun wollen? Wenn ich du wäre, würde ich abhauen …«12 Als Dorian den Inhalt des Pakets – die Datenbrille – entdeckt, wendet sich die Handlung diametral, denn nun kann er nicht zurück in die Villa. Plötzlich wird der Junge zum Gejagten, er rennt mit der Brille durch die Stadt und kämpft gegen Bornheim, den Chef des Heims. Mit der Datenbrille kann er sich über Einzelheiten der 11 Poznanski, Ursula: Layers. Bindlach: Loewe 2015, S. 239. 12 Ebd., S. 132.

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ausgewählten Leute informieren, zum Beispiel über ihren Stand, ihr Einkommen oder ihre Kompetenzen.13 Der Visioner kann aber auch peinliche Details über eine Person vermitteln: »Schwächen: Trinkt in Stresssituationen. Betrügt seine Frau. Angst vor Höhen und Menschenmassen. Zweimal wegen Burn-outs in Behandlung. Nimmt Tabletten gegen Bluthochdruck und depressive Verstimmungen.«14

Das Gerät verfügt über Informationen zu einzelnen Personen, Firmen und Unternehmen, es kann schmutzige Geschäfte oder Erpressungsversuche ausbeuterischer Unternehmen entblößen und aus einer Vielzahl von Informationen verschiedene Schichten bilden. Die erzählte Wirklichkeit wird dadurch mehrdimensional und multiperspektivisch, weil die Brille verschiedene Bilder, Visionen und Geschichten einblenden kann. Dorians Flucht vor der Gefahr, die ihm als Verräter droht, bildet den Mittelpunkt der Handlung. Der Junge gerät in einen Teufelskreis. Er benötigt die Brille, um das Geheimnis zu ergründen, aber jedes Mal, wenn er sie aktiviert, wird er für seine Gegner sichtbar.15 Der Visioner verrät ihm etwa, dass der Leiter des Heimes eine ominöse Show plant, bei der Dorian nicht überleben darf. Aus Liebe zu Stella kann Dorian weder der Brille ledig werden noch die Stadt verlassen. Die Brille wird in »Layers« zu einer wichtigen Erzählinstanz. Sie treibt die Handlung voran und ist ein Vermittler zwischen dem Opfer (Dorian) und den Verfolgern (Bornheims Leuten). Durch die Brille erfährt der Junge, dass er verfolgt wird: »Dorian Rogner, 17 Jahre alt/Ehemaliger Läufer, geflohen/Im regelwidrigen Besitz eines Masters-Visioners/Zur Jagd freigegeben.«16 Er sieht Horrorvisionen, zum Beispiel die Ermordung seiner Geliebten Stella, und erfährt optische Täuschungen, die ihn warnen oder in den Wahnsinn führen sollen. Folglich ist er die ganze Zeit auf der Flucht und versucht das Geheimnis zu lösen. Dorians Erfahrungen führen zur Entwicklung seines Charakters: Er zeigt sich als ein scharfsinniger, geschickter Junge, der es trotz seiner schweren Kindheit und seiner Probleme als Obdachloser vermag, Verantwortung zu übernehmen. Überdies löst er das Rätsel, das hinter der Brille steckt, indem er ein hochmodernes Überwachungssystem entdeckt: »Die Zentrale – befand sich auf dem Gelände der Villa, in dem Gebäude mit den vielen Computern? Das hätte Sinn ergeben, und wie. Fünfzig oder sechzig Terminals, jedes mit einem Mitarbeiter besetzt, der alles mitbekam, was das Kadermitglied sah.«17

13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 188. Ebd., S. 268. Vgl. ebd., S. 197. Ebd., S. 219. Ebd., S. 268.

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Ewa Hendryk

Poznanski berührt hier das hochaktuelle Thema des Umgangs mit Überwachungstechnologien und mit der Privatsphäre und Autonomie des einzelnen Menschen. Das Thema hochmoderner Systeme, die zur Überwachung und Verfolgung ausgenutzt werden können, wird auch in einem weiteren Thriller von Poznanski, »Elanus«, aufgegriffen. Sie lässt hier einen 17-jährigen, hochbegabten Wunderschüler namens Jona eine eigene Drohne mit dem Namen Elanus bauen und programmieren. Das Gerät, das mit einer Überwachungskamera versehen ist, kann mittels Handyortung Personen aufspüren und ausspionieren. Es genügt nur eine SMS und die Aktivierung des Verfolgungsmodus und Elanus sucht sich ihren Weg allein, es zeigt das Privatleben der überwachten Menschen und versorgt Jona mit denjenigen Informationen, die für die Lösung seiner Konflikte nötig sind. Die Drohne soll ihm zunächst dabei helfen, Auskünfte über das Mädchen, das ihm gefällt, sowie über seine Kommilitonen, bei denen er sich unbeliebt machte, zu sammeln: »Jona […] montierte die Kamera und öffnete dann auf dem Notebook das Programm, das er speziell für seine Drohne geschrieben hatte. Lindas Nummer war dort schon gespeichert, der Computer hatte sich automatisch mit dem Handy synchronisiert. Jona wählte sie aus der Liste aus, damit würde Elanus dem Handy folgen, sobald er die Verbindung hergestellt hatte. In den Einstellungen wählte er die Option Autopilot, als maximale Annäherung an das Zielobjekt gab er drei Meter ein. Egal, ob Linda zu Hause oder unterwegs war, aus dieser Entfernung sollte sie ihren Verfolger weder sehen noch hören können.«18

Durch seine Spionage löst er eine Kette an Geheimnissen aus: ein ihm ausweichender Rektor sowie seine sich immer merkwürdiger verhaltenden Gasteltern. Als er ferner die Dinge erfährt, die besser unentdeckt geblieben wären, wie den Tod eines beliebten Mathematikprofessors, fühlt er sich plötzlich selbst beobachtet und befindet sich in großer Gefahr. Die von dem Protagonisten konstruierte Drohne stellt Poznanski trotz ihrer heimtückischen Nachteile, wie der Überwachung der Menschen wider ihren Willen, als ein brauchbares, intelligentes System dar, mit dem man zum Beispiel Verbrechen aufdecken kann. Poznanskis Bücher, die Elemente von Science-Fiction und problemorientierten Jugendromanen aufweisen, sind fesselnde, psychologisch intelligente Thriller mit überraschenden Wendungen, interessanten Figurenkonstellationen und häufigem Handlungs- und Perspektivenwechseln. Obwohl die Schriftstellerin die Faszination der Jugendlichen für Technik und Neue Medien, ihre Anfälligkeit für Süchte, Leichtsinn und Kontrollverlust kritisiert, stellt sie diese als intelligente Ermittler dar, die rechtzeitig die Gefahren ihrer Abhängigkeit erkennen und gegen sie ankämpfen können. Sie versucht dabei, den existentiellen 18 Poznanski, Ursula: Elanus. Bindlach: Loewe 2016, S. 34.

Zum Thema des Technologiemissbrauchs in den Romanen von Ursula Poznanski

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Problemen der Jugendlichen sowie ihrer Faszination für virtuelle Welten auf den Grund zu gehen. Nick aus »Erebos« spricht ganz offen über die Ursache für seine Flucht vor der realen Welt: »Mit jedem neuen Tag verliert meine Realität an Wert. Sie ist laut und ohne Ordnung, unvorhersehbar und mühevoll. Was kann sie denn, die Realität? Hungrig machen, durstig, unzufrieden. Sie verursacht Schmerzen, sie schlägt mit Krankheiten um sich, sie gehorcht lächerlichen Gesetzen. Vor allem aber ist sie endlich […]. Ich entziehe der Realität meine Zustimmung […]. Ich verschreibe mich den Verlockungen der Weltenflucht und stürze mich mit ganzem Herzen in die Unendlichkeit des Irrealen.«19

Das Irreale und Virtuelle bietet also eine Ablenkung von der tristen Alltagsrealität und scheint dem undurchschaubar gewordenen Leben mehr Sinn, Kraft und Leidenschaft zu verleihen. Zusammenfassend ist zu betonen, dass die besprochenen Romane von Ursula Poznanski zwar als Jugendthriller ausgewiesen sind, aber durchaus auch Erwachsene beeindrucken können. Poznanski verbindet hochaktuelle Themen mit einer spannenden Lektüre. In jedem dieser Bücher wird ein jugendlicher Protagonist einer avancierten Technik gegenübergestellt, die anfangs zwar im Hintergrund wirkt, doch allmählich sein Leben und seine Gedanken erobert. Sie wird endlich zu einer mächtigen Instanz, die die Handlungen der Figuren regiert. Die hochentwickelte künstliche Intelligenz, unter anderem ein autonom agierendes Computerspiel, eine Geheiminformationen übermittelnde Brille oder eine Überwachungsdrohne, kann in das Leben der Figuren so weit eingreifen, dass sie sich in die Enge getrieben fühlen. In »Erebos« und »Erebos 2« setzt sich Poznanski mit der Gefährlichkeit virtueller Welten sowie mit deren Suchtpotenzial auseinander; in »Elanus« und »Layers« thematisiert sie den Missbrauch moderner technischer Neuerungen, wie Überwachungs-Apps, Drohnen und Kameras, und deckt geheime Betrügereien auf, die mit diesen Techniken verknüpft sind. Sie stellt wichtige ethische Fragen, die mit Entwicklung, Besitz und Gebrauch der ohnehin notwendigen technischen Neuigkeiten verbunden sind. So lässt sie den Leser Folgendes überlegen: Ist alles erlaubt, was möglich ist? Die Autorin gibt keine Lösungsvorschläge, sie lässt ihre jungen Protagonisten selbst Geheimnisse aufdecken und beschreibt mit großer Spannung deren Suche nach der Wahrheit, wobei sie für überraschende Wendungen und ein unerwartetes Ende sorgt. Das Thema des Technologie-Missbrauchs verwebt sie mit wichtigen Problemen der Pubertät und des Erwachsenwerdens, zu denen Freundschaft, erste Liebe oder das selbstbestimmte Leben von Jugendlichen gehören.

19 Poznanski, Erebos. 2011, S. 207.

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Ewa Hendryk

Die Thematisierung der modernen Medien wirkt sich offenbar auf die Gestaltung der erzählten Welt aus. In den untersuchten Texten lässt sich nach Thomas Möbius eine »dualistische Strukturierung der Wirklichkeit«20 erkennen. »Die virtuelle Welt existiert völlig eigenständig innerhalb der literarischen Realität«21 und sie ist von den Figuren meistens durch bestimmte Zugangscodes – wie sie auch für Computerprogramme und -spiele unerlässlich sind – zu betreten. In der virtuellen Wirklichkeit vermögen die Figuren neue Identitäten und Anonymität zu gewinnen und mehr Freiheit und Offenheit zu genießen, was sicher nicht ohne Bedeutung für die Charakterzeichnung und Figurenkonstellation ist. Die Grenze zwischen Realität und Vorstellung verwischt so sehr, dass der Leser nicht mehr weiß, in welcher der beiden Welten er sich befindet. Den Hauptfiguren erscheint der virtuelle Raum oft echter als die sie umgebende Wirklichkeit, obwohl er in keinem Zusammenhang mit ihr steht. Abschließend könnte man auf die in diesem Beitrag angestellten Überlegungen die Worte von Roberto Simanowski beziehen: »Wie bin ich es leid! Die alte Klage über den Verderb der Jugend. Oder den Untergang der Kultur. Verfall der Sitten. Entfremdung der Menschen. Technologisierung der Kommunikation. Selbstverliebte Selbstdarsteller. Apathie der Ratlosigkeit. Daumenund Nackenarthrose. Dabei haben viele, die sich jetzt beschweren, doch damit angefangen!«22

Poznanski ist sich dieser Tatsache auch ganz bewusst. In ihren Romanen deutet sie auf viele Gefahren der modernen Technik hin – unter anderem den Kontrollverlust, dem sich die Menschen ausgeliefert fühlen –, hinterfragt aber den Sinn dieser Entwicklungen nicht. Sie zeigt moderne Technologien und technische Neuerungen, die aus unserem heutigen Lebensumfeld nicht mehr wegzudenken sind.

20 Möbius, Thomas: »Von jetzt an bleib ich in der Wirklichkeit« – Zum Einfluss des Internets auf die Modellierung von Wirklichkeit in der aktuellen realistischen Kinder und Jugendliteratur. In: Am Anfang war das Staunen. Wirklichkeitsentwürfe in der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Gerhard Härle und Gina Weinkauff. Baltmannsweiler: Schneider 2005, S. 207–223, hier: S. 217. 21 Ebd. 22 Simanowski, Roberto: Facebook-Gesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz 2016, S. 9.

Anna Kaufmann

Peers als Elternersatz? Zu (außer-)familiären Verlusterfahrungen in Lena Goreliks »Mehr Schwarz als Lila« (2017)

1.

Einleitung

Lena Gorelik ist 1981 in St. Petersburg geboren und 1992, nach Auflösung der Sowjetunion, mit ihrer Familie nach Deutschland übergesiedelt.1 Ihre Ausbildung zur Journalistin und ihr Studium der Kommunikationswissenschaft, Politik und Soziologie sowie ihr Osteuropastudium setzte sie mit einer von der ZeitStiftung geförderten Promotion zur Frage der Integration russisch-jüdischer Einwanderer in Deutschland fort.2 Gorelik ist als freie Journalistin unter anderem für Deutschlandradio Kultur, Wochenzeitungen wie Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung (SZ) sowie für verschiedene Magazine tätig, daneben veröffentlicht sie Belletristik, Sachbücher und Reiseliteratur und ist Mitglied der Münchener Autorenedition Sarabande.3 Für ihren Debütroman »Meine weißen Nächte« (2004) erhielt sie den mit 6.000 Euro dotierten Bayerischen Kunstförderpreis für junge Nachwuchsschriftsteller, ihr Roman »Hochzeit in Jerusalem« (2007) wurde für den Deutschen Literaturpreis (Longlist) nominiert und für den Familienroman »Die Listensammlerin« (2013) wurde sie 2014 mit dem mit 12.000 Euro dotierten Förderpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet.4 Das Motivspektrum ihrer Texte umfasst in erster Linie die Auseinandersetzung mit 1 Vgl. Gorelik, Lena (Hrsg.): Lena Gorelik, Zur Person. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022). 2 Vgl. Eintrag »Gorelik, Lena« in Munzinger Online/Personen – internationales biographisches Archiv. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022). 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst (Hrsg.): Literaturpreise des Freistaats Bayern. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022); Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hrsg.): Longlist, Hochzeit in Jerusalem. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022); vgl. Stiftung Ravensburger Verlag (Hrsg.): Buchpreis 2014 für Lena Gorelik und ihren Familienroman »Die Listensammlerin«. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022).

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Anna Kaufmann

ihren jüdisch-russischen Wurzeln und mit gesellschaftspolitischen wie kulturellen Fragen im Spannungsfeld von Migration, Identität und Diversität. In ihrem zuletzt erschienenen Roman »Mehr Schwarz als Lila«5 (2017), der 2018 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert worden ist,6 treten diese Themen in den Hintergrund zugunsten der Darstellung einer weiblichen Adoleszenz,7 die von Verlusterfahrungen und Grenzüberschreitungen geprägt ist. Im Zentrum der Darstellung steht die 17-jährige Alex mit ihren Freunden Paul und Nina, die sich Ratte nennen lässt. Die jugendlichen Protagonisten stammen aus eher ungünstigen Familienverhältnissen: Ratte ist mit den wiederkehrenden Gewaltausbrüchen ihres alkoholabhängigen Vaters konfrontiert, Paul leidet unter der Vernachlässigung seiner Eltern, deren Fürsorge sich in der Pflege des behinderten Bruders erschöpft, und Alex’ Biographie ist durch den Tod ihrer Mutter und den in seiner Trauer haften gebliebenen Vater geprägt. Im Lebens- und Erfahrungsraum Schule spiegeln sich die konflikthaften Sozialisierungsbedingungen wider, wo die Freunde im Sinne von »Wir drei gegen den Rest der Welt« eine Randgruppenposition einnehmen. Hinsichtlich des Figurenensembles erläutert Gorelik im Gespräch mit Sophie Obwexer vom Literaturportal Bayern: »[Es sind die] Außenseiter[, die mich interessieren]; Figuren, die irgendwie auffallen und nicht dem Mainstream entsprechen. Mich interessiert das Anders-Sein, das Ausbrechen-Wollen oder das Sich-am-Rand-Bewegen-Müssen, weil man nach außen gedrängt wurde.«8 So setzt sich in der Konzeption von Figuren als Indi5 Gorelik, Lena: Mehr Schwarz als Lila. Reinbek/Hamburg: Rowohlt 2017 [im Folgenden unter der Sigle »SL« mit Seitenzahl im Text]. 6 Vgl. Arbeitskreis für Jugendliteratur e. V. (Hrsg.): Mehr Schwarz als Lila. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022). 7 Helmut Remschmidt definiert die Adoleszenz als »Lebensphase […], die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter markiert«. Es unterscheidet biologische, psychologische und psychosoziale Aspekte. Remschmidt, Helmut: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendalter. Stuttgart: Thieme 1992, S. 1–4; auch Vera King argumentiert, dass sich Heranwachsende in dieser Lebensphase »zum einen auf das künftige erwachsene Leben vor[bereiten], zum anderen stellt der adoleszente Entwicklungsspielraum auch eine Art ›AusZeit‹ dar, in dem herangewachsene junge Männer und Frauen eigensinnig experimentierend Abschied von der Kindheit, von kindlichen Beziehungsformen und Selbstbildern nehmen und neue Formen des In-der-Welt-Seins hervorbringen. […] Auf individueller Ebene sind adoleszente Entwicklungen übergreifend gekennzeichnet durch eine schrittweise und im günstigen Fall nachhaltige Modifizierung des Verhältnisses zu den Eltern, die auch als Ablösung oder Individuation bezeichnet wird. Diese geht einher mit der psychischen Aneignung des geschlechtsreifen Körpers, der Ausgestaltung der Geschlechtsidentität und Sexualität sowie mit der entsprechenden Entwicklung von neuen Beziehungs- und Lebensentwürfen.« King, Vera: Kultur, Familie und Adoleszenz – generationale und individuelle Wandlungen. In: Das adoleszente Gehirn. Hrsg. von Peter J. Uhlhaas und Kerstin Konrad. Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 75–88, hier: S. 75f. 8 Sophie Obwexer im Gespräch mit Lena Gorelik: Lena Gorelik hat einen Jugendroman geschrieben. In: Literaturportal Bayern, Journal vom 21. 04. 2017. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022).

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viduum mit einer mehrdimensionalen, offenen Anlage und vielschichtigen Darstellung ihrer Innenwelt ein zentrales Merkmal von Goreliks Schreiben in »Mehr Schwarz als Lila« fort. Gleiches gilt für den Sprachstil, der sich auch in diesem Roman durch »kurze, lakonische Sätze [auszeichnet], die sich mit leichter Variation wiederholen, [wie] eine langsam kreisende Vorwärtsbewegung. Das passt […] gut zu den ebenso kreisenden, sich nur langsam klärenden Gedanken der verstörten Protagonistin«9. Doch worum geht es in dem Roman? »Spiel mit Risiko«10 titelt Antje Weber von der SZ in ihrer Rezension und subsummiert die Handlung unter Stichworten wie Risikoverhalten und Regellosigkeit: »Lena Gorelik erzählt in ihrem Roman […] von Grenzüberschreitungen einer Gruppe Jugendlicher auf dem Weg erwachsen zu werden. Aus einem Spiel wird dabei ernst.«11 Mit ihrem Resümee rekurriert Weber insbesondere auf die Bloßstellungen und Kränkungen, denen sich die Heranwachsenden im Zuge des exzessiven Auslebens von Spielformaten wie »Stell Dir mal vor« (SL, 33) und »Du wirst Dich doch trauen« (ebd.) hingeben und die gegen Ende des Romans in eine tiefe Beschämung von Ratte und eine Bloßstellung von Pauls Gefühlen durch Alex münden – ausgerechnet auf der Klassenfahrt beim Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Auschwitz. Dass ein Foto des Kusses, den Alex Paul dabei aufdrückt, im Internet viral geht und eine Debatte um angemessene Erinnerungsarbeit auslöst, setzt nicht bloß den sich verselbstständigen Spielen, sondern auch der Freundschaft ein Ende. Katalysiert wird die sukzessive Auflösung des Wir-Gefühls der Gruppe zuvor durch neue Liebesbeziehungen – Paul ist unglücklich in Alex verliebt, Ratte geht eine Beziehung mit einer Mitschülerin ein und Alex verliert sich in Schwärmereien für den Referendar der Klasse. Erst der Verrat ihrer Freunde, der einen erneuten Verlust von intimen Bezugspersonen darstellt, ist für die Ich-Erzählerin hinreichender Beweggrund, die moralische Qualität ihres sozialen Handelns zu reflektieren, die Divergenz zwischen idealem und realem Ich anzuerkennen und eine Kehrtwende einzuschlagen – doch wie bloß zurück, zu dem Zeitpunkt, an dem »die Dinge […] in Ordnung waren« (SL, 10)? Sind es auf der Handlungsebene die jugendlichen Hauptfiguren, die sich in eine »existenzielle[] Erschütterung« in Form einer »tiefgreifenden Identitätskrise« manövrieren und auf Konflikte in Bezug auf das Verständnis von Freundschaft, den Ablösungsprozess vom Elternhaus und die Suche nach eigenen Wertvorstellungen stoßen, so sind es auf der Darstellungsebene des Romans Aspekte wie die präsentierten Innenweltansichten – die von Erinnerungen und 9 Weber, Antje: Spiel mit Risiko. In: Süddeutsche Zeitung, Literatur für junge Erwachsene vom 20. 03. 2017. (letzter Zugriff: 31. 01. 2022). 10 Ebd. 11 Ebd.

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Anna Kaufmann

Wünschen dominierten Gedanken der Ich-Erzählerin, die sie mit den Stimmen ihrer Freunde und mit Songtextauszügen vermischt –, der unmittelbare Texteinstieg sowie das offene Ende, die »Mehr Schwarz als Lila« gattungstypologisch als (postmodernen) Adoleszenzroman kennzeichnen.12 Dass Gorelik weniger die physiologische als vielmehr die psychologische und psychosoziale Entwicklung der Erzählerin in den Fokus rückt und ihre Geschichte – das ist für den Adoleszenzroman eher untypisch – in ultimas res sowie aus einer Erzählgegenwart vermittelt, die sich zwischen einer erinnerten sowie einer antizipierten Verlusterfahrung verortet, bietet Anlass, die spezifischen »biographischen Ressourcen, Konstellationen und sozialen Bedingungen […, mithin die] Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums«13 der Erzählerin genauer in den Blick zu nehmen und damit die Ursachen der Grenzüberschreitungen zu beleuchten. So geht der Beitrag, die narratologische Anachronie aufgreifend, der Frage nach, welchen Einfluss der Tod der Mutter auf die Familienkonstellation, die Entwicklung von außerfamiliären Sozialbeziehungen und die Individuation der Erzählerin nimmt und sucht herauszustellen, inwiefern ihr die Phase der Adoleszenz im Sinne einer Zeit des Aufbruchs und der »Entstehung des Neuen«14 Möglichkeiten eines veränderten Umgangs mit der belastenden Familienvergangenheit und der Erprobung eigener Wert- und Moralvorstellungen offeriert.

2.

Zum Verlust sozialer Bindungen als Motiv und Erzählstrategie

Die in fünf Kapitel gegliederte Erzählung setzt in ultimas res wie folgt ein: »Paul ist mein allerbester Freund. Paul ist verschwunden, es sind jetzt sechs Tage. Alle machen sich Sorgen. Ich mache mir keine, weil ich weiß, es geht ihm gut. Ich liege meistens auf meinem Bett. Außer ich sitze am Computer. Also die meiste Zeit. Ich weiß nicht, warum ich das so genau weiß. Dass es Paul gut geht.« (SL, 9)

Es sind dies die Gedanken der homodiegetischen Erzählinstanz Alex, die die Geschichte aus der internen Fokalisierung vermittelt. Der Textanfang signalisiert, dass zwischen der Chronologie der Geschichte und der Abfolge der Erzählung eine Dissonanz vorliegt: Das Verschwinden des Freundes hat sich etwa eine Woche vor dem Zeitpunkt der erzählerischen Gegenwart ereignet und wird in der Basiserzählung in Form einer Analepse vergegenwärtigt. Angedeutet wird, dass 12 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jungendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 8. Aufl. Berlin: Cornelsen 2021, S. 168f., 181–186. 13 King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 76. 14 King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. 2. Aufl. Wiesbaden: Springer 2013. (Adoleszenzforschung; Bd. 1).

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die Ereignisse, die Pauls Verschwinden und Alex’ Zerwürfnis vorausgegangen sind, in den folgenden Kapiteln im Zentrum stehen und den Großteil des Romans umfassen. Dabei ist es die Begegnung mit dem Referendar – »ein junger Typ, hübsch. Schwarz gekleidet. Lässig irgendwie. Einer, der den Raum einnimmt, anstatt reinzukommen« (SL, 23) –, in den sich Alex schlagartig verliebt, der das handlungsinitiierende Moment bildet: »Die Geschichte ist ein Ich, sie ist ein Du, und sie ist Er nicht, und sie ist ein bisschen ein Vielleicht. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll zu erzählen. Ich spule zurück, ich suche den Anfang. Als du das Klassenzimmer betrittst. So hat diese Geschichte begonnen.« (SL, 19) Mit dem Resümee ist der Wechsel auf die intradiegetische Ebene der Erzählung vollzogen. Die Reihenfolge der Erzählung wird von Rückwendungen an die für Alex einschneidende Erfahrung des Todes ihrer Mutter (SL, 42f., 78, 82, 114f., 133f., 221, 228, 250) und Vorausdeutungen, die das Zerwürfnis mit ihren Freunden antizipieren (SL, 65, 146, 150, 168, 178, 187, 192, 206), unterbrochen. In der kontinuierlichen Verortung zwischen inner- und außerfamiliären Verlusterfahrungen, die in immer kürzeren Intervallen das Ende verschiedener Lebensphasen markieren, entwickelt sich die Dynamik der Erzählung. Im letzten Kapitel des Romans fallen erzählte Zeit und Erzählzeit zusammen. Das wird anhand einer variierten Wiederholung des Texteinstiges und einem erneuten Resümee der Ereignisse, das einen Erkenntniszuwachs der Erzählerin aufzeigt, inszeniert: »Ich sage verschwunden, aber eigentlich weiß ich, dass Paul gegangen ist. Wegen mir, wegen dir, wegen uns. Wegen dem, was passiert ist, und dem, was niemals sein wird, und weil ich nicht zuhören konnte, und weil Ratte nicht zugehört hat, und weil wir alle. Weil wir es immer noch für ein Spiel hielten, als es schon lange unser Leben war, und du und ich, obwohl, seien wir mal ehrlich, ein Du und Ich gab es nicht. Er ist gegangen, und dahinter steht definitiv ein Wegen.« (SL, 216)

Die Geschichte wird daraufhin noch zwei Tage fortgesetzt. So umfasst die erzählte Zeit, die mit dem Tod der Mutter kurz vor dem achten Geburtstag der Erzählerin einsetzt und bis zur Gegenwart andauert, etwa zehn Jahre, die Erzählzeit etwa zehn Tage. Um nachzuvollziehen, warum die Erzählerin den Bruch mit ihren Freunden als eine »existenzielle Erschütterung« empfindet, setzt die Analyse zunächst bei den Eltern, den primären Liebesobjekten bzw. Bindungserfahrungen der Erzählerin an.

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3.

Anna Kaufmann

Trauer und Verlust in der Familie: Konservierung einer Vater-Kind-Beziehung

Der Tod von Anna-Marie Dobel bedingt eine spezifische Familienstruktur, die die Vater-Tochter-Beziehung ebenso wie die Individuation der Erzählerin maßgeblich beeinflusst. Den Verlust ihrer Mutter erinnert die Erzählerin noch zehn Jahre später als gravierenden Störfall:15 »Meine Mutter ist im Schlaf gestorben. Hirnschlag. Ein Schlag im Kopf. Bum. So stellte ich mir das als Kind vor: Bum. Eine Faust, die ins Hirn schlägt. Und tot. Sie ist ins Bett gegangen, […] hat meinem Papa eine gute Nacht gewünscht […]. Mich hatte sie vorher noch schlafen gebracht. Es war nichts. Es passiert selten, aber es passiert, sagen die Ärzte. Deshalb heißt meine größte Angst: selten.« (SL, 115)

Tochter und Ehemann reagieren auf den Verlust der Mutter bzw. Partnerin mit Trauer, die Sigmund Freud als eine »regelmäßig[e …] Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückte Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.«16 fasst. Vergleichbar definiert James Averill den Trauerbegriff: »On a superficial level it may be said that grief is occasioned by the loss of a significant object. This object is typically another person, for example, a spouse or child, but it may also be a material object such as wealth, or a symbolic one such as reputation.«17 Averill unterscheidet dabei zwischen ›Objekt- und Rollenverlust‹: »The disruption of a functional relationship through the absence of a significant object may be characterized as role-loss as opposed to objectloss.«18 Entsprechend wird Trauer »auch dann empfunden, wenn das, was an Stelle dieser Person ›geliebt wurde‹, verloren geht«19, wie die ausgebildete Trauerbegleiterin Eva-Maria Schertler betont. In Goreliks Roman »Mehr Schwarz als Lila« spielen beide Formen eine Rolle, sowohl der Verlust der Mutter der 15 Vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das »Prinzip Störung« in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 31–56, hier: S. 35. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 133). 16 Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie (1917 [1915]). In: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe Bd. III. 6. Aufl. Hrsg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt/Main: Fischer 1975, S. 197; ich danke Eva-Maria Schertler für diesen Hinweis. Schertler, Eva M.: Tod und Trauer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Innsbruck: Studienverlag 2011, S. 24. (Angewandte Literaturwissenschaft; Bd. 12). 17 Averill, James R.: Grief: Its Nature and Significance. In: Psychological Bulletin 70, 1968, H. 6, S. 721–748, hier: S. 724. 18 Ebd., S. 725. 19 Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 24; vgl. Hoffmann, Nicolas: Trauer. In: Emotionspsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. Hrsg. von Harald A. Euler und Heinz Mandl. München u. a.: Urban & Schwarzenberg 1983, S. 183–188, hier: S. 183; ich danke Eva-Maria Schertler für diesen Hinweis. Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 24.

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Erzählerin als auch deren Rolle als Quelle bedingungsloser Liebe, Ursprung des infantilen Selbstwertes und als Elternteil in der Familienstruktur. Trauer entsteht mithin, wenn eine Konstanz-Kontinuität-Stabilität verloren geht oder verändert wird,20 sie ist eine Folge des Verlusts. So kommt dem normalen Trauerverlauf auch »eine bedeutende Funktion bei der Überwindung des Verlust zu[]«21, da er »üblicherweise zu einer allmählichen Ablösung von der geliebten Person und zum Aufbau neuer sozialer Bindungen führt«22. Die Psychotherapeutin Verena Kast bildet den Trauerprozess, der sich als Reaktion auf den Tod einer geliebten Person bei den Betroffenen typischerweise einstellt, in vier psychischen Phasen ab: Auf das Nicht-wahrhaben-Wollen folgt das Aufbrechen der Emotionen, sodann das Suchen und Sich-Trennen und schließlich der Aufbau eines neuen Selbst- und Weltbezugs.23 Die Anwendung dieser Phasen auf die Entwicklung der Erzählerin und ihres Vaters zeigt Unterschiede (Gelingen versus Scheitern) im Loslösungsprozess von der Verstorbenen auf, wie sich an ausgewählten Textauszügen illustrieren lässt. So manifestiert sich die Trauer des Vaters kurz nach dem Todesfall in einem »Gefühlsschock« und der Weigerung, die Wirklichkeit des Verlusts zu akzeptieren – eine typische Reaktion auch insofern, als der Tod der jungen Frau frühzeitig und unerwartet eintritt. Eine Erinnerung der Erzählerin an die Zeit kurz nach dem Todesfall veranschaulicht das subjektive Erleben des Kummers, mithin die emotionale Überwältigung, die sich in körperlichen Symptomen wie Schlaflosigkeit und Antriebslosigkeit bis hin zur Apathie manifestiert.24 »Ein paar Nächte, nachdem meine Mutter starb, wachte ich auf, das geschah damals ständig. In den Nächten kam die Angst, und ich überdeckte sie mit lautem Weinen. Ich kroch ins Bett meiner Tante, die ein paar Wochen bei uns wohnte, und ich weiß nicht mehr, ob die Wochen Tage oder Monate waren. […] ich tapste mit meiner bunten Kuscheldecke ins Wohnzimmer. […], ich bin sieben, es ist erst ein paar Tage her […]. Ich hörte Stimmen, eine davon war die von meinem Papa. ›Ohne sie kann ich nicht …‹ Diesen einfachen halben Satz. Ich glaube, dieser halbe Satz ist die Wahrheit in seinem Leben.« (SL, 229)

20 Vgl. ebd., S. 25. 21 Hoffmann, Trauer. 1983, S. 184; James Averill resümiert: »[Grief] is elicited by a rather welldefined stimulus situation, namely the real or imagined loss of a significant object (or role), and it is resolved when new object relations are established.« Averill, Grief. 1968, S. 744. 22 Ebd., S. 187. 23 Vgl. Kast, Verena: Trauern. Phasen und Chance des psychischen Prozesses. 20. Aufl. Stuttgart: Kreuz 1999, S. 67–90; ich danke Eva-Maria Schertler für diesen Hinweis. Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 26f.; Nicolas Hoffmann unterscheidet drei Trauerphasen, vgl. Hoffmann, Trauern. 1983, S. 184; auch James Averill bestimmt drei Phasen: »[G]rief typically develops in three stages – shock, despair, and recovery.« Averill, Grief. 1968, S. 736. 24 Vgl. Kast, Trauern. 1999, S. 72; vgl. Hoffmann, Trauer. 1983, S. 183.

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Deutlich wird, dass der Verlust der Ehefrau bzw. Mutter das System Familie erheblich stört, da die Hinterbliebenen »die leere Stelle im Rollenensemble schmerzhaft registrier[en]«25. Die Feststellung des Psychologen Jorgos Canacakis, dass der »Verlust des Lebenspartners […] als eine der schwersten Krisen für erwachsene Menschen [gilt]«26 scheint den Leitfaden für die Konzeption der Vaterfigur zu bilden, die dem Zusammenbruch ihres Lebensentwurfs ohnmächtig gegenübersteht. Stattdessen bemüht sich der Vater um die Trauerbewältigung seiner Tochter und unternimmt verschiedene kompensatorische Maßnahmen. Im Beisein ihrer Freunde erinnert sich Alex: »Einmal musste ich zum Psychiater. Ich war in der dritten Klasse. Man nannte das Spieltherapie. Ich weiß nicht mehr, ob meine Klassenlehrerin das meinem Papa empfohlen hatte, oder ob er selbst auf die Idee gekommen war. Ich weiß auch nicht mehr, warum ich da hinmusste. Vielleicht wegen meiner Mutter, das kann sein.« (SL, 42, Kursivsetzung im Original)

Dass die Erzählerin ihre Therapie-Erfahrung erst im zeitlichen Abstand von zehn Jahren mit dem Todesfall in Bezug setzt, deutet an, dass der Verlust der Mutter unverarbeitet geblieben ist und dass erstens eine Störung auf der interaktionalen Beziehungsebene zwischen Vater und Tochter vorliegt.27 Neben der Kanalisation der Trauer seiner Tochter durch die Bereitstellung professioneller Hilfe versucht der schweigsam gewordene Vater (SL, 9) ihr Gefühl des Alleinseins mit dem Kauf eines Haustieres zu mildern –28 ein Ansinnen, das die Erzählerin rückblickend nicht frei von Geringschätzung kommentiert – soll der Papagei doch Großes 25 Schmied, Gerhard: Sterben und Trauern in der modernen Gesellschaft. München: Piper 1988, S. 139; ich danke Eva-Maria Schertler für diesen Hinweis. Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 53. 26 Canacakis, Jorgos: Ich sehe deine Tränen. Trauern, klagen, leben können. 4. Aufl. Stuttgart: Kreuz Verlag 1990, S. 179. 27 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 130. 28 Annette Streeck-Fischer verweist auf Parallelen im Loslösungsprozess, den Kleinkinder von ihren Müttern und Adoleszente von ihren Eltern durchlaufen: »Auf dem Weg der Verselbständigung und Individuation kommen dem Jugendlichen eine Reihe von Übergangsbedingungen zu Hilfe; Mittel, Werkzeuge und Medien, die die Funktion von Übergangsobjekten haben […]. Der Begriff ›Übergangsobjekt‹ bezieht sich auf die Beobachtung, dass Kleinkinder sich auf dem Weg der Trennung von der Mutter und der Selbstfindung mithilfe von Objekten wie Kuscheltieren, Teddys, einem weichen Tuch oder ähnlichem vor dem Alleinsein und der Gefahr des Im-Stich-gelassen-Seins schützen. Zwar findet bei Jugendlichen die Ablösung von den Eltern auf einem anderen Niveau statt; dennoch haben Mittel wie das Führen eines Tagebuches, die Zugehörigkeit zu einer Jugendgruppe, die schmückenden Accessoires, Idole in Film, Fernsehen und Literatur vergleichbare Funktionen und dienen letztlich der Selbstfindung. […] Sie unterstützen den Jugendlichen im Trennungsprozess von infantilen elterlichen Objekten. […] Je unsichere der Jugendliche ist, je labiler und erschütterter sein Selbstgefühl, umso mehr ist er auf Accessoires angewiesen.« Streeck-Fischer, Annette: Trauma und Entwicklung. Adoleszenz – frühe Traumaisierungen und ihre Folgen. 2. Aufl. Stuttgart 2014, S. 20.

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leisten, nämlich ihren »Papa und [… sie] zu einer Familie machen« (SL, 233). Noch Monate nach dem Todesfall ist der Vater nicht bereit, den Verlust seiner Ehefrau anzuerkennen. Er scheint aus dem Trauerprozess, mithin der dritten Phase des Suchens und Sich-Trennens nicht herauszufinden, in der sich Verbliebene wiederholt in Bezug zur verlorenen Person setzen, um »das, was der Tote bedeutet hat, ins neu entstehende Lebensgefüge mit einzubringen«29. Die Tochter nimmt die Erstarrung ihres Vaters als weiteren familialen Störfall wahr, der sich als Verlust beider Elternteile in ihr Gedächtnis einbrennt: »Einmal, es muss drei, vier Monate nach dem Tod meiner Mutter gewesen sein […], stand ich nachts auf, um auf die Toilette zu gehen, und ich sah Licht in der Küche brennen, ich tapste hin, rieb mir die Augen, und erst mitten in dieser Bewegung fiel mir ein, dass meine Mutter nicht mehr lebte. Im Tapsen, das sich erst nach ein paar Schritten zum Laufen entwickelte, im Augenreiben, hatte ich mich noch verschlafen gefragt, wer da in der Küche sitzt. Mama oder Papa. Meine Mutter war gestorben und hatte mir das Oder genommen. Ich fing an zu weinen. Mein Papa blickte auf, als er mich hörte, aber er blickte langsam auf. Er hob den Kopf, als wäre das eine anstrengende Bewegung. In seinem Gesicht sah ich Tränen, sie glitzerten im Licht der Küchenlampe. Er blieb dann sitzen. Er sprang nicht auf, und er lief mir nicht entgegen, um mich zu trösten. Wenn es dich nicht gäbe, sagte er, und er schüttelte, immer noch langsam, den Kopf. Ich blieb kurz stehen, dann dreht ich mich um und verließ die Küche. Ich vergaß, auf die Toilette zu gehen, ich glaube, ich weinte mich in den Schlaf. Es ging bei dem Weinen nicht um das Oder.« (SL, 115f.)

Die Suizidgefahr ist bei Trauernden in der dritten Phase am höchsten,30 und dies scheint auch für den Vater keine abwegige Option zu sein. Zumindest fühlt sich die Tochter seit dieser Nacht für das Weiterleben ihres Vaters mitverantwortlich und sorgt sich, »dass es [… sie] nicht [mehr] gibt« (SL, 115). Dass der Vater nicht fähig ist, seine Tochter zu trösten, ihr die Notwendigkeit der Ablösung von der Toten, eine positiv besetzte Lebensperspektive und den Wunsch nach Genesung vorzuleben,31 hat zur Folge, dass die Tochter ihn in seiner ihm eingeschriebenen Vorbildfunktion entwertet. Rückblickend evaluiert sie seinen Lebensweg: »Mein Papa und der Humor. Daran scheitert er, das ist so wie mit dem Leben bei ihm. Da scheitert er meistens auch, seit meine Mutter gestorben ist. […] er hat seine Frau verloren. So sieht er auch manchmal aus: als hätte er etwas verloren. Er steht dann so da, und schaut sich um, auf der Suche, verwirrt, ein ängstliches, zu groß geratenes Kind. Wer hat das arme Kind in ein Hemd gesteckt? Und gebt ihm bitte sein Spielzeug zurück.« (SL, 221)

29 Kast, Trauern. 1999, S. 78. 30 Vgl. Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 29. 31 Vgl. ebd., S. 26.

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Zwar trägt der Verlust der Mutter bzw. Ehefrau Züge eines Bindeglieds zwischen den Familienmitgliedern. Doch stellt er zugleich eine Zäsur dar, die umso intensiver wirkt, als der Vater seiner Aufgabe, seiner Tochter Sicherheit, Zuversicht und Fürsorge zu bieten, seither nicht vollumfänglich nachkommen kann. Neben der interaktionalen beeinflusst der Todesfall zweitens die emotionale Ebene der Vater-Tochter-Beziehung,32 deren Konflikthaftigkeit im Zwiegespräch mit der Toten kenntlich wird: »Mein Papa und ich, wir gehen immer zusammen zum Friedhof. Zum Grab, zum Stein, an den Ort, wo wir meine Mutter nicht finden. Jedes Mal darf einer von uns ihr eine Geschichte erzählen. Sie hört nicht zu. Die Geschichte ist für sie, und sie ist für mich, und sie ist für Papa. Sie ist damit wir eine Familie sind. Sie ist ein Versuch zu glauben.« (SL, 114)

Das seit etwa zehn Jahren praktizierte Gesprächsritual mit der Toten, das aus dem Wunsch nach Linderung des Verlustschmerzes resultiert, markiert, dass für den Vater das Konzept Familie lediglich im Rückblick, unter Einbezug der Toten bzw. der Synchronisierung zweier disparater Zeitebenen, denkbar ist. Dafür spricht weiterhin, dass der jung Verwitwete keine neue intime Beziehung mehr eingeht. Mit der Trauerbewältigung scheint ihm auch das Finden von neuen »Rollen, [einer] neue[n] Identität, neue[n] Aufgaben, neue[n] gesellschaftliche[n] Kontakte[n]«33, mithin die Konstitution eines neuen Selbst- und Weltbezuges zu misslingen.34 Die Trauerphase des Suchens und Sich Trennens bleibt insofern unabgeschlossen, als das Suchen weniger den »Versuch, das, was d[ie] Tote bedeutet hat, ins neu entstehende Lebensgefüge mit einzubringen« als vielmehr einen »Widerstand gegen die Veränderung« darstellt.35 Dass das Grabgespräch die Erinnerung an den schmerzhaften Verlust für die Tochter vielmehr auf Dauer setzt und sie das Gespräch mit der Toten als retardierendes Moment für ihre Entwicklung beschreibt – »[das Grab ist] kein Ort, kein Ding und kein Dazwischen. Ein Grab ist auch kein Schmerz, nur eine Erinnerung daran. Ein Grab ist, wo man sich schuldig fühlt, weil das Leben dann doch noch weitergeht« (SL, 114) –, scheint dem Vater zu entgehen. Die Frage ihrer Freunde, ob die Mutter sie wohl mögen würde, wehrt Alex mit den Worten: »Was weiß ich schon von meiner Mutter« (SL, 118) ab, ebenso die Frage, ob die Mutter den Gesprächen am Grab wohl zuhört: »Ich glaube nicht. Ich habe kein Gefühl dafür.« (SL, 119) Für den Vater hingegen avanciert die Tote zum Fixpunkt am Horizont eines Lebens, das aufzugeben er nicht bereit ist – ungeachtet dem Umstand, dass die Tote in der fortschreitenden Gegenwart längst nicht mehr präsent ist. Das jahrelange Fest32 33 34 35

Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 130f. Canacakis, Ich sehe deine Tränen. 1990, S. 179. Vgl. Kast, Trauern. 1999, S. 84. Ebd., S. 78f.

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halten an dem Gesprächsritual lässt sich als Ausdruck seiner mangelnden Bereitschaft deuten, von der Partnerin Abschied zu nehmen.36 So entsteht gesamtheitlich der Eindruck, dass der aus der gewohnten Bahn seines Lebens geworfene Vater an seiner Tochter im Sinne einer »letzten verbliebenen, unaufkündbaren, unaustauschabren Primärbeziehung«37 festhält, sie mithin als Gewährleistung einer Konstanz-Kontinuitäts-Beziehung wahrnimmt.38 Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, dass der Vater die Erzählerin trotz ihrer siebzehn Jahre noch immer wie ein Kind behandelt und diese Rolle durch verschiedene Verhaltensweisen ›konserviert‹: wenn er ihr seit fast zehn Jahren morgens auf identische Weise das Frühstück zubereitet (vgl. SL, 221), wenn er sie wegen des Streits mit den Freunden kritiklos tröstet: »mein Papa hält mich […], und streichelt mir über den Kopf, ganz behutsam, fast schüchtern. ›Nananana‹, sagt er, als wäre ich noch klein, und als wäre meine Mutter noch am Leben« (SL, 215) und wenn er hinnimmt, dass sie sich vor Scham über die zurückliegenden Ereignisse tagelang isoliert, wobei er ihr sämtliche Haushaltspflichten erlässt (vgl. SL, 221). Angedeutet wird zum einen, dass der Vater in Bezug auf seine Tochter in der Adoleszenz kaum zu »individuationsfördernden Grenzziehungen«39 in der Lage ist. Zum anderen wird deutlich, dass der Vater den adoleszenten Entwicklungsraum seiner Tochter durch sein Festhalten an überholten Rollen teilweise okkupiert, seine Fähigkeit zur Generativität mithin begrenzt ist.40 Exemplarisch wird dies an der Beschreibung eines Treffens der Freunde deutlich. An einem ungewöhnlich warmen Novemberabend sitzen Alex, Ratte und Paul, allesamt minderjährig, im Garten, rauchen und trinken Alkohol – »für den Wodka ist Paul zuständig, schon immer, er hat den billigen Gorbatschow dabei« (SL, 77). Die Reaktion des Vaters auf dieses Verhalten beschränkt sich darin, »irgendwann […] den Kopf aus dem Fenster [zu strecken] und […] ihnen viel Spaß und eine gute Nacht [zu wünschen]« (SL, 80). Das Fehlen der Einnahme der Rolle der elterlichen Kontrollinstanz, das möglicherweise aus dem Bedürfnis resultiert, die Tochter nach der Verlusterfahrung zu schonen, zeigt, dass die 36 Vgl. ebd., S. 81. 37 Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 193. (Neue Folge Bd. 365); ich danke Eva-Maria Schertler für diesen Hinweis. Schertler, Tod und Trauer. 2011, S. 54. 38 Vgl. ebd., S. 55. 39 Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 62f. 40 Vera King bezeichnet mit dem Begriff Generativität »die gesellschaftlich sich wandelnden Formen der Ermöglichung des ›Heranwachsens‹ der Folgegeneration […] und damit sukzessive auch der – zwangsläufig ambivalenten – Ermöglichung der eigenen Ablösung durch die jeweilige Folgegeneration«. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 77; vgl. auch King, Vera: Aufbruch der Jugend? Adoleszenz und Ablösung im Spannungsfeld der Generationen. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, S. 49–61, hier: S. 55–57.

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transgenerationelle Beziehung drittens auf der normativen Ebene gestört ist.41 So bedingen der Verlust eines Elternteils, die unabgeschlossene Trauerbewältigung des Vaters und die Konservierung einer überkommenen Vater-Tochter-Beziehung eine konflikthafte Generationenbeziehung, die die Ablösung der Tochter vom Vater und die Verlagerung emotionaler Bindungen auf außerfamiliäre Objekte frühzeitig einleitet.

4.

Zur Ablösung der Sozialisationsinstanz Familie durch Gleichaltrige und Tagträume

Die Ablösung von den Eltern und der Aufbau neuer Beziehungen zu Gleichaltrigen sind zentrale Entwicklungsaufgaben in der Adoleszenz.42 Dass sich diese auch als »Hemmschwellen [fassen lassen], an denen sich Entwicklungsstörungen abbilden oder verdichten«43, soll den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bilden. Typischerweise prüfen Jugendliche ihre Eltern in der Phase der Adoleszenz in »Hinblick auf ihre Lebensform und ihre Beziehung zueinander kritisch […]. Ist das, was die Eltern vorleben, unattraktiv, kommt es entweder zu heftigen Auseinandersetzungen oder der Jugendliche zieht sich enttäuscht zurück«44. Der sich üblicherweise schrittweise vollziehende Ablösungsprozess wird bei der Erzählerin frühzeitig angestoßen. Die jugendliche Erzählerin bringt ihre Verständnislosigkeit gegenüber dem Lebensentwurf ihres Vaters zum Ausdruck: »Mein Papa beschloss […], in der Traurigkeit leben zu bleiben. Auch aus Bequemlichkeit. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Seine Traurigkeit ist, glaube ich, hellblau wie alle seine Hemden, und sie hat mit Trauer nichts zu tun.« (SL, 221) Die adoleszente Identitätssuche der Erzählerin ist in erster Linie von der Negation der Lebensweise ihres Vaters bestimmt, der als »ein väterliches, zur Identifikation einladendes Objekt«45 für sie nicht (mehr) in Frage kommt.46 Keinesfalls will Alex zulassen, dass der Tod der Mutter als destruktiv-retardierendes Moment so viel Einfluss auf ihre Lebensgestaltung nimmt, wie der Vater es seinerseits zulässt. 41 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 130. 42 Vgl. ebd., S. 127; neben der Ablösung von den Eltern bestimmen weitere Entwicklungsaufgaben die Adoleszenz wie die Bewältigung »körperliche[r] Veränderungen vom ursprünglich kindlichen zum erwachsenen Körper«, der Aufbau »neue[r] Beziehungen zu Gleichaltrigen […] und [die Integration] sexuelle[r] Bedürfnisse in Beziehungen«, die Entwicklung von »Selbstvertrauen und ein[em] neue[n] Wertesystem« sowie das Gewinnen einer »soziale[n] und berufliche[n] Identität«. Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 17. 43 Ebd. 44 Ebd., S. 18. 45 Ebd., S. 63. 46 Vgl. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 81.

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Mit Blick auf die Bewältigung der adoleszenzspezifischen Entwicklungsaufgaben lässt sich nun fragen, inwiefern die biographische Zäsur und die konflikthafte intergenerationelle Beziehung Einfluss auf die Fähigkeit der Erzählerin nehmen, in der Ablösung von den Eltern »Übergangsformen zwischen Abhängigkeit und Selbstständigkeit«47 zu realisieren. Dabei fällt auf, dass die Erzählerin ihr Halbwaisendasein als ein Stigma erinnert, das eine vollständige soziale Akzeptanz unter den Gleichaltrigen ausschließt:48 »Klar war ich traurig, als meine Mutter starb. So traurig, dass ich es niemandem sagte. Der Mensch ist ja ein Gewöhnungstier, und irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Ich war die ohne. Mutter. In meiner Klasse gab es den Jungen mit dem zugeklebten Auge […]. Und das Mädchen mit den abstehenden Ohren. Und eine hatte echt sechs Zehen. Und ich war die, deren Mutter gestorben war im Schlaf.« (SL 134).

Angedeutet wird, dass sich der soziale Status der Erzählerin durch den Tod der Mutter von diskeditierbar zu diskreditiert verschiebt und ihr in Form eines Makels anlastet.49 Rückblickend resümiert die Erzählerin einen Mangel an Sozialkontakten: »Ich hatte nie viele Freunde. Meine beste Freundin aus der Grundschule zog nach China. Später schleppte ich mich so durch und gehörte zu verschiedenen Grüppchen, und ich wusste nie, ob sie mich nur duldeten oder wirklich mochten.« (SL, 135) Der Wunsch nach erfüllenden außerfamiliären Bindungen und belebenden Interaktionserfahrungen löst sich für Alex erst in der Phase der Adoleszenz ein. So beschreibt sie den Beginn ihrer Freundschaft mit Paul, ihrem »allerbesten[n] Freund« (SL, 9) und Ratte, ihrem »andere[n] allerbeste[n] Freund« (SL, 13) auch als schicksalhafte Wende: »Es ist, als hätte ich mein ganzes Leben auf Ratte und Paul gewartet. Als müssten sie sein.« (SL, 135) Es ist die Konfrontation mit vergleichsweise ungünstigen Familienstrukturen, die den Kitt ihrer Freundschaft bildet. In Bezug auf Paul bemerkt die Erzählerin: »Pauls Eltern haben sich schon immer um seinen Bruder gekümmert, das erzählte uns Paul so, und so erzählte er es uns nicht: Um mich haben sie sich nicht gekümmert. Pauls Geschichte ist eine von Einsamkeit. Ratte und ich sind seine Familie.« (SL, 27) Und in Bezug auf Ratte heißt es: »Sie hat nicht viel Glück, ihr Vater ist, was man einen Bauernburschen nennt, irgendwie sehr einfach gestrickt. Er ist entweder furchtbar nett oder furchtbar betrunken. Wenn er furchtbar nett ist, dann hat Ratte Angst vor dem Moment, in dem er wieder furchtbar betrunken sein wird.« (SL 80) Die Freunde teilen einander Gedanken und Gefühle mit, Alex offenbart ihre Sehnsucht nach einer intakten Familienstruktur: »Ihr wisst nicht, wie es ist. Zu sehen, dass das für euch eine Selbstverständlichkeit ist – dass da eine 47 Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 19. 48 Vgl. Goffman, Erving: Stigma, Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 24. Aufl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2018, S. 7. 49 Vgl. ebd., S. 12.

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Mutter ist. Eine, die einen in den Arm nimmt oder diese einfachen, unwichtigen Dinge macht wie Kochen.« (SL, 44) Auch, dass ihnen in der Schule die Außenseiterrolle zukommt, verbindet die Freunde: »Zusammen betreten wir die Klasse. Dann ist das Betreten ganz einfach. In den Pausen stehen wir beieinander.« (SL, 32) Ihre Eigenart signalisieren sie gegenüber den Mitschülern durch äußerliche Merkmale und spezifische Verhaltensweisen: Ratte fährt zum Beispiel Mofa, trägt »nie […] etwas anderes als Chucks an ihren Füßen« (SL, 14) und hat Rastalocken, die wie der ausgedachte Name auch »eine Haltung« (ebd.) sind. Paul wiederum hat blonde Locken, die »störrisch, und […] hart [sind …] wie […] MetallKorkenzieher […], eine Art Schutzmauer, hinter der sich die Gedanken verstecken« (SL, 17), Paul ist höflich, korrekt und »einer, der freiwillig Seneca liest« (ebd.). Alex’ Kleidungsstil ist abgesehen von bunten Socken ganz in Schwarz gehalten, sie besitzt auch eine »Strickjacke, [… deren] Ärmel so lang [sind], dass [… ihre] Hände darin verschwinden […] wie ein Versteck to go« (SL, 21). Alex ist auch für ihre stichelnden Bemerkungen bekannt, »aber nur an Tagen, an denen [… ihr] gar nichts gefällt« (SL, 22). Dass sich die primäre Sozialisationsinstanz Familie in der Phase der Adoleszenz auf Gleichaltrige bzw. Peers verlagert, ist Teil eines normalen Adoleszenzverlaufs.50 Es hängt dies damit zusammen, dass »Kontakte zu gleichaltrigen, sowohl gleichgeschlechtlichen als auch andersgeschlechtlichen Jugendlichen […] die Ablösung von den Eltern und das Finden von Normen und Orientierungen in Abgrenzung zur Erwachsenengeneration [unterstützen]«51. Das Erproben neuer, außerfamiliärer Beziehungsformen ist Ausdruck der Umgestaltung bislang bekannter Interaktionsformen.52 Entsprechend definiert die Soziologin und Sozialpsychologin Vera King das zentrale Gelingenskriterium für die Ablösung von den Eltern auch nicht als binäre, sondern als »triadische[] Struktur von individuellen, familialen und außerfamilialen Erfahrungen, die im günstigen Fall in wechselseitiger Verstärkung die Fähigkeit zur Perspektivenänderung steigern können«53. Die Anwendung dieser Einschätzung auf das soziale Umfeld der adoleszenten Erzählerin zeigt, dass sich ihre Beziehung zum Vater in der Wiederholung erstarrter Kommunikations- und Interaktionsformen erschöpft. Neues oder »irgendwas mit Lebendigkeit« (SL, 77), wie Alex kritisch formuliert, findet sie dort nicht. So bedingt das familiäre Erfahrungsvakuum ein 50 Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 128; vgl. King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 81–83. 51 Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 19f. 52 Vgl. Bürgin, Dieter: Adoleszenz und Trauma. Grundsätzliche und spezifische Aspekte der Behandlung von Jugendlichen mit traumatischen Erfahrungen. In: Adoleszenz und Trauma. Hrsg. von Annette Streeck-Fischer. 2. Aufl. Göttingen 1998: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 128– 160, hier: S. 128f. 53 King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 76.

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vergleichsweise stark ausgeprägtes Bedürfnis nach vitalisierenden Sozialkontakten, das die Erzählerin durch außerfamilialen Bindungen zu Gleichaltrigen zu kompensieren sucht.54 Eine genauere Analyse ihrer Freundschaft zu Ratte und Paul zeigt auf, dass Ratte und Paul Alex’ infantile Beziehungserfahrungen nicht bloß ergänzen, sondern in vielerlei Hinsicht an ihre Stelle rücken. Dies illustriert etwa Alex’ Beschreibung der Fürsorge, die die Freunde einander im Schulalltag zuteilwerden lassen: »Wenn Ratte nicht mit dem Mofa zur Schule fährt, holt sie mich mit dem Fahrrad ab. Ich hole Paul ab, immer. […] Wir reden nicht viel beim Radeln […]. Aber wir wollen beiund miteinander sein. […] Ratte bringt Pausenbrote mit, für uns alle. Ich zahle die Cola und die Zigaretten. Paul macht Hausaufgaben für uns […]. Nach der Schule gehen wir meist zu mir. Abends kochen wir was, und mein Papa sagt, wenn er nach Hause kommt: ›Na, ihr drei, wie war euer Tag?‹« (SL, 32).

Das Zuhause der Erzählerin wird zum gemeinsamen Treffpunkt und bietet Ratte Zuflucht, wenn es ihr »zu Hause mal wieder reicht [… und es] reicht ihr oft zu Hause« (SL, 87). Beweise der Verbundenheit stärken das Freundschaftsband, so begleiten Alex und Paul Ratte zum Zahnarzt (vgl. SL, 86), schenkt Ratte Alex Feldblumen (SL, 15), pflückt Waldbeeren für Paul, die ihn an seinen Großvater erinnern (ebd.), weckt Alex nachts, um ihr Sternbilder am Himmel zu zeigen (vgl. SL, 16) und bringt Muffins zu den Treffen mit, die ihre Mutter für den Bruder backt (vgl. SL, 77f.). »Ratte profitiert von dieser Mutterliebe aus zweiter Hand, wir aus dritter« (SL, 78), denkt Alex, bevor sie sich sämtliche Portionen gebackener Mutterliebe einverleibt. Dass Ratte und Paul sich in Alex’ Zuhause frei bewegen, gefällt der Erzählerin, sie fühlt sich dann geborgen (vgl. SL, 80). So wird auch an der räumlichen Ordnung der erzählten Welt die Spezifik der Freundschaft greifbar, suchen Adoleszente sich doch üblicherweise Räume zu erschließen, die außerhalb der Einflussnahme und Kontrolle des Elternhauses liegen.55 Deutlich wird, dass sich die Freundschaft zu Ratte und Paul für Alex nicht darin erschöpft, allein als Stütze im Ablösungsprozess von ihrem Vater zu fungieren.56 Vielmehr scheint die Erzählerin »als Folge eines regressiven Prozesses die Verwirklichung einer infantilen Fantasie […] in der Gruppe [zu suchen]«57. Dafür spricht, dass sie Rattes Verhalten als maternal beschreibt, wenn diese mal wütend auf sie ist, »schreit […] und […] den Kopf wie eine entrüstete Mutter [schüttelt]« (SL, 137) oder Alex es als beruhigend empfindet, wenn Ratte ihr vor dem Zubettgehen einen Kuss auf die Stirn gibt (vgl. SL, 79, 213). Wie einen Vater nimmt die Erzählerin Paul wahr, wenn er sie ermahnt: »Lass uns doch mal 54 55 56 57

Vgl. Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 51. Vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 130. Vgl. Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 51f. Ebd., S. 52f.

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in Ruhe lernen und such dir was Sinnvolles zu tun. Du bist wie ein Kind, das beschäftigt werden muss, ehrlich.« (SL, 86) Allein im Beisein von Ratte und Paul erscheint Alex ihr »Leben [ausnahmsweise] groß« (SL, 81) und wenn sie nachts im Garten auf der Isomatte zwischen den beiden liegt, fühlt sie sich geborgen: »Ich liege gerne in ihrer Mitte, das ist wie wenn ich Eltern, aber die guten Eltern erwischt hätte. Das ist, als ob nichts gewesen wäre.« (SL, 84) Mit der alleinigen Orientierung an Gleichaltrigen geht der Erzählerin jedoch die »notwendige Doppelorientierung an Familie bzw. Gesellschaft und an Gleichaltrigen«58 verloren und sie stellt ihre Freundschaft auf eine Belastungsprobe. Die Konflikthaftigkeit ihrer Beziehung zu ihrem Vater und ihren Freunden zeigt sich auch in der Neigung der Erzählerin, sich in Tagträumen zu verlieren. In Momenten, in denen sie sich bei Ratte und Paul geborgen fühlt, imaginiert sie sich als Teil einer phantastischen Welt: »Das ist mein Haus, denke ich, als lebte ich da ganz allein mit Astrid [ihrem Papagei], so eine Art Pippi Langstrumpf, nur dass mein Papa in Wahrheit kein Kapitän ist.« (SL, 80) Die Analogie zur Romanfigur, deren Mutter tot und deren Vater abwesend ist und die abgesehen von ihren zwei Freunden allein in der Villa Kunterbunt lebt, die vielleicht auch einmal einsam, aber doch immer stark, rebellisch und einfallsreich ist, entfaltet sich vor Alex’ innerem Auge als Lebensentwurf mit hohem Identifikationspotential. Es ist eine Vorstellung, die Alex seit ihrem achten Geburtstag, der eng mit dem Tod ihrer Mutter verknüpft ist, begleitet: »Ich war acht Jahre alt und wollte Pippi Langstrumpf werden« (SL, 82). Dass sie noch eine andere Eigenschaft mit Pippi teilt, nämlich vorzugsweise nach dem Motto ›Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt‹ zu leben, reflektiert die Erzählerin erst zum Ende des Romans. Wunschvorstellungen als solche zu erkennen, fällt Alex in Bezug auf den Referendar besonders schwer, wie ihre Gedanken zeigen: »Wie du manchmal zu mir schaust, und wie sehr ich mir wünsche, dass es ein Zu-mir-Blicken ist. Und dass ich nicht immer zwischen Leben und Traum unterscheiden kann« (SL, 119). In anderen Momenten hofft Alex, dass Johnny sie nicht zufällig, sondern absichtlich berührt (vgl. SL, 163) und ganz bewusst ihre Nähe sucht, etwa in einer SitzkreisSituation, »obwohl er dafür ein paar Schritte gehen muss, um die anderen Mädchen herum. Vier Schritte, um genau zu sein. Er quetscht sich sozusagen zwischen die beiden« (SL, 179). Ähnlich den Gleichaltrigenbeziehungen kommt den Tagträumen bei der Loslösung der Adoleszenten von ihren infantilen Bezugspersonen »eine wichtige Überleitungsfunktion [zu], bis das Selbstwertgefühl durch reale Gratifikationen und Beziehungen zunehmend gefestigt wird. Objektsuche und Einbindung in die Realität gesellschaftlicher Strukturen haben

58 Ebd., S. 52.

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deshalb eine anti-narzisstische Funktion«59. Die Textauszüge lassen vermuten, dass es im Falle der Erzählerin zu einer »kompensatorischen Fixierung auf die Tagträume«60 kommt. Dies vor allem, weil ihr »voradoleszente[s] Selbst durch Kränkungen [… und] Missachtungen [… im Zuge der] traumatische[n] Erfahrung [des Verlusts ihrer Mutter] fragil geworden ist«61. Dass der »Stütz- und Fluchtpunkt des Narzissmus, der an sich einen Entwicklungsspielraum bedeutet, […] zu einer Sackgasse«62 gerät, verhindern Ratte und Paul allerdings, die nicht davor zurückschrecken, Alex auf die phasenweise Verengung ihrer Wahrnehmung hinweisen: »Du, Alex, willst immer das letzte Wort behalten. Und du willst manche Dinge nicht sehen. Aber wir lieben unseren blinden Trotzkopf, oder, Paul?« (SL, 178) Es ist sodann das Spielformat ›Du wirst Dich doch trauen‹, das ihr einige folgenreiche ›blinde Flecken‹ ihrer Wahrnehmung aufzeigt.

5.

Zur Gleichaltrigengruppe als Spielraum adoleszenter Selbsterprobung

Aus der einschneidenden Erfahrung des Verlassen-worden-Seins durch primäre Bindungsobjekte resultiert, so zeigen es die bisherigen Ausführungen, eine tiefgreifende Verletzung des Selbstkonzepts der Erzählerin.63 Erst die Einnahme der sozialen Rolle als Freundin stabilisiert Alex’ Selbstwertgefühl, wovon ihre Gedanken zeugen: »Ich bin ihre Familie. Ich könnte auch sagen: ich bin etwas. Durch sie bin ich etwas« (SL, 80), ebenso wie die Beschreibung des Wir-Gefühls, das sie in der Gruppe spürt: »Ratte, Paul und ich. Das ist mein Leben« (SL, 32). Die Freundschaft zu Ratte und Paul bildet für die Erzählerin die wichtigste außerfamiliäre Selbstwertquelle. Entsprechend verletzt fühlt sie sich, als Ratte sich in eine Mitschülerin verliebt und ihr fortan weniger Aufmerksamkeit widmet. Alex fühlt sich zurückgesetzt, ist empört: »In unserer Zeit hatte Ratte mit niemandem was gehabt, mit anderen Worten hatte Ratte uns gehört, sie hatte uns gehört, uns gepflegt, uns herausgefordert, uns geliebt, uns gewollt. Sie war das Wir in Uns gewesen« (SL, 126). Offenbar befürchtet die Erzählerin den erneuten Verlust einer zentralen Bezugsperson in ihrem Leben. Die Trauer-Forscherin Verena Kast stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass jemand, der 59 Bohleber, Werner: Grundzüge adoleszenter Entwicklung: Psychoanalytische Perspektiven. In: Uhlhaas/Konrad, Das adoleszente Gehirn. 2011, S. 70. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 70f. 63 Vgl. zum Konnex Adoleszenz und Selbstkonzept Knopf, Monika/Mack, Wolfgang: Entwicklung kognitiver Funktionen, des Selbst und der Identität in der Adoleszenz. In: Uhlhaas/ Konrad, Das adoleszente Gehirn. 2011, S. 45–60, hier: S. 58.

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»einen Menschen verloren hat, der ihm viel bedeutete, […] auf Verlusterlebnisse, Trennungserlebnisse stärker reagieren [wird] als jemand, der niemanden verloren hat. Ist doch die Erfahrung von Tod eine starke emotionale Erfahrung und Belastung […, die] dazu [tendiert], in ähnlichen Situationen wieder erinnert zu werden.«64

Für das Verliebtsein ihrer Freundin kann die Erzählerin keine Freude aufbringen und wertet Rattes Hinwendung zu einer intimen Beziehung als Ausschluss aus ihrem subjektiven Empfinden. Sie zieht sich enttäuscht zurück, wiederholt in gewisser Weise die Erfahrung des Zurückgelassen-worden-Seins. Erst zum Ende des Romans traut sie sich, den vorwurfsvollen Gedanken: »In unserer Zeit hatte Ratte mit niemandem was gehabt, mit anderen Worten hatte Ratte uns gehört« (SL, 126) gegenüber Ratte auszusprechen: »[D]u hast uns im Stich gelassen.« (SL, 239) Auffällig ist dies umso mehr, als Alex sich selbst nach einer intimen Beziehung sehnt und in den Referendar verliebt hat, mit dessen Auftauchen für sie eine »neue Zeitrechnung« (SL, 53) beginnt. Der Referendar ist eine ambivalente Figur, die sich der Klasse mit den Worten: »›So, ich möchte das jetzt alles ein bisschen anders machen, wenn es euch recht ist‹« (SL, 24) vorstellt. Er verwischt die Grenze zwischen dem Schüler- und Lehrerdasein, etwa wenn er das Lehrerpult ignoriert und sich jede Stunde auf einen anderen Platz in der Klasse setzt (vgl. SL, 31) und den Schülern damit das Gefühl gibt, »einer von [… ihnen]« (ebd.) zu sein. Später sucht er die Nähe von Alex, Ratte und Paul, trifft sie außerhalb der Schule und schlägt vor, ihm einen neuen Namen zu geben, Johnny: »›Vielleicht ist das für uns alle besser. Ein ganz anderer Name‹« (SL, 69). Alex fühlt sich von Johnny angezogen und dieses Gefühl ist stärker als das ihrer Freundschaft zu Ratte und Paul (vgl. SL, 169, 203). Erst rückblickend gesteht Alex sich ein, dass sie ihr Dreierbündnis »auf[gibt], um [… Johnny] haben zu können« (SL, 65). Versucht sie anfangs, ihre Gefühle ihm gegenüber zu verbergen (vgl. SL, 71), sucht sie zunehmend seine Nähe und sehnt sich immer stärker nach dem Aufbau einer intimen Beziehung (vgl. SL, 163). Dies auch, weil der Referendar Alex Annäherungsversuche nicht eindeutig ablehnt (vgl. SL, 130f., 167). Zu der Beziehung von Ratte und der Schwärmerei von Alex kommt hinzu, dass Alex in ihrer Fokussierung auf den Referendar kein Gespür dafür aufbringt, dass Pauls Zuneigung ihr gegenüber, die etwa darin besteht, dass er für sie »›Sachen klaute, [… ihr] immer was schenkte, und Zitate für [… sie] rausschrieb, und [… ihr] irgendwas vorbeibrachte‹« (SL, 237) dadurch motiviert ist, dass er in sie verliebt ist. Erst gegen Ende der Handlung lässt sie Rattes Frage: »›War dir nicht klar …‹« (ebd.) gelten und wendet ein, dass sie Pauls Gefühle »›vielleicht […] nicht [hat] sehen wollen‹« (SL, 238). Dass »Paul auch ein Gefühlsmensch ist, im Sinne von: ein Mensch mit Gefühlen« (SL, 202) und was ihm »etwas bedeutet, [… darüber hat sie sich] noch keine Gedanken gemacht« (SL, 150). Es sind die zum Teil 64 Kast, Trauern. 1999, S. 86.

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realisierten, zum Teil bloß imaginierten Liebesbeziehungen, die den emotionalen Sprengstoff bilden, der auf der Klassenfahrt nach Polen explodiert. Es sind die Spiele, denen sich die Freunde hingeben, um »der Langeweile zu entkommen« (SL, 33), die das Format für die Explosion, den Bruch ihrer Freundschaft bilden. Die Erzählerin erklärt das Motiv des Spielens, es geht darum, »eine andere Welt zu betreten« (SL, 182), um sich »zu spüren und zu fliehen, aber [… sie] sagten fliegen dazu. [… Sie] spielten, um zu fliegen« (ebd.). Was ihr Leben am Boden hält, das ist der (Schul-)Alltag, den sie als eintönig und trist empfinden – »Tage, an denen das Leben in vorhersehbarer Monotonie versinkt: Schule und Paul und Ratte und Hausaufgaben und nichts« (SL, 86) – und den Nährboden für ihr Bedürfnis nach Entfaltung bildet: »Man könnte uns fragen, worauf wartet ihr denn, und wir würden das Augenscheinliche aufzählen: Abitur, Ausziehen, Wegziehen, Ausland, ein anderes Leben, überhaupt ein Leben. Aber wir wussten nicht wirklich eine Antwort.« (SL, 21) Der Wunsch nach Unabhängigkeit von den Eltern gepaart mit Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Ausbildung einer sozialen Identität und eigener Norm- und Wertvorstellungen bildet den Reiz der Spiele: Das Hervorbringen von Neuem durch gegenseitiges Herausfordern und Triezen, die Auseinandersetzung mit den intimen Ängsten und Wünschen der Mitspieler sowie das Gefühl des Auslieferns und des Ausgeliefertseins. Das Spiel ›Stell dir mal vor‹ läuft etwa so ab: »›Stell dir vor, du hättest uns nicht mehr.‹ ›Stell dir vor, du könntest nur einen von uns haben, und du müsstest dir aussuchen, wen.‹ ›Stell dir vor, du könntest nur einen von uns haben, würdest aber den kriegen, den du nicht haben willst.‹ ›Ja, und stell dir vor, dass du das vorher laut sagen musst, wen du haben willst. Dann kriegst du aber den anderen und musst ihn behalten.‹« (SL, 83)

Der Mut, sich auf Provokationen und Bloßstellungen dieser Art einzulassen gründet auf dem Vertrauen, dass die Mitspieler ihre Sticheleien und Kränkungen nicht zu weit und die Preisgabe an die Lächerlichkeit nicht allzu exzessiv (be)treiben. Alex kommentiert die Gradwanderung: »Wir spielten das immer wieder, wir waren süchtig danach. Einer begann. Die anderen trieben. Trieben weiter und aus voller Inbrunst zu weit. Da war etwas in uns, es war wie an eine Klippe zu gehen, ganz nah an den Abgrund, aber nicht zu springen. Und zu wissen, man könnte, jederzeit, es sind nur wenige Zentimeter bis zum Rand. Und wissen, man könnte auch jederzeit schubsen. Wir schubsten, sprangen aber nie. Wir schubsten gegen jeden Widerstand, gegen flehende Augen und lockere Sprüche, aus denen Unsicherheit tropfte. Wir wollten geschubst werden, denn wir bildeten uns was drauf ein. Dass wir uns trauten. Wir waren mehr.« (SL, 34)

In der adoleszenten Entwicklung nehmen Gleichaltrigengruppen bzw. Peers auch deshalb eine zentrale Rolle ein, da sie »Jugendlichen in unserer Kultur das

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wichtigste Übungsfeld [bieten]«65, wie die Kinder- und Jugendpsychiaterin Annette Streeck-Fischer herausstellt. Sie verweist darauf, dass Erikson das »Experimentieren [… in der Gruppe] eine Art soziales Spiel [fasst], das ein Erproben und Sich-Auseinandersetzen mit der Umwelt und der sozialen Mitwelt darstellt«66. Eine genaue Betrachtung des Spielverhaltens der adoleszenten Figuren zeigt, dass es in den meisten Fällen die Erzählerin ist, die die Spiele initiiert (SL, 76, 81, 86). Immer wieder überkommt sie ein »Ich-muss-mal-wieder-spielenGefühl« (SL, 76), das ihr »durch den ganzen Körper […] bis in die Haare [dringt]« (SL, 76, 81). Es scheint, dass ihr ausgeprägtes Verlangen, spielerisch »zu überprüfen, inwieweit soziale Regeln und Normen tatsächlich Gültigkeit haben«67 und zu testen, inwiefern die Freundschaft zu Ratte und Paul Belastungen standhält, aus der konflikthaften intergenerationellen Beziehung, dem Fehlen eines väterlichen, zur Identifikation einladenden Objekts bzw. einer normativen Kontrollinstanz resultiert.68 Zwar ist aufstörendes Verhalten von Heranwachsenden üblich –69 »Jugendliche loten durch Grenzüberschreitungen und radikale Provokationen aus, wie weit sie gehen können und fordern damit eine Begrenzung heraus […], um sich daran zu orientieren und sie dann zu verinnerlichen«70. Zum Problem geraten Grenzüberschreitungen allerdings, wenn »ein Kind bei seinen Größenfantasien, seinen Expansionen und seiner Selbstbezogenheit keine Grenze findet, nicht auf einen begrenzenden anderen trifft, dann ist das wie ein Abheben in den leeren Raum«71. Eben dies scheint auf die Erzählerin zuzutreffen. Auf der Klassenfahrt nach Polen entlädt sich die emotional angespannte Situation zwischen Alex, Ratte und Paul in dem Spiel ›Du wirst dich doch trauen‹. Dabei ist es Alex, die die Freunde über die Maßen beschämt und die Kontrolle über ihr emotionsgesteuertes Verhalten verliert: Sie verlangt von Paul, anzusehen, wie sie Johnny küsst, nachdem sie preisgegeben hat, in diesen (und nicht in Paul) verliebt zu sein. Und von Ratte fordert sie, nachdem sie bereits mit nacktem Oberkörper durch das Jugendherbergsareal laufen und sich Bier über ihre Haare gießen musste, Paul im Beisein ihrer Freundin zu küssen. Augenscheinlich ist es 65 66 67 68 69

Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2011, S. 51. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 62f.; vgl. Remschmidt, Adoleszenz. 1992, S. 130. Die Protagonisten befinden sich in »der mittleren Adoleszenz (15–17 Jahre) [… in der] die Akzeptanz des sexuell reifen Körpers und die Verantwortlichkeit dafür im Mittelpunkt [stehen]. Äußere und innere Abhängigkeitsbindungen an die Eltern müssen aufgegeben und ihre Objektrepräsentanzen entidealisiert werden. Die Fähigkeit zu Intimität und zu sexuellen Beziehungen hat noch stark narzisstischen Charakter. Ein Gefühl persönlicher Identität entwickelt sich, wobei vor allem die Peergroups als Unterstützung und Bestätigung dienen. Stimmungsschwankungen zeigen die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses.« Bohleber, Grundzüge adoleszenter Entwicklung. 2011, S. 63. 70 Ebd., S. 71. 71 Streeck-Fischer, Trauma und Entwicklung. 2014, S. 62.

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der angestaute Frust, der die Erzählerin zu ihren Forderungen treibt – ist doch der erhoffte Aufbau einer intimen Beziehung zum Referendar misslungen, Pauls Zuneigung ihr zuwider und dominiert das Gefühl, von Ratte alleingelassen worden zu sein. Sie kann in dem Spiel, in dem die Intensität der Forderungen Runde für Runde gesteigert wird, der »Herausforderung [… nicht widerstehen, weil sie spürt], dass es [… dabei] um Macht geht, und dass Macht ein geiles Gefühl ist« (SL, 184). Zentraler Treiber der Forderungen – Ausziehen, Ohrfeigen und Küsse verteilen, Unbeteiligte provozieren – ist der Konsum von Drogen, von Alkohol, Zigaretten und einem Joint (vgl. SL, 179). Die von Alex zuletzt gestellten Aufgaben empfinden die Mitspieler als Grenzüberschreitung, die das Spiel beendet und die brüchige Freundschaft gänzlich in Frage stellt. Mit den Worten: »Du bist ja so ein Arschloch« (SL, 190) steigt Ratte aus dem Spiel aus und auch Paul zieht sich mit der rhetorischen Frage: »›Zufrieden?‹« (SL, 191) zurück. Johnny wendet sich von Alex mit den Worten ab: »›Das ist nicht mehr in Ordnung. Das weißt du auch, oder, Alex?‹« Doch erst als die Klasse am nächsten Tag die Gedenkstätte Auschwitz besucht, eskaliert die angespannte Situation. Alex’ halbherziger Versuch, sich bei Ratte und Paul zu entschuldigen: »›Müssen wir … irgendwie darüber reden?‹, frage ich in diese Stille hinein. ›Über gestern?‹« (SL 197), läuft ins Leere. Als sich die Freunde auf dem Areal der Gedenkstätte zusammensetzen, formuliert Ratte eine Gegenprovokation – im Assoziationsbereich der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten: »›Stell dir vor, Alex, du bist im Widerstand. Und du kannst Paul retten. Aber um ihn zu retten, musst du ihn heiraten. Sonst erschießen ihn die Nazis sofort vor deinen Augen.‹ […] ›Klar rette ich Paul.‹ ›Klar?‹ ›Stell dir vor, du müsstest Paul drei Minuten lang knutschen, um ihn zu retten‹, sagt Ratte und steht plötzlich auf. Sie steht jetzt vor mir, und sie ist groß, wenn sie so steht. ›Ja, würde ich machen. Was soll das denn? Ich würde alles tun.‹ ›Und wenn du wählen müsstest, zwischen mir und Johnny?‹, fragt Paul leise neben mir.« (SL, 200)

Es ist dieser Dialog und Pauls Bemerkung: »›Wir drei waren mal … wir standen über allem‹« (SL, 201), die Alex zu einer Kurzschlussreaktion bewegen: Voller Wut und Verzweiflung drückt sie Paul einen schmerzhaften Kuss auf – in diesem Moment will sie »Paul […] weh tun [… und] dass Ratte [… sie] noch mehr hasst« (SL, 203). Die Folgen ihres impulsiven Verhaltens, das neben einem Galgen in der Gedenkstätte Auschwitz verortet ist, blendet sie vollkommen aus. Nach dem Kuss geht alles ganz schnell, von sehr weit weg dringen Sätze an Alex’ Ohr wie: »›Was habt ihr euch denn dabei gedacht?‹ […] ›Anstand, Anstand und Respekt, habt ihr davon schon mal gehört?‹ ›Skandalös! […]‹ ›Pietät! Wisst ihr, was das heißt?‹ ›Was geht denn in euren Köpfen vor, verdammt nochmal?‹« (SL, 205) ans Ohr. Es kommt noch schlimmer: Jemand hat die Kuss-Szene gefilmt und das Video ins Netz gestellt. »[B]is zum Abend [wird es] über fünftausend Mal auf Facebook

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geteilt. Der Hashtag bei Twitter heißt #auschwitzkuss, und dort wird das Bild bis zum Abend 12 357 Mal weitergetwittert.« (SL, 207) In der Unterredung mit dem Aufsichtspersonal der Gedenkstätte und den Lehrern fallen Sätze wie: »›Jede Grenzüberschreitung hat ihre Grenzen, Alex.‹ ›Das Gefühl für andere, das fehlt dir vollkommen. […] Das Leben ist kein Spiel […]. Ich hätte dir mehr Menschlichkeit zugetraut, Alex‹« (ebd.) Die Fokussierung auf individuelle Befindlichkeiten an dem Erinnerungsort Auschwitz, einem gewichtigen Bestandteil im kollektiven Gedächtnis, stört das gesellschaftlich etablierte Verständnis von angemessener Erinnerungsarbeit auf. Die sich über den Vorfall auf Social Media Plattformen und in Tageszeitungen empörende Öffentlichkeit weiß nicht, dass »der Kuss […] nichts mit Auschwitz zu tun [hat] und nichts mit den toten Juden. Selbst mit Paul hatte der Kuss nicht viel zu tun« (SL, 212). Die Ereignisse lösen Reue- und Schamgefühle bei Alex aus. Mithin wird der Erzählerin durch das Erfahren von sozialen Sanktionen, dem Verlust der Freunde und imaginierten Liebesbeziehung sowie der öffentlichen Verurteilung ihrer Person, so bewusst wie selten zuvor, dass sie sich für ihr Handeln, insbesondere für sogenannte Problemverhaltensweisen,72 verantwortlich zeichnen muss.

6.

Fazit

Lena Gorelik verhandelt in ihrem Roman »Mehr schwarz als Lila« die Störbarkeit des Individuationsprozesses in der Adoleszenz. Am Beispiel der siebzehnjährigen Ich-Erzählerin Alex, deren Mutter stirbt, als sie noch ein Kind ist, und deren Vater seinen Trauerprozess seither nicht abzuschließen vermag, zeigt sie eindrücklich auf, dass die »produktive[n] Potentiale [der Individuation stets] in Abhängigkeit von biographischen Ressourcen, Konstellationen und sozialen Bedingungen«73 stehen. Es sind Aspekte wie das Gefühl von Einsamkeit, konflikthafte Generationenbeziehungen und das Misslingen des Aufbaus intimer Beziehungen, die Alex und ihren Freunden Ratte und Paul den Zündstoff für ihre provokativen Spiele namens ›Stell dir mal vor‹ und ›Du wirst dich doch trauen‹ liefern. Dass die Erzählerin dabei die Kontrolle verliert und die Freundschaft zu 72 In Anlehnung an Richard Jessors Definition des Begriffs Risikoverhalten zählt Anneke Bühler zum sogenannten Problemverhalten »Substanzmissbrauch, Delinquenz, frühzeitige sexuelle Aktivität und gefährliches Verkehrsverhalten. Problemverhaltensweisen sind demnach Verstöße gegen soziale Normen oder Gesetze. Das Verhalten ist problematisch, weil es sozial definiert und als besorgniserregend wahrgenommen wird und aus gesellschaftlicher Sicht unerwünscht ist. Oft ruft es soziale Sanktionen unterschiedlicher Schwere hervor.« Bühler, Anneke: Risikoverhalten in der Jugend. In: Uhlhaas/Konrad, Das adoleszente Gehirn. 2011, S. 189–205, hier: S. 190. 73 King, Kultur, Familie und Adoleszenz. 2011, S. 76.

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Ratte und Paul am seidenen Faden hängt, ist nicht allein Ergebnis von adoleszenztypischen Verhaltensweisen wie Risikoneigung und Orientierung an Gleichaltrigen. Vielmehr resultiert diese Entwicklung, so hat der Beitrag gezeigt, aus der spezifischen »Chancenstruktur des adoleszenten Möglichkeitsraums«74 der Erzählerin. Ihre Bedingungen der Adoleszenz zeichnen sich durch das Fehlen von einem zur Identifikation einladenden Elternteil, von individuationsfördernden Grenzziehungen und von Konflikttoleranz aus. Sie befreit sich aus der konflikthaften Bindung zu ihrem Vater durch den Aufbau außerfamiliärer Beziehungen zu Gleichaltrigen. Dabei belastet nicht der Umstand ihre Freundschaft, dass Ratte und Paul zu Alex’ wichtigsten Selbstwertquellen avancieren, sondern dass die Erzählerin Elternersatzfunktionen an sie heranträgt. Hinzu kommt, dass Alex’ Wahrnehmung der real-fiktiven Welt phasenweise von Tagträumen überlagert bzw. limitiert wird. Gleichwohl ist es die Gleichaltrigengruppe, die der Erzählerin die Diskrepanz zwischen ihrem idealen und realfiktiven Ich aufzeigt und es ihr über die Aushandlung von sozialen Konflikten und das Aufzeigen von Grenzen ermöglicht, Fähigkeiten wie Perspektivenübernahme und Selbstreflexion zu üben. So stoßen die (Verlust-)Erfahrungen gesamtheitlich betrachtet eine Entwicklung der Erzählerin an: Es gelingt ihr schließlich, ihr moralisches Bewusstsein zu schärfen, ihr Selbstkonzept zu restrukturieren und die Beziehung zu ihrem Vater insofern zu transformieren, als sie seiner Lebensform zum Teil mit Affirmation zu begegnen vermag.

74 Ebd.

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»Ganz schön kross« – Stefanie de Velascos Anti-Märchen »Tigermilch« (2013)

Stefanie de Velascos Debütroman »Tigermilch« lässt seine Leser_innen teilhaben an einem Sommer in Berlin, der sich geografisch und sozial an der Peripherie abspielt, fern der kulturellen Highlights der Hauptstadt. Im Mittelpunkt stehen die seit Grundschultagen unzertrennlichen, 14-jährigen Freundinnen Jameelah, die mit ihrer Mutter aus dem Irak geflüchtet ist, und Nini, die Ich-Erzählerin des Romans. Beide wachsen in prekären Verhältnissen auf, vaterlos und oft auf sich selbst gestellt. Nachdem Ninis Vater, der später selbst ihrer telefonischen Kontaktaufnahme ausweicht, die Familie verlassen hat, zieht die Mutter sich mit Alkohol auf das Wohnzimmersofa zurück, ihre »Insel«, auf der sie für ihre Kinder nicht ansprechbar ist und sich zunehmend von der Welt entfernt.1 Nur die präpubertäre Halbschwester Jessi, bereits sehr dem Eierlikör zugetan, gesellt sich manchmal dazu, seltener der Lebensgefährte der Mutter, der Taxifahrer Rainer. Jameelah wächst bei ihrer Mutter Noura, einer pragmatischen Krankenschwester, in vergleichsweise geordneten Verhältnissen auf, allerdings brechen die im Irakkrieg begründeten Traumata der beiden immer wieder auf, denn Jameelah hat in ihm sowohl den Vater als auch ihren geliebten Youssef verloren. Vereint in Trauer, werden ihre Lebensverhältnisse durch den unsicheren Aufenthaltsstatus brisant. Trotz ihrer Integrationsbemühungen und der Unsicherheit im Irak, werden sie am Ende des Romans abgeschoben, weil Noura zur Beerdigung ihrer Mutter für kurze Zeit in den Irak fuhr. Die hier nur umrissene Vorstadttristesse und die Asyldramatik deuten bereits an, dass Nini und Jameelah mehr als nur einen Grund haben, ihrer Alltagsrealität, in ihren Worten dem »echten Leben« (Tm, 231), entkommen zu wollen. Der Mord an einer ihrer Nachbarinnen durch deren Bruder bildet dabei nur den Höhepunkt, an dem sich ankündigt, dass die Mädchen mit ihren Strategien der Lebensbewältigung scheitern werden. 1 De Velasco, Stefanie: Tigermilch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013 [im Folgenden unter der Sigle »Tm« mit Seitenzahl im Text]. Wiederholt arbeitet der Roman mit dem Bild der Sofa-Insel und Nini betont: »An Mamas Insel kann man nicht anlegen« (ebd., S. 36; ähnlich auch S. 86). Später bemerkt Nini: »Mama kapiert das nicht, sie hat auf ihrer Insel alles verlernt« (ebd., S. 232).

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Wenngleich »Tigermilch« vielleicht eher dem All-Age-Roman bzw. der Crossover-Literatur zuzurechnen ist2 – ein Umstand, der im Zuge der Nominierung des Romans für den Jugendliteraturpreis 2014 leicht übersehen werden kann –, verfügt das Buch über die für einen Adoleszenzroman typischen Gattungsmerkmale. Man trifft auf jugendliche Protagonist_innen, die – entweder aufgrund einer »tiefgreifenden Identitätskrise«3 oder »da sie auf einer lustvollen Sinn- und Identitätssuche« sind4 – orientierungslos durch ihr Alltagsleben laufen, in dem sie »durchgängig desillusionierende Erfahrungen« machen5 und mit dem Abschied von der Kindheit, Liebe, Sexualität, Verantwortung, Auflehnung und dem Gefühl, von der Umwelt nicht verstanden zu werden, konfrontiert werden.6 Diese Themen werden wirklichkeitsnah verhandelt in einer Welt, in der Alkohol- und Drogenkonsum von 14-Jährigen, finanziert durch Diebstähle und Ausflüge auf den Straßenstrich in der Kurfürstenstraße, wo die Teenager erste sexuelle Erfahrungen machen, an der Tagesordnung sind. Anders als im Fall der am Rand in Erscheinung tretenden Mittelschichtkinder, des Waldorfschülers Lukas und seiner Cousine Anna-Lena, die beide »selten von der Sonne oder sonst wie vom Leben verbrannt« (Tm, 49) werden und aussehen »wie mit Perwoll gewaschen« (Tm, 51), kann das risikoreiche Verhalten der porträtierten Protagonistinnen nicht als Suche nach Erlebnissen gedeutet werden, mit deren Hilfe man »sich aus der familiären Sicherheitsnische lösen« könnte7 – eine solche 2 Unabhängig von inhaltlichen, textstrukturellen und gattungstypologischen Merkmalen bezieht sich die Bezeichnung All-Age-Roman auf Literatur, die typischerweise von Leser_innen im Alter zwischen 10 und 35 Jahren rezipiert wird. Carsten Gansel definiert All-Age-Literatur als »Texte […], die die Grenzen des KJL-Systems hin zum allgemeinliterarischen System überschreiten und vor allem durch die Handlungen in den Bereichen Distribution, also von Verlegern, Lektoren, Kritikern, in beiden Systemen einen Platz erhalten« (Gansel, Carsten: Adoleszenz. Zu theoretischen Aspekten und aktuellen Entwicklungen. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung, 68, 2016, H. 2, S. 2–12, hier: S. 8). 3 Ewers, Hans-Heino: Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman. Aktuelle Tendenzen der Belletristik für Jugendliche und junge Erwachsene. In: Informationen des Arbeitskreises für Jugendliteratur 1989, H. 2, S. 4–23, hier: S. 11. 4 Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 7. Siehe auch Ders.: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen 2014. S. 158ff. 5 Carsten Gansel: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband Pop-Literatur 2003, S. 234–257, hier: S. 237. 6 Zu Merkmalen des Adoleszenzromans siehe Lange, Günter: Erwachsen werden. Jugendliterarische Adoleszenzromane im Deutschunterricht. Grundlagen – Didaktik – Unterrichtsmodelle. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2000, S. 6. (Deutschdidaktik aktuell; Bd. 6). 7 Konrad, Kerstin/Firk, Christine/Uhlhaas, Peter J.: Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Neurowissenschaftliche Befunde zum Verständnis dieser Entwicklungsphase. In: Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Geschichten vom Aufwachsen in Ost und West. Hrsg. von Carsten Gansel, Norman Ächtler und Bettina Kümmerling-Meibauer. Berlin: Okapi 2019, S. 49–68, hier: S. 59.

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Sicherheitsnische ist schlicht nicht vorhanden. Und wenngleich – vermutlich aufgrund einer »vulnerabel[n] Phase der Gehirnentwicklung« – verschiedene Formen von Risikoverhalten, Grenzüberschreitungen, Substanzabusus, ungeschützter Geschlechtsverkehr und Gewalterfahrungen durchaus prägend für eine Vielzahl von Jugendlichen sind,8 ist es wenig erstaunlich, dass die Mädchen in Velascos »Tigermilch« verschiedene Strategien anwenden, die ihnen erlauben, diesen traumatischen Situationen wenigstens kurzfristig zu entkommen. Allen voran ist die titelgebende Tigermilch zu nennen, ein von den Heranwachsenden kreierter Drink, der sie in brenzligen Situationen betäubt und in ihrer Freundschaft bestärkt und beiden als Ersatz-Zuhause und -heimat dient. Die geradezu symbiotische Einheit der beiden Mädchen wird insbesondere am Ende des Romans betont, als Nini rückblickend nicht mehr weiß, »wer von uns sich die Zutaten für Tigermilch ausgedacht hat« (Tm, 280), die aus den alliterativen Bestandteilen Milch, Maracujasaft und Mariacorn besteht und grundsätzlich in einem zuvor geleerten Müllermilchbecher serviert wird. Der exotisch anmutende »Tiger« suggeriert Stärke, doch die gern genutzte Schulmilch spielt auf die Verbindung mit der Kindheit an, während der Mariacorn auf den Eintritt ins Erwachsenenleben und der Maracujasaft auf das klebrig-süße Verhaften sowohl im Teenageralter als auch in der prekären sozialen Situation verweisen. Nur aufgrund dieser vorgeblich fruchtigen Süße können die Mädchen den Alkohol einer Medizin gleich konsumieren, um die Härten ihres Lebens zu ertragen.9 Die Flucht aus dem Alltag zwischen Kindheit und Erwachsenenleben mithilfe von erdachten, jedoch in der Lebensrealität verwurzelten Mitteln wird somit bereits im Romantitel angekündigt. Dieser Beitrag fokussiert insbesondere die verschiedenen, am Ende zum Scheitern verurteilten Versuche, durch eine Hinwendung zur Romantik ins Märchenhafte zu entrinnen, was in Anbetracht der Tatsache, dass eben die Romantiker »zur Versprachlichung kindlicher und adoleszenter Reifungsprozesse höchst komplexe symbolische Topografien, räumliche Grenzziehungen, Raumbewegungen, Zeitordnungen sowie Mittlerfiguren« konzipierten, nicht abwegig

8 Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 3. Siehe auch Konrad/Firk/Uhlhaas, Hirnentwicklung in der Adoleszenz. 2019, S. 50f. 9 Der Alkohol ist nötig, »so klar, so unsichtbar, alles kann man damit wegwischen, das Fett, das Blut, die Scheiße, mit Alkohol kann man die ganze verfaulte Welt aufwischen. Danach bleibt nur eine saubere Fläche zurück« (Tm, 136). Vgl. Tm, 135: »Wenn man stirbt, dann muss man unbedingt etwas Gutes auf der Welt hinterlassen, das wird mir jetzt mit dem Fetthaarabdruck erst wirklich klar. Man muss was Gutes hinterlassen, und es muss was sein, das man nicht anfassen kann, was Klaren, was Unsichtbares, damit nicht nur Fett und Blut und Scheiße zurückbleiben.« Darauf dass eine solche »Härte« der Darstellung typisch für den Adoleszenzroman ist, der sich gerade dadurch, dass er nicht adressatenspezifisch geschrieben sein muss, vom Jugendbuch unterscheidet, verweist auch Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 7.

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erscheint.10 Anders als in den beispielsweise in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen eingebauten Adoleszenzgeschichten verfügt »Tigermilch« zwar über zwei weibliche Hauptfiguren, sie sind jedoch psychisch ebenso gefährdet wie ihre männlichen Vorläufer.11 Wenngleich der Terminus des Adoleszenzromans »erst ab Ende der 1980er-Jahre gebräuchlich in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung« ist,12 finden sich in der Romantik, so Carsten Gansel, »jene für die Adoleszenz wichtigen Themen der Identitätssuche junger Helden in der fantastischen Novelle.«13 Auch »Tigermilch« knüpft direkt an Traditionen des phantastischen Erzählens an. So imaginiert Nini die S-Bahn, die sie von ihrer Vorstadttristesse auf den Babystrich der Kurfürstenstraße trägt, als »ein fliegender Teppich, und gleich wird Jameelah anfangen, irgendwas zu erzählen« (Tm, 12). Aufgerufen wird somit nicht nur das mit orientalischen Märchenerzählungen wie »Tausendundeiner Nacht« verbundene mythische Fortbewegungsmittel des fliegenden Teppichs, sondern auch eine mit dem Orient verbundene Erzählerin.14 Indem die Ich-Erzählerin ihre Freundin als ScheherazadeFigur etabliert, deren herausragende Erzählleistungen das königliche Morden junger Frauen zu beenden vermochte, verdeutlicht sie ihre Hoffnung, mittels Jameelahs märchenhaftem Erzählen ihrer – zumindest teilweise – existenzbedrohenden Realität entkommen zu können, eine Hoffnung, die im Verlauf des Romans enttäuscht wird und dadurch die Fehlschläge umso härter konturiert.

10 Böhme, Hartmut: Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien. Sonderreihe Bd. 10. Literatur und Psychoanalyse, 1981, S. 131–176, hier: S. 136. Solch intertextuelle Bezüge sind, ebenso wie Techniken des psychologischen Erzählens, nicht untypisch für Adoleszenzromane. Siehe beispielsweise Rank, Bernhard: Adoleszenzroman. In: Lexikon Deutschdidaktik. Hrsg. von Inge Pohl und Heinz-Jürgen Kliewer. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2006, S. 1–3. 11 Vgl. Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 4; Steinlein, Rüdiger: Inszenierungen männlicher Adoleszenz im deutschsprachigen Kunstmärchen des 18. Jahrhundert und der Romantik (Wieland – Novalis – E.T.A. Hoffmann). In: Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Festschrift für Peter Uwe Hohendahl. Hrsg. von Manuel Köppen und Rüdiger Steinlein. Berlin: Weidler 2001, S. 39–74. 12 Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 3. Vgl. auch Ewers, Zwischen Problemliteratur und Adoleszenzroman. 1989, S. 10. 13 Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 254. 14 Der Roman greift das Motiv des fliegenden Teppichs auch dort auf, als es um den von Jameelah angebeteten Waldorfschüler Lukas geht, der in einer behüteten Mittelschichtfamilie groß wird: »Muss doch komisch sein für ihn [Lukas – S.K.], hier mit uns, denke ich, fliegt immer weiter weg von seinem grünen Leben« (Tm, 88). Auch das Scheherazade-Motiv zieht sich durch den Roman. So heißt es beispielsweise, nachdem die Mädchen einen Mord beobachtet haben und Nini dies gerne als Imagination abtun möchte: »Ich wünschte, Jameelah würde anfangen, irgendwas zu erzählen, irgendeinen Blödsinn, der ihr gerade einfällt, so wie sie es immer macht« (Tm, 134).

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Auf diese Rückschläge und Ausflüge in die Romantik verweist bereits der Paratext. Der Handlung vorangestellt sind die ersten zwei sowie die fünfte Strophe von Joseph von Eichendorffs berühmtem Gedicht »Das zerbrochene Ringlein«, die dementsprechend die Rezeption lenken. Wie der schlesische Adlige, der seine Heimat verlor und Zuflucht in der Sprache suchte, findet auch Jameelah im Spiel mit der deutschen Sprache, im – wie sie es nennt – »Wörterknacken« (ebd.), eine neue Heimat und einen Zufluchtsraum, den sie für Nini öffnet, indem sie ihn mit ihr teilt. Die beiden sprechen eine O-Sprache, und »auf O-Sprache darf man übertreiben, O-Sprache ist sogar dazu da, dass man übertreibt, weil man O-Sprache entweder aus Spaß spricht oder weil Sachen viel zu kross sind, und normale Sprache nicht reicht, um das Krosse an bestimmten Sachen zu beschreiben« (Tm, 207). Jameelahs und Ninis O-Sprache geht somit über die für Adoleszenzromane nicht untypische Jugendsprache eindeutig hinaus. Mithin deutet der Versuch der Mädchen, die Unzulänglichkeit der Alltagssprache spielerisch zu überwinden, auf ihr Bedürfnis, die Härte ihrer Lebenswirklichkeit zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig dieser Realität ihres spezifischen sozialen Raums wenigstens teilweise zu entkommen, indem sie sich im »Spaß« darüber hinwegsetzen. Gleichzeitig sind O-Sprache und Tigermilch, neben anderen Symbolen wie die Ringelstrümpfe, die die Mädchen geradezu rituell anlegen, wenn sie den Straßenstrich aufsuchen, Ausdruck ihrer Differenzerfahrung, ihres Bestrebens, »einen eigenen Zugang zur ›Kultur‹ zu präsentieren […] und natürlich Abstand zur Generation der Erwachsenen und zur Gesellschaft herzustellen.«15 Im dem Roman vorangestellten Auszug aus Eichendorffs Gedicht macht schon das sich ewig drehende Mühlrad auf die prekäre, mühsame und sich unendlich wiederholende Alltagsrealität und damit auf die Unmöglichkeit, die harten Gegebenheiten hinter sich zu lassen, aufmerksam. In Verbindung mit dem auch leitmotivisch den Roman durchziehenden Ring als Symbol für vermeintlich ewige Treue, die jedoch gebrochen wird und bei Eichendorff das lyrische Ich in der Konsequenz verzweifelt und mit Todessehnsucht zurücklässt, wird trotz der vorgeblichen Leichtigkeit des Jugendalters eher Moll als Tonart des Romans etabliert. Im Folgenden soll »Tigermilch« daher dem Weg des im Roman etablierten Rings folgen, der sich durch Verschwinden und quasi märchenhaftes, unvorhersehbares Wiederauftauchen auszeichnet und leitmotivisch die verschiedenen Krisen und Katastrophen zusammenführt, die das Leben der Protagonist_innen bestimmen. Im Roman erscheint der Ring zuerst als Verlobungsring von Ninis Eltern, ein Erbstück aus der Familie väterlicherseits. Er hatte der Mutter zufolge einen »grünen Stein in der Mitte, der war echt [… und] mitgenommen hat [der Vater 15 Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 248.

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ihn – S.K.], um ihn seiner neuen Frau zu schenken« (Tm, 24). Mit dem Verschwinden von Ehemann und Ring verliert Ninis Mutter, vom Ring als Treuesymbol getäuscht, den Glauben an die Welt und Nini erkennt, dass »das mit dem Ring, […] dass Papa ihn mitgenommen hat, viel schlimmer ist als das mit Papa überhaupt« (ebd.). Bezeichnenderweise erinnert Nini diese Mutterworte, als sie mit Jameelah einem Freier von der Kurfürstenstraße nach Hause gefolgt ist, vermeintlich um durch Prostitution »für später, für das echte Leben [zu üben…], damit uns keiner was kann« (Tm, 25). Das derzeitige prekäre Dasein wird somit ausgeblendet und zur Übung für ein »echtes« zukünftiges Leben, das zwar herbeigesehnt wird, vor dem man sich jedoch auch schützen muss. Doch Schutz existiert für Nini, deren Eltern beide quasi in Dämmerzustände abgetaucht und unerreichbar sind,16 nur in der Märchenwelt der beiden Mädchen. Wenn sie sich auf der Kurfürstenstraße prostituieren, verlassen sie sich auf die Fürsorge von »zwei große[n] schwarze[n] Hunde[n], sie heißen beide Grimm, das hat Jameelah aus einem Buch. […] in unserer Vorstellung laufen sie neben uns her, wie zwei Leibwächter. Ich denke nicht immer an sie, nur wenn ich mich komisch fühle, dann tauchen sie auf und laufen im Kreis um uns rum, sodass niemand an uns rankommt« (Tm, 145).

Aufgrund des mit dem Verschwinden des Rings assoziierten Vaterverlusts fehlen Nini – genau wie der vaterlosen Jameelah – Obhut und Geborgenheit, was die Mädchen durch die märchenhaften Leibwächter-Hunde auszugleichen versuchen. Dass diese Bewältigungsstrategie mit Ninis Fixierung auf den Ring verbunden bleibt, verdeutlichen ihre wiederholten Reflexionen über das Erbstück mit dem grünen Stein und Schmuck, den sie auf ihren Diebeszügen mit Jameelah erbeutet: »Vor allem Schmuck mit grünen Steinen bringe ich nie zurück, […] der Schmuck mit den grünen Steinen landet bei mir. […] Über Mamas Verlobungsring und grüne Steine haben wir [Nini und die Schulpsychologin – S.K.] damals nicht geredet, aber das ist egal […], mein Tick mit den grünen Steinen ist echte Psychologie, wegen Papa, und der Tick ist genauso echt wie der Verlobungsring« (Tm, 65f.).

Doch die erbeuteten Schmuckstücke mit den grünen Steinen vermögen nicht, Nini die ersehnte Sicherheit zu vermitteln. Vielmehr deuten sie auf die mit dem Ring verbundenen, nahenden und sich immer weiter aufbauenden Katastrophen.

16 Im Verlauf des Romans realisiert Nini ihre Situation zunehmend deutlicher und bringt diese Abwesenheit ihrer Eltern in einer Art Halbschlaf zum Ausdruck, die sie auch für sich gerne als Fluchtmöglichkeit annehmen möchte, die sich jedoch für sie nicht mehr realisieren lässt: »Ich versuche so zu tun, als ob, […] so wie Mama, wenn sie auf dem Sofa liegt und auf ihre Insel reist, so wie Papa, wenn er sagt, die Verbindung ist schlecht […] und dann einfach auflegt, das ist genauso wie Sich-schlafend-Stellen […]. Einen Schlafenden kann man aufwecken, aber jemanden, der nur so tut, als ob, den kriegt man niemals wach, denke ich« (Tm, 226).

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Das Unheil nimmt seinen Lauf, als sich Jasna, die Halbschwester von Ninis aus Bosnien stammendem Freund Amir und dessen im Krieg im ehemaligen Jugoslawien versehrten großem Bruder Tarik, in den Serben Dragan verliebt. Der implizierte bosnisch-serbische Konflikt wird nicht zuletzt dadurch auf die Spitze getrieben, dass Jasna, Resultat einer Vergewaltigung durch Serben, den Konflikt geradezu verkörpert. Als Antagonist Dragans wird Tarik aufgebaut, der sich in Ninis Augen als Schutzfigur der vielen vaterlosen Kinder und Jugendlichen in der Nachbarschaft versteht: »Ich glaube, er will auf mich aufpassen, er will auch auf Jameelah aufpassen, auf Jasna und auf Amir, auf uns alle eben« (Tm, 40).17 Nachdem Jasna und Dragan sich verlobt haben – bezeichnenderweise trägt Jasna nun einen Ring, den Nini als den ihrer Mutter zu erkennen glaubt, womit das tragische Schicksal Jasnas bereits angedeutet wird –, manifestiert sich dieses »Aufpassen« darin, dass Tarik seine Schwester überwacht und in der Wohnung einsperrt. Nini erscheint sie dabei als eine »in einer verschlossene[n] Spieluhr [gefangene] Ballerina […], ein Leben lang in einer dunklen Kiste festgekettet [… wo sie …] sich jedes Mal, wenn einer die Kiste aufmacht, zu irgendeiner bescheuerten Melodie im Kreis« drehen muss (Tm, 78f.).18 In Jasnas und Tariks jeweiligem Verhalten und in ihrem Schicksal zeigt sich, wie »die Kinder transgenerational geprägt sind von der Migrationsgeschichte der Eltern«19: Tarik versucht krampfhaft, die Familienehre zu retten,20 indem er sich dem verspürten »nicht ablehnbare[n] Auftrag« der Eltern entsprechend verhält und die Rolle des Familienoberhaupts annimmt.21 Jasna hingegen, das machen Ninis Worte deutlich, wird zum Paradebeispiel für die »prekären Migrationsbedingungen«, die »häufig wie eine gläserne Grenze [… den] adoleszenten Ablösungsprozess der Kinder« behindern:22 Jasna ist nicht nur gefangen und kann sich nicht aus der Familie lösen, sie unterliegt auch dem Anspruch der Familie, die Tochter gera17 Jameelah macht auf die Problematik hinter diesem »Aufpassen«, hinter dem sie nicht Fürsorge, sondern männliches Dominanzverhalten vermutet, aufmerksam, wenn sie nach dem Mord an Jasna festhält: »Da hast du deinen Tarik, deinen Teddy Dragon, der auf uns alle aufpasst, […] kannst du mal sehen, was der mit einem macht, wenn man nicht so will wie er« (Tm, 131). 18 Die Vorstellung einer schönen weiblichen Puppe, die von jungen Männern zerstört wird und als »Zeichen [zu verstehen ist …], dass alles früher oder später verfault« (Tm, 92), wird auch im Zusammenhang mit einer Party in einer Villa im Grunewald aufgerufen. 19 King, Vera: Über Grenzen und Grenzüberschreitungen in Adoleszenz- und Migrationsgeschichten. In: Gansel/Ächtler/Kümmerling-Meibauer, Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. 2019, S. 69–86, hier: S. 77. 20 Dass durch Jasnas Verhalten die Familienehre gefährdet ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Familie nach ihrer Verlobung mit einem Serben sozial isoliert ist, sie können »nirgendwo mehr hingehen« und werden »auf keine Hochzeit mehr ein[geladen]«, wie Amir erklärt (Tm, 42). 21 King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 77. 22 Ebd.

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dezu fernzusteuern. Dem in der animierten, fremdgesteuerten Puppe angedeuteten Verweis auf die Romantik entsprechend, imaginiert Nini Jasnas Sprung vom Balkon, ihren Ausbruchs- und Selbsttötungsversuch mithilfe von »einem Märchen, so als ob jemand Rapunzel, lass dein Haar herunter gerufen hätte« (Tm, 75). Auch hier versucht die 14-Jährige, dem erschütternden Ereignis, das mit einem gebrochenen Bein und einem Heer von Bild-Journalisten im Wohnviertel endet, durch die Flucht ins Märchenhafte zu entkommen. Stattdessen wird jedoch neben der erwähnten Spieluhr auch der im Kiez zentral liegende Spielplatz immer mehr seiner kindlichen Konnotationen beraubt. Der gewöhnlich mit unschuldigem Kinderspiel assoziierte Ort zeichnet sich in diesem sozialen Brennpunkt durch »eine unsichtbare Linie« (Tm, 38) aus, die die Kinder nach Nationen und implizit nach Religionen aufteilt und auf verschiedene Teile des Areals verweist. Anders als in Ninis und Jameelahs Kindheitstagen gehen »die deutschen und russischen Kinder […] nie auf die Rutsche, und die arabischen und bosnischen Kinder gehen nie auf die Schaukel« (Tm, 38). Weltpolitik und Religionskonflikte sind somit auf dem Kinderspielplatz angekommen, der im Roman folgerichtig zum Schauplatz der tödlichen, von Nini und Jameelah zufällig beobachteten Auseinandersetzung zwischen Jasna und Tarik wird – und zwar »direkt unter Amirs Linde« (Tm, 111), der einzigen Linde inmitten von alten Eichen, die Nini und ihre Freunde als Kinder bekletterten. Schon damals war ihnen bewusst, dass sowohl die Linde als auch Amir etwas Besonderes darstellen, denn »Amir gehörte die [einzige] Linde, die in der Mitte zwischen den Eichen steht. […] auf Amirs Linde durfte niemand, außer Amir« (Tm, 38). Linden wie Eichen gelten – bereits seit dem Mittelalter, verstärkt mit der Romantik – als »lebensweltlich-kultureller Bezugspunkt für die Deutschen«, sicherlich nicht zufällig ausgerechnet zur Zeit der Reichsgründung von 1871 immer öfter in Konkurrenz zueinander stehend.23 Während die »Eiche als Symbol für Dauer, Stärke und Widerstandskraft« insbesondere aus der nationalromantischen Literatur nicht wegzudenken war,24 rückte verstärkt die Linde in den Fokus, traditionell Gerichtsort, Dorfzentrum, Treffpunkt Liebender, aber auch »Raum religiöser Andacht, [wo] nicht selten […] die Toten bestattet [wurden … 23 Hentschel, Uwe: Der Lindenbaum in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Orbis Litterarum 60, 2005, H. 5, S. 357–376, hier: S. 358. Vgl. auch Heinrich Heine, der in seinen »Nachtgedanken« im französischen Exil an Deutschland »mit seinen Eichen, seinen Linden« denkt (Heinrich Heine. Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. In: Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin/Weimar: Aufbau 1980. Bd. 1, S. 340). 24 Ebd., S. 359. Siehe auch Hermand, Jost: Das offene Geheimnis. Caspar David Friedrichs christ-germanische Allegorien. In: Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der ›alten Freiheit‹ der Germanen. 1750–1820. Hrsg. von Jost Hermand und Michael Niedermeier. Frankfurt/Main: Peter Lang 2002, S. 192f.

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sowie Ort, an dem Menschen] friedvollen Schutz und natürliche Geborgenheit suchten.«25 Insbesondere Eichendorff, auf dessen dem Roman vorangestelltes und die Rezeption folglich leitendes Gedichtfragment bereits verwiesen wurde, ist berühmt für seine Waldgedichte. Amir, der – im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen – seinen Baum immer noch aufsucht, erinnert insbesondere an das lyrische Ich in Eichendorffs »Bei einer Linde« (1826), das ebenfalls zu seinem Baum zurückkehrt, dem es schon in der Vergangenheit sein Herz ausschüttete.26 Doch anders als in diesem Gedicht, in dem zwar die auf den Schriftzug der von der »ersten Liebe« des lyrischen Ichs zurückzuführende Rindenwunde mit der Zeit »verwachsen und verschwunden« – also verheilt – ist, die seelischen Wunden des lyrischen Ichs jedoch »niemals mehr hienieden heilen,«27 sind die Wunden von Amirs Linde vielschichtiger. Die Wollfäden, die die Kinder vor Jahren in die Äste ihrer jeweiligen Bäume gebunden haben, sind zwar auch im Fall von Amirs Linde »überwuchert von der Rinde, die über die Fäden hinweggewachsen ist, aber die Enden, die kann man [in Amirs Linde] immer noch sehen« (Tm, 38). Im Gegensatz zu Eichendorffs lyrischem Ich bleibt Amir auch über die Jahre hinweg tatsächlich mit dem Baum verbunden, seine Wollfäden verwachsen mit der Rinde und verweisen so auf die Einheit des sensiblen Jungen mit der Natur.28 Indem Velasco als Austragungsort für den Streit zwischen seinen älteren Geschwistern Amirs Linde, umgeben von alten Eichen, wählt, verweist die Szenerie gleichzeitig auf den Wunsch nach Geborgenheit und Sicherheit der Romanfiguren in einer krisen- und kriegsgeschüttelten Welt, auf den drohenden ultimativen Abschied der beiden älteren Geschwister, die einander bei allem Zwist eigentlich in Liebe zugetan sind, und darauf, dass dieser zwar familiäre, doch den bosnisch-serbischen Konflikt genau wie Religionsstreitigkeiten aufzeigende Zwist durch die Einwanderung der Protagonist_innen auch ein deutsches Problem darstellt. Ausgetragen auf Deutsch und auf Bosnisch, bleibt der Inhalt der Auseinandersetzung zwischen Jasna und Tarik für Nini und Jameelah weitgehend unverständlich, doch sie nehmen Äußerungen wie Jasnas »ich kann doch nichts dafür« (Tm, 112) sowie die Wörter »Schicksal und Abschied« (Tm, 114) wahr. Deutlich 25 Hentschel, Der Lindenbaum. 2005, S. 359. 26 Eichendorff, Joseph von: Bei einer Linde. In: Ders.: Werke. Nach den Ausgaben letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke. Hrsg. von Ansgar Hillach. München: Winkler 1970–1972, Bd. 1, S. 215. 27 Ebd. 28 Nachdem Amir aus dem Gefängnis entlassen wird, lädt er Nini ein, im Dämmerlicht mit ihm auf seine Linde zu klettern, wo er ihr die in die Rinde eingewachsenen Wollfäden zeigt und ihr die mit dem bosnisch-serbischen Krieg verbundene Familiengeschichte erzählt (Tm, 246– 248). Nur der mit der Romantik verbundene Ort erlaubt es ihm, über die gewaltsamen Realitäten zu sprechen – Wischegrad, Fukushima, »Auschwitz, klingt doch wie ein Witz, oder. Das macht das Ganze noch schrecklicher, weißt du, es ist wie Poesie, das Schlimme und das Lustige zusammen, das Leben mag so was« (Tm, 249).

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wird hier, dass diese Familie – genau wie Jameelah und ihre Mutter – den Krieg und den erlebten Schrecken nicht verarbeitet hat, sie auch in Deutschland keinen Raum für produktive Trauer finden konnten und »die Schmerzen so überwältigend, die Anpassungsbemühungen so erschöpfend oder vergeblich [sind], dass jegliche Trauer davon verdeckt wird.«29 Als die Geschwister sich schließlich drücken, »zu irgendeinem Rhythmus, den nur sie hören können, hin und her [wiegen]«, vermuten die unfreiwilligen Zeuginnen, dass die beiden tanzen, »als würden sie für immer Abschied nehmen« (ebd.). Doch plötzlich sehen sie, dass Jasna »einfach um[kippt], nicht wie ein Mensch mit Armen und Beinen, sondern wie eine Statue, die leblos von ihrem Sockel runterfällt« (Tm, 115). Die Wortwahl insinuiert auch hier eine Flucht ins Romantische – man denke z. B. an die idealisierten Venusstatuen in Eichendorffs »Marmorbild« oder an die überhöhte Puppe Olimpia in Hoffmanns »Der Sandmann« –,30 doch Blut und Messer in Tariks rechter Hand zwingen die Mädchen zur Erkenntnis, dass sie Zeuginnen eines Mordes sind. Der Zugang zur Kindheit ist von nun an verschlossen, auch wenn die Mädchen sich dies – das verdeutlicht ihr Verlangen nach warmer Milch nach dem Mord (Tm, 119) – sehnlichst wünschen. Doch da »[l]iterarische Texte […] mit den Metaphern des Übergangs wie Tod, Geburt, Reise, Nacht, Dunkelheit von jeher Bilder für Varianten des Übergangs geboten« haben,31 ist es wenig erstaunlich, dass Nini sich nach dem nächtlichen Mord nicht mehr »winzig« (Tm, 110) fühlt wie zu Beginn des Abends, sondern »zu groß [für das] Holzhäuschen von der Rutsche« (Tm, 116). Indem der Spielplatz durch den gewaltsamen Tod zu einem an die Schauerromantik erinnernden Schau(er)platz geworden ist, evoziert er eine der bekanntesten Mordszenen und einen der berühmtesten Schauerplätze im klassischen Jugendroman, nämlich den Friedhof, auf dem Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn den Mord an Doc Robinson beobachten. In beiden Romanen verkehrt sich eine mitternächtliche, abenteuerlich-skurrile Situation – Heilzauber gegen Warzen auf dem Friedhof in »The Adventures of Tom Sawyer« (1876) bzw. mit Rosenblättern unterstützter Liebeszauber auf dem Spielplatz in »Tigermilch« – in eine Katastrophe. Wenn man diesen intertextuellen Verweis wahrnimmt, wird auch die Interpretation des Gewaltakts in »Tigermilch« als sog. Ehrenmord – in Leseempfehlungen und Rezensionen zum Roman wiederholt vorgetragen – unwahrscheinlicher.32 Mit Deniz Utlu kann 29 30 31 32

King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 76. Vgl. zum Aspekt der überhöhten Puppe auch Ninis Idealisierung von Jasna (Tm, 188). Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 247. Als »Ehrenmord« interpretieren die Szene auf dem Spielplatz in »Tigermilch« beispielsweise Kumschlies, Kirsten: de Velasco, Stefanie: Tigermilch. Wissenschaftliches Internetportal für Kindermedien und Jugendmedien Universität Duisburg Essen. (letz-

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man im Zusammenhang mit dieser geradezu reflexhaften Zuschreibung eher von einem typischen »rassistischen Blick« sprechen,33 da migrantischen Communities ihr zufolge typischerweise solche Morde zugesprochen werden. Eine Fallanalyse des Kriminalhauptkommissars Udo Haßmann aus dem Jahr 2007 zitierend, hält Utlu daher fest: »›Die Tötung von Menschen in unserem Kulturkreis‹, heißt es da, sei ›mit einem hohen Tabu belegt‹ – anders als bei Migranten, wo es zur Kultur gehöre, dass sie sich die Köpfe einschlagen.«34 Ausdrücklich betont Utlu, dass es nicht darum gehe, dass über Ehrenmorde berichtet wird, sondern »wie sie [die Diskussion um Ehrenmorde – S.K.] geführt wird.«35 Schenkt man jedoch weniger dem angeblichen Ehrenmord und eher den weiteren Parallelen zu Mark Twains berühmtem Jugendroman Beachtung – in beiden Romanen beobachten die Protagonist_innen aus einem Versteck einen mit einem Messer verübten Mord, den sie verheimlichen müssen, weil sie sich ansonsten selbst in Gefahr brächten, was wiederum zur Folge hat, dass zunächst eine falsche Person inhaftiert wird, die erst aus dem unrechtmäßigen Vollzug entlassen wird, als eine/r der Protagonist_innen, Tom bzw. Nini, ihren Schwur brechen, über den Mord Stillschweigen zu wahren –, so rückt das mit dem Ring verbundene Motiv der Treue und Loyalität in einer Freundschaft unzweifelhaft in den Vordergrund. Diesem Interpretationsansatz folgend, ist es konsequent, dass Nini, während die Mädchen gemeinsam Jasnas Schmuck entfernen, den Ring »als Jameelah kurz nicht hinschaut, […] Jasna […] vom Finger [zieht]. Er geht ganz leicht ab, weil er ihr eh zu groß ist, aber mir passt er, mir passt er genau« (Tm, 118).36 Der Ring scheint bei seiner – wenn nicht rechtmäßigen, so doch wortwörtlich passenden – Besitzerin angekommen zu sein; und Nini verdeutlicht den im Besitz des Rings bereits implizierten Treuebruch der Gesellschaft gegenüber den Jugendlichen,

33 34 35 36

ter Zugriff: 17. 12. 2020); Laumann, Annette: Voll kross. ALEKI. Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung Universität zu Köln. (letzter Zugriff: 17. 12. 2020); Stephan, Felix: Die Teenager-Linse. (letzter Zugriff: 17. 12. 2020); Strauss, Simon: Das wird einmal ein schöner Tag gewesen sein. (letzter Zugriff: 17. 12. 2020); Hemgesberg, Nadine: Wir Killer vom Bahnhof Zoo. (letzter Zugriff: 17. 12. 2020). Gegen die Interpretation als »Ehrenmord« spricht auch die später im Roman geäußerte Befürchtung, dass Tarik »sich eventuell was antun wollte« (Tm, 232). Utlu, Deniz: Vertrauen. In: Eure Heimat ist unser Albtraum. Hrsg. von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah. Berlin: Ullstein 2019, S. 38–55, hier: S. 53. Ebd. Ebd., S. 54. Man kann nur vermuten, dass Jameelah die Idee des Schmuckentfernens kommt, um Tarik zu schützen und die Tat als Raubmord aussehen zu lassen, wenngleich sie später behauptet, es sei »so eine Eingebung« gewesen und sie hätte keinen Plan verfolgt (Tm, 123).

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als sie sich beim Verlassen des Spielplatzes mehrfach fragt, »wieso [ihnen] nie jemand gesagt [hat], dass das hier passieren kann« (ebd.). Der Spielplatz mit Amirs Linde, der letzte Ort, der für Nini Geborgenheit und Unschuld implizierte, hat diese Bedeutung verloren. Schon hier deutet sich an, dass die Gesellschaft ihren Treueschwur vor allem gegenüber den Mädchen gebrochen hat, denn Gewalt, insbesondere gegen Frauen, nationale Konflikte und Religionskonflikte sind auch hier angekommen, sie können – das wird Nini nun klar – nicht länger in ein fernes »heiße[s] Land« und ins Internet verlegt werden.37 Für Jameelah bedeutet diese Erkenntnis, dass – in den Worten ihrer Mutter – »Krieg und Unglück« (Tm, 128) aus den Krisengebieten der Welt in Deutschland ebenso ihre Spuren hinterlassen wie Religionskonflikte, auch wenn Jameelah sich von jedem »Scheißglauben« distanziert (Tm, 123) und ihre Mutter betont, dass sie »doch nicht nach Deutschland gekommen [sind], um das zu sehen« (Tm, 128).38 Doch in allen aus Kriegsgebieten nach Deutschland immigrierten Traumatisierten offenbart sich, dass sie in der Bundesrepublik keinen Raum gefunden haben, um Erfahrungen wie Verluste, Trennungen und insbesondere Tod zu verarbeiten. Wie Vera King ausführt, wird in der Literatur der »ohnmächtig stimmende psychische Schmerz, der aus diesem fehlenden Raum entstehen kann – also nicht allein der Verlust, sondern aus der Schwierigkeit, Verluste zu verarbeiten, in einem produktiven Sinne zu betrauern – […] in vielfältigen Formen thematisiert.«39

Doch »Tigermilch« geht einen Schritt weiter und verdeutlicht, dass diese Probleme nicht auf Migrant_innen beschränkt sind. Indem die Ich-Erzählerin den Spielplatz nach dem Mord mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem »Mahnmal am anderen Ende vom Tiergarten« (Tm, 245), assoziativ in Verbindung bringt, verdeutlicht sie die historische Schuld der Deutschen, die – wenn man an Max Czolleks Vorstellungen der »Gegenwartsbewältigung« denkt –, in einer Linie mit dem »Integrationsparadigma [steht, das …] auf einer bestimmten Vorstellung von Zugehörigkeit [beruht], das über die Forderung 37 Nini fühlt sich beim Anblick der ermordeten Jasna an ein YouTube-Video erinnert, »wo ein Haufen Männer eine Frau in irgendeinem heißen Land die Straße runterjagen und dann gemeinsam umbringen, auch mit einem Messer« (Tm, 117). Aus gutem Grund prangt zu Beginn des Romans die Widmung »Für Mädchen«, denn junge Frauen – oft in Verbindung mit der Natur – erscheinen von männlich konnotierter Gewalt besonders betroffen. Nini verdeutlicht dies später im Roman, als sie festhält: »Die meisten Männer hassen Tiere […] und weißt du, was sie mit den allerschönsten Tieren machen? Die allerschönsten Tiere werden gefangen und ausgestopft. Oder aufgespießt, genau wie Jasna« (Tm, 188). 38 Neben Ex-Jugoslawien und dem Irak wird auch der Krieg in Afghanistan thematisiert, dem die Mädchen auf der Kurfürstenstraße begegnen, als einer ihrer Kunden im Rollstuhl sich als ehemaliger in Afghanistan stationierter Soldat entpuppt, der im »friendly fire« (Tm, 143) seine Beine verloren hat. 39 King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 75.

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nach Verfassungstreue und Spracherwerb hinausgeht.«40 Der Roman verweist somit auf die Illusion eines »verinnerlichten Ideals der Homogenität«41 und damit also nicht (nur) auf einen unbewältigten Rassismus, sondern vielmehr auf einen »Systemfehler der offenen Gesellschaft,«42 in der eine sog. Mehrheitsgesellschaft vermeintlich ein Recht darauf besitzt, zu entscheiden, wer Teil der Gesellschaft ist und wer sich zu integrieren hat. »Tigermilch« hingegen verdeutlicht, dass Genozid, Krieg und Gewalt globale und sich historisch wiederholende Phänomene sind, die auch das sich in einer romantischen Idylle wähnende Deutschland immer wieder erreichen, weswegen die beiden Mädchen sich – das macht das Zusammenspiel von Ring, Linde, Spielplatz, Mord und Gewalt deutlich – nicht nur von ihren Vätern, sondern von der gesamten, sie nicht schützenden Gesellschaft betrogen fühlen. Exemplarisch zeigt sich dies in Kopps-Krüger, dem Leiter einer Gruppe, die sich liberal gibt und für internationale Menschenrechte einsetzt. Auch er stellt Jameelah die typischen Fragen, durch die sie in den Augen von Nini immer wieder geradezu kriminalisiert wird.43 So entlarvt der Roman Kopps-Krüger stellvertretend für viele vermeintlich liberale und interessierte Deutsche als im Herzen fremdenfeindlich. Denn, so Mithu Sanyal, »›Wo kommst du her?‹ rekurriert – egal ob den Fragesteller_innen das bewusst ist oder nicht – auf ein Abstammungsprinzip, bei dem Zugehörigkeit nicht erworben, sondern nur seit Generationen besessen werden kann.«44

Wenn selbst vermeintlichen Migrant_innen gegenüber offen eingestellte Menschen sich als Rassist_innen entlarven, kann es nicht verwundern, dass Jameelah der festen Überzeugung ist, ihre Abschiebung wäre besiegelt, wenn sie sich als Zeugin eines Mordes bei der Polizei meldet – weswegen den Mädchen auch diese Behörde als mögliche Zuflucht versperrt ist.45 Aus dem gleichen Grund entfernt Jameelah auch gewaltsam Jasnas Verlobungsring, als sie ihn an Ninis Finger entdeckt, denn der Ring könnte sie mit dem Mord in Verbindung bringen. Ungeachtet Ninis Protest und der Behauptung, es sei der Ring ihrer Mutter, wirft Jameelah ihn in den Mülleimer an einer S-Bahnstation, in dem die Mädchen Jasnas übrigen Schmuck entsorgen. Erst viel später gelangt der Ring wieder an 40 Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung. In: Aydemir/Yaghoobifarah, Eure Heimat ist unser Albtraum. 2019, S. 167–181, hier: S. 173. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 174. 43 »Immer diese Menschen, die Fragen stellen, immer diese Fragen, die nach Verhör klingen, als hätte Jameelah irgendwas Schlimmes gemacht« (Tm, 69). 44 Sanyal, Mithu: Zuhause. In: Aydemir/Yaghoobifarah, Eure Heimat ist unser Albtraum. 2019, S. 101–121, hier: S. 103. 45 Vgl. auch Utlu zu der Frage, inwiefern von Migrant_innen überhaupt Vertrauen gegenüber deutschen Behörden und insbesondere Strafverfolgungsbehörden erwartet werden kann.

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Ninis Finger, nämlich im Kinderkrankenhaus, in das Nini gegen Ende der Sommerferien gehen muss, um ihre Weisheitszähne entfernt zu bekommen.46 Die drohende Operation erzeugt bemerkenswerterweise Vorfreude, denn im Vergleich mit ihrer Alltagsumgebung ist die Kinderklinik in den Worten der Freundinnen eine »Wolke« (Tm, 83), ein von einem großen Park umgebener Sehnsuchtsort, an dem man gerne über Nacht bleibt und selbst schwer kranke Kinder »es trotzdem voll schön haben« (Tm, 59).47 Doch selbst dieser Traum wird zerstört, denn auch der Anästhesist, der Nini einen Dornröschenschlaf und einen Ausflug nach Capri mittels der Narkose in Aussicht stellt, löst sein Versprechen nicht ein, wie Nini erkennt: »kein Capri, überhaupt nichts. Langsam werde ich wieder wach. […] Tut ganz schön weh beim Reden« (Tm, 210). Doch nicht nur die OP-Wunde schmerzt. Bezeichnenderweise assoziiert Nini den Sex mit dem von ihr angebeteten Nico im Bett des Kinderkrankenhauses mit Schmerz und Gewalt, anders als bei den Männern auf der Kurfürstenstraße blutet sie. Als äußeres Zeichen der Beendigung der Kindheit wird nach Thanatos auf dem Spielplatz nun Eros schmerzhaft im Kinderkrankenhaus eingeführt, diese so entzauberten Kinderorte erscheinen tatsächlich bedrohlicher als der Straßenstrich. Es manifestiert sich die Ahnung, die Nini schon bei ihrer Einlieferung beim Anblick ihrer schwerverletzten Zimmernachbarin ereilt: »Krankenhaus, das ist was Ernstes, damit spielt man nicht […] Schon klar, das ist kein Spielplatz hier, aber wer ernsthaft behauptet, dass es auf Spielplätzen fröhlicher zugeht als im Krankenhaus, der muss einen an der Falafel haben« (Tm, 208). Die Realität der Außenwelt und insbesondere die Mordnacht auf dem Spielplatz dringen in dem Moment unverhofft in die nur anscheinend abgeschirmte Welt der Kinderklinik ein, als Nico Nini den Ring an den Finger steckt, den zuletzt Jasna getragen hat. Ninis darauffolgendes Zittern gleicht einer »Naturkatastrophe« (Tm, 218), mit der sich ihr Loyalitätskonflikt ankündigt. Anders als mit Jameelah abgesprochen, bricht Nini ihr Schweigen, berichtet Nico von der Mordnacht und offenbart, dass der Täter Tarik war – und nicht der in einer Haftanstalt (bezeichnenderweise mitten im Wald) einsitzende Amir, den Nico nun mittels einer Aussage bei der Polizei aus der Haft retten will.48 Wirklich 46 Weisheitszähne entstehen erst nach dem Durchbruch der zweiten Molaren und sind vor dem 14. Lebensjahr nicht nachweisbar. Sie werden daher üblicherweise erst im Alter von 16 bis 18 Jahren entfernt, so dass diese Operation eine mögliche Frühreife Ninis andeutet. 47 Nini erinnert sich an einen früheren Aufenthalt in der Kinderklinik: »Ich war echt traurig, als ich wieder nach Hause musste« (Tm, 59). Darauf erinnert sich Jameelah: »Ja, ich auch, ich wollte gar nicht mehr weg da, ich war voll neidisch auf die ganzen Kinder, die so richtig in der Kinderklinik leben durften, obwohl die so schwer krank waren, weißt du, das war mir egal, irgendwie dachte ich, dass die es trotzdem voll schön haben dort« (ebd.). 48 Auch die Beschreibung des Waldes evoziert die Schauerromantik, der »Wald zieht einen irgendwie runter«, »die kleinen Zweige, die auf der Erde liegen, sehen aus wie Knochen von toten Tieren« und Jameelah fragt, was das nur sei, »dieses komische Ding mit den Deutschen

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gefährdet wird die Freundschaft zwischen den Mädchen durch Ninis Lüge, denn sie behauptet Jameelah gegenüber, Nico nichts von dem beobachteten Mord erzählt zu haben. Der Text verdeutlicht die aus dem Treuebruch entstehende Entfremdung durch weitere romantische Motive: Nini erblickt Jameelah nicht mehr direkt, sondern sie kann nur noch distanziert »in der Spiegelung [des Fensters …] sehen, wie Jameelah auf ihren Nägeln rumkaut«, und erwacht, ohne geschlafen zu haben, »wie aus einem schlimmen Traum« (Tm, 225f.). Nini verlässt diesen Grenzbereich zwischen Realität und Irrealität und folglich auch das Kinderkrankenhaus, um auf der Polizeiwache mit Nico, ihrer Mutter, Noura und Jameelah konfrontiert zu werden, einer Jameelah, die für Nini nur noch tötende Blicke und ein Wort zur Verfügung hat: »Verräterin« (Tm, 234). Dem Treuebruch folgen Sprachlosigkeit und Gewalt sowie Ninis Erkenntnis, dass die Kindheit endgültig beendet ist, »unser Spielplatz ist kein Spielplatz mehr« (Tm, 246). Folglich vermag Nini es erst jetzt, sich nicht mehr länger als Teil einer imaginierten, vollständigen und Sicherheit bietenden Familie zu träumen, als sie vor ihrem geistigen Auge »die kleinen Steine [sah], Mama und ich sind die kleinen Weißen und Papa der große Grüne« (Tm, 218). In Erkenntnis der harten Realitäten verabschiedet sie sich von dem Ring und dem (fälschlicherweise) impliziten Treueversprechen und reicht ihn an Dragan weiter, zusammen mit der von diesem ersehnten Information über den Begräbnisort seiner Verlobten, Wischegrad. Romantische Vorstellungen von Treue erscheinen damit – auch hier werden wieder morbide Bilder von Gräbern der Schauerromantik evoziert – nur im Tod realisierbar. Als am Ende des Romans die Abschiebung von Jameelah und ihrer Mutter unwiderruflich feststeht, muss auch Nini erkennen, dass ihr Leben mitnichten »noch ein echtes Märchen [wird], und Märchen fangen immer katastrophal an und enden gut« (Tm, 148). Vielmehr erinnert »Tigermilch« strukturell und auch durch das Vokabular wiederholt an das in Szene 19 von Georg Büchners »Woyzeck« von der Großmutter erzählte Anti-Märchen, das das Grimmsche Märchen vom Sterntaler verkehrt. Die wiederholt hervorgebrachte Erkenntnis der Teenager in »Tigermilch«, dass »Gottes Welt wirklich verfault [ist]« (Tm, 33),49 evoziert die Realisierung des Kindes bei Büchner, dass der aus der Ferne freundlich erscheinende Mond, Sinnbild der romantischen Sehnsucht und des Trostes, doch nur »ein Stück faul Holz« sei. In »Tigermilch« wird diese Erkenntnis in Jameelahs Zusammenfassung des Abschiebebescheids verdichtet: »[W]ie Sie bereits seit und dem Wald« (Tm, 167). Auch an dieser Stelle evoziert der Roman »das ausgeprägt innige Verhältnis der deutschen Romantiker zu ihrem Wald […]; der Wald wurde zum refugialen Raum, gar zum sakralen Ort erklärt« (Hentschel, Der Lindenbaum. 2005, S. 365). Rekurriert wird hier auf ein gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Baum, das »den modernen Macht- und Wirtschaftsverhältnissen unterlegen« ist (ebd., S. 367). 49 Vgl. beispielsweise Tm, 67, 92, 136, 216, 270, 279.

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Längerem wissen, ist Gottes Welt verfault, aus diesem Grund können Sie nicht länger in Deutschland leben. […] Mit faulen Grüßen, ihre verfaulte Welt« (Tm, 270).50 Durch diese verfaulte, erschreckend trostlose und erbarmungslose Welt irren, ganz wie in Büchners Verkehrung vom Sterntaler-Märchen, auch Jameelah und Nini de facto arm, elternlos, orientierungslos und ohne irdischen oder überirdischen Beistand. Ohne helfende Instanzen wie religiösen Glauben oder Eltern finden auch sie sich vom Leben herumgestoßen und sind aufgrund ihrer sozialen Lage und trotz all ihrer Bemühungen unfähig, ihr Glück zu finden, und am Ende heimatlos: Nini, die sich fragt, wo ihr zu Hause ist,51 und Jameelah, die verzweifelt feststellen muss, dass sie ungeachtet all ihrer Anstrengungen »keine Deutsche [wird …], nie, nie, niemals« (Tm, 217), und stattdessen gezwungen wird, in ein Land zurückzukehren, dessen Sprache sie nicht mehr spricht. Vera King hat auf die Parallelen zwischen Adoleszenz und Migration verwiesen, die sich darin manifestieren, »dass Erwachsenwerden klassisch, auch in Mythen und Märchen, selbst wie ein Aufbruch, eine Reise in ein neues Leben und Auszug in die Fremde verstanden wird, als Transgression und Ausloten neuer symbolischer Grenzen.«52 Im Fall von Jameelah, die immer die »Andere« geblieben ist, obwohl gerade sie im Gegensatz zur Deutschen Nini mit dem deutschen Kulturgut vertraut ist,53 verkehrt und verkompliziert sich die mit der Adoleszenz verbundene Migrationserfahrung weiter: Den Auszug in die Fremde markiert nicht die Einwanderung des Kindes Jameelah nach Deutschland, sondern die im Alter von 14 Jahren anstehende Re-Migrationserfahrung in den Irak, der ihr fremd ist. Die von King mit dem Terminus der »verdoppelte[n] Transformationsanforderungen« belegten, »psychisch ineinander verwoben[en]« Prozesse der »Adoleszenz und Migration«, die von Jugendlichen wie von Migrant_innen erwarten, dass sie sich »trennen und ihre vertrauten Bezüge auf-

50 Neben dem in »Tigermilch« dominanten Topos der »verfaulten Welt« haben auch die in Büchners »Woyzeck« angelegten Mücken, die das Mädchen aus der Ferne fälschlicherweise für Sterne hält, einen kurzen Auftritt (vgl. Tm, 263f.). 51 Nini »will nach Hause«, fragt sich aber sogleich, »zu Hause, ist das bei Rainer und Jessi, bei Mama und ihrem Sofa? Ich weiß nicht, keine Ahnung, wo ich hinwill« (Tm, 129). 52 King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 69f. 53 Jameelah zeichnet sich nicht nur durch ein ausgeprägte Sprachgefühl und eine Lust am Spiel mit der deutschen Sprache aus, sie ist auch informiert und belesen. Beispielsweise sind ihr im Gegensatz zu Nini die Grimmschen Märchen (Tm, 145), der Mythos von den »Deutschen und dem Wald« (Tm, 167) und die Geschichte von Anne Frank (Tm, 270f.) geläufig, und sie zeigt Vertrautheit im Umgang mit den aktuellen politischen Diskursen, beispielsweise als sie BildJournalisten dazu auffordert, Thilo Sarrazin zu interviewen (Tm, 81). Vgl. auch King, die darauf verweist, dass »[s]elbst wenn sie sich in hohem Maße anzupassen versuchen, […] sie [Migrant_innen – S.K.] als Fremde oder ›Andere‹ wahrgenommen, in Bildungssystem und auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt benachteiligt [werden]« (King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 71).

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geben,«54 ereilen Jameelah und auch Nini am Flughafen Tegel, als jene mit ihrer Mutter in den Irak zurückgezwungen wird. Die unendliche Einsamkeit, mit der die beiden Teenager nach der Abschiebung Jameelahs und der ultimativen Trennung der beiden konfrontiert sind, verdeutlicht der letzte Satz in »Tigermilch«: »[I]ch weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein« (Tm, 280). Doch aufgrund der staatlichen Brutalität, die die Mädchen trennt, gilt für beide am Ende das gleiche Schicksal wie für Büchners Kind – sie sind »ganz allein.« Am Ende des Romans scheint die Zeit für die beiden Teenager abgelaufen. Während die wiederholt evozierte Lebensuhr der noch in ihrer Kindheit verhafteten Mädchen suggerierte, dass sie »noch so viel Zeit haben, weil die Uhr erst auf ungefähr 14 nach Geburt steht, das heißt noch fast 50 Minuten Leben, und das ist sehr lang« (Tm, 59f.),55 bewegt sie sich nach dem beobachteten Mord »plötzlich auf 20 nach, das heißt nur noch 40 Minuten Leben« (Tm, 124). Die Gewalttat auf dem Spielplatz lässt die Mädchen sprichwörtlich über Nacht um Jahre altern, und auch Amir erscheint »so als wäre er von heute auf morgen einfach mal 50 Jahre älter geworden« (Tm, 176). Der Roman wird zu einem Medium der Reflexion, geradezu zu einer »Reflexionsinstanz« im Sinne Wilhelm Vosskamps,56 als Nini über das Älterwerden reflektiert, und zwar nicht nur auf eine zeitlich-messbare Art und Weise, sondern aufgrund von schmerzhaften Erfahrungen, die als Teil des Lebens erkannt werden: »Ob das sein kann, frage ich mich, ob es sein kann, dass es nicht die Zeit ist, die vergeht und uns nebenbei alt macht, sondern die Dinge, die uns zustoßen, die, die uns verzweifeln lassen, die wir aber durch uns hindurchlassen müssen, ob wir wollen oder nicht, weil sie einfach größer und stärker sind als wir, weil das Leben immer größer und stärker ist als man selber, dass es diese Dinge sind, die uns wirklich älter machen« (Tm, 177).

Dass das Leben größer und stärker ist als die Teenager, könnte man als einfache, mit der Adoleszenz verbundene Erkenntnis verbuchen. Ruft man sich jedoch die Definitionen von Leben ins Gedächtnis, die diese Jugendlichen wiederholt äußern, so ist dies mehr als ein Teil des Übergangs ins Erwachsenenleben. Das »echte Leben« ist im weiteren Verlauf wahlweise charakterisiert durch »Seitenstiche, Pornos und [den] Geschmack von Blut« (Tm, 231), durch eine im Leben 54 Ebd., S. 70. 55 Ebenso Tm, 109. 56 Vosskamp zufolge sollten literarische Texte generell als »semantisches und vor allem performatives Archiv, als Organ des Wissens um die Wirklichkeit symbolischer Welterzeugung« und somit als »Reflexionsinstanz« verstanden werden (Vosskamp, Wilhelm: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbettung in die Kulturwissenschaften. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42, 1998, S. 503–507, hier: 504).

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bereits angelegte Zerstörungswut gegenüber allem Schönen57 oder als eigentlich unerträgliches Dasein, dem man unfreiwillig ausgesetzt ist.58 Die hierin angelegte Verzweiflung über das eigene Schicksal bringt Nini auf den Punkt, als sie Jameelah nachrennt, die im Angesicht ihres Abschiebungsbescheids die Flucht aus der Wohnung ergreift: »Es ist noch nicht die Zeit, mit dem Rauchen aufzuhören, es ist noch nicht die Zeit, mit dem Trinken aufzuhören, es ist noch nicht die Zeit, mit irgendetwas aufzuhören, Jameelah und ich, wir haben doch gerade erst wieder angefangen« (Tm, 267). Vergegenwärtigt man sich, dass Adoleszenz »sich immer im Rahmen eines gesellschaftlichen […] Systems vollzieht«59 und daher auch Adoleszenzliteratur quasi als Seismograph gesellschaftlicher Zustände gelesen werden kann,60 so hält die in »Tigermilch« hervorgebrachte Adoleszenzerkenntnis, dass das einem selbst überlegene Leben überwiegend widerwärtig und primär darauf ausgerichtet ist, den Jugendlichen ihre Jugend zu rauben, der gegenwärtigen Gesellschaft einen unschönen Spiegel vor. Aufgrund ihrer prekären Situation werden die hier porträtierten Protagonistinnen in ein Erwachsenenleben katapultiert, das sie dazu zwingt, ihr für Jugendliche charakteristisches, unbeschwertes Leben in dem Moment zu beenden, als es gerade begonnen hat. Ninis und Jameelahs Jugend beläuft sich bei näherer Betrachtung auf einen Sommer: Es ist nun »21 nach, das heißt noch 39 Minuten Leben, ich zähle von da aus langsam rückwärts, bis ich bei null angekommen bin, bis es keine Minuten mehr gibt, die einfach so vorbeitreiben können« (Tm, 269f.). Dieses Sommermärchen ist vorbei. Die Mädchen haben mit der einundzwanzigsten Lebensminute, die unzweifelhaft auf das einundzwanzigste Lebensjahr und damit die Großjährigkeit, den Beginn der vollständigen Strafmündigkeit und das ultimative Ende der Jugend anspielt, den Punkt erreicht, von dem aus sie sich nur noch auf das Lebensende zubewegen. Wenngleich »Tigermilch« die Wirklichkeit Jugendlicher nicht empirisch widerspiegelt, reiht sich der Roman doch ein in eine Reihe von literarischen Werken ein, die dem »Trend der literarischen Inszenierung von Randgruppen-Adoleszenzen« folgen, der »von der aufstörenden Darstellung [lebt]«.61 Was »Tigermilch« von anderen Romanen unterscheidet, ist die herausgestellte Verwurze57 So erklärt Amir Nini: »Das ist das Leben. Wenn was zu schön ist, muss was kommen, das es zerstört, sonst ist es nicht das Leben, weißt du« (Tm, 249). 58 »[W]enn Mütter ihre Kinder beruhigen, dann ist das eigentlich eine große Lüge, weil sie versuchen, das Leben erträglicher zu machen […] jedenfalls ist man ziemlich unfreiwillig auf der Welt« (Tm, 264f.). 59 Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003, S. 237. 60 Priem, Karin: Literatur als Seismograph des Sozialen. Die Unruhezone als Ortsbestimmung der Adoleszenz bei Jonathan Franzen. In: Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II. Hrsg. von Hans-Christoph Koller und Markus RiegerLadich. Bielefeld: transcript 2009, S. 155–164. 61 Gansel, Adoleszenz. 2016, S. 11.

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lung des Adoleszenzromans in phantastischen Novellen, in Märchen und sogar in Gedichten der Romantik – und dann auch wieder die Entzauberung solcher Quellen à la Büchner. Gerade im Rekurs auf die Romantik und das Anti-Märchen in Büchners »Woyzeck« findet Stefanie de Velasco eine ansprechende Form der »subtilen Verknüpfungen der Ebenen des Sozialen und Individuellen, des Kulturellen und Psychischen«.62 Indem sie auf diese Weise die romantische Tradition mit den provokanten, aufstörerischen Aspekten verbindet, die (nicht nur) für Adoleszenzromane des beginnenden 21. Jahrhunderts als charakteristisch gelten können, erreicht sie eine ungewöhnliche Ästhetisierung.

62 King, Über Grenzen und Grenzüberschreitungen. 2019, S. 83.

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An den Grenzen des Sagbaren oder zur Abwesenheit des Didaktischen in Manja Präkels Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« (2019) »Ich hatte angefangen, literarisch zu schreiben, weil ich das Gefühl hatte, dass ich journalistisch nicht weiterkomme« (Manja Präkels im Gespräch mit detektor.fm).1

1.

Aufstörungen

Schreiben stellt immer eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit dar, eine »Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse«,2 ein Aushandeln des Sagbaren. Damit literarische Texte ihre Wirkung entfalten können, irritieren sie ihre Rezipient*innen und stören sie auf. Dies erreichen sie, indem sie Neues wagen, provozieren, Ausschnitte wählen, gewohnte Perspektiven durchbrechen, inhaltliche und narrative Risiken eingehen, reizen und schmerzen. Sind Störung demnach der Literatur inhärent,3 so schließt sich die Frage an, inwiefern in Kinder- und Jugendliteratur (KJL) die noch unerfahrenen Leser*innen in ihrer Lektüre gestört werden können und dürfen. Inwieweit funktionieren Normverletzungen, beispielsweise im Komischen, wenn doch Normen in der Adoleszenz gerade erst ausgehandelt und Inhalte nicht voraussetzungslos verstanden werden? Als Abweichungen lassen sich Störungen immer nur in Bezug auf das ihnen zugrunde liegende System und die damit verbundenen Erwartungen verstehen. Daraus ergibt sich die Frage, ob es Themen oder Modi gibt, die besonders geeignet oder anfällig für Störungen sind. Ausgangspunkt des Beitrags über den Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« von Manja Präkels sollen die Verwirrungen und Verstörungen der Rezipient*innen sein: Ausgehend von der Adressierung – vor allem die Nominierung für den Deutschen Jugendbuchpreis 2018 hat zu einer Vereinnahmung als Jugendbuch und Schullektüre in einer zunehmend politischer werdenden Debatte um Rechtsradikalismus geführt –, sollen die narratologischen Provokationen in den Blick genommen werden. Das 1 . 2 Genette, Gérard: Die Erzählung. 2. Aufl. München: Wilhelm Fink 1988, S. 15. 3 Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie der Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 2014, H. 4, S. 320.

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betrifft die Vermeidung von für KJL typischen Merkmalen der Leser*innenführung ebenso wie die Überschreitung von Genregrenzen. Das Fehlen des Didaktischen und damit der altersübergreifenden Adressierung zeigt sich besonders in der Präsenz des Komischen. Die Rezeption von Präkels’ Romans ist von inhaltlichen wie formalen und editorischen Aufstörungen geprägt: Die Autorin rückt Figuren und Themen in den Vordergrund, die die normativen Grenzen der Gesellschaft überschreiten. Gleichzeitig versperrt sich der Roman einer eindeutigen Ein- und Zuordnung: Handelt es sich um Kinder-, Jugend-, All-Age- oder Erwachsenenliteratur? So erschweren bereits das Cover und der Publikationsort – der Verbrecher-Verlag (Berlin) ist für seine politischen Publikationen, nicht aber für KJL bekannt – ebenso wie die Autorin – es handelt sich um den Debütroman einer Autorin, die sich bis dahin als Journalistin und Musikerin in der Band »Der singende Tresen« einen Namen machte – eine Zuordnung. Lässt sich eine Adressierung nicht eindeutig vornehmen, so irritiert auch das Verhältnis von Realität und Fiktion: Wer erzählt diesen Roman und in welchem Verhältnis stehen Autorin und Erzählerin? Handelt es sich hier um Gedächtnisarbeit im Sinne einer Autopoiese, und wenn ja, wie werden die heranwachsenden Leser*innen durch diesen Roman geführt, der große Anteile verinnerlichten Schreibens aufweist? Oder geht es gar nicht explizit um Jugendliche und wurden diese nur durch die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 als Leser*innenschaft vereinnahmt? Auf der Ebene der Narration selbst liegen Störungen vor allem im Bereich der Figurengestaltung und der Rolle der Komik vor. Bevor das ›Wie‹ der Verstörungen sichtbar gemacht wird, soll zunächst das ›Was‹ erläutert werden; dazu wird auf die autobiographisch geprägten Ausführungen der Autorin im »Spiegel« zurückgegriffen, die die Rahmung des Romans genauso wie Präkels journalistische Schreibweise aufzeigen: »Die Stadt heißt Zehdenick. Als ich dort geboren wurde, war die Republik gerade 25 Jahre alt geworden. Es gab noch Hoffnung. Die wurde zwölf Jahre später unter dem Fallout aus Tschernobyl erstickt. Die Lüge war nicht mehr zu überhören. Ich war gerade Thälmann-Pionier geworden. Vom Überfall auf die Ostberliner Zionskirche, zu dem sich Nazi-Skins aus Ost und West verkumpelt hatten, erfuhren wir so wenig wie von der tödlichen Strahlung am Tag des Super-GAUs. Im Jahr meiner Jugendweihe fiel die Mauer, mit ihr die Hemmung. Auch bei uns. Nachbarjungs, Mitschüler, Freundinnen marschierten diesmal freiwillig. Als hätte über Jahre angestaute Wut von ihnen Besitz ergriffen, tobten sie über das untergehende Land. […] Die Straßen und öffentlichen Plätze waren nun besetzt von Glatzen-und-Seitenscheitel-Banden. Gemeinsam mit ein paar anderen versuchte ich, mich zu wehren, arbeitete nach der Schulzeit als Lokalreporterin. Wurde mehr und mehr zur Zielscheibe organisierter Angriffe. Als mich 1998 eine Jugendklubleiterin warnte, sie würden, in Autos patrouillierend, nach mir suchen, floh ich schließlich, so wie alle anderen Unerwünschten, nach Berlin. Ich war froh, dort nur zur Untermiete zu wohnen. So musste ich meinen Namen nicht an die Klingel

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schreiben. Die nicht weggehen konnten oder wollten, suchten den Schutz der Gärten und Wohnzimmer, das Vergessen im Rausch. Manche gingen langsam, manche schneller zugrunde.«4

Wenn die Autorin im »Spiegel« ihre eigene Lebensgeschichte nachzeichnet, dann geschieht dies im Kontext der Romanrezeption sowie dem Diskurs um die Angemessenheit der Darstellung5 und Aufarbeitung der historischen Ereignisse. Nach einer intensiven journalistischen Auseinandersetzung der Autorin mit der Thematik des Rechtsradikalismus in der DDR stellt der Roman eine Erweiterung und eine Möglichkeit dar, das Unsichtbare zu thematisieren und sichtbar zu machen.6 Mit der Erzählerin Mimi konstruiert Präkels eine literarische Figur, der die Leser*innen beim Aufwachsen folgen. Mimis Kindheit weist jedoch massive Brüche auf, die sich in der Figur Hitlers – Mimis Freund Oliver – bereits von Beginn an andeuten. Durch die autopoetische Darstellungsweise entstehen ein mehrstimmiges Werk und somit unterschiedliche Lesarten: Die Geschichte Mimis kann unabhängig von der Biographe der Autorin gelesen und verstanden werden. Im Kontext von Präkels’ Biographie entstehen aber zusätzliche Bedeutungsebenen. Um das Verhältnis von histoire und discours auszuloten, soll zunächst eine Einordnung in das Genre vorgenommen werden. Der Roman weist sowohl Elemente von Coming-of-Age- als auch von historisch-politischen Romanen auf. Es geht um Freundschaft, Liebe, Heranwachsen, Zurechtfinden in der Erwachsenenwelt, Selbstbestimmung und -behauptung – typische Elemente eines Coming-of-Age-Romans: »Zwischen den Erwachsenen gingen auch weiterhin Dinge vor, die ich nicht verstand. […] Die Sympathien zwischen uns Kindern wechselten schnell und unsystematisch«7, bemerkt die Erzählerin Mimi und ergänzt: »Ich weigerte mich beharrlich, etwas anderes als ein Kind zu sein« (Präkels, 46). Die Folie des Aufwachsens und des Handelns der Figuren bildet die DDR und ihre Auflösung. Mit »dokumentarischer Genauigkeit« – so aus der Begründung der Preisverleihung zum Deutschen Jugendliteraturpreis – wird eine Generation porträtiert, »die den Niedergang der DDR abseits der Großstädte weniger als

4 Präkels, Manja: Echte Männer, geile Angst. Verharmloste Nazi-Skinheads. In: Der Spiegel vom 09. 12. 2017. 5 An dieser Stelle soll nur am Rande auf die Auseinandersetzung mit dem Autor Moritz von Uslar verwiesen werden, der mit »Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung« (Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010) denselben Ort als Schauplatz seiner journalistisch geprägten Milieubeschreibung gewählt hat. 6 Vgl. Luhmann, Niklas: Schriften zu Kunst und Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 201. 7 Präkels, Manja: Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß. Berlin: Verbrecher 2018, S. 29 [im Folgenden unter der Sigle »Präkels« mit Seitenzahl im Text].

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Befreiung denn als widersprüchliches Ereignis erlebt.«8 Aber: Es werden nicht nur historische Fakten und die Darstellung eines repressiven Systems verhandelt, sonst hätte die Autorin im Journalistischen bleiben können. Es geht um das Mehr, was Fiktion kann: Die Ausgestaltung der Figuren und ihre autopoietische Anlage, die narrative Architektur und dramatische Zuspitzung sowie die sprachliche Überformung der histoire. Diese zeigt sich in der Kriegsmetaphorik ebenso wie in intertextuellen Verweisen, im Nebeneinander der verschiedenen Stimmen und in der Präsenz der Komik, die Normverletzungen in den Blick nimmt. Nicht erst an dieser Stelle wird ersichtlich, dass es sich bei dem Roman nicht ausschließlich um einen Jugendroman handelt, dass aber auch der Begriff des All-Age-Romans, der sich so häufig auf die bequeme Mitte einlässt, als Kategorie für den vorliegenden Roman nur bedingt geeignet erscheint. Der Roman ist definit kein – um einen populären Begriff zur Kategorisierung von KJL zu verwenden – ›Pageturner‹: Er stört die Leseerwartungen seiner Leser*innen nachhaltig auf.

2.

Zu den Grenzen der Adressierung: All-Age-Literatur wider Willen?

All-Age-Literatur zielt in diesem Kontext auf eine breite Leser*innenschaft und wird durch ihre Mehrfachadressierung bestimmt. Bei der Auseinandersetzung mit dem Terminus »All-Age« geht es um die Modalitäten der Rezeption und der Mediennutzung.9 Während sich KJL auf der Textoberfläche als literarische Gattung durch ihre Adressat*innen und damit durch ihre Differenz zur Erwachsenenliteratur definiert,10 nimmt All-Age-Literatur eine Erweiterung in den Blick. Unabhängig von der gewählten Definition – ob nun mehrfach- oder doppeltadressierte (Ewers), univalente ober ambivalente Texte (Shavit), Crossover oder All-Age als Kategorien angeführt werden11 – geht es immer darum, dass der Text nicht nur eine breitere Leser*innenschaft anspricht, sondern auch auf verschiedenen Ebenen der Narratologie funktioniert. Dies betrifft die Semantik und Syntax ebenso wie die Stilistik und narratologische Architektur und das politisch-historische Hintergrundwissen, das zum Verständnis erforderlich ist. 8 Deutscher Jugendliteraturpreis. Nominierungen 2018. Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. München, S. 42. . 9 Bertling, Maria: All-Age-Literatur. Die Entdeckung einer neuen Zielgruppe und ihrer Rezeptionsmodalitäten. Wiesbaden: Springer 2016, S. 7. 10 Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink 2012, S. 14ff. 11 Vgl. Bertling, All-Age-Literatur. 2016, S. 9ff.

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Die Bedeutung, die ein Text entfaltet, scheint sich demnach auf unterschiedlichen Ebenen abzubilden. Betrachtet man die Werke, die der All-Age-Literatur zugeordnet werden, dann stellt man fest, dass kindliche und erwachsene Lebenswelten nicht als Dichotomien verstanden und ihre Handlungsräume nicht klar voneinander abgrenzt werden können, die Grenzen erscheinen fließend. Trotzdem lässt sich bei zahlreichen Werken der All-Age-Literatur, die auf dem literarischen Markt reüssiert haben, eine »Infantilisierung«12 beobachten; die Werke zeichnen sich durch »viel Dialog, viel Action, kaum ein offenes Ende, oft – mit dem Sieg des Guten über das Böse« aus;13 Muster und Stereotypen dominieren. Durch die breite Adressierung bedient All-Age-Literatur in der Regel Themen, die für unterschiedliche Altersklassen und daraus resultierend unterschiedliche Erfahrungen und Wissensbestände geeignet sind. Für die Konzeption der Werke bedeutet dies ein gewisses Maß an inhaltlicher, sprachlicher und narratologischer Gefälligkeit; Störungen sind davon ausgehend nur selten vorzufinden. Die Frage, ob es sich bei dem Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« um All-Age-Literatur handelt, gestaltet sich diffizil. Die Publikation im Verbrecher-Verlag deutet auf eine Adressierung an politisch interessierte erwachsene Leser*innen hin, Jugendliche werden nicht explizit angesprochen. Präkels äußert sich zu der Frage der Adressat*innen: »Es gab keine bestimmte Leserschaft, die ich beim Schreiben vor Augen hatte. Selbstverständlich korrespondiert meine Schreibhaltung aber mit den verschiedenen ProtagonistInnen und ich greife deren Alter in Tonfall und Reflektionsweise auf. Insofern ergibt sich eine große Offenheit und Identifikationsangebote an ganz unterschiedliche LeserInnen. Es gibt kindliche und jugendliche Perspektiven, aber auch GroßelternRomanfiguren, Leute unterschiedlicher Herkünfte.«14

Inwieweit die Nominierung für den Deutschen Jugendbuchpreis im Jahr 2018 und der Gewinn des Preises nicht nur zu einer Entdeckung, sondern auch zu einer – politischen – Vereinnahmung durch Leser*innen, Presse und Bildungsinstitutionen führte, kommentiert sie wie folgt: »Dass eine so hochkarätige Auszeichnung stets auch politisch gedeutet bzw. ›bespielt‹ wird, ist ja klar. Nicht zuletzt werden dabei Deutungshoheiten verhandelt. Grundsätzlich hat die begrüßenswerte und für jede Autorin/jeden Autor beglückend starke Rezeption des Buches durch den Preis eine Fokussierung auf einen bestimmten Handlungsstrang forciert. Aber damit kann ich gut leben, wenn ich mir das entsetzliche staatliche Versagen rund um den NSU und den Aufstieg Rechtsradikaler auf den Straßen und in den Parlamenten anschaue. Dass mein Roman hier nun zur Erklärung

12 Ebd., S. 15. 13 Ebd., S. 24. 14 Manja Präkels im schriftlichen Interview mit der Verfasserin am 08. 07. 2020.

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dieser Entwicklung herangezogen wird, ist okay. Die LeserInnen machen ohnehin, was sie wollen. Eine wunderbare Freiheit ist das.«15

Im Rahmen einer Diskussion um einen Rechtsruck und eine Rechtsradikalisierung in der Gesellschaft ist Präkels auf Lesungen und Veranstaltungen in Schulen und Bildungsinstitutionen gefragt. Ihr als Journalistin eingeschlagener Weg wird somit literarisch fortgesetzt und wirkt einer bloß teilnehmenden Beobachtung, wie sie in »Deutschboden« von Moritz von Uslar vorgenommen wird, entgegen. Eine stark politische Lesart kann aber dafür sorgen, dass sowohl thematisch als auch sprachlich-stilistische Aspekte des Romans in den Hintergrund treten: »Das innerfamiliäre Drama, die brutale Auswirkung einer chronischen Krankheit auf den Alltag, der abrupte Zusammenbruch des Kleinstadtgefüges, die Veränderung der Geschlechterverhältnisse, das fehlende Wissen um die unterschiedlichen Erfahrungen vor und nach ’89 in Ost und West – all das.«16 Lässt sich demnach von einem All-Age-Roman wider Willen sprechen?

3.

Narratologische Aspekte einer Text-Leser*innen-Passung

Eine All-Age-Perspektivierung in den Blick zu nehmen, impliziert, die möglichen Adressat*innen näher zu berücksichtigen und damit auf die Text-Leser*innenPassung zu fokussieren. Dieses Themengebiet betrifft dabei drei unterschiedliche Dimensionen: die des Textes, der Leser*innen und des Kontextes.17 Während die Dimension des Textes sowohl semantische als auch syntaktische Aspekte beinhaltet und intra- wie intertextuelle Ebenen berücksichtigt, werden auf der Ebene der Lesenden Faktoren wie Alter, Vorwissen, Rezeptionsmodus und -situation ebenso einbezogen wie die Lesemotivation. Die letzte, von Frickel angeführte Ebene betrifft die bildungspolitische Rahmung. Aus deutschdidaktischer Perspektive steht dabei das Handlungsfeld des Literaturunterrichts im Zentrum und damit die Auswahl von Lektüren sowie die daraus resultierenden Aufgabenarrangements für den Unterricht;18 auf diese soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Vgl. Frickel, Daniela: Textpassung. Theoretische und empirische Ansätze zur Ermittlung der Gegenstandsadäquanz von (literarischen) Texten zwischen ›Einfachheit‹ bzw. ›Verständlichkeit‹ und ›Komplexität‹. In: Empirische Forschung in der Deutschdidaktik. Hrsg. von Jan Boelmann. Baltmannsweiler: Schneider 2018, Bd. 3, S. 18–201, hier: S. 190. 18 Während für die Fachdidaktik das Textverstehen zum »Kerngeschäft« zählt (Sander, Julia/ Rosebrock, Cornelia: Komplexität literarischer Texte als didaktische Kategorie. In: LiU 2/16, S. 143–156, hier: S. 143), impliziert dies jedoch nicht automatisch eine Auseinandersetzung mit der Textverständlichkeit. Sowohl für Lehrkräfte als auch für Eltern steht bei der Auswahl von KJL regelmäßig eine Progression der Textkomplexität und, damit verbunden, der Ver-

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Eine Text-Leser*innen-Passung und somit das Textverstehen und die Textverständlichkeit betreffen gleichermaßen das ›Was‹ und das ›Wie‹ des Erzählens. Während das Alter der Protagonist*innen für die Auswahl der Lektüre durch die kindlichen- und jugendlichen Leser*innen zentral ist,19 beeinflusst das Verhältnis von innerer zu äußerer Handlung das Maß an Leerstellen und Polyvalenzen und somit die Textverständlichkeit. Ob kindliche und jugendliche Leser*innen ein Werk zu Ende lesen, wird entscheidend durch die Leser*innenführung und somit durch die narratologische Architektur geprägt: Die Ausgestaltung der Figuren sowie die gewählte Erzählperspektive bestimmen dabei maßgeblich histoire und discours und, damit verbunden, das Potenzial zur Identifikation. Im Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« wird Mimi als extradiegetischhomodiegetische Erzählerin eingeführt, die überwiegend das Geschehen durch eine interne Fokalisierung chronologisch wiedergibt und ein Nachvollziehen erleichtert: »Als ich geboren wurde, gab es noch Kinder und vereinzelt noch Erwachsene, die an den Weihnachtsmann glaubten. Der besuchte mich zum ersten Mal an meinem dritten Lebenstag. Ich lag unterm Lamettabaum. Ein Geschenk der Liebe, drall und glatzköpfig. Sie nannten mich Mimi. Die Republik war gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden« (Präkels, 10).

Die distanziert-ironische Darstellungsweise entspricht dabei den narratologischen Umwegen, die der Roman nimmt. So wird im ersten Satz des Romans die Provokation des Titels zwar aufgenommen und der neben Mimi zentrale Protagonist eingeführt: »Vielleicht hat mir Hitler das Leben gerettet, damals. Wir hatten gegeneinander gekämpft, ohne uns dabei je direkt gegenübergestanden zu haben« (Präkels, 7). Mimi und Oliver wachsen gemeinsam im kleinbürgerlichen Milieu auf und verfolgen das Gebaren der Erwachsenen, Schnapskirschen unterm Tisch essend. In Bezug auf die Dramaturgie des Romans ist es allerdings ungewöhnlich, dass erst 15 Seiten später dieser Erzählstrang wieder aufgenommen und fortgesetzt wird, indem Oliver, Mimis Freund, vorgestellt wird: »[…] von ihm lernte ich, dass Schweigen nicht nichts Schlimmes sein muss« (Präkels, 22). Stattdessen werden zunächst die Erzählerin und der Schauplatz – eine Kleinstadt in Brandenburg – dargestellt. Während das Alter der Protagonistin und ihr Aufwachsen einem Coming-of-Age-Roman entsprechen und die Freund-

stehensanforderungen im Vordergrund. »Kern der didaktischen Analyse sollte das Herausfinden der für die Schülerschaft optimalen Textschwierigkeit sein« (Pflugmacher, Torsten: Über den Umgang mit der Textschwierigkeit literarischer Texte im Handlungsfeld Deutschunterricht. Ein Forschungsbericht mit Ausblicken. In: LiU 2/16, S. 109–126, hier: S. 109). 19 Dabei gilt, dass die Protagonist*innen eher älter als jünger als die Leser*innen sein sollten, damit sich kindliche und jugendliche Leser*innen mit den Protagonist*innen identifizieren können.

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Feind-Opposition die Lektüre erleichtert, treten bereits zu Beginn zahlreiche Störungen auf: Neben der Handlungsarmut des Romananfangs führt die Auflösung der DDR als Referenzsystem zu einem Verlust einer übergeordneten Ordnungs- und Orientierungskategorie: »Ich erinnerte mich an den Morgen, als unser Geschichtslehrer den Zeitstrahl der bis dato über unser aller Köpfen gehangen und auf das unausweichliche Ziel, den Kommunismus, verwiesen hatte, aus dem Klassenzimmer entfernte« (Präkels, 109). Die Erzählerin wird durch die politischen und historischen Veränderungen der Grenzöffnung ihrer Identität beraubt: »[…] und begann, mich für meinen roten Anorak zu schämen. Wie gern wäre ich unsichtbar geworden« (Präkels, 85). Als Tochter der Pionierleiterin ist es Mimi nicht vergönnt, Teil einer Peergroup zu sein. Trotz einer eindeutigen homodiegetischen Erzählhaltung variiert die Fokalisierung auf engstem Raum und verliert ihre Eindeutigkeit; dadurch entsteht eine Distanzierung, die einem identifikatorischen Lesen entgegenwirkt. So werden in das Erzählen immer wieder Passagen einer Nullfokalisierung integriert: »Was mit unserem Land, der DDR, geschah, war aus der Froschperspektive schwer zu überblicken. Niemand sprach mehr von ihr« (Präkels, 102). Wenn die Erzählerin am Ende der ersten Erzähldrittels feststellt: »›Nazis? Bei uns?‹ Ich konnte es nicht glauben« (Präkels, 99), dann formuliert sie an dieser Stelle etwas, das den Leser*innen schon lange bewusst und bekannt ist, sei es durch den Romantitel oder die Benennung ihres alten Freundes Oliver als »Hitler« in der ersten Zeile des Romans. Da die Leser*innen häufig mehr wissen als die Erzählerin, kann nicht von einer durchgehend stabilen Erzähler*inneninstanz ausgegangen werden. Aber auch in Bezug auf die Erzählebenen existieren Wechsel von der Extrazur Intradiegese, indem die Perspektive der erzählten Welt verlassen wird: »Erst Jahre später sollte ich begreifen, dass wir alle einer sterbenden Welt angehört hatten« (Präkels, 72). Mitten im chronologisch voranschreitenden Erzählen berichtet die Erzählerin nicht mehr, sondern reflektiert und stellt sich damit außerhalb der eigenen Figur und gewährt einen Einblick in die Bewertung der Situation. Dabei ist das Sprechen der Erzählerin geprägt durch verschiedene Stimmen, die dazu führen, eine vielschichtige Figur entstehen zu lassen, die eine eindeutige Lesart unterläuft. Kindliche Darstellungsweisen, »Pappi wurde sehr krank« oder »Zeugnisausgabe. Ferien. Hurra!« (Präkels, 37, 40), Dialekt, Kriegsmetaphorik20 sowie eine überformte, fast lyrische Sprache, »Ich war zwar unempfindlich gegen die Melancholie des leeren Horizonts, die ich von zu Hause kannte, doch hatte ich nie zuvor so schreckliche, gelbe Wolken gesehen« (Präkels, 66), stehen neben jugendlicher Vulgärsprache: »Ulli und ihr neuer Freund fickten

20 Vgl. die Kapitelüberschriften »Fahnenappell«, »Manöver«, »Krieg« (Präkels, 23, 30, 36).

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die ganze Nacht« (Präkels, 69). So erzeugt die Mehrstimmigkeit eine gleichermaßen vielschichtige wie komplexe Erzählerin. Während Mimis Freund Oliver im Kontext einer breit angelegten Kriegsmetaphorik eingeführt wird, erzeugt die Autorin zugleich eine poetische Leichtigkeit, die nicht nur eine Entlastungsfunktion für die Leser*innen erfüllt, sondern eine dominante Opposition zum journalistischen Schreiben darstellt: »Bei Regen und Schnee, Sonnenschein und Nebelwetter waren wir unterwegs, draußen. An dem Fluss, der die kleine Stadt in zwei Hälften teilt, konnte man stundenlang sitzen und den Booten hinterherschauen oder angeln. Ein schmaler Steg unterhalb der großen Betonbrücke war unser Stammplatz und ein guter Ort für fette Fänge« (Präkels, 8).

Italo Calvino bezeichnet in seinen poetologischen Überlegungen die Leichtigkeit als eine von sechs zentralen Kategorien eines Schreibens für und im 21. Jahrhundert.21 Die Leichtigkeit betrachtet er dabei als Möglichkeit, mit der Schwere der ihn umgebenen Wirklichkeit umzugehen, d. h. eine »Zerstäubung der Realität«22 vorzunehmen. Wenn Mimi, um dem Rechtsradikalismus in ihrem Heimatort zu entgehen, in der nahen Kreisstadt als Journalistin zu arbeiten beginnt, dann stellt dies eine Möglichkeit dar, einen neuen, ungewohnten Blick auf ihre Gegenwart und Umgebung zu werfen. In einer kaum wahrgenommenen unscheinbaren Rubrik schreibt Mimi über »vergessene Orte« (Präkels, 192) Brandenburgs. »Mein Koffer war leicht. Das Fortgehen auch« (Präkels, 157). Die Tatsache, dass nicht nur die Zeitung selbst, sondern vor allem diese Rubrik in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs kaum wahrgenommen wird, nimmt Mimis Dasein und ihren Problemen für einen Augenblick die Schwere. Calvino verbindet dabei Leichtigkeit nicht mit Ungenauigkeit oder Vagheit, sondern mit Präzision. Es gehe dem Schriftsteller darum, aus »Sprache ein gewichtloses Element zu machen, das über den Dingen schwebt wie eine Wolke oder besser gesagt wie ein Feld von Magnetimpulsen«.23 Leichtigkeit stehe dabei in enger Verbindung mit dem Komischen: »Wie Melancholie die leicht gewordene Traurigkeit ist, so ist der Humor das Komische, das seine körperliche Schwere verloren hat«24. Somit sind Humor und Melancholie für Calvino eng miteinander verbunden.25 Welches Potenzial diese Leichtigkeit und das Komische für den vorliegenden Roman haben, soll im Folgenden näher erläutert werden.

21 Calvino, Italo: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard Vorlesungen. Frankfurt/Main: S. Fischer 2012, S. 13ff. 22 Ebd., S. 23. 23 Ebd., S. 30. 24 Ebd., S. 35. 25 An dieser Stelle bliebe zu diskutieren, ob nicht Lypp mit ihrem Aufsatz »Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur« (Lypp, Maria: Die Kunst des Einfachen in der Kinderliteratur. In: Taschenbuch der Kinder- und Jungendliteratur. Hrsg. von Günter Lange. Balt-

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4.

Nicola König

Jenseits der Schwere – eine Komik der zarten Normverletzung

Die bisher skizzierten narratologischen Aufstörungen sind dazu geeignet, die Leser*innen nachhaltig zu verunsichern. Komik bildet in diesem Zusammenhang sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der des discours eine Klammer, die der Disruption entgegenwirkt. Die Leichtigkeit ist es, die die der Komik inhärenten Normverletzungen und Kontextverschiebungen ertragbar macht und dafür sorgt, dass dem Roman ein pädagogisierender Ansatz fehlt. Wie Komik in dem Roman funktioniert, soll an einigen Textbeispielen verdeutlicht werden: »Fahnenappell In der Schule lernten wir viele Dinge über die Welt und wie es den Kindern in anderen Ländern und Zeiten erging. Obwohl es schon sehr lange her war, dass eine schreckliche Bombe die ganze Stadt und fast alle Menschen darin vernichtet hatte, gab es in Hiroshima immer noch Kinder, die sterbenskrank waren. Ängstlich marschierten wir in Zweierreihen zu einem Keller im Neubaugebiet. Das war eine Schutzübung. Damit wir lernten, was bei Bombenalarm zu tun sei. Bereits auf dem Weg in den Schutzraum mussten wir unsere Masken aufsetzen. Die waren selbst gebastelt, aus alten Nylonstrumpfhosen und rochen nach den Füßen unserer Mütter, die diese Spende nur unter starkem Protest geopfert hatten. Dicht gedrängt standen wir in diesem Keller und einige weinten, was sicher auch am Geruch ihrer Masken lag. Nur Mike Lehmann hatte Glück. Er war die ganze Zeit im Klassenzimmer geblieben. Seine Mutter hatte vergessen, ihm eine Strumpfhose mitzugeben« (Präkels, 23).

Die Erzählerin nimmt hier eine doppelte Brechung vor: Um die Relevanz der Schutzübung ermessen zu können, müssen Mimi und ihre Mitschüler*innen mit den Ereignissen von Hiroshima konfrontiert werden. Die Leser*innen aber benötigen zusätzlich zu einem historischen Wissen noch eine DDR-Perspektivierung und -Kontextualisierung, die im vorliegenden Textbeispiel eine Kenntnis der Warenknappheit und die Fixierung auf Westprodukte impliziert. Aber auch ohne dieses Hintergrundwissen erzeugt die Textstelle eine altersübergreifende Situationskomik, die hier vor allem durch die Kontextverschiebung26 entsteht: von den Beinen und Füßen der Mütter in die Gesichter der Heranwachsenden zum Schutz vor dem westlichen Imperialismus. Die Fremdbestimmung der Einzelnen, Teil eines totalitären Regimes zu sein, wird aufgelöst in der Lächerlichkeit der Situation. Das Lachen stellt somit – und sei es in der historischen Erinnerung – eine Befreiung vom totalitären System dar. Damit funktioniert

mannsweiler: Schneider 2002. Bd. 2, S. 828–843) ein ähnliches Konzept des Komischen verfolgt wie Calvino. 26 Vgl. Czech, Gabriele: Komik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. In: ebd., S. 862–887, hier: S. 865ff.

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Komik hier auf unterschiedlichen Ebenen und spricht unterschiedliche – in Bezug auf das Alter und das historische Wissen – Leser*innen an. Auf die Frage, ob Komik im Roman auch für Jugendliche funktioniert, die die DDR nicht mehr miterlebt haben, antwortet Präkels: »Die Jüngeren lachen zum Teil an ganz anderen Stellen, wie ich bei Schülerlesungen feststellen konnte. Für sie ergibt sich Komik mitunter gerade aus dem Nichtbegreifen. Gorbatschow – das ist für viele Schülerinnen und Schüler nur eine Wodkamarke. So wird leicht aus einem Missverständnis ein Gesprächsangebot. Manches erscheint den Jugendlichen auch gruseliger, als ich es mir vorstellen kann. Das Fach Wehrerziehung zum Beispiel und die Tatsache, dass ich Schießen gelernt habe. Daraus ergeben sich die interessantesten Gespräche. Was ist eigentlich ›normal‹? Ansonsten gibt es im Buch auch einen Grundbestand an Mutterwitz, der eben funktioniert oder nicht. Wann und wo bleibt auch für mich oft überraschend.«

Lachen über Literatur impliziert, dass eine bestehende Ordnung durchbrochen und Normen hinterfragt bzw. verletzt werden. Dabei gilt: Etwas kann nur aus dem Rahmen fallen, »wenn die Normen, Ordnungen, Daseinsverfassungen und Sinngebungen mitbetroffen sind.«27 Damit Komik ihre Wirkung entfalten kann, müssen Leser*innen diese Norm(en) mitdenken, um die Überschreitungen wahrzunehmen. Eine Normwidrigkeit denkt demnach ihre Norm, eine Unangemessenheit ihre Angemessenheit, ein Unsinn seinen Sinn mit. Nur wenn die Leser*innen die jeweiligen Normen kennen oder zumindest erahnen, können die Überschreitungen wahrgenommen werden. Im Umkehrschluss bedeutet dies vor allem für Autor*innen der KJL, dass sie antizipieren müssen, mit welchen Normen ihre Adressat*innen bereits vertraut sind. Besonders für Kinderbücher gilt: Soll über Normverletzungen gelacht werden, ist es grundlegend, dass diese nicht bedrohlich sind, d. h. dass es nur zu einer zeitlich eingeschränkten Verletzung kommt und am Ende die Ordnung wiederhergestellt wird. Das impliziert auch, dass Tabuverletzung für den Fortgang der Handlung und die Entwicklung der Protagonist*innen meist folgenlos bleiben und dass das »Lächerliche […] nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler [ist], der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht […]«28. Weder für Jugend-, All-Age- noch Erwachsenenliteratur jedoch kann diese Harmlosigkeit noch angenommen werden.29 Bereits die dem Roman vorangestellte Widmung für zwei Wegbegleiter der 27 Preisendanz, Wolfgang: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung von Geschichtserfahrung in deutschen Romanen unserer Zeit. In: Das Komische. Poetik und Hermeneutik VII. Hrsg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning, München: Wilhelm Fink 1976, S. 160. 28 Aristoteles: Poetik. Aus dem Griechischen und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1994, S. 17. 29 Dies zeigt sich u. a. in der Tatsache, dass auch in der All-Age-Literatur zunehmend lebensbedrohliche Krankheiten thematisiert werden (vgl. König, Nicola: Zur narrativen Architektur

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Autorin, die infolge rechtsradikaler Ausschreitungen gestorben sind, weist darauf hin, dass es sich im Roman nicht um folgenlose Normverletzungen handelt. Komik nimmt hier zunehmend eine Entlastungsfunktion ein. Im Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« entstehen komische Momente vor allem dann, wenn verschiedene Systeme aufeinandertreffen und einander kontrastieren: So endet die erste richtige Reise von Mimi und ihrer Familie nach der Maueröffnung in den Westen nach Hamburg mit einem Würgen: Das Konsumierte verlässt die Konsumierenden auf der Elbe. »Wie von Sinnen verschlangen die Menschen im Inneren des Butterfahrt-Kutters ihr üppiges Frühstück. Omi wurde als Erster blümerant, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. […] An allen Plätzen kotzten die Menschen das schöne Essen wieder aus« (Präkels, 88f.).

Die hohen Erwartungen an die Freiheiten und Möglichkeiten des Westens werden durch die körperliche Fremdbestimmung und Unkontrollierbarkeit relativiert und konterkariert. Ähnlich verhält es sich mit den Erfahrungen mit dem Westgeld: »Westgeld. Die Schaufenster waren zu klein geworden. Dabei waren sie eben noch ganz leer gewesen. Berauscht standen die Menschen vor den Läden. Es schien, als hätten sich alle Verheißungen der Werbung direkt in die Regale ergossen. Die aktuellen Modelle der Ost-Stereorekorder waren, ebenso wie ihre Besitzer, dem Gelächter der Leute vor dem Rundfunkgeschäft hilflos ausgeliefert. Schon nach wenigen Wochen wurden die Restbestände ohne Unterschied verramscht. Ulli war untröstlich. Noch zu Jahresbeginn hatte sie für den Rekorder ihre gesamte Jugendweihekasse geopfert. Das durfte man jetzt keinem mehr erzählen« (Präkels, 101).

Auch hier öffnet sich durch einen einzigen Begriff ein ganzes semantisches Feld, das von Oppositionen gekennzeichnet ist. Es kann mit und über die Bewohner*innen der nun ehemaligen DDR gelacht werden und die Leser*innen müssen sich entscheiden, ob sie sich diesem Lachen anschließen oder hier bereits im Sinne Calvinos eine Melancholie vorliegt. Komische Passagen erlauben somit unterschiedliche Lesarten: Neben dem eher passiven Konsumieren und dem Unterhaltenwerden fordert Komik in den meisten Fällen eine aktive Auseinandersetzung mit den Aspekten der Fremdbestimmung und der Normverletzung, mit dem Abweichenden, dem Aus-dem-Rahmen-Fallenden, dem Ausgegrenzten und Fragwürdigen.30 Die Leser*innen müssen eine ungewohnte, veränderte einer Krankheit: Krebs als Bestseller. In: Krankheit erzählen: Texte der Gegenwartsliteratur und Perspektiven für den Literaturunterricht. Beiträge zur Didaktik der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Jan Standke und Dieter Wrobel. Trier: WVT 2019, S. 157–170). 30 Dass sprachliches Handeln in der Regel normgeleitet ist und vor allem Sprachspiele oder Abweichungen überraschen und Komik erzeugen, soll an dieser Stelle nicht näher vertieft werden.

An den Grenzen des Sagbaren oder zur Abwesenheit des Didaktischen

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Blickrichtung einnehmen. Auf die Frage, inwieweit beim Schreiben die Kategorien der Auf- und Verstörung eine Bedeutung einnehmen, antwortet Präkels: »Ich habe bei der Generation meiner Mutter die Riesenenttäuschung erlebt: Zunächst zögernd, bewegten sich die meisten doch – nicht nur gezwungenermaßen – in großer Offenheit auf das westdeutsche Gegenüber zu, um von diesem vorwiegend Unkenntnis, Ignoranz und Desinteresse entgegengebracht zu bekommen. Ich gehöre nun einer ›unverdächtigen‹ Generation an. Bei Mauerfall war ich 15. Stasiverstrickungen oder Systemtreue werden da nicht vorausgesetzt, meine Zeit als Funktionärin bei Pionieren und FDJ wird als Kinderkram toleriert. Und Geschichten von verführten Jugendlichen – erst die Kommunisten, dann die Neonazis – passen ganz gut zum Klischee eines rückständigen Ostens. Faktisch erlebe ich eine, von den gesellschaftlichen Erschütterungen der vergangenen Jahre ausgelöste, größere Offenheit mir und meinen Schilderungen gegenüber. Für mich weiterhin verstörend ist das Ausmaß an Unkenntnis gegenüber den konkreten Lebensverhältnissen vor, während und nach Zusammenbruch der DDR. Beim Schreiben selbst habe ich eher den Impuls verspürt, die zahlreichen Facetten der sozialen Katastrophe im implodierenden Mikrokosmos meiner Protagonistin anzuleuchten. Da liegt weiterhin zuviel im Dunkel.«31

5.

Zur Abwesenheit des Didaktischen – Fazit

Der Roman »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« widersetzt sich sowohl einer eindeutigen Adressierung als auch einer simplifizierenden Botschaft. Es geht weniger um die Erklärung der Welt, sondern um ihre Beobachtung und genaue Beschreibung: »Die Leute auf der Straße hatten sich verändert. Kam etwas aus ihrem Inneren zum Vorschein, das zuvor verborgen geblieben war? Waren tatsächlich die Körperfresser gelandet? Wahrscheinlich trugen die meisten nur anderer Kleider, schließlich hatte der Westen nun die Versorgung übernommen« (Präkels, 94).

Stattdessen präsentiert Manja Präkels den Lesenden komplexe, polyvalente Figuren: »Ich fühlte mich von den Randexistenzen angezogen« (Präkels, 71), merkt Mimi an. Weder die Elterngeneration noch das System bilden eine Ordnung und Orientierung stiftende Instanz. Spielt für die Autorin die persönliche wie politische Selbstverortung eine zentrale Rolle, so bewegt sich die Selbstkonstruktion der Erzählerin zwischen Erinnerung und Realität; das Schreiben selbst oszilliert zwischen journalistischer Bestandsaufnahme, Autofiktion und Fiktion. Das Zusammenspiel der historisch-politischen Darstellung aus der Perspektive der heranwachsenden Erzählerin Mimi verbindet Merkmale eines Comingof-Age- mit einem historischen Roman. Die überwiegend homodiegetische Er31 Vgl. Anm. 14.

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Nicola König

zählweise erzeugt dabei ein hohes Potenzial an Identifikationsmöglichkeiten, die autopoetischen Elemente Authentizität und Glaubwürdigkeit. Die journalistische Herkunft der Autorin erlaubt einen präzisen Blick auf historische Ereignisse und ebnet den Weg für eine politische Diskussion, die u. a. durch Preisverleihungen und die dadurch hergestellte breite Öffentlichkeit und Rezeption eine politisch ausgerichtete Lesart befördert hat. Die aufgezeigten narratologischen Störungen jedoch, die Bedeutung des Leichten und der Komik aber erzeugen Mehrstimmigkeit und Polyvalenzen, die über ein journalistisches und autofiktionales Schreiben hinausreichen. Dafür verantwortlich sind auch die ambivalente Beziehung der Erzählerin zu Oliver bzw. Hitler sowie die wenig eindeutige Rolle der Eltern und weiterer Autoritätspersonen zum Rassismus und zur Gewalt. Mit den entstehenden Leerstellen müssen sich die Lesenden während der Lektüre auseinandersetzen. Eine poetische Überformtheit erzeugt dabei eine Distanz zur Handlung: Mehrstimmigkeiten und intertextuelle Verweise erfordern von den Leser*innen einen beständigen Perspektivwechsel und, damit verbunden, ein Hinterfragen der eigenen Rezeption. Eine Entlastung – nicht nur für die heranwachsenden Leser*innen – ermöglicht dabei die Komik: Während humanistische Normen u. a. durch die Gewaltexzesse der Rechtsradikalen verletzt werden, bietet Komik den Rezipient*innen eine kurzzeitige Entlastung »von einer Parodoxie der Aufmerksamkeit«32 und der Betroffenheit. Das Lachen als Reaktion des Körpers33 befreit wenigstens für einen Moment von der Schwere und Tragweite des Dargestellten und erlaubt eine Distanzierung. Besonders die komischen Passagen und die poetologische Überformtheit der histoire sorgen dafür, dass der Roman auf eine didaktische Einflussnahme und eine eindimensionale Ursachenzuschreibung verzichtet. Die Komplexität auf den Ebenen der histoire und des discours macht den Roman generationsübergreifend interessant. Die Kategorisierung als All-Age-Roman scheint in diesem Zusammenhang überholt. Auf die Frage, ob es beim Schreiben etwas gibt, das sich tatsächlich als kinder- und jugendbuchspezifisch beschreiben lässt, oder ob diese Kategorisierung überholt ist, antwortet Präkels: »Wesentlich erscheint mir, dass ich mein Gegenüber ernst nehme. So lächerlich es ist, das Feld der Kinder- und Jugendliteratur irgendwo an den Rand, ins Abseits, in einen Bereich geringerer Wertschätzung zu schieben, so lächerlich wäre es andererseits, ein Buch für Kinder zu schreiben, das deren Bedürfnisse, etwa nach Respekt und Toleranz, nicht ernst nimmt, oder ihnen gar den Raum für eigene Interpretation verengt.«34

32 Stierle, Karlheinz: Komik der Handlung, Komik der Sprachhandlung, Komik der Komödie. In: Preisendanz/Warning, Das Komische. 1976, S. 250. 33 Vgl. Plessner, Helmuth: Ambivalenz und exzentrische Position. In: Texte zur Theorie der Komik. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Stuttgart: Reclam 2017, S. 108ff. 34 Vgl. Anm. 14.

José Fernández Pérez

Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch am Beispiel von Francesca Sannas »Die Flucht« (2016) und Jose Manuel Mateos »Migrar. Weggehen« (2011)

1.

Einleitung

Fokussiert man Literatur auf ihr Potenzial »als ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften«1, wird deutlich, dass sie eine entscheidende Funktion auch bei der Sozialisation von Heranwachsenden spielen kann. Zusätzlich kann erwähnt werden, dass die Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart tendenziell sogar schneller auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen und die damit zusammenhängenden Herausforderungen reagiert, als dies von Seiten der Allgemeinliteratur erfolgt. Die Aktualität zeitkritischer KJL wird evident an der großen Zahl von Texten, die in den letzten Jahren den Themenkomplex Flucht und Migration zur Darstellung bringen.2 Im Medium Bilderbuch finden wir zahlreiche Darstellungen, bei denen unterschiedliche Facetten der Migrationserfahrung thematisiert werden. Von Kinderporträts, von Heimatgeschichten, von der Ankunftserfahrung, vom Umgang mit der Andersartigkeit von Menschen und Kulturen handeln diese Texte, jedoch überwiegen Fluchterzählungen, die mit einer Kriegssituation, meistens Syrien, verknüpft sind. Im Folgenden geht es darum, das Erzählmedium Bilderbuch hinsichtlich seiner besonderen Erzählweise zu präsentieren und diese kurz in einem aktuellen Mediendiskurs zu verorten. In einem weiteren Schritt soll anhand der Bilderbücher »Die Flucht« (2016) von Francesca Sanna und »Migrar. Weggehen« (2011) von Jose Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro der Frage nachgegangen werden, wie die Flucht- und Migrationserfahrung literarisch konfiguriert wird. 1 Hartmut Böhme, zit. nach Gansel, Carsten/Herrmann, Elisabeth (Hrsg.): »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen. In: Dies. (Hrsg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013, S. 7–21, hier: S. 17. 2 Vgl. Der Deutschunterricht 1/2018; Wrobel, Dieter/Mikota, Jana (Hrsg.): Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht Bd. 1: Primarstufe und Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2017; Dies. (Hrsg.): Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht Bd. 2: Sekundarstufe I und II. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren 2017.

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2.

José Fernández Pérez

Zum Bilderbuch im aktuellen Mediendiskurs

Wer der zunehmenden Bedeutung visueller Kommunikation in der heutigen Mediengesellschaft, in der Bilder als gleichberechtigte Informationsträger agieren, gerecht werden möchte, darf Literarizität nicht nur auf schriftsprachliche Formen reduzieren,3 sondern muss auch Ausprägungen und Genres der Bildliteralität berücksichtigen. Im digitalen Zeitalter werden einerseits zunehmend vielfältige Bild-Text-Formate genutzt, um alltägliche Kommunikationsprozesse zu gestalten. So bestätigt die aktuelle JIM-Studie einmal mehr, dass Jugendliche inzwischen überwiegend über soziale Netzwerke wie WhatsApp, Snapchat und Instagram kommunizieren, und zwar indem sie regelmäßig Bilder bzw. Bilder mit Texten posten.4 Andererseits gewinnen auf dem Buchmarkt literarische Formen wie die Graphic Novel und das postmoderne Bilderbuch an Bedeutung und Popularität und sind auch für den erwachsenen Leser interessant. Für den Umgang mit Bilderbüchern bedeutet dies zum einen, dass man grundsätzlich anerkennt, dass die piktorale Ebene des Textes als gleichberechtigtes Zeichensystem agiert und zusammen bzw. im Dialog mit dem Schrifttext eine narrative Funktion übernimmt. In der Fachliteratur gibt es unterschiedliche Ansätze, mit denen die ästhetische und narratologische Dimension des Mediums erfasst werden soll.5 Alle Modelle berücksichtigen auf der Ebene der ›histoire‹ die Frage: Was wird im Bild- und Schrifttext erzählt? Und auf der Ebene des ›discours‹: Wie wird es im Bild- und Schrifttext dargestellt? Michael Staiger plädiert für den Einsatz eines fünfdimensionalen Modells, bei dem erstens die narrative, zweitens die bildliche, drittens die verbale, viertens die paratextuelle und fünftens die intermodale Dimension, bei der die Wechselbeziehung zwischen Text und Bild im Zentrum steht, berücksichtigt werden. Angelehnt an diesem 5-Dimensionen-Modell soll es im Anschluss darum gehen, ansatzweise eine narratoästhetische Analyse ausgewählter Bilderbücher durchzuführen, die Migration mit ihren unterschiedlichen Facetten zum Gegenstand der Darstellung haben.

3 Vgl. Duncker, Ludwig/Lieber, Gabriele: Bildliteralität und Ästhetische Alphabetisierung. München 2013, S. 23f. 4 Vgl. JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien, hier: S. 39ff. In: (letzter Zugriff: 03. 06.2021). 5 Vgl. Staiger, Michael: Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. Ein fünfdimensionales Modell der Bilderbuchanalyse. In: BilderBücher Band 1: Theorie (Deutschdidaktik für die Primarstufe). Hrsg. von Julia Knopf und Ulf Abraham. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2014, S. 12–23; Kurwinkel, Tobias: Bilderbuchanalyse. Narrativik – Ästhetik – Didaktik. Tübingen: A. Francke 2017, hier: S. 47–175.

Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch

3.

297

Francesca Sannas Bilderbuch »Die Flucht«

Francesca Sanna hat als Autorin und Illustratorin mit »Die Flucht«6 ein »problemorientiertes Bilderbuch«7 vorgelegt, mit dem sie die Thematik der aktuellen Fluchtbewegungen aufgreift. Der Text erzählt mittels einer kindlichen Ich-Erzählinstanz die Geschichte einer Familie, die den Krieg als einen einschneidenden Moment mit unvorhersehbaren Folgen erlebt. Die Lokalisierung des Konflikts bleibt sehr vage, lässt sich jedoch aufgrund der auf der piktoralen Ebene knapp vermittelten Informationen in Syrien verorten. Der Leser wird gleich zu Beginn anhand einer Analepse mit dem Tod des Vaters konfrontiert. Auf visueller Ebene wird die Tragik der Situation durch die Farbsymbolik angekündigt. Durch das zunehmende Ausmaß der schwarzen Farbe wird die tragische Dimension des Krieges symbolisiert. Auf der Schrifttextebene werden das eingetretene Chaos und der Tod des Vaters kurz angekündigt. »Eines Tages nahm der Krieg uns Papa weg« (DF, 8), erzählt die kindliche Erzählinstanz verstört und ist für den Rezipienten als deutliches Signal ihrer Sprachlosigkeit und emotionalen Überforderung zu verstehen. Die durch den Krieg eingetretene Zerstörung und die damit zusammenhängenden Emotionen des Ich-Erzählers werden auf der visuellen Ebene mittels einer bildlichen Erzählinstanz präsentiert, die über eine Nullfokalisierung verfügt. Verzweiflung, Ohnmacht, Panik, Unsicherheit und Haltlosigkeit werden für den Rezipienten anhand der Fluchtbewegung der Protagonisten, anhand der Zerstörung des Erholungsraums »Strand« und anhand einer schwarzen, um sich greifenden Figur, die symbolisch den Krieg repräsentiert, sichtbar und erfassbar. Nach dem Eintritt des Krieges beginnt die Fluchtreise der dezimierten Familie durch mehrere Etappen. Hierbei müssen sie mehrere Hindernisse überwinden, wie z. B. abweisende Grenzschutzkontrollen und eine gefährliche Seereise. Der Text endet mit der Zukunftsvision, »[i]n einer neuen Heimat« (DF, 42) sicher und frei leben zu können.

6 Sanna, Francesca: Die Flucht. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Bodmer. Zürich: NordSüd Verlag 2016. Englische Originalfassung: »The Journey«. London 2016 [im Folgenden unter der Sigle »DF« mit Seitenzahl im Text]. 7 Zur Besonderheit des problemorientierten Bilderbuchs siehe Hollstein, Gudrun/Sonnenmoser, Marion: Werkstatt Bilderbuch. Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010, S. 68.

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José Fernández Pérez

Abb. 1: Eintritt des Krieges.

3.1.

Zur intermodalen Dimension

Das dialogische Verhältnis von Text und Bild ist kennzeichnend für das Erzählen im Bilderbuch. Um der Narrativität des Mediums Bilderbuch gerecht zu werden, plädiert Michael Staiger für eine »zweiteilige Modellierung der Erzählinstanz«, die eine bildliche und eine verbalsprachliche Erzählinstanz impliziert.8 Das Wechselspiel beider Erzählinstanzen kann gezielt analysiert werden, etwa um Aspekte des multiperspektivischen Erzählens herauszuarbeiten. Im vorliegenden Fall variiert das Zusammenspiel beider Zeichensysteme im Verlauf der Geschichte von einer symmetrischen Interdependenz bis hin zu komplexeren kontrapunktischen Wechselbeziehungen. Überwiegend kann von einer Anreicherung der Schrifttextebene durch die bildliche Darstellung gesprochen werden. Die Illustratorin verdeutlicht mit ihren Zeichnungen die Gefühlslage und das Handeln der unterschiedlichen Protagonisten. »Doch Mama ist ja da, und sie hat nie Angst« (DF, 27), konstatiert die kindliche Erzählinstanz auf der Schrifttextebene. Nach Außen bleibt die Mutter standhaft und in der Flucht agiert sie immer als Rettungsanker und Zuflucht für ihre Kinder. Dementsprechend fühlen sie sich bei ihr geborgen und geschützt vor der bedrohlichen Umwelt. Im Schutz der Nacht offenbart die Mutter ihr wahres Empfinden und verdeutlicht die Tragik ihrer Situation: Dem Druck ausgesetzt, allein verantwortlich für das Überleben der Familie zu sein, kann sich die Mutter, aus ihrem vertrauten Umfeld gerissen, keinen Moment der Schwäche erlauben. Im Widerspruch dazu wird auf der visuellen Ebene die Mutter ganz anders präsentiert. Ihre Körperhaltung erinnert ikonisch an die Figur Marias. Ihre Tränen zeigen den Schmerz, die Angst und die Sorge um ihre Kinder, die sie beschützend umklammert.

8 Vgl. Staiger, Erzählen mit Bild-Schrifttext-Kombinationen. 2014, S. 16f.

Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch

299

Abb. 2: Fluchterfahrung mit einer multiperspektivischen Darstellung.

Die Gesamtkomposition von Bild und Text offeriert durch das Zusammenspiel der Sprecherperspektive des kindlichen Erzählers und der Wahrnehmungsperspektive einer außenstehenden Instanz auf der visuellen Ebene also eine komplexe Erzählsituation, die unter anderem zu einer differenzierten Charakterisierung der Figuren und ihrer Lebenssituation beiträgt. Betrachtet man die Komposition der Doppelseite genauer, erkennt man, dass die bildliche Erzählinstanz die Möglichkeit hat, zweimal den gleichen Raum abzubilden, jedoch im Bewusstsein unterschiedlicher Figuren. Auf der linken Seite wird der Wald aus der Perspektive des Kindes dargestellt. Die Geräusche des Waldes versetzen die kindliche Erzählinstanz in Angst – daher ist auf diesem Bild die Umgebung in kontrastreichen Farben gestaltet, so dass der aufwühlende Gefühlszustand des Kindes sichtbar wird. Das Kind fühlt sich jedoch im Arm der Mutter geborgen – die schwarzen, langen Haare und die Arme der Mutter bilden aus Sicht des Kindes einen Schutz vor der unruhigen Umgebung des Waldes. Auf der rechten Bildseite schlafen die Kinder bereits, nur die Mutter ist noch wach. Jetzt wird der Wald aus der angsterfüllten und von Sorgen geplagten Perspektive der Mutter gezeigt: viele schwarze Ungeheuer mit roten Augen und Händen, die nach ihnen greifen, werden erkennbar. Die Kontraste verwischen sich und es entsteht eine Parallelität zur Situation am Strand, um zu signalisieren, dass die Gefahren immer wiederkehren. Hier zeigt sich das darstellerische Potenzial des Mediums Bilderbuch, simultan mit zwei narrativen Modi zu operieren, dadurch in gewisser Weise die Mehrdimensionalität der erzählten Welten zu signalisieren und über die Medienkombination für die Rezeption herausfordernde ästhetische Momente und Irritationen zu erzeugen. Die komplex gestaltete Interdependenz von Text und Bild sowie die bei der Gestaltung des diegetischen Raums und der Figuren eingesetzten Farben, die als »Ausdrucksfarben«9 die Gefühle der Protagonisten und die Stimmung der 9 Kurwinkel, Bilderbuchanalyse. 2017, S. 138.

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José Fernández Pérez

Abb. 3: Dynamische Flucht.

Räume verdeutlichen, entfalten ein interessantes ästhetisches Potential. Auch Heidi Rösch betont das Potenzial der codierten bildlichen Elemente in Sannas Bilderbuch, die »Freiräume für die Rezeption und Deutung«10 des Textes schaffen. Dieses Potenzial sollte vordergründlich wahrgenommen werden, damit der Text nicht auf eine problemorientierte Darstellung reduziert wird. Rösch verweist exemplarisch auf den Einsatz der schwarzen Farbe, die den Bedrohungscharakter des Krieges und der Fluchtsituation verdeutlicht, und auf die Metapher der fliegenden Vögel, die an mehreren Stellen im Text für »grenzenlose Freiheit« stehen und einen Kontrast zur Fluchtsituation der Protagonisten darstellen. Vergleicht man einzelne Bilder miteinander, erkennt man bezüglich der Linienführung eine bewusste Strategie, um Stimmungen zu vermitteln und Handlungsräume unterschiedlich zu bestimmen. Während auf den Bildern, in denen die Flucht der Familie erzählt wird, horizontale Linien dominieren und der Eindruck einer hohen Fortbewegungsgeschwindigkeit erweckt wird (vgl. Abb. 3), findet man in den Szenen an der Grenzmauer fast ausschließlich senkrechte 10 Rösch, Heidi: Alles wird gut!? – Flucht als Thema in aktuellen Bilderbüchern für den Elementar- und Primarbereich. In: leseforum.ch 2/2018, hier: S. 8. (letzter Zugriff: 10. 04. 2019).

Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch

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Abb. 4: Hindernisse auf der Flucht.

Linien, die den plötzlichen Stillstand im Fluchtgeschehen markieren und die Unzugänglichkeit des Raums symbolisieren (vgl. Abb. 4).

3.2.

Zur Raumgestaltung

Betrachtet man den diegetischen Raum in einer differenzierten Form, dann ist Rösch mit ihrer Reflexion über die Bedeutung von ›Nicht-Orten‹ für das erzählte Geschehen zuzustimmen. Rösch argumentiert in ihrer Analyse der Orte: »Dabei kann die Migration selbst zu einem Ort der Handlung werden, die nicht mehr an einen Ort gebunden ist, sondern aus vielfachen Ortswechseln besteht, dabei Grenzen überwindet«.11 Marc Augé hat auf die Vermehrung von sinnentleerten Funktionsorten und ihre Verbindung mit der Globalisierung und den damit zusammenhängenden Prozessen aufmerksam gemacht.12 Anders als »anthropologische Orte« stiften »Nicht-Orte« demnach keine individuelle Identität und schaffen keine sozialen Beziehungen, sondern fördern Anonymität, Einsamkeit

11 Ebd., S. 2. 12 Vgl. Augé, Marc: Nicht-Orte. München: C. H. Beck 2012, S. 81–114.

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und Entwurzelung.13 Augé bezeichnet Räume der Durchreise als den »Archetypus des Nicht-Ortes«14. Die Tatsache, dass Sannas Text im Original »The Journey« heißt, markiert die Bedeutung von Transiträumen als existenzielle Lebenserfahrung. Lars Wilhelmer stellt fest, dass die Moderne ohne solche Räume kaum denkbar sei. Im Zuge der Globalisierung und im Kontext von Migrationsbewegungen gewinnen Orte wie Bahnsteige, Zugabteile, Häfen oder Grenzübergänge, die sich primär durch ihre Anonymität, Bewegung und zeitliche Limitierung des Aufenthalts auszeichnen, eine wichtige Bedeutung, um die Migrations- und Fluchterfahrung fassbar zu machen.15 Blickt man genauer auf Sannas »Die Flucht«, lässt sich anhand der dort geschilderten Flucht-Etappen der Familie Folgendes zum diegetischen Raum festhalten: Der Ausgangsort der Handlung, der Erholungsraum »Strand«, wandelt sich von einem anthropologischen Ort im Sinne Augés, in dem die Familie in einem vertrauten Umfeld sich in der Freizeit erholt und friedlich sozial interagiert, zu einem provisorischen Transit- und zu einem Hoffnungsort, um über das Meer dem Krieg zu entkommen und einen Ausweg zu finden. Diese dynamische Veränderung des Raums korrespondiert mit der Entwicklung der Figuren. Das Meer kann vor allem durch die im Nachwort gelieferte Information als das Mittelmeer konkretisiert werden. Das Ziel der Reise wird symbolisch durch eine verschneite Berglandschaft präsentiert, die im Kontrast zu dem dunklen Kriegsschauplatz steht. Als kontrastierender Raum zum gegenwärtigen Ort der Bedrohung erscheint die verschneite Landschaft als eine Zukunftsvision bzw. als eine Wunschveränderung für einen Neubeginn, also für eine neue Zukunft nach überstandener Krise. Die Grenzanlage entspricht einem symbolischen Raum, der für die Festung Europa bzw. für die Abschottung Europas gegen Schutzsuchende steht (vgl. Abb. 4). Aus der Perspektive des kindlichen Erzählers erscheint sie als eine kaum überwindbare Hürde, die den Weg in die Freiheit versperrt: »Die Grenze ist eine Riesenmauer, wie ein gewaltiges Tor« (DF, 23). Die kontrastierende Größe der abgebildeten Figuren offenbart die Ohnmacht der Flüchtlinge gegenüber den überdimensionierten Grenzwächtern, die ihre Macht gnadenlos ausüben. Ohne sich auf die Zusammenarbeit mit Schleppern einzulassen, besteht für sie keine Chance, diese Mauer zu überwinden, zumal das gewaltige Tor, wie das Kind ernüchternd feststellt, nicht aufgeht. Das Meer erscheint aus der Perspektive des kindlichen Erzählers als eine weitere unüberwindbare Hürde auf dem Weg zur Freiheit: »Wie sollen wir das 13 Ebd., S. 96, 104. 14 Ebd., S. 90. 15 Vgl. Wilhelmer, Lars: Transit-Orte in der Literatur. Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen. Bielefeld: transcript 2015, S. 8.

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schaffen?« (DF, 33) Es ist ein Raum, aufgeladen mit phantastischen Elementen wie »schrecklichen und gefährlichen Ungeheuern« (DF, 35), in dem die Menschen in einem wild schwankenden Boot unendlich lang unterwegs sind und um ihr Leben fürchten. Die dunklen Farben auf der piktoralen Ebene untermalen die Atmosphäre des Bösen, die gezeichneten Wellenbewegungen betonen die Dynamik und Haltlosigkeit der Situation und konstruieren einen kontrastierenden Raum zu dem vom Kind erwünschten Endziel, einem Raum voller grüner Wälder, das heißt einem Raum der Hoffnung, in dem mit Unterstützung von »freundliche[n] Feen« der Krieg beendet werden kann und aus der Perspektive des Kindes eine Lösung des Konflikts phantasiert wird. Die Eisenbahn als Transitraum: Eine weitere Etappe der Flucht wird durch eine Eisenbahnfahrt präsentiert. Angesichts der bildlich dargestellten Dynamik wird der transitorische Moment hervorgehoben. Augé weist darauf hin, dass im Zuge der Modernisierung und mit der Steigerung der Reisegeschwindigkeit es unmöglich wird, einen Reiseraum, der mit den durchreisten Orten verbunden ist, zu bilden.16 In diesem Sinne äußert sich auch Lars Wilhelmer und macht die Dynamik und Gradlinigkeit der Bahnreise verantwortlich für den Eindruck der Ortlosigkeit, mit dem Reisende konfrontiert werden.17 Dieser Eindruck wird durch den Bericht des kindlichen Erzählers bestätigt: »Wir fahren tage- und nächtelang und überqueren viele Grenzen« (DF, 40). Auf der visuellen Ebene wird zum einen eine Landschaft ohne Konturen sichtbar, bei der dem dynamischen Moment durch die Bewegung der Pflanzen zusätzlich Nachdruck verliehen wird. Zum anderen wird durch die Haltung der Zugpassagiere sichtbar, wie jeder Reisende im Zug seine Anonymität zu wahren versucht. Die hier anhand der diegetischen Räume analysierten Gefühle des Transitorischen und der Ortlosigkeit sind wichtige Facetten der Migrationserfahrung, die Flüchtlinge häufig als Dauerzustand erleben. Ebenso gehört dazu die Sehnsucht nach einer neuen Heimat, nach der Überwindung dieser Ortlosigkeit und nach einem Leben in Freiheit und Sicherheit, die symbolisch durch die fliegenden Vögel abgebildet wird. Anhand der erläuterten Räume zeigt sich, wie die Verallgemeinerbarkeit dieser Fluchtgeschichte durch die komplexe Raumdarstellung und den Einbezug visueller Elemente ermöglicht wird. Sannas Bilderbuch leistet dadurch beim Rezipienten »einen subjektivierten Wissenszuwachs durch emotionales Miterleben«18 und einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung. Wie am Anfang erwähnt, überwiegen bei den Neuerscheinungen seit 2015 Bilderbücher, die das Thema Flucht im Kontext des Krieges einordnen. Das 16 Vgl. Augé, Nicht-Orte. 2012, S. 100. 17 Vgl. Wilhelmer, Transit-Orte in der Literatur. 2015, S. 100. 18 Wintersteiner, Werner: Wie ein Stück Brot. Kinder- und Jugendliteratur und Politische Bildung. In: kjl&m 19/2. München: Kopaed, S. 3–12, hier: S. 8.

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Phänomen der Migration ist jedoch eine globale Entwicklung, die nicht nur mit Krieg und soziopolitischen Konflikten zusammenhängen muss, sondern auch durch demographische, wirtschaftliche oder umweltbedingte Faktoren verursacht werden kann. Bei dieser Dominanz der Kriegsdarstellungen besteht die Gefahr einer einseitigen Darstellung, die andere Ursachen wie Armut, Umweltkatastrophen, Diskriminierung und Verfolgung aufgrund der eigenen politischen Meinung, Religion oder sexueller Identität nicht genügend berücksichtigt. Hier stellt sich demzufolge die Frage, inwiefern die mimetische Relation, bei der die Beziehung Werk–Realität in den Fokus rückt, im Subsystem KJL bei der Darstellung von Migration umgesetzt wird. Zu einer Abbildung der »wirklichen Wirklichkeit« gehört eine ausgewogene Darstellung der vielfältigen Migrationsursachen, die den kindlichen Lesern einen differenzierten Einblick in das Phänomen der Migration ermöglicht. Dafür können weitere Bilderbücher wie »Migrando« (2010) der Argentinierin Mariana Chiesa Mateos oder »Migrar. Weggehen« (2015) der Mexikaner José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro vergleichend herangezogen werden, denn sie legen den Fokus auf andere Migrationsursachen.19 Eine Erweiterung aus historischer Perspektive, z. B. mit Blick auf die jüngere Geschichte Deutschlands, Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, vermag außerdem zu einer ausgewogeneren Einschätzung als die gängigen Vorstellungen, wonach Deutschland nur ein Zielland für Migranten sei, beizutragen. Die Ergänzung durch Bilderbücher wie z. B. »Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin« der Illustratorin Pei-Yu Chang kann diese historische Perspektive einbringen und hilft zu vergegenwärtigen, dass dieses Thema in der deutschen Gesellschaft bis heute nachwirkt.20

4.

Zur Darstellung von Migration in »Migrar. Weggehen«

José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro präsentieren ein auf den ersten Blick erscheinendes Wimmelbuch, das in Form eines Leporellos kindliche und erwachsene Leser zum Entdecken einlädt. Gleichwohl handelt es sich um einen politischen Text, in dem wichtige Aspekte der Migrationsbewegung von Mittelamerika in die USA aus der kindlichen Perspektive präsentiert werden. Der kindliche Ich-Erzähler erinnert sich in Form einer Analepse an sein unbeschwertes Leben in einem ländlichen mexikanischen Dorf: »Früher habe ich zwischen Hühnern und Schweinen gespielt und bin ihnen hinterhergerannt« (Mateo/Martínez 2015). Das Kind berichtet, wie erst der Vater, dann überra19 Chiesa Mateos, Mariana: Migrando. Lisboa: Orfeu Mini 2010; Mateo, Jose Manuel/Martínez Pedro, Javier: Migrar. Weggehen. Berlin: Edition Orient 2015. 20 Chang, Pei-Yu: Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin. Zürich: NordSüd Verlag 2017.

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schend der Rest der Familie in Richtung USA aufbricht. Nach einer gefährlichen Reise mit dem Zug erreichen sie die Grenzanlage: »Dann sind wir zu Fuß weitergegangen, bis wir zu einer langen, hohen Mauer kamen« (ebd.). Unter ungeklärten Umständen gelingt es ihnen, die Mauer zu überwinden, und sie schaffen es, in Los Angeles anzukommen, wo sie in einer Unterkunft mit anderen Migranten untergebracht sind und darauf warten, arbeiten zu können und den Vater zu finden. Wie bereits erwähnt, ist eine kindliche Erzählinstanz zu beobachten. Der Kinderblick präsentiert dem Leser einen Bericht von seinem ungeheuerlichen Schicksal ohne Bitterkeit und ohne eine kritische Reflexion des Geschehens. Die dramatischen Momente, z. B. auf dem Dach der Waggons des Zuges, werden folgendermaßen kommentiert: »Es hat mir auch keinen Spaß gemacht, als ich mich verstecken musste. Jetzt war es ja auch kein Spiel mehr« (ebd.). Das Kind erkennt zwar, dass das Versteckspiel auf der (Bahn-)Reise anders als in der idyllischen Kindheit im Dorf verläuft, die Angst und die Dramatik der Zugfahrt können jedoch von der kindlichen Erzählinstanz nicht wiedergegeben werden, zumal sie nicht in der Lage ist, zu begreifen, mit welchen Gefahren diese Zugfahrt verbunden ist. Auch die Angst vor den Gefahren bei der Überwindung der Grenze können von der kindlichen Erzählinstanz nicht genau vermittelt werden und bleiben eine offene Leerstelle: »Ich hatte Angst, dass sie uns schnappen würden, denn wenn sie einen fangen, verschwindet man …« (ebd.). Um das Geschehen gesellschaftlich einzuordnen, sollen an dieser Stelle ein paar erläuternde Infos geliefert werden, die von der kindlichen Erzählinstanz nicht vermittelt werden: Jährlich wagen die Ärmsten unter den Armen, bis zu einer Million Migranten aus Zentralamerika, mit den Güterzügen die Reise Richtung Norden, den USA. »Die Bestie« oder »Der Zug des Todes«, wie die Güterzüge unter den Migranten bezeichnet und gefürchtet werden, versprechen eine schnelle und günstige Möglichkeit, nach Norden zu kommen. Die Menschen riskieren dabei, ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet zu werden. Sehr häufig überfallen örtliche Gangs und Verbrecherkartelle Auswanderer und rauben ihre Habseligkeiten. Zwar erzählt der Erzähler von Verfolgungen durch die Polizei in der Nacht, von Verhaftungen und vom Verschwinden der Menschen nach der Festnahme; die wirkliche Dimension der Gewalt und Gefahren, denen die Auswanderer auf den Weg in den Norden ausgesetzt sind, bildet aber eine Leerstelle, die der Leser im Sinne von Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik mitkonstruieren muss.21 Die Auslassungspunkte als Ellipsenzeichen können für eine Auslassung von Informationen oder für die Nachdenklichkeit des Ich-Erzählers stehen, der nicht in der Lage ist, die tragische und dramatische Dimension des alltäglichen Geschehens an der Grenze richtig einzuordnen. Viele Handlungsmomente der 21 Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München: Wilhelm Fink 1975, S. 228–252, hier: S. 235.

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gefährlichen Reise werden sowohl auf der visuellen als auch auf der verbalsprachlichen Ebene ausgelassen und fordern den Leser zu freien Assoziationen und Deutungen heraus. Auf der visuellen Ebene wird der transitorische und dynamische Moment der Reise hervorgehoben, indem die selektierten Etappen auf einem Bogen vereint erscheinen. Die pluriszenische Darstellung dient dazu, den chaotischen Zuständen und der Geschwindigkeit der parallelen Handlungen nachdrücklich Ausdruck zu verleihen. Auf der Ebene der ›histoire‹ stellen unterschiedliche Schauplätze die Stationen der Reise dar. Die Erzählung beginnt mit der Rückblende des kindlichen Erzählers, der einen idyllischen Schauplatz evoziert, wo die Menschen im Einklang mit der Natur glücklich leben und durch ihre landwirtschaftliche Arbeit ihre Existenz sichern. Im Kontrast dazu stehen die unterschiedlichen Stationen einer gefährlichen Reise, die die Mutter allein mit ihren Kindern, bedingt durch die Armut, in Kauf nimmt, um die Familie wieder zu vereinen. Mit der Zugfahrt wandelt sich auch die Landschaft; die Brunnen, die Felder, das Meer und die Palmen verschwinden, stattdessen wachsen Kakteen in der Wüste. Wie in Sannas Text greift der Illustrator auf symbolische Orte zurück, wie z. B. auf den Grenzübergang mit seiner schwer bewachten Mauer, die für die Abschottung Amerikas gegen Migranten aus ärmeren Ländern steht. Das Ziel der Reise, die Stadt Los Angeles, bildet einen kontrastierenden Raum zum idyllischen Geburtsort des kindlichen Protagonisten. Ein zubetonierter Raum, beherrscht von Autobahnen und Hochhäusern, wo die illegalen Einwanderer ständig vor den polizeilichen Kontrollen fliehen müssen, gilt für den kindlichen Erzähler als Hoffnungsort, weil er sich auf das Wiedersehen mit dem Vater freut. Die Darstellung in »Migrar. Weggehen« richtet den Fokus auf eine Migrationsbewegung, die nicht vom Krieg verursacht wird, sondern mit den Folgen der globalen Entwicklung zusammenhängt. Sichtbar werden die Folgen der Landflucht und die Bedingungen der sog. »illegalen Einwanderung«, die zu einer Ausbeutung der Menschen führt. Mateos Bilderbuch ermöglicht dem Rezipienten ein emotionales Miterleben mit dem kindlichen Erzähler, verdeutlicht, was der Verlust der Heimat, die Trennung der Familien und das Wagnis der Auswanderung bedeutet und dokumentiert, welchen hohen Preis die Menschen dafür zahlen müssen. Dementsprechend leistet der Text einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung.

5.

Zu aktuellen Tendenzen in der Migrationsliteratur

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wandelt sich die KJL. Dieser Wandel manifestiert sich zum einen durch die literarische Aufarbeitung von Themen, die bis jetzt tabuisiert oder für die Erwachsenenliteratur vorgesehen waren. In die-

Zur Darstellung von Flucht und Migration im aktuellen Bilderbuch

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sem Kontext spricht Roswitha Budeus-Budde von einer Aufhebung der Grenzen zur Erwachsenenbelletristik, die Irritationen und Herausforderungen bei den erwachsenen Vermittlern erzeugen, die von dem »schonungslosen Realismus«22 der neuen Texte schockiert sind. Carsten Gansel bezeichnet die Entwicklung mit dem Begriff der »stofflich-thematischen Weitung«23 und spricht unter anderem von einer Darstellung der »wirkliche[n] Wirklichkeit«24. Gleichzeitig findet man auf der narratologischen Ebene signifikante Veränderungen, die kinder- und jugendliterarische Texte hinsichtlich ihrer literarischen Konfiguration den Formen der Erwachsenenliteratur näherbringen. Exemplarisch seien an dieser Stelle nur ein paar Gestaltungsmöglichkeiten skizziert: 1) Durch den Einsatz einer kindlichen Erzählinstanz, die mit einem bestimmten Wissen ausgestattet ist, werden in den Texten, wie am Beispiel von »Migrar. Weggehen« und »Die Flucht« bereits erläutert wurde, zahlreiche Leerstellen sowie Mehrdeutigkeit ermöglicht, die der kindliche Leser im Sinne der Rezeptionsästhetik von Wolfgang Iser sinnstiftend in einem vom Text vorgegebenen Rahmen mit konstruieren soll. Aus diesem Grund erfüllen kinderund jugendliterarische Texte zunehmend die Polyvalenzkonvention des Symbolsystems Literatur.25 2) Weitere formale Aspekte, die mit dieser Entwicklung zusammenhängen, sind der Rückgriff auf Techniken wie den Inneren Monolog, die Gestaltung der diegetischen Zeit in Form von Analepsen und Prolepsen sowie der Einsatz einer multiperspektivischen Erzählweise, wie am Beispiel von »Die Flucht« durch das Wechselspiel zwischen einer bildlichen und einer verbalsprachlichen Erzählinstanz, die aus unterschiedlichen Perspektiven vermitteln, sichtbar wird. 3) Wenn man die Wertungspraxis auf der axiologischen Ebene betrachtet, kann man einen bewusst zunehmenden Verzicht auf heterodiegetische Erzählinstanzen beobachten, die weniger an den Normen und Werten der Erwachsenen orientiert sind. Vielmehr stehen die Standpunkte der Kinder oder Jugendlichen im Mittelpunkt, und sogar wenn sie den Normen der Erwachsenen nicht entsprechen, werden sie nicht korrigiert. Es bleibt dem Leser überlassen bzw. es wird dem kindlichen und jugendlichen Leser zugetraut, die Wertung und Deutung der vorgestellten Standpunkte vorzunehmen.

22 Budeus-Budde, Roswitha: Dranbleiben. SZ Nr. 88, Ausgabe vom 15. 04. 2014. 23 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur: Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen 2016, S. 111. 24 Ebd. 25 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 198.

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Im Folgenden geht es darum, die Wertungspraxis anhand der paratextuellen Gestaltung in Verbindung mit dieser skizzierten Entwicklung zu setzen. Ein Blick auf die Texte, die Flucht und Migration literarisch verarbeiten, offenbart eine intensive Praxis der paratextuellen Gestaltung, die die im Zuge des Wandels der KJL erkennbare Haltung gegenüber dem »mündigen kindlichen Leser« relativiert. Nach Gérard Genette handelt es sich beim Paratext um ein Beiwerk, durch das ein Text zum Buch und als solches in der Öffentlichkeit markiert wird. Paratexte ermöglichen und unterstützen die Rezeption von Texten; auf indirekte Weise konditionieren und steuern sie aber auch die Rezeption.26 Im Folgenden gilt es, die paratextuelle Dimension der vorgestellten Texte zu analysieren und ihre möglichen Auswirkungen auf die Wertung des Lesers zu überprüfen. Im Fall von »Die Flucht« erhält der Leser anhand eines Nachwortes der Illustratorin Informationen zur Entstehungsgeschichte des Bilderbuchs und zu ihrer Intention, die den universalen Charakter der Geschichte in den Vordergrund stellt und dadurch ein Deutungsangebot liefert: »Dieses Buch fasst alle diese persönlichen Geschichten [von Flüchtlingen] zusammen und zeugt von der unglaublichen Kraft der Menschen, die sie erlebt haben« (DF, 44). Darüber hinaus formuliert Sanna einen impliziten Appell an den Leser, der aufgefordert wird, das Gespräch mit Flüchtlingen und Migranten zu suchen, um ihre Lebensgeschichte zu erfahren: »In den Nachrichten hören wir fast jeden Tag die Wörter ›Migranten‹ und ›Flüchtlinge‹, doch kaum je sprechen wir mit einem von ihnen und erfahren, was genau sie persönlich durchgemacht haben.« Das Nachwort der Illustratorin markiert den pädagogischen Charakter des Textes, und in gewisser Weise wird die Mehrdeutigkeit des Textes, die durch die bereits erläuterten literarischen Strategien ermöglicht wird, durch die im Nachwort gelieferten Informationen teilweise zurückgenommen. Betrachtet man die peritextuellen Elemente des Bilderbuchs, wird anhand eines Pressedossiers die zeitdokumentarische Funktion des Textes sowie sein Beitrag zur Förderung eines »differenzierteren [Migration]-Diskurs[es]«27 und zur Sensibilisierung der Leser und Leserinnen für das Schicksal der Flüchtlinge hervorgehoben. Die Illustratorin verweist außerdem in einem Interview auf die Anregungen, die sie anhand der Texte »The Arrival« von Shaun Tan und »Migrar. Weggehen« von José Manuel Mateo und Javier Martínez Pedro zum Thema Einwanderung erhalten hat, und markiert damit intertextuelle Bezüge, die für die Rezeption des Textes bedeutsam sind. 26 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte – Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 9ff. 27 Vgl. Pressedossier des NordSüd Verlags zum Bilderbuch »Die Flucht«: In: (letzter Zugriff: 03. 06. 2021).

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Im Fall des Bilderbuchs »Migrar. Weggehen« erscheint das Buch mit einem Nachwort des Autors und des Illustrators. Anknüpfend an die Tradition der Azteken betonen Autor und Illustrator die sozialkritische Funktion des Bilderbuchs als Artefakt des kollektiven Gedächtnisses, um ein Bewusstsein für die Situation der Kinder auf der Migrationsreise zu entwickeln sowie die Erinnerung an zahlreiche verschwundene Kinderopfer aufrechtzuerhalten. Die Darstellung des erzählenden Kindes mit den bereits erörterten Leerstellen und unbeantworteten offenen Fragen erhält durch das Nachwort eine Ergänzung, die das Geschehen gesellschaftlich einordnet. Der Leser ahnt jetzt, was mit den Menschen passiert sein könnte, die von der Polizei in den gelben Bussen abgeführt wurden, und was die Präsenz der Polizei mit ihren Hunden an der Grenzanlage zu bedeuten hat. Der Leser kann die Angst des kindlichen Protagonisten nachvollziehen: »Ich hatte Angst, dass sie uns schnappen würden, denn wenn sie einen fangen, verschwindet man …« (Mateo/Martínez 2015), und eine Antwort auf die offenen Fragen des kindlichen Erzählers formulieren. Betrachtet man die Rezension der »Stiftung Lesen«, dann erhält der Leser sogar die Empfehlung, das Nachwort vor der Lektüre des Textes zur Kenntnis zu nehmen, um den Entstehungshintergrund der Geschichte zu erfahren: »Am besten beginnt man diesen besonderen und hochaktuellen Ausklapp-Bilderbogen mit den Informationen auf der hinteren Einband-Innenseite. Dort erzählen Autor und Illustrator von den Hintergründen der Geschichte […] Und sie erzählen von der Tradition, solche bewegenden Geschichten in Bildern festzuhalten.«28

Diese Rezensionspraxis führt dazu, dass die unvoreingenommene Begegnung des Lesers mit dem Text erschwert und dadurch die Rezeption des Bilderbuchs stark gelenkt wird. Es entsteht sogar der Eindruck, als ob die Begegnung mit den Bildern ohne Hintergrundinformation nicht sinnvoll sei. Das widerspricht dem grundlegenden Charakteristikum eines ästhetischen Textes, der sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnet.29 Ein weiteres Beispiel für die Lenkung des Lesers anhand der paratextuellen Gestaltung stellt die neue Ausgabe des Bilderbuchs »Die Insel« von Armin Greder dar.30 Während bei der ersten Ausgabe im Jahr 2002 sich die paratextuelle Steuerung auf den Hinweis »Eine tägliche Geschichte über den Umgang mit dem Fremden und über die Mauer in den Köpfen« beschränkte, wird 2015 das Buch neu verlegt und mit einem Nachwort versehen. Betrachtet man das Nachwort von Heribert Prantl, erkennt man ein Deutungsangebot, das der Text auf die aktuelle 28 In: (letzter Zugriff: 20. 05. 2019). 29 Vgl. Wintersteiner, Wie ein Stück Brot. 2019, S. 7. 30 Greder, Armin: Die Insel. Aarau/Frankfurt/Main: Sauerländer 2002; Ders.: Die Insel. Frankfurt/Main: FISCHER Sauerländer 2015.

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Flüchtlingspolitik in Europa überträgt und die Deutungsmöglichkeiten des Lesers stark konditioniert. Parallel dazu erfolgt eine Politisierung des Textes, die mit einer expliziten Aufforderung zum Verhalten des Lesers gegenüber Schutzsuchenden verknüpft ist: »Das Bilderbuch von Armin Greder […] ist eine Mahnung: mit Flüchtlingen, die Schutz suchen und Hilfe brauchen, müssen wir anders umgehen« (Greder 2015, 33). Insbesondere die Haltung, die aus dieser Mahnung mit dem Zeigefinger erkennbar wird, erzeugt Irritationsmomente, weil der Eindruck entsteht, als ob man literarische Texte verstehend vereinnahmt.

6.

Fazit

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bei den Texten, in denen Flucht oder Migration thematisiert wird, einige Tendenzen zu beobachten sind. Auf der Ebene der ›histoire‹ lässt sich bezüglich der erzählten Zeit Folgendes fixieren: Die Geschichten sind strukturiert erstens in einer Zeit vor dem Krieg oder vor der Migration, zweitens in einer aus unterschiedlichen Etappen bestehenden Reise oder Flucht und drittens in einer Zeit nach der Ankunft, die als Wunschvision oder als erfolgte Erfahrung dargestellt wird. Bei den Figuren überwiegen Typisierungen, z. B. Opfer oder dämonisierte Figuren, wie Grenzwächter. Die diegetischen Räume erfüllen eine besondere Funktion, um die Erfahrung der Flucht oder die der Migrationserfahrung immanenten Gefühle der Entwurzelung, des Transitorischen, der Ortlosigkeit und der Unsicherheit zu vermitteln. Der Rückgriff auf Nicht-Orte oder Transiträume als literarische Strategie ist häufig festzustellen. Auf der Ebene des ›discours‹ vermitteln zumeist kindliche Protagonisten auf der Schrifttextebene das Geschehen. Die Darstellung ist von diesem Kinderblick geprägt und dementsprechend mit Ellipsen ausgestattet. Auf der Bildebene erfolgt eine Anreicherung der kindlichen Darstellung, um die vom Kind nicht vermittelten oder erfassten Aspekte sichtbar zu machen. Bei der paratextuellen Dimension sind deutliche Lenkungsmomente erkennbar, die eine bestimmte Interpretation der Texte vorgeben und häufig mit einem gesellschaftspolitisch-pädagogischen Auftrag versehen sind. Allem Anschein nach wird dem kindlichen Leser die Deutung der dargestellten Konflikte und die damit verbundenen Implikationen nicht mehr zugetraut. Stattdessen erfolgen durch peri- und epitextuelle Elemente deutliche Verweise auf gesellschaftliche Zusammenhänge und eine intendierte Botschaft der Texte. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Texte nicht als ästhetisches Phänomen mit ihrem kennzeichnenden Charakteristikum der Mehrdeutigkeit wahrgenommen, sondern politisch-pädagogisch vereinnahmt werden.

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»Hast du schon Reis gegessen?« Translation und Transformation im Dritten Raum der Erzählinstanz von Que Du Luus »Im Jahr des Affen« (2016) »Wenn die historische Sichtbarkeit verblasst ist, wenn die Gegenwart der Zeitzeugenschaft ihre Macht des Festhaltens verliert, dann offerieren uns die De-plazierungen [sic!] der Erinnerung und die Umwege der Kunst das Bild unseres psychischen Überlebens. In der unheimlichen Welt zu leben, ihre Doppelwertigkeiten und Zweideutigkeiten im Haus der Fiktion inszeniert zu sehen oder ihre Entzweiung und Aufspaltung im Kunstwerk vorgeführt zu bekommen, heißt auch, ein tiefes Verlangen nach sozialer Solidarität zu bekunden.«1

1.

Prekäre Hybridität als Ausgangslage

»Im Jahr des Affen« thematisiert die Flucht vor der Unfreiheit in Vietnam aus der Retrospektive einer adoleszenten autodiegetischen Erzählinstanz, die in der deutschen Provinz aufgewachsen ist und zunächst kaum Kenntnisse über die Umstände in Vietnam und der Flucht bzw. Ankunft in Deutschland besitzt, da sie zu diesem Zeitpunkt drei Jahre alt ist und sich nicht oder kaum daran erinnern kann.2 Daraus resultiert die Erzählsituation einer Innensicht und die Notwendigkeit zur Rekonstruktion der Ereignisse. Zunächst zeigt die Protagonistin und Erzählerin aber keinerlei Interesse an dieser Vergangenheit und stellt ihrem Vater nur wenige Fragen, da sie mit den ›gewöhnlichen‹ Problemen und Anliegen der Adoleszenz beschäftigt ist, wie mit Freundschaften und erster Verliebtheit bzw. erstem Liebeskummer (vgl. JA, 15–27).

1 Bhabha, Homi K.: Einleitung. Verortungen der Kultur. In: Ders.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2011, S. 1–28, hier: S. 28. Mit diesem Zitat Bhabhas wird das Potential von Kunst im Allgemeinen und Erinnerungsliteratur im Besonderen an der Schwelle des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis nach Assmann deutlich. Vgl. Assmann, Jan: Einleitung. In: Ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 5. Aufl. München: C. H. Beck 2005, S. 15–25. 2 Vgl. Luu, Que Du: Im Jahr des Affen. Hamburg: Königskinder 2016, S. 64f. [im Folgenden unter der Sigle »JA« mit Seitenzahl im Text].

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Allerdings ist dieser Alltag teilweise auch geprägt von Diskriminierungen3 aufgrund ihres ›asiatischen‹ Aussehens (vgl. JA, 19) und von mangelnder Anerkennung der Bräuche ihrer Familie (vgl. JA, 209), was bei der autodiegetischen Erzählinstanz zu einer Selbstablehnung führt, die sich in dem Unwillen ihrem chinesischen Namen gegenüber (vgl. JA, 192) und dem Wunsch, blond anstatt schwarzhaarig zu sein, äußert (vgl. JA, 209), um möglichst ›deutsch‹ auszusehen (vgl. JA, 104). Der ›eingedeutschte‹ Name Mini, der aus der mangelnden Aussprachefähigkeit der anderen Kinder resultiert, wird von ihr deswegen vorgezogen (vgl. JA, 15). Die partiellen negativen Reaktionen wirken sich also derart aus, dass diese übernommen und die im Umfeld der Diegese alteritären Anteile so weit wie möglich verringert bzw. verdrängt werden: »Ich wollte meinem Vater ja auch nicht ähnlich sein. Am besten gefiel mir, wenn jemand sagte: ›Du bist gar nicht so wie eine Chinesin‹« (JA, 83). Die Figur, so lässt sich daraus deuten, befindet sich demnach in einer Identitätskrise, denn sie wünscht sich, »jemand anderes zu sein« (JA, 168), und schafft es demnach nicht, Selbst- und Fremdbild in ein für sie zufriedenstellendes, ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Diese mit Scham verbundene Krise ihres Identitätsgefühls4 stellt sich ein, obwohl sie eigentlich ironisch-humorvoll mit dem ablehnenden Verhalten umgeht: »Die anderen Gäste sahen uns jetzt erst recht an, manche verstohlen, manche unverhohlen. Es reichte nicht, dass drei Chinesen ohne Kontrabass in ein feines Café gingen. Sie mussten auch noch Schnitzel mit Pommes zum Frühstück bestellen« (JA, 80).

Bereits zu Beginn des Textes konstruiert die autodiegetische Erzählinstanz einen Kontrast zwischen dem synästhetischen Erlebnis im Restaurant des Vaters und der Umgebung einer deutschen Kleinstadt, dem westfälischen Herford (vgl. JA, 7).5 Die geschilderte Dunkelheit und der leuchtende Schein der Lampen in Rot, der chinesischen Glücksfarbe, bilden einen Gegensatz zur Helligkeit der sonnigen Umwelt, genauso wie der Geruch, der sich in dem Lokal aus Räucherstäbchen und chinesischem Essen zusammensetzt, das sich als deutsche Variante authentischer chinesischer Gerichte erweist (vgl. JA, 87).6 Auch die Gegenstände, die von der Erzählinstanz hervorgehoben werden, eine Buddha-Figur sowie der Porzellantopf mit den abgebrannten Räucherstäbchen und ein Teller mit gleichfalls roten Äpfeln als Opfergabe an die Ahnen, scheinen im Umfeld des fiktionalisierten Herford ›exotisch‹ und außergewöhnlich zu sein. Das Restau3 Allerdings hegt umgekehrt auch Minis Onkel Wu pauschale Vorurteile gegenüber den »Gwai Lou« und ihr Vater redet über sie in ihrem Beisein auf Kantonesisch (vgl. JA, 46f., 103, 234). 4 Vgl. Keupp, Heiner u. a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 225–228. Das Identitätsgefühl eines Subjekts besteht in der Evaluation seines Selbstbildes. 5 Natürlich ist die Kleinstadt Herford im Text als fiktionalisiert zu verstehen. 6 Dies lässt sich als Parallele zu der in Herford aufgewachsenen Mini und ihrem der deutschen Aussprache zuträglichen Rufnamen lesen.

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rant changiert für Mini und die Gäste zwischen Isotopie und Heterotopie im Sinne Michel Foucaults,7 denn obwohl die Familie aufgrund ihres Äußeren außerhalb des Restaurants (kritisch) beäugt wird (vgl. JA, 79, 100), wird in dem geschützten Raum des Restaurants genau dieses Aussehen erwartet, mehr noch, hier erscheint sogar Minis akzentfreie deutsche Sprache, die sie viel besser beherrscht als das Kantonesische, unpassend oder zumindest unerwartet. Auch ihr Verhalten entspricht nicht den stereotypen Erwartungen der Gäste, was sie ironisch zur Kenntnis nimmt: »Als wir unser Restaurant betraten, war ich richtig froh, hier zu sein. Hier wunderte sich niemand über uns. Wir passten zu der Einrichtung. […] Nur wenn ich den Mund aufmachte, schauten manche Gäste irritiert. Akzentfreies Deutsch passte nicht zu meinem Erscheinungsbild. Und wenn ich mich besser auf die Rolle vorbereitet hätte, hätte ich auch die falsche Aussprache gelernt. Ich würde mir mit einem Seidenfächer Luft zufächern und schüchtern lächeln« (JA, 81).

Die stereotypen Erwartungen, Vorurteile und Zuschreibungen drängen Mini also in eine klischeehafte Rolle, die sie jedoch ablehnt.8 Das Restaurant kommt ihr aus diesem Grund wie eine »Theaterbühne« (ebd.) vor. Doch trotz der restriktiven Vorstellungen, denen sie nur zum Teil durch ihre äußere Erscheinung entspricht, fungiert das Restaurant für sie gleichzeitig als vertrauter Schutzraum vor den (abwertenden) Blicken, wie aus dem Zitat ebenfalls hervorgeht. Diese Blicke, die sie vereinnahmen und ihr im Voraus ein bestimmtes Bild zuweisen,9 wollen auch eine eindeutige Verortung der ehemaligen Asylsuchenden vornehmen und die Antwort erhalten, die sie erwarten (vgl. JA, 127). Gefordert wird die Schilderung eines Leidens, das eine Haltung des Mitleids ihrerseits ermöglicht, da eine gleichberechtigte Sichtweise nicht eingeräumt wird.

7 Vgl. Foucault, Michel: Von anderen Räumen (1967). In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2006, S. 317–329, hier: S. 321–327. 8 Dass diese stereotypen Bilder auch durch die Medien mitgeprägt werden, reflektiert die Erzählerin an folgender Stelle: »Ich dachte an die Filme, in denen kleine asiatische Männer immer lispelten und die letzten Trottel waren. Wenn so ein Film lief, griff mein Vater nach der Fernbedienung, schaltete um und sagte: ›Bruce Lee hätte diesen Regisseur verhauen‹« (JA, 81). 9 »Wir waren Chinesen und blieben Chinesen. Das Gegenteil von feinen deutschen Damen. Ich starrte auf meinen Teller, spürte aber immer noch die Blicke der anderen. Auf meinen Fingern, auf meinem Gesicht, auf meinem Hinterkopf. Die Chinesen. Sie haben schwarzes Haar, platte Nasen und Schlitzaugen. Sie kommen hierhin, essen Schnitzel und schwängern das ganze Café, das morgendlich nach frisch gebackenen Brötchen und Kaffee geduftet hat, mit dem Gestank von Frittenfett« (JA, 80f.). In diesem inneren Monolog werden die verletzende Vehemenz der aufdringlichen Blicke, die daraus resultierende Scham und das unausweichliche, bereits zu Beginn bestehende Urteil deutlich. Ebenso wird die Über- oder Vorwegnahme der Gedanken und Äußerungen der anderen aufgezeigt.

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Dass von dem ›Flüchtlingsmädchen‹ erwartet wird, dass es ›gefälligst‹ eine schreckliche, leidvolle Geschichte zu erzählen habe, wird in folgendem Textauszug thematisiert: »Mich hatte es immer genervt, wenn die Erwachsenen gefragt hatten: ›War es sehr schlimm?‹ Ich antwortete: ›Ich kann mich an nichts erinnern.‹ Die Leute fanden die Antwort frech. Sie wollten von mir hören, dass alles schrecklich gewesen sei, ich aber später in meine Heimat zurückkehren wolle« (JA, 138).

Möglicherweise resultiert diese engstirnige Erwartungshaltung daher, dass ein Fluchtgrund angenommen wird, der ja in der Regel zunächst einmal den Grund für die Anerkennung des Asylrechts bildet. Allerdings bleibt die Perspektive derart eingeschränkt und einengend, dass andere Versionen enttäuscht oder sogar zornig zurückgewiesen werden. Dies lässt sich mit Homi K. Bhabha so interpretieren, dass »den Opfern von Gewalt ›Bedeutung auferlegt‹ wird: sie sind die Opfer von projizierten Ängsten, Sorgen und Dominierungen, die nicht in den Unterdrückten selbst entstehen«10. Die Vision von Bhabhas Konzept ist es deshalb, eine intervenierende Emanzipation von Ideologien und dominanten Konzepten zu erreichen, durch das ›re-visionäre‹ Einbringen und neue Einschreiben von unterdrückten Gegen-Geschichten (counter-narratives).11 Auch die unhinterfragte Annahme, dass für Mini ihre »Heimat« in Vietnam sei und sie sich dahin zurücksehnen müsse, obwohl sie sich an das Land, in dem sie geboren wurde, nicht mehr erinnern kann und in Deutschland beheimatet ist, da sie dort aufgewachsen ist, weist die Voreingenommenheit dieser Denkweise aus. Zudem wird entlarvt, dass es sich nicht um echtes Interesse an ihrer individuellen Geschichte handelt; die Deutungshoheit behalten sich demnach die Fragenden selbst vor. Dass die Vereinheitlichung der komplexen und hybriden Situation der Protagonistin nicht gerecht wird, zeigt sich an dem folgenden typischen Gespräch: »Meine Religionslehrerin hatte mich in der fünften Klasse gefragt, welchem Glauben wir angehörten. Zu Hause fragte ich meinen Vater. Er sagte, er sei zum kleinen Teil Buddhist, zum Teil Taoist und zu einem großen Teil sei er gar nichts. Das hatte sich durch das ganze Leben gezogen. Wenn er doch Vollbuddhist gewesen wäre, wenn wir doch richtige Vietnamesen gewesen wären oder wenigstens richtige Chinesen. ›Wo kommst du wech?‹ – ›Aus Vietnam.‹ – ›Ah, Vietnamesen also.‹ – ›Nein, Chinesen.‹ – ›Ni hau!‹ – ›Nein, Chinesen, die Kantonesisch sprechen.‹ – ›Hongkong-Chinesen?‹ – ›Nein, aus Vietnam, hab ich doch gesagt‹« (JA, 89).

Dass anstatt des hochdeutschen Verbes ›herkommen‹ eine auffällige dialektale Form verwendet wird, die die grundlegende Hybridität und kulturelle Differenz 10 Bhabha, Einleitung. 2011, S. 24. 11 Vgl. ebd., S. 9f., 13, 25 [Hervorhebungen – A.B.].

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verdeutlicht, konterkariert das Verlangen nach Homogenität, Vereinheitlichung und Fixierung.12 Mini, der es aufgrund des mangelnden Verständnisses ihrer Situation seitens der Gesprächspartner schwerfällt, ihre Hybridität zu artikulieren, zu akzeptieren und sich selbst auf diese einzulassen, wirft ihrem Vater deshalb vor, dass sie als sog. ›Auslandschinesen‹ »überhaupt nichts Richtiges« seien (ebd.).13 Insgesamt lässt sich die problematische Identitätskonstruktion der Erzählinstanz also als Folge davon lesen, dass sie sich aufgrund ihrer doppelten, aber jeweils nur bedingten Zugehörigkeit zu ihrer chinesischen Familie aus Vietnam auf der einen Seite und zur fiktiven Kleinstadt Herford auf der anderen Seite, in der sie mit ihren Freundinnen zur Schule und tanzen geht, nirgendwo ganz zugehörig fühlt. So redet einerseits der Arzt nach dem Herzinfarkt ihres Vaters automatisch mit ihr in einem lauten, langsamen und grammatikalisch falschen Deutsch, weil er davon ausgeht, dass sie es besser verstehe (vgl. JA, 39), andererseits isst sie lieber mit einer Gabel als mit Stäbchen (vgl. JA, 74) und spricht nur schlecht Kantonesisch, so dass ihr immer wieder Vokabeln fehlen, um sich mit ihrem Vater, den Restaurantangestellten Ling und Bao, der Mini als »Banane« bezeichnet (ebd.), sowie ihrem Onkel zu unterhalten. Wu erklärt Mini die ihr unbekannte Bezeichnung als Metapher der Hybridität, die dafür steht, von außen ›gelb‹ und innen ›weiß‹ zu sein (vgl. JA, 75).14 Die Protagonistin kränkt dieser Ausdruck mehr, als sie selbst erwartet: »Und warum war ich nicht froh darüber, dass ich angeblich innen weiß war? Hatte ich mich nicht immer wie jeder andere hier gefühlt?« (ebd.)15 Dies zeigt, dass die unterschiedlichen, teilweise widersprüchlichen Erwartungen und Zuschreibungen belastend für Mini sind. Eine noch ausgeprägtere Identitätskrise oder gar ein Scheitern der Identitätskonstruktion lässt sich bei dem Koch Bao interpretieren, der der Ausgrenzung, verwehrten Anerkennung,16 Diskriminierung und damit den Machtstrukturen als ehemals minderjähriger Alleinreisender ohne materielle Ressourcen und Unterstützung vollkommen ausgeliefert zu sein scheint. Ihm bleiben die Aneignung von Sprache und von Bildung verwehrt: »Die Leute starrten mich auf der Straße an und die Kinder beschimpften mich. Ich verstand nicht, was sie sagten. Ich verstand auch nicht, wieso sie das taten. Sie kannten 12 Auch Bhabha betont die »Gefahren einer Fixierung und Fetischisierung von Identitäen« durch dominierende oder vorherrschende Kulturen (ebd., S. 13). 13 So feiert die Familie auch Silvester und das chinesische Neujahrsfest sowie Weihnachten mit (vgl. JA, 90ff.). 14 Damit findet über die Essensmetapher in Bezug auf Mini eine Parallelisierung mit den »chinesisch aussehenden Speisen für die Deutschen« statt (JA, 87). 15 Vgl. auch JA, 75. 16 Nach Bhabha ist das Verlangen nach Anerkennung elementar und kann in einem Dritten Raum verwirklicht werden (vgl. Bhabha, Einleitung. 2011, S. 12).

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mich nicht und trotzdem sah ich den Hass in ihren Augen. Manchmal wollte ich mir eine Tüte aufsetzen« (JA, 208).17

Die Exklusion und das Gefühl, nirgendwo beheimatet und zugehörig zu sein, bewirken bei der auch als Erwachsener noch unter diesen Erfahrungen leidenden Figur Suizidgedanken und Selbsthass, da ihr die Sinnstiftung in ihrem Leben misslingt (vgl. JA, 211). Das Identitätsgefühl des Kochs Bao ist also als absolut negativ zu bezeichnen. Auch Bhabha befasst sich mit der Erfahrung von MigrantInnen in einer globalen Welt, die in vereinheitlichenden Konzepten von Nation oder Kultur letztlich keinen Platz finden, sondern in einem Zwischenraum existieren.18 Deutlich zeigt sich das auch in der Erzählung des Onkels Wu über die Zustände in Vietnam, die viele zum Verlassen des Heimatlandes zwangen: Die vietnamesischen Chinesen wie Minis Vater durften in Vietnam nicht studieren, aber auch nicht in Taiwan, mit der Begründung, dass sie in Vietnam geboren und deshalb der vietnamesischen Nation zugehörig seien, weshalb sie für dieses Land in den Krieg ziehen sollten (vgl. JA, 101). Die Erzählinstanz reflektiert zudem, dass die in der Bananen-Metapher zum Ausdruck kommende Bezeichnung der asiatischen Hautfarbe als ›gelb‹ unzutreffend ist (vgl. JA, 75). Wenn sie zunächst die Frage stellt, ob es den analogen Begriff ›Zitrone‹ für die Übereinstimmung von asiatischem Außen und Innen gebe, die Frage aber nicht bejaht und als subjektiv absolut unpassend beurteilt (vgl. JA, 104), lässt sich dies im Sinne Bhabhas deuten, dass es eine solche Einheit gar nicht geben kann. Nach Bhabha erzeugt die Position des ›in-between‹ im Zwischenraum hybride, also uneinheitliche, dynamische, unabgeschlossene und nicht-fixierte Identitäten, die sich nicht auf eine nationale bzw. kulturelle Abstammung be- und einschränken lassen.19

2.

Hybridität als Ermöglichung – Das Jahr der Veränderungen

Mit dem Herzinfarkt des Vaters und vor allem dem Eintreffen des Onkels ändert sich einiges für die Protagonistin, ihren Vater, Bao und Ling.20 Denn der Onkel, der zunächst ziemlich viel Kritik an seiner Nichte übt, ermutigt sie, nicht direkt

17 Allerdings berichtet Bao auch davon, dass es einige Menschen bei seiner Ankunft gab, die ihm selbstlos halfen (vgl. JA, 210). 18 Vgl. Burtscher-Bechter, Beate: Diskursanalytisch-kontextuelle Theorien. In: Einführung in die Literaturtheorie. Hrsg. von Martin Sexl. Wien: Facultas 2004, S. 257–288, hier: S. 283f. 19 Vgl. ebd., S. 284. 20 Das wird auch im Rückblick am Ende des Textes ersichtlich, wenn die autodiegetische Erzählinstanz beides als für sie bedeutsame Zäsuren markiert: »Am dritten Tag ( jetzt teilte ich die Zeit nicht mehr auf in die Zeit vor dem Herzinfarkt und nach dem Herzinfarkt, sondern in

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bei Widerständen und Rückschlägen zu verzagen und aufzugeben, sondern Probleme systematisch anzugehen und zu überlegen, was sich verändern lässt (vgl. JA, 253, 239). So handelt er sofort, als er die anhaltende negative Wirkung des ungeklärten Konfliktes zwischen Minis Vater und Bao bemerkt, und sorgt für eine Aussprache der beiden (vgl. JA, 262f., 273). Das Restaurant wird durch den Onkel zu einem ›Dritten Raum‹ im Sinne Bhabhas, der Gelegenheit zum Austausch, mithin zur Verhandlung gibt.21 Am Anfang des Textes – vor diesen Ereignissen – beschreibt die Erzählinstanz den neben dem Restaurant gelegenen Fluss, der aufgrund des Schlammes nicht klar, sondern bräunlich und trüb ist, so dass es nicht möglich ist, »bis auf den Grund [zu] sehen« (JA, 9). Das symbolisiert Minis Unkenntnis aufgrund des Vergessens und ihr Desinteresse an ihrer Herkunft und Flucht. Als Wu hingegen zurück nach Australien reist, findet sie, dass er »den ganzen Schlamm im Fluss aufgewühlt [hat]« (JA, 279)22 und sie daher mehr Einblick in die Geschichte ihres Vaters und damit auch ihre eigene bekommen hat. Die Lücken in der Erinnerung werden mit den Erzählungen des Onkels über die Ursachen der Flucht gefüllt und somit rekonstruiert, was die Funktionsweise des kommunikativen Gedächtnisses bzw. das gemeinsame Vergegenwärtigen von Vergangenem innerhalb des Familiengedächtnisses repräsentiert.23 Die Erzählerin leitet aus den Gefahren der Flucht und den vielen während der Flucht Verstorbenen eine Verantwortung für das eigene Leben ab: »Ich wusste jetzt, warum wir geflohen waren. Ich wusste jetzt, dass man das Beste draus machen musste, wenn man schon zu den Überlebenden gehörte. Aus Achtung vor den Menschen, die es nicht geschafft hatten und für immer vom Meer verschluckt waren« (JA, 279).

Diese Verantwortung übernimmt Mini dann am Ende des Textes, indem sie beginnt, die zur Verbesserung der für das schlecht gehende Restaurant geplanten Änderungen konsequent umzusetzen (vgl. JA, 283f.). Ein umsatzstärkeres Restaurant ist auch die Voraussetzung dafür, den Angestellten Bao und Ling mehr zahlen zu können, so dass diese ihre jeweilige defizitäre Wohnsituation verbessern können (vgl. JA, 248f.). Die Einführung des Ruhetages soll ebenfalls zu einer Entlastung ihres Vaters führen, dessen Leben nur aus Arbeit besteht und der die Zeit vor Onkel Wu und die Zeit nach Onkel Wu), einem Freitag, rief Onkel Wu an und sagte, er sei gut angekommen« (JA, 281f.). 21 Bhabha, Einleitung. 2011, S. 35, 55. 22 Insofern erweist es sich als ein vorausdeutendes Element, dass die anfangs betonte Undurchdringlichkeit des Flusses mit dem baldigen Eintreffen des Onkels enggeführt wird (vgl. JA, 9). Der Fluss wird also als Metapher für Vergessen und als Rekonstruktion der Erinnerung genutzt. 23 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. 3. Aufl. München: C. H. Beck 2011, S. 38f., 163ff.

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nach seinem Herzinfarkt kürzertreten muss. Dass sie nicht nur Onkel Wus Ansichten übernimmt und ausführt, sondern selbständig nachdenkt, nach ihren eigenen Vorstellungen lebt und ihre eigene Meinung selbstbewusst vertritt, wird ersichtlich, insofern sie dafür eintritt, das vom Onkel geliehene Geld nicht, wie von diesem vorgesehen, für den Kauf der Wächterlöwen einzusetzen, sondern es für eine Spülmaschine auszugeben, die der weiteren Entlastung der Arbeitskräfte des Restaurants dienen soll (vgl. JA, 284). Zudem kümmert sie sich darum, die nötigen Schritte einzuleiten, um den Nachzug von Baos Mutter (vgl. JA, 234) und die Arbeitserlaubnis für Ling zu beantragen (vgl. JA, 284).24 Damit lässt sich ihre Identitätskonstruktion am Schluss als relativ stabil und gelungen bewerten, da sie einerseits über ihre Wünsche und Ziele für die Zukunft nachdenkt und darüber, wie diese angestrebt werden können (vgl. JA, 230). Andererseits besitzt sie eine ausgeprägte Handlungsfähigkeit25 und agiert empathisch, was ihrem zentralen Identitätsziel entspricht, weniger selbstbezogen zu sein und den Blick auf andere zu erweitern (vgl. JA, 231f.). Darauf lässt sich auch das Anliegen der Solidarität in Bhabhas Konzept beziehen.26 Mini reflektiert, dass Onkel Wu zu den großen Veränderungen in ihrem Identitätsprozess beigetragen hat,27 indem er ihr »die Augen für so vieles geöffnet« (JA, 278), also eine neue Sichtweise eröffnet hat.28 Diese Veränderungen korrespondieren mit dem Titel des Textes, denn das titelgebende, zur Zeit der Erzählung datierende Jahr des Affen steht für Bewegung und Veränderung (vgl. JA, 91). Zudem ist Mini im Vergleich zum Anfang am Ende des Textes eingebunden in ein erweitertes Beziehungsnetzwerk, bestehend nicht mehr nur aus ihren Freundinnen Sarah und Micha sowie ihrem Vater. Zusätzlich stellen Bela, Wu, Bello, Bao und Ling, zu denen sie nun eine tragfähige Beziehung aufgebaut hat und für die sie jetzt Interesse zeigt, ihr soziales Kapital dar, das für sie als identitätsstabilisierender Optionsraum und sozial nachhaltige Bewältigungsressource fungieren kann (vgl. JA, 28).29 Auch hinsichtlich ihrer Narrationsarbeit meint die Erzählinstanz, 24 Bhabha geht in »Über kulturelle Hybridität« auf den Anteil der aus der Rechtlosigkeit ihrer staatenlosen Situation in einer nationalstaatlich organisierten Welt heraus illegal (in Restaurants) Beschäftigten ein. Diese Problematik wird in diesem Text thematisiert, aber durch den produktiven Tatendrang Minis aus dem Dritten Raum der Begegnung mit dem chinesisch-australischen Onkel Wu heraus auch angegangen. Von daher ist der durch den Onkel eröffnete Dritte Raum eine utopische Vision des Textes. Vgl. Bhabha, Homi K.: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. In: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Hrsg. von Anna Babka und Gerald Posselt. Wien: Turia + Kant 2016, S. 17–57, hier: S. 38f. 25 Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen. 2006, S. 235ff. 26 Vgl. auch das am Anfang dieses Beitrags vorangestellte Zitat. 27 »Dabei hatte ich immer mehr das Gefühl, nicht mehr wie früher zu sein« (JA, 229). 28 Vgl. auch JA, 226. 29 Vgl. Keupp, Identitätskonstruktionen. 2006, S. 202. Keupp greift auf die Kapitalsorten von Pierre Bourdieu zurück, wenn er die Relevanz von Ressourcen(nutzung) für die Identitäts-

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Fortschritte gemacht zu haben, da sie ihre Vergangenheit erschließt: »Besteht nicht jeder Mensch aus einer Geschichte und muss man dann nicht alle Kapitel kennenlernen, um den Menschen kennenzulernen?« (JA, 279) Das Einbringen der verdrängten und unterdrückten Geschichten, die Fähigkeit zu Austausch und Verhandlung sowie das Anerkennen der hybriden und offenen Identität und Kultur führen zu einer aus Sicht der autodiegetischen Erzählinstanz zufriedenstellenden und handlungsfähigen Identitätskonstruktion. Die Erzählinstanz findet infolgedessen Gefallen an dem »Vier-nicht-ähnlich-Tier« (JA, 114), das weder einem Esel noch einem Kamel, geschweige denn einer Kuh, aber auch nicht einem Hirsch gleicht:30 »Ich hatte mich immer gewundert, dass Murmeltiere keinen anderen Namen hatten. Murmeltiere konnten auch gut pfeifen, aber bei ihren Namen dachte man immer nur ans Schlafen. Bei Chinesen war es ähnlich. Man war nur eine Chinesin, nichts anderes. Das Vier-nicht-ähnlich-Tier hingegen war nicht nach dem benannt, was es war, sondern nach dem, was es nicht war. […] Denn was man nicht war, das wusste man ganz sicher, aber was man war, das wusste man nie so genau. […] Es gab nur eins, was ich über mich wusste: Ich war der Vielen-nicht-ähnlich-Mensch« (JA, 116f.).

Das Identitätskonzept, das hier vorgeführt wird, unterstreicht den unabschließbaren und nicht festgelegten Prozess der Identitätskonstruktion, den auch Identitätstheoretiker der (Post-)Moderne wie Bhabha und Keupp konstatieren. Zudem wird so die Bedeutung von Bezeichnungen und diskursiven Zuschreibungen hervorgehoben.31 Sobald eine dominante Benennung oder autoritäre Lesart gewählt wird, werden automatisch andere Perspektiven ausgeschlossen.

arbeit erläutert: Im Sinne eines Optionsraumes sind die sozialen Beziehungen als Vorbilder für mögliche Identitätsentwürfe aufzufassen; als Bewältigungsressource dienen soziale Kontakte wiederum, wenn sie in Krisen unterstützend für das mit ihnen in Beziehung stehende Subjekt wirken. Dass dies für Mini zutrifft, zeigt sich an folgender Stelle: »Ich wusste jetzt auch, dass es am anderen Ende der Welt Menschen gab, denen wir nicht egal waren« (JA, 279). 30 Vgl. auch JA, 115 u. Roeder, Caroline: Bindestrich-Existenzen oder »Ich war der Vielen-nichtähnlich-Mensch«. In: 1001 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur, 2017, H. 2, S. 23f. 31 Dies beleuchtet auch folgende Passage: »Shou. Jetzt wusste ich endlich, wie der Weißbärtige hieß. Ich musste nicht mehr nur sein Aussehen beschreiben. Wenn man den Namen wusste, hatte man auf einmal das Gefühl, denjenigen zu kennen« (JA, 77).

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3.

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Translationsprozesse

Eine Besonderheit in »Im Jahr des Affen« ist es, dass in den deutschsprachigen Text immer wieder kantonesische Passagen eingefügt sind, beispielsweise wenn sich Mini mit ihrem Vater, ihrem Onkel, Ling oder Bao unterhält. Teilweise wird eine Frage oder Aussage in dem Dialekt aus Kanton (vgl. JA, 94) eingebracht, die Antwort erfolgt dann in deutscher Sprache, so dass sich die Ausgangsfrage oder -äußerung für den des Kantonesischen nicht mächtigen Leser nur aus dem Zusammenhang erschließt.32 Dadurch haben die RezipientInnen am Erkunden der kantonesischen Sprache teil, wie es sich auch für die autodiegetische Erzählinstanz verhält. Mini, die deutsch spricht, aber nicht besonders viel kantonesisch, kann zwar einige Worte mit ihrem Vater wechseln, allerdings kommt sie immer wieder schnell an ihre Grenzen:33 »Was hieß: Tut mir leid, ich hab nicht nachgedacht? Jeder Satz, den ich auf Chinesisch sagte, war wie ein Puzzle. Ich musste mir mühsam die Stücke zusammensuchen und manche fand ich nicht« (JA, 149).34

So fehlen ihr einige Vokabeln, um sich länger und tiefgründiger oder flexibel und situationsbezogen mit ihrem Onkel oder Bao auszutauschen, wodurch sie gezwungen ist, zu improvisieren, zu umschreiben und sich die Bedeutung aus dem Kontext zu erschließen (vgl. JA, 97, 169, 218, 143).35 Diese Unsicherheiten und Unklarheiten im Übersetzungsprozess werden von der Erzählinstanz allerdings auch transparent gemacht, thematisiert und reflektiert.36 Für Mini wird deshalb das Beherrschen des kantonesischen Dialekts im Verlauf des Textes immer mehr als Gewinn erfahrbar, der es ihr ermöglicht, sich mit ihren Vorstellungen einzubringen, zu argumentieren, auszuhandeln und die Zukunft des Restaurants und des erweiterten Familienlebens mitzugestalten. So wünscht sie sich einen Dolmetscher, da sie aufgrund ihres begrenzten Wortschatzes in Kantonesisch nicht mitdiskutieren kann (vgl. JA, 259). Die Bedeutung der Übersetzung, des dialogischen und diskursiven Austauschs sowie der Verhandlung betont auch Bhabha immer wieder, die er in einem Zwischenraum oder eben Dritten Raum ansiedelt, in dem die Artikulation kultureller Differenz und Hybridität ermög-

32 Vgl. JA, 8: »Ich nahm mir ein abgewetztes Handtuch und trocknete die Teller ab. Sie waren immer noch heiß, sie dampften fast. Die Hände meines Vaters waren krebsrot. ›Djomä gum jiet?‹, fragte ich ihn. Er sagte, sonst löse sich das Fett nicht von den Tellern.« 33 Vgl. Roeder, Bindestrich-Existenzen. 2017, S. 25. 34 Das Puzzle kann auch als Identitätsmetapher auf Mini übertragen werden. 35 Hinzu kommt, dass der in Australien lebende Onkel immer wieder englische Einsprengsel in seine chinesischen Aussagen integriert, so dass die Übersetzungsprozesse noch potenziert werden (vgl. JA, 259). 36 Vgl. JA, 78: »Ich glaubte jedenfalls, dass Onkel Wu mit dem letzten Wort ›Glück‹ meinte.«

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licht wird.37 Diese Position wird auch im Text ersichtlich, da die Zweisprachigkeit bei der Erzählerin eine Sprachsensibilität und -reflexion hervorruft und damit bereichernd wirkt: »Mein Vater […] fragte mich, ob ich schon etwas gegessen hätte. ›Etwas essen‹ hieß immer ›sick fan‹: gekochten Reis essen. Eigentlich war das keine Frage. Chinesen begrüßten sich so […]. Ich antwortete: ›Nein, ich habe noch keinen Reis gegessen‹, und fügte hinzu: ›aber Kartoffeln.‹ Es war ein Witz und mein Vater […] hatte gar nicht verstanden, was daran witzig sein sollte. Chinesen nahmen das Wort ›Reis‹ im ReisEssen gar nicht mehr wahr, weil es allgemein ›essen‹ bezeichnet« (JA, 8f.).38

4.

Elemente des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses

Onkel Wu erzählt der immer mehr Fragen stellenden Mini von den Zuständen in Vietnam, die sie und viele andere zur lebensgefährlichen Flucht veranlassten. Die Figur Wu reagiert dabei ungläubig auf die Frage, warum sie angesichts der Gefahren auf der Flucht nach Ende des Krieges diese noch auf sich nahm. Unzweifelhaft ist für ihn die Meinungsfreiheit und der Zugang zu Bildung als Chance für die Zukunft ein so kostbares Gut, dass deren Beschneidung es nötig machte, das Heimatland zu verlassen und die gefährliche Flucht in Kauf zu nehmen. Die Forderung des Vaters, Mini solle studieren, die sie zuvor als unbegründet und einschränkend empfindet, hat darin ihren Beweggrund, der aber niemals vom Vater kommuniziert wird. Die Erzählung ihres Onkels bewirkt nun, dass Mini Bildung nicht mehr als Pflicht, sondern als Recht wahrnimmt (vgl. JA, 100, 243f.). Außerdem berichtet die Figur Wu von den Taten der Vietcong und der Nordvietnamesen, die die Kommunisten aufgrund falscher Versprechungen unterstützt haben (vgl. JA, 244). Diese haben auch nach dem Krieg zur euphemistisch bezeichneten »Umerziehung« Arbeitslager betrieben, »um [das] Denken zu verändern«, also die freie Meinungsäußerung durch Indoktrinierung und Arbeitszwang zu verhindern (vgl. JA, 245). Die Perspektive des Onkels Wu auf die Ereignisse der Vergangenheit und deren Bewahrung fördert eine Lücke im kul-

37 Vgl. Bhabha, Homi K.: Das theoretische Engagement. In: Ders., Die Verortung der Kultur. 2011, S. 29–58, hier: S. 51–58. 38 Vgl. auch JA, 124f.: »Ich witzelte: ›Du gleichst einem Gespenstermenschen.‹ Mein Vater verstand nicht, was ich meinte. ›Wegen der weißen Kleidung‹, fügte ich hinzu, aber er verstand immer noch nicht. Wahrscheinlich dachte er bei Gwai Lou nur an einen Deutschen, und die wörtliche Bedeutung kam ihm gar nicht mehr in den Sinn. Genauso wie man bei Wolkenkratzer nicht mehr an Wolken und Kratzen dachte, sondern nur an ein Hochhaus.« Die autodiegetische Erzählinstanz macht an dieser Stelle die jeweilige begrenzte Sprachperspektive nachvollziehbar und regt zum Hinterfragen und zur Relativierung der eigenen sprachlichen Gewohnheiten an.

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turellen Gedächtnis zutage:39 Während die Taten der Amerikaner in Vietnam im kulturellen Gedächtnis verankert seien, gebe es kein Bewusstsein für diejenigen der Vietcong, Nordvietnamesen und Kommunisten. Eine ausbleibende institutionelle Formung und Sicherung dieser Vergangenheitsversion weist die damit verbundene Erinnerungspolitik und die Rolle der Medien in diesem Zusammenhang aus, die auch Wu anspricht, wenn er auf die bessere »Propaganda« der Kommunisten eingeht (vgl. ebd.). Die Erzählungen Wus und Baos über die – von der damals zu jungen Mini vergessene – Vergangenheit sind als Akte im kommunikativen Gedächtnis zu deuten.40 Dass die Erzählinstanz diese Erinnerungen ›zweiter Hand‹ weitererzählt, macht die Problematik der Unverfügbarkeit der Vergangenheit und die Anfälligkeit der Erinnerung transparent. Die »Gwai Lou«, die wörtlich Geister oder Gespenstermenschen heißen, können als Erinnerungsmetapher für die Wiederkehr der verdrängten Erinnerung angesehen werden.41 Mini wird von diesen spukenden Erinnerungen heimgesucht und setzt sich letztlich aktiv mit ihnen auseinander, was ihr hilft, sich ihre eigene Lebensgeschichte anzueignen.42

5.

Gattungstheoretische Einordnung

Zuletzt stellt sich die Frage der gattungstheoretischen Zuordnung von »Im Jahr des Affen«. Ist der Text als Mädchenliteratur43 einzuordnen, da Minis Beziehung zu ihren Freundinnen, das gemeinsame Feiern im Club und besonders ihre erste 39 Vgl. Planka, Sabine: Du Luu, Que: Im Jahr des Affen. kinderundjugendmedien.de. 20. 06. 2016. (letzter Zugriff: 13. 10. 2021). 40 Vgl. Behrendt, Renata: Über Flucht erzählen. In: JuLit 44, 2018, H. 1, S. 28. 41 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck 1999, S. 171–178. 42 Behrendt weist darauf hin, dass das Erzählen eine sinn- und identitätsstiftende Funktion erfüllt, da dadurch ein Bedeutungszusammenhang eines Lebens hergestellt wird und eigene Erfahrungen verarbeitet werden können. Vgl. Behrendt, Renata: Über Flucht erzählen. In: JuLit 44, 2018, H. 1, S. 28f. 43 Intentionale Mädchenliteratur ist zu verstehen als Literatur, die eigens für Mädchen publiziert wurde, spezifische Mädchenliteratur umfasst die speziell für Mädchen verfasste Literatur. Während in der intentionalen Mädchenliteratur im Mittelalter und der Frühen Neuzeit nichtfiktionale religiös-lehrhafte und im Rahmen der aufklärerischen Pädagogik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts moralisch-belehrende und auf die vermeintliche ›Bestimmung‹ als Mutter, Haus- und Ehefrau vorbereitende Züge dominieren, überwiegt seit Anfang des 19. Jahrhunderts die fiktionale Mädchenliteratur, in der »Religiosität und eine gefühlvolle Seele als Merkmale des sich jetzt endgültig durchsetzenden Paradigmas vom weiblichen Geschlechtscharakter« festgeschrieben werden (Grenz, Dagmar: »Mädchenliteratur«. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moenninghoff. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2007, S. 468).

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Liebesbeziehung zu Bela einen größeren Raum innerhalb der Handlung einnehmen? So werden Minis Gedanken zu Bela, seinem Aussehen, seinen Berührungen und darüber, wie wohl sie sich bei ihm fühlt, durch die interne Fokalisierung nachvollziehbar (vgl. JA, 26ff., 199f.). Ist die Darstellung der Liebesbeziehung gar als problematisch zu bewerten, da Mini am Ende auf Bela wartet, der allerdings mit seinen Freunden auf einer Ferienfreizeit unterwegs ist, bei der es vornehmlich um Alkohol und Liebschaften der Jugendlichen untereinander geht (vgl. JA, 231)? Wird Mini also Passivität zugeschrieben und Bela Aktivität, was die Gendercodierung stereotyp gestaltet? Die Liebesgeschichte macht jedoch nur einen Aspekt der Handlung des Textes aus, und Minis Gedanken kreisen auch nicht nur um ihren Freund, der ihr am Ende des Textes eine Postkarte schickt, was als eine von seiner Seite ebenfalls ernsthafte Interessensbekundung an ihr gewertet werden kann.44 Mini wartet am Schluss zwar auf Belas Rückkehr, aber vor allem kümmert sie sich verantwortungsvoll und engagiert um die Anliegen und Probleme von Bao, ihrem Vater und Ling sowie um die Zukunft des Restaurants (vgl. JA, 231f.). Außerdem ist Mini diejenige, die den Kontakt zwischen ihr und Bela aufzubauen beginnt, indem sie ihn küsst und mit ihm tanzt (vgl. JA, 24ff.). Des Weiteren wird gerade nicht der Alltag einer adoleszenten Protagonistin konstruiert, sondern das Ausden-Fugen-Geraten desselben durch den Herzinfarkt ihres Vaters und das Eintreffen ihres Onkels Wu. Diese beiden Ereignisse zusammen stoßen das Aufarbeiten der verdrängten Probleme an und wirken sich damit positiv auf den

Aus der (Nach-)Biedermeierzeit heraus entwickeln sich die sog. »Backfischerzählungen«, in denen die Vorstellung einer weiblichen Pubertät als kindlicher Schonraum und gleichzeitiger Übergang zur wohlerzogenen Dame, die sich verlobt und heiratet, vorherrscht. Ab dem beginnenden 20. Jahrhundert werden die Mädchenfiguren zunehmend spontan-kindlich und natürlich-liebenswert konstruiert. Die ideologisch-indoktrinierenden nationalistischen und militaristischen Tendenzen des Genres zur Zeit des Ersten Weltkriegs werden in der NSMädchenliteratur noch verstärkt und weisen vor allem mütterlich aufopfernde oder männlich kämpferische Codierungen auf. Die Mädchenliteratur seit der Nachkriegszeit orientiert sich wieder an der traditionellen Backfischliteratur; beeinflusst von der Frauen- und Studentenbewegung entsteht aber seit den 1970er Jahren eine ›emanzipatorische‹ Mädchenliteratur, die die geschlechtsspezifische Sozialisation problematisiert. Mitte der 1980er Jahre bildet sich dann die psychologische Mädchenliteratur heraus, die anhand der Inszenierung von Gedanken und Gefühlen die Herausforderungen und Bedingungen der Identitätskonstruktion der jungen weiblichen Protagonistinnen mithilfe von modernen erzählerischen Mitteln wie interner Fokalisierung ins Zentrum stellt. Mitte der 1990er Jahre entwickelt sich dann die postmoderne Mädchenliteratur, die humorvoll-ironisch Oberflächenstrukturen repräsentiert, wobei sich die geschlechtsspezifischen Grenzen zur Adoleszenzliteratur auflösen können (vgl. ebd., S. 467f.). 44 Dafür spricht auch, dass Bela ihren eigentlichen Namen auf der Postkarte richtig schreibt. Vgl. Haller, Karin: Que Du Luu: Im Jahr des Affen. Institut für Jugendliteratur. (letzter Zugriff: 13. 10. 2021).

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unabgeschlossenen Identitätsprozess der Protagonistin aus.45 Durch die differenzierte Erzählstruktur, die angesprochene Ironie, Minis Erinnerungsrekonstruktion der vergangenen Flucht mithilfe der Erzählungen des Onkels und Baos und durch die geschilderten Herausforderungen für die Figuren in diesem Zusammenhang kann der Text vielmehr als psychologische, komische und problemorientierte All-Age-Literatur46 eingeordnet werden, die verschiedene Lesarten für jugendliche und erwachsene LeserInnen ermöglicht.47 Zuletzt sei noch kritisch auf die Covergestaltung hingewiesen: Das Cover ziert ein asiatisch aussehendes Gesicht eines Mädchens, das in die Ferne zu schauen scheint. Darüber ist der Titel gedruckt. Genauso überlagern das Foto chinesische Drachen. Der Buchrücken ist, wie einige Verzierungen auf Cover und Rückseite, in Rot gehalten. Einerseits nimmt die Umschlagsgestaltung auf diese Weise den Konflikt der hybriden Identität Minis zwischen chinesisch-vietnamesischer Herkunft und Assimilation in Deutschland auf, andererseits ist anzumerken, dass die Covergestaltung plakativ einen Exotismus ausstellt, den auch die Besucher des Chinarestaurants innerhalb des Textes erwarten und den Mini letzten Endes ironisch zurückweist.

45 In diesem Zusammenhang lohnt die Betrachtung des Rahmens aus Beginn und Schluss des Textes. Beide sind fast identisch formuliert, weshalb die wenigen Änderungen in der SchlussFassung besonders bedeutsam sind: »Ich bog in den kleinen Weg ein, spazierte am Wall entlang und kurz darauf sah ich schon die Tische auf der schmalen Terrasse. […] Das Restaurant sah von außen immer dunkel aus. Erst wenn man eintrat, wirkte es hier normal und die sonnige Welt vor der Scheibe schien zu hell« (JA, 7). »Ich bog in den kleinen Weg ein, spazierte am Wall entlang und kurz darauf sah ich schon die Tische auf der Terrasse. […] Hier [im Restaurant – A.B.] war es gar nicht mehr so dunkel wie noch gerade von außen gesehen. Im Gegenteil. Jetzt wirkte das gedämpfte Licht normal und die sonnige Welt vor der Scheibe schien zu hell zu sein« (JA, 285). Der Blick auf eine beengte Terrasse und das immer dunkle Restaurant hat sich gewandelt zu einer ent- und aufgeschlossenen Perspektive, die vorurteilsfrei wahrnimmt. 46 All-Age-Texte sind nach Carsten Gansel Texte, »die altersübergreifend gelesen werden und erfolgreich sind« (Gansel, Carsten: All-Age-Trends und Aufstörungen in der aktuellen Literatur für junge Leser. In: Der Deutschunterricht 94, 2012, H. 4, S. 4). 47 Auch Gansel betont, dass der Erfolg von All-Age-Texten insbesondere auf ihrer Vieldeutigkeit beruht, was sich bei diesem Text bestätigt (vgl. ebd., S. 5).

Jana Mikota

»Es war einmal 1975« – Von interkulturellen Begegnungen, brüchigen und resilienten Kindheiten im Werk von Christian Duda und Martina Wildner

1.

Einleitung

Literatur eröffnet neue Perspektiven, erzählt von Begegnungen mit fremden Welten und setzt sich mit aktuellen Themen auseinander. Dies gilt insbesondere für den Kinderroman, der die noch jungen Rezipient:innen in die literarische Welt einführt, ihren Blick weitet und auch als zeitdiagnostisches Medium betrachtet werden kann. Während sich der realistische Kinderroman der 1970er Jahre auf die gesellschaftlichen Probleme von Kindheiten fokussierte, langsam die Innenwelten der kindlichen Figuren beleuchtete, um diese dann mit komischen Elementen zu verbinden, lässt sich der realistische Kinderroman seit 2000 in seiner Vielfalt kaum kategorisieren. Wichtige Merkmale der aktuellen, realistischen Kinderromane sind jedoch, dass schwierige/sensible Themen selbstverständlich in die Handlung eingeflochten werden. Hier wird nicht nur von brüchigen, sondern auch von resilienten Kindern und interkulturellen Begegnungen erzählt. »Kinder halten es aus, wenn die Antworten in Büchern unzureichend sind. Es ist nicht die Aufgabe von Literatur, die richtigen Antworten anzubieten oder Wissen zu vermitteln! Wir sind keine Medizin, keine Beruhigungspille, kein Erziehungsleitfaden, sind übrigens auch keine Einschlafhilfe! Es ist viel gewonnen, wenn wir nerven.«1

Christian Duda wehrt sich in seinem Beitrag »Reißt die Puppenstube ein!« in der »Zeit« vom 4. April 2018 gegen eine Kinderliteratur, die die Kinder unterfordert, komplexe Themen ausklammert und formal einfach erzählt. Er lehnt es ab, Kinder- und Jugendliteratur als Erziehungsliteratur zu betrachten, und fordert stattdessen Literarizität und Mut. In seinen Romanen findet sich immer wieder der Blick auf brüchige Kindheiten, auf Fremdsein im Alltag und Ausgrenzung. Es geht Duda aber nicht ausschließlich darum, gebrochene Kinderbiographien zu zeigen, sondern auch, wie Kinder die schwierigen familiären Situationen gut 1 Duda, Christian: Reißt die Puppenstube ein. In: Die Zeit vom 04. 04. 2018.

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überstehen. Eine Frage, die auch Martina Wildner in ihren Texten aufgreift. Auch sie erzählt vom Fremdsein, Außenseitertum und brüchigen Kindheiten, wählt jedoch andere Erzählmuster als Duda. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie starke Kinderfiguren in den Fokus rücken, die trotz risikobehafteter Umstände wie Mobbingattacken, Rassismus oder familiäre Gewalt diese überwinden. Dieses Phänomen wird Resilienz genannt und lässt sich auch in den hier vorgestellten kinderliterarischen Texten, »Das schaurige Haus«, »Die Krähe am unheimlichen See«, »Finsterer Sommer« von Martina Wildner, »Milchgesicht« und »Gar nichts von allem« von Christian Duda, finden. Mit Wildner und Duda stehen somit zwei Autor:innen im Mittelpunkt des Beitrages, die komplexe Themen in ihren Kinder- und Jugendromanen verarbeiten und zugleich durch die literarische Gestaltung von menschlichen Grunderfahrungen erzählen. Dabei finden sich in ihren Werken Themen, die als fester Bestandteil kinder- und jugendliterarischer Texte seit dem Paradigmenwechsel nach 1970 gelten. Dazu gehören unter anderem Ausgrenzung, Ankunft in einem fremden/neuen Umfeld und familiäre Gewalt. Anhand der Romane soll diskutiert werden, wie Duda und Wildner diese literarisch verarbeiten, neue Möglichkeiten des Erzählens finden und Variationen der Themen vorstellen. Damit sollen einerseits exemplarisch aktuelle Entwicklungen des realistischen Erzählens in den Mittelpunkt rücken, andererseits soll auf mögliche Kontinuitäten verwiesen werden. Auf unterschiedliche Weise leisten Wildner und Duda mit ihren kinder- und jugendliterarischen Texten in dem Diskurs um und der Darstellung von Kindheit und die Frage nach Funktion von Kinder- und Jugendliteratur einen wichtigen Beitrag. Trotz aller Unterschiede, die insbesondere die Gestaltung betreffen, zeigen sich bei Wildner und Duda mit Blick auf die Themen auch Gemeinsamkeiten. Ihre Romane stehen für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1970er Jahren: Die Verbindung von psychologischen und komischen Elementen ermöglicht es beiden, komplexe Themenfelder zu entfalten und den jungen Leser:innen Identifikationsangebote zu machen. Martina Wildner erzählt in den hier ausgewählten Romanen von Kindern und Jugendlichen, die sich in der Phase zu Beginn der Pubertät befinden und sich mit Veränderungen innerhalb der Familie und der Peergroup auseinandersetzen müssen. Christian Duda blickt in »Gar nichts von allem« ebenfalls auf Kindheit, die an der Schwelle zur Pubertät steht.

»Es war einmal 1975«

2.

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Kinder- und Jugendliteratur im Wandel – realistisches Erzählen im 21. Jahrhundert

Die Kinder- und Jugendliteratur unterliegt einem steten Wandel, wobei die Veränderungen nach 1968 gravierend sind und neben dem thematischen Wechsel auch ein neues Kindheitsbild hervorbringen. Den thematischen Veränderungen folgen auch jene in der Darstellungsweise sowie Struktur der Texte.2 Kinder- und Jugendliteratur entwickelt sich, so Carsten Gansel, zu »einem Spiegel kindlicher Lebenswelten« und »zu einem Mittel von Zeitdiagnostik«.3 In seinem Beitrag »Reißt die Puppenstube ein!« spricht Duda genau das der aktuellen KJL ab, was die Literaturwissenschaft ihr seit den 1970er Jahren zuordnet. Zudem sieht er die KJL weiter als eine Erziehungsliteratur und kritisiert, dass insbesondere Pädagog:innen bestimmen, was und welche Themen Kinder lesen dürfen. Gründe hierfür können darin liegen, dass Kinderliteratur vielfach in der Schule gelesen wird und man diese nicht als Literatur betrachtet, sondern dass mit Literatur Kinder erzogen werden sollen. Duda konzentriert sich damit auf jene Kinderliteratur, die unter anderem Hans-Heino Ewers als die neue Kinderliteratur des Daseinsernstes bezeichnet und seit den 1970er Jahren einem Funktionswandel unterworfen sieht: »Förderung eines wirklichkeitsbezogenen Problembewusstseins; Entwicklung eines Einfühlungsvermögens nicht nur in Gleichaltrige, sondern auch in Erwachsene oder die Steigerung der Fähigkeit der inneren Selbstwahrnehmung.«4

Ewers kritisiert jedoch die KJL der 1970er, denn diese versperre »den Kindern alle Fluchtwege […,] die Verstecke, die Rückzugsorte, die Geheimwelten, zu denen die Erwachsenen keinen Zutritt haben«5. Auch sieht er im Formwandel insbesondere des Kinderromans den Verlust der Kinderliteratur als Einstiegsliteratur und damit einhergehend aufgrund der Ausleuchtung der Innenwelten den »weitgehend[en] Verzicht auf die traditionellen Formen der Spannungserzeugung«.6 Ein hervorstechendes Merkmal, das in seinen Augen zugleich einen Verlust darstellt, ist das »Ablegen bestimmter Unterhaltungsfunktionen«.7 Die Entwicklung insbesondere der Kinderromane seit 2000 zeigt, dass Autor:innen 2 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. Berlin: Cornelsen 2010, S. 92. 3 Ebd., S. 93. 4 Ewers, Hans-Heino: Die Emanzipation der Kinderliteratur. Anmerkungen zum kinderliterarischen Funktionswandel in einer veränderten Medienwelt. In: Zwischen Bullerbü und Schewenborn. Auf Spurensuche in 40 Jahren deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Renate Raecke. München: Arbeitskreis für Jugendliteratur 1995, S. 16–28, hier: S. 25. 5 Ebd., S. 20. 6 Ebd., S. 24. 7 Ebd., S. 25.

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diese Rückzugsorte, deren Verlust Ewers beklagt, für ihre kindlichen Figuren zurückerobern, ohne auf das gleichberechtigte Kindheitsbild, das sich nach 1968 entwickeln konnte/etablierte, zu verzichten. Auf diese Weise gelingt es, den Blick ins Innere mit spannenden Elementen zu kombinieren und geschickt beide Arten der Kinderliteratur, die unterhaltende und die problemorientierte, zu verbinden.

3.

Resilienz im Kinderbuch

Ein Blick auf die realistische KJL nach 2000 zeigt, dass sich diese fortwährend mit Blick auf Gestaltung und Themen wandelt, das Kindheitsbild jedoch nach wie vor jenem ähnelt, das sich nach 1970 etablieren konnte. Die Fachdisziplinen wie Pädagogik oder Psychologie kennen neben den schwachen, gebrochenen Kindheiten auch starke Kinder, die trotz Risikobelastungen eine Widerstandsfähigkeit herausbilden können und den »entwicklungsgefährdenden Lebensumständen trotzen und sie gelingend bewältigen«.8 Diese Entwicklung bezeichnet man in der Forschung als Resilienz. Diese Fähigkeit ist weder statisch noch auf Dauer, sondern muss »immer wieder neu entwickelt« werden.9 Aber nicht nur im realen Leben finden sich diese Phänomene, auch die Kinderliteratur kennt kindliche Biographien, die trotz schwerer Belastungen wie Armut, Tod, Krankheit ihre Situation bewältigen und Lebensfreude besitzen. Und nicht nur das: Sie können sogar gestärkt aus den Lebensumständen hervorgehen. In der Forschung gilt Pippi Langstrumpf als das bekannteste resiliente Kind.10 Iris Kruse und Sarah Tehorst sehen insbesondere in der phantastischen Kinderliteratur die Beschreibung von resilienten Aspekten, denn mittels phantastischer Helfer:innen sowie magischer Elemente erhalten die Kinder Unterstützung und werden gestärkt. In ihrem Beitrag nennen sie etwa »Mio, mein Mio« (schwed. 1954, dt. 1955) von Astrid Lindgren, aber auch »Frerk, du Zwerg« (2011) von Finn-Ole Heinrich. Die Helfer:innen sind etwa die Zwerge, die Frerk Mut und Stärke verleihen und somit eine »stärkende Wirkung auf die benachteiligten Held:innen«11 ausüben. In der realistischen Kinderliteratur findet sich eine breite Palette an Belastungsfaktoren, von Kindheit in Armut bis hin zu Kindheit in gewalttätigen Familien. Hier können Freunde den kindlichen Figuren unterstützend helfen, aber 8 Kruse, Iris/Terhorst, Sarah: Das starke Kind. Resilienz als Motiv der Kinderliteratur. In: Kinder- und Jugendmedien im inklusiven Blick. Analytische und didaktische Perspektiven. Hrsg. von Daniela Frickel u. a. Berlin u. a.: Peter Lang 2020, S. 257–277, hier: S. 258. 9 Ebd., S. 259. 10 Vgl. Zander, Margherita: Armes Kind – starkes Kind? Die Chance der Resilienz. Wiesbaden: VS-Verlag 2010; sowie Kruse/Terhorst, Das starke Kind. 2020. 11 Ebd., S. 262.

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auch ihr Verhalten – zum Beispiel das Maulen in der »Maulina Schmidt«-Trilogie von Finn-Ole Heinrich – oder das Niederschreiben von Gedanken beeinflussen. In der Kinder- und Jugendliteraturforschung blickte man zunächst auf die Belastungsfaktoren und beschrieb die brüchige Kindheit, und doch treten vor allem im Kinderroman nach der Jahrhundertwende verstärkt Kinderfiguren auf, die diesen Belastungsfaktoren trotzen, sich ihnen widersetzen, so dass man zu der Frage kommt, wie sie es schaffen. Sowohl Christian Duda als Martina Wildner zeigen brüchige Kindheiten, aber sie richten ihren Blick auch auf die resilienten Bewältigungsstrategien und erzählen so in Ansätzen auch von gelingenden Biographien.

4.

Von interkulturellen Begegnungen bei Wildner und Duda

Martina Wildner und Christian Duda erzählen von interkulturellen Begegnungen nicht im Kontext von Flucht und Migration, also einem der zentralen Themen der KJL nach 2015 (vgl. hierzu Wrobel/Mikota 2017),12 sondern konzentrieren sich auf Begegnungen innerhalb eines Landes. Obwohl sie tradierte Themenfelder wie Ausgrenzung und familiäre Gewalt wählen, entsprechen ihre Romane nicht der problemorientierten KJL. Denn ihre Texte rücken nicht nur den kritischen Blick auf ein gesellschaftliches Phänomen in den Fokus, vielmehr wird mittels des Spiels mit Genres sowie einer komischen bzw. drastischen Darstellungsweise Spannung erzeugt und den kindlichen Leser:innen Rückzugsorte aufgezeigt. Und: Trotz aller Probleme, die die Kinder (zu bewältigen) haben, erscheinen die Figuren nicht gebrochen, sondern entwickeln eigene Bewältigungsstrategien und erzählen damit auch von resilienten Kinderbiographien.

»Sachse bleibt eben Sachse«:13 Begegnung mit dem Fremden/Anderen im Schauerroman bei Wildner In ihrer »Allgäu«-Trilogie entwirft Wildner ein kleines Dorf voller Geheimnisse und erzählt von Hendrik, seinem Bruder und seinen Eltern. Diese stammen aus Sachsen, sind aufgrund der neuen Arbeitsstelle des Vaters ins Allgäu gezogen und fühlen sich sowohl in dem gemieteten Haus als auch in der Umgebung 12 Vgl. Wrobel, Dieter/Mikota, Jana: Flucht-Literatur. Texte für den Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2017. 13 Wildner, Martina: Das schaurige Haus. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2016, S. 24 [im Folgenden unter der Sigle »SH« mit Seitenzahl im Text].

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unwohl. Sie werden nicht akzeptiert, die Sprache und das Verhalten der Bewohner:innen ist ihnen fremd. Sie werden als »Ossi« (SH, 33) abgestempelt, und vor allem Hendrik, der Ich-Erzähler, sowie sein jüngerer Bruder Eddi leiden unter dem Umzug und der Ausgrenzung. Hendrik wird aufgrund seiner Aussprache gehänselt, versteht gleichzeitig den Dialekt der Kinder nicht und es fällt ihm schwer, sich anzupassen und neue Kontakte zu schließen. Dabei geht es der Familie materiell besser als in ihrer früheren Stadt C.: Der Vater hat wieder Arbeit, sie leben in einem Haus mit Garten und haben mehr Platz. Was jedoch mit Geborgenheit und Freude verbunden werden könnte, wird im Roman umgekehrt. Das Haus ist zwar relativ neu, kann preiswert gemietet werden, aber es wirkt dunkel und steht schon seit Jahren leer. Hendrik beschreibt es mit Adjektiven wie »kühl«, »dunkel«, »modrig« (SH, 5), und auch die Möbel mussten teilweise übernommen werden. Bereits der Einzug in das neue Haus verstärkt das Gefühl, das etwas nicht stimmt: »Schon nach einer halben Stunde machten die Möbelpacker die erste Pause. Sie standen mit meinem Vater neben dem Laster und rauchten. Mein Vater bot ihnen Bier an. Es war zwei Uhr am Nachmittag. Plötzlich läutete eine Glocke – und zwar nicht die der großen Dorfkirche, sondern die der Kapelle neben unserem Haus. Es war ein hoher, fast schriller Ton.« (SH, 5f.)

Der Vater vermutet, dass es sich um eine »Totenglocke« (SH, 6) handelt. Das jedoch, was als Scherz vom Vater gedacht war, macht Eddi Angst und er begann »zu heulen« (ebd.). Mit den bildhaften Beschreibungen wird neben einer besonderen Stimmung auch Spannung erzeugt. Karin Vach ordnet »Das schaurige Haus« daher der »Fantastik im engeren Sinn«14 zu, denn es steht in der Tradition des Schauerromans und damit in Todorovs Verständnis von »littérature fantastique«.15 Immer wieder dringen unheimliche, irrationale Elemente – etwa Eddis enge Verbindung zu Tieren oder sein Schlafwandeln – in die reale Welt und beeinflussen Ereignisse. Wildner nutzt die Erzählmuster des Schauerromans, um sich der interkulturellen Thematik zu nähern. Schauergeschichten blicken innerhalb der KJL auf eine lange Tradition; als Blaupause für phantastische Kinderund Jugendromane werden die Geschichten von Mary Shelley, Edgar Allen Poe oder E. T. A. Hoffmann genannt (vgl. Lindauer 2018).16 Das Geisterhaus ist ein zentrales Motiv des Schauerromans und findet sich als titelgebendes »schauriges Haus« in der »Allgäu«-Trilogie wieder. 14 Vach, Karin: Zwischen Zeiten und Welten: Herausforderungen des Erwachsenwerdens. Die fantastischen Jugendromane von Martina Wildner. Susan Kreller, Martina Wildner. Heidelberger Kinderliteraturgespräche 2015. Hrsg. von Karin Vach und Gina Weinkauff. München: kopaed 2016, S. 112–122, hier: S. 112. 15 Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die phantastische Literatur. Berlin: Wagenbach 2013; Vach, Zwischen Zeiten und Welten. 2016, S. 113. 16 Vgl. Lindauer, Tanja: Lesegenuss inklusive Nervenkitzel. In: JuLit 3, 2018, S. 21–26.

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Das Verlassen der Heimat gehört zum zentralen Thema des Romans, zudem zeigt Wildner Begegnungen zwischen West und Ost sowie Land und Stadt. Es sind insbesondere die Dorfbewohner, die mit Vorurteilen auf die Familie blicken. Diese werden, wie erwähnt, als »Ossis« bezeichnet und müssen an der zu ihrem Haus angrenzenden Friedhofsmauer folgenden Spruch lesen: »Wir wollen euch hier nicht!« (SH, 70) Die Mutter möchte das Dorf verlassen, der Vater will sich dagegen »nicht unter Druck setzen« (ebd.) lassen. Als sie die Mauer neu streichen, erhalten sie obendrein auch noch diesen Brief vom Pfarrer: »Sehr geehrter Herr Reitsch, wir würden Sie bitten, in Zukunft dafür Sorge zu tragen, dass Ihre Söhne das Gotteshaus nicht mehr als Spielstätte benutzen. Für eventuelle Schäden – auch an der Ihr Grundstück begrenzenden Friedhofsmauer – werden in jedem Falle Sie persönlich haftbar gemacht. Hochachtungsvoll, Pfarrer Helmut Koch« (SH, 71).

Gerade hier zeigt sich der Zusammenhalt des Dorfes, denn Autoritäten wie der Pfarrer akzeptieren die Ausgrenzung der Familie und wirken nicht integrativ. In der Schule und vor allem im Schützenverein erlebt Hendrik Mobbingattacken. Erst langsam findet er mit Ida und Fritz zwei neue Freunde, kann sich jedoch nicht wirklich im Dorf einleben und vermisst sein altes Leben in Sachsen. Als die Familie schließlich zurückkehrt und in ein Hochhaus in C. zieht, findet es Hendrik »toll« und genießt es, »mit [s]einen Freunden so sächsisch wie möglich zu sprechen« (SH, 204). Das Ende überrascht, denn es erscheint fast wie ein Aufgeben der Familie, und das, obwohl Hendrik Freunde gefunden hat. Betrachtet man die Kinderromane, die sich mit Mobbing und Ausgrenzung auseinandersetzen, so wird bis auf wenige Ausnahmen wie etwa Kirsten Boies »Nicht Chicago, nicht hier« (1999) ein integratives Happy End gewählt. Allerdings ist das Ende konsequent, wenn man das Genre des Schauerromans berücksichtigt. Die Familie löst das Geheimnis, bleibt unverletzt und verlässt das verwunschene Haus. Gleichwohl erzählt Wildner nicht nur von Ausgrenzung, sondern führt mit Hendrik einen Jungen ein, der sich langsam auf die Umgebung einlässt und Angebote seiner Umwelt nur mit Zögern aufgreift. Er wirkt, was auch an den negativen Erfahrungen liegt, zunächst misstrauisch und bleibt für sich. Erst langsam schafft er es, sich zu behaupten und auch das Geheimnis des Hauses zu lösen. Trotz Umzug, Mobbingattacken und Einsamkeit zerbricht Hendrik nicht an der neuen Situation, denn vor allem seine Familie, die zusammenhält, aber auch das Mädchen Ida sowie die Freundschaft zu Fritz können als Bewältigungsfaktoren benannt werden. Damit erschafft Wildner vertrauensvolle Beziehungen, die Hendrik helfen, die schwierige Lebenssituation zu überstehen und auch an den Mobbingattacken, denen er zunächst ausgeliefert ist, nicht zu

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zerbrechen. So gewinnt er im Laufe der Geschichte Mut und setzt sich zunehmend zur Wehr. Aber nicht nur Hendrik leidet unter dem Umzug, auch sein jüngerer Bruder Eddi verändert sich, zeigt Interesse an Nacktschnecken, schlafwandelt im Haus und wird zu einem Bindeglied zwischen der rationalen und irrationalen Welt. Er geht eine enge Verbindung mit dem Haus ein und spürt, dass sich dort etwas Seltsames ereignet hat. Vor allem die Mutter blickt voller Sorge auf die Veränderungen ihres Sohnes. Auch Eddi wird, ähnlich wie Hendrik, unterstützt, die enge Beziehung zu seinem Bruder hilft ihm und auch die Suche nach dem Geheimnis des Hauses, dem langsam die Brüder mit Ida auf die Spur kommen und es lösen. Allerdings bleibt Eddis enge Verbindung zu Tieren bestehen, die sich auch in den weiteren Bänden der »Allgäu«-Trilogie zeigt. Ein Kennzeichen der Kinderliteratur seit den 1970er Jahren ist der Blick auf erwachsene Figuren, die ebenfalls mit den gesellschaftlichen oder familiären Veränderungen zurechtkommen müssen und dementsprechend nicht ausschließlich als starke Figuren gezeigt werden. Im »Schaurigen Haus« ist es vor allem die Mutter, die nicht nur sehr besorgt um ihre Kinder ist, sondern auch unter ihrer Arbeitslosigkeit und der Ausgrenzung im Dorf leidet. Ähnlich wie ihre Söhne hat auch sie Probleme den Dialekt der Bewohner zu verstehen. Hendrik, der die Sorgen und Ängste seiner Mutter erkennt, möchte diese beschützen und verschweigt, wie sehr er von den anderen Kindern schikaniert wird. Mit dem Gefühl der Fremdheit müssen sich heranwachsende Leser:innen immer wieder auseinandersetzen, und es bleibt auch im Erwachsenenalter ein aktuelles Problem. Wildner erzählt zwar lediglich von einem Umzug, zeigt allerdings hierüber kulturelle Unterschiede auch innerhalb eines Landes und einer Sprache auf. Sie verzichtet zudem auf ein Happy End, denn die Familie kehrt in ihre Heimatstadt zurück. Das Dorfleben wird kritisch betrachtet und als ein Mikrokosmos gezeigt, in dem Zugezogene kaum akzeptiert werden. Dieses Unerwünschtsein offenbart die Doppelmoral der Menschen, die einerseits auf Ordnung setzen, Häuser und Gärten pflegen, und dagegen alles, was neu ist, ablehnen: »Wir verließen das Grundstück über eine gepflasterte Einfahrt. Kein Grashalm ragte aus den Ritzen. Gelbe und rosafarbene Rosen wuchsen abwechselnd in gleichen Abständen am Seitenstreifen« (SH, 24).

Diese Ordnung, die Hendrik immer wieder erwähnt, wird jedoch eingeschränkt, denn es »roch nach Gras und nach Gülle« (ebd.). Nicht Rosen verbreiten ihren Duft, sondern ein Gemisch aus Gülle und Gras. Dies deutet möglicherweise die Doppelmoral der Einwohner an, die nach außen hin ordentlich sind, im Inneren des Hauses aber nicht. Die so scheinbare heile Welt wird demnach mit Brüchen erzählt, die sich Hendrik im Laufe der Geschichte entfalten.

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Da Eddi das alte Haus erbt, bleibt trotz des Umzuges der Kontakt bestehen, und »Die Krähe am unheimlichen See« erzählt, wie Hendrik, sein Bruder Eddi und der Vater immer wieder ins Dorf fahren müssen. Als dann auf dem Dachboden eine Krähe auftaucht, die von den abergläubischen Dorfbewohnern für jedes Unheil verantwortlich gemacht wird, müssen Hendrik, Eddi und Ida das nächste Geheimnis lösen. Erneut kombiniert Wildner schaurige Elemente mit gesellschaftspolitischen Themen. Dazu gehört beispielsweise der Umwelt- und Naturschutz, denn der Tagebau zur Braunkohlegewinnung oder der Bau eines Stausees werden hinterfragt.

Von resilienten Kindheiten bei Duda Ebenso wie Wildner beschreibt auch Christian Duda in seinen Romanen brüchige Kindheiten sowie Ausgrenzung, ohne jedoch gebrochene Kinderfiguren in den Fokus zu rücken. Dabei wählt er in »Gar nichts von allem« die kindliche Perspektive, um die Welt der Erwachsenen zu sezieren. In allen Romanen verbindet er dabei Fiktives mit eigenen Erlebnissen. In »Gar nichts von allem« wählt Duda eine Variante des psychologischen Kinderromans, den Tagebuchroman. Der kindliche Ich-Erzähler Magdi schreibt über seinen Alltag, hält wichtige und weniger wichtige Situationen fest und nutzt dafür eine Variante des Tagebuchs. Ein Bericht über seine Erlebnisse beginnt mit den für das Märchen charakteristischen Worten »Es war einmal 1975«, um dann einige Monate seines Lebens darzulegen. Trotz des märchenhaften Einstiegs schreibt Magdi aber kein Märchen, sondern über reale Begebenheiten. Märchenhaft erscheinen nur Magdis Wünsche, dass der Boxer Mohammed Ali ihn und seine Geschwister rettet oder die Mutter samt der Kinder den Vater verlässt. »Doch Wünsche gehen nicht in Erfüllung, das habe ich kapiert, bin ja kein Kind mehr« (Duda 2017, S. 37).17 Der Einstieg könnte zugleich auch Zweifel an dem, was Magdi erzählt, stärken. Bereits hier zeigt sich Dudas Spiel mit dem, was und wie er erzählt. Das Tagebuch bzw. der Bericht – immer wieder wählt Magdi als Kapitelüberschrift »Bericht« und kategorisiert sein Schreiben – wird nicht datiert, sondern schildert lose Alltagsereignisse und die detaillierte Analyse seine Umgebung. So beurteilt er unter anderem das Verhalten der Erwachsenen, das er als ungerecht empfindet: »Das Gymnasium ist ungerecht. Wenn ein Schüler dumm ist, muss er auf die Hauptschule, ein dummer Lehrer darf aber bleiben. Das finde ich nicht richtig! Obwohl das stimmt, hat Mama verboten, das ich das herumerzähle« (Gn, 29).

17 Duda, Christian: Gar nichts von allem. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2017 [im Folgenden unter der Sigle »Gn« mit Seitenzahl im Text].

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Duda erzählt von der innerfamiliären Gewalt in einer binationalen Familie. Der Vater stammt aus einem nicht näher bestimmten arabischen Land, arbeitet viel und möchte, dass seine Kinder ein besseres Leben in der BRD haben, als er es selbst hatte. Um dies zu erreichen, erzieht er sie mit Gewalt. Immer wieder werden vor allem Joe und Magdi, der Erzähler der Geschichte, geschlagen, sie dürfen jedoch weder ihren Freunden noch den Lehrer:innen etwas davon sagen. Die Mutter schaut hilflos zu, während die Schwester ebenso wie der jüngste Bruder von den väterlichen Misshandlungen verschont wird. Neben der häuslichen Gewalt erleben die Kinder einen alltäglichen Rassismus außerhalb der Wohnung, der in Dudas Roman auch als struktureller Rassismus bezeichnet werden kann. Die Geschichte spielt in den 1970ern in der BRD und damit in einer Zeit voller Krisen und Umbrüche. Magdi beschreibt in seinem Tagebuch nicht die politischen Entwicklungen, sondern konzentriert sich auf seinen Alltag in der Schule und innerhalb der Familie. Dieser ist bestimmt durch Enge – die vier Kinder teilen sich ein Zimmer –, die väterliche Gewalt sowie den arabischen Nachnamen. Seine Aufzeichnungen, in denen er alltägliche Erlebnisse, aber auch seine Gefühle festhält, helfen ihm jedoch dabei, sein Leben zu verstehen, und zeigen, dass er sich immer wieder seinem Vater hilflos ausgeliefert fühlt. Er will sich dagegen wehren und sagt offen, dass er seinen Vater hasst. Dass er seine Gefühle niederschreibt, hilft ihm, die Situation zu bewältigen. Da er sich physisch weder gegen die Eltern noch die anderen Erwachsenen wehren kann, hilft ihm das Schreiben, die Gefühle zu sortieren und stärkt damit seine Resilienz. Magdis Mutter verteidigt die Kinder nicht, setzt den Gewaltausbrüchen des Vaters nichts entgegen und wird daher im Verlauf des Romans von Magdi zunehmend kritisch beschrieben. Er erkennt, dass sie ebenfalls schuldig ist. Nicht nur, dass sie die Gewaltausbrüche ihres Mannes toleriert und den Kindern erklärt, dass der Vater sie liebe und nur ihr Bestes wolle, auch sie selbst neigt zur Gewaltanwendung. Zwar entschuldigt sie sich hinterher jedesmal und tröstet die Kinder, verteidigt dabei aber auch immer den Vater: »›Himmerherrgott!‹, schreit Mama. ›Was erlaubst du dir? Wie kannst du nur so mit ihm reden? Er ist dein Vater! Was fällt dir ein? Was fällt euch allen denn nur ein? Habt ihr denn gar keinen Respekt vor euren Eltern!‹« (Gn, 144)

In der dem Zitat vorangegangenen Szene müssen die Geschwister erleben, wie sich der Vater die Aufzeichnungen von Magdi nimmt, und befürchten, dass er ihn schlagen wird. Die Schwester schreit beiden Elternteilen entgegen, dass sie sie hasst, und verdeutlicht so, dass die Mutter auch Täterin ist. Der Vater verlässt nach dem Streit die Wohnung, worauf Joe die Mutter als »hundsgemeine Verräterin« (Gn, 145) bezeichnet. Erst am Ende schaffen es die Geschwister gemeinsam, den Eltern Widerstand zu leisten. Dennoch: Duda verzichtet auf ein Happy End. Magdis Geschwister Yasmina und Joe lesen das Heft und finden es

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gut, woraus Magdi ableitet, dass das »wenigstens ein gutes Ende« sei (Gn, 152). Der Vater selbst wird sich nicht ändern, denn er »ist [der], der er ist« (Gn, 146). Magdi indes will sein Schreiben nicht fortsetzen. Zugleich ist er zwischen den Wünschen seiner Eltern und seinen eigenen hin- und hergerissen, denn er möchte auch seinen eigenen Weg gehen. Für seine Eltern ist Schulbildung wichtig, die Kinder sollen lernen und gehorchen. Magdi dagegen wünscht sich mehr Freiraum. An zwei Stellen im Buch findet sich – als Graffiti besonders von der Illustratorin Julia Friese hervorgehoben – der Spruch »Revolution ist machbar, Herr Nachbar« (Gn, 87, 114). Diese Worte spiegeln Magdis Wunsch, sich zu wehren und die Situation zu ändern, wider. Denn er ist nicht nur der Gewalt seines Vaters, sondern auch der seiner Umgebung ausgeliefert. Immer wieder erlebt er, dass er nicht ernstgenommen wird; Ärzte, Apothekerinnen bezweifeln, dass er ein Gymnasium besuchen kann oder überhaupt Deutsch versteht: »Die Apothekerin redet jetzt sehr laut mit mir, weil sie mich für einen blöden Ausländer hält, und das ist schlimm, weil das Mädchen noch neben mir steht und nun bestimmt denkt: ›Ach, noch so ein blöder Ausländer!‹ Aber ich sehe nur aus wie ein Ausländer. Ich kann zwar gerade nicht reden, aber sonst schon! Ist so, weiß auch nicht, warum. Ich kriege das voll mit und kann’s trotzdem nicht ändern. Alptraum!!« (Gn 78f.)

In dieser Szene fühlt sich Magdi auch anderen Erwachsenen ausgeliefert und kann sich nicht wehren. Aber nicht das Verhalten der Apothekerin ärgert ihn – er ist es gewohnt, immer nur aufgrund seines Äußeren wahrgenommen und eingeordnet zu werden –, sondern dass das Mädchen es mitbekommt und seine Sprachlosigkeit erlebt. Er möchte als der Junge Magdi wahrgenommen werden, stattdessen wird er aber nicht als ein Individuum betrachtet, sondern lediglich als ein Ausländer. Obwohl Magdi mit der für ihn charakteristischen Lakonie und Ironie die Situation beschreibt, bemerkt man dennoch, dass es ihn verletzt. Diese Brüchigkeit zeigt sich aber nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch in Magdis Freundschaften. Sein bester Freund Rino musste das Gymnasium verlassen und wurde von seinen Eltern auf ein Internat geschickt, weshalb die Jungen keinen Kontakt mehr haben. Magdi beschreibt immer wieder die tiefe Freundschaft, die ihn mit Rino verbunden hat, denn er war sein Huckleberry (vgl. Gn, 104). Rino war der einzige Mensch außerhalb der Familie, der von den Gewaltübergriffen seines Vaters wusste. Seinen anderen Freunden, Rainer, Oliver oder Hörner, hat Magdi es nicht anvertraut, auch weil sein freundschaftliches Verhältnis mit diesen drei Jungen vor allem auf Spaß und Unsinn basiert. Magdis Anderssein wird demzufolge von außen konstruiert, das heißt er wird zu einem Ausländer gemacht. Folgt man seinen Aufzeichnungen, so unterscheiden sich seine Gefühle, Fragen und Ängste kaum von denen anderer Gleichaltriger mit und ohne einen binationalen Hintergrund: Er steht am Beginn seiner Pubertät,

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entdeckt körperliche Veränderungen, verliert seinen besten Freund und muss sich mit Lehrer:innen ärgern.

Von brüchigen Kindheiten bei Duda Zwei typische Kennzeichen der Romane von Christian Duda sind zum einen die psychologische Tiefe ihrer Figuren in deren individueller Ausformung und zum anderen die Konstruktion von Erzählinstanzen, die sich den Figuren nur von außen nähern, also ihnen im Sinne von Peter Härtling eine Stimme geben und sich als ihr Anwalt verstehen. In Dudas »Milchgesicht« blickt folglich ein IchErzähler auf den Protagonisten Sepp, einen Jungen, dessen Schicksal in der Familie verschwiegen wurde.18 Der Erzähler möchte jedoch den »Versuch« wagen, »einem Leben Gestalt zu geben«, das heißt eine Geschichte erzählen, die »ja keine Geschichte ist« (Mg, 18). Diese basiert auf Dokumenten und Fotos, die IchErzähler in der Schublade seiner verstorbenen Großmutter entdeckt hat und anhand derer er versucht, das Leben des Jungen Josef, von allen Sepp genannt, narrativ zu rekonstruieren bzw. »zusammenglauben« (ebd.). Somit dominiert ein selbstironischer, mitunter spöttischer und böser Ton, der die Situation im Dorf beschreibt und Kritik, aber auch Empathie ausklammert und diese stattdessen den Leser:innen überlässt. Dudas Sprache wirkt karg, erscheint aber auch von Untertönen geprägt, mit denen der Erzähler provoziert und Sympathien/ Antipathien steuert: »Die Mutter behilft sich mit einem Bauerntrick und gibt dem Kind einen ›Zuz‹, einen Stoffschnuller, den sie zuvor mit Schnaps getränkt hat. Gerade zur Welt gekommen, liegt Sepp schon im Vollrausch unterm Wetter. Hackedicht! Wären nicht die Ausschläge im Gesicht und die entzu¨ ndeten Augen gewesen, Sepp wäre noch lange besoffen am Ackerrand gelegen« (Mg, 23).

Immer wieder kommentiert der Erzähler das Verhalten der erwachsenen Figuren. Anders als Härtling, der bereits zu Beginn seines Romans »Das war der Hirbel« (1973) einen Erzähler einführt, der Partei für den beeinträchtigten Hirbel ergreift und so die Missstände einer Gesellschaft entlarvt, setzt Duda mit den Worten »Was ich weiß …« (Mg, 7) ein und deutet damit an, wenig zu wissen. Duda schildert aber nicht nur das Aufwachsen eines Kindes mit einer Beeinträchtigung, sondern auch die es einschränkende patriarchal geprägte dörfliche Gemeinschaft. Die verwandtschaftlichen Zusammenhänge sind unklar, und auch der Ich-Erzähler kann nicht herausfinden, in welchem verwandtschaftlichen

18 Duda, Christian: Milchgesicht. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2019 [im Folgenden unter der Sigle »Mg« mit Seitenzahl im Text].

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Grad Sepp zu seinen Großeltern steht. Er blickt von außen auf das Leben der Menschen, verfügt über das Wissen eines aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts und verurteilt nicht, entlarvt aber die allgemeine Rückständigkeit. Als Erzähler des 21. Jahrhunderts ist er zwar nicht damit einverstanden, wie man sich gegenüber Sepp verhält, aber er kann, da er die zeitlichen Umstände berücksichtigt, nicht anklagen, sondern nur aufdecken. Die Handlung spielt in der Steiermark in den 1950er Jahren, in denen Leben von harter Arbeit und Entbehrungen gekennzeichnet ist: »Im 19. Jahrhundert und auch noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Gegend am und um den Semmering ohne Verkehrswege, die Dörfer und Einsiedlerhöfe ohne Anbindung« (Mg, 20).

»Nix los hier!« (ebd.) erzählen die Menschen, ohne zu ahnen, was diese Aussage bedeutet. Es findet weder ein kultureller noch ein sozialer oder genetischer Austausch statt. Die Menschen arbeiten und leben in Großfamilien. Erst das Stahlwerk sowie der »Zuzug von Arbeitskräften« verändern die Situation (Mg, 21). Sepp, dessen »Haut schon auffallend weiß« ist (ebd.), verträgt die Sonne nicht und macht den Eltern zu viel Arbeit. Ausgegrenzt wird jedoch nicht nur Sepp, sondern auch die Frau, zu der er gebracht wird und die nur »Tante« (Mg, 25) genannt wird. Als unverheiratete Frau hat sie einen geringen Status im Dorf, nimmt zudem Abtreibungen vor und wird schließlich verhaftet. In der deutschsprachigen KJL existieren bislang nur wenige Romane, in denen die Handlung in die 1950er bis -70er Jahre versetzt wird. So blickt zum Beispiel Mirjam Pressler in »Novemberkatzen« (1982) oder in »Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen« (1994) auf diese insbesondere für Kinder schwierige Zeit; Sabine Ludwig setzt sich in ihrem Roman »Schwarze Häuser« (2014) mit Erholungsheimen auseinander; und Kirsten Boie in »Monis Jahr« (2003) sowie Paul Maar in »Kartoffelkäferzeiten« (1990) blicken auf die Gesellschaft dieser Zeit, die zwischen Aufschwung und Vergessen changiert. Duda beschreibt in »Milchgesicht« eine engstirnige Gesellschaft, in der Glaube und harte Arbeit das Leben der Menschen bestimmen und Anderssein nicht akzeptiert wird. An keiner Stelle im Roman wird das Verhalten mittels einer Erzählinstanz kommentiert, vielmehr hält sich Duda für seine implizite Kritik an die Fakten und entfaltet eine Szenerie, in der man sich anpassen muss und alle, die anders sind, keine Akzeptanz erfahren. Dennoch bleibt Duda immer nahe bei den Außenseitern, ergreift für sie Position und möchte an sie erinnern. Anders als Wildner wählt er kein auf Spannung und Unterhaltung ausgerichtetes Genre, sondern erzählt distanziert, wofür er ein literarisches Mittel wählt, das ein genaues, drastisches Erzählen sowie ein Beschreiben der Lebenssituation der damaligen ländlichen Bevölkerung gewährleistet. Dabei setzt er, ähnlich wie Wildner, auf den religiösen Glauben der Menschen, indem er eine Doppelmoral

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Jana Mikota

der Gesellschaft entlarvt, die er als patriarchalisch und inzestuös entwirft. Zwar entlarvt auch Wildner die Doppelmoral der Dorfbewohner, die alles Fremde ablehnen und sogar eine Mörderin schützen, allerdings wächst Hendrik in einem liebevollen Umfeld auf, in dem die Eltern für ihre Kinder sorgen. Duda dagegen zeigt eine Gesellschaft, in der Menschen, die anders sind, keine Chancen haben. So erweist sie sich zwar nicht als herzlos – Sepp wird von der Tante liebevoll aufgezogen –, aber als brutal, insofern die Menschen das »Andere« fürchten und alles ablehnen, was sie nicht kennen. Ihre Religion legitimiert teilweise ihr Verhalten, denn neben der Arbeit bestimmt der Glaube ihr Leben. Es existieren wenig resiliente Faktoren, denn Duda zeigt mit Sepp ein Kind, das den Menschen ausgeliefert ist. Lediglich die Tante gibt ihm für einige Jahre Schutz und Liebe, aber der Zeitraum ist begrenzt, und außerhalb der Wohnung erfährt Sepp Brutalität und Ausgrenzung. Duda verzichtet hier auf entlastende Momente, um von Sepps Leben zu erzählen.

5.

Fazit – Spannendes und Unterhaltendes als Stärkung

An den modernen Kinder- und Jugendbuchmarkt werden unter anderem die Forderungen gestellt, dass KJL die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln muss und interkulturelle Begegnungen ermöglichen sowie den jungen Leser:innen Figuren unterschiedlicher Lebenswelten anbieten soll. Sowohl Martina Wildner als auch Christian Duda erfüllen diese Ansprüche, erzählen von menschlichen Grunderfahrungen und kombinieren geschickt Genres, Komik und Realismus. Beide setzen sich dabei auf unterschiedliche Weise auch mit dem Lebensabschnitt kurz vor der Pubertät auseinander, ohne diese Phase jedoch zu idealisieren. Duda erzählt von Magdi, der an sich körperliche Veränderungen bemerkt, nicht weiß, ob er verliebt ist, aber auch kein Gespräch mit seinem Bruder sucht. Wird demnach wie in Dudas Texten auf ein egalitaristisches Kindheitsbild verzichtet, so lässt es sich mit dem historischen Kontext erläutern; Duda widersetzt sich vor allem in »Milchgesicht« einer Literatur, die stärker auf Vereinfachung und Harmonie setzt. Vielmehr entwirft er mit seinem Roman eine triste Gesellschaft im dörflichen Milieu. Zwar thematisiert er in »Gar nichts von allen« das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen, aber der Roman setzt den Fokus auf Magdi und erzählt, wie dieser trotz aller Probleme es schafft, zu überleben und nicht zu brechen. Ein weiterer Aspekt ist, dass Duda Gewalt in einer binationalen Familie schildert und einen Vater mit Migrationshintergrund zeigt, der seine Söhne schlägt. Damit bricht er ein Tabu, denn Gewalt wurde in kinder- und jugendliterarischen Texten bisher vor allem in Familien ohne Zuwanderungsgeschichte thematisiert. Zudem führt Duda keine Figur ein, die die Kinder schützt. Wildner dagegen nutzt in den vorgestellten Romanen das Spiel mit den

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Genres, um einerseits Spannung zu erzeugen, andererseits sich komplexen Themen zu nähern. Beide nutzen jedoch das Bild der brüchigen Kindheit, um den Aspekt der Resilienz einzuflechten und nach Bewältigungsstrategien zu fragen. In diesem Zusammenhang hilft es Magdi, seine Gedanken und Gefühle in einem Tagebuch aufzuschreiben, während Hendrik das Freundschaftsangebot annimmt. Sepp dagegen bekommt außer seiner Tante, die jedoch im Laufe der Geschichte verhaftet wird, keine Unterstützung. Die elterlichen Figuren spielen in den hier vorgestellten Romanen eine unterschiedliche Rolle: Während Wildner ihre erwachsenen Figuren auch als Helfer: innen vorführt, erhalten die kindlichen Akteure in Dudas Romanen nur bedingt Unterstützung seitens der Erwachsenen. Zwar schenkt die »Tante« in »Milchgesicht« Sepp etwas kindliche Geborgenheit, aber das ist eine Ausnahme. So blickt Duda in beiden Romanen zwar in die Vergangenheit, zeigt hierbei aber weder ein egalitaristisches Kindheitsbild noch Erwachsene, die den Kindern helfen. Schaut man sich in dieser Hinsicht noch einmal zum Schluss die eingangs beschriebene Kritik bzw. Sorge von Ewers an, dass die Kinderliteratur an Spannung verliere,19 so lässt sich dies nur bedingt für die hier ausgewählten Romane festhalten. Vielmehr stehen Duda und Wildner stellvertretend für weitere Autor: innen wie Nina Weger, Uticha Marmon oder den mehrfach preisgekrönten Autor Andreas Steinhöfel, das heißt für eine Autor:innengeneration nach 2000, die einerseits von komplexen Themen erzählt, andererseits Spannung und Komik nutzt und sich somit von dem problemorientierten Kinder- und Jugendroman der 1970er Jahre abhebt.

19 Vgl. Anm. 4.

Hadassah Stichnothe

Spiegelbilder – Julya Rabinowichs Poetik der Migrationserfahrung in »Dazwischen: Ich« (2016)

Abb. 1: Karl Pawlowitsch Brjullow: »Svetlana at fortune-telling« (1836, Nizhniy-NovgorodMuseum).

1.

Einleitung

Am Beginn des Romans »Spaltkopf« von 2008 der österreichischen Schriftstellerin Julya Rabinowich ist die Protagonistin Mischka »wieder einmal« dabei, eine Grenze zu überschreiten. Sie befindet sich an Bord einer Fähre von Irland nach

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Hadassah Stichnothe

Schottland. Grenzüberschreitungen dieser Art sind keine Neuigkeit für sie, wie sie den Lesern bereitwillig versichert: »Mein Spiel ist das Tempelhüpfen von Land zu Land. Danebentreten wäre unklug: Dann scheidet man aus. Der Rest der Mitspieler sitzt noch im Out: Sie sind in Russland und warten auf ihre Ausreise nach Israel.«1

Der Wechsel von einem Land ins andere ist für die Ich-Erzählerin Mischka offenkundig mehr als nur eine Reiseleidenschaft. Er ist eine existentielle Notwendigkeit, die sie mit ihrer Verwandtschaft teilt, die jedoch auch die Möglichkeit des Scheiterns in der Fremde beinhaltet: »einige ahnen zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von ihrem Glück, andere wissen nicht, dass sie auch diesem Zielland einmal den Rücken kehren werden: ab nach Hause, husch, husch, husch ins Körbchen« (Sk, 9). Die Möglichkeiten und Gefahren der Migration werden somit expositionsartig im Bild eines Spiels mit bitterernstem Hintergrund ausgelotet und bestimmen auch den weiteren Verlauf des Romans. Gleichzeitig wird für die Leser klar, dass es sich bei Mischka Familie wohl um eine russisch-jüdische handelt, von denen vereinzelt seit den 1970er und in verstärktem Maße ab Ende der 1990er Jahre Hunderttausende die Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten verließen. Auch die Autorin Rabinowich emigrierte als Kind im Alter von sieben Jahren mit ihrer Familie aus ihrer Heimat Leningrad (heute Sankt Petersburg) nach Wien. Die durch die Migration bedingte Erfahrung von plötzlicher Entwurzelung, Sprachlosigkeit und Neubeginn prägt nicht nur ihre Biographie, sondern steht auch im Zentrum ihres Debütromans »Spaltkopf«, dessen Protagonistin Mischka eine Reihe von Merkmalen mit der Autorin teilt, angefangen vom Beruf der Eltern (beide sind Maler) über optische Details wie Haarfarbe bzw. Frisur von Mutter und Tochter bis zum Alter der Tochter bei der Migration. Diese Fülle von biographischen Details in fiktionaler Verfremdung führt dazu, dass »Spaltkopf« ein sehr persönlich wirkender Roman ist, der den Blick auf die Migrationserfahrung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe lenkt. Im Gegensatz zur subjektiven Erfahrung in »Spaltkopf« wendet sich Rabinowich in ihrem Jugendroman »Dazwischen: Ich« dem Themenkomplex von Migration und Flucht aus einer universalen Perspektive zu. Hier ist es weniger das autobiographisch motivierte Partikulare als das Allgemeingültige, Überzeitliche der Erfahrung von Krieg, Verfolgung, Flucht und Ankommen, das die Poetik des Romans bestimmt. Literarästhetisch bedient sich Rabinowich in ihrem Jugendroman einer Poetik der Universalisierung von Fluchterfahrung, die im deutlichen Kontrast zur Verarbeitung ihrer persönlichen Migrationsgeschichte in dem all1 Rabinowich, Julya: Spaltkopf. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2011, S. 9 [im Folgenden unter der Sigle »Sk« mit Seitenzahl fortlaufend im Text].

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gemeinliterarischen Roman »Spaltkopf« steht. »Dazwischen: Ich« erzählt die Geschichte von Madina, die sich nach der Flucht ihrer Familie in einem neuen Land und einem neuen Alltag zurechtfinden muss. Weder das Herkunftsland noch die neue Heimat der Protagonistin werden im Text konkret benannt, auch die genauen Umstände von Madinas Flucht bleiben im Unklaren. Die Ungenauigkeit der Lebensumstände der Protagonistin verweist die Handlung somit ins Parabolische. Im Folgenden sollen zunächst die ästhetischen Mittel untersucht werden, mit denen Rabinowich eine größtmögliche Offenheit im Text von »Dazwischen: Ich« erzielt. Im Anschluss wird im Rahmen einer vergleichenden Textanalyse die Darstellung der Migrationserfahrung in »Dazwischen: Ich« mit jener in »Spaltkopf« in Bezug gesetzt. Hierbei sollen insbesondere die intertextuellen Verbindungen zwischen den beiden Romanen sowie weiteren Prätexten aufgegriffen werden. Abschließend wird im Kontext aktueller Fluchtliteratur für Kinder und Jugendliche auf die Möglichkeiten und Grenzen einer Universalisierung der Fluchtthematik eingegangen werden.

2.

Die Poetik des Universalen in »Dazwischen: Ich« »Es war immer dasselbe. Nur die Namen wechselten. Die Namen wechseln, und die Gewalt bleibt.«2

In »Dazwischen: Ich« verwendet Rabinowich textuelle Uneindeutigkeiten bzw. Vieldeutigkeiten, um die Universalität von Madinas Erfahrung zu betonen. Der Roman setzt mit einem kurzen Absatz ein, der die narrative Strategie der folgenden Erzählung zusammenfasst und als poetologisches Motto des Romans gelesen werden kann: »Wo ich herkomme? Das ist egal. Es könnte überall sein. Es gibt viele Menschen, die in vielen Ländern das erleben, was ich erlebt habe. Ich komme von Überall. Ich komme von Nirgendwo. Hinter den sieben Bergen. Und noch viel weiter. Dort, wo Ali Babas Räuber nicht hätten leben wollen. Jetzt nicht mehr. Zu gefährlich.« (DI, 7)

Die autodiegetische Erzählerin Madina betont in diesem ersten Absatz, dass weniger die Spezifika ihrer Erfahrung als bedeutsam zu betrachten sind als das Allgemeine ihrer Erfahrung, die sich für viele Menschen weltweit wiederholt. Leserinnen und Leser werden somit in einer Geste der offensiven Leserlenkung dazu angehalten, Madinas Geschichte als beispielhaft zu lesen. Da es aus Sicht der Erzählstimme »egal« ist, wo Madina herkommt, werden auch keine weiteren 2 Rabinowich, Julya: Dazwischen: Ich. München: Carl Hanser 2016, S. 28 [im Folgenden unter der Sigle »DI« mit Seitenzahl im Text].

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Abb. 2: Cover von »Dazwischen: Ich« (2016).

Angaben zu Madinas Herkunft gemacht. Gleichzeitig wirft die betont unkonkrete Ortsangabe »[h]inter den sieben Bergen« als Referenz auf das Symbolsystem des Märchens die Frage nach Madinas tatsächlicher Herkunft auf. Auch der nachfolgende Text bietet nur wenige räumliche oder zeitliche Anhaltspunkte für die Leserinnen und Leser. Da der Roman die Fiktion entwirft, es handele sich um das Tagebuch der Protagonistin, das diese von der Mutter ihrer besten Freundin geschenkt bekommen habe, fehlen erklärende Passagen oder auktoriale Kommentare, die einer solchen Einordnung dienen könnten. Die Angabe »Ich habe früher viel gelacht« (DI, 7) weist eher auf die Differenz zur heutigen Situation der Erzählerin hin, als dass sie einen zeitlichen Rahmen bietet. Die Information, dass die Protagonistin schon Menschen habe sterben sehen, ergänzt mit dem Zusatz »[w]er das weiß, weiß mehr von mir als die meisten hier« (ebd.), ist ebenfalls eher ein Hinweis auf die augenblickliche Situation. Die Situation der Erzählerin zerfällt somit in ein »Früher«, das im Gegensatz zur Gegenwart der Erzählsituation steht, sowie in eine Situation »hier«, die sich fundamental von der Situation im »Dort« – dem Herkunftsland der Protagonistin – unterscheidet. Sie beherrscht mittlerweile »die Sprache«, aber welche das ist, wird zunächst nicht erwähnt. Erst einige Seiten später wird klar, dass es sich bei der

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erwähnten Sprache wohl um Deutsch handeln muss, da Madina »Deutsch« als Unterrichtsfach hat und auch die Namen ihrer Lehrer und Klassenkameraden mehrheitlich deutsch klingen (DI, 13). Aus dem Kontext erschließen sich nach und nach weitere Informationen. Die neue Freundin heißt Laura, die Protagonistin selbst Madina, ihr Bruder Rami, die Tante Amina. Während der Ort der Handlung bzw. das »Hier« von Madinas Erzählung relativ klar auf die deutschsprachigen Länder eingegrenzt werden kann, erlauben die Namen der Protagonistin keine eindeutige Eingrenzung auf einen Sprach- oder Kulturraum. So lassen sich die Namen Madina und Amina zwar dem arabischen Sprachraum zuordnen, Rami ist hingegen ein über diesen Kulturkreis hinaus verbreiteter männlicher Vorname. Zudem handelt es sich um Namen, die auch in anderen Sprach- und Kulturkreisen verwendet werden. Aminas Vorname ist darüber hinaus auch ein möglicher Verweis auf die Titelrolle in Vincenzo Bellinis Oper »La Sonnambula« (1831), die mit Rabinowichs Protagonistin ihr ungewöhnliches nächtliches Verhalten gemeinsam hat: Während Bellinis Amina durch ihr Schlafwandeln fast um ihr Liebesglück gebracht wird, sitzt Madinas Tante Amina bei Rabinowich ganze Nächte wie erstarrt am Fenster. Mori, Madinas beste Freundin in der Heimat, sowie deren kleine Schwester Lolo tragen Namen, die sich nur schwer zuordnen lassen, da es sich möglicherweise um individuelle Koseformen handelt. Wie sich gezeigt hat, ergibt sich aus der Wahl der Vornamen keine klare kulturelle Verortung, mögliche Einordnungen werden wie im Fall von Amina durch intertextuelle Verweise aufgebrochen. Weitere Hinweise auf die Herkunftskultur der Protagonistin ergeben sich aus den Schilderungen des Essens, das in ihrer Familie üblich ist. So erinnert sich Madina sehnsüchtig an »Reis mit Rosinen und mit Lammfleisch oder Hühnchen mit Pflaumen und Salatschüsseln mit Granatäpfeln und Datteln garniert«, an »die Gewürze, Rosenwasser und Früchte« sowie die »Schlagsahne mit Vanille und Zimt« (DI, 23f.), mit der die Mutter in der Heimat ihre Süßspeisen zubereitet hat. Diese Zutaten und Speisen könnten zwar dem arabischen Raum zuzuordnen, doch ebenso gut einer zentralasiatischen Küche wie der usbekischen entlehnt sein. Gleiches gilt für das Kopftuch als traditionelle weibliche Kopfbedeckung oder das Amulett in Form »eine[r] ausgestreckte[n] Hand mit blauem Auge darin« (DI, 22), die ebenfalls eine zu große Verbreitung aufweisen, als dass sie eine eindeutige Zuordnung erlauben würden. Bei einer unterrichtlichen Bearbeitung des Textes wäre darauf zu verweisen, dass hier bestimmte kulturelle Marker eingesetzt werden, die zwar Assoziationen mit anderen Kulturen hervorrufen, sich aber bei genauer Betrachtung nicht auf eine bestimmte Kultur festlegen lassen. Eine präzise Unterscheidung zwischen eigener Interpretation bzw. Assoziation und textuellen Hinweisen und Leerstellen ist hier von besonderer Notwendigkeit und stellt damit erhöhte Anforderungen an die Kompetenzen der Leserinnen und Leser.

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Auffallend bei der Lektüre des Romans ist jedoch, dass die neue Heimat von Madina recht eindeutig als europäisch und deutschsprachig gekennzeichnet ist. Auch die Hinweise auf religiöse Zugehörigkeiten und Rituale zerfallen in ein bewusst vage gehaltenes »Dort« und ein konkret christliches »Hier«. So erwähnt Madina, dass sie in der Heimat dabei geholfen habe, die Toten »mit allen Ritualen« zu beerdigen (DI, 50), wobei jedoch offenbleibt, um was für Rituale es sich dabei gehandelt hat. Bei ihrer Deutschlehrerin Frau King hingegen »hängt ein Kruzifix, von dem aus der sterbende Jesus direkt in meine Teetasse starrt« (DI, 93). An anderer Stelle wird die unterschiedliche Feiertagskultur angesprochen, indem Madina anmerkt, es gebe auch hier »Feiertage, an denen man traurig zu sein hat. Karfreitag zum Beispiel. Oder Gedenktage. Schweigeminuten. Ich habe hier viele dieser besonderen Tage nicht als solche erkannt und mich manchmal danebenbenommen, nicht fröhlich genug, nicht traurig genug, nicht ernst genug. Nicht genug wissend, um das Spiel mitzumachen.« (DI, 98f.)

Diese Passage verdeutlicht, dass Madina wohl aus einem nicht (nur?) christlich geprägten Land kommt, doch letztlich ist auch das nicht eindeutig zu klären, könnte Madina den Karfreitag doch auch aus ihrer Heimat kennen. Auch die politische Situation in ihrer Heimat ist denkbar vage geschildert: Der »Depp« aus Madinas Unterkunft, der von einem eigenen Staat mit dem »einzig wahren Glauben« redet (DI, 81), steht zwar offenkundig für die Gefahr der Radikalisierung und des Terrorismus im Namen einer Religion, doch lässt sich diese eben nicht festlegen. Später zeigt er Madina ein Flugblatt mit »junge[n] Männer[n] in Kampfmontur. Tragen Stirnbänder mit Schriftzug und stehen auf Panzern, im Hintergrund wehen Fahnen« (DI, 97). Die Schilderung ist geeignet, um mediale Bilder von Kämpfern unterschiedlichster Herkunft abzurufen, ohne dass diese einem bestimmten Konflikt zuzurechnen wären. Die kulturellen Referenzen auf Madinas neue Heimat werden im Gegensatz zu denen auf ihre Heimat nicht erklärt, das »Hier« der Erzählerin ist offenkundig auch das »Hier« der impliziten Leserinnen und Leser. Somit ist der Roman auch als ein Appell an die Empathiefähigkeit dieser Leserinnen und Leser zu verstehen, die einen Einblick in die allgemeine Befindlichkeit von geflüchteten Menschen bzw. eines jungen geflüchteten Mädchens und seiner Familie erhalten sollen. Eine weitere Lesart für die Unbestimmtheit der Erzählung bietet die Situation der Erzählerin, die sich als Ergebnis einer erlittenen Traumatisierung lesen lässt. Schließlich werden gerade die traumatischen Erlebnisse der Protagonistin von dieser zunächst bewusst nicht erzählt, da sie zu schmerzhaft und belastend sind. So erfahren die Leserinnen und Leser an einer Stelle lediglich, die Erzählerin habe »bestimmte Bilder im Kopf« (DI, 15). An mehreren Stellen bricht Madina den Tagebucheintrag ab, wenn sie beim Schreiben zu nahe an die belastenden Erinnerungen herankommt, und erklärt beispielsweise: »Nein, das mag ich jetzt nicht

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schreiben. Aus. Schluss. Sofort. Ich gehe jetzt aufs Klo und trinke dann ein Glas Wasser« (ebd.). Aus dieser Perspektive lässt sich die Erzählweise des Tagebuchromans auch als Bewältigungsmechanismus der Protagonistin interpretieren, mit dem sie belastende Erinnerungen zurückdrängen kann, noch bevor diese ihr Denken vollkommen bestimmen. Freilich stellt sich an Stellen wie der oben zitierten die Frage, ob eine solch distanzierte Selbstreflexion (»das mag ich jetzt nicht schreiben«) tatsächlich glaubhaft ist oder sie eher der Weiterführung des Erzählflusses dient. Die Form des Tagebuchromans führt so zu Einbußen in der mimetischen Wirkung des Textes. Auf der Handlungsebene funktioniert Madinas Distanzierungsstrategie tatsächlich nur eine gewisse Zeit und stößt in dem Moment an ihre Grenzen, in dem sie unvermutet mit einem die traumatischen Erinnerungen auslösenden Moment konfrontiert wird. Ein solcher Auslöser ist etwa das Feuerwerk, das in Madinas neuem Wohnort gezündet wird und dessen grelle Lichtblitze zusammen mit dem Geräusch von Explosionen bei ihr eine Panikattacke auslösen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Rabinowich in »Dazwischen: Ich« kulturelle Marker als uneindeutige Zuschreibungen verwendet, die lediglich vage Vermutungen über die Herkunft der Protagonistin zulassen. Die Namen der Figuren ebenso wie Hinweise auf Besonderheiten der Eigenwie der Fremdkultur der Protagonistin sind uneindeutig, evozieren zum Teil widersprüchliche Bilder und verhindern letztlich eine eindeutige Zuschreibung. Eine Analyse der im Text erwähnten kulturellen Marker führt tatsächlich nicht zu einer genaueren Standortbestimmung, sondern fördert ein widersprüchliches Bild zutage. Der Roman verlangt nach genauem Lesen und bietet unterschiedliche Lesarten an. Die Uneindeutigkeit des Textes stellt zwar einerseits eine formale Schwierigkeit dar, ermöglicht andererseits jedoch auch breitere Anknüpfungsmöglichkeiten, können die zahlreichen Leerstellen doch ausgefüllt werden durch individuelle Bilder von Eigen- und Fremdkulturen. Sich diesen Prozess kritisch zu vergegenwärtigen, stellt somit eine lohnende Herausforderung für den didaktischen Umgang mit Rabinowichs Text dar. Hier bietet sich das literarische Unterrichtsgespräch an, um die eigene Lesehaltung zu reflektieren.

3.

»Spaltkopf« und »Dazwischen: Ich« – Die Poetik des Partikularen und die Poetik des Allgemeinen

So sehr sich Rabinowich in ihrem Jugendroman um eine größtmögliche Allgemeingültigkeit der Erfahrung von Madina bemüht, so individuell und durchaus auch autobiographisch geprägt ist die Situation der Protagonistin Mischka in ihrem allgemeinliterarischen Debütroman »Spaltkopf« ausgestaltet. Der Roman

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erzählt die Geschichte des schwierigen Entwicklungsweges der Protagonistin Mischka, die als siebenjähriges Mädchen von ihrem Heimatort Leningrad zu einer vermeintlichen Urlaubsreise nach Litauen aufbricht, die sich zu ihrer Überraschung als Emigration nach Wien entpuppt. Der langwierige Prozess der Emigration, die Integration in ein fremdes Wertesystem und die Zugehörigkeit zu mehreren Kulturen und Sprachen werden auf satirisch-humorvolle Weise geschildert. Die Geschichte Mischkas und ihrer russisch-jüdischen Familie rekurriert dabei immer wieder auf die Dualität von Erinnern (der eigenen Identität) und Vergessen bzw. Verdrängen, die sich im Bild des »Spaltkopfs« verdichtet, der die verdrängten Erinnerungen und Gefühle der Familienmitglieder in sich aufnimmt und als spöttisch-distanzierte Erzählinstanz an die Leser weitergibt. Während ein Großteil des Romans durch die homodiegetische Erzählerin Mischka intern fokalisiert ist, stehen im Text immer wieder kursiv gesetzte Einschübe, die von einem zunächst nicht näher bestimmbaren Erzähler in der ersten Person erzählt werden. Erst im Laufe der Lektüre wird deutlich, dass es sich hierbei offensichtlich um den Spaltkopf selbst handelt, der als zweiter extradiegetischer Erzähler mit Fortschreiten des Romans immer mehr an Kontur gewinnt. Durch ihn erfahren die Leser von der jüdischen Identität der Großmutter Ada, die, um ihre Herkunft zu verschleiern, aus ihrem Vater »Igor, nicht Israil« machte (vgl. u. a. Sk, 23, 41, 47). Flucht und das Trauma erlittener Gewalt haben bereits in der Großmuttergeneration von Mischkas Familie heftige Identitätskrisen und Verwerfungen ausgelöst, die in Adas Fall zur Verleugnung der eigenen Familiengeschichte geführt haben. In der Erzählinstanz des Spaltkopfs artikuliert sich das kollektive Familientrauma und somit die verdrängten Erinnerungen, die zwar von deren Trägern abgespalten sind, sich aber weiterhin geradezu zwanghaft artikulieren. In den ihm zuzuordnenden Passagen artikuliert sich das Paradoxon des Sich-Erinnern- bei gleichzeitigem VergessenMüssen. So unterschiedlich Handlung und Erzählsituation beider Romane sind, existieren jedoch auch enge thematische Bezüge und nicht zuletzt ein Netz intertextueller Referenzen, die eine vergleichende Lektüre von »Spaltkopf« und »Dazwischen: Ich« nahelegen. Zunächst ist es offenkundig die Erfahrung der Migration und, damit verbunden, der Fremdheit, die beide Texte prägt. Darüber hinaus wiederholen sich auch Figurenkonstellationen wie die enge, aber auch schwierige Vater-Tochter Beziehung, die durch den Verlust des Vaters eine dramatische Wendung erhält3, oder die enge Vertrautheit zwischen Großmutter 3 Auch hier ließen sich Parallelen zum Leben der Autorin ziehen, die ihren Vater mit 18 Jahren verlor. Eine Reduktion der Texte auf biographische Bezüge erscheint jedoch wenig sinnvoll. Vgl. Rybalska, Yanetta: Die matrilineare Familienstruktur in Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf oder: Wer ist eigentlich Baba Yaga Girl? In: ZiG – Zeitschrift für interkulturelle

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und Enkelin, die in beiden Romanen eine wichtige Rolle spielt, bis zu dem Punkt der Überschneidung in den Beschreibungen der beiden Großmutterfiguren. Sowohl Mischkas Baba Sara als auch Madinas Großmutter sind Vertrauenspersonen, die für die Enkelin eng mit ihrer zurückgelassenen Heimat verknüpft sind. Der Geruch der Großmutter wird gleichlautend als »ein bisschen muffig«, aber auch als ein Geruch »nach Gewürzen«– und in Baba Saras Fall nach Zigarettenrauch – beschrieben (Sk, 93; DI, 52), die traditionelle Kleidung – das »Rosenmeer« (ebd.) auf dem Nachthemd von Madinas Großmutter und der »Kaftan mit roten Rosen darauf« von Baba Sara (Sk, 94) – verbindet die jeweilige Enkeltochter mit Geborgenheit und Sicherheit, aber letztlich auch mit dem Verlust von beiden. Deutlich unterscheiden sich jedoch die Reaktionen der beiden Protagonistinnen auf die Trennung von der Großmutter. Während sich Madina bemüht, durch Briefe und eine imaginierte Reise zu ihrer Großmutter die Verbindung aufrechtzuerhalten, reagiert die jüngere Mischka mit kindlichem Trotz, der in satirischer Übertreibung dargestellt wird: »Ich empfinde ihren Verlust als bösen Verrat ihrerseits. Hätte ich es gekonnt, ich hätte in ihren Koffer gepinkelt wie eine beleidigte Katze.« (ebd.) Gemein ist den Protagonistinnen allerdings die demütigende Erfahrung, aus einer Kultur zu kommen, die von der neuen als minderwertig abgewertet wird, sei es Mischka, die in ironischer Distanz auf ihr kindliches Ich zurückblickt, das schon nach dem ersten Genuss eines Fruchtjoghurts seine »armseligen Eingeborenengüter bereit[hält], um sie zum Tausch anbieten zu können« (Sk, 55), oder Madina, die mit ebenso beißender Ironie mit Blick auf ihre Englischlehrerin feststellt: »Ich glaube, wenn ich mit einem Bananenblätterschurz daherkäme oder einem Baströckchen, sie würde sich nicht wundern« (DI, 142). Abgesehen von diesen thematischen Parallelen, bestehen noch weitere intertextuelle Beziehungen zwischen den Texten, die von der Verwendung einer sich überschneidenden Kette von Sprachbildern und Motiven bis zu dem gemeinsamen intertextuellen Bezugsrahmen der (europäischen) Märchenwelt reicht. Dazu zählt unter anderem die Metapher des »Abgebissen«-Seins als physischer Ausdruck der Migrationserfahrung, die in beiden Romanen verwendet wird. In »Dazwischen: Ich« äußert Madina: »Abgebissen wirkt das Land, abgebissen fühlte ich mich auch, als wir aufbrachen, als hätte jemand die Zähne in mich geschlagen und ein Stück aus mir herausgebissen« (DI, 248). Mischka variiert diese Metapher folgendermaßen:

Germanistik 7, 2016, H. 1, S. 97–114, hier: S. 97: »Im Bemühen aber, möglichst genaue Parallelen zwischen dem Leben der Protagonistin und dem der Autorin zu ziehen, läuft man Gefahr, das Werk als eine künstlerisch aufgearbeitete Autobiographie bzw. Familiengeschichte der Autorin zu simplifizieren und somit wichtige sozialkritische Aspekte des Romans zu übergehen.«

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»Abgebissen wirkt der Küstenstreifen, man kann die Schichten seines Fleisches gut erkennen. Abgebissen fühle ich mich auch, denn das Land, aus dem ich kam, hängt nicht an mir, und ich nicht an ihm. Keine Fasern verbinden mich mehr damit.« (Sk, 9)

4.

Symbolsystem Märchen als gemeinsamer Prätext

Sowohl »Dazwischen: Ich« als auch »Spaltkopf« referieren wiederholt auf das Symbolsystem Märchen, das den Leserinnen und Lesern neue Bedeutungsebenen eröffnet. Nicht nur werden Märchenmotive aufgegriffen, miteinander verschränkt und verfremdet, auch das Märchen(hafte) ist ein wiederkehrendes Thema beider Texte. So wird in »Spaltkopf« der Prozess der Migration selbst als ein Wechsel zwischen verschiedenen (Märchen-)Texten beschrieben: »Die Emigration ist ein langwieriger Prozess, der widersprüchlich, nämlich abrupt, beginnt, wie der Ausbruch einer Krankheit oder die Zeugung eines Kindes. Der Emigrant bricht auf, als Hans im Glück in die Welt zu ziehen, und landet in einem ganz anderen Märchen.« (Sk, 45)

Analog hierzu wird in der bereits zitierten Anfangspassage von »Dazwischen: Ich« der Rahmen der Grimmschen Märchenwelt mit dem von »Tausendundeine Nacht« vertauscht. »Hinter den sieben Bergen« verweist als Zitat aus »Schneewittchen« auf einen Ort, der nicht einfach erreichbar und unbekannt ist, der Hinweis auf »Ali Babas Räuber«, die ihre Beute in einer Berghöhle verstecken, hingegen auf einen gefährlichen Ort, der jedoch von Madinas Heimat noch übertroffen wird (DI, 7). Madinas Heimat ist ein Ort, der selbst die abgebrühtesten Märchenbösewichter noch das Fürchten lehren kann. Zuflucht, Schatzversteck und Schreckensort zugleich – die Verschränkung zweier Märchenmotive aus zwei unterschiedlichen Kulturkreisen führt zu einer Vielzahl an Assoziationsmöglichkeiten und erweist sich zugleich als eine Strategie der Verschränkung europäischer mit außereuropäischen Motiven. Die Märchen aus »Tausendundeine Nacht« werden mit dem europäischen Märchen zusammengeführt und die Polyvalenz dieses Doppelbildes bestimmt die weitere Erzählweise des Romans. Während in »Dazwischen: Ich« häufig auf weitverbreitete Märchenmotive wie den Wald oder die schöne Prinzessin Bezug genommen wird, ist »Spaltkopf« von intertextuellen Verweisen auf das russische Zaubermärchen durchzogen4. Hier spielen zum einen die Figur der Baba Yaga, aber auch die Sagenfigur der Herrin vom Kupferberg eine Rolle. Letztere wird erstmals in einer Szene erwähnt, in der 4 Vgl. Schwaiger, Silke: Baba Yaga, Schneewittchen und Spaltkopf: Märchenhafte und fantastische Elemente als literarische Stilmittel in Julya Rabinowichs Roman Spaltkopf. In: Alman Dili ve Edebiyati Dergisi – Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 30, 2013, H. 2, S. 147– 162, hier: S. 150ff.

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die schwangere Mutter der Protagonistin in einem russischen Märchenbuch blättert, die Illustration mit der Herrin vom Kupferberg betrachtet und sich »ein Mädchen, mit einer Haut so weiß wie Schnee und einem Mund rot wie Blut« wünscht (Sk, 15). Wie zu Beginn von »Dazwischen: Ich« werden hier zwei Bilder aus unterschiedlichen Märchen-Prätexten gewissermaßen übereinandergelegt, die das Bild einer schönen, aber grausamen Königin entwerfen. Der zweite Prätext, auf den hier zurückgegriffen wird, ist offenkundig »Schneewittchen«, ein Märchen, das um die Konkurrenz zwischen (Stief-)Mutter und Tochter kreist und als zentrales Motiv das des Zauberspiegels verwendet, das auch in »Spaltkopf« – wie in »Dazwischen: Ich« – leitmotivisch eingesetzt wird. Weiterhin setzt die Autorin hier auch einen intermedialen Bezug, der zugleich ein autobiographischer ist: Die Mutter der Autorin, die Malerin Nina Werzhbinskaja-Rabinowich, produzierte einen Zyklus von Bildern zu Märchenmotiven, unter denen sich auch ein Werk von 2006 mit dem Titel »Herrin des Kupferbergs« befindet. Sowohl Mischka als auch Madina identifizieren sich mit unterschiedlichen Märchenfiguren. Mischka konstruiert sich eine Identität als »Baba Yaga Girl«, die furchtlos und stark ist, stellt jedoch an einer Stelle bedauernd fest: »Ich wollte eine Nixe sein. Es ist sich aber nur eine Baba Yaga ausgegangen« (Sk, 181). Die Gegenüberstellung von Nixe und Baba Yaga verweist erneut auf zwei potenziell tödliche, möglicherweise aber auch hilfreiche Märchenfiguren. Doch während die Nixe schön und verführerisch ist, erscheint die Baba Yaga im russischen Märchen fast durchgängig als eine abschreckend hässliche, alte Frau. Die Nixe ist jedoch andererseits eine passive Figur, sie ist an ihr Gewässer gebunden und häufig auf das Agieren eines männlichen Protagonisten angewiesen, um ihre Macht ausüben zu können. Diese Passivität ist kein Kennzeichen der Baba Yaga, die trotz ihrer Körpermasse über eine erstaunliche Mobilität verfügt: Sie fliegt in einem Mörser oder bewegt sich auf andere magische Art und Weise fort und kann so die Figuren verfolgen. Auch das Baba-Yaga-Girl Mischka ist keine unbewegliche oder passive Frau. Zudem unterläuft die offenkundige erotische Anziehungskraft der häufigen Gewichtsschwankungen unterworfenen Protagonistin (sie hat eine ganze Reihe von Liebhabern) das Klischee, weibliche Attraktivität hänge von einem möglichst niedrigen Körpergewicht ab. Im Roman benutzt Mischka ihren Körper wiederholt kreativ zur Abgrenzung und zur Subvertierung von Rollenbildern. Die Baba Yaga ist durch Ambiguität gekennzeichnet, sie »vereinigt in sich Leben und Tod, Zerstörung und Erneuerung, das Weibliche und das Männliche«5, und es ist diese Gegensätzlichkeit, die sich auch in Mischkas Charakter widerspiegelt. Analog zu Mischkas Konstruktion als Schneewittchen erfolgt Madinas Identifikation mit dem Motiv der Märchenprinzessin. Als Lauras Mutter Madina das 5 Rybalska, Familienstruktur. 2016, S. 101.

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blaue Tagebuch mit einem silbernen Schlüssel schenkt, in dem diese ihre Geschichte aufschreibt, fühlt sie sich augenblicklich »[w]ie im Märchen. Nur Prinzessinnen haben solche Schlüssel« (DI, 21). Genauer gesagt, fühlt Madina sich »wie eine Instantprinzessin, eine Auf-der-Stelle-Prinzessin«, eine Formulierung, die an Filmtitel wie »Plötzlich Prinzessin« erinnert, in denen das Adoleszenzthema mit der Wunschphantasie des Makeovers bzw. der Verwandlung in eine schöne Prinzessin gekoppelt wird. Doch schon im nächsten Satz stellt die Erzählerin klar, dass sie ausdrücklich nicht auf das eher konservative Rollenverständnis jener Prätexte zurückgreift. Sie imaginiert sich nicht als Prinzessin, »die im Turm auf den Prinzen wartet«, sondern als »[e]her so eine, die um ihr Königreich kämpfen wird« (ebd.). Die Umformung der an das figurale Motiv »Prinzessin« geknüpften Rollenvorstellungen ergibt nun das Bild einer Kriegerprinzessin bzw. Kämpferin. Gleichzeitig verweist es auf die Bedrohung der topographischen Heimat der Protagonistin ebenso wie auf deren Innenleben, ihre persönliche Verortung in einem kulturellen Zwischenbereich, der Elemente von »dort« und »hier« beinhaltet. Eine ähnliche Funktion erfüllt auch Madinas Märchenwald, ein imaginierter Rückzugsort, der ihre Ängste und Hoffnungen widerspiegelt und in den sie sich in schwierigen Situationen zurückzieht. Bereits in ihrer Heimat verwendet Madina den Märchenwald als innere Zuflucht vor den Kriegshandlungen (DI, 25). Im Flüchtlingsheim bietet er einen Ausweg aus den innerfamiliären Spannungen: »Manchmal gibt es keinen Weg raus außer den nach innen« (DI, 26). Auch im Vergleich des Umgangs beider Texte mit dem Referenzsystem Märchen fällt auf, dass in »Spaltkopf« auf eine deutlich unterscheidbare Reihe von Prätexten verwiesen wird, zum einen auf das russische Zaubermärchen, zum anderen auf das westeuropäische Buchmärchen Grimmscher Prägung sowie die Kunstmärchen von Andersen und Hauff. In »Dazwischen: Ich« hingegen steht der Verweis auf das Grimmsche Märchen neben einer allgemein gehaltenen Referenz auf das Symbolsystem Märchen, das, wie Madina feststellt, im Kulturkreis ihres Zufluchtsorts anders ausgeprägt ist als in ihrer Heimat.

5.

Das Spiegelmotiv

Beide Romane verwenden an zentralen Punkten der Handlung das Spiegelmotiv, das zum einen eine intertextuelle Verbindung zu weiteren Prätexten schafft (s. o.), zum anderen als Symbol der Identitätssuche der Protagonistin dient. Sowohl Mischka als auch ihre Mutter sind geradezu leidenschaftliche Betrachterinnen ihres Spiegelbilds, das ihnen als Selbstversicherung dient, sie aber auch im Fall der Mutter mit dem stets drohenden Verlust der Schönheit und Jugend konfrontiert. Nach dem Tod ihrer Großmutter und der Entdeckung von deren

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jüdischer Identität wird der Blick in den Spiegel zur Obsession: »Um mein Gesicht nicht ständig zu verlieren, blicke ich in meinen Taschenspiegel. Manchmal bis zu dreißig Mal am Tag. Überall und immer blicke ich in den Spiegel« (Sk, 176). Mischkas ständige Spiegelblicke veranschaulichen die zwanghafte Suche nach einem stabilen Selbstbild und die ständige Angst, dieses zu verlieren. Der Spiegel wird somit zum Symbol der Gefahr des Selbstverlustes, aber auch der Möglichkeit der Selbstversicherung. Nicht zuletzt sieht Mischka am Ende des Romans in der Spiegelung der Fensterscheibe den Spaltkopf, das »private Ungeheuer« ihrer russisch-jüdischen Familie, das deren verdrängte Erinnerungen in sich sammelt und als zweite Erzählstimme deren Entwicklung spöttisch-lakonisch kommentiert. Erst am Ende des Romans und am Ende von Mischkas Selbstfindung – und zwar bezeichnenderweise bei einem Besuch in ihrem Geburtsland Russland – wird die Aufspaltung zwischen der Erzählerin Mischka und dem Spaltkopf als Erzähler des kollektiven Familiengewissens aufgelöst. Mischka erblickt in der Fensterscheibe »ein seltsames Gesicht. Halslos, gasförmig, und viel größer als mein eigenes, das ich durch es hindurchscheinen sehe. Ich erkenne ihn sofort. Den Spaltkopf« (Sk, 203). Die Leser wissen bereits aus einer früheren Passage des Romans, dass der Spaltkopf seine Macht verliert, sobald man ihn sieht. Die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit in ihrem Geburtsland ermöglicht Mischka die buchstäbliche Integration der abgespaltenen Familienerinnerung und durch diese hindurch schließlich den klaren Blick auf ihre Geburtsstadt: »Ich nähere mich ihm vorsichtig, bis Nase und Stirn die kühle Scheibe berühren und ich durch ihn in die St. Petersburger Hinterhöfe tauche und nur noch Häuser ringsum zu sehen sind« (ebd.). Das Hinein- bzw. Hindurchgehen durch dieses Spiegelbild kann somit als das Ende der Vergangenheitsverdrängung gelesen werden, durch die der Spaltkopf bislang überlebte.6 Das Spiegelmotiv durchzieht den gesamten Roman und dient auch als Anspielung auf unterschiedliche Prätexte wie Hans Christian Andersens »Schneekönigin« (Sk, 57) oder Lewis Carrolls »Alice hinter den Spiegeln« (Sk, 140). Gleichzeitig verweist es auf die Fotoserie »Blick in den Spiegel« von Nina Werzhbinskaja-Rabinowich, die Selbstporträts der Künstlerin aus den Jahren 1998–2001 zeigt. Spiegel sind ebenfalls ein wichtiges Motiv der gemalten Selbstbildnisse von Werzhbinskaja-Rabinowich.7

6 Rutka interpretiert den Spaltkopf hingegen als diskursiven »dritten Raum, mit dem die Handlungsermächtigung im hybriden Ort ermöglicht wird« (Rutka, Anna: »Der dritte Raum« als Aushandlungsort des postsowjetischen Traumas. Zu Migrationsromanen von Julya Rabinowich Spaltkopf und Lena Gorelik Die Listensammlerin. In: Colloquia Germanica Stetinensia 27, 2018, S. 53–66, hier: S. 61). 7 Vgl. Werzhbinskaja-Rabinowich, Nina: Virtuelle Bildergalerie. Saal 3: Selbstportraits. (letzter Zugriff: 26. 05. 2021).

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Abb. 3: Screenshot Homepage der Autorin: Porträt und Spaltkopf-Gemälde.

Abb. 4: Der Spiegel als (Selbst-)Reflektion. Nina Werzhbinskaja-Rabinowich: Selbstporträt.

Die hier von der Autorin angelegten Verweise laden zu einer biographisch motivierten Interpretation ein, die freilich unter dem Blickwinkel auktorialer Selbstinszenierung betrachtet werden muss. Der Aspekt der Selbstinszenierung von autodiegetischer Erzählerin, der Autorin Rabinowich, und dem Verweis auf entsprechende Aspekte im Werk der Malerin Werzhbinskaja-Rabinowich bietet einen lohnenden Ansatz für eine weitergehende Untersuchung, dem an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann. Für Madina ist hingegen der Blick in den Spiegel nicht so einfach möglich wie für Mischka. Ihre Beziehung zu ihrem Körper und dem anderer unterliegt ver-

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schiedenen Tabus, so dass sie sich die wenigen Blicke in den Spiegel geradezu erschleichen muss. Gleichwohl markieren die Spiegelszenen in »Dazwischen: Ich« wichtige Momente in der Entwicklung der Protagonistin. So nutzt sie die kurze Zeit in der Umkleidekabine beim Einkaufen, um sich dort in einem großen Spiegel zu betrachten. Erst hier kann Madina, die sich seit zwei Jahren nicht mehr vollständig in einem Spiegel betrachtet hat, die mit der Pubertät einhergehende körperliche Veränderung an sich betrachten: »Und dann habe ich mich im Spiegel betrachtet. Und mich angesehen. Und angesehen. Versucht, mich zu erinnern, wie ich vorher war. Als Kind. Ich sah so verändert aus. Und auch ein bisschen haarig. Wie eine Erwachsene. Das dunkle Schamhaar war ein Schatten zwischen meinen Beinen. Weiß noch nicht, ob ich das mag. Eher nicht so. Konnte den Blick nicht losreißen von dieser fremden Madina im Spiegelrahmen. Die wirkte so unwirklich wie ein Bild. Habe mich gefragt, wo denn dieses alte Ich geblieben ist. Das mit den langen dünnen Beinchen und dem Blähbauch.« (DI, 71f.)

Die Betrachtung des eigenen Körpers im Spiegel ist für Madina ein Moment der Selbstentdeckung und -versicherung, der ihr einerseits den Verlust ihrer Kindlichkeit vor Augen führt, ihr aber auch ein Bewusstsein für ihr neues, sich langsam zur Frau entwickelndes Ich schafft. Später nutzt Madina die wenigen Momente allein im Zimmer, um ihr sich veränderndes Spiegelbild zu betrachten (DI, 134). Die kurzen flüchtigen Momente der Vergewisserung schaffen somit ein Gegengewicht zur Alltagserfahrung der Protagonistin, die einerseits durch den Eintritt in die Pubertät von ihrem Vater mit größerer Strenge behandelt wird. Andererseits wird Madinas gesamter Alltag als eine Erfahrung körperlicher Alterität kodiert, in der ihr Körper ständig als »unpassend« empfunden wird, »[w]eil er anders aussieht und anders riecht« (DI, 75). Die körperliche Erfahrung der Ausgrenzung spiegelt sich auch in »Spaltkopf« wider, wenn die Erzählerin Mischka ihren Migrationshintergrund als »das Anrüchige einer kleinen Immigrantin« beschreibt, das sich »nicht mal mit Chanel« abwaschen lässt (Sk,11). Ebenso empfindet Madina: »Ich werde nie sein wie die. Sogar wenn ich die tollste [Sport-]Ausrüstung hätte und ein schönes eigenes Zimmer und täglich zum Friseur liefe. Meine Angst wäre noch da. Mein Ducken, wenn sich jemand zu schnell in meiner Nähe bewegt. Ich muss mich daran gewöhnen.« (DI, 75)

Die Erfahrung bzw. Entdeckung des neuen Ichs im Spiegel zeigt den Lesern durch die Augen der intern fokalisierten Erzählerin die zunehmende, auch körperliche Fort-Entwicklung von dem alten Ich, das aus der Heimat geflüchtet ist. Das neue Ich ist bereits durch die neue Umgebung geprägt, der Blick der Protagonistin unterscheidet sich in seinen Werturteilen bereits von denen, mit denen sie aufgewachsen ist. Die Spiegelung des Ichs – sowohl im physischen Spiegel als auch im diskursiven des Tagebuchs in »Dazwischen: Ich« – wird für die Protagonistin

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zu einem notwendigen Mittel der Selbsterfahrung in dem radikalen Transformationsprozess von Migration und Adoleszenz.

6.

Motiv: Verlust des Vaters

Der Verlust des Vaters zieht sich als drohende und letztlich verwirklichte Gefahr leitmotivisch durch beide Romane. In »Dazwischen: Ich« ist es zunächst der Vater von Madinas bester Freundin, der von deren Mutter getrennt lebt und in der ehemals gemeinsamen Wohnung nur noch als Leerstelle auf den Familienfotos präsent ist. Die Fotos sind beschnitten worden, »[e]infach seitwärts weg« (DI, 18), so dass der Verlust des Vaters gerade durch dessen Nichtsichtbarkeit visualisiert wird. Doch auch Madina erlebt eine fortschreitende Entfremdung von ihrem Vater, der, verunsichert durch das Leben in einer ihm fremden Gesellschaft, zu immer restriktiveren Erziehungsmethoden greift. Über die interne Fokalisierung durch die Protagonistin erleben die Leserinnen und Leser deren Hilflosigkeit, als sie beobachtet, wie der ›früher‹ so fortschrittliche Vater ›hier‹ in patriarchale Rollenmuster verfällt. Der Konflikt verschärft sich durch die Adoleszenz der Tochter, deren sichtbare Reife Anlass zu weiterer Besorgnis gibt. Dieselbe Dynamik findet sich bereits in »Spaltkopf« angelegt, als Mischka mit Beginn ihrer Pubertät feststellt: »Mein Vater, eigentlich liberal und weltoffen, fällt ins tiefste Patriarchat zurück. […] Alle Freiheiten, die mir bisher gewährt wurden, werden von meiner Periode hinweggeschwemmt« (Sk, 80). Beide Romane fokussieren die fortschreitende Entfremdung zwischen Vater und Tochter als schmerzhaften Prozess, der durch die Migrationserfahrung vorangetrieben wird. Die gelingende Integration der Tochter wird als Verrat an der eigenen Kultur empfunden, während die Tochter dem Verharren des Vaters in der Erinnerung mit Ratlosigkeit begegnet. Die Entfremdung zwischen Eltern und Tochter wird schließlich in beiden Romanen mit derselben Formulierung ausgedrückt: »Sie haben dich gestohlen« (Sk, 91; DI, 165). Die Handlung beider Romane steuert auf den traumatischen Verlust des Vaters nach der Migration zu. In beiden Romanen entschließt sich der Vater der Protagonistin zur Rückkehr in sein Heimatland. In »Spaltkopf« erleidet der Vater zurück in Russland einen tödlichen Herzinfarkt, seine Heimreise wird zur Rückkehr »[i]n Mütterchen Russlands erdige Arme« (Sk, 136). In »Dazwischen: Ich« wird zwar nicht der Tod des Vaters erzählt, doch ist vollkommen klar, dass dessen Rückkehr in ein Kriegsgebiet, wo er gesucht wird, mit der größten Gefahr für sein Leben verbunden ist. Da sein jüngerer Bruder gefangen genommen wurde, um die Rückkehr des eigentlich gesuchten älteren Bruders zu erpressen, kehrt Madinas Vater in seine Heimat zurück und gehorcht damit der Logik der

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Gewalt: »Ein Leben für ein Leben. Auge um Auge. Zahn um Zahn« (DI, 222). Irritierend wirkt jedoch die Tatsache, dass hier ausgerechnet im Werk einer jüdischen Autorin die antijudaistische Fehlinterpretation des Verses aus Exodus 21:23, der eigentlich eine Schadensersatzzahlung regelt, als Ausdruck eines archaischen Racheverständnisses bemüht wird. Die letzten Worte des Romans spiegeln die Schwere des Verlusts ebenso wider wie die Hoffnung der Zurückbleibenden auf ein neues Leben: »Ich sage nichts. Ich winke. Papa winkt zurück. Dreht sich um und geht raus. Die Tür fällt zu. Er geht. Wir bleiben da. Ich werde dableiben.« (DI, 255)

Zunehmende Distanz und letztendlich der Verlust des Vaters sind in beiden Romanen die Folgen des Migrations- bzw. Fluchtprozesses. In beiden Fällen werden die Rückkehr in die Heimat und der anschließende bzw. wahrscheinliche Tod des Vaters in eine enge, in Madinas Fall sogar direkte kausale Verbindung gebracht. Rabinowich thematisiert den Verlust eines Teils der Familie als Folge von Migration und Flucht in einer radikalen Form, die das Unwiederbringliche der Verlusterfahrung betont. Im Vergleich zwischen »Spaltkopf« und »Dazwischen: Ich« lassen sich zahlreiche intertextuelle Verknüpfungen nachweisen, die die Lektüre beider Texte bereichern können. Die Wechsel zwischen den Erzählinstanzen verbunden mit Pro- und Analepsen sowie die Dichte und Polyvalenz der intertextuellen Verweise erzeugen in Rabinowichs allgemeinliterarischem Roman »Spaltkopf« zweifellos eine wesentlich höhere ästhetische Komplexität, als sie in »Dazwischen: Ich« erreicht wird. Dies mag zum einen der jüngeren Zielgruppe geschuldet sein, von der eine derartig hohe Lektürekompetenz noch nicht unbedingt erwartet werden kann. Darüber hinaus ist sie jedoch auch das Ergebnis des im ersten Teil dieses Beitrags skizzierten literarischen Verfahrens. Der Mangel an kulturellen Spezifika führt auch zu einer Limitierung der Prätexte, da diese keine zu deutliche ausgangskulturelle Prägung aufweisen dürfen, um die Fiktion der Universalität nicht zu gefährden. Die ästhetischen Grenzen dieses Verfahrens werden hier deutlich.

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7.

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»Dazwischen: Ich« im Kontext aktueller Fluchtliteratur

In den letzten Jahren sind zahlreiche Kinder- und Jugendbücher zum Thema Flucht und Migration erschienen.8 Während es gerade bei Büchern für jüngere Kinder auch einige Publikationen gibt, die das Phänomen möglichst universell darzustellen versuchen, wird in Romanen für Jugendliche oft eher die Partikularität der Erfahrung betont bzw. auch auf komplexe politische Zusammenhänge eingegangen. So wird in dem Bilderbuch »Die Flucht« (2016) von Francesca Sanna der Weg einer Familie aus einem nicht näher bestimmten Kriegsgebiet geschildert, das allenfalls durch die Illustrationen möglicherweise dem arabischen Raum zuzurechnen ist.9 Bereits der Titel des Bilderbuchs »Zuhause kann überall sein« von Irena Kobald und Freya Blackwood verweist auf das Konzept, eine universelle Geschichte von Flucht und Ankommen zu schildern. Folgerichtig hat auch die Protagonistin »Wildfang« einen Namen, der sie weniger als Individuum denn als Prototyp eines Mädchens ausweist, wenngleich auch hier die Illustrationen und nicht zuletzt der Vertrieb in einer deutsch-arabischen Ausgabe eine konkretere Lokalisierung nahelegen. Andere Autorinnen und Autoren bemühen sich hingegen, gerade die Hintergründe politischer Konflikte für kindliche bzw. jugendliche Leserinnen und Leser erfahrbar zu machen. So schildert Adriana Stern in dem Jugendroman »Und frei bist du noch lange nicht« (2016) die zunächst ernüchternden Erfahrungen der aserbaidschanisch-jüdischen Familie von Zippi in Deutschland nach ihrer Flucht. Typischerweise wird die Erfahrung der Isolation durch die Begegnung mit einem anderen geflüchteten Kind, hier dem syrischen Jungen Saladin, gemildert. Steve Tasane hingegen bedient sich in dem Jugendbuch »Junge ohne Namen« (2019) wie Rabinowich des Prinzips der poetischen Verallgemeinerung, indem die unbegleiteten Jugendlichen, die sich in einem nicht näher bezeichneten Flüchtlingslager befinden, nur mit Buchstaben bezeichnet werden, einschließlich des Erzählers »I«. Rabinowichs Roman stellt somit ein Beispiel für eines von zwei ästhetischen Verfahren zur Darstellung der Flucht- bzw. Migrationsthematik dar, die momentan in der Kinder- und Jugendliteratur präsent sind. Allerdings ist das Vermeiden einer konkreten Fremdheitserfahrung im Lektüreprozess ein zumindest ambivalentes Textverfahren, das sowohl Vorurteilsbildung als auch die Auseinandersetzung mit vorhandenen Vorurteilen vermeiden kann. So lässt sich Madinas religiöser Hintergrund nicht bestimmen, wahrscheinlich scheint jedoch, dass sie keine Christin ist. Es gibt jedoch auch keine Schilderungen beispielsweise spezifisch muslimischer Religionspraktiken. Im Unterricht können 8 Vgl. Wrobel, Dieter/Mikota, Jana: Flucht-Literatur: Texte für den Unterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2017. 9 Vgl. dazu den Beitrag von José Fernández Pérez in diesem Band.

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die Chancen einer solchen Offenheit vor allem dann genutzt werden, wenn die Schülerinnen und Schüler angehalten werden, ihre eigene Lesehaltung kritisch zu hinterfragen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass durch das Abrufen allgemeiner Bilder von Fremdkulturen und das nicht auf Vorkenntnissen basierende Auffüllen der textuellen Leerstellen Vorurteile gerade nicht hinterfragt, sondern verstärkt werden. Die narrative Strategie von »Dazwischen: Ich« folgt der Logik einer gezielten Setzung von Leerstellen an den Punkten der Diegese, an denen Konkretisierungen zu einer eindeutigen Zuschreibung der Protagonistin zu einer konkreten Herkunftskultur führen würden. Die Konsequenz dieser Vorgehensweise ist notwendigerweise eine Ästhetik der Unbestimmtheit, die auch zulasten des effet réel geht. Im Gegensatz hierzu lässt sich die neue Heimat der Protagonistin einigermaßen eindeutig identifizieren. Auf diese Weise ist der Roman gerade anschlussfähig für Leserinnen und Leser, die selbst eine Fluchterfahrung hinter sich haben. Diese Intention, mit ihrem Text vor allem Lesende mit eigener Fluchterfahrung anzusprechen und diesen eine Identifikationsfläche zu bieten, formuliert die Autorin selbst im Interview. Madinas Geschichte ist folglich so konstruiert, dass sie die Lebenserfahrung möglichst vieler Leserinnen und Leser ansprechen oder widerspiegeln kann. Gleichzeitig führt diese starke Entkontextualisierung jedoch zu einer Universalisierung, die der historischen Komplexität individueller Lebenswege nicht gerecht werden kann. So wird die Protagonistin in »Dazwischen: Ich« im Geschichtsunterricht mit dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah konfrontiert und erkennt, »dass die und wir auf eine Art die gleichen Dinge erlebt haben. So wie vermutlich der Rest der Welt. Menschen töten. Überall« (DI, 130). Im Folgenden versucht Madina, sich daraufhin ihrer Lehrerin und der Klasse mitzuteilen, doch die Kommunikation scheitert an der Reaktion der Lehrerin, die sich zunächst mit einem lapidaren »Das tut mir sehr leid« an Madina wendet und dann einen weiteren Austausch mit dem Hinweis, diese Diskussion gehöre »nicht zum Lehrstoff«, unterbindet (ebd.). Die Szene verdeutlicht einerseits die Schwierigkeiten eines sensiblen Umgangs sowohl mit der Shoah als auch mit aktuellen Kriegserfahrungen von Schülerinnen im Klassenunterricht. Sie verweist aber zudem auf die Begrenztheit des Konzepts der Universalisierung. Die Feststellung, dass Menschen überall töten, wird weder der Shoah als größtem Zivilisationsbruch der deutschen Geschichte gerecht noch den individuellen Biographien Geflüchteter, deren Erfahrung auf sehr konkreten politischen, sozialen und religiösen Kontexten gründet. Rabinowichs Poetik der Universalisierung, die Spiegelung möglichst vieler Erfahrungen in einer beispielhaften Erzählung, kann durch ihren hohen Abstraktionsgrad auch leicht zu einer simplifizierenden Geschichts- oder Gegenwartsbetrachtung führen. Diese Problematik sollte bei einer Diskussion des Textes mitgedacht und gegebenenfalls diskutiert werden. Unter Umständen ist ein lohnender Ansatz hier die

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vergleichende Lektüre von Auszügen aus Fluchtliteratur, die sich für die Vergangenheit oder Gegenwart einer Poetik des Konkreten bedient – wozu neben literarischen Texten auch biographische Berichte von oder Interviews mit Geflüchteten zählen. Die unterschiedlichen Erzählweisen und ihre Wirkung auf die Wahrnehmung und Bewertung der politischen Situation der jeweiligen Protagonistinnen und Protagonisten kann dann am konkreten Beispiel aufgezeigt und diskutiert werden.

8.

Fazit

Julya Rabinowichs poetisches Verfahren in »Dazwischen: Ich« dient wie das in dem früher entstandenen allgemeinliterarischen Roman »Spaltkopf« einer Abbildung der Migrationserfahrung. Der Wechsel vom Besonderen ins Allgemeine bedingt eine größere Offenheit des Textes, die jedoch auch eine Limitierung darstellt. Eine vergleichende Analyse beider Texte kann die unterschiedlichen ästhetischen Verfahren und deren Wirkung deutlich machen und zu einer vertieften Lektüreerfahrung beitragen. Trotz aller formalen und thematischen Unterschiede lassen sich so bemerkenswerte Parallelen ausmachen. Die Protagonistinnen in beiden Romanen sind mit den widersprüchlichen Spiegelungen ihres Selbst in der Eigen- und Fremdkultur konfrontiert und versuchen im Laufe der Handlung, die Erfahrung von Fremdheit produktiv zu transformieren. Das Verfahren der Spiegelung – vorhanden in der Spiegelung gemeinsamer Prätexte, aber auch in dem beide Romane durchziehenden Spiegelmotiv – lässt sich somit als Prozess und Symbol einer möglichen Selbstermächtigung in der Fremdheitserfahrung lesen.

Monika Hernik

»Als Frau mit Penis hat man nun mal die Arschkarte gezogen« – Zum Störungspotential des Jugendromans »Papierklavier« (2020) von Elisabeth Steinkellner

Der am 19. 08. 2020 bei Beltz & Gelberg erschienene Roman »Papierklavier« ist in Tagebuchform verfasst, wird ab 15 Jahren empfohlen und hat 140 Seiten. Die Autorin, Elisabeth Steinkellner, Jahrgang 1981, ist eine österreichische Schriftstellerin, die ebenfalls Kurzprosa und Lyrik schreibt. Im selben Verlag sind bereits ihre zwei früheren Texte erscheinen: »Rabensommer« (2015), eine Adoleszenzgeschichte, die am Abschluss eines Sommers ansetzt, und »Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen«, die Momentaufnahme eines zufälligen Treffens zweier Unbekannter. Beim »Papierklavier« wurden Steinkellner vom Verlag die Form des Textes, dessen Umfang und der ungefähre Handlungsbogen rund um eine weibliche Protagonistin vorgegeben. Für die Illustrationen ist Anna Gusella zuständig, die neben der Tätigkeit als freiberufliche Illustratorin auch Kurse für Kinder und Jugendliche an der Jugendkunsthochschule Pankow anbietet. Ihre skizzenhaften Bilder fertigt sie stufenweise an, so dass man den Entstehungsprozess des jeweiligen Bildes nachverfolgen kann.1 Die Rezeption in Form von Kritiken und Buchbesprechungen reagiert auf den Roman äußerst positiv. Als besondere Stärken des Textes werden die vielen Leerstellen genannt, die dieser eröffnet und somit eine große Interpretationsfreiheit zulässt, das Zusammenspiel der Bild- und Textebene, der starke Realitätsbezug und die Authentizität der Erzählstimme. So äußert sich Ute Wegmann in ihrer Kritik zu dem Roman wie folgt: »Ein Plädoyer gegen den Perfektionismus und vor allen Dingen für das Erkennen der kleinen Glücksmomente, die das Leben bereichern und auch verzaubern können.«2 Es folgen zahlreiche Auszeichnungen und Preise für den Text.3 Das Buch wird dann ebenfalls von der Jury 1 Siehe dazu . 2 Wegmann, Ute: Die besten Sieben im Oktober. Deutschlandfunk vom 03. 10. 2020. (letzter Zugriff: 09. 09. 2021). 3 An der Stelle seien genannt: Die besten 7 Bücher für junge Leser, Oktober 2020 (Deutschlandfunk), Monats-LUCHS (ZEIT/Radio Bremen), November 2020, Leselotse November 2020 (Börsenblatt), Jugendbuch des Monats Dezember 2020 (Deutsche Akademie für Kinder- und

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des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises zum Preisträger ernannt. Gleichwohl bewertet es der Ständige Rat, das Arbeitsgremium aller 27 Bischöfe negativer. Schlussendlich entscheidet man sich dafür, auf die Verleihung des Preises zu verzichten und das Buch von der 15 Titel umfassenden Empfehlungsliste zu streichen. Diese Entscheidung ruft massive Kritik hervor, die in einem offenen Brief gipfelt, in dem 222 Kinderbuchautoren, daruter Tamara Bach, Jutta Bauer, Kirsten Boie, Finn-Ole Heinrich, Stefanie Höfler, Eva Lezzi, Paul Maar, Uticha Marmon und viele andere, die Entscheidung des Ständigen Rates kritisieren. In ihrem Schreiben bringen die Autoren und Autorinnen ihre Empörung über die »intentionale Ausgrenzung des Romans« zum Ausdruck, die sie »nicht schweigend hinnehmen wollen«.4 Ferner heißt es: »Die Ablehnung der Jury-Entscheidung verweise auf ein fehlendes Vertrauen in jene Vertreter*innen kirchlicher Institutionen, die mit jungen Menschen arbeiten, ihre Lebenswelten und -realitäten, ihre Sorgen und Hoffnungen kennen«.5 Als Antwort erscheint lediglich eine Twitter-Mitteilung seitens des Sprechers der Deutschen Bischofkonferenz, Matthias Kopp, in der als Erklärungsversuch angegeben wird, dass »bei den Bischöfen die Auffassung überwogen habe, dass das Buch nicht hinreichend den Kriterien des Preises entspräche.«6 In den Statuten heißt es, der Preis werde für Arbeiten verliehen, die »beispielhaft und altersgemäß christliche Lebenshaltungen verdeutlichen«.7 Weder das Thema noch die Autorin des Romans seien ein Grund für die Entscheidung gewesen. Abschließend fallen die auf eine Entstörung abzielenden Worte: »Die Bischofskonferenz ist der Jury für ihre Arbeit dankbar. Wir haben Verständnis für die entstandenen Irritationen. Die vielen aktuellen Rückmeldungen nehmen wir sehr ernst. Sie verdeutlichen die Erwartungen an unser Engagement für Kinder- und Jugendliteratur, das die Kirche auch weiterhin einbringen wird.«8

Doch die avisierte Entstörung erfolgt offensichtlich nicht, denn die verweigerte Preisvergabe wird medial vermehrt dokumentiert und kommentiert. »Aufgrund dieses Vetos frage ich mich: Wie muss ein Buch aussehen, wie viel heile Welt muss

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Jugendliteratur), Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2021, Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 und Shortlist »Die schönsten deutschen Bücher 2021« (Stiftung Buchkunst). (letzter Zugriff:12. 07. 2021). Ebd. Siehe dazu DBK: Jugendbuchpreis nicht wegen Transgender-Thema nicht verliehen. (letzter Zugriff: 14. 06. 2021). Ebd. Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis der Deutschen Bischofskonferenz. (letzter Zugriff: 30. 06. 2021).

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drinstecken, damit der Titel einen Preis von der Kirche verdient?«9 fragt etwa der Autor Gregor Wolf. Der Arbeitskreis für Jugendliteratur und die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen haben sich in einem offenen Brief »mit Erstaunen und Unverständnis« zu den Ereignissen geäußert. Der Arbeitskreis ist zuständig für die Vergabe des Deutschen Jugendliteraturpreises, auf dessen Nominierungsliste »Papierklavier« ebenfalls steht. »Wir hoffen für die Zukunft«, schreiben sie, »dass in der Katholischen Kirche ein Umdenken stattfindet und sie sich nicht immer weiter von den Realitäten der Kinder und Jugendlichen entfernt.«10 Als Antwort auf das kirchliche Votum zum Preis folgten auch zeitnah Online-Lesungen und Treffen mit der Autorin und Illustratorin, als Beispiel seien das Treffen im Rahmen der Heidelberger Literaturtage (11. Juni) oder das von Tilmann Spreckelsen geführte Gespräch genannt, das von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur veranstaltet wurde (8. Juni). Als ein weiterer Entstörungsversuch kann nun ein neuer Preis gelten, den der Text nun doch bekommen soll, nämlich den erst kürzlich ins Leben gerufenen »Christlichen Kinder- und Jugendbuchpreis 2021«, für den gerade das Geld aus Spenden gesammelt werden soll. Carsten Gansel hat in einer Reihe von Arbeiten die Rolle der »Kategorie Störung« für das Literatursystem produktiv gemacht.11 Unter Bezug auf Niklas Luhmann notiert er, dass »autopoietische Systeme über strukturelle Kopplungen 9 »Wie viel heile Welt braucht die katholische Kirche?« Michaela Peltz im Interview mit Gregor Wolf. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. 06. 2021. (letzter Zugriff: 15. 06. 2021). 10 Hildebrand, Kathleen: Protest gegen Preis-Absage. In: Süddeutsche Zeitung vom 18. 05. 2021. (letzter Zugriff: 18. 06. 2021). 11 Gansel, Carsten: Das ›Trauma Stalingrad‹ verarbeiten und neu erinnern – Heinrich Gerlachs Dokumentarroman »Durchbruch bei Stalingrad« (1945/2016) und erinnerungstheoretische Aspekte. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Trauma-Erfahrungen und Störungen des ›Selbst‹. Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen. Berlin: de Gruyter 2019, S. 171–196; Ders.: Störungen des ›Selbst‹ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen. In: Ebd., S. 17–25; Ders.: Zur ›Kategorie Störung‹ – Theorie und Praxis. In: ebd., S. 45–66; Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ›Störung‹ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Ders./Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ›Prinzip Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 31–56; Ders.: Zwischen Stabilisierung und Aufstörung – das ›Prinzip Erinnerung‹ in der deutschen Literatur nach 1945 und 1989. In: Ders./Maldonado-Alemán, Manuel (Hrsg.): Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989. Stuttgart: J. B. Metzler 2018, S. 11–34; Ders.: Störungen in (Kinder- und Jugend-) Literatur und Medien. In: kjl&m. Sonderheft 2015, S. 15–28; Ders: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Ders. (Hrsg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 2014, H. 4, S. 315–332; Ders.: Erinnerung, Aufstörung und »blinde Flecken« im Werk von Christa Wolf. In: Ders. (Hrsg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Göttingen: V&R 2014, S. 15–42.

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sporadisch von Einwirkungen betroffen sind« und das »Bewusstsein das soziale Kommunikationssystem oder das Gehirn ständig mit Irritation versorgt«.12 Es kommt also dazu, dass ein »Informationsverarbeitungsprozess in Gang« gesetzt wird, indem »die Wahrnehmung auf die entsprechende Störstelle« gelenkt und sie auf diese Weise zum Gegenstand von Kommunikation wird. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Störung immer ein systeminternes Phänomen ist und es sich immer um eine »Selbstirritation« handelt.13 Ein System muss demnach Informationen und Impulse verarbeiten, die aus der Umwelt kommen. Durch den »internen Vergleich« mit eigenen Möglichkeiten, kann es erst irritiert werden. Dies gilt in besonderem Maße auch für Kunst und Literatur, die als ausgezeichnete Formen der Selbstbeobachtung von Gesellschaften gelten. Geht es nun – wie bei dem in Rede stehenden Text – um Fragen der Adoleszenz, der sexuellen Orientierung oder nach dem von der Gesellschaft aufgezwungenen Schönheitsideal, eröffnen literarische Texte durchaus die Chance, aufstörend zu wirken, da es sich hierbei um Themen handelt, die immer wieder öffentlich diskutiert werden. Mit der »Figuration der Störung« ist damit zunächst ein textimmanentes Phänomen erfasst, das bevorzugt auf der Ebene der ›histoire‹ angesiedelt ist. Im literaturgeschichtlichen Prozess finden sich – wenn man das weiter betrachtet – reichlich »Figuren der Störung« (unter anderem Adoleszente, Denunzianten, Intellektuelle, Dissidenten, Psychopaten, Terroristen). Denn »Figuren der Störung« erzeugen durch konkrete Handlungen und Bewegungen im Raum bei den anderen Figuren Irritationen, weil sie gesetzte Normen und Grenzen aufbrechen oder überschreiten.14 Genau dies kann man nun an den hier ins Spiel gebrachten Texten belegen. Dass die literarischen Figuren in diesen Texten aufstörende Wirkungen entfalten können, hängt schlichtweg damit zusammen, dass sie – wie im Leben selbst – als autopoietisches System funktionieren und auf bestimmte Reize autonom reagieren können. Gansel fasst entsprechend zusammen: »›Figuren der Störung‹ im bislang beschriebenen Sinne […] lösen System-zu-SystemBeziehungen aus: Dabei werden die Handlungen der Figur A (psychisches System A) von der Figur B (psychisches System B) auf Grund der eigenen Strukturen als Störung interpretiert. Man könnte mit Tzvetan Todorov auch davon sprechen, dass es hier bevorzugt um Du-Themen geht, also um Beziehungen zwischen Mensch bzw. Figur und Umwelt […]. In dem Fall, da die Figur B durch das Verhalten der Figur A oder durch bestimmte Ereignisse zu einer permanenten Selbstreflexion gezwungen sieht, löst die System-zu-System-Beziehung eine System-zu-sich-selbst-Beziehung aus, die eine Aus12 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. 3. Aufl. Heidelberg: Auer 2006, S. 124. 13 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: S. Fischer 1987, S. 118. 14 Vgl. Gansel, Zur ›Kategorie Störung‹. 2014, S. 321. Für den Bereich KJL siehe Ders., Störungen in (Kinder- und Jugend-)Literatur und Medien. 2015.

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einandersetzung des Ich mit der eigenen Befindlichkeit meint. Bei der System-zu-sichselbst-Beziehung handelt es sich um ›Ich-Themen‹, die das Verhältnis der Figuren zu sich selbst, zum Unbewussten, zu psychischen Konflikten oder Traumata betreffen.«15

Im Folgenden soll ein analytischer Schritt vom Handlungs- zum Symbolsystem anhand des untersuchten Textes unternommen werden, der allem Anschein nach ein beträchtliches Aufstörungspotenzial enthält. Das Cover des Buches aus dickem Papppapier ist in hellblauer Farbe gehalten und erinnert mit dem Linienblatt an ein Tagebuchheft. Links am Einband werden die Klaviertasten und im Mittelpunkt ein Mädchen abgebildet. Das Vorsatzblatt mit vielen handschriftlichen Zeichnungen, die sich teilweise überdecken, verstärkt dabei den Eindruck, dass man ein Notiz- oder Tagebuch in der Hand hält. Der äußerst aufwendig gestaltete und relativ knapp gehaltene Roman beginnt ab ovo, mit einer Einführung des Mediums der Erzählung, es handelt sich dabei um das Tagebuch der Hauptfigur, der 16-jährigen Maia. Dabei lassen bereits die ersten Zeilen den Ton des Erzählten erkennbar werden, der selbstkritisch, ironisch und teilweise sarkastisch wirkt: »Liebes Tagebuch Liebes Skizzenbuch (NEIN, zu unpersönlich; vielleicht ein Katzenname?) Liebe Mautzi (oder ganz royal:) Liebe Lady Di (für Diary)«.16

Die Tagebucheinträge ähneln vielmehr Notizen, die von zahlreichen Bildern umrahmt, begleitet, ergänzt, eingeführt oder abgeschlossen werden. Betrachtet man das Text-Bild-Verhältnis genauer, so kann hier von einem, mit Jens Thiele formuliert, Prinzip des geflochtenen Zopfs gesprochen werden, bei dem Text und Bild ineinandergreifen, sich anreichern, ergänzen und abwechselnd erzählen.17 So wird zum Beispiel an einer Stelle links die offene Frage gestellt: »Gibt es eigentlich IRGENDWO auf dieser Welt einen Versandhandel für dicke Felle in ÜBERGRÖSSE?« (Pk, 20) Der einzige Fragesatz wird von einem überdimensionalen Bild begleitet, das die Protagonistin in der Umarmung eines Tigers darstellt. Das Tier wird freundlich und sanft gezeichnet, die Hauptfigur scheint in seinen Armen Zuflucht und Schutz zu finden. Damit knüpft die Bild- an die Textebene an, gleichwohl wird mehr ausgesagt, wenn sie die Angst der Prot-

15 Ebd. 16 Steinkellner, Elisabeth: Papierklavier. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 2020, S. 1 [im Folgenden unter der Sigle »Pk« mit Seitenzahl im Text]. 17 Thiele, Jens: Das Bilderbuch. Ästhetik, Theorie, Analyse, Didaktik, Rezeption. Oldenburg: Isensee 2000.

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agonistin vor der Beurteilung seitens der Mitmenschen bildhaft zum Ausdruck bringt.

Abb. 1: Anreicherung der Bild- durch die Textebene.

Eine andere Doppelseite wird von der Farbe Schwarz dominiert, die einen klaren Kontrast darstellt zum Rest des Tagebuches, das überwiegend in Weiß und Hellblau/Türkis gestaltet ist. Der Text wird diesmal oben rechts platziert, dort heißt es: »Der Baum, der direkt vor unserem Fenster wächst, wirft lange Schatten ins Zimmer. Je nachdem, in welcher Stimmung ich gerade bin, fühle ich mich von den Schatten bedroht oder zärtlich umfangen« (Pk, 111).

Das Bild dazu stellt einen verzerrten Fensterrahmen dar, durch den die Umrisse eines Baumes zu sehen sind, wobei man darunter eigentlich einzelne Äste und Blätter vermuten kann. Ohne den Text würde man wahrscheinlich nicht erraten, dass das Bild einen Baum darstellen soll. Somit hat man es mit einer Anreicherung der Bild- durch die Textebene zu tun. Gleichwohl verraten weder das Bild noch der Text, welche Stimmung bei der Hauptfigur im Moment dominiert. Die Doppelseite steht in keinem Zusammenhang zu der vorigen oder folgenden Seite, so dass sich die Antwort nicht aus der Handlung ergibt. Durch die Farbgebung könnte das Bild bedrohlich wirken und auf eine eher betrübte Stimmung

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schließen lassen, dennoch wird dies im Text weder aufgelöst noch wieder aufgegriffen.

Abb. 2: Die Farbgebung als eine Möglichkeit, auf der Bildebene indirekt das Innere der Hauptfigur darzustellen.

Die graphische Gestaltung des Textes verstärkt den Eindruck der Authentizität, da oft neben den Zeichnungen auch handschriftliche Notizen eingebaut werden. Die Illustratorin verwendet drei Farbtöne: das Weiß der Seiten, das Schwarz mit allen Grauvariationen bei den Schraffierungen und Türkis-Blau. Das Streifenmuster, das an die Klaviertasten erinnern soll, und das Bild des Zebras – so nennen die Schwestern das Klavier – durchziehen leitmotivisch den gesamten Text. Die Bilder stehen jeweils in einer Beziehung zum Text, wobei die handschriftlichen Notizen teilweise nicht nur die Funktion der Mitteilung erfüllen. Durch die Größe der Buchstaben oder die Art des Notierens kann die Stimmung der Figur zur Zeit ihrer Entstehung mit vermittelt werden. So ist es beispielsweise im Fall der Notiz, die Maia macht, nachdem ihr Freund Karl (der in seiner Freizeit als Carla unterwegs ist) zusammengeschlagen wurde. Die übermäßig großen Buchstaben, die fette Schrift beim Wort »Idioten« und die sichtbar aufgeregte Hand, mit der die Notiz gemacht wurde, geben Auskunft über die seelische Verfassung der Ich-Erzählerin und ergänzen damit die Aussage des Textanteils, der wiederum relativ nüchtern und berichtend erscheint:

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»Gestern Nacht haben zwei Typen Carla angegriffen, als sie auf dem Weg nach Hause war. Carla ist stark, aber die zwei waren stärker und überhaupt ging alles zu schnell. Sie trug ein blaues Auge, eine dicke Lippe und eine Platzwunde am Hinterkopf davon« (Pk, 88).

Abb. 3: Die Größe und Art der Handschrift als Ausdruck der inneren Gefühlswelt der Erzählfigur.

Die bildnerische Ebene des Textes ergänzt und begleitet die Handlung auf eine besonders gelungene Art und Weise, was von der Kritik oft positiv angemerkt wird: »In den Aufzeichnungen der heranwachsenden Protagonistin fließen Text- und Bildebenen übergangslos ineinander, kommunizieren und ergänzen sich«; »Steinkellner und Gusella legen ein lebendiges Buchkunstwerk vor. Keine Doppelseite gleicht der anderen – und die abwechslungsreich gestalteten Seiten drücken die wechselnden Stimmungslagen Majas aus«; »Die Texte der österreichischen Autorin und die Bilder der Berliner Illustratorin Anna Gusella scheinen wie aus einer Hand. […]. Die Gestaltung des Tage- bzw. Skizzenbuches wird zu einer literarästhetischen Gesamtkomposition, die tief in Maias Seelenleben schauen lässt.«18

18 Meier, Eva Christina in: taz vom 14./15. 11. 2020; Lötscher, Christine: Buch und Maus 3, 2020; Nominierung Deutscher Jugendliteraturpreis 2021. Diese und andere Pressestimmen zum Roman siehe unter: (letzter Zugriff: 14. 07. 2021).

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Die Handlung auf der textuellen Ebene besteht dagegen aus losen Einträgen, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang erkennen lassen. Dabei wird weitgehend von der zeitlichen Chronologie abgesehen, die einzelnen Notizen betreffen teilweise konkrete Vorkommnisse, teilweise Rückblenden und Erinnerungsskizzen, teilweise aber auch lose Passagen der inneren Rede oder den Gedankenstrom der Hauptfigur. Die Handlung ist schnell zusammengefasst: Maia, ihre zwei Schwestern und ihre Mutter leben zusammen in einer viel zu kleinen Wohnung. Der Familie mangelt es an allem, sowohl an finanziellen als auch an sozialen Ressourcen, denn die drei Mädchen sind weitgehend sich selbst überlassen. Die Geschichte setzt in einem besonderen Moment im Leben der Familie ein: »Vor nicht mal zwei Wochen habe ich dieses Buch von Oma Sieglinde geschenkt bekommen. Und jetzt ist Oma Sieglinde tot. Gestorben. Gestern. Einfach so. Ohne Vorwarnung« (Pk, 5).

Bei der Figur der Oma handelt es sich um eine Nachbarin, keine Verwandte, die die Familie unterstützt und – so die Meinung der Erzählerin – als ihr eigenes »soziales Projekt« betrachtet. Ihr Tod trifft die jüngste Schwester der Maia besonders schwer, denn nur bei der Nachbarin hatte sie die Möglichkeit, Klavier zu spielen. Darauf spielt das im Titel genannte Papierklavier an, denn nach dem Tod der Oma bastelt Heidi ein Klavier aus Papier mit weißen und schwarzen Tasten, das nun den Flügel ersetzen muss. Die Geschichte beinhaltet keine eigentliche Handlung, vielmehr handelt es sich dabei um einzelne lose Einträge, die Einblicke in das Leben der Heranwachsenden liefern. So lernt der Leser ihre zwei besten Freundinnen kennen und erfährt nebenbei, dass ihre größte Sorge ihr Körper (Kleidergröße 42) ist. Problematisch sind für die Hauptfigur auch die nichtexistierenden Beziehungen zum Gegengeschlecht und die ständigen Geldsorgen. Da es sich bei dem Text um die Form des Tagebuchromans, aber genauso um eine Coming-of-Age-Geschichte, also einen Adoleszenzroman handelt, bleibt das Ende offen, und zwar in dem Sinne, dass alle Fragen der Hauptfigur weiterhin unbeantwortet sind und ihre Identitätsbildung immer noch nicht abgeschlossen ist. Gleichwohl lässt die Erzählstimme eine hoffnungsvolle Entwicklung der Hauptfigur erahnen, wenn es kurz vor Schluss heißt: »Irgendwo muss ja mal irgendwer damit anfangen, sich wohlzufühlen, in der eigenen Haut, im eigenen Leben, auch, wenn es nicht der Norm entspricht. Wo, wenn nicht hier. Wer, wenn nicht wir« (Pk, 129).

Eine Kontinuität der Handlung ist in dem Sinne gegeben, dass es Motive gibt, die wiederkehren. Dazu gehören: das Liebesleben der Protagonistin, die finanzielle Lage der Familie, die Frage, wie es nun weiter mit dem Klavierunterricht der

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Schwester geht, und die Frage nach der Definition von Glück, die die Ich-Erzählerin immer wieder zu formulieren versucht, wie zum Beispiel an folgender Stelle im Text: »Entweder du hoffst auf das ganz große Glück, das PLÖTZLICH und schwallartig in Badewannemengen auf dich herabfällt (ohne zu wissen, ob es jemals kommt), oder du sammelst tagtäglich die kleinen Dosen ALLTAGSGLÜCK, die oft nicht mehr als einen Fingerhut füllen, aber alle zusammen mit der Zeit zu einem kleinen See anwachsen, in den du kopfüber springen kannst« (Pk, 80).

Das Textende greift erneut die Glücksmetapher auf, die im Roman einige Male vorkommt, wenn es heißt: »Ich schütte die vielen kleinen Glücksportionen der letzten Wochen vor mir aus – und staune, weil sie meinen See augenblicklich auf Hüfthöhe anwachsen lassen. Also hole ich tief Luft und tauche ab. Und wie ich mich so umsehe, stelle ich fest: Es ist alles andere als perfekt hier. Aber eindeutig ziemlich schön« (Pk, 134).

Demnach wird im Roman zwar auf ein harmonisierendes Happy-End verzichtet, da die Familie von der verstorbenen Oma weder das Klavier noch die Wohnung erbt, was sich die Rezipierenden höchstwahrscheinlich wünschen würden. Maia findet keinen Freund, dafür aber kann sie den Klavierunterricht ihrer Schwester dank Extraschichten bezahlen. Gleichwohl wird die junge Frau selbstsicherer, was in den kleinen Portionen Glück begründet ist, die sie nacheinander aufzählt: »Glück #1 Sonntagmorgen. KEINE SCHULE. Ganztag-Pyjama-Look. Alle ausgeflogen. Ein halb volles Glas Schockocreme im Kühlschrank. Die Sonne scheint zum Fenster herein. Und im Radio kommt dein Lieblingslied«; »Glück #2 Draußen ist es warm, drinnen eisgekühlt, ich öffne die Ladentür und lasse den Frühling herein und mit ihm diese spezielle Duftmischung aus Sonnencreme und Schweiss, Flieder und warmem Asphalt, Vanilleparfum und Pommes-Fett«; »Glück #3 Eine Freundin zu haben, die meinen Blick auf das Positive lenkt, wenn ich selbst mal wieder blind dafür bin« (Pk, 81, 87, 109).

Wie den Textproben, aber auch der Gattungsspezifik leicht zu entnehmen ist, wird die Geschichte von einer homo- bzw. autodiegetischen Erzählstimme präsentiert. Diese erscheint subjektiv, spontan, reflexiv und dann wiederum aggressiv und auf Konfrontation mit der Außenwelt bedacht. Die Geschehnisse, Figuren und Orte werden aus ihrem spezifischen Blickwinkel beschrieben und kommentiert und an keiner Stelle durch eine andere Sicht ergänzt bzw. korrigiert. In Hinsicht auf die potenzialen Störungsfaktoren, die der Text bereithält, muss man sagen, dass es sich dabei um höchstens subtile Irritationen und Aufstörungen handelt, denn Themen, die für bestimmte Reaktionen der Systeme sorgen könnten, werden nur angeschnitten, erwähnt oder kurz eingestreut. Als Erstes wäre da die starke feministische Ausrichtung der Hauptfigur, die beispielsweise

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nicht der Aufforderung der Lehrerin folgt, laut der sich alle Schüler vor dem Gebäude versammeln mögen, mit der Begründung: »Die Aufforderung hätte mir nicht gegolten, meinte ich, ich wäre ja eine Schülerin« (Pk, 48). In einer ähnlichen Richtung ist auch ein, gleich am Textanfang reingestellter zusammenhangloser Kommentar der Erzählerin interpretierbar: »Vorhin im Radio gehört: Bei weiblich benannten Hurricanes gibt es mehr Todesopfer als bei männlich benannten. Von Hurricane Cindy fühlen sich die Menschen weniger bedroht als vor Hurricane Charlie, von Alexandra weniger als von Alex. Evakuierungen werden daher später eingeleitet und mehr Menschen kommen ums Leben. Was soll man dazu sagen? Unterschätze nie die Kraft einer Frau!« (Pk, 2)

Ein weiteres Thema, das im Roman relativ offengelassen wird, ist die Beziehung zwischen der Mutter und den Töchtern, was besonders am Beispiel der Protagonistin thematisiert wird. So ist die Mutter keinesfalls eine Vorbildfigur, keine Hilfe und Unterstützung für ihre Kinder und auch kein besonderer Grund, um stolz zu sein. Alle Vier werden ständig mit gesellschaftlichen Vorurteilen konfrontiert, die ihre Lebensform – alleinerziehende Mutter mit drei Kindern unterschiedlicher Väter – kommentieren. Diese zählt die Hauptfigur in Form von Sprechblasen der Reihe nach auf: »Leute (insgeheim): Schon mal was von VERHÜTUNG gehört? oder: Schlampe. Wechselt die MÄNNER wie die Unterwäsche, lässt sich von jedem ein Kind machen und nimmt dann alle aus wie die Weihnachtsgänse. (und laut, mit schiefem Blick): AAAAHA. (oder laut, mit spöttischem Blick): FLEISSIG. (oder besonders laut, damit es auch alle Umstehenden hören können): Drei Kinder von drei verschiedenen Vätern, hab ich das RICHTIG verstanden?« (Pk, 14)

Über die Mutter erfährt man, dass sie es nicht schafft, die Familie mit dem Nötigsten zu versorgen, wenn die Erzählerin feststellt: »In dieser Familie ist alles zu knapp: das Geld, die Vorräte in unserem Küchenschrank, der Platz in unserer engen Zweizimmerwohnung« (Pk, 12). Die Mutterfigur wird mit Adjektiven wie übermüdet, apathisch, träge beschrieben. Dennoch sind es gerade die fehlende Zeit mit ihr und die Nähe, was sich die Protagonistin am meisten wünscht: »Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann nicht, dass ICH weniger arbeiten müsste, sondern Mama. Dass sie da ist, wenn wir um fünf von der Schule nach Hause kommen, und im besten Fall sogar gut gelaunt« (Pk, 105).

Die Figur der Mutter gehört damit zu den erwachsenen Figuren, denen man momentan im Kinder- und Jugendroman nicht selten begegnet. Sie scheinen mit ihrem Leben absolut überfordert zu sein, belasten die Kinder mit ihren Problemen, erfüllen in ihrer figuralen Konzeption weder die Funktion einer Autorität

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noch die eines Helfers und wirken teilweise infantiler als die kindlichen Figuren. Gleichwohl betont die Ich-Erzählerin in einigen Aussagen im Tagebuch die große Liebe, die sie ihrer Mutter gegenüber empfindet, sowie einen gewissen Stolz auf die Gleichgültigkeit, mit der sie die stereotypen Meinungen der Umwelt ihr gegenüber betrachtet: »Und was macht Mama? Sie pfeift drauf. Auf einer gigantischen Trillerpfeife. Und schon tanzt die ganze Welt danach« (Pk, 15). Die Äußerungen der Protagonistin, die für mache Leser nicht nachvollziehbar erscheinen mögen, werden im Text offengelassen und weder von ihr noch von einer anderen Figur oder von einer anderen Erzählinstanz kommentiert oder erklärt. Damit bilden sie eine Leerstelle, die im Prozess der Interpretation von jedem Leser anders gedeutet und verstanden werden kann. Zentrale Bedeutung haben für die Geschichte das ständige Oszillieren zwischen Freiheit und Unfreiheit sowie der ständige Vergleich mit den Normen der Umgebung und die Rebellion dagegen. So setzt sich die Hauptfigur kontinuierlich mit dem Schönheitsideal der Gesellschaft auseinander und muss am eigenen Leib erfahren, wie intolerant und gefühllos die Menschen in ihren Kommentaren sein können: »Oder die meinen, laut denken zu müssen, und sagen: ›Wie hast du bloß mit diesem fetten Arsch den Job bekommen? Das ist ja die reinste Anti-Werbung für einen Laden, der gesunde Drinks verkauft‹« (Pk, 19).

Als nicht dazu passend und dazugehörend wird Maia schnell sowohl im schulischen als auch außerschulischen Alltag zur Einzelgängerin und Außenseitern, und dies allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes: »Willkommen auf dem Catwalk, wo heute die brandneuesten Modelle der aktuellen Frühlingskollektion vorgeführt werden. Ich latsche mit meiner alten Jeans und dem ausgewaschenen schwarzen Shirt einmal quer durchs Klassenzimmer, bis ganz nach hinten« (Pk, 32).

In zahlreichen Einträgen bringt Maia ihre Körpermaße als Problem zur Sprache und vergleicht sich kontinuierlich mit Meinungen und Erwartungen der Umgebung: »Soll ich mich jetzt schlecht fühlen? Ich bin sechszehn und trage Kleidergröße 42. Und? Hey, ich muss nicht schlank sein. Es gibt so viel zu tun auf dieser Welt, um die Aufrechterhaltung des Schlankheitswahns kümmern sich schon genügend andere« (Pk, 36).

Es werden auch weitere, für die Rezipientengruppe relevante Themen wie das sich Präsentieren und Inszenieren mittels digitaler Medien und sozialer Plattformen angesprochen, denen die Erzählerin skeptisch und kritisch gegenübersteht: »Ich muss mich zum Beispiel nicht ständig auf einer dieser Selbstdarstellungsplattformen herumtreiben und dort allen verklickern, wie schön, beliebt und erfolgreich ich bin. Können die sich überhaupt noch selbst im Spiegel anschauen, so ganz ohne

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Schönheitsfilter, können die überhaupt noch einfach sein, […] ohne sich ständig zu inszenieren?« (Pk, 70f.)

Ein weiterer Bereich, in dem sich die Romanfiguren mit den Rollenbildern und -zuschreibungen der Gesellschaft schwertun, ist die Frage nach der geschlechtlichen Identität. Diese wird nicht an der Hauptfigur, sondern an einer der Nebenfiguren thematisiert: »Die Wahrheit ist: Carla hat einen Penis und in einer Schublade eine Geburtsurkunde, auf der Engelbert Krahvogel steht. Das ist natürlich ein hartes Los. Also nicht das mit dem Penis, sondern mit dem Namen; In der Arbeit und auf der Uni ist Carla meistens Engelbert. ›Ich bin ja nicht einmal der und einmal die, sondern immer ich‹, war die Antwort, als ich mal fragte, ob es nicht anstrengend sei, immer wieder zu Identität zu wechseln« (Pk, 24, 68).

Auch dieses Problem wird aus der Sicht der Figuren dargestellt und nicht weiter kommentiert. Im weiteren Handlungsverlauf wird kurz und knapp berichtet, dass Carla angegriffen und zusammengeschlagen wird. Die Gründe werden nicht genannt, die Erzählerin lässt nur ihrer Wut an den Schuldigen freien Lauf: »Dabei sind es die anderen, die sich schämen sollten, diejenigen, die dich beschimpfen, dich zusammenschlagen, dich behandeln, als wärst du der letzte Dreck. […] Und dir das Gefühl geben, du seist selbst daran schuld, du hättest es ja so gewollt« (Pk, 91).

Es werden im Text Wertungen dieser Art, die eindeutig von den Figuren stammen und als solche ausgewiesen sind, an einigen Stellen eingebaut, dies geschieht aber – wohlgemerkt – eher subtil. So äußert sich die Carla-Engelbert-Figur zu ihrer Situation, wobei ihrer Aussage abschließend eine bekräftigende Äußerung der Erzählerin nachgestellt wird: »Aber für die Leute ist es halt einfacher, wenn sie dich in eine Kategorie stecken können. Solange die nicht wissen, ob du Mann oder Frau bist, können die nicht mal normal mit dir reden. Erst wenn sie dich mit einem Label versehen können, sind sie zufrieden. Mann, Hauptsache, eine Kategorie ist da. Aber wer weiß, vielleicht kommt der Tag, an dem ich einfach ICH sein kann. […] Wo er recht hat, hat sie recht« (Pk, 68f.).

Fragt man nach dem roten Faden der Geschichte, dann kann man festhalten, dass es gerade der ständige Vergleich mit den Normen anderer ist. Eine Lösung wird den Lesenden vorenthalten, denn im Roman findet man keine Belehrung, wie es funktionieren sollte, sich diesem ständigen Messen an Werten und Größen zu widersetzen. Gerade die Tatsache, dass zentrale Fragen der Geschichte offenbleiben und an keiner Stelle Wertungsversuche unternommen werden, könnte durchaus aufstören wirken. Gleichwohl finden sich im Text Aussagen der drei Hauptfiguren, die alle in die gleiche Richtung gehen, nämlich, dass die Welt weder schwarz noch weiß ist und all das, was dazwischen ist, viel interessanter sein kann. Dies wird auch in zahlreichen Kritiken zum Roman hervorgehoben:

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»›Papierklavier‹ ist ein Manifest dafür, sich wohlzufühlen in der eigenen Haut, im eigenen Leben, auch, wenn es nicht der Norm entspricht.«19 Geht man den Text genauer durch, um nach Störmomenten zu suchen, so stellt man fest, dass sich diese als kurze Aussagen entpuppen, die teilweise sehr harmonisch anmuten: »Jede*r ist anders als die anderen und trotzdem passen wir ALLE irgendwo dazu und am Ende gehören wir doch alle irgendwie zusammen, weil wir so unterschiedlich sind« (Pk, 101). Ein wenig provokativer und produktiver, wenn es ums Irritieren geht, erscheinen Textstellen wie die folgende Bemerkung über die Lage aller drei Protagonistinnen: »Als Frau mit Penis hat man nun mal die Arschkarte gezogen. Als dicke Frau aber auch, murmle ich. […] Als Frau hast du generell die Arschkarte gezogen, sagt da Alex dumpf« (Pk, 91),

oder das zitierte Fragment eines Gesprächs zwischen Maia und Alex, der zweiten besten Freundin, in dem es heißt: »Und außerdem: Es gibt ja wohl nicht nur Sex zu zweit, frau kann auch alleine… Ich: Schon klar! Aber du hast ja leicht reden, du könntest ständig zu zweit, wenn du wolltest. Alex: Oder zu dritt. So wie damals mit Lukas und Laura. Ich: Alex, bitte verschone mich. Alex: Oder zu viert, so wie …« (Pk, 47).

Gleichwohl muss man betonen, dass die störungsproduktiven Aussagen lediglich einen kleinen Teil des Textes ausmachen und, ausgenommen der Transgendergeschichte oder der Übergewichtsfrage, nicht wirklich handlungsrelevant sind. Stellt man abschließend die Frage, was im Roman »Papierklavier« nun so verstörend wirkt, muss man sagen, dass es sich nicht darum handelt, was vom Text ausgesagt wird bzw. was in ihm steht, sondern dass es vielmehr darum geht, was der Text auslässt und was nicht in ihm steht. Für eine Störung sorgen die vielen Leerstellen, die nicht vorhandenen Kommentare, Erklärungsversuche, Harmonisierungsgesten oder der unmotivierte Optimismus. Damit kann man feststellen, dass die KJL an einer gravierenden und zugleich gefährlichen Stelle in ihrer Entwicklung angekommen ist, denn man kann heute nicht davon sprechen, dass Themen, die für eine Aufstörung sorgen könnten, tabuisiert oder ausgeschlossen werden. Von einer ›heilen‹ Kinderwelt wie vor 1968 kann man hier nicht sprechen. Es ist demnach nicht mehr das »Was«, das aufstört, sondern das »Wie«. Wenn diese Themen ohne den pädagogischen oder vielmehr harmonisierenden Zeigefinger geschildert werden, wenn vieles offengelassen wird, ja, wenn man dem Leser zu viel Freiheit und Selbstbestimmung bei der Lektüre lässt – kann es zu einer Störung kommen. 19 Haller, Karin: Ö1 »Ex libris« und auf jugendliteratur.at vom 20. 9. 2020. (letzter Zugriff: 06. 07. 2021).

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Im Fall von Elisabeth Steinkellners »Papierklavier« kann man nicht davon sprechen, dass dem Roman der verweigerte Preis geschadet hat, vielleicht wurde die Autorin bei Lesungen sogar gefragter als es ohne die Aufstörung der Fall gewesen wäre. Gleichwohl steht die Geschichte symptomatisch für eine Entwicklung des Handlungs- und Symbolsystems KJL, die immer mehr in eine bedenkliche Richtung geht. Allem Anschein nach macht die KJL einen Schritt zurück, wenn auf der Ebene der Gestaltung der Texte verdeckt Wertungen und »richtige« bzw. »korrekte« Meinungen implantiert und Figuren schematisch und typisierend konzipiert werden, um eine bestimmte Funktion im Text zu erfüllen, oder wenn die Handlungsverläufe unerklärbar optimistisch und affirmativ entwickelt werden.

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»Ein Kuss ist ein Kuss« oder »Setzt die Jugend der Erinnerungskultur ein Ende?« – Wenn die Jugend unglücklich liebt und die Erwachsenen fehldeuten. Von der Vielfalt des Gedenkens in »Mehr Schwarz als Lila« (2017) von Lena Gorelik »In der Vielfalt der Sprachen der Erinnerung sind unterschiedliche Anschauungs- und Erfahrungsformen begründet, die sich gegenseitig korrigieren und ergänzen. […] Es gibt die Geschichtswissenschaft als einen internationalen, quellengestützten Forschungszusammenhang, es gibt Kunst und Literatur, die immer neue subjektive Erfahrungsberichte und Gestaltungen hervorbringen, es gibt die Museen und Denkmäler, die symbolische Inszenierungen mit pädagogischen Zwecken verbinden, und es gibt die traumatischen Gedenkorte, an denen, […], ›die Geschichte in den Schauplatz eingewandert ist.‹«1

So lautet die These von Aleida Assmann, die hier zitiert worden ist, weil sie in ihrem inklusiven Gestus sowohl den realen Rezipienten viel verspricht als auch auf die nicht ganz korrekt handelnden Figuren der fiktiven Welt von Lena Gorelik nachträglich – im Analyseverfahren – aufmunternd wirken kann. Im vorliegenden Beitrag wird unter anderem dieser Spur nachgegangen.

1.

Zur Geschichte

Die drei Hauptfiguren sind 17 Jahre alt und gehen in eine Klasse. Alexandra Dobel, Alex genannt, ist Halbwaise, lebt mit dem liebevollen Vater und einem Papagei namens Astrid in einem Einfamilienhaus mit Garten. Paul Hinrichs hat einen behinderten Bruder, dem die Eltern viel Aufmerksamkeit widmen: »[D]as erzählte uns Paul so, und so erzählte er es uns nicht: Um mich haben sie sich nicht gekümmert. Pauls Geschichte ist eine von Einsamkeit.«2 Ratte, eigentlich Nina – der Familienname bleibt unerwähnt – hat eine fürsorgliche Mutter und einen 1 Assmann, Aleida: Das Gedächtnis der Orte – Authentizität und Gedenken. In: Firma Topf & Söhne – Hersteller der Öfen in Auschwitz. Ein Fabrikgelände als Erinnerungsort? Hrsg. von Aleida Assmann, Frank Hiddemann und Eckhard Schwarzenberger. Frankfurt/Main/New York: Campus 2002, S. 211. 2 Gorelik, Lena: Mehr Schwarz als Lila. Roman. Berlin: Rowohlt 2018, S. 27 [im Folgenden unter der Sigle »MSL« mit Seitenzahl im Text].

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Vater, der sich phasenweise alkoholisiert und dann zu Hause gewalttätig wird. Seit einem Jahr, als Ratte es von der Realschule auf das Gymnasium schaffte, sind die drei eng miteinander befreundet. Paul ist von Anfang an in Alex verliebt, sie lässt aber nur ihre kameradschaftliche Freundschaft zu. Der Bequemlichkeit halber treffen sie sich meist bei Alex, hören Musik und spielen, um »der Langeweile zu entkommen« (MSL, 33), selbsterfundene Spiele, nach denen sie süchtig sind: »›Du wirst dich doch trauen‹, und ein anderes ›Ist mir doch egal‹, und mein Lieblingsspiel hieß ›Stell dir mal vor‹« (ebd.). Im neuen Schuljahr, dem Vorabiturjahr und dem zweiten ihrer Dreierfreundschaft, bekommen sie den jungen Referendar Daniel Spitzing als Deutschund Geschichtslehrer. Dieser tritt affektiert auf, kreiert sich selbst vor den Schülern, führt einen unkonventionellen Unterricht und gewinnt die jungen Leute für sich. So beginnt beispielsweise jede Deutschstunde mit einem Wort, das Spitzing an die Tafel schreibt, und zu dem die Schüler drauflos ohne Regeln schreiben, die Texte dann ohne Benotung für sich behalten: »Wir schreiben, alle schreiben, auch R., der sonst nie etwas schreibt, noch nicht einmal in Klassenarbeiten, […]. Fünf Minuten lang. Stille im Raum« (MSL, 38). Alex ist in den Referendar von der ersten Stunde an verliebt. Durch ihre Gefühle verblendet, sieht sie dessen Selbstgefälligkeit und Egoismus nicht, welche Ratte und Paul sofort auffallen. Einmal sehen sich Paul und Spitzing zufällig bei einer Ausstellung von Rineke Dijkstra, danach verabreden sie sich zu einem Tracey-EminEvent. Die Freundinnen, die beim Gespräch zugegen sind, laden sich dazu ein. Sie bemerken den schweigenden Unmut Pauls, entschuldigen sich für das Aufdrängen, verzichten aber nicht auf die Möglichkeit, etwas mit Spitzing zu unternehmen. Beim Treffen suchen sie einen Namen für den Lehrer, der seitdem von ihnen geduzt und »Johnny« genannt wird: »›Nach Johnny Cash‹ […]. ›Nach Johnny Depp‹ […]. ›Nach Johnny O’Keefe.‹« (MSL, 68) Erst als es dunkelt, begleiten sie Johnny nach Hause, womit er zum neuen Freund wird: »Wir bringen einander immer heim. Immer ist ein anderer derjenige, der am Schluss alleine fährt. […] ›Du bist neu‹, sagt Paul. ›Dich würden wir also zuerst bringen.‹« (MSL, 74f.) Bald statten sie Spitzing einen unerwarteten Besuch ab. Obwohl nicht begeistert, empfängt er die neuen Freunde, sie hören Musik und trinken Wein; Alex mustert genau die Einrichtung, schnüffelt im Schlafzimmer nach noch mehr Intimem. An Samstagen suchen sie jetzt regelmäßig Johnny auf (vgl. MSL, 123), zumal sie zu dritt immer häufiger Langeweile empfinden. Eines solchen Tages, angeregt durch die Stichworte »Leben«, »Tod«, »Massenmord« (vgl. MSL, 113), bringt Alex die Freunde und Johnny zum Grab ihrer Mutter, was sie noch nie getan hat und worüber Ratte sofort staunt. Alex missachtet die Signale der Freundin. Auf dem Friedhof erklärt sie das ritualisierte Geschichtenerzählen für die Mutter, das sie mit dem Vater pflegt, jetzt schreibt jeder einen Zettel mit einem persönlichen Satz für Alex Mutter und vergräbt diesen. In dieser Zeit wird

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der Klasse von Herrn Drehmann, dem Klassen-, Bio- und »Vertrauenslehrer« (MSL, 111), mitgeteilt, dass die diesjährige Studienfahrt nicht wie sonst in die Toskana, sondern nach Polen geht, Schwerpunkte sind Kraków, Katowice, Auschwitz,3 wofür sich eigens der neue Referendar eingesetzt hat: »Es war ihm nämlich ein spezielles Anliegen, diese Reise mit euch zu machen« (MSL, 111f.). Spitzings Konzept der Vorbereitung auf die Reise sieht von dieser gänzlich ab: »Ich werde euch übrigens nicht vorbereiten. Auf das Thema. Ich werde euch nicht zwingen, Anne Franks Tagebuch zu lesen. Oder Andorra. Oder Nathan der Weise. Oder Mein Leben von Reich-Ranicki. Wir schauen uns auch keine Bilder von Konzentrationslagern an. Wir fahren einfach hin. […] Dann fühlt ihr. Und dann sehen wir weiter« (MSL, 112).

Eines Abends beim gemeinsamen Musikhören bei Ratte erfährt Alex, dass diese mit S., einem Mädchen aus der Klasse, geht, woraufhin sie sich abfällige Kommentare gegenüber S. erlaubt und von Ratte herausgebeten wird. Völlig unüberlegt fährt sie direkt zu Johnny, verbringt den Abend mit ihm beim Wein und erzählt Privates aus ihrem Leben. Seitdem zeigen Ratte und S. öffentlich, dass sie ein Paar sind. Auch als die Klasse Anfang April nach Auschwitz fährt, sitzen Alex und Paul hinten im Bus, dagegen Ratte und S. ganz vorne. Den Aufenthalt in Polen – sie haben sich direkt im Ort Os´wie˛cim in der Museumsnähe einquartiert – und die Besichtigung der Reiseziele registriert Alex lediglich. Emotional niedergeschlagen gibt sie sich destruktiven Gedanken hin und setzt sich von ihren Freunden mit Absicht ab. Erst am Vorabend des Besuches im KZ-Auschwitz veranstalten die Freunde gemeinsam mit Johnny einen geselligen Abend draußen bei Bier und Pizza. Sie laden den Referendar zu ihrem Spiel ein: »›Darfst dir eins aussuchen. Weil du neu bist, sozusagen.‹ […] Du wählst ›Du wirst dich doch trauen‹.« (MSL, 180) Es endet damit, dass Ratte durch Alex gedemütigt abzieht und Paul wegen Alex’ Verhalten erbost ist, überdies führt ihm das Spiel unmissverständlich vor Augen, dass Alex wirklich in Johnny verliebt ist und sich für diesen und gegen Paul entscheidet. Am nächsten Tag – es ist der Kulminationspunkt der Reise – betreten die Schüler das Gelände des Konzentrationslagers. Angesichts des Zerwürfnisses mit den Freunden kann Alex diesen besonderen Moment als solchen nicht erfahren. Komplett in Gedanken vertieft, ist sie gänzlich mit ihrem Innenleben und der zerrütteten Freundschaft beschäftigt und versucht sich Paul und Ratte anzunähern und die Beziehung für sich zu retten. Als sie jedoch ihren Entschluss offenbaren soll: »›Und wenn du wählen müsstest, zwischen mir und Johnny?‹, fragt Paul leise neben mir« (MSL, 200), entblößt Alex, dass sie aus dem Gestern nichts gelernt und ihre Entscheidung gegen die Freunde längst getroffen hat. Sie schneidet das Spiel ab: »Ich spiele nicht mit« 3 Im Original vermischte Schreibweise: »Krakau« und »Katowice« (vgl. MSL, 111).

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(ebd.), denn sie will diese Freundschaft neu als Instrument in ihrer Hand definieren, so dass sie sowohl die Freunde behalten wie auch ihre Gefühle für Johnny ausleben kann. Für Ratte und Paul scheint die Situation jetzt klar zu sein: »›Wir drei waren mal … wir standen über allem‹, sagt Paul. ›Über allem‹, wiederholt Ratte« (MSL, 201). In Alex breiten sich jetzt starke Gefühle aus, die Angst vor dem realen Verlust: »Ich will, dass die Dinge wieder stimmen, jetzt. Sofort« (MSL, 203), die Wut auf sich selbst und auf Johnny, sie will die Freunde gleichzeitig verletzen und sie doch wieder so wie früher haben. Sie zieht Paul an sich heran und küsst ihn auf den Mund, auf dem Gelände von Auschwitz und vor dem Hintergrund des Galgens – noch ist ihr das nicht bewusst. Jemand macht ein Foto, das sofort auf der ganzen Welt auf diversen Kommunikationsplattformen abrufbar ist. Der Kuss löst großes Aufsehen und viel Ärger aus: Alex wird von allen Seiten getadelt und belehrt. Als die Klasse mit dem Zug heimkommt, wird auf dem Bahnhof Paul vermisst, er schickt den Eltern nur eine SMS »Es geht mir gut« (MSL, 227). Alex zieht sich zurück, verlässt das Haus nicht, nur der Vater steht ihr bei. Spitzing – nachdem er Alex »zum Konjunktiv degradiert« und sie »auf der Rückfahrt kein einziges Mal« angeschaut hat (MSL, 214) – verschwindet aus dem Wirkungsfeld, nur Herr Drehmann kümmert sich um Alex und ruft sie täglich an. Sie verfolgt die Kommentare der Öffentlichkeit in Bezug auf den Kuss, die zwischen einer scharfen Verurteilung und einer milderen Sicht auf den Umgang mit den Gedächtnisorten oszillieren, rollt in Gedanken die ganze Geschichte auf und versucht, sich von der Liebe zu Johnny zu lösen. Nach einer Woche erhält sie einen Brief von Paul, wagt ihn jedoch nicht zu öffnen, besucht Ratte, muss aber auf deren Feststellung: »›Du liest.‹ […] ›Er ist an dich adressiert.‹ […] ›Das gibt es nicht mehr. Uns drei‹« (MSL, 228), den Inhalt allein lesen. Paul schreibt aus Os´wie˛cim und fordert sie dazu auf, zurückzukommen und etwas gemeinsam gegen den unüberlegten Kuss zu unternehmen. Alex überzeugt Ratte, die nur widerwillig die frühere Freundin bei sich empfängt, mit ihr hinzufahren. Am Ort angekommen, gehen sie zu dritt auf das KZ-Gelände, setzen sich ins Gras an dieselbe Stelle wie vor acht Tagen und diskutieren die Form einer annehmbaren Wiedergutmachung, dabei sind sie sich der nicht einfachen Aufgabe bewusst. Mitten in diesen Überlegungen geht Alex auf den Galgen zu, und vor der Absperrung vergräbt sie die Kette mit der Weltkugel, die sie beim Spiel von Johnny gewonnen hat. Danach zückt Ratte drei Zettel, auf die jeder von ihnen einen Satz schreibt und anschließend vorliest, woraufhin Alex diese mitnimmt, drei Steine aufhebt, diesmal über die Absperrung klettert, dort die drei Zettel ablegt und jeweils mit einem Stein befestigt – dieser Akt korrespondiert mit ihrem Vorgehen am Grab von Alex’ Mutter. Paul korrigiert diese Lösung, indem er die Zettel holt und sie zur Weltkugel legt, was die umstehenden Leute fotografieren und filmen. Im letzten Satz bemerkt Alex, dass sich Paul von seinem Gefühl zu ihr löst: »Als er zurückkommt, schaut er mich nicht an. Vielleicht ist es

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ja seine Art zu atmen« (MSL, 251). In diesen Tagen wird Alex achtzehn, die Besonderheit dieses Geburtstags hat sie jedoch verwirkt (vgl. MSL, 222).

2.

Die Freundschaft

Lena Gorelik zeigt in ihrem Roman eine relativ kurz bestehende, aber sehr intensive Freundschaft zwischen drei Klassenkommilitonen: Ratte, Paul und Alex, die im zweiten Jahr ihres Bestehens grundlegende Veränderungen erfährt, weil jede Person dieses Dreigespanns von Liebesgefühlen ergriffen wird und jede mit diesen unterschiedlich umgeht: »Ratte hat sich in S. verliebt, und Paul hat sich in mich verliebt, das ist ein Vielleicht, und ich habe mich in dich verliebt, das ist ein Sicher. Ratte, Paul, du und ich. Das ist die Steigerung dieser Geschichte.« (MSL, 19) Die Verliebtheit dringt in die Struktur und den Charakter der Freundschaft auf folgende Weise ein: Der junge Referendar Daniel Spitzing wird nach dem ersten gemeinsamen Treffen außerhalb der Schule von Paul und ohne Absprache als »neu« in die Freundschaft aufgenommen – das bisherige Verhältnis verändert sich, womit auch »die Steigerung« (ebd.) gemeint ist. Mit diesem grammatikalischen Begriff knüpft die Erzählerin an die Praktiken des Referendars an, seine Spiele mit der Sprache und den stilistischen und grammatikalischen Mitteln. Ratte wiederum will verständlicherweise in der Nähe ihrer Liebesfreundin sein, somit kommt es immer häufiger zu ihrer Abwesenheit im Freundesdreieck, was Alex ihr übelnimmt und unablässig offen oder heimlich in Gedanken vorhält: »Scheißliebe. / Scheißratte.« (MSL, 147) Diese Reaktion erfüllt eine Selbstschutzfunktion vor der Verlustangst und eine Schuldverschiebungsfunktion wegen der auseinanderfallenden »Wir-Einheit«. Diesem neu entstandenen Gerüst folgen neue Schemata: Die bisher offen und ehrlich miteinander verkehrenden Freunde fangen an zu lügen und einander mit Absicht zu betrügen. Es beginnt mit dem Verschweigen und Auslassen von gegenseitig vorgelesenen Textstellen seitens Alex: »Es ist das erste Mal, dass ich gegen unsere Regeln verstoße und es hat mit dir zu tun« (MSL, 42). Der Bruch zieht sich seitdem in diversen bewussten und unbewussten Formen durch die Beziehung hindurch, wenn beispielsweise Ratte ungeahnt des Regelverstoßes den Lesevorgang als »ohne Zensur« (MSL, 43) preist und die übrigen Zwei untypisch und auffallend darauf nichts entgegnen. Paul merkt sich Alex Unaufrichtigkeit, und da diese Haltung seine Gefühle für Alex verletzt, zeigt er ihr, dass diese ihm nicht entgangen ist. Während des Besuchs bei Daniel Spitzing reagiert er ungewohnt vulgär und unwirsch, »›Geht euch einen Scheiß an‹, sagt Paul. […] ›Wir haben doch alle unsere Geheimnisse. Dinge, die wir nicht hergeben.‹ […] Er begeht den Verrat mit Absicht.« (MSL, 104) Bis dahin geltende Regeln werden fortan immer häufiger gebrochen.

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Schmerzhafte Erfahrungen und berührende Umgangsformen unter den Dreien zeichneten sich bisher durch ein jugendhaft untermaltes Feingefühl aus und dienten nicht dem Verletzen, sondern einer Art Artikulation oder Aussprache, infolge derer eine Stärke durch die Verlässlichkeit der Freunde gewonnen wurde: »Ich lese vor, wir sprechen über meine Mutter«, »Paul liest vor, und wir sprechen über seinen Bruder«, »Ratte liest vor, und wir sprechen über ihren Vater, und wie er ihr eine Ohrfeige gab« (MSL, 43–45). Oder: »Ihre [Rattes Mutter] Gemüsemuffins hingegen […] schmecken mir gar nicht, und Ratte sagt, das ist, weil ich keine Mutter habe und eifersüchtig bin. […] So was sagen wir uns, und das liebe ich, an Ratte und Paul und mir und an uns dreien« (MSL, 78). Wunde Stellen werden mit Nachsicht behandelt. In dieser Hinsicht wurden Grenzen nie überschritten. Dies ändert sich, als Alex ihre Gefühle nicht zu bändigen weiß und vor lauter undefinierter Frustration anfängt, Schuld für die in der Freundschaft eingetroffenen Änderungen zumeist Ratte, aber auch Paul zuzuschieben und ihre Freunde mit bösen Bemerkungen gezielt zu verletzen (vgl. MSL, 153–154, 161), was sie rückblickend gesteht: »Ich habe uns in die Bredouille geritten, aber ich gebe Paul die Schuld. Vorsichtig« (MSL, 66). Ratte und Paul sind Alex’ Lebensinhalt und die ersten wirklichen Freunde: »Ratte, Paul und ich. Das ist mein Leben« (MSL, 32), »als hätte ich mein ganzes Leben auf sie gewartet« (MSL, 135). Die Vorrangstellung der Freundschaft für Alex und aus deren Sicht für die beiden Freunde lässt sich anhand vieler Aussagen der Erzählerin nachvollziehen wie: »Freiheit, Freunde, wir« (MSL, 16) oder »Ratte und ich sind seine [Pauls] Familie, und ich weiß nicht, für wen wir das tun: für uns oder für ihn« (MSL, 27). Bei diesen Formulierungen fällt auf, dass Alex nicht zu unterscheiden vermag, für wen die Freundschaft wichtiger sein könnte, denn es sieht danach aus, dass jeder von ihnen gleichermaßen von ihr zehrt – somit verbildlichen sie eine klassische Peer-Group-Beziehung. Der Erkenntnis: »Ich bin ihr Zuhause. Ich bin ihre Familie. […] Ich bin etwas. Durch sie bin ich etwas« (MSL, 80), also erst durch Andere »etwas« zu sein, bezeugt die Erzählerin eine gewisse Reife.

3.

Beziehungen zwischen den Generationen

»Störungen« vermögen es, »eingeschliffene Denk- und Verhältnisdispositionen aufzubrechen und Neuerungen in Gang zu bringen«, womit sie als »Grundvoraussetzung von Kommunikation« aufzufassen sind.4 Um die Aussage anhand der 4 Gansel, Carsten: Zur Kategorie »Störung« in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Störungen in Literatur und Medien. Hrsg. von Carsten Gansel. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 2014, H. 4, S. 318.

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Literatur zu bestärken, werden im Folgenden einige Bilder vorgeführt. In der fiktiven Romanwirklichkeit, die etwa 2016 zu verorten ist, ist gemeinsames Rauchen und Alkoholtrinken – noch vor einiger Zeit ein brauchbares Werkzeug der Grenzüberschreitung – zur gewöhnlichen, weil längst akzeptierten Verkehrsform zwischen Schülern und Lehrern geworden: (Johnny und Alex) »›Rauchen ist hier drin verboten.‹ / ›Ich weiß. Willst du eine?‹« (MSL, 165), oder: (die Drei bei Johnny) »Dann gehst du in die Küche und kommst mit einer Flasche Rotwein zurück« (MSL, 100). Es fehlt nur noch eine offene Zusage für den Konsum von leichten Drogen: »[D]ie Köpfe schmerzen vom gestrigen Abend, der Alkohol, das Gras, und die Lehrer freuen sich, weil sie sagen können, dass das der Alkohol macht. Vom Gras sagen sie nichts, obwohl man das riecht« (MSL, 158). Die Mitschüler staunen nicht besonders, dass Ratte und S. sich jetzt als ein Paar zeigen und häufiger miteinander knutschen: »›[S]ind das Lesben? Ratte und S.?‹, […] aber es klang nicht böse. Eher interessiert« (MSL, 147). Die Familienkonstellationen bei den drei Hauptfiguren sind unterschiedlich und nur Alex’ Situation entspricht einem »individuierten« Zusammensein. Alle drei stammen aus Familien mit »Störungen«, die ihre Entwicklung erheblich prägen: Alex wächst seit ihrem achten Lebensjahr ohne Mutter auf, Paul hat einen behinderten Bruder, auf den sich die Aufmerksamkeit der Eltern konzentriert, und Ratte hat einen zu Alkoholkonsum neigenden Vater, unter dessen Gewalt und Unausgeglichenheit sie leidet. Unter anderem aus diesen Gründen betrachten sie sich selbst als »anders« und nehmen in der Klasse die Position von Außenseitern ein. Eine Entwicklung in dem Verhältnis zwischen den verwandten Generationen ist am Beispiel von Alex’ Familie zu beobachten: »die Selbstverständlichkeit, mit der sie [Ratte – J. S.] sich in meinem Haus bewegt« (MSL, 79f.), gemeinsame Mahlzeiten, Rattes Einzug bei Alex, wenn sie es zuhause nicht mehr aushält, das Rauchen und ein kontrollierter Alkoholkonsum der Siebzehnjährigen werden von Alex’ Vater gänzlich akzeptiert. Darüber hinaus ist die Tatsache zu berücksichtigen, dass es sich um junge Leute mit guten schulischen Leistungen und einem individuellen, akzeptablen Lebenskonzept handelt. Gerade diese Entwicklung in den Eltern-Kind-Beziehungen ist Folge des sozialen Wandels »von einem Befehl- zu einem Verhandlungshaushalt«5, den Entwicklungspsychologen seit einigen Jahren in den Familienbeziehungen beobachten. Nach George Herbert Meads ist in familiären Interaktionen ein Kulturtransfer von Jung zu Alt normal und notwendig.6 Reichhaltige außerfamiliale Erfahrungen (Peer-Group5 Gerber, Judith/Wild, Elke: Retroaktive Sozialisation in Abhängigkeit von sozialem Wandel und Peerorientierung. In: Jugendzeit – Time out? Zur Ausgestaltung des Jugendalters als Moratorium. Hrsg. von Heinz Reinders und Elke Wild. Opladen: Leske + Budrich 2018, S. 278. 6 Vgl. ebd.

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Orientierung) werden von Jugendlichen in die Familien hineingetragen: Interaktionen beider Generationen tragen zur »Herausbildung individuierter ElternKind-Beziehungen«7 bei. Die Position der Kinder in Familienstrukturen ist somit stärker geworden, klassische Generationenkonflikte schwinden.

4.

Haltung der Figuren

Ratte wäre gern ein »Geheimnis« (MSL, 29) und Paul ist Alex’ »Ellipse« (MSL, 12), sie selbst will später »ein Widerspruch« (ebd.), also Oxymoron sein. Ratte fällt durch ein spektakuläres, durchstilisiertes Auftreten auf: Rastas, Chucks in allen Farben, langer Mantel, Moped. Sie hat Geschmack, die Outfits für alle drei auszusuchen, und schon im Leben einiges ausprobiert, mit dreizehn ihren ersten Sex gehabt, später mit Jungen und Mädchen geschlafen, will Ärztin werden und mag mit »Dr. Ratte« angesprochen werden. Alex nennt diese Haltung offen »Auftritte«, so beispielsweise, wenn Ratte anstatt vor der Tür hartnäckig vor Alex’ Fenster auftaucht: »Du mit deinen billigen Auftritten, Ratte« (MSL, 57). Und als Ratte an einem kalten Abend Alex in deren Hausgarten erwartet, »wie das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern […]: langer, dünner Mantel, traurig, arm und stark« (MSL, 137), und nicht wie gewohnt »wie eine entrüstete Mutter« (ebd.) Alex ausschimpft, sondern diese ernst anschweigt, denkt Alex wütend: »Fuck you Ratte. Fuck you und deine Auftritte« (MSL, 138). All die Shows, die sie nach außen austrägt, sollen die wirkliche Natur Rattes überlagern, »weil sie gern ein Geheimnis ist. Weil sie gern ein Geheimnis wäre« (MSL, 29). Paul ist »einer, der freiwillig Seneca liest« (MSL, 17) und häufig mit seinen vielseitigen Interessen die Freundinnen überrascht. Mit ihm verbindet Alex höfliches Betragen und wohlformulierte Ausdrücke, wie das »korrekte« Lächeln, das sie zur Wut bringen kann (vgl. MSL, 17f.). Dennoch ist das Bild nicht komplett und stimmig. Irrtümlich nimmt Alex an, dass Paul »[nichts] merkt« (MSL, 17), aber ihm entgeht kaum etwas. In einem Brief an Alex zeigen sich Pauls Stärken: die über das Alter hinausweisende Reife, ausgedrückt in der Beherrschtheit seiner Gefühle und im Zurückstecken von Verletzungen, sowie ein Scharfsinn im Beschreiben der Personen und Geschehnisse. Alle drei Freunde hören viel alte Musik: Leonard Cohen, The Rolling Stones, The Doors, Pink Floyd, Beach Boys, Simon & Garfunkel, The Monkees. Mit dieser Wahl setzen sie sich von ihren Altersgenossen ab und definieren ihre besondere Lebenshaltung. Daneben werden auch einige aktuelle Sänger genannt: Coldplay, Feist, The Shines. Pauls Überzeugung, Alex kenne Taylor Swift nicht, deren Lyrik er für die Schilderung der gemeinsamen Beziehung wählte (vgl. MSL, 244f.), 7 Vgl. die Individuationstheorie nach Yoniss, Smolar ebd., S. 280.

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verweist auf ein bewusstes Vorgehen der Drei bei der Musikwahl – nicht das Bekannteste, Meistgehörte wollen sie rezipieren, sondern Musik, die zu ihrem Lebensstil passt und sie von den anderen Jugendlichen unterscheidet. »Anders« haben sie sich schon immer gefühlt, unter anderem aufgrund der jeweils besonderen Familiensituation, »anders« wollen sie bleiben und dies zu ihrer Stärke entfalten. Die Haltung ist so offensichtlich, dass Johnny sie gleich angreift und verspottet (vgl. MSL, 99f.). Johnny, eigentlich Daniel Spitzing, ist ein junger Referendar, der im Unterricht auf eine unkonventionelle Arbeitsweise zurückgreift: Sein tägliches SichUntermischen unter die Schüler durch das Hinsetzen auf einen freien Platz am Schülertisch und die Teilnahme am gemeinsamen, fünfminütigen Schreiben zum vorgegebenen Thema stechen hervor. Der Altersunterschied zwischen ihm und den Schülern lässt sich anhand des Textes nicht bestimmen, dürfte aber nicht gravierend sein und höchstens ein paar Jahre betragen. Zwar spöttelt Spitzing über das Streben der Drei nach dem Anderssein, spielt aber selbst eine Figur, der die Freunde einen Kunstnamen geben: »Johnny«. Gestylt in Schwarz wie Alex, bedient er sich lockerer Gesten und Körperhaltungen und hört viel alte Musik (Joan Baez, The Rolling Stons, Pink Floyd, Johnny Cash, Ben Fold Five), worin sich die drei Schüler und ihr Lehrer sehr gleichen. Es scheint, dass nur die offizielle Konvention sie trennt und versucht, ihnen vorgeschriebene Rollen zuzuweisen. Johnny gibt sich nicht wie ein Erwachsener mit abgeschlossener Identitätsbildung, sondern steckt vielmehr im Moratorium, also nach Marcia in jener Lebensphase, in der er verschiedene Optionen ohne Verpflichtung exploriert. Ihm fehlt es an sozialer Reife, woraus ein Mangel an professioneller Distanz resultiert. Obwohl durch sein Alter und seine Erfahrungen den drei Schülern überlegen, fühlt er sich zu ihnen hingezogen. So können sie auch ihm imponieren: mit dem Anderssein, ihrer Intelligenz, ihrem Interesse für Musik und Kunst, einem eigenständig erarbeiteten Lebensstil und einer Stärke im Zusammenhalten, mit der sie ihn herausfordern. Eigentlich nur formal und ohne etwas bewirken zu wollen, formuliert er einen schwachen Einwand gegen das erste, ungeladene Erscheinen der Drei bei sich zu Hause, woraufhin er sich unter sie mischt, weil er allzugern nochmal wie ein Jugendlicher fern von Verpflichtungen der Erwachsenen agieren möchte. Das Übertreten der Konvention in diesem Fall sichert dem Lehrer neue Freunde und bietet ihm die Möglichkeit, mit jungen Leuten nochmals in die Jugendzeit einzutauchen.

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5.

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Spielen und Aufstören

Auf eine für die moderne Jugendliteratur typische Weise wird der Leser in Goreliks Roman Carsten Gansel zufolge »intentionale[n] Störungen« ausgesetzt, die »in Form von aufstörenden Themen [und] Darstellungsweisen«8 zutage treten – eine dritte Form, also Figuren, lässt sich hierfür nicht bestimmen. Störung wird von Gansel »als mediale Disfunktion, als Hindernis oder Unfall für und im Zeichentransfer«, aber gleichzeitig auch als eine »gleichsam stabilisierende«9 Komponente verstanden. Denn als »Marker von Sinngrenzen« tragen Störungen dazu bei, dass diese »Grenzen an die aktuellen Bedingungen von Kommunikation« angepasst werden.10 Demzufolge und bedacht auf diese »Verbindung zwischen Systemstörung und Systemstabilisierung«, »ist Störung als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung zu verstehen.«11 Zu den wichtigsten Themen neben der Freundschaft, der Liebe, dem Umgang mit der Vergangenheit gehören in der Figurenwirklichkeit drei selbsterdachte Spiele: »Es ist mir doch egal«, »Du wirst dich doch trauen« und das Lieblingsspiel von Alex, »Stell dir mal vor« (vgl. MSL, 33). Sie fungieren als eine sinnstiftende Verkehrsweise der drei Hauptfiguren; ihre Bedeutung für sie lässt Alex’ Reflexion erkennen: »Das Leben fließt so vor sich hin, es ist das, was zwischen den Spielen geschieht« (MSL, 85). Das reale Leben vor dem Erscheinen des neuen Lehrers ist »still« (MSL, 19), »die Dinge wie immer« (MSL, 21), es ist ein Warten auf »Abitur, Ausziehen, Wegziehen, Ausland, ein anderes Leben, überhaupt ein Leben« (ebd.) – eine »Langeweile«, der sie durch Spiele und den Zusammenhalt in einem »wir« zu entkommen versuchen (vgl. MSL, 33). Das Spiel ist somit dem Leben entgegengesetzt und gleichzeitig mit diesem gar nicht vergleichbar, weil es in einer »andere[n] Welt« (MSL, 182) ausgetragen wird: »In dieser Welt sind wir noch nicht gewesen, […] Ich bin noch nicht oder nicht mehr ich. Ratte braucht noch keine Rastas. Paul hat das Lächeln, das sich entschuldigt, noch niemals aufgesetzt. […] unser Leben ein anderes ist« (ebd.).

Dieser Konstatierung kann entnommen werden, dass die Figuren in ihrer gelebten Wirklichkeit zumindest temporär nicht sie selbst sein können oder wollen, sondern etwas nach außen vorspielen, indem sie – so sind Rattes Rastas, Pauls Lächeln oder das Schwarz von Alex zu verstehen – Masken aufsetzen. Erst im 8 Gansel, Carsten/Ächtler, Norman: Das Prinzip »Störung« in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung. In: Das Prinzip »Störung« in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/New York: de Gruyter 2013, S. 12. 9 Ebd., S. 13. 10 Die stabilisierende Funktion ist das »Resultat kontinuierlicher semiologischer bzw. diskursiver Korrektur- und Anpassungsleistungen sozial integrierender Entitäten gegenüber Störungen aller Art« (ebd.). 11 Ebd.

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Spiel legen sie diese ab und wagen mehr, also drängende Fragen oder Wünsche auszusprechen. Die Proportion zwischen »ernst« und »Spiel« hat sich gedreht: Die »wichtigste« (MSL, 183) Regel der unbedingten »Ehrlichkeit« (MSL, 101) lautet: »Du darfst nie, nie, nie lügen. Sonst macht das Spiel keinen Sinn« (MSL, 183), wobei es immer darum geht, die »Grenzen zu übertreten« (MSL, 104): »Die Spielregeln gehen so. Du musst alles machen, was man dir sagt. Du darfst es nicht kommentieren. Du darfst nicht widersprechen. Du musst deine Aufgaben einfach […] ausführen, […]. Und wenn du dich irgendwas nicht traust, musst du wortlos gehen. […] Dann hast du verloren« (MSL, 181f.).

Es im Spiel »zu weit« (MSL, 34) zu treiben, übermannt sie wie eine Sucht (vgl. ebd.): »Da war etwas in uns, es war wie an eine Klippe zu gehen, ganz nah an den Abgrund, aber nicht zu springen« (ebd.). Aus den Spielen schöpfen die Teilnehmer einerseits ein Machtgefühl, andererseits können sie ihre eigene Stärke beweisen. Die Macht besteht darin, durch die Spielformel über andere zu verfügen – sie »schubsten« (MSL, 35) oder »Paul, du wirst dich doch trauen, jetzt auch noch mal bei dem Mann anzuklopfen, und ihn – so gut müsste dein Polnisch doch sicher sein – zu fragen, was er von Hitler hält« (MSL, 184f.) – oder diese zu beherrschen, so dass sich andere dem Verlangten gedanklich oder durch Handlungsausführung unterordnen: »Stell dir vor, du würdest deinen Vogel da oben essen. Gebraten.‹ / ›Mein Vogel heißt Astrid, und ich bitte dich, etwas mehr Respekt. Vor dem Vogel.‹ / ›Keine Kommentare!‹ / ›Okay, ich stelle es mir vor.« (MSL, 82) Die eigene Stärke äußert sich im Ausführen der Befehle, die häufig an die Schmerzgrenzen gehen: »[W]ir wollten geschubst werden, denn wir bildeten uns was drauf ein. Dass wir uns trauten. Wir waren mehr.« (MSL, 35) Eine innere Kraft speist sich in diesem Sich-Fügen aus dem Durchhalten und Nicht-Aufgeben, zu schubsen ist Macht, geschubst zu werden und dem standzuhalten, ist Stärke.

6.

Aufstörendes Erzählen

Mit »dieser Geschichte«, mehrmals durch das Demonstrativpronomen betont (vgl. MSL, 18f.), will die autodiegetische Erzählerin Alex die Zeitspanne und die Ereignisse zwischen dem Erscheinen des Referendars in der Klasse und dem Kuss auf dem Gelände von Auschwitz davon abheben, was einerseits als Geschichte der gemeinsamen Freundschaft gilt und andererseits was ihre Gegenwart ausmacht, aus der erzählt wird. Achtzugeben ist dabei darauf, dass die Erlebnisse zu dritt, die in jene »diese Geschichte« hineinfallen, nicht mehr den Freunden allein gehören, wie vor Spitzings Erscheinen: Ihre ursprüngliche Qualität ist durch die unabdingbare, nun jedoch fehlende Offenheit verloren gegangen. Sie entfernen

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sich von dem in ihrem WhatsApp-Namen definierten Bekenntnis »Freiheit, Freunde, wir« (MSL, 16), womit das zweite Jahr dieser Freundschaft ein Teil »dieser Geschichte« wird. Der Roman schildert das Schicksal einer Freundschaft inmitten adoleszenten, heftigen Verliebtseins, womit diese Beziehung einer gemeinen Probe unterzogen wird und diese nicht besteht. Da die Erzählerin viel Wert darauf legt, die Ereignisse des vergangenen Schuljahres, also »diese Geschichte« zwischen dem Betreten des Klassenraums durch den Referendar und dem Kuss vor dem Galgenhintergrund in Auschwitz, von der übrigen Erzählung zu trennen und ihnen Nachdruck durch das Spielen mit der Zeit: »Die neue Zeitrechnung, die nach dir« (MSL, 53) und die »nach dem Kuss« (MSL, 213) zu verleihen, kann angenommen werden, dass es sich hier um zwei Stränge handelt, die durch zwei nah aneinander liegende Zeitebenen eingegrenzt sind. Diese erfolgen in zwei Arten der Narration: Die Geschichte beginnt in der Gegenwart der Hauptfigur Alexandra, die sie als »jetzt« (MSL, 9, 211) bezeichnet und die »sechs Tage« nach Pauls Verschwinden einsetzt. Die Erzählerin benutzt eine gemischte Narration: Die gleichzeitige aus der erzählten Gegenwart umfasst drei Tage zwischen Freitag um Sonntag, die spätere wird von der Erzählerin am Freitag vorgenommen, dem sechsten Tag nach Pauls Verschwinden und gleichzeitig der Rückkehr von der Klassenfahrt. An diesem Tag beginnt Alex, die ganze Geschichte zu vergegenwärtigen – und diese erinnerten Ereignisse spielen sich im Kopf der Figur und Erzählerin nochmals ab, sind also auf der zweiten, intradiegetischen Erzählebene anzusiedeln. Den Charakter der Erinnerung verstärkt die Stimme des abwechselnd erlebenden und erzählenden Ich, wobei an vielen Textstellen nicht mehr festzustellen ist, wem die Aussage zuzuordnen ist: der damals erlebenden Figur oder der jetzt erinnernden Erzählerin. Da Vergangenes überwiegend im Präsens erzählt wird, um Nähe zu den Geschehnissen herzustellen und die Grenzen im Erleben zu verwischen, taugt das Tempus hierfür nicht als Unterscheidungsmerkmal. Während der Kommentar zur Ankündigung: »Das Spiel ist soeben eröffnet. Aber das werde ich erst im Nachhinein verstehen« (MSL, 187), erkennbar der Erzählergegenwart gehört, ist die folgende Wiedergabe nicht eindeutig: »Ich stehe ein paar Zentimeter hinter Ratte, also sehe ich ihr Gesicht nicht […]. / Ich denke, später wird Ratte vielleicht Reden schreiben. Für einen Präsidenten oder so« (MSL, 60). Dieser Gedanke an Rattes Zukunft kann sowohl dem damals erlebenden Ich wie auch dem jetzt erzählenden Ich eingefallen sein. Die Erzählweise, in der sich Geschichten auf verschiedenen Zeitebenen, Gegenwart, analeptisch naheliegende oder weiter entfernte, die Vergangenheit aus der Kindheit, Reflexionen und Wünsche, sowie Prolepsen (also Vorgriffe) mit Zitaten aus den Lieblingssongs und Schulaufsätzen der Hauptfiguren, zudem Literatur und Werktitel vermischen und dennoch die Vielfalt der dargebrachten Bilder ein nachvollziehbares Mosaik ergibt, spiegelt den seelischen Zustand der

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Erzählerin wider: ihre emotionale Zerrüttung und verspätete – erst aus der Erzählergegenwart definierte – Einsicht in die begangenen Gemeinheiten gegenüber ihren Nächsten sowie die Verunsicherung, Angst und Ahnung, dass die Freundschaft von ihr selbst zersprengt wurde. Im Laufe der Wiedergabe ordnen sich sowohl die Gedanken als auch die Darstellung der Abläufe. Bestand der erste Teil aus sehr disparaten Szenen, zeitenthobenen Charakteristiken und nichtchronologischen, teils assoziativen Bildern, die zu verschiedenen Zeitpunkten gehören, wird die erzählte Zeit in den Teilen Zwei, Drei und Vier chronologisch geordnet. Die Erzählweise, das ständige Hin- und Herwechseln zwischen dem erlebenden und erzählenden Ich sagt etwas über die innere Unruhe aus, zugleich ahmt sie das Suchen der Erzählerin nach dem Anfang nach, der im Betreten des Klassenraums durch den jungen Referendar gefunden wird (vgl. MSL, 19–24). Hervorgebracht werden im zweiten Teil Ereignisse von vier nahe beieinander liegenden Tagen aus dem Herbst. Im dritten Teil schildert die Erzählerin die Abläufe von acht nacheinander folgenden Tagen, und nach Auslassung einer längeren Zeitspanne, die den Winter umgreift, schließt sie das Kapitel mit der Vergegenwärtigung von zwei nacheinander folgenden Tagen ab. Dieser mittlere Teil rafft den längsten Zeitabschnitt zwischen Herbst und Frühling zusammen und bildet den Kulminationspunkt der Geschichte, die Freundschaft erfährt eine Wendung: Alex entfernt sich von den Freunden in Richtung Johnny, schiebt aber die Schuld auf Ratte, die sich in S. verliebt hat – parallel zu dieser Entwicklung werden auf der Ebene der erzählten Gegenwart die beiden Mädchen in der letzten Szene exponiert. Die Spannung hält aber an, die Geschichte wird fortgesetzt. Im vierten Teil erfolgt die Klassenfahrt nach Auschwitz, äußerlich in durchgeplanten Tagesabläufen strukturiert, innerlich ist aber das erlebende und handelnde Ich bis zur Frustration aufgewühlt, erst im Spiel zu viert verschiebt sie ihre Wut aufgrund der unerfüllten Liebe auf die Freunde, die ihr Einsatz im Spiel sind. Das Kapitel mündet im Kuss und den ersten Reaktionen darauf, Johnny verschwindet aus dem Blick der Erzählerin und aus der Handlungsgegenwart. Rattes vorausschauender Vorgriff im Hinblick auf Alex’ Gefühle zum Referendar, »das kann doch nur böse enden« (MSL, 13), gleich zu Anfang der Erinnerungen durch die Erzählerin vergegenwärtigt, erfüllt sich jetzt – »diese Geschichte« geht arg zu Ende, aber die Erzählung hat ihre Fortsetzung. Im letzten Teil kehrt die erzählende Instanz zu ihrer Gegenwart zurück und gibt die Geschehnisse der drei letzten Tage mittels der gleichzeitigen Narration wieder. Stilistische Mittel setzt Alex bewusst sowohl als Figur ihrer Geschichte als auch als deren Erzählerin ein, was sie im Unterricht von dem Referendar Spitzing gelernt hat. Einerseits bedient sie sich der Ellipsen, andererseits der zahlreichen lexikalisch-syntaktischen Wiederholungen. In beiden Fällen soll Nachdruck auf Nichtgesagtes oder zur Sprache Gebrachtes gelegt werden. Dies erinnert an Alex’ Reflexion über das Wackeln mit den Zehen, während sie den Freunden das

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Fehlen der Mutter erklärt: »Das tue ich, um den Worten die Bedeutung zu nehmen, oder sie zu verstärken, und ich weiß nicht, was der Unterschied ist« (MSL, 44). Sie spürt, dass beide Vorgehensweisen, das Auslassen wie das Wiederholen, auf Bedeutendes verweisen können. Ein Beispiel für den Einsatz dieser stilistischen Mittel ist in der Entwicklung der Sichtweise von Alex auf die eingangs nicht vorhandenen, nicht geachteten, dann jedoch zurückkehrenden und dringlichen Bedeutungen zu finden. Gesten zwischen Alex und Paul wie Umarmungen, kurzes Handhalten, Verständigungsblicke, Begrüßungs- oder Dankesküsse werden fast automatisch und selbstverständlich vollzogen, ihnen wohnt keine weitere Bedeutung inne als die der augenblicklichen Intention, die die beiden verstehen: »Die Umarmung hatte keine Bedeutung. Nichts hatte eine Bedeutung. Noch« (MSL, 12). Demgegenüber werden die Parallelgesten zwischen Alex und Johnny, auch wenn oft nur andeutungsweise, so dass das erlebende Ich sich nicht sicher sein kein, ob sie Wirklichkeit oder nur von ihr vorgestellt waren, hoch bewertet. Mit dem wachsenden Gefühl zu Johnny verblasst die Umgebung und verliert gänzlich an Bedeutung, bis am Ende die Besinnung kommt, denn »Nichts ist mehr sicher« (MSL, 247). Der Zusammenhalt der Freundschaft in einem wiederholt betonten »wir« ist für Alex eine Selbstverständlichkeit. Die Bedeutungslosigkeit vieler Handlungen (s. o.) als mangelnde Reflexion ist dessen Ausdruck, denn ihr Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Verlässlichkeit ist gestillt. Als er ins Wanken gerät, beginnt Alex zunehmend nach Bedeutungen zu fragen. Ihre Unsicherheit markiert die Stelle, an der sie viermal gleich ansetzt, »[o]b es eine Bedeutung hat, dass ich« (es folgen Paul, du, Ratte, MSL, 179f.), um verschiedene Situationen zu überprüfen – die Reihenfolge, in der Personen auftauchen, ist für sie womöglich bedeutsam. Die Darstellungsweise dieser im Laufe der Geschichte sich wandelnden Situation stützt sich auf lexikalischen und syntaktischen Wiederholungen, wobei einige Elemente zuweilen ausgewechselt oder umgestellt werden. Dadurch entstehen ein stetiger Rhythmus und eine ein wenig verträumte Atmosphäre. In ähnlicher Weise wird die Erzählergegenwart an zwei weit auseinander liegenden Textstellen korreliert. Die Erzählerin beginnt ihre Geschichte mit einem Bekenntnis: »Paul ist mein allerbester Freund. / Paul ist verschwunden, es sind jetzt sechs Tage. […] / Sechs Tage sind es jetzt, und ich merke, ich beginne dich dafür zu hassen. Das hilft, damit ich mich selbst nicht hassen muss.« (MSL, 9)

Nach diesem Einstieg erfolgen Beschreibungen, Reflexionen und Zitate, die Geschehnisse werden rekapituliert, bis die Erzählerin ihre Gegenwart erreicht und nochmals die Lage in fast identischer Weise schildert:

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»Paul ist verschwunden. / Paul ist verschwunden, es sind jetzt sechs Tage, und ich merke, dass ich dich dafür zu hassen beginne. Das hilft, damit ich mich selbst nicht hassen muss.« (MSL, 211)

Die Ablösung vom Gefühl für den Lehrer »duftet nach Freiheit« (MSL, 229) und geht mit dem zunehmenden Sinn für die Bedeutungen einher, denn Alex nimmt »[d]ie normalen Dinge, die an Bedeutung gewinnen« (MSL, 247), wahr. Beglückt über das nochmalige Zusammensein zu dritt, legt sie sogar »zu viel Bedeutung in Pauls Schritte« (ebd.) und würde »die Welt geben, für Paul: schreiend. Jetzt« (MSL, 16), nachdem sie die Freunde und die Freundschaft verspielt hat. Den Wunsch auf ein: »Wir sind. So soll es sein« (MSL, 249), verwirft sie nach Rattes Zurechtweisung und formuliert die Zukunft neu: »Wir sind, aber es soll so nicht sein« (ebd.). Sie lernt, befreit vom Liebesgefühl zu leben, und sieht, dass Paul wahrscheinlich dasselbe tut: »Als er zurückkommt, schaut er mich nicht an. Vielleicht ist es ja seine Art, zu atmen« (MSL, 251).

7.

Auschwitz – Ort des Gedenkens und des Reifens

Der Referendar bringt die Schüler ohne gezielte Vorbereitung nach Auschwitz. Er kündigt lediglich an, sie werden an dem Ort »fühlen« (vgl. MSL, 112) müssen, danach liest er ihnen ein paar Mal »Die Todesfuge« von Paul Celan kommentarlos vor (vgl. MSL, 110, 164). Die Jugendlichen bringen nichts in ihrem Gepäck mit, was an diesem Ort gelten könnte.12 Ganz im Sinne Aleida Assmanns, und zwar »in dem Maße, wie das Gepäck der Besucher leichter wird, die Erwartung an die Eindruckskraft des Ortes zunimmt«,13 hat der Lehrer seine Forderung an den Ort, der auf die jungen Besucher einwirken soll, definiert. Das Fehlende »soll durch eine ortsimmanente Gedächtniskraft, soll durch den überwältigenden Appellcharakter des Ortes aufgewogen werden.«14 Diese Erwartung ist umso dringlicher, als die Schüler nicht einmal ihr angelerntes Wissen aufgefrischt und mitgenommen haben. Der Klassenlehrer Drehmann belehrt die Gruppe dann doch direkt vor dem Museumsbesuch und benutzt dabei schablonenhafte Ausdrücke wie »das Unvorstellbare«, »ein Verbrechen an der ganzen Menschheit«, »wir würden niemals verstehen«, »dem Grauen ins Gesicht […] blicken« (MSL, 193), die den jungen Spitzing ungeduldig machen und die Schüler als leere Phrasen teilweise überhören und lieber auf ihre Handys schauen. Ihr Verhalten verrät Konfusion gegenüber dem Thema. Bereits bei der Ankündigung des Klassen12 Vgl. Aleida Assmann in Anlehnung an Ruth Klüger in: Assmann, Das Gedächtnis der Orte. 2002, S. 205. 13 Vgl. ebd., S. 205f. 14 Vgl. ebd., S. 206.

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fahrtziels haben einige aus Enttäuschung abfällige Bemerkungen fallenlassen: »Nicht schon wieder dieser Holocaust-Scheiß« (MSL, 111). Sie wären lieber, wie dies bisher üblich war, nach Italien gefahren, bis zuletzt sind sie untröstlich, kurz vor dem Reiseantritt kommentiert K.: »Wir fahren nach Auschwitz statt in die Toskana. Tote Juden statt toter Etrusker« (MSL, 145). Bei der Ankunft in Os´wie˛cim sagt Paul: »Hier haben sie also gemordet«, worauf Alex lediglich im Jugendjargon knapp entgegnet: »Schon krass« (MSL, 151). Ein organisiertes, industrielles Vernichten von Menschen als Erbe der deutschen Nazi-Vergangenheit ist ein sehr schwieriges Thema, ohne Vorbereitung kann man damit weder abstrakt in Gedanken noch am Ort des Geschehens umgehen. Daher versuchen es die Jugendlichen ungelenk auf ihre Art zu fassen: teilweise die Problematik durch derbe Formulierungen wie »dieser Holocaust-Scheiß« abzuwehren oder sich ihr durch ironische Aussagen: »›Wo wärest du gewesen‹, fragt jemand. ›Also auf welcher Seite?‹ / ›Ob ich ein Nazi gewesen wäre?‹ / ›Ja.‹ / ›Ja, klar‹« (MSL, 195), anzunähern. Eine übertriebene Rücksicht: »›Darf man das, sich einfach so irgendwo hier hinsetzten?‹, fragt F. uns« (MSL, 199) ist zuletzt Ausdruck einer Unsicherheit oder sogar Verlorenheit inmitten dieses besonderen Gedenkortes und dessen Bedeutungen. Teilweise versuchen sie – wie Paul, Ratte und Alex – mit Ernst an die verbrecherische Vergangenheit heranzugehen. Eine ähnliche Frage, wie bei den Kommilitonen, veranlasst Ratte zu ehrlichen Erwägungen: »Ich hoffe, ich hätte nicht mitgemacht. Oder wäre in den Widerstand gegangen. Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht« (MSL, 198). Alex, gedanklich ihren persönlichen Gefühlen und Ängsten hingegeben, nimmt die Umgebung ziemlich oberflächlich auf, die Wahrnehmungen werden ständig durch Assoziationen mit der Gegenwart unterbrochen: »Haare. Brillen. Zähne: aus Gold. Bilder, schwarz-weiß. Worte, keine. Pokémons, keine. Worte, wenige. Blauer Himmel. Zwei Schmetterlinge, die sich paaren. […] Lange Wege. Durst, aber einer, der keiner ist. Ich mag nichts trinken. Vielleicht kann ich hier nichts trinken. Ich lese die Schilder. Todeswand.« (MSL, 195)

Sie formuliert ihre Gedanken elliptisch, also sprachlich derart gestaltet, wie sie es bei Spitzing gelernt und in der Freundschaft zu dritt gepflegt haben. Eine Weile setzt sie diese Umgebungsbeschreibung fort: »Gras, grünes. Rauch, grauer, nicht mehr zu sehen. […] Gleise, sie haben ein Ende. […] Tränen, keine« (ebd.), bis sie zu Inhalten übergeht, die ihr Inneres in diesem Augenblick bewegen: »Fragen, unbeantwortete. Spiele, gespielte. Blicke, ausgetauschte. Okay, okay. Hey, ich fasse Paul am Arm. Entschuldigungen, unaussprechbare. Das ist der Ort, an dem keine Entschuldigung gilt, und vielleicht ist es auch der Ort, an dem nichts gilt.« (MSL, 196)

Unter anderem an dieser Stelle, und hier besonders deutlich, verschränken sich die Problematiken des Romans: Der Gedenkort Auschwitz kann von der Haupt-

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figur nicht ungehindert, ungestört, also unbelastet erlebt werden, weil ihre individuelle Verfassung es nicht zulässt, was in folgender Aussage nochmals deutlich hervortritt: »Vor uns ein Galgen. Da haben sie Menschen gehängt. Ich versuche mir das vorzustellen. Ich konzentriere mich darauf. Paul sitzt neben mir, ich weiß nicht, was er denkt. Ich habe verlernt zu erkennen, was er denkt.« (ebd.)

Trotz mehrmaliger Versuche, gelingt es Alex nicht, den Gedenkort im Fokus zu behalten, fortwährend wird ihre Wahrnehmung der Umgebung durch den inneren Diskurs gestört. Das adoleszente Leiden überwiegt eine gefasste Haltung, die Emotionen stören den Verstand. In dieser Verfassung betritt sie den abschließenden Part des Spiels mit den Freunden, das diesmal nicht als solches beginnt. Ihr eigenes Spiel wird durch das Vergegenwärtigen von vorgestellten geschichtlichen Geschehnissen unterbrochen, und allmählich holen die Freunde die Vergangenheit ins Spiel, wodurch sie der Geschichte einen realen Hintergrund verleihen und für ihre aktuelle Situation nutzbar machen. Jetzt werden Konnotationen zum Töten im Lager und Verweise auf das Verhalten der Lagermannschaften gegenüber den Gefangenen hergestellt, das von den Figuren als »Spiel« bezeichnet wird: »›Die hatten Spaß daran‹, sagt Ratte, ›am Töten. Die haben Spiele gespielt, wie viele töte ich auf einmal, und ich kann mehr als du. Und hey, komm her, du dahinten, ich mag deinen Haarschnitt nicht. Also töte ich dich‹. / […] / ›Spiele gespielt‹, sagt Paul.« (MSL, 197f.)

Von diesen Vorstellungen gleitet Ratte in die Gegenwart hinein und fragt: »›Hey, Alex, was hättest du gemacht?‹ / ›Wie, was hätte ich gemacht?‹ / ›Na, hättest du ein Spiel gespielt? Hier, damals?‹« (MSL, 198) Alex reagiert empört, lässt sich dennoch auf das gemeinsame Spiel »Stell dir vor« ein, das jetzt eröffnet wird. Dabei fühlen sie sich in die Situation der in der Nazizeit Widerstand Leistenden hinein, die wichtige Entscheidungen treffen müssen, bis Paul die äußerste Offenheit wagt: »Und wenn du wählen müsstest, zwischen mir und Johnny?« (MSL, 200), und Alex erschreckt zurückweicht: »Ich spiele nicht mit« (ebd.), womit sie sich entblößt und die Freundschaft auseinanderfällt. Alex wird bewusst, dass zu jeder Zeit im Leben Entscheidungen getroffen werden müssen, die entweder von Treue und Mut zeugen oder vom Bedürfnis nach dem eigenen Vorteil, auch wenn die Umstände, in denen Menschen in Nazideutschland agierten und in denen jetzt die drei Freunde handeln, grundverschieden sind. Der danach folgende Kuss will alles rückgängig machen, es ist aber nicht mehr möglich. Dafür setzt er einen anderen Prozess in Gang.

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8.

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Die Mehrfachkodierung des Kusses15

»[I]ch hatte und hatte und hatte, alles, außer nachgedacht« (MSL, 168), wirft sich Alex wiederholt vor. Seit Monaten richten sich ihre Gedanken nur auf Johnny, den jungen Referendar, so dass ihr jegliche kritische Reflexion abhandenkommt. Unüberlegte Handlungen unterlaufen hin und wieder jedem Menschen, jugendlichen wie erwachsenen. Die Frage ist aber, welche Folgen ziehen sie nach sich. Was kann verziehen werden und wem steht es zu, das Urteil zu sprechen oder Vergehen zu verzeihen? Die Situation adoleszenter Jugend, die zum ersten Mal in Liebe entflammt, hat nichts Beneidenswertes, sie neigt zu Peinlichkeiten, die zu dem ausgewachsenen Äußeren dieser Menschen nicht ganz passen wollen. Die aufgewühlten Gefühle können die Jugendlichen sogar zu Taten verleiten, die vielleicht unverzeihlich sind – wer entscheidet darüber? – und eine zerstörende Wirkung nach sich ziehen. Voll widersprüchlicher Gefühle und mit der Vorahnung, dass ihre Liebe zu Johnny nicht erfüllt werden kann, tritt Alex ihre Klassenfahrt nach Auschwitz an. Der beste Freund Paul irritiert sie nur noch, fast erschreckend klingt ihr Geständnis: »Ich weiß nicht, wann das war, dass Paul zu einer Enttäuschung verkommen ist« (MSL, 179). Die beste Freundin Ratte sitzt in einiger Entfernung von den beiden mit S. zusammen. Die Freundschaft zwischen den Dreien neigt sich dem Ende zu, das spüren alle Freunde. Aus Alex’ Sicht fällt sie durch Rattes neue Liebesbeziehung auseinander; dass sie selbst seit langem deren wichtigste Regeln bricht und sich nun auch innerlich von dieser entfernt, will sie nicht sehen. Fast boshaft vertieft sie den Spalt zwischen den Freunden zum einen durch gemeine Spitzen, die sie »Pfeile« (MSL, 154) nennt, »ob ich dir zuliebe zwei Jahre länger in der Schule bleiben möchte« (MSL, 161), wirft sie Paul ins Gesicht; zum anderen durch eine kühle, bewusste Distanznahme: »Ich frage die beiden nicht, […]. Ich sage nichts. Es ist, als gehöre ich nicht dazu. / Womit ich nirgendwohin gehöre« (MSL, 154). Jetzt hat sie sich innerlich von den Freunden losgesagt. Als sich die Drei mit dem Lehrer am Vorabend des Museumsbesuchs treffen und zum Spiel »Du wirst dich doch trauen« ansetzen, das mit dem Zerwürfnis der Freunde endet, ist noch nicht alles verloren: »Ich habe noch nichts verbrochen« (MSL, 192). Am folgenden Tag auf dem Auschwitz-Museumsgelände sind Alex’ Denkvermögen und Vorgehensweise durch unbe15 Die Mehrfachkodierung bedeutet hier, dass sprachlichen Zeichen außer ihrer konventionellen bzw. im jeweiligen Kontext nächstliegenden Bedeutung weitere Bedeutungen zugewiesen werden aufgrund von Metaphorizität, Isotopien, symbolischem Potential, Klangkorrespondenzen (Reimen), Wiederholungen von Satzteilstrukturen (Anaphern und anderen Figuren) usw. Vgl. Winko, Simone/Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: Radikal historisiert. Für einen pragmatischen Literaturbegriff. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer. Berlin/ New York: de Gruyter 2009, S. 25.

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herrschte Emotionen gänzlich verwirrt. Einerseits, stark durch das Bedürfnis nach dem »früher« getrieben, sucht sie nach Rattes und Pauls Nähe. Andererseits, durch die Freunde mit der Fortsetzung des Spieles angefacht, versucht sie, den unliebsamen Fragen standzuhalten. Durch disparate Gefühle getrieben, darunter ihre Liebe zu Johnny, Verlustangst und Wut wegen der Unmöglichkeit, eine befriedigende Lösung zu finden, zieht sie Paul an sich heran und küsst ihn auf die Lippen. Dabei fotografiert sie jemand: »Auf dem Foto küssen sich ein Mädchen und ein Junge. Der Galgen ist klar zu erkennen, […]. Das Gesicht des Mädchens wirkt irgendwie verzerrt, […]. Vom Jungen sieht man […] nicht viel« (MSL, 206). Das Foto geht um die Welt und wird kontrovers diskutiert. Was man gleichwohl auf dem Foto – einem festgehaltenen, starren und kontextenthobenen Bild – nicht sieht, ist die Geschichte, die in diesen Kuss mündete. Den Hintergrund des Kusses erläutert Alex im Brief an den Vater: »Ich habe nicht nachgedacht. Ich habe ein Spiel gespielt, ich war in Rage, und ich habe damit eine Menge Menschen verletzt, auch dich, das weiß ich« (MSL, 235). Der Prozess der Selbstkorrektur läuft, wie das Bekenntnis zeigt: Der Kuss ist nicht nur ein Kuss, er ist Ausdruck von vielen – im Brief auch verschwiegenen – Sachverhalten. Er umfasst Alex’ Stellungnahme, Wünsche und Gefühle, die Anerkennung des Vorrangs der Freundschaft, ihre Wut wegen unerwiderter Liebe und die Angst vor dem Verlust der Freunde, aber auch die Absicht, Johnny und gleichzeitig Paul damit zu treffen, was hier nach Widerspruch klingt und doch zutrifft – also eine ganz individuelle Problematik. Als Fortsetzung eines Spiels knüpft er zumindest teilweise an die Konvention der Freundschaft an, intendiert war damit die Rettung dieser Freundschaft. Die Richtung, wie dieser Akt gedeutet werden kann, gibt Alex vor, indem sie die Bedeutung des Kusses für Johnny zu erraten versucht: »Der Kuss? Alex? Alexandra? Paul? Auschwitz?« (MSL, 212) Was in diesem Themenkomplex von ihr elliptisch behandelt wird, ist ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens: die Freundschaft. Zusammenfassend ist dieser Kuss Ausdruck für heftige Gefühle und Ersatz für den Kuss, der Johnny gelten sollte. Er realisiert Alex’ Absicht, Johnny zu verletzen, Paul zu verletzen und doch zurückzugewinnen, die Freundschaft zu retten. Aber am Ende bleibt von ihm nur das übrig, was auf dem Foto festgehalten worden ist: die Konsequenz mangelnder Reflexion. Wenngleich Alex mit dem Kuss nicht die Absicht verfolgte, in die Öffentlichkeit zu dringen und dort für Empörung zu sorgen, entwickelt sich diese Auswirkung, neben dem zerstörten Verhältnis unter den Freunden, zu einer dominanten. Dass Handlungen Spuren hinterlassen, die sich von den Beweggründen gänzlich unterscheiden können, muss Alex aus dieser Situation lernen. Bei den Schulkommilitonen vermischen sich anfangs Neugierde und Schrecken wegen Alex’ und Pauls unangemessenem Aufführen, »kriegen die Ärger, richtig geknutscht, krass, echt« (MSL, 204), und bald beherrscht sie die Frage nach dem Verhältnis zwischen beiden: »[S]ieht heiß aus, der Kuss, wer hätte denn

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gedacht, die beiden, Paul, die Sau, Alex, die Sau, und dann tun die immer so, […] Alex und Paul, voll krass« (MSL, 205). Die medial vernetzte Welt reagiert augenblicklich: Empörung und Zurückweisung hängen der politisch korrekten Norm an. Die ersten Tweets und Facebookeinträge finden sich sofort nach dem Erscheinen des Bildes im Netz: »Pietätlos, schamlos, Sittenverfall, missratene Jugend, die trauen sich aber was, Geschichtsbewusstsein, dreist, unverfroren, Verfall der Jugend, wie geil ist das denn, ordinär, heiliger Ort, voll krass, ey, das Ende des Anstands« (MSL, 207). Ihnen folgen verurteilende Kommentare in der Presse, Medien und Institutionen sprechen vom »Verlust jedweder Identitätsstiftender Symbolik von Auschwitz« und von »dem Höhepunkt der Barbarisierung von Gedenkstättenkultur«, die sich küssenden jungen Leute werden »kulturlose Barbaren« (MSL, 212) genannt. Der Zentralrat der Juden sieht den Akt im Kontext der »Erinnerungskultur« verortet und fragt: »›Setzt die Jugend der Erinnerungskultur ein Ende?‹« (ebd.) Während sich in den Medien viele um die Kondition der deutschen Jugend und deren Geschichtsbewusstsein besorgte Stimmen melden, gewinnen vor allem junge Leute der aufstörenden Situation den Moment ab, der zum Weiterdenken und zur Verständigung führen sollte. Zwei Wege dahin werden ausprobiert. Das Urteil des Zentralrats versieht Alex mit ihrer eigenen Auslegung: »Der Zentralrat der Juden weiß nicht, der Kuss hatte nichts mit Auschwitz zu tun und nichts mit den toten Juden« (MSL, 219), und: »Sie sagen, es geht hier um Respekt, aber sie verstehen nicht. Die Geschichte spielt keine Rolle, nicht für meine Geschichte. Der Ort war eine Zufälligkeit ohne Bedeutung. Die Geschichte, die hier passiert, wer liebt hier wen, ist zu simpel, als dass sie eine Rolle für die Geschichte spielen könnte. Sie sagen, aber sie verstehen nicht.« (MSL, 214)

Darin weist sie die Tatsache von sich, dass der Kuss, ungeachtet seiner Vorgeschichte und der seelischen Kondition der Beteiligten, doch zu dem Ort in einem Verhältnis steht, weil diese Handlung nachweislich ortsgebunden ist. Das erkennt Paul: »Aber das mit dem Ort, das geht nicht. Alex, das geht nicht. Stell dir mal vor, das geht nicht. Wir haben eine Grenze überschritten. Jetzt müssen wir wieder zurück« (MSL, 245f.). Mit dieser einfachen Aufforderung zeigt er der Freundin, dass es nicht so aussichtslos scheint, wie sie in der Einsamkeit noch geglaubt hat: »Wenn man eine Grenze übertritt, die hinter der eigentlichen Grenze liegt, dann gibt es nicht diesen einen Schritt zurück, und jedes Wort, das mit Entschuldigung beginnt, ist ein Versuch, der nichts kann. Ich wusste es, auch ohne das Foto« (MSL, 220). Er fordert sie zu diesem Schritt auf und Alex fügt sich widerspruchslos. Bezeichnenderweise benutzt Paul für die Verbildlichung der Situation eine Formel aus ihren gemeinsamen Spielen: »Stell dir mal vor« (MSL, 246). Es geht aber nicht mehr nur um ein Spiel, denn es ist bereits vor einigen Tagen ins Leben eingedrungen, jetzt wird der Spruch zum letzten Mal aktiviert, um dem

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wirklichen Leben zu dienen. Das klingt hoffnungsfroh und nach einem Verständigungsangebot. Die andere Möglichkeit des Umgangs mit dem Vorfall empfängt Alex von einer unbekannten Person, die die Reaktion der Außenwelt auf das Foto verfolgt. Von dem absoluten Verriss der Haltung geht die Erzählerin über eine Auseinandersetzung mit dem im Text nicht wörtlich wiedergegebenen Urteil des Deutschen Judenrats hin zu einem ausgleichenden Satz, den sie als »Lieblingstweet« (MSL, 219) einstuft: »Ein Kuss ist ein Kuss. Vielleicht bringt er Liebe an diesen Ort zurück«, und meint: »[E]r will nicht zu viel und versucht sich als vorsichtiger Gedanke« (ebd.). Dabei handelt es sich um eine der Stellen im Roman, an der die »Verbindung zwischen Systemstörung und Systemstabilisierung«16 stattfindet, womit diese »Störung als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung zu verstehen«17 wäre. Die Anlehnung an Gertrude Steins »Rose«-Zitat bietet eine Umgangsweise an, die über dessen Aussage »Es ist passiert, es ist irreparabel, es geht weiter« hinausgreift, weil es sich doch »versucht« und nach einer Aussöhnung, also »Verständigung« im obigen Sinne sucht. Diese Textstelle verbildlicht Alex’ Art, sich zu entschuldigen. Paul, auf seine sich vom Gewöhnlichen abhebende Weise, findet kein Verständnis für diesen Akt, sieht ihn aber nicht als einen ausweglosen. Die Rückkehr an den Ort, das Vergraben der Zettel mit den persönlichen Sprüchen und der Kette von Johnny, die Alex im Spiel zufiel, fallen ein wenig kitschig aus und artifiziell, erweisen sich aber möglicherweise als der Jugend gemäß. Beide Wege lassen die Befürchtung der Institutionen als unberechtigt erscheinen.

9.

Fazit

Neben der geschichtlichen Dimension als Gedenkorte erhalten Os´wie˛cim und Auschwitz für Alex zusätzliche, individuierte Bedeutungen und werden zu Spielplätzen ihrer Erfahrungen. Im Ort Os´wie˛cim haben die Freunde ihr letztes, für die Freundschaft folgenschweres Spiel gespielt, auf dem Museumsgelände Auschwitz hat sich Alex völlig unbedacht und wider das eigentliche Bedürfnis nach Aussöhnung gegen die Freunde ausgesprochen und sie verloren. Den in Bezug auf Naziverbrechen gedachten Satz kann sie nun auf ihre eigene Situation anwenden: »Das ist der Ort, an dem keine Entschuldigung gilt, und vielleicht ist es auch der Ort, an dem nichts gilt« (MSL, 196). Angesichts des persönlichen Verlusts wird in der letzten Szene des Romans Alex’ Bedürfnis nochmals aktuell. Sie ist nicht so sehr um den Verstoß gegen das öffentliche Empfinden besorgt, als 16 Gansel/Ächtler, Das Prinzip »Störung«. 2013, S. 13. 17 Ebd.

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vielmehr um den Zustand ihrer Freundschaft, weswegen sie schreibt, als Ratte alle Drei zu einem Satz auffordert: »Es gibt Fehler im Leben, die man nicht wiedergutmachen kann. Obwohl man alles dafür tun würde« (MSL, 250). Damit kann sie die beiden Geschichten kommentieren und zusammenführen: die des Kusses und die ihrer Freundschaft.

Caroline Roeder

»Wenn ich schreibe, arbeite ich« – Herkunfts(ge)schichten in Kindheit und Jugend erzählender Literatur

1.

Einleitung »Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte. Niemandem hier fällt das mehr auf, und auch mir wird es nach ein paar Stunden vorkommen wie die einzige mögliche Konsistenz, die Luft haben kann. Jede andere wäre eine fremde. Auch mein Gesicht veränderte sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat und mit dem er noch immer selbst durch die Straßen geht. Eine ängstliche Teilnahmelosigkeit, die bewirken soll, das man mich übersieht. Ich übertrete die Schwelle an der Endhaltestelle, wo die Busse eine Schleife fahren und dann vor dem Haupteingang des Friedhofs eine Pause einlegen.«1

In der Eingangspassage des hochgelobten Debütromans der jungen Autorin Deniz Ohde öffnet die namenslos bleibende Protagonistin mit dem Übertreten der Schwelle ihres Herkunftsortes den Erzählkosmos erinnerter Kindheit und Jugend.2 Anlässlich der Heirat von zwei ehemaligen SchulfreundInnen kehrt sie dorthin zurück, wo sie aufgewachsen ist und ihr Vater noch immer lebt. Es ist ein Industrievorort, das südlich von Frankfurt am Main gelegene Sindlingen, besser bekannt unter dem Stichwort Frankfurt-Hoechst. Die von Chemikalien getränkte Luft evozieren ein Streulicht, so der Titel des Romans. Es bedeutet eine optische Schwelle, deren Übertreten zu Erinnerungen führt, in eine Zeit, die von Ausgrenzung und von Schamgefühlen, dem Erfahren sozialer Distinktion bestimmt war. Die Rückkehr führt die Protagonistin nicht nach Hause, sondern zu ihrer Herkunft, auch zu der ihrer Probleme. Sie trifft auf ihren Vater, ein in sich verschlossener Mensch, der zeitlebens als Arbeiter in einem Industriebetrieb der schweren körperlichen Tätigkeit des Aluminium Beizens nachging. Die Mutter, 1 Ohde, Deniz: Streulicht. Berlin: Suhrkamp 2020, S. 7. 2 Der Roman wurde vielfach besprochen und hoch gelobt, so in der »Süddeutschen Zeitung«, »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« oder der »Zeit«; zudem stand der Titel auf der Longlist zum »Deutschen Buchpreis« 2020.

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Caroline Roeder

eine türkische Migrantin, verlässt die Familie früh und überlässt die Tochter sich selbst und dem trinkenden Mann. Deniz Ohde, Jahrgang 1988 und selbst in Frankfurt am Main aufgewachsen, kennt das Milieu, über das sie ihren Roman verfasst. Eindrücklich und auf die homodiegetische Erzählerin fokussiert, wird das Gefühl, gesellschaftlich nicht dazuzugehören und sozial keine adäquate Rolle einnehmen zu können, in eindrückliche Szenen gefasst. Diese veranschaulichen beispielsweise demütigende Erlebnisse im Gymnasium gegenüber der vermeintlichen ›Ausländerin‹ oder ihr Scheitern bei der universitären Ausbildung, da das Gefühl, beim bürgerlichen Aufstiegswettbewerb eigentlich nur unbefugt mitzuspielen, die Protagonistin bestimmt. Der »menschliche Makel« (Philip Roth), der dieser Protagonistin anhaftet, resultiert aus ihrer sozialen Herkunft, die sie mit größter Anstrengung zu verbergen sucht, aber vor sich selbst nicht vergessen kann.

2.

Rückkehr zur Herkunfts(ge)schichten

Es scheint, als sei in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur die Armut zurückgekehrt3 und damit die Darstellung sozialer Herkunfts(ge)schichten, die fernab von bürgerlichen Kontexten entworfen werden. Die scharf gezeichnete Vermessung von prekären Lebenswelten wurde insbesondere in den Jahren nach der Jahrtausendwende vor allem in Literatur mit migrantischen Kontexten oder in biographischen Lebensbeschreibungen, die aus nichteuropäischen Herkunftsorten stammen, dargestellt. Ein Initial bei dieser Entwicklung bedeutete die Autobiographie des französischen Autors Didier Eribon, »Rückkehr nach Reims« (2009, dt. 2016). An dieser Erfolgsgeschichte spiegelt sich das neue Interesse einer Leserschaft wider, sich mit Themen sozialer Fragen auseinanderzusetzen. Auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt lässt sich dies nachvollziehen. So wird der Kulturbetrieb auf diesen Trend aufmerksam und speist einschlägige Beiträge in das Feuilleton bzw. literarische Sendungen ein. In einem Radiofeature von »Deutschlandradio Kultur« werden 2021 beispielsweise die AutorInnen Christian Baron, Bov Bjerg und Deniz Ohde als Dreigespann unter dem Titel »Literarische Kindheiten der Unterschicht« zusammen vorgestellt.4

3 Der Begriff der ›Rückkehr‹ bezieht sich auf literarische Epochen, in denen soziale Fragen verstärkt im Mittelpunkt standen, so beispielsweise in der Literatur der Weimarer Republik oder der der 1960er und -70erJahre der Bundesrepublik. 4 Voss, Sabine: Schwieriger Aufstieg aus der Herkunftswelt. Literarische Kindheiten der Unterschicht. Deutschlandfunk Kultur vom 22. 01. 2021. (letzter Zugriff: 22. 01. 2021).

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Auffällig ist, dass bei vielen dieser Texte der Gegenwartsliteratur Kindheit und Jugend die zentrale Lebensphase bedeutet, um die soziale Herkunft auszuleuchten. Carsten Gansel bestimmt diese Entwicklung als Trend mit einer kaum mehr überschaubaren Anzahl an Titeln.5 Er konstatiert, dass dieses Thema auf dem literarischen Markt zum »wohl meistgeliebten Sujet von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart«6 avancierte. Wesentlich erscheint bei diesem Befund auch die autobiographische Grundierung, die diese Entwicklung charakterisiert. Die Texte über Kindheit(en) und Jugend im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert verweisen zudem auf einen grundlegend erweiterten Begriff der Jugendzeit: Als ›Postadoleszenz XL‹ reicht sie nun bis ins dritte, ja sogar vierte Lebensjahrzehnt.7 Diese Entwicklung spiegelt sich sowohl in literarischen Texten der Kinder- und Jugendliteratur als auch in von Kindheit und Jugend erzählenden Texten der Gegenwartsliteratur, das ›Moratorium Jugend‹ wird somit zur scheinbar unbegrenzten Lebensphase ausgedehnt.8 Obgleich dieses neu formatierte Lebensalter nun das Erwerbslebensalter wesentlich einschließt, herrscht in den Texten eine ausgesprochene ›Arbeitslosigkeit‹.9 Zudem begegnet man darin einer großen Zahl an jugendlichen ProtagonistInnen, die sich ›hauptberuflich‹ auf der Suche zu befinden scheinen. Diese mündet nicht in eine Ausbildung oder Anstellung, vielmehr sparen die Romane solche weiterführenden Schritte in ein tätiges Leben dezidiert aus. Erwachsene Figuren wie Eltern bzw. Elternteile wiederum sind größtenteils in bildungsbürgerlich-akademischen oder künstlerischen Bereichen tätig. Diese sozial privilegiert gezeichnete literarische Welt erweist sich als ein Phänomen, wie es Erhard Schütz für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur beschrieben hat.10

5 Gansel, Carsten: Von Versuchen, Kindheit und Jugend zu erinnern. In: Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. Geschichten vom Aufwachsen in Ost und West. Hrsg. von Carsten Gansel, Norman Ächtler Bettina Kümmerling-Meibauer. Berlin 2019, S. 87–117, hier: S. 102. 6 Ebd. 7 Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. In: Pop-Literatur. Text + Kritik. Sonderband X/03. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer. München: Ed. Text + Kritik 2003, S. 234–257, hier: S. 239f. 8 Gansel, Carsten/Ächtler, Norman/Kümmerling-Meibauer, Bettina: Erzählen über Kindheit und Jugend – Historische, soziale und kulturelle Faktoren und Kontexte im Spiegel der Gegenwartsliteratur. Einleitung. In: Dies., Erzählen über Kindheit und Jugend in der Gegenwartsliteratur. 2019, S. 9–26, hier: S. 13. 9 Vgl. Roeder, Caroline: »Meine Sehnsucht heißt Weltumschichtung.« Politische und ideologische Dimensionen von Kinder- und Jugendliteratur. In: Parole(n). Politische Dimensionen von Kinder- und Jugendmedien. Hrsg. von Caroline Roeder. Stuttgart: 2020, S. 29–48. (Studien zur Kinder- und Jugendliteratur und -medien; Bd. 2). 10 Schütz, Erhard: Literatur – Museum der Arbeit? In: Arbeit, Kultur, Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur. Hrsg. von Dagmar Kift und Hanneliese Palm: Essen: Klartext 2007, S. 13–32, hier: S. 18f. (Schriften des Fritz-Hüser-Instituts; Bd. 15).

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3.

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Von grauen und grünen Feldern

Entgegen diesen stilisierten und auf das Bildungsbürgertum milieufokussierten Zeichnungen der aktuellen Lebenswelt auf der Figuren- wie auf der Handlungsebene, liegt in der Kinder- und Jugendliteratur der 1960er bzw. -70er Jahre ein anderer Befund vor.11 So erfolgte im Zuge ihres Paradigmenwechsels eine grundlegende Wandlung im Handlungs- wie Symbolsystem Kinder- und Jugendliteratur. Die sich hieran anschließenden Veränderungen und Kennzeichen sind in der Kinder- und Jugendliteraturforschung bereits differenziert zur Darstellung gelangt, wobei der Fokus der Untersuchungen auf Problemorientierung, realistische Erzählverfahren und Bezüge auf außerliterarische Wirklichkeit gelegt wurde.12 Der Stellenwert der Arbeit scheint in literarischen Texten dieser Jahre oftmals in Themengebieten wie denen der Arbeitslosigkeit, Kinderarbeit (hier oftmals in historischer Perspektive) oder auf die sogenannte ›Dritte Welt‹ bezogen auf.13 Wenngleich in diesen Jahren das Thema Arbeit einen bedeutsamen Raum einnimmt – ablesbar wird dies beispielsweise ebenfalls an den praxisorientierten Textsammlungen zu Literatur und Arbeitswelt14 –, so findet man in der Forschung bisher kaum Untersuchungen. Gleichwohl erweist sich die Kinderund Jugendliteratur dieser Jahre als ein durchaus ergiebiges Feld, um dieser Frage unter neu gespannter Forschungsperspektive nachzugehen. Hierbei wird nach Repräsentationsformen15 von Arbeit gefragt und aktuelle soziologische

11 In Klaus Doderers »Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur« (1975) findet man sowohl Einträge zu ›Arbeit‹, ›Arbeiterbewegung‹ als auch zu ›Berufswelt‹. Vgl. Dierks, Margarete/ Künnemann, Horst: Arbeit. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 1: A–H. Hrsg. von Klaus Doderer. Weinheim u. a.: Beltz u. a. 1975, S. 51–54; Schneck, Peter: Die Arbeitswelt im Jugendbuch. In: Neue Formen der Kinder- und Jugendliteratur und ihre Aufnahme durch die Jugend. Hrsg. von Lucia Binder. Wien: Internationales Institut für Jugendliteratur und Leseforschung 1976, S. 125–138. 12 Vgl. exemplarisch Gansel, Carsten (unter Mitarbeit von Monika Hernik): Realistisches Erzählen. In: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Tobias Kurwinkel und Philipp Schmerheim. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2020, S. 105–115; Weinmann, Andrea: Die westdeutsche Kinder- und Jugendliteratur in den 1960er-Jahren. Ein innovationsgeschichtlicher Rückblick. In: kjl&m 66, 2014, H. 2, S. 3–14. 13 So z. B. in der als »wahre Geschichten« titulierten Erzählungensammlung von Ursula Wölfel, »Die grauen und die grünen Felder« (1970). 14 So z. B. Arbeitsmaterialien wie von Hildebrandt/Möhring (1973), die für die unterrichtliche Praxis bestimmt waren. Vgl. auch Ludwig, Martin H.: Arbeiterliteratur in Deutschland. Stuttgart: J. B. Metzler 1976. (Realien zur Literatur; Bd. 149). 15 Vgl. zum Begriff der ›Repräsentation‹ exemplarisch Ritter, Joachim: Repräsentation. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Volltext CD-ROM der Bände 1–13. Basel 2007, Bd. 8.

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Arbeitstheorien (so zum Beispiel der Begriff der »entgrenzten Arbeit«16) in kulturwissenschaftlicher Perspektive einbezogen.17 Exemplarisch soll im Folgenden der Kinderroman »Vorstadtkrokodile« (1976) von Max von der Grün vorgestellt werden, der zum einen literaturgeschichtlich kontextualisiert interessant erscheint und zum anderen auf Arbeitsrepräsentationen hin untersucht werden soll. Gefragt wird, welche Arbeitsrepräsentationen sich an dem Kinderroman ablesen lassen und wie diese aus gegenwärtiger (Arbeits-)Perspektive zu werten sind. In einem zweiten Schritt wird der Roman der Bielefelder Autorin Que DuLuus, »Im Jahr der Affen« (2016), Grüns Kinderroman gegenübergestellt, wobei der Fokus auf die Thematisierung von Arbeitsmigration gelegt wird. Ablesbar wird bei diesem Vergleich der beiden Romane, so die These, eine interessante Verschiebung hinsichtlich der Diskursivierung von Arbeit und Migration sowohl in der literarischen Repräsentation als auch hinsichtlich bundesrepublikanischen gesellschaftlichen Entwicklungen.

4.

»Wie war das eigentlich?«

Max von der Grüns Kinderroman »Vorstadtkrokodile« erschien 1976 und damit zu einem Zeitpunkt, als der Autor einen ersten Höhepunkt in seiner literarischen Karriere erreicht hatte. Von der Grün begann Anfang der 1960er Jahre zu publizieren und avancierte in kürzester Zeit zum Erfolgsautor.18 Die Turbulenzen und Kontroversen, die bereits die Vorabveröffentlichung seines Romans »Irrlicht und Feuer« (1963) begleiteten, machten Autor und Werk in Kürze über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus bekannt.19 Die Diffamierung seiner Person und schließlich die Entlassung von seinem Arbeitsplatz führte dazu, dass sich von der Grün ganz dem Schreiben zuwenden musste, aber auch konnte. Früh waren die Werke von Max von der Grün auch medial präsent und wurden für Hörfunk, aber vor allem für das Fernsehen adaptiert. Renommierte Regisseure setzten von der Grüns Werke in West- wie in Ostdeutschland filmisch um.20 Der Stellenwert 16 Vgl. Voß, G. Günter: Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation. In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31, 1998, H. 3, S. 473–487. 17 Einen ersten Schritt unternimmt das aktuelle Forschungsvorhaben »Das ganze Leben! Repräsentationsformen von Arbeit in Kinder und Jugend erzählenden Texten«, das seit 2019 an der PH Ludwigsburg durchgeführt wird. 18 Vgl. Ludwig, Arbeiterliteratur in Deutschland. 1976, S. 69. 19 Schonauer, Franz: Max von der Grün. In: Max von der Grün. Auskunft für Leser. (Materialien). Hrsg. von Stephan Reinhardt. Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1986, S. 41–63, hier: S. 55. 20 Der Roman »Irrlicht und Feuer« wurde in der Regie von Heinz Thiel und Horst E. Brandt von der DEFA verfilmt und 1966 in der DDR ausgestrahlt, in der ARD am 17./18. 06. 1968 (vgl.

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seines Werkes wird auch daran ablesbar, dass von der Grün in den 1970er Jahren bereits längere Lesereisen ins europäische Ausland unternahm. 1975 erschien in der »Edition Text und Kritik« ein Band zu dem Autor, eine Publikation und Auszeichnung, die ihn in den Kanon deutscher AutorInnen ›einstellt‹.21 Wesentlich ist auch sein Engagement und Wirken im Kontext der »Gruppe 61«.22 Bei Martin H. Ludwig ist in seiner Monographie »Arbeiterliteratur« zu lesen: »Von der Grün wird für die breite Öffentlichkeit außerhalb des Ruhrgebiets zum Identifikator der Gruppe 61. Seine Darstellungen zur Arbeitswelt, die an Informationsgehalt und Eindringlichkeit kaum sonst erreicht werden, haben als einzige aus den Veröffentlichungen der Kerngruppe Massenauflagen.«23

Zwar lehnte von der Grün für sich entschieden die Bezeichnung ab, ein »Arbeiterdichter« zu sein,24 letztendlich steht er mit seiner Person und seinen literarischen Werken und Wirken aber für einen Arbeits-Autor schlechthin.25 Sein Credo lautete: »Wenn ich schreibe, arbeite ich.«26 Zu Kontroversen kam es im Zusammenhang mit der Gründung des »Werkkreis Literatur«27, unter anderem bedingt durch von der Grüns Aussagen zum ›schreibenden Arbeiter‹.28 Günter

21 22 23 24 25

26

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ebd., S. 20); auch der Roman »Zwei Briefe an Poschpischiel« (1968) wurde von der DEFA umgesetzt (Ausstrahlung 1970; von der ARD verfilmt 1971). Vgl. Scholz, Rüdiger: Max von der Grün. Politischer Schriftsteller und Humanist. Mit einer Würdigung von Werner Bräunigs »Rummelplatz«. Anhang: Dokumente und Interviews. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 539. Wolfgang Petersen schließlich verfilmte von der Grüns Roman »Stellenweise Glatteis« (1975) mit Günter Lamprecht in der Hauptrolle. Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Max von der Grün. In: Text + Kritik, 1975, H. 45. Arnold, Heinz Ludwig: Die Gruppe 61. Versuch einer Präsentation. In: Gruppe 61. Arbeiterliteratur – Literatur der Arbeitswelt? Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart: Ed. Text + Kritik 1971, S. 11–38. Ludwig, Arbeiterliteratur in Deutschland. 1976, S. 69. Arnold, Heinz Ludwig: Gespräch mit Max von der Grün. In: Schonauer, Franz: Max von der Grün. München: Beck 1978, S. 134–153. (Autorenbücher; Bd. 13). Zur Programmatik der Gruppe siehe das »Vorwort« von Fritz Hüser im »Almanach der Gruppe 61«: »Die Autoren der Gruppe 61 schreiben nicht als Arbeiter für Arbeiter, sie wollen einen Beitrag leisten zur literarischen Gestaltung aller drängender Fragen und Erscheinungen unserer von Technik und Wohlstand beherrschten Gegenwart. Nicht der Beruf und die soziale Stellung des Schreibenden ist entscheidend – wichtig allein ist nur das Thema und die Kraft, es künstlerisch darzustellen« (Hüser, Fritz: Vorwort. In: Almanach der Gruppe 61. Hrsg. von Fritz Hüser und Max von der Grün. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1966, S. 26, hier zit. nach Ludwig, Arbeiterliteratur in Deutschland. 1976, S. 68. Die Antwort gab von der Grün auf die Frage: »Ich darf Sie einmal, einen alten Begriff anwendend, ein bißchen provozierend fragen: sind sie ein schreibender Arbeiter oder arbeitender Schreiber?« (Beth, Hanno: Interview mit Max von der Grün und Günter Wallraff aufgenommen in Berlin am 12. 12. 1970. In: Arnold, Gruppe 61. 1971, S. 157–167, hier: S. 164). Vgl. Scholz, Max von der Grün. 2015, S. 84ff. »Arbeiterliteratur – das ist doch Quatsch mit Soße […] der schreibende Arbeiter – das ist Fiktion. Arbeiter, die schreiben, werden immer eine Ausnahme bleiben« (zit. nach Schonauer, Max von der Grün. 1978, S. 55, aus einem ZDF-Interview von 1970 mit dem Autor).

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Wallraff, weiteres prominentes Mitglied der »Gruppe 61«, fasste von der Grüns Engagement und die Strahlkraft der »Gruppe 61« wie folgt zusammen: »Ich glaube, daß die Gruppe 61 es geschafft hat, den bis dahin ausgeklammerten und tabuisierten Bereich Arbeit, den Industriebereich eben, dem die meisten der Bevölkerung ausgesetzt sind, durch ihre Themenstellung in das Bewußtsein der Öffentlichkeit hineinzukatapultieren.«29

Die Bedeutung, die Arbeit im Diskurs einer breiten Öffentlichkeit der bundesrepublikanischen Gesellschaft dieser Jahre einnahm, ist aus heutiger Sicht kaum mehr ermessbar. Stellvertretend kann die Omnipräsenz und Akzeptanz des Themas exemplarisch mit seiner medialen Präsenz verdeutlicht werden. So lief mit großem Erfolg und hohen Einschaltquoten im Westdeutschen Rundfunk in den Jahren 1972 und 1973 die fünfteilige Fernsehserie »Acht Stunden sind kein Tag« in der Regie von Rainer Werner Faßbinder.

5.

»Eine Geschichte vom Aufpassen«

Mit »Vorstadtkrokodile« veröffentlichte Max von der Grün sein erstes Kinderbuch,30 das eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte erfuhr. Die Erstausgabe erschien im Verlag C. Bertelsmann; Cover, Innenillustrationen und Layout wurden von dem bekannten Graphiker Heinz Edelmann besorgt und geben dem Text eine poppige und innovative Note. Der Roman erfuhr früh Auszeichnungen, so unter anderem mit der Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch 1977. Im selben Jahr erschien bereits eine Lizenzausgabe für den Kinderbuch Verlag (DDR) sowie eine Übersetzung ins Schwedische, zahlreiche Übersetzungen schlossen sich in den folgenden Jahren an.31 Ungewöhnlich ist, dass es bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des Kinderromans zu einer Verfilmung im Fernsehen kommt. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass schon einige Adaptionen und Arbeiten des Autors für das Fernsehen zu diesem Zeitpunkt vorlagen. 1978 erscheint ein Hörspiel von Udo W. Wolff und Max von der Grün, das auf Langspielplatte vertrieben wurde, außerdem eine Taschenbuchausgabe bei Rowohlt, die schnell hohe Auflagen29 Beth, Hanno: Interview mit Max von der Grün und Günter Wallraff. In: Arnold, Gruppe 61. 1971, S. 157–168, hier: S. 157. 30 Es folgte der Band »Wie war das eigentlich? Kindheit und Jugend im Dritten Reich« (1979), der sich an ein jugendliches Publikum wendet und neben autobiographischen Passagen dokumentarisch mit historischen und politischen Dokumenten unterfüttert wird. 1983 folgt die die Erzählungensammlung »Friedrich und Friederike«. 31 Der Bibliothekskatalog der Deutschen Bibliothek Frankfurt/Main führt folgende Sprachen auf: Schwedisch, Niederländisch, Dänisch, Finnisch, Spanisch, Katalanisch, Italienisch, Koreanisch und Thailändisch.

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Abb. 1: Cover der Auflage von 1979 von Heinz Edelmann im Bertelsmann Verlag.

zahlen erzielte und noch zu Lebzeiten von der Grüns die Millionengrenze erreichte.32 Der Verfilmung des Romans 2009 als Kinofilm schlossen sich zwei weitere Fortsetzungen an.33 Der Medienverbund erweist sich als umfänglich, insbesondere zu nennen sind auch zahlreiche bearbeitete Textfassungen und Materialienhefte für den schulischen Unterricht.34 Obwohl der Roman ein Millionenpublikum erreichte, ist die Forschung hierzu erstaunlich schmal und auch in der Max von der Grün-Forschung nur als marginal zu bezeichnen.35 In der 32 Scholz, Max von der Grün. 2015, S. 221. 33 Vgl. Gast, Wolfgang: Neue Genre- und Formatentwicklungen in filmischen Adaptionen der KJL: Die Vorstadtkrokodile 1976–2010. In: Zwischen didaktischen Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg 2011, S. 236–262. 34 Die didaktischen Handreichungen, Arbeitshefte, Lesetagebücher und vereinfachten Textfassungen werden an dieser Stelle nicht im Einzelnen aufgeführt. 35 Scholz nennt zwar »Vorstadtkrokodile« als den Titel, der in der erfolgreichen Publikationsgeschichte an zweiter Stelle steht, widmet ihm allerdings in dem über 500 Seiten starken Werk nur zwei Seiten (vgl. Scholz, Max von der Grün. 2015, S. 221–223).

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zehnbändigen Werkausgabe im Pendragon-Verlag (seit 2011 komplett vorliegend) sind die kinder- und jugendliterarischen Arbeiten nicht aufgenommen.36

Der Mann mit dem schwarzen Hut ist ein Bruder der Krokodiler In dem Kinderroman sind intertextuelle Bezüge zu Erich Kästners Kinderbuchklassiker »Emil und die Detektive« (1929) deutlich ablesbar. Nicht nur die vorstädtische Kinderbande, sondern auch die zentral gesetzte kriminalistische Aufgabe, die die Ruhrpott-Detektive mit Bravour und nahezu ohne Hilfe von Erwachsenen lösen, weisen auf den Prätext hin. Ebenso scheint in der Geschichte ein an Kästner erinnernder moralischer Impetus auf, hier vielleicht besser bestimmt als (gesellschafts)politischer Impetus. Stefan Elit tituliert von der Grüns literarisches Werk als »Werkästhetik realistischer Couleur mit sozialkritischem Impetus«37; die kinder- und jugendliterarischen Texte werden hierbei nicht einbezogen, können aber darunter subsumiert werden. Auch diese Verortung verweist auf das literarische Vorbild Kästner. Ohne die vielfältigen Bezugnahmen zum Prätext hier weiter ausführen zu können, dürften diese wesentlich mit zum außerordentlichen Erfolg des Titels beigetragen haben.38 Der Untertitel des Romans »Eine Geschichte vom Aufpassen« lässt sich vielseitig deuten. Zum einen betrifft es das Thema der Inklusion. In den 1970er Jahren war es noch wenig ausgeleuchtet, allerdings hatte Peter Härtlings Kinderroman »Das war der Hirbel« (1973) bereits einen Akzent gesetzt. Von der Grüns Geschichte erschien nur einige Jahre später; seine Motivation für den Stoff wird in dem Vorwort deutlich, wenn er auf seinen Sohn Frank verweist und dessen körperliche Einschränkung. Explizit wird diese Fragestellung dann im ganzen Roman verfolgt.39 Zum anderen wird im Roman der Umgang bzw. die Vorur-

36 Vgl. Elit, Stefan: Max von der Grüns sozialkritische realistische Werkästhetik und die erste ›Paderborner Gast-Dozentur für Schriftsteller‹. In: Poetologisch-poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben. Hrsg. von Alo Allkemper, Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Würzburg 2012, S. 27–42, hier: S. 28. 37 Ebd., S. 29. 38 Die intertextuellen Bezüge reichen bis zur Textillustration: So sind von der Grüns Roman in der Erstauflage 1976, vergleichbar mit Kästners »Emil«-Vorspann-Illustrationen von Walter Trier, fünf bebilderte Doppelseiten (Illustration Heinz Edelmann) vorangestellt, die die Protagonist/innen der Krokodilerbande einem Storyboard gleich den Leser/innen vorstellen. 39 Frank ist nicht nur der Roman gewidmet, von der Grün wendet sich auch in einem Vorwort an die junge Leserschaft: »Weil ich selbst einen zehnjährigen Jungen habe, der im Rollstuhl gefahren werden muss, habe ich diese Geschichte von den Krokodilern geschrieben. Auch mein Sohn muß oft warten, bis Nachbarjungen kommen und ihn abholen, zum Fußballplatz mitnehmen oder zum Minigolfplatz. Es ist schwer für einen Jungen, nicht einfach mit anderen Jungen weglaufen zu können, immer warten zu müssen, bis einer hilft« (Von der Grün, Max:

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teilsbeladenheit gegenüber GastarbeiterInnen kritisch hinterfragt. So gerät diese gesellschaftliche Gruppe unter Verdacht, hinter einer mysteriösen Einbruchsserie zu stecken; im Kontext der Thematisierung der GastarbeiterInnenproblematik werden massive Vorurteile benannt. Wichtig erscheint die Rolle der Vorstadtkrokodile in diesem Zusammenhang. Denn sie deckt mit ihren Ermittlungen schlussendlich nicht nur einen Fall auf, sondern kann die Fehlbeschuldigten – der Verdacht war am Ende auf die Gastarbeiterkinder gefallen – schließlich rehabilitieren. Die hier bereits skizzierte Bezugnahme auf diesen Aspekt von ›Gast-Arbeit‹ bedeutet indes nur ein Teilgebiet, das im Kinderroman aufzufinden ist. Nähert man sich mit kulturwissenschaftlicher Perspektive dem Text, so zeigt sich, dass der Roman ein ganzes Prisma an Repräsentationen von Arbeit aufweist.40 (Vgl. Ritter 2007) Das ist angesichts des dargelegten Autorenprofils von Max von der Grün zwar kein überraschendes Ergebnis, aber dennoch eines, das bisher wenig Beachtung fand. Im Folgenden werden einige Aspekte hierzu aufgeführt.

6.

Topographie der Arbeit

Verschiedene topographische Aspekte weisen auf Arbeitsrepräsentationen hin und eröffnen ergiebige Interpretationsfelder. So repräsentiert der Handlungsort Ruhrgebiet, der zentrale Schauplatz des Romans, in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit dieser Jahre einen Ort, der für die industrielle bzw. Bergwerk-Arbeitswelt steht. Konkretisiert wird der Schauplatz durch die Papageiensiedlung, in der die Kinderbande lebt. Sie ist unweit der Stadt Dortmund gelegen und wird vorstädtisch gezeichnet. Der Buchtitel »Vorstadtkrokodile« mag daran angelehnt sein und lässt sich ebenfalls als Intertext zu Kästners Großstadt-Kinderkriminalroman verstehen. Die Kindheitslandschaft, die hier gezeichnet ist, wird industriell bestimmt. So spielen die Kinder zum Beispiel in einem alten Fabrikgebäude oder es kommt die Rede auf die allgegenwärtige Luftverschmutzung durch die umliegenden Fabriken (Vk, 32). Die Stadt Dortmund liegt etwas entfernt; hier befindet sich ein unsaniertes Stadtteilviertel, in der die sog. GastarbeiterInnen leben. »Die Gastarbeiter wohnten in einem Altbauviertel hinter der Kleinen Schweiz, das einen heruntergekommenen Eindruck machte, weil die Hausbesitzer nicht mehr an den Häusern reparierten. Die Häuser sollten in einigen Jahren abgerissen werden, um Platz

Vorstadtkrokodile. Eine Geschichte vom Aufpassen. München: C. Bertelsmann 1979 [im Folgenden unter der Sigle »Vk« mit Seitenzahl im Text]). 40 Ritter, Repräsentation. 2007, Bd. 8.

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für neue Hochhäuser zu machen. An vielen Häusern war der Putz schon längst abgefallen, und zerbrochene Fensterscheiben waren durch Pappe ersetzt« (Vk, 32).

Weitere topographische Bezugspunkte findet man an dem Ort, der den Schauplatz für spannende Szenen in der Kriminalhandlung liefert: die alte Ziegelei. Dieser Ort dient bereits in der Eingangspassage als wirkungsvolle Kulisse, in der das Aufnahmeritual in die Kinderbande der Krokodiler ›traditionsgemäß‹ stattfindet. In dieser ersten Szene muss der erst 10-jährige Hannes eine Mutprobe bestehen. Hierfür besteigt er das Dach der ehemaligen Anlage, was ihm auch gelingt, allerdings droht er beim Abstieg wegen der Baufälligkeit des Gebäudes fast abzustürzen und kann nur durch einen Feuerwehreinsatz gerettet werden. Die alte Ziegelei bedeutet für die Kinder ein verbotenes Terrain und ist damit prädestiniert als Schauplatz für Abenteuer und kindliches Spiel. Kritische Töne werden hier hörbar, wenn zu lesen ist, dass die Kinder keinen anderen Ort zum Spielen haben: »Schon vor Jahren hätten die Gebäude abgerissen werden sollen, es hieß, auf dem Gelände werde ein Supermarkt errichtet, aber bislang war noch nichts passiert. Daß die Krokodiler da spielten, lag einfach daran, daß sie nirgendwo einen geeigneten Spielplatz fanden. In den Vor- und Hintergärten der Siedlung war es verboten, und auf der Straße zu spielen war noch gefährlicher.« (Vk, 15)

Der Ort und seine Arbeitsräume werden detailliert beschrieben. In der alten Trockenhalle errichtet die Kinderbande ein neues Quartier, nachdem ihre Hütte im Wald von Unbekannten zerstört wurde (Vk, 45). Und schließlich entdecken die Kinder an diesem Ort das Lager der Diebesbande. Schließlich dient insbesondere am Ende des Romans die Ziegelei als stimmig gewählter Schauplatz für den spannenden Showdown mit den Einbrechern und deren Festsetzung. Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Schauplatz der kriminalistischen Handlung als effektvoller ›Tatort‹ dient und zugleich einen Ort der Arbeitswelt repräsentiert, wenn auch der Produktionsprozess, der hier stattfand, überholt erscheint. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang aber auch, dass sowohl dieser Spielplatz der Kinder ebenso wie das Viertel, in dem die GastarbeiterInnen leben, abgerissen werden sollen. Beide Gruppen haben offenbar keinen Platz in der Gesellschaft. Kinderbuchgemäß endet der Roman jedoch mit einem Happy End, bei dem zumindest die Kinder – nach der Sprengung der alten Ziegelei und nach erfolgreicher Aufklärung des Kriminalfalls – mit Erlaubnis des Försters sich eine neue Hütte im Wald aufbauen dürfen.

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Arbeitswelt und familiärer Alltag Die Bedeutung, die Arbeit in von der Grüns Kinderroman trägt, wird auch in den alltäglichen Szenen des Familienlebens ablesbar. Gespräche über Arbeitsverhältnisse oder Lohn, über Geldsorgen oder arbeitsbedingte Erkrankungen werden ganz selbstverständlich eingefügt. So diskutieren die Eltern von Hannes darüber, wieviel Geld die Familie nach der langen Erkrankung der Mutter zur Verfügung hat. Der Vater erklärt: »›[…] mehr als tausendzweihundert Mark werde ich für die nächste Zeit nicht verdienen. Überstunden sind nicht drin, es ist zur Zeit ziemlich mies im Betrieb, haben genug Schleifer …‹ ›Aber du wirst doch nicht …‹, rief sie [die Mutter – C.R.] erschrocken. ›Nein, ich werde nicht entlassen, wo denkst du hin, ich wollte nur sagen, es sind saure Zeiten zur Zeit.‹« (Vk, 21)

Auch die Kinder beziehen Fragen, wie die des Broterwerbs und wieviel Geld für die Familie zur Verfügung steht, in ihre Gespräche ein (vgl. Vk, 29). Ungewöhnlich erscheint aus heutiger Sicht, dass nahezu alle Eltern mit ihren Berufen bezeichnet werden: So ist Kurts Vater Fahrer bei der Müllabfuhr (Vk, 28) und Hannes Vater arbeitet als Schleifer in einer Fabrik, und auch seine Mutter ist berufstätig.41 Das Thema der finanziellen Belastung durch die ›Kosten‹, die für ein behindertes Kind anfallen, werden ebenfalls im Kontext der facettenreich dargestellten Arbeitsproblematik angesprochen. So kann sich die Familie von Kurt keinen Urlaub leisten (Vk, 67) bzw. kein behindertengerechtes Fahrrad für den Jungen anschaffen (Vk, 81). Die Aufteilung der Belohnung der Kinder, die diese am Ende für die Ergreifung der Diebesbande erhalten, soll schließlich Kurts Eltern zuteilwerden und mündet somit in einer sozialen und solidarischen Lösung.42 Schließlich steht das Thema der GastarbeiterInnen im Mittelpunkt des Romans. Dabei werden zwar keine Gründe aufgeführt, warum diese Menschen nach Deutschland gekommen sind, vielmehr fokussiert die Romanhandlung auf die Vorurteile gegenüber dieser Gruppe, die zu Vorverurteilungen und falschen Verdächtigungen führen.

41 Ebd., die Arbeit der Eltern von Frank wird ebenfalls benannt. Sein Vater arbeitet als Vorarbeiter ebenfalls in einer Fabrik (Vk, 34). In der späteren Handlung erfolgt ein Hinweis, dass mehrere Väter der Kurzarbeit nachgehen bzw. wie Theos und Willis Väter seit Wochen arbeitslos sind (Vk, 67). 42 Auch hier lässt sich eine Parallele zu Kästners »Emil« ziehen. Dort wird das Geld den Tischbeins übergeben, damit die Mutter von Emil eine Trockenhaube für ihre Arbeit anschaffen kann.

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Kindheit und Arbeit Deutlich wird in von der Grüns Roman, dass das Thema Arbeit keinesfalls nur an die Welt der Erwachsenen gebunden ist. Wie gezeigt, werden in verschiedenen Familienszenen Fragen wie Arbeit und drohende Arbeitslosigkeit oder Geldknappheit thematisiert. Die kindlichen ProtagonistInnen sind von diesen Fragen unmittelbar betroffen. Dieses Verwobensein der Problemlagen der Erwachsenenwelt mit der der Kinder ist ein Kennzeichen der Kinder- und Jugendliteratur der 1970er-Jahre und ihres vielbeschworenen »Daseinsernsts« (Hans-Heino Ewers). Ein besonderes Charakteristikum von »Vorstadtkrokodile« ist jedoch, dass er die Sprache der Arbeitswelt auch in die stimmig gefassten Dialoge seiner jungen ProtagonistInnen einfließen lässt.43 Diese leben zwar auch in diesem Roman in einer Kinderwelt und erfahren hier im Spiel und mit Spannung Abenteuer, die gesellschaftliche Rahmung erscheint aber bei von der Grün nicht nur in einer Rahmenhandlung, sondern ist mit diesen Handlungsabläufen verzahnt. So erhärtet sich der Verdacht, dass der (arbeitslose) Bruder des Bandenmitglieds Karl ein Verbrecher ist. Die Krokodiler geraten dadurch in eine moralische Zwickmühle. Erst als unrechtmäßig die Gastarbeiterkinder des Diebstahls überführt werden, geben sie ihre solidarische Haltung auf und stehen diesen bei.

Arbeit und Migration Aus heutiger Perspektive, d. h. gut 50 Jahre nach Erscheinen des Romans, hätte man erwartet, dass das Thema ›Gastarbeiter‹ eine differenziertere Darstellung erfährt. So fehlen beispielsweise Erläuterungen vollständig, warum Arbeitskräfte aus der Türkei und Italien nach Deutschland und ins Ruhrgebiet gekommen sind. Eine differenzierte Sicht auf den kulturellen Hintergrund, auf Fragen der Identität und Herkunft der GastarbeiterInnen bleiben aus – vielleicht ist der Grund darin zu sehen, dass es zur damaligen Zeit genügend Informationen und keinen weiteren Erklärungsbedarf gab. 43 In einem Interview mit Egon Clute-Simon äußert sich von der Grün zum kinderliterarischen Schreiben wie folgt: »[…] die Vorstadtkrokodile habe ich in vier Wochen geschrieben und saß an der Korrektur dann fast noch elf Monate. Das war einfach ein Wurf, der war runter. Da ging es eigentlich nur noch darum, das Intellektuelle abzustreifen, weil man sich sagt, das sollen Kinder von 10 Jahren lesen können. Da gilt dann wirklich der Satz, den die Astrid Lindgren mal geschrieben hat: Wenn man spezifisch Kinder als Zielgruppe nimmt, muß man eines tun: Man muss dialogisch arbeiten. Wenig beschreiben, das ganze Problem in Dialogen herausarbeiten. Sie hat Recht. Kinder lieben direkte Rede, das merkt man immer wieder, wird mir jeder bestätigen« (Clute-Simon, Egon: »Fisch, ich liebe dich, aber ich muss dich töten.« Gespräch mit Max von der Grün. In: Scholz, Max von der Grün. 2015, S. 470–517, hier: S. 489).

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Max von der Grüns Engagement im Kontext der Integration dieser gesellschaftlichen Gruppe in den 1960er und -70er Jahren ist vielfach belegt.44 Dennoch ist der Roman erkennbar ein Kind seiner Zeit. So findet man einige stereotype Figurenzeichnungen und Bezeichnungen, die jenseits der Debatte um Political Correctness einer Kommentierung bedürften und zum Teil antiziganistische Muster aufweisen.45 Ablesbar wird dies zum Beispiel daran, dass die Gastarbeiterkinder zwar nicht die eigentlichen Diebe sind, allerdings das Diebesgut stibizen, als sie auf das Lager stoßen. Hingegen bricht der Roman eine Lanze für diese gesellschaftliche Gruppe, wenn er aufzeigt, dass die Vorurteile unbegründet sind und aus Angst vor Alterität geschürt werden. Abschließend lässt sich festhalten, dass für heutige junge Generationen von der Grüns Kinderroman eine spannende Lektüre darstellt, sei es hinsichtlich seiner unterhaltsamen und dialogstarken Gestaltung, sei es im intertextuellen Vergleich, in jedem Fall aber in seiner sozialen Ausrichtung und Fokussierung auf Arbeit und Arbeitswelt. Insbesondere aus gegenwärtiger Perspektive, stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Repräsentation von Arbeit in Literatur hat. Auf Klaus Doderers »Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur« von 1975 wurde bereits hingewiesen. Unter dem Eintrag »Arbeit« wird diese mit einer Unterzeile genauer bestimmt: »Zur Umwelt des Kindes gehört die A. als Leben und ›Lebensstandard‹ erhaltende, für- und vorsorgende Werte (und Besitz) schaffende Tätigkeit«46. Diese lexikalisch gefasste Bestimmung weist darauf hin, wie bedeutsam Arbeit für das ganze Leben in den 1970er Jahren gesehen wurde, und deutlich wird auch, dass aus gegenwärtiger Perspektive eine derartige Formulierung manchem als antiquiert erscheinen mag. Doch vergleicht man diesen Befund mit der heute diagnostizierten ›Arbeitslosigkeit‹ in Kindheit und Jugend erzählenden Texten bzw. in Kinder- und Jugendliteratur, wird eine Differenz sichtbar, die auf einen regelrechten ›Bedeutungsverlust‹ von Arbeit hinweist, den diese in ihrer Diskursivierung gesamtgesellschaftlich in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Obwohl im 21. Jahrhundert ein Großteil der Menschen sich weiterhin durch Arbeit und Arbeitskraft sein Leben finanziert, das Zusammenleben organisiert und sich selbst zu definiert, findet eben diese Tätigkeit, die einen Großteil der Lebenszeit bestimmt, kaum eine angemessene textliche Repräsentation. Der Blick mit dem Fokus auf Arbeit und Repräsentationen von Arbeit in Texten wie beispielsweise Max von der Grüns Kinderroman erlaubt insofern, sich eines Themas anzu44 So stellt von der Grün z. B. einen Band mit Porträts von GastarbeiterInnen zusammen: »Leben im gelobten Land. Gastarbeiterporträts« (1975). 45 So bezeichnet einer der Jungen die italienischen Gastarbeiterkinder als »Makkaronifresser« (Vk, 89); außerdem finden sich antiziganistische Motive, wenn diese Kinder am Ende das Diebesgut plündern und davontragen (ebd.): »›Das ist doch zu komisch‹, sagte Kurt auf einmal, ›die Italiener klauen sich etwas, was schon von anderen gestohlen wurde‹« (Vk, 90). 46 Dierks/Künnemann, Arbeit. 1975, S. 51.

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nehmen, das an Aktualität nichts eingebüßt hat und man, ohne dabei in ideologiekritische Positionen zu verfallen, einer Re-Lektüre unterziehen kann.

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Imbisswelt als Inselleben »Ich bog in den kleinen Weg ein, spazierte am Wall entlang und kurz darauf sah ich schon die Tische auf der schmalen Terrasse. Es waren schöne Plätze direkt über der Aa (als langes ›Ah!‹ gesprochen), dem kleinen Fluss, der durch Herford floss. Das Restaurant sah von außen immer dunkel aus. Erst wenn man eintrat, wirkte es hier normal und die sonnige Welt vor der Scheibe schien hell. Sofort roch ich das chinesische Essen. Der Geruch hatte sich über die Jahre so festgesetzt, dass er unsichtbar zum Raum dazugehörte. Rote Lampen hingen überall von der Decke und die Stühle waren rot bezogen. Rot war die Glücksfarbe der Chinesen.«47

Auch in dem Jugendroman »Im Jahr des Affen« (2016) der Autorin Que Du Luu betritt die Protagonistin in der Eingangspasssage des Textes einen Raum, der zum einen in ihre Kindheit zurück- und der zugleich am Ende aus dieser Lebensphase hinausführen wird. Der Ort ist ein ungewohnter kinderliterarischer Schauplatz, ein chinesischer Imbiss, der sich als »Inbetween« (Homi K. Bhabha) zwischen dem (bundesrepublikanisch)-deutschsprachigen und dem chinesischen Kulturkreis entspannt. Im Mittelpunkt der Handlung steht die 16-jährige Protagonistin Mimi, die mit ihrem Vater allein in einer heruntergekommenen Hochhauswohnung in Herford lebt. Das Mädchen besucht ein Gymnasium und hat deutsche Freundinnen. Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihres asiatischen Aussehens kennt sie dennoch zur Genüge. Die Erfahrungen des Andersseins werden im Roman allerdings nur beiläufig benannt und stehen nicht wie so häufig in der Jugendliteratur ›problemorientiert‹ ausgerichtet im Scheinwerferlicht des Geschehens. Auch wenn der Roman mit einer Lovestory anfängt, erfährt der Plot bald eine jähe Wendung, als Mimis Vater, der einen China-Imbiss betreibt, mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wird. Das Mädchen muss ab sofort im Betrieb einspringen; von nun an verändert sich das Leben der Heranwachsenden fast vollständig und ist auf die Bewältigung der anfallenden Arbeitsanforderungen ausgerichtet. Du Luus Roman ist in verschiedener Hinsicht außergewöhnlich: Zum einen zeigt er in besonderer Weise generationelle Problemlagen auf, wie sie in vielen Migrationsromanen nachzulesen sind.48 Michaela Holdenried spricht im Zu47 Du Luu, Que: Im Jahr des Affen. Hamburg: Königskinder i. Carlsen 2016, S. 7. 48 Vergleichbar wäre der Jugendroman von Julya Rabinowitchs »Dazwischen: Ich« (2016), wobei die Protagonistin vor allem als Vermittlerin zwischen den erwachsenen Familienmitgliedern und dem neuen Ankunftsort fungiert.

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sammenhang ihrer Untersuchung des interkulturellen Familienromans von der »Literarisierungen von ›Bindestrich-Existenzen‹«49, wobei der Begriff »Bindestrich« auf die mehrfachen Kulturzugehörigkeiten und transnationalen AutorInnen im Allgemeinen verweist.50 In den von ihr untersuchten Texten über Flucht und Migration und Familien lässt sich neben der Vielzahl an Merkmalen vielfach eine Fokussierung auf kindliche und adoleszente Erzählfiguren festzustellen. Deren Perspektive erlaubt es, beispielsweise ein Mehrgenerationenmodell literarisch aufzublättern und mit dem scheinbar ›naiven‹ kindlichen bzw. jugendlichen Blick die komplexen Familiengeschichten bzw. -geheimnisse zu enthüllen.51 In »Im Jahr des Affen« entpuppt sich der China-Imbiss mehr und mehr als eine heterotop gestaltete Inselwelt, in der verschiedene Gestrandete zusammenfinden. Nahezu unbemerkt von der Umgebung scheint das Restaurant inmitten der bundesrepublikanischen Kleinstadt wie eine Gegenwelt zu existieren, in der das Mädchen mit seiner chinesisch-vietnamesischen Herkunft konfrontiert wird und eine besondere Topographie der Arbeit vorstellt.52 Viele Romane der letzten Jahre beschäftigen sich mit Flucht und Vertreibung, immer mehr ist zu beobachten, dass dabei AutorInnen sich zu Wort melden, die autobiographisch grundierte Geschichten erzählen.53 Insofern lässt sich eine Wende diagnostizieren, die von der sog. »Kopftuchmädchenliteratur« der 1960er Jahre bis zur Autofiktion reichen, die nun von eben dieser gesellschaftlichen Gruppierung verfasst wird, die als MigrantInnen in Deutschland leben. An Texten eben dieser Gruppe werden interessante Themenverschiebungen ablesbar. So steht bei Que Du Luu nicht das Ankommen in Deutschland im Zentrum, sondern vielmehr die Frage nach dem ›Woher‹ der Protagonistin. Bei dieser Suchbewegung, der der Roman folgt, kommt der Sprache eine tragende Rolle zu. 49 Holdenried, Michaela/Wilms, Weertje (Hrsg.): Die interkulturelle Familie. Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld: Transcript 2012, S. 14. 50 Vgl. Hausbacher, Eva: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenburg 2009. (Stauffenberg Discussion; Bd. 25). 51 Vgl. Himmelbach, Nicole/Schröer, Wolfgang: Die transnationale Kindheit. In: Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge. Hrsg. von Meike Sophia Baader, Florian Eßer und Wolfgang Schröer. Frankfurt/Main u. a.: Campus 2014, S. 492–509. 52 Roeder, Caroline: Bindestrich-Existenzen oder »Ich war der Vielen-nicht-ähnlich-Mensch«. In: 1000 und 1 Buch 2, 2017, S. 23–25. 53 Nicht nur in der sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung stehen transnationale Kindheiten, »die sich nicht im Container nationaler Grenzen konstituieren« (Himmelbach/ Schröer, Die transnationale Kindheit. 2014, S. 492), im Mittelpunkt des Interesses. Auch in der Kinder- und Jugendliteratur finden Texte über Flucht und Vertreibung, die autobiographisch gestimmt sind, mehr und mehr Eingang. Dabei zeigt sich, dass die Übergänge zur Allgemeinliteratur transparenter geworden sind, die Erzählformate eine weitere Grenzüberschreitung vollzogen haben und sich den Entwicklungen der Gegenwartsliteratur annähern.

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Sie wird literarästhetisch eindrucksvoll und in der Verschränkung von Originalsprachlichem und mit den Mitteln des Codeswitchings innovativ ausgeschöpft. Verdient diese Qualität des Romans ohne Zweifel besondere Beachtung, zeichnet ein weiteres Merkmal den Text in besonderer Weise aus: Der Stellenwert, der der Arbeit als bedeutsamem Narrativ eingeräumt wird. Wie in kaum einem anderen Text werden die Arbeitsbedingungen der zum Teil illegal angestellten Personen dargestellt und stehen die Arbeitsvorgänge mit ihren körperlich anstrengenden Facetten anschaulich im Mittelpunkt. Die bedingungslose Selbstaufgabe des Vaters wird der jugendlichen Protagonistin Mimi überdeutlich und zeigt, welchen Preis diese neue Existenz bedeutet. So erzählt Que Du Luu nicht marktkonform eine Geschichte ›vom Tellerwäscher zum Millionär‹, sondern zeigt (in teils komisierender Form) prekäre Verhältnisse des Alltags von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund.

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Resümee

Interessant erscheint ein Vergleich der Romane Max von der Grüns und Que Du Luus. Blickt man auf den aktuellen literarischen Mark und das kinder- und jugendliterarische Handlungssystem, so werden an den beiden Texten Diskurse und Meistererzählungen, gemessen an ihrer Erscheinenszeit, ablesbar. So wird bei von der Grün die Welt der Arbeit in seine Ruhrpott-Detektiv-Handlung integriert, und im Facettenreichtum seiner Erzählung wird der Stellenwert von Arbeit nicht auf die Arbeitslosigkeits-Problematik oder ideologiekritische Schwarz-Weiß-Kontrastierungen reduziert. Von der Grün schreibt engagierte Literatur, die die bundesrepublikanische Welt zu ›verbessern‹ sucht, indem sie die junge Leserschaft nicht nur unterhält, sondern eine Geschichte verfasst, die zu einer Haltung des »Aufpassens« sensibilisieren will. Du Luus Roman lässt sich der sog. ›Migrationsliteratur‹ und den Fluchtgeschichten der Kinder- und Jugendliteratur nach der Jahrtausendwende zuordnen. Doch während in einer Vielzahl der Texte dieses Problemclusters oft stereotyp Lebensgeschichten und -umstände inszeniert werden, die oftmals anschaulich für den Jugendbuchmarkt gestrickt sind, gelingt es der Autorin mit ihrem autobiographisch gestimmten Jugendroman eine Lebenswirklichkeit aufzuspannen, die sich als viel näher an der Welt der Leserschaft erweist, als sie sich dies zunächst vorstellt. Deutlich wird, dass die Themen Flucht und Vertreibung längst in Europa angekommen sind; und diese Geschichten findet man nicht mehr in der Ferne, weder in der Kinderliteratur noch im realen Leben, sondern in Deutschland und Europa selbst – z. B. im Asia-Imbiss um die Ecke. An der Arbeit, die hier verrichtet wird, wird deutlich, welche Tätigkeiten in Deutschland dieser Gruppe ›zusteht‹ und welcher Stellenwert dieser gesellschaftlichen Gruppe eingeräumt wird. Es zeigt sich, dass

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der Begriff ›Gastarbeiter‹ aus Gründen politischer Korrektheit nicht mehr im Sprachgebrauch ist, die Peripherisierung und Ausgrenzung, die Nicht-Teilhabe dieser gesellschaftlichen Gruppe bestehen allerdings weiter fort. Die Texte brechen hier das Schweigen, das in die Literatur eingezogen war. Mit dem Blick auf die Arbeits-Welt eröffnen sich neue Perspektiven auf die Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft und den Lebenswelten, die oftmals nur peripherisiert aufscheinen. Hier schließt sich Deniz Ohdes Kindheitspanorama an bzw. eröffnet eine weitere Facette für die Gegenwartsliteratur bzw. den Blick auf Gegenwärtiges. Deutlich wird an ihrem Roman, dass die Kinder der MigrantInnen zum einen Schattenexistenzen mit sich tragen, und zwar die Lebensgeschichten der Eltern. Zum anderen werden Verletzungen, Ängste und Ausgrenzungserfahrungen zur Sprache gebracht, die nun nicht mehr aus dem dramatischen Raum Flucht und Vertreibung resultieren, sondern aus der alltäglichen Welt. Die AutorInnen berichten eindrücklich von Traumata, und diese Traumata haben eine Herkunft, die in der Erfahrung des Daheimseins als Fremde liegt.

Paulina Cioroch

»Es war einmal ein Coronavirus …« – Zur heilenden Kraft der Märchen

»Kinder brauchen Märchen«, stellte der amerikanische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim in seinem 1976 erschienenen Buch fest. Dazu liegen viele Belege vor. Märchen fördern kindliche Entwicklung, Kreativität, Sozialkompetenz und Lernprozesse. Ihre positive Wirkung auf die kindlichen Zuhörer bzw. Leser beleuchtet der Hirnforscher Gerald Hüther wie folgt: »Durch das spannende Erzählen eines Märchens durch eine vertraute Person, werden die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert, neue Nervenverbindungen können so entstehen. Durch eine angenehme Atmosphäre können Kinder zur Ruhe kommen und sich konzentrieren, können Erregungsmuster aufgebaut und stabilisiert werden. Später, wenn die Kinder erwachsen sind, werden sie sich deshalb an die Märchen und ihre Aussage und die beschriebenen Werte wieder erinnern.«1

Mit bildhaften Zaubergeschichten wird die kindliche Phantasie aktiviert. In ihrer Vorstellung identifizieren sich die Kinder mit den Märchenfiguren und deren Schwarz-Weiß-Charakteren. Und so werden sie zu Helden, das heißt wunderschönen Prinzessinnen und tapferen Prinzen, aber auch zu deren Gegenspielern wie hässlichen Hexen oder boshaften Zwergen. Dabei tauchen sie in die gelesenen Geschichten ein und spielen ihre Handlung nach, frei von den Gesetzen der Wirklichkeit. Mit diesem inneren Schauspiel verarbeiten sie ihre eigenen Erlebnisse, Ängste, werden mutig und hoffnungsvoll. Dementsprechend meint Bettelheim, dass man die Märchen als »Erkenntnis des Lebens von innen her«2 betrachten soll, weil sie den Kindern helfen, die Schwierigkeiten zu bewältigen und mit den Problemen umzugehen. Die Projektionen verweisen also auf das große Potenzial der Märchen in der psychotherapeutischen und pädagogischen Arbeit mit Kindern. Es geht hier vor allem um die heilende Kraft der literarischen 1 Hüther, Gerald: Weshalb Kinder Märchen brauchen. Neurobiologische Argumente für den Erhalt der Märchenerzählkultur. Für den Kongressband »Märchenkongress in Bad Karlshafen«, Herbst 2005. Zitiert nach Weshalb_Kinder_Maerchen_brauchen_Gerald_Huether_2005.pdf (maerchenquelle.ch) (letzter Zugriff: 20. 02. 2021). 2 Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München: dtv 2006, S. 31.

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Texte. Die Märchentherapie wurde in den 1970er Jahren unter dem Einfluss der Forschungen von Bettelheim entwickelt. Märchen, die zum therapeutischen Werkzeug verwendet werden, weichen allerdings in gewissem Maße vom Genremuster ab und werden wie folgt definiert: »[U]ngewöhnliche Geschichten, die bewusst so konstruiert und geschrieben sind, dass Kinder in ihnen ein Stück von sich selbst, ihren Gefühlen, Emotionen, spezifischen Problemen, die sie haben, wiederfinden. Junge und jüngste Leser können sich mit dem Protagonisten identifizieren und die Geschichte mit ihm erleben, indem sie sich an einem sicheren Ort aufhalten, oft in den Armen von Mama oder Papa.«3

Solche Texte sind meistens personalisiert und der Protagonist häufig ein Kind, das sich mit einer schwierigen Situation oder negativen Emotionen auseinandersetzen muss. Das Problem wird benannt und konkretisiert. Der kindliche Leser identifiziert sich mit ihm und lernt, wie er damit umgehen kann. Das Kind merkt, dass es kein Einzelfall ist und auch andere Gleichaltrige ähnliche Erfahrungen machen können. Die Geschichte spielt in der realen Welt, in vertrauter Umgebung wie Zuhause oder im Kindergarten oder in einer Phantasiewelt. Im therapeutischen Kontext wird bei dieser Art von Texten die Methode der Desensibilisierung angewendet, die darin besteht, angstauslösende Reize mit positiven Reaktionen zu kombinieren. Kinder lernen dabei, mit einer schwierigen Situation umzugehen und ändern ihre bisherigen Einstellungen. Es ist zu betonen, dass therapeutische Märchen keine Moral enthalten und immer positiv enden. Der Protagonist überwindet seine Ängste und ändert die Art und Weise, wie er über die Situation, die er erlebt, denkt. Durch die Märchentherapie lernt das Kind, die erlebten Emotionen zu benennen und gleichzeitig die angestaute emotionale Spannung zu bekämpfen. Therapeutische Märchen thematisieren solche Probleme und Situationen wie Angst vor dem Verlassenwerden, vor dem Aufenthalt an einem neuen, unbekannten Ort, vor dem Arztbesuch, vor der Dunkelheit, vor Ablehnung, vor Tod, Krankheit und Scheidung der Eltern. Jede Geschichte enthält Kommentare, Tipps des Autors oder seine Aufforderung an den Leser, seine Emotionen, die durch das Lesen des Textes ausgelöst werden, durch Zeichnen auszudrücken. Als Vorläuferin der therapeutischen Geschichten gilt die australische Psychologin Doris Brett, die durch ihren Band »Anna zähmt die Monster«4 zu einer international bekannten Autorin wurde. Ihre kindliche Heldin Anna muss sich neuen Situationen stellen, wie der Geburt eines Geschwisterchens, dem Verarbeiten der Scheidung ihrer Eltern und dem Tod eines geliebten Menschen.

3 Ibisz, K./Gruszczyn´ska, A.: Bajkoterapia czyli dla małych i duz˙ych o tym jak, bajki moga˛ pomagac´. Warszawa: Nasza Ksie˛garnia 2009, S. 9. 4 Brett, Doris: Anna zähmt die Monster. Salzhausen: Iskopress 2012.

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Märchen, die unterstützend, tröstend und motivierend wirken, werden bei Pädagogen, Psychologen und Soziotherapeuten, die mit Kindern im Vorschulund frühen Schulalter arbeiten, immer beliebter. Maria Molicka unterscheidet drei Arten von therapeutischen Märchen: a) psychoedukative, b) psychotherapeutische und c) Entspannungsgeschichten.5 a) Psychoedukative Märchen sollen das Verhalten des Kindes durch seine Identifikation mit dem Protagonisten der Geschichte beeinflussen. Ihr Hauptziel ist es, das Selbstwertgefühl zu unterstützen. Sie motivieren, die eigenen Fähigkeiten zu entdecken und gleichzeitig auftretende Schwierigkeiten zu überwinden. Die Texte sind voll von Metaphern und Symbolen, die vom kindlichen Leser erkannt werden sollen. Darüber hinaus enthalten sie Anweisungen des Autors, die das Kind dazu motivieren, künstlerisch tätig zu werden, d. h. seine Gefühle oder seine Situation unter dem Einfluss des gelesenen Inhalts zu illustrieren. Das Märchen richtet sich an Kinder, die schwierige Momente wie Trennung, Konflikte und andere angstauslösende Situationen erleben. Die Helden der Märchen sind nicht nur Kinder, sondern auch Tiere und Pflanzen. Dabei ist zu beachten, dass Eigenschaften, die bestimmten Tieren zugeschrieben werden, in dieser Art von Geschichten verändert werden. Ein Beispiel dafür ist die Figur des Hasen, der nicht wegläuft, sondern sich der Herausforderung stellt. Das Kind identifiziert sich mit der Märchenfigur und lernt neue Verhaltensweisen, wodurch es die eigenen Gefühle zu verstehen und mittels der Erweiterung seines Wortschatzes zu benennen hilft und damit das Kind zum ehrlichen Sprechen motiviert. b) Psychotherapeutische Märchen, die auf psychologischen Mechanismen basieren, sollen dem Kind bewusst machen, wie es mit Angst, Wut, Schuld oder Scham umgehen kann. Ihr Hauptziel ist die Konkretisierung und anschließende Rationalisierung der Angst, wodurch die Bedürfnisse des Kindes kompensiert und die positive Botschaft vermittelt werden soll. Texte dieser Art können dem Kind auch präventiv erzählt werden, d. h. Ereignisse, Situationen, Gefühle oder Themen ansprechen, die das Kind nicht kennt oder nicht persönlich erlebt, sondern nur davon gehört hat. c) Das Hauptziel der Entspannungsgeschichten ist es, das Kind zu beruhigen. Der zumeist sehr kurze Text basiert auf der Visualisierung, wodurch das Kind seine Vorstellungskraft unter dem Einfluss von verbalen Suggestionen aktivieren soll. Der Held der Geschichte kann ein anthropomorphes Tier oder eine Pflanze, ein Außerirdischer oder Phänomen aus der Naturwelt sein. Der Protagonist entspannt sich dabei häufig im Freien: im Wald, Garten oder auf der Wiese. Durch den Kontakt mit der Natur regt er seine Sinne an und erlebt Glückseligkeit, Leichtigkeit und Ruhe und nimmt somit die Tätigkeit des Draußen-Seins in der Natur auf. Er kann schwimmen, tauchen oder sich durch die Lüfte schwingen. Somit enthält diese Art des Märchens Elemente des autogenen Trainings. Auch 5 Molicka, Maria: Bajki terapeutyczne dla dzieci. Poznan´: Media Rodzina 1999, S. 26–28.

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diese Märchen enden nicht mit einer Moral, sondern mit der Motivation zu körperlicher Aktivität. Der Nutzen des Lesens eines therapeutischen Märchens in den genannten drei Varianten ist unermesslich. Sie sind eine Quelle für die Bildung und Entwicklung von richtigen Einstellungen, Wissen über Gefühle und möglichen Lösungen für Situationen, die für das Kind schwierig sind. Sie bringen jungen Lesern bei, wie sie ihre Ängste überwinden können. Kinder lernen nicht nur etwas über die Welt, sondern vor allem über sich selbst. Molick formuliert ihre eigene Definition des Märchens wie folgt: »Mit ihrer Hilfe lernen Kinder die Regeln, die die Realität und Verhaltensmuster bestimmen. Vor allem aber wecken Märchen das Kind innerlich auf und bereiten ihm viel Freude. Märchen ermöglichen es dem Kind, sich mit der Figur zu identifizieren, neue Abenteuer und Gefühle zu erleben. In einer märchenhaften Welt regiert das Gute und es gewinnt immer. Ein Happy End gibt einem Kind, das sich bereits als Held oder Teilnehmer der Ereignisse fühlt, ein angenehmes Erfolgserlebnis.«6

Eine der Hauptaufgaben eines jeden Märchens ist es, das Kind in seiner persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Das Vorlesen eines therapeutischen Märchens, angepasst an das Alter des Kindes und an seine Bedürfnisse, ist ein Vorwand für ein ehrliches Gespräch über seine Probleme, Schwierigkeiten, Ängste und anderen Emotionen. Der Inhalt des Textes, mit dem sich der kindliche Leser auseinandersetzt, soll ein Beitrag zu therapeutischen und kunsttherapeutischen Übungen sein. Diese theoretischen Überlegungen zur therapeutischen Märchen sollen im Folgenden den Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit den neu erschienen Texten für kindliche Leser bilden, die seit dem Frühjahr 2020 erfahren, was eine Pandemie ist. Aufgrund der Schließung fast aller Kindergärten und Schulen infolge der weltweiten Ausbreitung des Coronovirus, waren die Kinder gezwungen, Zuhause in ihren Zimmern zu bleiben, die mit der Zeit zum Spiel- und Lernort wurden, ohne direkten Kontakt zu Gleichaltrigen und Lehrern. Um sie zu trösten und ihnen die Notwendigkeit der Quarantäne begreiflich zu machen, griffen Psychologen und Kinderbuchautoren zur Feder, wovon hier einige exemplarisch ausgewählte Texte, die die Pandemie und ihre Folgen thematisieren, in ihrer psychotherapeutischen und psychoedukativen Funktion knapp untersucht seien. »Hinter den sieben Bergen, hinter den sieben Wäldern gab es ganz große Königreiche« – mit diesem Satz beginnt das »Märchen von einem bösen König

6 Molicka, Maria: Bajkoterpia. O le˛kach dzieci i nowej metodzie terapii. Poznan´: Media Rodzina 2002, S. 170.

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Virus und einer guten Quarantäne«7, das von der Psychologin Dorota Bródka geschrieben wurde. Kinder und Erwachsene bewohnen gemeinsam eine phantastische Welt, das Königreich der duftenden Äpfel, das Lavendelkönigreich, das Königreich der roten Tomate und das Waldpilzkönigreich. Alle leben friedlich bis zu dem Tag, als plötzlich ein unglücklicher König Coronavirus mit einer Armee auftaucht. Seine Soldaten befolgen die Befehle des neuen Herrschers, der sich wünscht, dass alle Bewohner der vier Königreiche sich ihm unterordnen. Viele, die ihm gehorsam folgten, wurden bereits krank. Um den weiteren Erkrankungen vorzubeugen, entscheiden sich König Adam und Königin Eva aus dem Königreich der duftenden Äpfel, eine sehr wichtige Sitzung einzuberufen. Sie laden alle anderen Könige und Königinnen, eine Frau und einen Herrn aus dem Fernsehen, Herrn Doktor, Vertreter der Eltern und der Großeltern, einen Soldaten, eine Feuerwehrfrau, einen Baumeister und viele andere kluge sowie gute Menschen ein. Nach drei Tagen schlagen sie drei Lösungen vor: Erstens muss eine Mauer der Immunität errichtet werden. Zweitens, soll diese Mauer jeder Bürger im eigenen Haus erbauen, indem er während der Quarantäne keine Freunde trifft, keine Schule besucht und nicht zur Arbeit geht, sondern nur zu Hause bleibt. Aber wenn jemand krank wird, dem sollte der Arzt unbedingt Arzneimittel verschreiben, und im schlimmsten Fall wird er zum Krankenhaus gebracht, wo ihm am schnellsten Hilfe zuteil wird. Der dritte Schritt betrifft die kollektive Stärkung der Mauer der Immunität. Alle Bewohner der vier Königreiche sollen während der Quarantäne den folgenden ärztlichen Rat befolgen: zu Hause bleiben und sich nicht mit anderen Menschen treffen, häufig die Hände waschen, warme Suppen, Tees und Säfte trinken, viel schlafen und ausruhen und alle Dinge tun, für die man früher keine Zeit hatte. Wenn sie die oben genannten Anordnungen jeden Tag beachten, gelinge es ihnen, den König Corona von seinen bösen Absichten abzuhalten. Sobald die Quarantäne vorüber ist, laden der König und die Königin die Gäste zu einem Picknick ein. Alle haben eine gute Zeit und der böse König kehrt mit seinen Soldaten in sein Reich zurück. Des weiteren befragt die Märchenautorin über den Text hinausgehend die kindlichen Leser nach deren Plänen nach der Quarantäne. Die Kinder können ihre Antworten und jeweiligen Emotionen in Zeichnungen ausdrücken, auch, wie sie sich z. B. den traurigen Viruskönig vorstellen und welche neuen Fähigkeiten sie gewinnen können, wenn sie zu Hause bleiben. Dorota Bródkas Geschichte ist ein typisches Beispiel für ein therapeutisches Märchen, das sich an Kinder im Vorschul- und frühen Schulalter richtet. Gleichwohl kann ihr Text nicht eindeutig zugeordnet werden, da er sowohl Elemente eines psychoedukativen als auch eines psychotherapeutischen Märchens enthält. 7 Bródka, Dorota: Bajka o złym królu wirusie i dobrej kwarantannie. Zit. nach White & Green Vintage Business Annual Report (dorotabrodka.pl) (letzter Zugriff: 03. 01. 2021).

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Der Aufbau ist linear gehalten: Bereits am Anfang wird das Problem dargestellt, mit dem sich die Helden im Laufe der Geschichte auseinandersetzen. Die Handlung korrespondiert mit der aktuellen Situation in der Welt im Zuge der Coronavirus-Pandemie. Die Protagonisten des Märchens kämpfen mit dem Viruskönig, der als unglücklicher, mächtiger, egoistischer und trauriger Herrscher beschrieben wird. Diese Figur ruft zweifelsohne negative Emotionen hervor. Eine wichtige Rolle spielen dabei König Adam und Königin Eva aus dem Königreich der duftenden Äpfel, die positive Charaktere darstellen. Ihre Idee, eine sehr wichtige Sitzung zu organisieren, führt zu einem Treffen vieler weiser Menschen, die eine gemeinsame Lösung finden, um den bösen Viruskönig zu besiegen. Das Hauptziel des Märchens ist es, zuerst die Angst zu konkretisieren und dann den Stress im Zusammenhang mit der Viruspandemie zu reduzieren und von der großen Bedeutung der Quarantäne sowie ihrer positiven Auswirkung für die gesamtgesellschaftliche Zukunft zu überzeugen. Kinder werden über die Gründe für die Isolierung aufgeklärt und darüber, wie sie sich vor einer Ansteckung mit dem Virus schützen können. Die von allen Bewohnern des Königreichs errichtete Mauer der Immunität sowie die gute Quarantäne fungieren hierbei als wichtige Elemente zur Rationalisierung der Angst. Kinder lernen, was kollektive Verantwortung bedeutet und wie wichtig sie im Falle einer Pandemie ist. Mit dem Guten, oder besser gesagt, mit guter Quarantäne, wurde das vom Viruskönig verkörperte Böse besiegt. Das Happy End besitzt dabei einen wichtigen psychotherapeutischen Aspekt: Es stärkt das Gefühl der Sicherheit, fördert das positive Denken und gibt Hoffnung, dass auch im wirklichen Leben das Coronavirus verschwinden wird, die Kinder wieder in die Kindergärten und Erwachsene zur Arbeit gehen, sie wieder mit ihren Freunden spielen und ihre Großeltern und Verwandte besuchen können. Ein weiteres therapeutisches Märchen, das das Thema der CoronavirusPandemie aufgreift, spielt ebenfalls in einem phantastischen Königreich. Die Autorin Lidia Ippoltd8 beginnt ihre Geschichte damit, dass sie die für Volksmärchen charakteristische Anfangsformel verändert: »Nicht so weit weg und nicht so lange her, gab es ein schönes Land namens Pollandia«. Das Königreich wurde von vielen Kindern bewohnt, die Kindergärten und Schulen besuchten, und Erwachsenen, die zur Arbeit gingen. Eines Tages entkamen sehr gefährliche Corona-Kreaturen aus ihrem Land und wollten die Welt der Menschen erkunden. Sie reisten mit Zug, Flugzeug, Schiff und Bus. Auf ihren Reisen begleiteten sie gerne Menschen, besonders solche, die schmutzige Hände hatten. Je länger die Kreaturen im Reich blieben, desto mehr Menschen wurden krank. Um weitere Erkrankungen zu verhindern, versammelte sich der königliche Rat zu einer 8 Ippoldt, Lidia: O krainie Pollandii, która nie dała sie˛ koronostworkowirusowi. Pollandia.pdf (bibpedskawina.pl) (letzter Zugriff: 03. 01. 2021).

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schnellen Beratung. Es wurde verabschiedet, dass Schulen, Kindergärten, Büros und sogar einige Geschäfte geschlossen werden sollten. Außerdem wurde allen empfohlen, zu Hause zu bleiben. Die jüngeren Untertanen nahmen den königlichen Befehl mit großer Freude an, denn für sie bedeutete die Quarantäne eine Pause im schulischen Lernen. Die Erwachsenen hingegen sammelten Vorräte und Waffen gegen die Corona-Kreaturen und fanden nun Zeit für ihre Kinder, mit denen sie Brettspiele spielten, Bauklötze und Puzzles arrangierten. Alle haben die Anweisungen befolgt, niemand verließ das Haus ohne ein dringendes Bedürfnis und jeder kümmerte sich um die Hygiene. Nach vielen Wochen verkündete der König die frohe Botschaft, dass immer weniger seiner Untertanen krank wurden, und die Corona-Kreaturen flohen in ihr Land, das von einer dicken Mauer umgeben war. Diese Geschichte ist ein passendes Beispiel für ein psychoedukatives Märchen und richtet sich an Kinder im frühen Schulalter. Der Text basiert auf der Metapher der Situation, in der sich der Empfänger des Märchens befindet. Die Hauptfiguren sind die bösen Corona-Kreaturen, deren Aufenthalt in Pollandia das Leben von Kindern und Erwachsenen gleichermaßen verändert. Die erzieherische Funktion besteht zum einen darin, die Menschen auf die Gefahr von Corona-Kreaturen aufmerksam zu machen, und zum anderen in der Notwendigkeit, sich zu schützen, indem man zu Hause bleibt, sich häufig die Hände wäscht und viel Wasser trinkt. Es sollte auf den emotionalen Zustand der in Pollandia lebenden Kinder hingewiesen werden, die nicht mit Angst, sondern mit Freude auf die Nachricht von Schulschließungen und einem plötzlichen Unterrichtsausfall reagieren. Erwachsene beklagen sich dagegen, dass sich die Kinder zu Hause langweilen und sie selbst keine Zeit haben, sich um sie zu kümmern. Entgegen der Meinung der Erwachsenen haben die Kinder jedoch gar keine Zeit, sich zu langweilen, weil sie jeden Tag Aufgaben von ihren Lehrern erhalten. Das Märchen verändert somit die Art und Weise, wie man über Quarantäne denkt, die von Kindern nicht als Ferienzeit wahrgenommen werden soll. Die kleinen Bewohner von Pollandia haben erkannt, wie wichtig Lernen ist. Es ist gleichzeitig zu betonen, dass der Text frei von Belehrungen und Moral ist. Das Happy End des Märchens wird durch den Ausbruch der Freude der Bewohner von Pollandia ausgedrückt, die nicht nur die Corona-Kreaturen besiegt haben, sondern auch ihren Lieben nähergekommen sind. Lidia Ippoldt ist auch die Autorin von therapeutischen Märchen, die personalisiert sind. Alle Texte sind im Königreich Pollandia angesiedelt und schildern die Schicksale von Mädchen und Jungen, die unter dem Einfluss verschiedener Situationen im Zusammenhang mit der Pandemie erkennen, dass ihr bisheriges Verhalten nicht angemessen war. Infolgedessen ändern sie ihre Einstellung zur Welt um sie herum und zu sich selbst. Ein Beispiel dafür ist die therapeutische

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Geschichte von »Kornelka«9, der hübschen und fröhlichen Tochter des Hofmeisters, die die dritte Klasse der königlichen Schule besucht. Das Mädchen verbrachte jede freie Minute mit Computerspielen oder dem Surfen im Internet. Durch die Quarantäne und die Einführung des Fernunterrichts saß Kornelka jeden Tag mehrere Stunden vor dem Computer und bearbeitete die von ihren Lehrern geschickten Aufgaben. Nachdem der Fernunterricht vorbei war, hatte sie keine Lust mehr, auf den Bildschirm zu starren. Das kleine Mädchen entdeckte, dass in der Ecke seines Zimmers ein Regal voller Bücher mit bunt glänzenden Einbänden und liebenswerten Figuren steht. Das Mädchen hatte vorher nicht auf diese Bücher geachtet, weil ihre Interessen nur auf das Internet gerichtet waren, und daher auf jedes Buch, das ihr ihre Eltern schenkten, mit Unzufriedenheit reagiert. Nun greift sie jedoch mit großer Begeisterung danach. So brachte die Pandemie Cornelia dazu, Bücher zu lieben. Ein drittes Beispiel ist die Geschichte vom fünfjährigen »Marcelek«10, der wegen der Pandemie den Kindergarten nicht besuchen kann. Das Märchen spricht die Gefühlssphäre eines Kleinkindes an. Zunächst ist es froh, morgens nicht aufstehen und sich mit dem Frühstück beeilen zu müssen, um zum Kindergarten zu kommen. Doch mit der Zeit beginnt Marcelek sich immer mehr zu langweilen. Er wird traurig, weil er nicht versteht, warum er nicht auf den Spielplatz gehen kann. Seine Oma erklärt ihm, dass die Corona-Kreaturen ebenfalls gerne auf dem Spielplatz spielen und auf Menschen springen, die dann krank werden. Diese Kenntnis vertieft indes den negativen emotionalen Zustand des Jungen, der dadurch zunehmend mürrischer und unhöflicher wird, ja wütend zu schreinen anfängt, als jemand mit ihm spielen will. Die Verbesserung seines Wohlbefindens wird letztlich durch eine Idee seiner Eltern ausgelöst, die ihren Sohn zum gemeinsamen Hausputz animieren. Eine scheinbar langweilige Tätigkeit löst in dem Kind den Wunsch aus, aktiv zu werden, zu helfen und den Ernst der Situation im Zusammenhang mit der Pandemie zu erkennen. Dieses psychoedukative Märchen basiert darauf, negative Reize auszusenden und sie mit positiven Emotionen zu kombinieren. Viele kindliche Leser kennen das bekannteste Märchen der Brüder Grimm von »Hänsel und Gretel«, die in der Urfassung von ihren Eltern aus Armut im Wald ausgesetzt werden. Die Kinder können den Weg nach Hause nicht mehr finden, irren umher und stoßen plötzlich auf ein Pfefferkuchenhaus, das sie aus Hunger zu essen versuchen. Die Hausbesitzerin – die Hexe – nimmt die beiden gefangen. Gretel wird zu ihrem Dienstmädchen und Hänsel bleibt im Käfig eingesperrt, bis 9 Ippoldt, Lidia: O tym jak Kornelka z krainy Pollandi pokachała ksia˛z˙ki. Kornelka.pdf (bibped skawina.pl) (letzter Zugriff: 03. 01. 2021). 10 Ippoldt, Lidia: O, tym jak Marcelek z krainy Pollandi obronił dom przed koronostworkami. Marcel.pdf (bibpedskawina.pl) (letzter Zugriff: 03. 01. 2021).

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er fett genug ist, um von der Alten gefressen zu werden. Letztendlich rettet Gretel ihren Bruder, indem sie die Hexe in den Ofen stößt. Mit dem gefundenen Schatz kehren sie glücklich nach Hause zurück. Die Geschichte von dem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester erzählt auch das therapeutische Märchen »Stas´ und Jadzia Pe˛telka bleiben zu Hause«11 der polnischen Autorin Barbara Supeł. Zwischen den Geschwisterpärchen Hänsel und Gretel sowie Stas´ und Jadzia gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Während die ersten das Haus verlassen müssen, dürfen die zweiten nicht ausgehen, weil Stas´ stark hustet und Jadzia immer ihre Hände in den Mund nimmt. Auch die Verhaltensweise der Eltern ist ganz anders. Die Eltern von Hänsel und Gretel bringen ihre Kinder in große Gefahr, die von Stas´ und Jadzia sind dagegen voller Sorge um ihren Sohn und Tochter, denen sie ihre Geborgenheit sichern wollen. Die Mutter schützt ihre Kinder und lässt sie nicht auf den Spielplatz gehen, um die Nachbarn nicht zu beunruhigen, besonders Frau Halinka. So sitzen sie schon eine Woche lang in ihrem Zimmer, langweilen sich sehr und streiten immer wieder beim Basteln. Ihre Stimmung ändert sich erst, als sie ein Zelt aus den Decken und Kissen erbauen, was ihnen viel Freude bereitet. Barbara Supełs personalisierte Geschichte kann als psychoedukatives Märchen eingestuft werden, denn es greift ein aktuelles Thema auf, nämlich die Zeit der Quarantäne, also den dauerhaften Aufenthalt zu Hause. Gleich zu Beginn erfahren die Kinder, was das Virus ist, wie es sich verbreitet und was man tun sollte, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren. Die Textpassage über Stas´ und Jadzia, die sich regelmäßig die Hände waschen, und eine Infografik mit Anleitungen, wie man Viren richtig aus den Händen jagt, sollen die Kinder zum Händewaschen ermutigen. Stas´, der ständig hustet, wird von seinen Eltern belehrt, wie wichtig es ist, sich beim Husten Mund und Nase zuzuhalten. Dann bezieht sich Supeł auf die Frage nach der Gefühlssphäre, die Kinder erleben, wenn sie die ganze Zeit zu Hause sitzen. Stas´ und Jadzia streiten sich um die Knete und welche Tiere sie formen wollen. Diesem Textauszug ist eine Infografik angehängt, die die Emotionen benennt. Kindliche Leser lernen dieserart, dass sie ein Recht darauf haben, sich zu ärgern, wenn sie die ganze Zeit so wie Stas´ und Jadzia im Haus bleiben müssen, nicht rausgehen können, ihre Freunde nicht sehen und ihr Spielzeug mit ihren Geschwistern teilen müssen. So ermutigt die Autorin Kinder dazu, gemeinsam mit ihren Eltern über ihre Gefühle zu sprechen, die sie während der Quarantäne erfahren. Ein negativer emotionaler Zustand, der Kinder in Corona-Zeiten begleitet, ist Langeweile. Stas´ und Jadzia langweilen sich beim Spielen mit Blöcken, so dass ihr Vater sie zum Bau eines Verstecks aus Kissen und Decken inspiriert. So werden auch die kindlichen Leser dazu moti11 Supeł, Barbara: Stas´ i Jadzia Pe˛telka zostaja˛ w domu. Stas-i-Jadzia-Petelka-zostaja-w-domu.pdf (zielonasowa.pl) (letzter Zugriff: 03. 01. 2021).

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viert, aus beliebigen Gegenständen einen Turm zu bauen und anschließend ihre kreative Idee für die Konstruktion mit einer Zeichnung zu präsentieren. Supeł regt außerdem die Kinder zu Bewegungsspielen an, die einen lebenden Turm oder zum Schluss ein Brettspiel zusammen mit den Titelfiguren der Geschichte spielen können. Supełs Märchen erfüllt mehrere pädagogische Funktionen, indem es elementare Gewohnheiten im Zusammenhang mit Sauberkeit und Hygiene bei Kindern im Vorschul- und frühen Schulalter prägt. Außerdem erfüllt ihre Geschichte eine erzieherische Funktion, indem sie die von den Kindern erlebten Gefühle konkretisiert. Ziel ist es, die Fähigkeit des Kindes zu entwickeln, die eigenen Emotionen zu erkennen und zu benennen. Der Text ist dabei frei von jeglicher Moralisierung, jedoch ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kind und Erwachsenem. Die Ergänzung des Märcheninhalts mit Kunst- und Bewegungsaufgaben für den kindlichen Leser macht nicht nur die gelesene Geschichte attraktiver, sondern regt auch das Wissen des Kindes über sich selbst an und beeinflusst seine Denkweise. Durch die Identifikation mit den Titelfiguren Stas´ und Jadzia können die Leser im Vorschul- und frühen Schulalter verstehen lernen, wie wichtig es ist, auf Hygiene zu achten, welche Emotionen sie während der Quarantäne begleiten und wie sie effektiv Zeit mit ihren Geschwistern verbringen können, während sie zu Hause sitzen müssen. Darüber hinaus vermittelt Supełs Geschichte eine positive Botschaft, die darauf abzielt, die Kinder zu trösten. Die Mutter von Stas´ und Jadzia beruhigt ihre gelangweilt von Ecke zu Ecke schlurfenden Kinder, dass die Quarantäne bald vorbei ist und sie wieder auf den Spielplatz gehen können. Die therapeutischen Geschichten sollen die Kinder in Zeiten der CoronavirusPandemie, die sie häufig nicht verstehen, aufklären und ihnen bewusst machen, wie wichtig Quarantäne und Hygiene in Corona-Zeiten sind. Wichtig ist hierbei der psychologische Mechanismus, der auf der Analogie zwischen der Situation, in der sich die Hauptfigur, auch die kollektive, befindet, und der Situation, in der sich das Kind befindet, beruht. Der kindliche Leser kann sich mit der Figur identifizieren und erkennen, dass auch andere Kinder die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen genauso erleben wie er selbst. Die therapeutischen Texte sind daher oftmals so aufgebaut, dass die Kinder die durch die Pandemie ausgelösten Gefühle benennen, konkretisieren und rationalisieren können. Die Schließung von Kindergärten und Schulen mag bei ihnen zunächst Euphorie auslösen, wie bei den kleinen Helden des Königreichs Pollandia. Im Anschluss aber haben sie vielleicht Schwierigkeiten, mit sich selbst zurechtzukommen, und Langeweile, weil sie ständig zu Hause sind, und bekommen Ärger oder Wut gegenüber Geschwistern oder Eltern. Die Autoren der angeführten Geschichten ermutigen ihre kindlichen Leser, über die erlebten Gefühle mit Erwachsenen zu sprechen und sie auch in Kunstwerken auszudrücken. Jede

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Geschichte endet mit einem Happy End, aber enthält keine Moralisierung. Dabei ist das positive Ende stets tröstlich: Die Kinder erfahren, dass die Pandemie bald vorbei sein wird und sie wieder in den Kindergarten, die Schule, auf den Spielplatz und zu Gleichaltrigen gehen können.

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Zweitklassige Lektüre oder durchdachte literarische Überwindung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft? Zur Darstellung (un-)gleicher Machtverhältnisse in der aktuellen Dystopie-Welle

»Jugend ohne Gott« (Verfilmung von Gsponer 2017), »Davor. Danach« (Singer 2018), »Dry« (Shusterman 2019) oder auch »Dark« (Serie von bo Odar 2017– 2020) – Dystopien spielen in der KJL und in Filmen und Serien für Jugendliche und Erwachsene noch immer eine bedeutende Rolle. Dass diese Flut an Dystopien bereits seit ungefähr dem Jahr 2008 anhält und 2011 einen erneuten Höhepunkt erlebt, konstatiert Maik Nümann: »Das Jahr 2011 markiert vor allem im Jugendbereich eine neue Hochwassermarke in der Flut von Dystopien bzw. Endzeit- und globalen Katastrophenszenarien, die sich spätestens seit den Erfolgen von Glukovskys Metro 2033 (2008) bzw. Suzanne Collins Die Tribute von Panem (2009) in die deutschen Buchhandlungen ergießt und – so ist angesichts der anhaltenden Präsenz apokalyptischer Rede in den Medien zu vermuten – noch weiter ergießen wird.«1

Nümann sieht die gegenwärtige Prominenz von Dystopien u. a. der Tatsache geschuldet, dass die Medien Endzeitszenarien ausmalen, die die Literatur aufgreift und genreadäquat adaptiert. Jedoch beschreiben viele seriöse Wissenschaftler in der Natur- und Klimaforschung dystopische Szenarien für die Zukunft der Erde, so dass Dystopien m. E. weniger eine effekthaschende Reaktion auf medial verbreitete Endzeitszenarien darstellen als vielmehr eine warnende und wissenschaftsbasierte. Als Themenfelder von aktuellen Dystopien macht Nümann »Konsequenzen Neuer Medien, das Problem der Umweltzerstörung und die Gefahren einer Pandemie«2 ausfindig. Diese Themenstellungen stehen zweifellos im Zentrum von Romanen mit dystopischen Themen, jedoch fehlt als wichtiger politischer Aspekt, dass die Rezipienten auf fiktionaler Ebene (anti-) demokratische Strukturen und deren gravierende Folgen für die breite Bevölkerung kennenlernen. Außerdem bilden Dystopien das Phänomen gesellschaftlicher Spaltung ab, das offensichtlich ungefähr seit dem Millennium in diversen Studien dominant diskutiert wird. So stellt Ruth Linssen, eine der In1 Nümann, Maik: Aktuelle dystopische Literatur. In: kjl&m 64, 2012, H. 3, S. 59. 2 Ebd.

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itiatorinnen der Shell-Studie aus dem Jahr 2002, fest, dass die auseinanderdriftenden Bildungsniveaus die Gesellschaft spalten (werden): »Ein Viertel aller Jugendlichen hat entweder keinen Schulabschluss oder maximal einen Hauptschulabschluss und steht als Verlierer da – die größte Risikogruppe der nächsten Jahre. Die jugendlichen ›Gewinner‹ besuchen dagegen durchweg Gymnasien oder zumindest Realschulen und haben sehr gute Abschlüsse. An der Frage der Bildung wird sich die Gesellschaft teilen.«3

Linssen konstatiert in diesem Kontext, dass Jugendliche ohne höherwertigen Schulabschluss die Benachteiligten in der Gesellschaft sein werden, und deutet diesen Befund als Indiz einer künftigen Spaltung. Auch im Rahmen der ShellStudie von 2019, bei der 2.572 Jugendliche zwischen 12–25 Jahren in Deutschland zu ihrer Lebenssituation und ihren Lebenseinstellungen befragt wurden, tritt eine anhaltende gesellschaftliche Spaltung zum Vorschein, jedoch gilt diese laut der Zusammenfassung der Studie nicht als unüberwindbar: »Die Ergebnisse der aktuellen Shell Jugendstudie zeigen, dass trotz der klar erkennbaren sozialen Unterschiede, die sich aus der Herkunft der Jugendlichen ergeben und die durch den auch weiterhin ungleichen Bildungserfolg bestehen bleiben, keine unüberbrückbaren Polarisierungen oder Spaltungen in den Einstellungen zu beobachten sind.«4

Diese Überwindbarkeit von sozialen Unterschieden spiegelt sich auch in der Dystopie-Welle etwa der letzten zehn Jahre wider. Viele dieser Dystopien stammen aus den USA, in denen sich eine stärker fortschreitende Spaltung der Gesellschaft als in Deutschland zeigt. Diese ist hinsichtlich der Schullandschaft besonders problematisch, wie der Journalist Ralf Pauli feststellt: »Die privaten Schulen suchen sich ihre Klientel aus. Zurück bleiben die, die in der reichen weißen Businesswelt von Trump und DeVos keinen Platz haben: People of Color, Arme, Gehandikapte. Das ist mindestens Klassismus, und er wird die ohnehin stark ausgeprägte Ungleichheit der amerikanischen Gesellschaft noch weiter steigern.«5

Es werden also negative Folgen der fortschreitenden Privatisierung von Schulen durch Bildungsministerin Elisabeth DeVos aus Donald Trumps Kabinett hervorgehoben. Dieses Phänomen einer negativen gesellschaftlichen Dissoziierung taucht auch in Frankreich auf, wo ebenfalls zahlreiche Dystopien zu diesem Sujet zu finden sind. Zum Thema der gesellschaftlichen Entwicklung stellt der Jour3 Löffler, Udo: »Bildung wird die Gesellschaft teilen«. In: Shell-Studie: Bildung teilt Jugendliche in Zwei-Klassen-Gesellschaft (10. 10. 2002). (letzter Zugriff: 04. 07. 2020). 4 Shell Deutschland: Zusammenfassung der Shell Jugendstudie von 2019, S. 13. (letzter Zugriff: 04. 07. 2020). 5 Pauli, Ralf: Rollback auf ganzer Linie. Kommentar US-Bildungspolitik (23. 01. 2019). (letzter Zugriff: 04. 07. 2020).

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nalist Christoph Vormweg die Frage, ob Emmanuel Macrons Reformen aufgrund der (Gelbwesten-)Proteste eine Spaltung des Landes hervorrufen: »Wie gespalten ist Frankreichs Gesellschaft in der Mitte von Macrons Amtszeit? Arbeitsmarkt- und Rentenreformen sowie Klimaschutz auf dem Rücken der sozial Schwächeren durchzusetzen, scheint nur noch schwer möglich. Hinter den Gelbwesten, die im Winter 2018/19 die Angst vor einer Revolution schürten, lauern die Trittbrettfahrer: vor allem die rechtsradikale Marine Le Pen.«6

Diese Aussage legt nahe, dass sich eine Spaltung zwischen den sozial Abgehängten und neoliberalen Eliten anbahnt. In der Postmoderne scheinen neoliberale Eliten und eine abgehängte Mittelschicht, die sich benachteiligt fühlt, aufeinanderzutreffen. Diese hier skizzierte Debatte um eine Spaltung der Gesellschaft findet sich in vielerlei Gestalt in Deutschland, USA und Frankreich wieder und spiegelt sich offensichtlich in den Dystopien der letzten Jahre. Aber diese Anti-Utopien gehen sogar noch einen Schritt weiter und deuten Möglichkeiten der Versöhnung zwischen den einander entfremdeten gesellschaftlichen Schichten an, wie im Folgenden anhand von diversen Beispielen zu zeigen ist. Angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen Varianten von Dystopien innerhalb dieser gerade thematisierten Welle ist es wichtig, diesen Begriff vorab zu definieren. Den einschlägigen Begriffsdiskurs prägen die Definitionen der Dystopie-Experten Ralf Schweikart, Manuela Kalbermatten und Christina Ulm. Während Kalbermatten anti-utopische Werke als Future Fiction betitelt, bezeichnet sie Schweikart als Dystopien. In diesem Kontext sieht er die Dystopie lediglich als eine weitere Variationsmöglichkeit in Bezug auf die populäre phantastische Literatur an: »Denn nach Harry Potter und seinen Zauberlehrlings- und Internatsepigonen, nach Twilight und seinen unzähligen Vampirgeschwistern, nach dem feuerwerkartigen Aufblitzen der Halbgötter-Romane à la Percy Jackson oder der Göttlich-Trilogie von Josephine Angelini bietet die Dystopie eine der vielfältigsten Variationsmöglichkeiten der momentan im Buchmarkt so erfolgreichen Fantasy-Literatur.«7

Schweikart fächert diese komplexen Genres in regressive Dystopien und zukunftsorientierte Dystopien auf. Bei den regressiven Dystopien spielt der Plot in der nahen Zukunft, aber die Welt ist wegen Umweltzerstörung und/oder Kriegen in eine offensichtliche Vergangenheit transferiert. Bei zukunftsorientierten Dystopien ist der Plot in der fernen Zukunft angesiedelt und wird durch futuristische Handlungsorte und Requisiten inszeniert. Letztere Form lässt sich noch einmal unterteilen in eine kulturell-mediale Dystopie, in der Buchwissen syste6 Vormweg, Christoph: Die Arroganz von oben, der Hass von unten − Elitendämmerung in Macrons Frankreich? (28.10.19) (letzter Zugriff: 06. 08. 2020). 7 Schweikart, Ralf: Wenn die Welt in Schutt und Asche fällt. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 18.

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matisch vernichtet wird, und in eine ökologische Dystopie, bei der sich die vom Menschen geschädigte Umwelt zu einem Gegenangriff erhebt.8 Kritikwürdig an diesem zweifelsohne hilfreichen Ansatz könnte erscheinen, dass Schweikart Hybridformen m. E. zu wenig würdigt und nicht eindeutig klar wird, was genau mit naher und ferner Zukunft gemeint ist und man sich konkret unter einem Rückschritt der Zivilisation in eine deutliche Vergangenheit vorzustellen hat. Zur Orientierung führt Schweikart immerhin Exempla für jede dieser Untergliederungen an. Kalbermattens Definition von anti-utopischer Literatur ist weiter gefasst als die von Schweikart. Sie bezeichnet dystopische Romane, die »eine künftige Welt imaginieren«,9 als Future Fiction, womit sie im weiteren Sinne phantastische Literatur meint, die in der Zukunft spielt und verschiedene anti-utopische Szenarien suggeriert. Diese fungieren als abschreckende Warnungen vor weniger lebenswerten Bedingungen des Zusammenlebens für die Menschheit, wobei indes auch Möglichkeiten der Prävention und Überwindung solcher düsteren Szenarien zutage treten.10 Kalbermatten hält den deutschen Begriff der Dystopie für zu kurz gegriffen, da Future Fiction auch Apokalypsen, Gesellschaftsdystopien und Science Fiction inkludiere. Letzterer Ansatz schließt zwar ein größeres Spektrum an Werken ein als der von Schweikart, ist jedoch kaum konkret. Schließlich ist noch der plausible Ansatz von Ulm zu diskutieren. Diese schärft die Konturen des Genres, indem sie von einer Stunde »Null« ausgeht, in der sich ein autoritäres Regime etabliert: »Aus einer Nullpunktsituation entsteht ein totalitäres System, das Freiheit beschneidet, dem Widerstand bereits eingeschrieben ist und das durch Elemente der Science Fiction geprägt ist. Zentral ist dabei die bereits angesprochene politische Dimension, die die Dystopie von anderen düsteren Zukunftsvisionen abgrenzt. Dabei greift die Literatur nicht nur historisch auf die jüngste Geschichte der Diktaturen zurück, sondern auch auf Machtstrukturen, wie sie aus der Zeit der Antike überliefert sind.«11

Diese knappe und zugleich griffige Definition wird dem Begriff der Dystopie in diesem Beitrag zugrundegelegt.

8 Vgl. ebd., S. 18–21. 9 Vgl. Kalbermatten, Manuela: »The world may need you, one day« – Kulturkritik, Identität und Geschlecht in aktueller Future Fiction für Jugendliche. In: Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur. Wiener Vorlesungen zur Kinder- und Jugendliteratur 1. Hrsg. von Wynfried Kriegleder, Heidi Lexe, Sonja Loidl und Ernst Seibert. Wien: Praesens 2016, S. 161. 10 Vgl. ebd., S. 161–186. 11 Ulm, Christina: »Are things pretty perfect?« Zur Future Fiction in der aktuellen Jugendliteratur. In: PHlesenswert 5, 2012, H. 2, S. 29f. Vgl. in diesem Kontext auch den Beitrag zum politischen Potenzial von Dystopien von Rüster, auf dem dieser Aufsatz teilweise basiert: Rüster, Johannes: Katastrophe mit Kuschelfaktor. Wie politisch sind die aktuellen Dystopien? In: Bulletin Jugend & Literatur 43, 2012, H. 3, S. 3–5.

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So unterschiedlich die Definitionsversuche von dystopischen Romanen sind, so kontrovers werden auch der didaktische Nutzwert und die damit einhergehende Frage der Qualität von Dystopien beurteilt. In ihrem bereits erwähnten Beitrag konstatiert Kalbermatten, dass »die nach wie vor populäre Future Fiction für Jugendliche geradezu prädestiniert dafür [ist], Aufschluss über kulturelle Werte, Normen und Diskurse zu geben: Konflikte individueller, vor allem aber gesellschaftlicher und nicht selten globaler Art und Tragweite sind ihr zentraler Handlungsmotor.«12

Als wichtiges Themenfeld von Dystopien sehen sowohl Schweikart als auch Kalbermatten die Kontrastierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten an: »Die konfliktreichen Verwerfungen zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen sind markante Elemente.«13 Dieser dominante Gegensatz zweier oder mehrerer Gesellschaftsschichten findet sich auch in den in diesem Beitrag fokussierten Dystopien. Jedoch belassen es viele der aktuellen Welle laut Kalbermatten nicht bei einer Spaltung der Gesellschaft, sondern sie erzeugen utopische Impulse zur Überwindung von Gräben zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen: »Im Gegensatz zu klassischen Dystopien beschränken sich Future Fiction-Texte für Jugendliche aber selten auf ihre Kritik- und Warnfunktion. Sie enthalten stets auch utopische Impulse, die als dezidierte Gegenwerte oft direkt der Figur des rebellischen Individuums eingeschrieben werden.«14

Bei dieser Zusammenführung von gesellschaftlich entzweiten Schichten spielen oftmals die unangepassten Heroen eine zentrale Rolle. So können Dystopien als möglicher Anstoß zur Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen dienen. Auf das brisante politische Potenzial, das auf die Warnung vor den Folgen einer tiefgehenden Spaltung der Gesellschaft verweist, geht Kalbermatten besonders dadurch ein, dass sie auf den facettenreich für Heranwachsende dargestellten Totalitarismus verweist: »Eine mächtige Vater- oder Mutterfigur fungiert als Repräsentantin eines grausamen Regimes, das eine Stadt, ein Land oder ein Reich im Klammergriff von sozialer Isolation, totaler Überwachung, ökonomischer Ausbeutung und massiver Repression hält.

12 Kalbermatten, »The world may need you, one day«. 2016, S. 161. 13 Schweikart, Ralf: Wenn die Welt in Schutt und Asche fällt. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 16; vgl. Ders.: Nur noch kurz die Welt retten. Dystopien als jugendliterarisches Trendthema. In: kjl & m 64, 2012, H. 3, S. 7f.; Kalbermatten, Manuela: Die Welt könnte dich eines Tages brauchen. Bilder weiblicher Identität in aktueller Future Fiction. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 36–40. 14 Kalbermatten, »The world may need you, one day«. 2016, S. 163.

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Nonkonforme Subjekte werden öffentlich demontiert und hingerichtet. […] Und eine kleine Elite profitiert auf ganzer Linie.«15

Dystopien appellieren also an das Unrechtsbewusstsein der Rezipienten, um eine Reflexion des von autoritären Machthabern und deren Eliten verübten Unrechts anzuregen und somit totalitäre Regime bloßzustellen. Dystopien leisten demnach ihren Beitrag für eine Erziehung in demokratischer Gesinnung, der auch im Unterricht eine immer größere Bedeutung zugeschrieben wird.16 Arno Metelling verweist in diesem Kontext auf den Aufforderungscharakter von populären Teenagerdystopien, sich aktiv an der Entwicklung der (demokratischen) Gesellschaft zu beteiligen: »Auffällig steht in diesen Jugendromanen allerdings nicht mehr die pessimistisch gefärbte Unvermeidbarkeit einer totalitären Gesellschaft im Vordergrund, sondern ganz optimistisch wird das Setting […] als Chance für die jugendlichen Heldinnen und Helden betrachtet, eine neue Gesellschaft zu erschaffen.«17

Metelling betont demnach, wie die Romane Jugendlichen vor Augen führen, dass sich gerade aus Krisensituationen Möglichkeiten zur positiven Einflussnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen ergeben. Da Dystopien bei Jugendlichen so beliebt sind, fordert Rank, dass Didaktiker und Pädagogen diese Art von Literatur nicht abschätzig behandeln sollten: »Die Lesedidaktik muss den kritischdistanzierten Blick von oben, ausgehend von den Maßstäben ›anspruchsvoller‹ Literatur, relativieren durch den teilnehmenden Blick von unten, basierend auf den Lesebedürfnissen und Leseinteressen heutiger Jugendlicher.«18 Insgesamt sollen also aktuelle Trends in der KJL, die Schüler häufig ansprechen, noch mehr gewürdigt werden. Jana Mikota nimmt ebenso eine positive Haltung gegenüber Dystopien ein und betont das vielseitige Potenzial mit Blick auf entwicklungsund gesellschaftsrelevante Themen: »Die Dystopien, das zeigt die Auswahl, thematisieren neben Problemen des Aufwachsens und damit gängige jugendliterarische Themen, auch das Thema der Andersar-

15 Kalbermatten, Manuela: Träume vom monströsen Mutterland. In: Buch & Maus 11, 2014, H. 2, S. 10. 16 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. das »Gesamtkonzept für die Politische Bildung an bayerischen Schulen«. (letzter Zugriff: 05. 08. 2020). Hierbei wird auch explizit auf die Auswahl von politisch motivierter Klassenlektüre verwiesen (vgl. S. 33). 17 Metelling, Arno: Gestrandet in der Zukunft. Survival und Robinsonade in der Science-Fiction. In: Der Deutschunterricht 35, 2020, H. 1, S. 59. 18 Rank, Bernhard: Literatur als Laboratorium. Dystopien aus Sicht der Lesedidaktik. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 22; vgl. auch: Kruse, Iris: Die (Un-)Wirksamkeit der Warnung. Zur Rezeption ökologischer Dystopien. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 30–35. Vgl. zur Auslotung alternativer Grenzerfahrungen anhand endzeitlicher Chronotopoi Rank, Bernhard: Literatur als Laboratorium. In: JuLit 39, 2014, H. 1, S. 22–29.

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tigkeit und des Umgangs mit Andersartigkeit. Wichtig erscheint mir zudem, dass […] jetzt erneut eine gesellschaftskritische und problemorientierte Jugendliteratur den Markt erobert, die in der Tradition der Aufklärung steht.«19

Laut Mikota knüpfen also Dystopien an die das Weltwissen erweiternde Literatur des 18. Jahrhunderts an, indem den Rezipienten die Teilnahme an gesellschaftspolitischen Diskursen und Konzepten der Alteritätstoleranz eröffnet wird. Große didaktische Potenziale mit Blick auf eine Ausprägung des Demokratieverständnisses schreibt auch Annette Kliewer dystopischen Romanen wie der »Méto«-Trilogie zu, die eine alternative Geschichte erzählt, um die Leser zum Nachdenken über liberale Werte und Normen zu bewegen. Hierbei stellt sie einen Katalog an Kompetenzen auf, die Heranwachsende beim Umgang mit derartigen Werken im Unterricht nach Hans-Jürgen Pandel sich aneignen könnten. Die zentralsten sind Folgende: »Identitätsbewusstsein (wir / ihr / sie) / Politischhistorisches Bewusstsein (oben / unten) / Ökonomisch-soziales Bewusstsein (arm / reich) / Moralisches Bewusstsein (richtig / falsch)«.20 Derartige Fähigkeiten bei Schülerinnen und Schülern bzw. auch Erwachsenen sind zentral, um eine Demokratie aufrechtzuerhalten und sie gegenüber Feinden zu verteidigen. Bernhard Rank hingegen erachtet für den Unterricht weniger das politische Potenzial als thematisierungswürdig, das für ihn eher pauschalisierend sei, als vielmehr die Möglichkeit, diverse komplexe Raum-Zeit-Kontinuen mit Blick auf das literarische Lernen zu untersuchen: »Die erfolgreichen jugendliterarischen Dystopien stellen in der Regel keinen derart kon-kretisierbaren gesellschaftspolitischen Anspruch. Wenn ein kritischer Gehalt erkennbar ist, bleibt er abstrakt und richtet sich generell gegen totalitäre Systeme jeglicher Art, sei es in der Schule (z. B. Grevet 2012; Kacvinsky 2011), sei es in der Politik (z. B. Collins 2009; Condie 2010), sei es im Bereich der Computertechnologie (z. B. Falkner 2010; John 2011). Der diesen Romanen eigene Chronotopos ist der einer Zeit der Gefährdung und Bewährung.«21

Auch Stierstorfer hebt die Potenziale von dystopisch-serieller Literatur am Beispiel der »Tribute von Panem«-Serie und deren im Nachhinein erschienenes Prequel hervor. Dabei betont er vor allem die Möglichkeit der Schärfung eines 19 Mikota, Jana: Dystopie. Fachlexikonartikel von kinderundjugendmedien.de [10. 03. 2013].

(letzter Zugriff: 08. 07. 2020). 20 Kliewer, Annette: Das Heute im Gestern. Déconstruction à la française im historischen Jugendbuch? In: Kinder- und Jugendliteratur der Romania: Impulse für ein neues romanistisches Forschungsfeld. Hrsg. von Ludger Scherer und Roland Ißler. Frankfurt/M.: Peter Lang 2014, S. 94. 21 Rank, Bernhard: Zum Beispiel die jugendliterarische Dystopie. Über die Notwendigkeit eines Perspektivenwechsels bei der Analyse eines aktuell erfolgreichen Genres. In: Leseräume 1, 2014, H. 1, S. 6.

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kritischen Medienbewusstseins, da in den »Tributen« die Scheinwelt der audiovisuellen Medien hinterfragt wird: »Durch die impliziten Anspielungen auf mediale Scheinwelten und die subtile Infragestellung von Funktionsmechanismen bei Castingshows und Scripted-Reality-Formaten wird der Jugendbuchmarkt anhand der Tribute von Panem um eine weitere Facette bereichert, sodass sich dieser mit einer solch medienreflexiven Serie eher weiter ausdifferenziert als zu verschwinden droht.«22

Es gibt jedoch auch KJL-Forscher, die einen eher kritischeren Ton in Bezug auf populäre Dystopien, wie z. B. »Die Auserwählten im Labyrinth« (Dashner, 2011), anschlagen. So stellt Maik Nümann heraus: »Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass leider nur wenige Romane anstreben, ihre spannende Handlung mit den lehrreichen Warnpotenzialen der Genres zu kombinieren.«23 Nümann kritisiert also, dass bei einigen Dystopien eher ein atemberaubender Plot als das Verweisen auf Missstände hinsichtlich der Zerstörung der Umwelt oder der Spaltung der Gesellschaft im Vordergrund stehe. Mit Ausnahme von Nümann wird jedoch die Lektüre von Dystopien als Unterrichtsimpulse empfohlen, weil die darin enthaltenen ökologisch-sozialen Themen sehr vielfältig und die Lektüre zum kritischen Hinterfragen von Werten und Normen eines autoritären Regimes geeignet sei, die gesellschaftliche Spaltungen forcieren. Das Phänomen der gesellschaftlichen Spaltung und die Möglichkeiten ihrer Überwindung werden im Folgenden anhand eines Textkorpus von sechs dystopischen Romanen aus den letzten zehn Jahren untersucht, die anhand der Empfehlung durch Fachleute aus dem Bereich der KJL positiv sanktioniert worden sind. In diesen ist die Entzweiung und anschließende Zusammenführung der Gesellschaft zentrales Thema: 1. von Grevet, Yves: »Das Haus«, »Die Insel« und »Die Welt« [die »Méto«-Trilogie] (2012–2014); 2. Crossan, Sarah: »Breathe. Gefangen unter Glas / Flucht nach Sequoia« (2012–2013); 3. Condie, Ally: Atlantia (2014). Um der These dieses Beitrags Rechnung zu tragen, dass Dystopien als Vehikel zur Versöhnung von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten dienen und damit eine Spaltung der Gesellschaft als defizitären Zustand darstellen, den es zu überwinden gilt, werden die oben genannten Dystopien nach folgendem Schema analysiert: a) Etablieren einer Zwei-Klassen-Gesellschaft durch ein HerrscherDiener-System, b) Etablieren einer Zwei-Klassen-Gesellschaft durch räumliche Trennung, und c) Etablieren einer Zwei-Klassen-Gesellschaft durch hierarchisierte Namen bzw. Gruppenbezeichnungen. 22 Stierstorfer, Michael: Brot und Lektüre für Jung und Alt? Zur Frage, ob »Die Tribute von Panem« als polyvalente All-Age-Serie oder als gewaltverherrlichende Trivialliteratur gelesen werden sollten. In: JuLit 45, 2020, H. 1, S. 42f. 23 Nümann, Maik: Aktuelle dystopische Literatur. In: kjl&m 64, 2012, H. 3, S. 63.

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Beginnen werden soll mit der »Méto«-Trilogie aus Frankreich von Yves Grevet: Der erste Band dieser Bestsellerserie wurde als Jugendbuch des Monats der deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur (05/2012) prämiert, wurde 2013 für den »Deutschen Jugendliteraturpreis« in der Sparte Jugendbuch nominiert und hat die Auszeichnung »Luchs« der »Zeit« und Radio Bremen erhalten; auch Tageszeitungen wie die »Süddeutsche Zeitung«, die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« und »Le Figaro« oder öffentlich-rechtliche Rundfunksender wie der NDR äußerten sich mit überschwänglichem Lob über die Trilogie.24 In aller Kürze wäre ihr Inhalt unter der Fokussierung des Themas der Mehrklassengesellschaft zusammenzufassen: Méto lebt im ersten Band als Waisenjunge mit vielen anderen in einem Haus zusammen, in dem sehr strenge, ja drakonische Regeln herrschen. Der Leiter des Waisenhauses namens Jovis und dessen Aufseher, die Caesaren genannt werden, unterdrücken die Kinder. Eines Tages hat Méto den Drill satt und organisiert mit Rebellen einen gelungenen Aufstand. Im zweiten Band »Die Insel« schließen sich Méto und die Rebellen den geflohenen ehemaligen Dienern des Waisenhauses auf der Insel an, die jedoch Méto und seinen Freunden mit großem Misstrauen begegnen. Nach einer Intrige beim Inch, einem Ballspiel, um die Freilassung seines Freundes Marcus findet sich Méto als Gefangener im Waisenhaus wieder. Im dritten Band schafft es Méto durch freie Wahlen und Erziehung zu Demokratie als Vorsteher einer Partei, die Gesellschaft zu verändern.25 In dem Haus herrscht ein Mehrklassensystem, in dem die Caesaren als drakonische Aufseher über die Kinder die Oberhand haben und einen strikten Takt des Alltags vorgeben. Zudem teilen sie die Waisenjungen nach ihrer körperlich harten Ausbildung in Soldaten und Haussklaven ein und verstärken somit die gesellschaftliche Spaltung: [Méto macht sich nach seiner heimlichen Erkundungstour durch das Waisenhaus Gedanken:] »Denn jetzt verstehe ich, was zur Wahl steht: Ich kann Monster-Soldat oder Sklave werden. Ich kann leiden, weil ich umgeformt werde, oder ich kann mein restliches Leben lang leiden, weil ich mich gegen das Leid entschieden habe. Ich höre, wie sich die Tür öffnet, halte die Augen aber geschlossen. Cäsar 3 ist zurück und schüttelt mich heftig.« (Das Haus, 131)

In der Trilogie wird also ein gewalttätiges Regime etabliert, das Individualität nicht respektiert und in seinem Umfeld entweder entmündigte und entrechtete Diener als Haussklaven nach römischem Vorbild oder Soldaten als willenlose Kriegsmaschinen instrumentalisiert. Auch räumlich gesehen manifestiert sich 24 (letzter Zugriff: 01. 08. 2020). 25 Grevet, Yves: »Das Haus«, »Die Insel« und »Die Welt«. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. München: dtv 2012–2014.

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die Zwei-Klassen-Gesellschaft durch eine Spaltung des Hauses in einen Wohnbereich und einen Bedienstetenbereich, wie dies im Viktorianischen Zeitalter üblich war. Auf diese Weise bleibt den Waisenkindern unbekannt, was nach dem plötzlichen Verschwinden der zu großen Kinder und Jugendlichen mit diesen passiert. Beide Bereiche sind nahezu parallel aufgebaut und mit Geheimgängen verbunden, die zum Beispiel die Zwillinge Romulus und Remus als langjährige Waisenjungen und Söhne des Leiters Jovis kennen: »Das Haus besteht aus zwei getrennten und voneinander unabhängigen Bereichen: Auf der einen Seite leben die Kinder und die Caesaren, auf der anderen Seite die Soldaten und Diener. Diese beiden Zonen sind im Haus genau gleich aufgebaut; mit Schlafsälen, Speisesälen, Turnhallen, Gängen und so weiter. Einige Zimmer verbinden die zwei Bereiche miteinander. Sie nennen sie die Geheimgänge. Dazu gehören zum Beispiel der Wachraum, der Kühlraum und unsere Schlafzelle.« (Das Haus, 166f.)

Diese Einteilung dient vor allem der Machtausübung von Jovis und den Caesaren, die auf diese Weise vor den Waisenkindern deren Einteilung in »Kriegsuntaugliche«, die für den Haushalt zuständig sind, und »Kämpfer«, die als deformierte Krieger dienen, verbergen. Die hierarchische Spaltung der Gesellschaft findet auch in römischen bzw. griechischen Namen ihren Ausdruck. Diese teilen den Waisenjungen die Machthaber Jovis, der sich selbst den römischen Namen für den Gottvater gegeben hat, und Mars zu, der sich nach dem römischen Gott des Krieges benannt hat. Letzterer lässt sich in der Öffentlichkeit aber Marc Aurel, also mit dem Namen des sog. Philosophenkaisers rufen und nennen, damit seine kriegerischen Absichten, die er mit diesem Namen verschleiert, verborgen bleiben. Denn Jovis und Mars kennen sich seit der gemeinsamen Schulzeit und schwärmen noch immer für den römischen Imperialismus, der ihnen offensichtlich aus dem Latein- und Griechischunterricht vertraut ist. So möchten sie mithilfe der Kinder als Insassen ein modernes Rom mit neoimperialem Gedankengut gründen: [Mars zu Jovis in einem Brief]: »Ich finde es wunderbar, dass du eine Art ›neues Rom‹ um die Kinder herum aufbaust. Wie haben wir doch damals in unserer gemeinsamen Schulzeit von dieser lateinischen Welt geschwärmt. Wir gaben uns sogar lateinische Vornamen, die du mutigerweise noch heute benutzt. Du warst der Göttervater Jovis, ich der Kriegsgott Mars.« (Die Welt, 262)

Diese lateinische Namensgebung spiegelt sich auch in den Namen der Söhne des Jovis wider: Sie werden Romulus und Remus nach dem Vorbild der berühmten Zwillinge aus dem römischen Gründungsmythos genannt, über den unter anderem Livius erzählt. Im römischen Mythos hingegen sind die Zwillinge die Söhne des Kriegsgottes Mars und der Vestalin Rhea Silvia. Wie in der Sage haben sie zwar aufgrund der Abstammung eine hohe hierarchische Stellung inne, aber keine leibliche Mutter. In der Sage wurden sie der Mutter entrissen, weil diese als

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Vestalin keine Kinder bekommen und aufziehen darf. Auch bei Grevet ist die Mutter von Romulus und Remus nicht mehr zugegen, um diese zu erziehen. Sie findet in der Trilogie kaum eine Erwähnung. Zur Reetablierung einer Art postmodernen Kaiserzeit setzen die Leiter der Waisenhäuser, Jovis und Mars, mehrere durchnummerierte Caesaren als Aufseher ein. Diese können autoritär über Leib und Leben der Kinder verfügen, diese nach beliebigen Regeln züchtigen und sogar für längere Zeit in einen Kühlraum einsperren (vgl. Das Haus, 8ff.). Das Phänomen der Waisenhäuser wird im dritten Band folgendermaßen erklärt: Jedes überschüssige Kind, das im Zuge der Ein-Kind-Familienpolitik, die nach der Zerstörung der Umwelt aufgrund eines Atomkriegs beschlossen wurde, ins Waisenhaus kommt, erhält einen neuen römischen Namen. Darüber hinaus wurde im Vorfeld deren Erinnerungsvermögen ausgelöscht. Folgende römische Namen finden sich unter anderem in der Trilogie: Crassus, Quintus, Rufus, Claudius, Marcus, Optimus, Numerius, Mamercus, Decimus, Titus, Tiberius, Kaeso, Méto. Méto sticht mit seinem Namen etwas heraus, da es sich um einen weniger gebräuchlichen römischen bzw. eigentlich altgriechischen Namen handelt. Dieser stammt wohl von dem gleichnamigen griechischen Astronomen aus der Antike (5. Jhd. v. Chr.), der die Zyklen von Sonne und Mond beobachtet hat.26 Dieser sprechende Name eines Denkers verweist auf die überdurchschnittliche Klugheit des Jungen Méto. An all diesen Beispielen für hierarchisierte Namen wird offensichtlich, dass die Konstruktion des Plots eine Spaltung der Gesellschaft manifestiert und als scheinbar unüberwindbar inszeniert, wie auch Byn konstatiert: »Kein Wunder, denn das System hat den Jungen die eigene Denkfähigkeit erfolgreich aberzogen und hält sie mit seiner keinen Widerspruch duldenden Ideologie, belohntem Denunziantentum, Schlafmitteln und kraftzehrendem Sport gefügig. So funktionieren von jeher Diktaturen. In einer nüchternen, klaren und scheinbar emotionslosen Sprache lässt Grevet seinen Méto Ereignisse und Gedanken schildern.«27

Erst am Ende der Trilogie wird diese Spaltung durch Métos Intelligenz überwunden. Durch eine Partie Inch, die die Verfechter der Demokratie gewinnen, wird das System der Tyrannei schließlich nach vielen Opfern scheinbar friedlich gestürzt (vgl. Die Welt, 290ff.). Auch andere Drahtzieher und brutale Revolutionäre werden verbannt, und die unterdrückten Diener erhalten die gleichen Rechte wie die restliche Bevölkerung. Mithilfe des Mädchens Caelina kann Méto 26 Vgl. Kaletsch, Hans: Artikel Meton von Athen. Lexikon der Alten Welt. Hrsg. von Carl Andresen et al. Augsburg: Weltbild 1994. Bd. 2, Sp. 1950f. 27 Byn. Heike: Rezension zu »Méto. Das Haus«. (letzter Zugriff: 05. 08. 2020). Vgl. hierzu auch die drei weiteren zielführenden Rezensionen von Imke Voigtländer zur »Méto«-Trilogie in ebd.

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nach dem Tod des Jovis auch die Waisenhäuser für Mädchen mit demokratischer Gesinnung versehen. Am Ende lernt er sogar seinen Vater kennen, der als eine Art Koordinator das Leben der Menschen in den nach Atomkriegen verseuchten Gebieten sicherstellt. Auch eine Begegnung mit der Mutter Agrippina wird ihm in Aussicht gestellt. Diese ist wohl nach dem Vorbild der gleichnamigen Kaiserin und Mutter von Kaiser Nero benannt, um die besondere Abstammung von Méto zu betonen, dessen Großvater dieses System wie ein römischer Kaiser mitinitiiert hat. Am Ende offenbart Méto seinen utopischen Plan über die Zukunft dieser einst empathielosen Einrichtungen für abgeschobene Kinder: »In den ehemaligen Häusern von Jovis lassen wir solidarische, gleichberechtigte Menschen aufwachsen, die ihre Welt eines Tages verändern werden« (Die Welt, 327). Es stellt sich natürlich angesichts dieses Traumes von einer besseren Gesellschaft mit Blick auf die vorangegangenen, von Misstrauen und Verrat geprägten Ereignisse tatsächlich die Frage, ob ein derart idealistisches System zu einer solchen zum Großteil empathielosen und durch diverse Atomkriege degenerierten Gesellschaft passt. Dennoch ist dieses fast schon zu utopische Ende wohl auch als eine Art Sehnsucht nach einer besseren Welt zu interpretieren. Zudem soll es offensichtlich Rezipienten Mut machen, dass es sich auch in einer sehr aussichtslosen Lage lohnt, für die Demokratie zu kämpfen. Vor allem aber erweist sich die Kritik an autoritären Systemen durchaus als Warnung vor einer schlechteren Welt, wie auch Kliewer konstatiert, die bemerkt, dass die personale Erzählperspektive aus Métos Sicht das beklemmende Szenario noch verschärft. In diesem Kontext verweist sie vor allem auf die Bezugnahmen des grausamen Systems der Waisenhäuser auf den Nationalsozialismus und Stalinismus: »Grevet beschreibt dieses totalitäre System mit klaren Anspielungen auf den Nationalsozialismus wie den Stalinismus mit extrem kurzen, staccatohaften Sätzen. Alles wird aus Métos Perspektive erzählt, der keine Zeit hat für lange Beschreibungen, der keine Vokabeln für große Erklärungen kennt, der keine Emotionen hat für Bewertungen dessen, was er sieht.«28

In Sarah Crossans Zweiteiler »Breathe. Gefangen unter Glas« sowie »Flucht nach Sequoia« bleibt das System einer Zwei- bzw. Mehrklassengesellschaft nicht nur wie bei »Méto« auf ein hausinternes Regiment beschränkt, sondern ist auf eine ganze Stadt namens Sequoia übertragen. Auch diese beiden dystopischen Romane haben Kritiker und Fachkundige wohlwollend aufgenommen. So urteilt neben vielen anderen positiven Pressestimmen Alina Juravel von der »Frankenpost« über den Zweiteiler, in dem sie eine gelungene Kombination aus Spannung und Kritik an gesellschaftlichen Entwicklungen sieht: »Die Autorin verbindet durchgehend Spannung mit Gesellschaftskritik und regt den Leser 28 Kliewer, Das Heute im Gestern. 2014, S. 90.

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somit zum Nachdenken an.«29 Betrachtet man den Inhalt des Zweiteilers, so erschließt sich sofort eine Etablierung von gesellschaftlichen Oppositionen als zentrales Thema: Im ersten Band errichtet nach der völligen Zerstörung der Umwelt durch Ressourcenabbau und Abholzung der Wälder, der »Switch« genannt wird, die von einer Elite geführte Organisation Breathe eine Kuppel über der Stadt Sequoia, die in drei Bereiche mit, je nach sozialem Status, einer sehr unterschiedlichen Lebensqualität untergliedert ist. Außerhalb der Kuppel befindet sich ein angeblich unbewohnbares Ödland. Die Menschen sind in Premium-Bürger, Seconds und Rebellen – je nach Nützlichkeit oder Schädlichkeit für das Regime – gruppiert. Eines Tages schließt sich der Premium-Bürger Quinn zusammen mit der Second Bea, die zugleich sein loveinterest ist, der Rebellin Alina an. Im zweiten Band erleidet nach unzähligen Kämpfen das Regime um Präsident Cain, der auch Vorsteher von »Breathe« ist, eine definitive Niederlage, wobei Alina durch einen Märtyrertod die Zerstörungswut der Rebellin Vanya, die eigene Milizen um sich schart, in Zaum hält und viele Tote verhindert. Am Ende sind alle Gebiete wieder bewohnbar, indem nach und nach Bäume gepflanzt werden.30 In Crossans Zweiteiler etabliert eine Reglementierung des Sauerstoffverbrauchs eine Zwei-Klassengesellschaft, indem zum Beispiel die Seconds wegen des höheren Verbrauchs nicht tanzen dürfen oder ihre Babys im Kinderbett fixieren müssen, damit der limitierte Sauerstoff ausreicht: »Die Wohnungen sind komplett luftdicht abgeschlossen und mit Sauerstoffmessgeräten ausgestattet, sodass das Ministerium den Sauerstoffverbrauch der Bewohner genauestens nachvollziehen kann. Muss mehr Sauerstoff in eine Wohnung gepumpt werden, als durch die Steuerzahlung abgedeckt ist, hat man nachzuzahlen.« (Gefangen unter Glas, 29f.)

Im ersten Band kontrolliert also die Regierung die Menge an Sauerstoff jeden Haushalts und schränkt somit menschliche Grundrechte wie Atmung und Bewegungsfreiheit ein. Diese Trennung von Premium- und Zweitklass- bzw. sogar Drittklassbürgern erfolgt auch auf räumlicher Ebene: So findet sich in Zone 1 eine schöne Gegend mit Villen und großzügigen Einfamilienhäusern, in Zone 2 tauchen dichter stehende Mehrfamilienhäuser auf und in Zone 3 stehen riesige Wohnblöcke, die von düsteren Wegen durchzogen sind: »Übergang vom Areal der Privilegierten zur Zone 2 doch unverkennbar: Statt von verspiegelten Gebäuden und schmucken Einfamilienhäusern sind wir auf einmal von

29 Juravel, Alina: Rezension zu »Breathe. Gefangen unter Glas«. (letzter Zugriff: 02. 08. 2020). 30 Vgl. Crossan, Sarah: »Breathe. Gefangen unter Glas / Flucht nach Sequoia«. Aus dem Englischen von Birgit Niehaus. München: dtv 2012–2013.

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gedrungenen, wesentlich dichter stehenden Wohnblocks umgeben.« (Gefangen unter Glas, 17) »Kurz darauf erreichen wir Zone 3. Wohntürme, die für jeweils tausend Bewohner konzipiert sind, ragen in die gläserne Kuppel auf, und unten in den engen Gassen ist es stockfinster.« (Gefangen unter Glas, 18)

Diese unterschiedliche Struktur und gesellschaftsstratigraphische Verteilung der Behausungen findet sich auch in vielen globalen Großstädten wie New York, Kapstadt, Paris und auch Berlin wieder, so dass sich diese Art der Mehrklassengesellschaft auch in der Gegenwart gewissermaßen wiederfindet, in der der Wohnraum in (Groß-)Städten tendenziell immer weniger bezahlbar wird. Das Kastensystem von Sequoia spiegelt sich also im Wohnraum wider, wobei ein Aufstieg nur durch Heirat möglich ist. Grundsätzlich gilt die Regel, je wichtiger ein Bürger für die Firma »Breathe« ist, die ein Sauerstoffmonopol besitzt, desto privilegierter ist er bzw. sie. Deshalb bewohnt Quinn als Sohn eines hohen Funktionärs und Direktors bei Breathe auch eine edle Villa und gehört zu den Premium-Bürgern (vgl. Gefangen unter Glas, 88–93). Während bei »Méto« die hierarchischen Bezeichnungen auf dem System einer römischen Tyrannei basieren und auf die einzelnen Waisenhäuser beschränkt bleiben, sind in Sequoia Begriffe für mehrklassige Bürger weitverbreitet: So berichtet Second Bea über ihren Ausflug mit Quinn ins Ödland: »An der Grenze gibt es fünf verschiedene Warteschlangen: vier kurze für Premiums und eine zehnmal so lange für Seconds« (Gefangen unter Glas, 84). Neben Premium-Bürgern und Seconds, die nicht selten als Angestellte auf mittlerer Ebene oder Handwerker für Breathe arbeiten, werden Systemgegner jeder Art sofort als Terroristen – wie dies typisch für Diktaturen ist – abgestempelt, zumal sie bereits durch die Bezeichnung als »Ratten« (vgl. Gefangen unter Glas, 69–84) diskriminiert sind. Auch wird zum Beispiel Bea als Second nicht wirklich ernst genommen und lächerlich gemacht, indem sie der Präsident als »Baumumarmerin« (Gefangen unter Glas, 69) bezeichnet, nur weil sie Bäume schätzt, die als natürliche Sauerstofflieferanten die Feinde des Konzerns Breathe darstellen, insofern dieser seinen Sauerstoff teuer verkaufen und für die breite Masse zur Kontrolle rationieren möchte. Bald stellt sich jedoch Folgendes heraus: Breathe vergiftet absichtlich neu aufkeimende Bäume außerhalb von Sequoia, nämlich in dem angeblich unbewohnbaren Ödland. Dort halten sich jedoch seit Langem Rebellen auf, die gelernt haben, mit weniger Sauerstoff auszukommen. Diese pflanzen kontinuierlich heimlich neue Bäume. Am Ende wird das Zwei-Klassen-System dadurch beseitigt, dass die Rebellen unter der Führung von Vanya den Kontrollturm von Breathe und damit auch das Zentrum der Stadt in die Luft sprengen wollen. Am Ende ist das Breathe-Regime durch den mutigen Einsatz von Alina und die Beseitigung des Präsidenten am Ende, es gibt keine Mehrklassengesellschaft mehr und die Res-

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sourcen werden wieder fair aufgeteilt, wie Bea ganz zum Schluss feststellt: »Die Elemente gehören endlich uns allen. Und das genügt erst mal« (Flucht nach Sequoia, 368). Trotz dieses utopischen Endes bleiben auch die Verluste durch den Aufstand wie der Tod der mutigen Alina, die alle Bewohner vor der Explosion der Bombe gerettet hat, nicht unbeachtet. Auch hebt die Erzählstimme hervor, dass für die Errichtung einer neuen und gerechteren Zivilisation noch viel getan werden muss, wodurch die Zukunft von Sequoia auch teilweise offen bleibt, was dem Ende mehr Glaubwürdigkeit verleiht, als es ein vorschnelles Happy End vermitteln könnte. Diese realistische Inszenierung eines Klassenkampfes lobt auch Helmuth Schönauer, der indirekt auf die große Übermacht von gegenwärtigen Riesenkonzernen wie Nestlé verweist: »Breathe agiert als weltweiter Konzern, die Widerstandskämpfer werden Ratten genannt, die paar Premium-Clans schanzen sich den letzten Sauerstoff zu. Mit großen Worten und kreativen Ideen ist diesem Wirtschaftsmonster nicht beizukommen. Eine Schlacht voller Realität beendet die aus den Fugen geratene Ordnung. – Ein ziemlich pessimistischer Ausblick auf eine Welt, die mit Smartphones nicht mehr zu handeln ist, weil der pure Sauerstoff fehlt.«31

Die Dystopie »Atlantia«32 von Ally Condie überträgt schließlich das Prinzip einer Zwei-Klassen-Gesellschaft auf die ganze Welt, wodurch die negativen Auswirkungen auf Unterprivilegierte noch breiter gefächert sind als in den oben angeführten anti-utopischen Serien. In »Atlantia« geht es um folgendes postapokalyptisches Szenario: Die Welt ist nach mehrfachen Kriegen und Umweltzerstörungen in eine Ober- und in eine Unterwasserwelt unterteilt. Die Oberwelt beutet die Unterwasserwelt und deren Ressourcen aus. Der Hohepriester Nevio herrscht über die Unterwasserstadt Atlantia. Er exploitiert die Arbeitskraft der Bewohner von Atlantia ohne deren Wissen, um sich selbst zu bereichern. Eines Tages wird die Protagonistin Rio, die in Wahrheit eine Sirene ist, an die Oberwelt geschickt, damit sie durch ihren manipulativen Gesang mehr Menschen in die angeblich schönen Unterwasserstädte lockt. Am Ende findet Rio ihre verschollen geglaubte Zwillingsschwester Bay wieder und kann Nevio stürzen, so dass es keine Trennung in Ober- und Unterwelt mehr gibt. Auch die Kritik nahm das Werk der »Cassia & Ky«-Bestseller-Autorin vorwiegend wohlwollend auf: »Condie brings tremendous depth to her world-building, finding terrific details in a culture created both to help people survive, and to perhaps keep them under

31 Schönauer, Helmuth: Rezension zu »Breathe. Gefangen unter Glas«. (letzter Zugriff: 05. 08. 2020). 32 Condie, Ally: Atlantia. Aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer. Frankfurt/Main: S. Fischer 2014 [im Folgenden unter der Sigle »At« mit Seitenzahl im Text].

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control.«33 Scott Renshaw hebt also besonders hervor, dass Condie auf innovative Art das Thema einer Regierung behandelt habe, die der Bevölkerung zwar beim Überlebenskampf hilft, diese aber zugleich kontrolliert. Auch Sylvia Mucke zeigt sich begeistert vom Konzept des fantastischen Weltenkonstrukts: »Es ist eine höchst faszinierende Welt, die Condie hier erschaffen hat: Eine eigene Mythologie, herausgebildet im Laufe langer Jahre völliger Abgeschiedenheit von der Oberfläche, bestimmt den Alltag bis ins Detail. Teil des atmosphärisch dichten Gesamtpakets: Sirenen, einzelne Menschen, die ihre Mitmenschen manipulieren und kontrollieren können. Abtauchen und genießen!«34 Mucke weist zudem auf die gelungene Zeichnung der intrigant-ausbeuterischen Antagonisten hin. Gerade dadurch verfestigt sich ein Zwei-Klassen-System, indem die Oberwelt die Unterwasserstädte meist durch eine Art Statthalter ausbeutet und diese, ähnlich zu den Distrikten in der »Tribute von Panem«-Serie, als Ressourcenlieferanten aller Art funktionalisiert: »Die Luft war verschmutzt, und die Menschen konnten Oben nicht länger überleben. Um die Menschen zu retten, bauten sie Atlantia. […] Wir arbeiten hart« (Atlantia, 9). Den Städten wird jedoch von der herrschenden Priester-Elite genau das Gegenteil weisgemacht. Diese gaukelt ihnen vor, dass die Oberwelt nahezu unbewohnbar geworden sei. Die Unterwasserstädte weisen nämlich diverse Minen auf, mit deren Hilfe sie u. a. Kohle an die Oberwelt liefern; und wenn die Unterwasserstädte über keine Ressourcen mehr verfügen, werden sie von skrupellosen Machthabern der Oberwelt sogar geflutet (vgl. Atlantia, 320). Die Zwei-Klassen-Gesellschaft offenbart sich auch darin, dass eine Trennung in Ober- und Unterwelt als gegensätzliche semantische Oppositionen vorliegt: »Wir sind nur ein Außenposten, einer von vielen rings um die großen Meeresinseln. Die Städte Unten waren einst Orte, wo die Privilegierten lebten und arbeiteten, doch inzwischen sind die Rollen vertauscht. Die meisten Städte wurden geflutet. Unsere Minen waren länger ertragreich als alle anderen« (Atlantia, 320).

Die räumliche Einschränkung macht Rio seit Kindesbeinen an zu schaffen: »Als Kind fühlte ich mich oft gefangen von Zwängen meiner Stimme und den Grenzen meiner Stadt« (Atlantia, 395). Denn die Bewohner Atlantias können das Unterwassersetting nicht verlassen, mit Ausnahme des Machthabers und Oberpriesters Nevio und der Sirenen35, die Nevio für seine Dienste einspannen möchte, damit 33 Renshaw, Scott: Atlantia, The Lost Book of Mormon, Beautiful You. (letzter Zugriff: 02. 08. 2020). 34 Mucke, Sylvia: Fantastische Schmöker für laue Sommernächte. In: Eselsohr 34, 2015, H. 6, S. 23. 35 Zur genauen Funktionalisierung des Sirenen- und des Atlantis-Mythos vgl. Stierstorfer, Michael: Antike Mythen in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Unsterbliche Götter- und Heldengeschichten? Frankfurt/M.: Peter Lang 2017, S. 121f., 369.

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sie die Menschen mit ihrem Gesang willenlos machen. Durch die Reglementierung der räumlichen Trennung kann er die Unterwasserstädte ohne Wissen der Ober- bzw. Unterweltsbewohner ausbeuten und schließlich fluten lassen, wenn sie keine Leistung mehr erbringen. Mit dieser räumlichen Trennung geht auch eine unterschiedliche Hierarchisierung einher: Das System um Nevio und einen eigennützigen Rat unterscheidet zwischen den Menschen im Oben und den Menschen im Unten. Den Menschen im Oben wird die Lüge aufgetischt, dass es den Menschen im Unten besser gehe und sie von diesen ausgenutzt würden, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Deswegen lässt der Rat regelmäßig Unterwasserstädte fluten, damit die Menschen im Oben angeblich freier leben können. Der Rat und der Oberpriester Nevio unterdrücken in Wirklichkeit die Menschen im Unten, indem sie sog. Friedenswächter in die Welt im Unten schicken, die darauf aufpassen, dass niemand ohne deren Erlaubnis nach oben gelangt. Wer einmal als angebliches Opfer für die Gemeinschaft im Unten an die Oberwelt gelangt ist, kann niemals wieder nach Hause zurückkehren. Auf diese Weise verhindert das System, dass die Lüge des Rates entlarvt wird. Menschen, die im Oben ankommen, werden zusätzlich durch den Sirenengesang verwirrt, damit sie nichts über das Leben in der Unterwelt erzählen können. Am Ende kann jedoch die Sirene Rio, indem sie all ihren Mut zusammennimmt, Nevio besiegen, dadurch dass sie ihn mit ihrem schrillen Gesang machtlos macht, worauf es zur Öffnung der Grenzen kommt und beide Welten einsehen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Somit werden die Vorurteile des jeweils anderen Volkes getilgt und beide leben von nun an in Frieden zusammen, wie Rio konstatiert: »Wir sind alle menschlich, Oben und Unten. Sogar die Sirenen. Sie sind anders, aber ihre Andersartigkeit solltet ihr nicht zum Tode verurteilen. Sie könnten euch helfen, Leben zu retten. Eures und unseres […] Wir werden uns um die Bewohner der jeweils anderen Welt genauso kümmern und sorgen müssen wie um die Mitbürger unserer eigenen.« (Atlantia, 380f.)

Durch ihren Appell für Alteritätstoleranz und durch ihre Hinweise auf die gemeinsame Menschlichkeit kommt die Spaltung schließlich an ihr Ende. Auf diese sich anbietende Lesart verweist auch Reyer, die in dem Plot zugleich eine naive Art der Gesellschaftskritik erkennt: »Der Plot des ausufernden Romans besteht im Wesentlichen aus der Auseinandersetzung zwischen oben und unten, Atlantis und Oberwasser, in deren Mittelpunkt die Heldin steht. Intrige und Mord, Freundschaft und Liebe sind die Ingredienzien, mit denen Ally Condie den Text würzt, am Ende kommt es nach heftigen Verwicklungen zur Versöhnung der beiden Welten. Die Botschaft ist einfach und schön: Anderssein darf

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kein Grund sein, einander nicht zu begegnen. Handelt es sich dabei um Gesellschaftskritik, so ist sie auf eine archetypische und simple Art und Weise thematisiert.«36

Auch für aktuelle politische Entwicklungen ist Alteritätstoleranz ein Schlüssel gegen eine Entzweiung der Gesellschaft. Eine solche können Heranwachsende in diesem Roman bereits am Beispiel der Sirenen und der Unterwasserwelt erlernen, auch wenn der Plot um diese beiden Welten etwas verworren und nicht immer ganz logisch nachvollziehbar erscheint. Interessant ist in diesem Kontext, dass auch die Buchcover ikonographisch auf eine Spaltung der Gesellschaft anhand des Mikrokosmos der Protagonisten verweisen, um diese für die Leser konkreter nachvollziehbar zu gestalten. So findet sich auf den deutschen Covern der »Méto«-Trilogie offensichtlich jeweils der titelgebende Protagonist Méto in einem »Trikot« des Ballspiels »Inch«. Ihm sind auf jedem Cover in Alltagskleidung angezogene Menschen gegenübergestellt. So ist der Protagonist in Band 1 anderen Jungen des Waisenhauses kontrastiert, die den Diskurs des Waisenhauses mit geschlossenen Augen nicht durchschauen, in Band 2 Figuren, die auf der Insel wohnen, und in Band 3 Bewohnern der postapokalyptischen Welt. Auf den beiden sehr ähnlichen Covern des »Breathe«-Zweiteilers sind offensichtlich Quinn als Premium-Bürger und Bea als Second zu sehen, deren Hände sich sehnsuchtsvoll berühren, jedoch durch eine Art Glasscheibe, die offensichtlich die Kuppel von »Breathe« symbolisiert, voneinander getrennt sind. Das Bild ist zweigeteilt. Jeder Teil hat seine eigene Farbe. So wird in Band 1 blau und hellbraun und in Band 2 grün und rotbraun kontrastiert. Offensichtlich steht Grün bzw. Blau für die priviligierte Welt mit Pflanzen und Sauerstoff und die Farbe Braun für den ökologisch zerstörten Bereich. Zuletzt ist noch auf das amerikanische Cover von »Atlantia« einzugehen, auf dem die Gesichter zweier sich sehr ähnlich sehender Mädchen abgebildet sind, wobei das eine einen grünen und das andere einen lila-blauen Lidschatten trägt. Diese Gestaltung verweist offensichtlich ikonographisch auf die Zwillinge Rio und Bay, von denen die eine an der Ober- und die andere in der Unterwasserwelt lebt. Womöglich steht die Farbe Grün für die Ober- und die Farbe Lila-Blau für die Unterwasserwelt. Auf diese Weise gehen die Cover aller Dystopien auf die gesellschaftliche Spaltung ein, die jedoch am Ende überwunden wird. Auf diese Tilgung der Grenze zwischen beiden Räumen verweisen sie jedoch nicht, um dem Geschehen nicht die Spannung zu nehmen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die besprochenen Dystopien gesellschaftlich vor negativen Entwicklungen wie einer Spaltung der Gesellschaft nicht nur warnen, sondern auch Lösungsansätze liefern, wie sie überwunden werden kann. In diesem Kontext stellen die besprochenen Werke anhand rebellischer 36 Reyer, Sophie: Wie ein Ei dem anderen: Doppelgänger im Vergleich. In: 1000 und 1 Buch 16, 2015, H. 3, S. 51.

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Individualisten wie Méto, Bea, Alina und Quinn und Rio womöglich Anregungen für jugendliche Rezipienten zum kritischen Hinterfragen von politischen Strukturen durch die Identifikation mit den kritisch denkenden Protagonisten bereit. Denn diese haben ein stark ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein und lassen sich von den gefährlichen Lügen und Manipulationsversuchen der tyrannischen Regimes, in denen fast nur Eliten profitieren, nicht unterdrücken. Des Weiteren eröffnen die anti-utopischen Werke die Lesart zur Anwendung von demokratischem Ungehorsam gegenüber Tyranneien. Sie ermutigen in gewisser Weise zur Auflehnung gegen Unrechtssysteme, weil deren Protagonisten dies auch wagen und am Ende dadurch erfolgreich demokratische Ordnungen wiederherstellen bzw. diese in Aussicht stellen: Hierbei werden politisch-soziale Systeme, die mit permanenter Überwachung, drakonischen Bestrafungen, Diskriminierung von Andersdenkenden und Ausbeutung der Arbeitskraft operieren, abgestraft. Dadurch und durch das Überwinden von Vorurteilen durch das (persönliche) Auseinandersetzen mit der angeblichen Gegenseite lassen sich gespaltene Gesellschaften wieder einen. Somit siegen die pluralistisch-liberalen Werte der westlichen Zivilisation über eine Militärdiktatur wie in »Méto«, über Lobbyismus bzw. eine Firmendiktatur wie in »Breathe« oder über eine Diktatur religiöser Eliten, die ihre Macht auch auf weltliche Bereiche ausdehnen, wie in »Atlantia«. Zudem werden erstarrte und verkrustete Hierarchien durch utopische Gesellschaftsentwürfe überwunden: Es werden demokratische Strukturen durch freie Wahlen und Sportduelle (»Méto«), durch politische Reden mit einem Aufruf zur Nächstenliebe (»Atlantia«) und durch einen blutigen Aufstand gegen das Regime bzw. einzelne Machthaber (»Breathe«) etabliert, die sich nur durch Gewalt als ultima ratio von ihrer Macht verdrängen lassen, wie eine Rebellin im zweiten Teil von »Breathe« konstatiert: »Wir töten nur, wenn’s nicht anders geht« (Flucht nach Sequoia, 341). Am Ende dieser (un-)blutigen Aufstände steht jedoch stets die Etablierung einer gerechten Demokratie, die die Ressourcen fair unter allen Bevölkerungsgruppen verteilt und eine Zwei-Klassen-Gesellschaft abschafft: Es werden letztlich also demokratische Werte trotz Tyrannei-Motivik und expliziter Schilderung von Gewalt vermittelt. Denn Tyrannei und Gewalt sind getilgt, sobald die Demokratie wiederhergestellt worden ist. Auch Kliewer erkennt das kritische Hinterfragen von autoritären Systemen am Beispiel der zuvor thematisierten »Méto«-Trilogie. In diesem Kontext verweist sie besonders auf die Schärfung des Demokratiebewusstseins durch die Lektüre solcher Werke: »Auch wenn sie rein fiktive Gesellschaften thematisiert wie etwa in Méto von Yves Grevet, fördert dies die historische Bildung des Lesers. Er vergleicht das Gelesene mit historischen totalitären Gesellschaften, er reflektiert seine eigene politische Beteiligung

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und die Notwendigkeit von Demokratie und Freiheit, entwickelt also in besonderer Weise ein moralisches Bewusstsein.«37

Vor allem also durch eine Reflexion ihrer ebenso spannenden wie problemorientierten Lektüre sollen die Leserinnen und Leser die Vorzüge einer liberalen demokratischen Gesellschaftsordnung erkennen. Am Ende bleibt jedoch die berechtige Frage, ob der Zweck tatsächlich alle Mittel heiligt, unreflektiert im Raum stehen. Denn gerade im »Breathe«-Zweiteiler, in dem Probleme mit Gewalt als letztmöglichem Mittel gelöst werden, erscheinen die Folgen von Gewalt (und Gegengewalt) nicht hinreichend reflektiert zu sein. Die Themenfrage, ob die behandelten Dystopien zweitklassige Lektüren sind oder Zwei-Klassen-Gesellschaften durchdacht überwinden, lässt sich nicht pauschal beantworten. Am Beispiel der besprochenen Werke kann man jedoch schlussfolgern, dass die besprochenen Dystopien mit ihren genretypischen und adressatenbezogenen literarischen Techniken vielseitige und auch zum Teil friedliche Möglichkeiten zur Überwindung von Spaltungen in der Gesellschaft aufzeigen. Am Beispiel der Kabul-Krise in Afghanistan nach dem Abzug der US-amerikanischen bzw. westlichen Truppen wird zudem deutlich, dass in den besprochenen Dystopien ein gewisser Grad an naivem »Gutmenschentum« steckt, da diktatorisch geführten Gesellschaften offensichtlich nicht ohne Weiteres eine Demokratie und westliche Werte »übergestülpt« werden können – leider. Vielleicht wird sich diese bittere Erkenntnis auch auf eine Reflexion von »Happy Ends« in künftigen jugendliterarischen Dystopien auswirken.

37 Kliewer, Das Heute im Gestern. 2014, S. 94.

III Literaturkritik und Kinder- und Jugendliteratur

Roswitha Budeus-Budde / Sybil Gräfin Schönfeldt

»Wenn sich die Kunst in den Dienst einer Sache stellt, gewinnen oft weder die eine noch die andere« – Roswitha Budeus-Budde und Sybil Gräfin Schönfeldt im Gespräch

Sybil Gräfin Schönfeldt in ihrer großen Hamburger Altbauwohnung zu treffen bedeutet neben besonderer Gastlichkeit immer faszinierende Gespräche über die europäische Kulturgeschichte. 1928 als Tochter eines österreichischen Reichsgrafen geboren, kam sie nach einem Germanistik- und Kunststudium mit Promotion 1952 in der Presselandschaft in Hamburg an und arbeitete für die ZEIT und das ZEITmagazin. Bald begann sie, Erziehungsratgeber- und Kochbücher zu schreiben. »Knauers großes Babybuch« und das »1 x 1 des guten Tons« wurden Bestseller und nach »Das Kochbuch für die Frau vom dicken Mann« folgten zwanzig weitere Kochbuchtitel. Bis heute schreibt sie ihre kleine Kulturreihe »›Gestern aß ich bei Goethe‹«, »Mit Fontane bei Tisch« oder 2020 das »Kochbuch für meine liebste Freundin«. Roswitha Budeus-Budde: Heute möchte ich mit Ihnen nicht über Kochen oder Benehmen reden. Wie kam es, dass Sie damals in der ZEIT begannen, über Kinderund Jugendliteratur zu schreiben? Sybil Gräfin Schönfeldt: Bei einer Redaktionskonferenz 1956 kam ein Kollege mit der Nachricht, dass die Bundesrepublik gerade einen neuen Kinderbuchpreis ausgeschrieben hatte. »Müssen wir das machen?«, und Paul Hühnerfeld, der Feuilletonchef, antwortete: »Das müssen wir unbedingt, das können wir nicht den Lehrern überlassen.« Und ich, als einzige Frau in der Runde, bekam den Auftrag, mich darum zu kümmern. Dann habe ich mir die 64 Titel der Bestenliste angeschaut. RBB: War es viel Pädagogik? SGS: Keine Pädagogik. Es war absolutes Mittelmaß. Das ist ja ganz klar. In der Nazi-Zeit kam kein vernünftiges Buch nach Deutschland. Wir waren ausgeschlossen aus der internationalen Literatur. Es blieb eben das Mittelmaß oder die Nazi-Bücher, von denen ich immer die Listen sah, aber nie ein Exemplar. Die

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damalige zufällige Jury war gar nicht vorbereitet, gegen Schund und so. Sie sollte den Eltern helfen, diese wichtige und hilfreiche Kinderliteratur in ihr Leben zu kooperieren, von heute, bis in alle Ewigkeit. Ich habe dann kritisch geschrieben, was ich dachte. Eine Woche später kamen zwei Leute in die Zeitung, die wollten mich sprechen: »Ja, wegen dieses Artikels über den Kinderbuchpreis.« »Haben sie einen Morgenstern mitgebracht, oder was?«, fragte ich. »Nein, es ist ein alter Mann und eine junge Frau«, war die Antwort von der Pforte. Der alte Mann war ein Lehrer, die junge Frau Elisabeth Egström, die Leiterin der Kinderbuchabteilung in den Öffentlichen Bücherhallen in Hamburg. »Sie haben ja so recht. Wir wussten ja gar nichts beim ersten Mal. Wie könnten wir es denn anders machen?« RBB: Und so kamen Sie in die Jury? SGS: Und ich blieb bis 1984, auch als Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur. RBB: Jetzt waren Sie mitten in der Szene, wie entwickelten sich die Jugendbuchverlage nach dem Krieg? SGS: Es waren die Jahre der Frauen als Verlagsleiterinnen, bei Dressler, Thienemann, Klopp, Ravensburger, und später dtv junior. Die Männer waren im Krieg geblieben oder verwundet und mussten den Staat wieder aufbauen. Dann kam später Frau Oetinger dazu. Sie war fabelhaft und hat dafür gehungert, dass der Verlag die Astrid Lindgren herausbringen konnte. Die Thienemann-Verlagsleiterin Lotte Weitbrecht war diejenige, die sagte: »Guckt nach Schweden, da erscheint die Literatur, die uns am meisten interessieren wird.« RBB: Wie war denn die Zusammenarbeit? SGS: Es gab einmal im Jahr eine Tagung auf der Insel Mainau, die vom Arbeitskreis für Jugendliteratur arrangiert wurde. Es kamen die Russen, Tschechen, die Polen, die Amerikaner. Es kam manchmal schon jemand aus Afrika. Und wir haben mit den DDR-Autoren so viel zusammengearbeitet wie es möglich war. Hier lernte ich auch Fred Rodrian, den späteren Leiter des Kinderbuchverlages in Berlin kennen. Auf einer Schiffstour auf dem Bodensee – es wurde auch auf den Tagungen viel gefeiert – setzte ich mich neben ihn und er meinte: »Ich bin ein Kommunist«, und ich antwortete: »Ich eine Katholikin.« Wir wurden gute Freunde und ich habe ihn oft in der DDR besucht. Es ist heute noch schade, dass die DDR-Autoren so spät in der westdeutschen Literatur ankamen. RBB: Aber auch die amerikanische Jugendliteratur wurde wichtig.

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SGS: Die gesamte internationale Kinder- und Jugendliteratur hatte schweigend vor der Grenze gewartet. Die Verleger brauchten nur zu gucken, wer gefällt uns denn besser. RBB: Und Sie begannen zu übersetzen. SGS: Paul Hühnerfeld, der neben der Zeitung auch noch für Kinderbuchverlage arbeitete, sollte für den Münchner Obpacher Verlag eine Reihe »Kinderbücher der Weltliteratur« auflegen. Er guckte mich an: »Was sind denn jetzt die Titel der Weltliteratur?« Ich kannte mich aus, hatte »Pu, der Bär« schon als Kind gelesen. Als ich dann nach dem Krieg nach Wien kam und irgendwie Geld verdienen musste, hatte ich das Glück, beim US-Informationszentrum angestellt zu werden und lernte die angelsächsische Kinderliteratur kennen. Und nannte ihm wichtige Titel. »Welchen willst Du zuerst übersetzen? Dann beginnen wir mal mit ›Alice im Wunderland‹«. Ich machte auch gleich einen schrecklichen Fehler. Habe Alice »sitting on the bank on the river« mit »sitzt auf der Bank« und nicht »am Ufer« übersetzt. Das hat keiner gemerkt, irgendwann, zehn Jahre später, lästerte jemand über die schlechte Übersetzung. Es wurden schließlich 120 Bücher, die ich übersetzte, unter ihnen Edith Nesbit, die ich sehr verehrte, Pearl S. Buck und Charles Dickens. RBB: Wie wurde die Kinderliteratur in den deutschen Zeitungen damals beachtet? In der ZEIT konnte ich meine Rezensionen immer unterbringen, wenn Platz war. Frau Bondy, die die Redakteurin für die Kinderliteratur in der Süddeutschen Zeitung war und Rezensionen in der Wochenendbeilage veröffentlichte, rief mich irgendwann mal an und meinte, dass sie immer meine Texte in der ZEIT liest. Ich hatte gerade einen Artikel mit dem Titel »Dichter schreibt auch für Kinder!« verfasst. Dieser Gedanke war neu, es waren ja nur Kinderbuchautoren. Und ab 1969 schrieb ich auch für sie Rezensionen in der SZ. Als von einem Kollegen, der auch beim NDR arbeitete, bei dem ich viele Kinderbuchsendungen machte, die Anregung kam, ob die Kinderbuchverlage nicht mal Werbung machen wollten und Lotte Weitbrecht, Vertreterin der Jugendbuchverlage, meinte: »Das ist ja prima«, schloss sich neben Barbara Bondy auch Arianna Giacchi von der FAZ und Ingeborg Ramsegger, die Frau des Buchhändlers Ramsegger, die manchmal in der WELT schrieb, uns an. Ich habe sie alle immer zum Tee auf der Buchmesse eingeladen. RBB: Wie ging es weiter für Sie in den 1970er Jahren mit der antiautoritären Kinder- und Jugendliteratur?

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SGS: Hans-Joachim Gelberg (Beltz & Gelberg), Hans Frevert (Signal Verlag), Uwe Wandrey (rororo-rotfuchs Verlag) oder Abraham Teuter (Alibaba Verlag) haben genau die richtigen Autoren zum Schreiben gebracht. Die so genannten neuen Linken konnten aber mit mir nichts anfangen und meinten: »Sie sind fürchterlich, man kann Sie nicht festlegen, Sie sind weder links noch rechts.« Nein, ich entscheide, ein Text ist entweder gut oder nicht gut. Mir geht es um Literatur. Wenn es schlecht geschrieben ist, weil jemand einfach auf den Wagen springt, mitfahren will, dann merkst du das ja. Wenn es epigonale Kitschliteratur ist, dann willst du das nicht. Wenn sich die Kunst in den Dienst einer Sache stellt, gewinnen oft weder die eine noch die andere. Aber ich habe mich nicht in die politische Sache eingemischt. Und inzwischen war Mitte der 60er Jahre in einer Zeitungskrise bei der ZEIT und der Zeitschrift Constance mein Honorarvertrag gestrichen worden. Überall verschwanden die Stellen der ›Festen Freien‹. Ich konnte mir eigentlich die Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendliteratur nur leisten, weil ich dann mit dem Kochen und ähnlichem Geld verdiente. RBB: Aber privat wurden Sie angegriffen. SGS: Und was schwierig für mich wurde, die kriegten die Erlaubnis, böse zu sein. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Otfried Preußler haben sie auf diese Weise zum Verstummen gebracht. Er ist gebrochen. Der Umgang mit mir hatte ja nichts mit der Literatur zu tun, da kam ja zum ersten Mal richtige Kinderliteratur, die ich auch schätzte, besonders Karl Friedrich Wächter und das Programm von Hans-Joachim Gelberg. Er hatte ein Mädchenbuch herausgegeben, da schrieb ich ihm: »So müssen Mädchenbücher sein.« Und er schrieb mir zurück: »Sie sind die einzige, die das begriffen hat.« Und dann kam Christine Nöstlinger. RBB: Heute, in der Metoo-Debatte, wird wieder intensiv über Mädchenbücher nachgedacht. SGS: Egal ob der literarische Held ein Junge oder Mädchen ist, der Leser steht immer im Mittelpunkt. Wir haben so viele Moden. Es bleibt immer etwas Gutes übrig und gibt dem Neuen Reiz, wie Sauerteig. Und das bleibt das Spannende in der Literatur. Zu dem Schatz, den die Engländer und Skandinavier uns überlassen, kommt immer wieder ein deutscher Autor dazu. Das ist das Schöne, du kannst dich bei Literatur nicht darauf verlassen, dass du sie kennst. Es wird anders als du denkst … da ist das Buch und da bin ich und sonst nichts … Du bist nie gelangweilt, lernst immer dazu und freust dich, wenn jemand mit seinen Bildern kommt und dir die Welt wieder anders zeigt. Das ist das Wichtigste an Literatur überhaupt.

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RBB: Wie sehen Sie die Zukunft der Kinder- und Jugendliteratur? SGS: Ich bin immer etwas verstört, wenn ich die Verlagskataloge sehe, mit schönen Maiden, wehenden Haaren, Zauberpferden und bösen Hexen, die im Hintergrund lauern. Oder ich die Anfrage bekomme, ob ich eine Geschichte übersetzen will, in der zum Beispiel ein Gnom die Welt rettet, in dem er unentwegt kämpft, ohne Sinn, von Völkermord zu Völkermord. Ich will nicht, dass die Kinder das lesen … Es scheint heute schwerer zu sein, die drei oder vier Bücher aus jedem Verlag zu finden, die es wert sind. Die Literatur, über die wir reden, ist ja nur ein Bruchstück. Höchstens zehn oder zwölf Prozent der gesamten Literatur. Wir reden immer über die elitäre Menge, und die bleibt. Da bin ich voll Dankbarkeit. Es wird immer so weitergehen. Du kannst mit dieser Literatur, wenn du sie in Schulklassen vorstellst, die jungen Zuhörer in einem positiven Maß so überfordern und begeistern wie es die Lehrer nicht schaffen. Sie erleben: Ich bin der, der im Mittelpunkt des Buches steht, egal, ob der Held ein Junge oder ein Mädchen ist.

Carsten Gansel / Roswitha Budeus-Budde

»Aber grundsätzlich: Du musst die Texte lesen!« Ein Gespräch über Kinder- und Jugendliteratur und Literaturkritik

Carsten Gansel: Wenn wir grundsätzlich und richtig theoretisch einsteigen würden, dann könnten wir mit Niklas Luhmann beginnen. »Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien«, so lautet der erste Satz in »Die Realität der Massenmedien«. Das haben einige immer gern zitiert, waren richtig stolz und haben ganze Projekte entworfen, zum vermeintlichen Wissen der Massenmedien. Leider haben sie nicht weiter gelesen, denn Luhmann zeigt, dass die Massenmedien eine »transzendentale Illusion« erzeugen, mit anderen Worten, die Medien »konstruieren Wirklichkeit«. Und das kann man jeden Tag beobachten. Warum sage ich das auch? Weil in der Gegenwart nicht wenig in den Journalistenberuf geraten, die zu keinem Zeitpunkt eine Fachwissenschaft studiert haben. Ob eine Journalistenschule ein Fachstudium in der Germanistik, der Soziologie, der Geschichtswissenschaft ersetzen kann, das wage ich zu bezweifeln. Aber warum sage ich das? Ich sage es, weil es bei Dir anders war. Du hast Dich gewissermaßen von der »Pike« auf in das hineingearbeitet und studiert, was Du dann professionell über Jahre getan hast, Dich mit Büchern auseinanderzusetzen und als Literaturkritikerin zu arbeiten. Aber am Anfang stand eine Ausbildung als Bibliothekarin. Roswitha Budeus-Budde: Ja, das ist richtig, ich bin zunächst Bibliothekarin geworden. Und ich habe mich als Bibliothekarin in Köln schon am Deutschen Bibliotheksinstitut auf Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert und bekam dann – nachdem wir aus familiären Gründen umgezogen sind – hier in München eine wunderbare Stelle, und zwar gleich in der Geschäftsführung der Bibliotheken, verantwortlich mit einer tollen Chefin für Kinder- und Jugendliteratur. Wir mussten damals Bücher auswählen, und mussten die mit Annotationen an die einzelnen Zweigstellen schicken. Und man fing an schon Veranstaltungen mit Autoren zu machen. Das war im Grunde genommen der Anfang mit der Kinderund Jugendliteratur.

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CG: Wir müssen schauen, dass wir das historisch verorten, denn es war dies eine Zeit, in der eine neue Stufe mit der Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendliteratur einsetzte. Die 1970er Jahre. Hier in diesen Jahren setzen die Entwicklungen ein, von denen wir heute in Seminaren und Vorlesungen nach wie vor sprechen, über die Auswirkungen der sogenannten 68er-Zeit. Nebenbei: Eine Kollegin, Janine Ludwig aus Bremen, und ich, wir haben gerade einen Band zu 1968 gemacht. »1968 – Ost West. Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten« haben wir ihn genannt, und dabei geht es auch um die Kinder- und Jugendliteratur. Die 1970er Jahre brachten dann bereits viele Veränderungen, auch institutionell. RBB: Stimmt genau, das waren die 1970er Jahre. Und das war eine Zeit, man weiß das heute gar nicht mehr, in der die Bibliotheken hier wieder anfingen, in großem Stile aufgebaut zu werden. München tat unheimlich viel für die Bibliotheken. Dann bin ich ja mit meinem Mann nach Braunschweig gegangen und dort an die Universitätsbibliothek gekommen und habe dort die Lehrbuchsammlung aufgebaut. Schließlich kamen wir zurück, wir hatten ein Kind, und ich war wieder in München. Aber die traditionelle Rolle der Frau, das ging für mich nicht. Also stand die Frage, was mache ich jetzt? Meine Exchefin sagte: »Du wirst Kinderund Jugendliteratur am Telekolleg für Erzieher unterrichten.« Es gab das damals, da konnte man als Seiteneinsteiger Radio hören, man konnte richtig Unterricht haben oder fernsehen, und ich habe da Kinder- und Jugendliteratur unterrichtet. Und das habe ich dann später auch zehn Jahre lang auch an der Fachakademie für Sozialpädagogik und danach an der Bayerischen Bibliotheksschule gemacht. Gleichzeitig habe ich die Bücherschau aufgebaut, das ganze Kinder- und Jugendprogramm. Und dann hat mich das »Börsenblatt des Buchhandels« gefragt, ob ich nicht Korrespondentin in Bayern werden wollte. CG: Du warst für diese Tätigkeit inzwischen auch hinreichend vorbereitet. Viele andere hätten dies als Traumjob empfunden und sich erst einmal eingerichtet. Bei Dir war das anders. Es hat Dir anscheinend nicht genügt. RBB: Ja, irgendwie war das so. Bereits vorher, während des Unterrichtens, habe ich gemerkt, dass die Arbeiten, die ich betreut habe, immer schlechter wurden. Das waren ja junge Leute, meistens junge Frauen, die Bibliothekarinnen wurden. Und, wie gesagt, die Arbeiten wurden immer schlechter. Ich dachte, das kann nur an mir liegen. Und ich habe dann eben nochmal ein richtiges Studium in Innsbruck begonnen, dort also studiert und danach promoviert. Das habe ich dazwischen geschoben. Und ich habe dann fünf Jahre beim Börsenblatt gearbeitet. Das war eine spannende Zeit, zumal ich dort die ganzen Verlage und die Macher kennenlernte. Bei einer Abendveranstaltung in der Bücherschau, in der ich hier in München das Kinderprogramm verantwortete, da habe ich auch die Feuille-

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tonisten der Süddeutschen Zeitung kennengelernt, und eines Tages fragte mich einer der Chefs: »Wie gefallen Ihnen denn unsere Kinder- und Jugendliteraturseiten?« Da habe ich gesagt: »Die gefallen mir überhaupt nicht. Die sind schlichtweg schlecht.« Da hat er mich angeschaut und gesagt: »OK, machen Sie’s besser.« CG: Wer war das, dieser Chef, der Dir das Angebot gemacht hat? RBB: Der Chef, das war damals Johannes Willms. Und derjenige, der mich dann so direkt gefragt hat, das war sein Stellvertreter, also Knud von Harbou. CG: Du bist dann fast zufällig zur Zeitung gekommen. Und es war von den beiden Herren eine clevere Entscheidung, wenn man so will, denn denen war vermutlich klar, dass Du in den Jahren ein richtig gutes Netzwerk aufgebaut hattest. Also das, was wir neben der Produktion und der Rezeption von Texten die Vermittlung nennen, die Distribution. Die ist, zumindest war sie es damals, mitentscheidend für die Aufnahme, in diesem Fall der Kinder- und Jugendliteratur. RBB: Ja, ich bin so in die Zeitung hineingerutscht. Und richtig, ich hatte schon dieses wichtige Netzwerk, weißt Du, ich kannte die Verlage, ich kannte die Autoren und ich hatte natürlich auch durch das viele Lesen von Kinder- und Jugendliteratur eine gewisse Ahnung. Und durch das Studium und die Promotion natürlich auch die Möglichkeit, das ganze von der wissenschaftlichen Seite aus zu betrachten. Nicht nur immer lesen und dann sagen: »Das ist aber ein schönes Buch!« CG: Du hast letztlich zu dem promoviert, was man Mädchenliteratur nennt. Die Mädchenliteratur hat ja eine lange Tradition und sie ist nie so trivial gewesen, wie einige in den 1970er Jahren meinten, also die didaktische Vermittlung von Rollenbildern, Einpassung in die Rolle der Ehefrau, Aufopfern für die Familie. Es hat in der Mädchenliteratur schon immer auch Subversives gegeben. Aber wie bist Du eigentlich auf die Mädchenliteratur gekommen? Du hast ja zu einer spannenden Autorin promoviert. RBB: Ja, das war ein großes Glück. Ich habe zu Thekla von Gumpert gearbeitet, das war im 19. Jahrhundert die wichtigste Frau für Mädchenbücher. Das war nicht nur eine wichtige Autorin, sondern die hatte alle Autorinnen an der Hand, die hatte die Verlage an der Hand. Wer damals etwas werden wollte im Mädchenbuchbereich, später auch Kinderbuchbereich, der ging über ihren Schreibtisch. Und die 50 Bände, die sie verantwortet hatte, die waren damals schwer auszuleihen,

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CG: Stimmt, die historischen Sammlungen waren – soweit ich weiß – an den Universitäten erst im Aufbau und in den Bibliotheken wurde bis dahin Mädchenliteratur nicht gesammelt, meine ich. Das wäre ein Thema für sich, die Trivialliteraturforschung, die auch im didaktischen Bereich eine Rolle spielte. RBB: Ja, und insofern hatte ich ein Problem. Aber es gab eine Lösung, die man sich vielleicht gar nicht vorstellen kann. Für die Promotion brauchte ich die Bücher von Thekla von Gumpert, und ich hatte die alle zu Hause. CG: Wie das, wie bist Du an die Bücher gekommen? RBB: Das ist eine Geschichte für sich, ich hatte das große Glück – damals gab es noch zwei deutsche Staaten und es existierte die DDR –, dass man von Innsbruck aus gute Beziehungen zu Leipzig hatte und die mir das ganze Zeug geliehen haben. Ich hätte das hier in München niemals bekommen, und nach Hause hätte ich es schon gar nicht nehmen können. Wenn es denn dort vorhanden gewesen wäre. Da wäre einzig über den Hörsaal gegangen, und da hätte ich im Lesesaal, nein über den Lesesaal damit arbeiten müssen. Und das hätte ich nie gekonnt, mit drei Kindern damals. CG: Also ging das über Leipzig, mithin über die Deutsche Bücherei in Leipzig. Das ist, wenn man so will, eine spannende deutsch-deutsche Geschichte. Man könnte hier einen kleinen Part einschieben, nämlich Aussagen zur Kinder- und Jugendliteraturforschung in der DDR. Die hat – das ist jetzt meine Einschätzung – in der DDR früher eingesetzt als in der Bundesrepublik. Auch deshalb, weil die Kinderund Jugendliteratur im Osten aus verschiedenen Gründen keineswegs nur an Pädagogischen Hochschulen – wie zunächst im Westen – eine Rolle spielte. Ich denke an die frühe Reihe der »Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur«. Das ist jetzt Zufall, ich habe gerade im Kontext mit Otfried Preußler einen Band wieder gelesen, nämlich den von Joachim Schmidt, der ein grandioser Lektor im Kinderbuchverlag in Berlin war. »Volksdichtung und Kinderlektüre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, hieß der, erschienen 1977. RBB: Ja, das habe ich damals auch so empfunden, obwohl ich die Forschung zur Kinderliteratur in der DDR nicht wirklich kannte. Und Thekla von Gumpert war vermutlich auch kein Thema in der DDR. Also, das ging über die Deutsche Bücherei in Leipzig. Ja. Und das war sehr gut. Den ersten Band habe ich mir dann gekauft. Und Thekla von Gumpert war insofern ein wichtiges Forschungsfeld, weil man hier die Anfänge der Mädchenliteratur erkennen konnte, und das Ding lief ja 70 Jahre.

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CG: Du meinst das »Töchter-Album«. Jedenfalls hast Du zum »Töchter-Album« promoviert. Deine Schrift erschien dann 1986. RBB: Genau. Das reichte bis in die NS-Zeit, und erst in der NS-Zeit verschwand das. Und bei Thekla von Gumpert konnte man sehen, wie sie sich auch änderte mit der Zeit. Also wie in den Texten bereits etwas von Emanzipation zu spüren war in ihren letzten Mädchenbüchern. Und wenn man ihre persönliche Geschichte als Frau betrachtet, die ist unheimlich spannend. Sie hat auf der öffentlich sichtbaren Seite ein sehr bürgerliches Leben geführt. Aber das war gar nicht so. CG: In welcher Hinsicht war das nicht so? Deute das doch bitte einmal an. Ich weiß nur, aber das hat mit ihrem Engagement nur bedingt zu tun, dass sie eine Zeit lang bei einem Baron von Seydlitz, mit dem sie wohl verwandt war, die Kinder erzogen hat. Ich bin darauf gestoßen, als ich mich mit General Walther von Seydlitz beschäftigt habe, der 1943 in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zum Präsident des Bundes Deutscher Offiziere wurde. Aber das ist eine – wie man so sagt – andere Geschichte. RBB: Ja, auf jeden Fall, bei dem Baron von Seydlitz war sie. Sie hat sehr spät geheiratet, da war sie schon Mitte 40. Und ihr Mann, Franz von Schober, das war ein Begleiter von Franz Schubert. Und sie hieß dann damals auch von Schober. Und dieser von Schober, das war so einer, so ganz typisch für die damalige Zeit, der hatte keinen festen Wohnsitz, der wanderte von Freunden zu Freunden, war aber immer mit Schubert zusammen. Also diesen Mann hat die Thekla geheiratet. Ihre Schwester hatte übrigens ein Liebesverhältnis in Breslau – ihr Vater war ja der Arzt am Königshaus – mit dem Kronprinzen. Und das wurde brutal abgewürgt. Die Ehe mit Franz von Schober hielt nicht lange. Und auf einmal war der Mann verschwunden. Der verschwand. Der war nicht mehr da. Aber es gab noch ein paar schöne Gedichte von ihm. Und Thekla hat dann mit dem Schreiben angefangen und war sehr erfolgreich. CG: Man würde heute sagen, sie traf den Ton der Zeit. Thekla von Gumpert ist dann in Dresden gestorben soweit ich mich entsinne. RBB: Ja, und sie wurde ziemlich alt. Fast 90. Und sie war sehr abenteuerlustig. Wenn man sich nur einmal überlegt, dass die da in der Postkutsche noch bis Südtirol gefahren ist und ihre Erfahrung gesammelt hat. Das war eine ungewöhnliche Frau. Solche Persönlichkeiten sind immer ungewöhnlich.

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CG: Sie war auch, wir haben uns beide früher einmal darüber ausgetauscht, als Frau auch sozial sehr engagiert. RBB: Ja, das war sie. Sie hatte vor, eine eigene Erziehungsanstalt zu gründen und es gab Kontakte zu Friedrich Fröbel. CG: Kommen wir auf Dich zurück. Wenn man jetzt diese Beschäftigung mit Thekla von Gumpert nimmt, was hast Du bei der Beschäftigung mit dem Gegenstand für Dich gewonnen, ja gelernt? Also, das ist ja eine Autorin, die im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hat, aber mit der aktuellen Kinderund Jugendliteratur hatte das nichts zu tun. RBB: Sagen wir es mal so, diese Literatur wurde immer von Eltern und Erziehern gekauft und verschenkt. Also diese Jahrbücher wurden immer zu Weihnachten verschenkt. Und natürlich hat sie für diese Eltern und Erzieher auch ihre Texte verfasst. Also das war schon sehr moralisch, sehr auf Anpassung, sehr auf Rolle der Frau hin orientiert, aber es gab immer schon Aspekte, in denen offenbar wurde, dass man als Frau selbst etwas machen kann, es wurde auf einer nicht sofort erkennbaren Ebene gefragt, ob man nicht doch versuchen sollte seine eigenen Ideen durchzusetzen. Es gibt also eine Entwicklung, die Anfänge waren aus heutiger Sicht eher furchtbar. Also es ging um Moralgeschichten, in denen immer stellvertretend die Freundin starb, wenn sie nicht dem vorgegebenen Rollenbild entsprach und nicht funktionierte. Aber es war nicht nur Unterhaltung, es ging hier und da um Technik und um Hinweise, wie man vernünftig einen Haushalt führt. Ganz klar, es war eine Art Spagat. Es war Unterhaltung für die Mädchen, und es war Belehrung zur Beruhigung der Eltern. Die Mädchenliteratur heutzutage ist natürlich vollkommen anders. Aber diese Mischung aus Unterhaltung und dem richtig Emanzipatorisch-Sein, diese Kombination gelingt auch nicht immer, heute auch noch nicht. CG: Die Promotion hast Du 1985 abgeschlossen, erschienen ist die Arbeit 1986 und zur Süddeutschen Zeitung bis Du dann 1994 gekommen. Das Feuilleton in Sachen Kinder- und Jugendliteratur hat Dir damals nicht gefallen. RBB: Ich muss gerechterweise sagen: Die Seite wurde lange Jahre von Frau Bondy gemacht. Und Frau Barbara Bondy hat die einfach in die Wochenendausgabe hereingebracht und das war toll. Da hatte sie also Rezensionen und kleine Texte von Janosch und auch anderen bekannten Leuten, also sie war richtig drin im Geschehen. Sie wurde dann aber krank, und die Seite machte dann eigentlich ihre Sekretärin, und das war natürlich etwas schwierig. Ich lasse jetzt mal einige Besonderheiten beiseite, wer damals in einem Vorzimmer des Chefredakteurs

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wichtige Entscheidungen traf. Jedenfalls: Als ich bei der SZ anfing, da war es so, dass man fünf Seiten im Voraus produzierte und die wurden irgendwann gewissermaßen beigelegt. Und ich habe zuallererst gesagt: »Das geht überhaupt nicht. Wir brauchen einen festen Tag.« Und dann bin ich zu derjenigen Dame, die meinte, sie sei wichtig, und da lief gar nichts. Nun war ich ja nicht mehr 20 und hatte hinreichend Erfahrung. Da der damalige Feuilletonchef, Johannes Willms, sehr gut mir ihr auskam, habe ich immer dann, wenn ich eine Seite vorwärtsbringen wollte, gesagt: »Johannes, komme doch bitte mit!«, und dann ging das. Und es kam mir auch Michael Schmidt von 3sat Kulturzeit zur Hilfe, der wollte bei 3sat die Kinderbuchtipps machen, die er ja immer produziert. Und dazu brauchten wir natürlich einen festen Termin. Da habe ich gesagt: »Leute, ich brauche einen festen Termin für Michael Schmidt von 3sat-Kulturzeit.« Und er hat bei 3sat-Kulturzeit gesagt: »Wir bekommen einen festen Termin bei der SZ, aber unser Termin muss dann auch fest sein.« Also, so haben wir uns gegenseitig gestützt. CG: Dann ist das also losgegangen mit den Kinderbuchseiten bei der Süddeutschen. Wenn Du Dir jetzt diese Anfänge vergegenwärtigst, also wie das 1994, 1995, 1996 gelaufen ist, also wie die Seiten gemacht wurden und wie sie aussahen. Würdest Du sagen, da hat sich nicht viel verändert, oder gibt es doch ganz deutliche Wandlungen in den Jahren? RBB: Also es ist so, dass sich das Technische sehr verändert hat. Ich habe damals ja auch immer eine Seite im Monat gemacht, bis, ich glaube, vor 15 Jahren, einer der Chefs sagte: »Warum machen Sie nicht noch eine zweite Seite im Monat, wenn Sie das mit Werbung akzeptieren, dann machen Sie doch zwei.« Ja, also es hat sich für mich, das Anliegen, was ich auf den Seiten machen will, im Grunde genommen nichts verändert. CG: Vermutlich hat sich Dein Ziel, also das, was Du erreichen willst, nicht unbedingt verändert? RBB: Das kann man so sagen. Also, was will ich? Die Seiten, die wir machen, die lesen die Erwachsenen. Und man muss jetzt versuchen, die Erwachsenen für diese Rezensionen, die man da aufnimmt und für die Bücher, die vorgestellt werden, erstmal vom Lesen her zu begeistern, von der Art und Weise, wie da Literatur präsentiert wird. Gleichzeitig müssen die erwachsenen Leser aber erfahren, für welches Kind dieses Buch geeignet ist. Ich habe also immer versucht auch, sagen wir, über den Tellerrand zu schauen, also auch Literatur zu diskutieren, die nicht auf KJL reduziert bzw. konzentriert ist. Von daher hatte ich auch mal Serien mit Lieblingsbüchern, da haben mir dann wichtige Leute ihre Lieblingsbücher auf

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70 Zeilen vorgestellt. Also, ich wollte immer, dass die Erwachsenen von den Seiten und den Texten und den vorgestellten Büchern sozusagen profitieren. Darüber hinaus geht es darum, in gewisser Weise zu beraten und eine Orientierung zu liefern auf diesem Riesenmarkt. CG: Damit sind wir beim Thema Literaturkritik. Es werden jährlich ungefähr 9.000 Novitäten, also Neuerscheinungen auf den Markt gebracht. RBB: Im Augenblick sind es ein bisschen weniger, also so zwischen 7.000 bis 8.000, auch deswegen, weil einfach Papiermangel besteht. CG: Stimmt, aber es ist für den einzelnen eine unüberschaubare Menge. Da sind wir jetzt auch bei der Rolle von Literaturkritik. Literaturkritik gilt als eine, wie man so sagt, Institution des literarischen Lebens, die literarische Texte, Autorinnen, Autoren kommentiert und bewertet und die eine selegierende, eine auswählende Funktion hat. Und schon bei diesen Aussagen, steht die entscheidende Frage, wie Du das siehst, nach welchen Kriterien wird ausgewählt? Bereits an dieser Stelle könnte es Differenzen in der Kritik im Bereich der Literatur für Erwachsenen, also der Allgemeinliteratur, und der Kinder- und Jugendliteratur geben. RBB: Ich sehe bei einem wichtigen Punkt überhaupt keine Unterschiede. Es muss Literatur sein! Es muss um Qualität gehen. Warum? Also, weil mich diese Bücher, diese Endlosbücher, die heute die Welt verbessern wollen, diese Problembücher, die auf Ansage geschrieben werden, nerven. Das ist aus meiner Sicht etwas, das die Kinder und Jugendlichen vom Lesen abhält. Die Medienvielfalt ist heute so groß. Literatur muss sich anstrengen. Und das gelingt zum Glück immer wieder, jedes Jahr finden sich Autoren, die keinen Mainstream machen, die keine Political Correctness machen, sondern Geschichten erzählen. Es muss in jedem Buch, egal worum es sich handelt, sei es ein Bilderbuch oder sei es ein Buch für young adults, es muss ein Überraschungseffekt im Text sein, der einfach zum Lesen und Weiterlesen der Geschichte reizt. Es kann nicht sein, dass Du anfängst mit dem Text und weißt schon nach zehn Seiten, wie es hinten ausgeht. Nochmal: Es muss Literatur sein. Der Text muss einen ästhetischen Anspruch erfüllen. Genauso wie die Belletristik oder die Sachbücher für Erwachsene. Und das ist oftmals nicht der Fall. Schau dir die Klassiker an, schau Dir an, was sozusagen überbleibt von den vielen Jahren, die man mit Jugendliteratur verbringt, es sind immer solche Titel. CG: Du spielst mir damit eine Frage zu. Du sagst, schau Dir an, was bleibt. Es bleiben die sogenannten Kinder- und Jugendbuchklassiker, die auch in der Gegenwart von jungen Leuten gelesen werden. Wenn Du jetzt zurückschaust und

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unvorbereitet und ohne lange nachdenken zu müssen, die Frage zu beantworten hättest, was sind denn jene Texte, an die Du Dich jetzt sofort erinnerst, seitdem Du bei der Süddeutschen Zeitung bist, was fällt Dir ein? Gibt es da einen Roman oder ein Bilderbuch, von dem Du auf Anhieb sagst, ein toller Text, auch heute. Nur ein Beispiel: Mir fällt Mats Wahl ein, der in den 1990er Jahren sehr präsent war auf dem deutschen Buchmarkt und für »Winterbucht« den Deutschen Jugendliteraturpreis bekommen hat. Heute werden viele ihn gar nicht mehr kennen, vermute ich. RBB: Was heute noch gelesen wird? CG: Ja, aber ich meine das nicht allgemein, sondern in Bezug auf Deine Arbeit bei der Süddeutschen, also seit 1994. RBB: Ah, von 1994 an. Ja, weißt Du, da müsste ich Dir eigentlich unsere Editionen vorlesen. Wir haben ja immer Editionen gemacht. Und es ist so: Natürlich hat Kinder- und Jugendliteratur auch irgendwo einen Zeitwert, die Zeit spiegelt sich ja in den Texten. Bei Mats Wahl, den ich auch unglaublich schätze, liegt es vielleicht daran, dass die Verlage den jetzt nicht mehr als Taschenbuch herausbringen. Weißt Du, es kommt jährlich die Novitätenwelle und Taschenbücher werden immer weniger. Für mich immer noch ganz wichtig: Maurice Sendak und zwar nicht nur wegen der »Wilden Kerle«, sondern, das hat man auch schon fast vergessen, der ist ja wirklich von Tagung zu Tagung damals gefahren und hat Literatur vertreten. Ein Problem besteht in Folgendem: Wir leben in einer Zeit, da wird sehr kritisch auch auf die Klassiker geschaut. Nehmen wir Ottfried Preußler, Sybil Gräfin Schönfeld hat im Gespräch gesagt: »Die 68er haben Ottfried Preußler zum Verstummen gebracht.« CG: Ich habe es gelesen, ja. Aber ich sehe es überhaupt nicht so. RBB: Das hat Gräfin Schönfeld zu mir gesagt. Er habe sich von der Kritik an seinen Texten nie mehr erholt, hat sie gemeint. Und diese Political Correctness, die arbeitet sich zum Beispiel durch alle Titel auch von Astrid Lindgren derzeit. Da wird zum Teil und im großen Stile verändert. Vielleicht haben es FantasyErfolge besser. An denen wird nicht so viel umgeschrieben, weil die etwa weibliche Rollenbilder präsentieren, die durchaus sehr unterschiedlich sind. CG: Und sie spielen – anders, als die sogenannte realistische KJL – in Welten, die nicht direkt mit der Wirklichkeit in Verbindung stehen. Also ein realistischer Text, der über die 1970er Jahre erzählt, ist natürlich explizit in dieser Zeit verortet. Und von daher kann sie in dem Fall, da die Geschichte authentisch erzählt wird, in der

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Gegenwart bei einigen Zeitgenossen auf Widerspruch stoßen. Die kommen auf die Idee und meinen, man müsse den jungen Lesern erklären, dass das überhaupt nicht unserem Verständnis von Welt, von Emanzipation, von gut, von böse usw. entspricht. RBB: Genau. Und in der Fantasy ist das schwieriger, die Geschichten in einer Zeit zu verorten. Zudem sind in der Fantasy die Frauenbilder in den guten Texten sehr unterschiedlich. Und da wird dann nichts geändert, während es in der realistischen Kinder- und Jugendliteratur natürlich zum Teil heute anders aussieht. CG: Wobei mir gar nicht bewusst war, dass das bei Astrid Lindgren weiter geht mit dem Verändern und Umschreiben. RBB: Ja, das wird heftigst getan. Mein Sohn hat gerade seiner Tochter »Pippi Langstrumpf« vorgelesen und er rief mich ganz entsetzt an und sagte: »Mama, hast Du noch ein Original?« Ich sagte: »Wieso?«. CG: Stellen, die gestrichen wurden, weil sie politisch nicht korrekt sein sollen? RBB: Ja. Diese Bearbeitung, das ist der Wahnsinn. Das bringt die Klassiker irgendwo auch um. CG: Dann sähe Dein Plädoyer für die Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, aber nicht nur die, so aus: Man soll sie in Ruhe lassen und sie als Klassiker bzw. Texte in ihrer Zeit akzeptieren. RBB: Ja, unbedingt. Und man soll dann gern vorn hineinschreiben: Es war eine andere Zeit. Damals ging man noch anders mit Namen und mit Menschen um. Aber eines kannst Du nicht: die Geschichten verändern. Aber leider ist das vielen nicht bewusst. Ich weiß vom Oetinger-Verlag, dass die ständig Briefe von aufgeregten Müttern erhalten, die wollen, dass die Texte verändert werden. CG: Da käme es natürlich auf die Verlage an, dass die genau jene Begründung, die Du angeführt hast, vermitteln und konsequent dabei bleiben. RBB: Aber die verändern. Die wollen ja ihre Bücher verkaufen. CG: Ja, natürlich. Aber genau das ist eines der Probleme. Jene Instanzen, die das Lesen lehren wie Schule und Universität passen sich teilweise genauso an. Dabei ist die Universität bzw. die Wissenschaft dem Prinzip der »Wahrheit« verpflichtet. Anders gesagt: Die Funktion der Wissenschaft besteht darin, neues wahres Wissen

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zu erzeugen. Die Funktion besteht nicht darin, sich dem Mainstream und irgendwelchen vermeintlichen Korrektheiten anzupassen. Das ist auf Dauer – jetzt pointiere ich – der Tod der Wissenschaft. Die Funktion von Literatur besteht in meinem Verständnis im Unterschied dazu darin, die Welt zu beobachten und über das Erzählen von Geschichten eine Kommunikation über diese zu ermöglichen. Kommen wir auf die Literaturkritik zurück. Sie hat eine Orientierungsfunktion und sie muss auswählen, selegieren, bewerten. Du hast es literarische Qualität genannt, es muss eine Geschichte erzählt werden. RBB: Genauso ist es. Ich lese Dir mal einen schönen Text von Paul Maar vor, den ich für unser Gespräch herausgesucht habe. Paul Maar hat einmal darüber geschrieben, wie Kinderbücher sein sollen: »Früher oder später muss der Autor begreifen, dass es einfach über seine Kräfte ginge, wenn er in einer Person Schriftsteller, Lehrer, Sittenwächter, Animateur, Psychologe, Wissenschaftler, Erzieher, Elternersatz und vielleicht auch noch Politiker sein wollte. Denn wenn er wirklich ein Schriftsteller ist, hat er allen anderen ein Talent voraus. Wie kein anderer kann er Geschichten erfinden und Geschichten erzählen. Und dieses Talent sollte er nutzen. Denn dann kommt alles andere schon von allein.« CG: Damit ist alles gesagt. Und das erinnert mich an Otfried Preußler, von dem wir gesprochen haben. Und deswegen war ich mit der Aussage von Gräfin Schönfeld nicht unbedingt einverstanden. Also jetzt Otfried Preußler, ich habe den Text sogleich parat, weil – wie Du weißt – Otfried Preußler mich die letzten Monate beschäftigt hat. Er schreibt gegen alle, die ihn da angehen: »Ich lasse mir meine Themen nicht vorschreiben. Was ich für richtig halte, daß ich es Kindern erzähle – und was ich vor ihnen und meinem Gewissen verantworten kann, das erzähle ich ihnen.« Und er wendet sich dann in der ihm eigenen dezenten Art und Weise gegen Vorschriften, die einige glauben, erlassen zu können. Das ist ein – sagt er – »anmaßender Akt«, der absolut »unerbetenen Einflußnahme auf meine persönlichen Pläne«. Übrigens: Gewissen, das ist ein Schlüsselwort, Otfried Preußler hatte eines. Insofern hatte ich gar nicht den Eindruck, dass Otfried Preußler sich hat »klein kriegen« lassen, wie Gräfin Schönfeldt meint. RBB: Ja, das war ihre Erfahrung. Aber ich glaube, sie meinte das auch etwas anders. Die Gräfin hat gemeint, diese Leute hatten das Recht, uns persönlich anzugreifen. Das war unglaublich, erinnert sie, wie etwa der »Rote Elefant« sich direkt gegen mich als Person gerichtet hat, obwohl sie eigentlich gegen mein Schreiben gar nichts so sehr hatten. Einer habe zu ihr gesagt: »Es ist so schwierig mit Ihnen, weil Sie nicht links oder rechts sind, wo soll ich Sie einordnen?« Und bei Preußler war es genauso, sagt die Gräfin, die haben ihn einfach persönlich angegriffen. Die waren einfach so gemein.

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CG: Ja, insofern stimmt das mit dem Gewissen, was Otfried Preußler gesagt hat. Man muss lernen, mit solchen Angriffen umzugehen. Vor allem dann, wenn sie darauf aus sind, die Person zu – ein Begriff aus der Wendezeit Anfang der 1990er Jahre – delegitimieren. Übrigens etwas, das in der Gegenwart Hochkonjunktur hat. Auch in der Literaturkritik, es geht nicht um den Text, es geht um die Person. Aber nochmal zu Otfried Preußler. Er hat seine Kritik noch weiter auf den Punkt gebracht. Und, wenn man das liest, dann glaubt man, er habe die Gegenwart gekannt. Ich lese noch einmal diesen Abschnitt vor: »Es gab um die Wende der Siebzigerjahre – und es gibt sie noch heute – die Forderung, der Schriftsteller, der sich an Kinder wendet, habe in ganz besonderer Weise der Zeit und dem herrschenden Zeitgeist Rechnung zu tragen. Der Katalog der einschlägigen Themen reicht von Asylanten bis Zwischenlagerung.« Das passt doch auf die Gegenwart und das, was Du vorhin gesagt hast. RBB: Aber das Zitat von Otfried Preußler, das geht noch weiter, oder? CG: Genau. Otfried Preußler sagt: »Wer es verantworten will und kann, Kinder mit Themen zu konfrontieren, deren Bewältigung doch wohl Sache der Erwachsenen sein müßte, der mag es verantworten.« RBB: Ja, da hat er Recht. Es ist eine persönliche Entscheidung. Ganz abgesehen davon, dass es keine Vorschriften gibt und literarische Qualität sich nicht herstellt, indem man »Themen« bedient. CG: Auf jeden Fall. Und ich sage mal einfach: Danke Otfried Preußler. Man wünschte sich solche Aussagen auch in der Gegenwart von Autorinnen und Autoren. Aber noch einmal zum »Roten Elefanten«. Du weißt, dass ich Malte Dahrendorf, der in der Arbeitsgemeinschaft eine wichtige Rolle spielte, kannte und schätzte. RBB: Ja, den habe ich auch sehr geschätzt. Von ihm werden die Aussagen, die die Gräfin benannt hat, auch nicht gekommen sein. Malte Dahrendorf habe ich gemocht. Den habe ich sehr gemocht. Aber das waren ja nicht die Anfänge der Roten Elefanten. Du meinst die 1980er Jahre und nicht die Anfänge. Du, Carsten, im Anfang, die waren unmöglich. [Lachen] CG: Ja, dies beweist einmal mehr, dass man genau sein muss, wenn man über Vergangenes spricht. Also man muss schon belegen, über welche Zeit man konkret spricht. Es macht einen Riesenunterschied, ob wir uns über die frühen 1970er Jahre austauschen oder über die frühen 1980er Jahre. Leider, das ist meine Erfahrung, nimmt die Kenntnis der Geschichte radikal ab. Und dort, wo sie fehlt, wo

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man also überhaupt nicht mehr Personen und Positionen in der Geschichte verorten kann und auch nicht will, da kommen dann pauschale Aussagen zustande, die mit den damaligen Verhältnissen absolut nichts zu tun haben. Noch einmal pointiert: Wo die Kenntnisse fehlen, da lässt sich Geschichte trefflich »denunzieren«, sage ich unter Bezug auf einen frühen Text von Bernhard Schlink. Aber um auf Dein Beispiel zu kommen: Die Gräfin meint die frühen 1970er Jahre, da wurde eben in aggressiver Weise gegen Autoren und auch die Kritiker vorgegangen. RBB: Ja, aber heftig. CG: Dann kamen die 1980er Jahre, da wurde es entspannter. Aus meiner Sicht auch, weil es in der Wissenschaft einen großen Sprung gab. Ich denke an Deine Arbeit oder auch daran, dass die KJL-Forschung sich an den Universitäten etablieren konnte. Eine jüngere Generation hat dann auch Habilarbeiten vorgelegt, die die Geschichte der KJL aufarbeiteten. Also weg von der Ideologiekritik der 1970er Jahre hin zur Analyse von Texten. Und es spielten in diesen Bereichen eben auch Modernisierungs- und Zivilisationstheorien eine Rolle. Und nun frage ich mich, ob es in der Gegenwart eine Wiederkehr des Ideologischen der 1970er Jahre gibt und des Moralisierens. Niklas Luhmann hat übrigens mal gesagt: »Wer moralisiert, will verletzten.« Und unter den Bedingungen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft wird Moral gewissermaßen entmoralisiert. Aber meine Frage war, ob das, was man in der Gegenwart beobachten kann, ein Moralisieren wie in den 1970er Jahren ist, vielleicht mit anderem Impetus, aber doch mit vergleichbarer Aggressivität. RBB: Ja, aber wohl nicht nur. Weißt Du, es ist, wie ich finde, so: Es gibt wieder Autoren, die sich etwas trauen. Es ist nicht alles Mainstream. Und diese Political Correctness, das regt ja inzwischen viele auf. Aber wir sind natürlich wieder in einer Phase, ich würde das eher vergleichen mit der Reformpädagogik, in der man glaubt, die Kinder müssen die Welt retten. Aber es ist auch so, dass die Generation, die jetzt schreibt, nicht unbedingt Mainstream und angepasst ist. Nach meiner Einschätzung gab es noch nie so viel wirklich gute politische Kinder- und Jugendliteratur, ohne dass da Kinder instrumentalisiert werden, um die Welt zu retten. Aber natürlich gibt es auf der anderen Seite unglaubliche Berge von Umweltgeschichten im Sachbuch. Ich hatte jetzt eines, da kam die Autorin zu dem Ergebnis, eigentlich könnte man keine Kinder mehr bekommen. CG: Weil die Welt ohnehin nicht zu retten ist. Wobei andere Texte den Lesern permanent bestimmte Verhaltensweisen aufdrücken wollen, nicht ganz so wie bei der Sozialisationsliteratur im ausgehenden 18. Jahrhundert, aber der Vergleich drängt sich auf. Wobei Gottlob Wilhelm Burmann mir seinen »Kleinen Liedern für

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kleine Mädchen und Jünglinge«, das war 1877, durchaus Tugenden proklamiert, die nicht zu verachten waren und keineswegs als »konservativ« abzutun sind. Sein Lied »Arbeit« vermittelt letztlich das, was in Sprichwörtern auch mitgeteilt wird, nämlich: Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Aber wir sprachen über die Gegenwart. RBB: Genau, wir sprachen von meinem Beispiel, also über den Text, in dem die Autorin letztlich alles als vergeblich ansieht. Ich habe beim Lesen gedacht, am besten wäre es doch, sie brächte sich gleich selbst um, dann ist es auch schon mal leichter mit der Umwelt. Aber ein Gegenbeispiel: Ich nenne mal Susin Nielsen, die kanadische Autorin. In diesem Fall heißt der Roman von ihr »Die gigantischen Dinge des Lebens«. CG: Stimmt, wir haben, im Seminar »Optimisten sterben früher« von ihr präsentiert. Bei diesem Text fällt ja bereits das Cover aus dem Rahmen des Üblichen. RBB: Genau. Und bei »Die gigantischen Dinge des Lebens«, da findet sich etwas, das mich eigentlich immer wieder an der Jugendliteratur fasziniert. Wenn es jemandem gelingt, mit Ironie, auch mit Humor, eine Geschichte zu erzählen. Auf den ersten Blick, wenn ich jetzt versuche, den Inhalt zu erzählen, da würde man denken: Naja, hier hat jemand alle Probleme dieser Welt in ein Buch gepackt. Da ist ein Junge, der aus einer Samenspende entstanden ist, es gibt zwei Mütter, die ihn erziehen. Als er in die Schule kommt, wird er sofort gemobbt. Er ist ein Außenseiter, eine Art Tor, der gar nicht weiß, wie er sich verhalten soll. Und ein Schüler, der macht ihn sieben Jahre lang fast nur fertig. Der Nachbar schließlich ist ein jüdischer alter Herr, dessen jüdische Geschichte aufkommt, und der ihm dann zeigt, wie man überlebt, wie man sowas überlebt. CG: Oh Mann, würde man stöhnen. Da kommt es faustdick, alle Stereotype zwischen zwei Buchdeckeln. RBB: Ja, das könnte man denken. Aber das Ganze ist so etwas von frech geschrieben, das ist so schräg und ganz ohne die Figuren in moralische Rollen zu pressen. Normalerweise, weißt Du, wenn in einem Text für junge Leser Vater, Mutter, Kind vorkommen, da sind die Rollen zumeist vorgegeben, irgendwie. Das ist hier überhaupt nicht der Fall. Jeder der Erwachsenen ist schlichtweg als Mensch gezeichnet und der Blick auf die Figuren ist leicht ironisch-kritisch. Solche Bücher gibt es eben auch und zunehmend wieder mehr. Dass man von den Problemen erzählt und sich traut, sie gegen den Strich zu bürsten. Nein, ich wäre nicht ganz so pessimistisch. Ich glaube, wir sind gerade wieder ein bisschen

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dabei, dass diese Welle sich bricht, auch mit der Political Correctness. Außer, wenn die Verlage weiter ihre Klassiker umschreiben. CG: Wobei die Political Correctness ja durchaus als Kehrseite dessen zu verstehen ist, was Du gerade geschildert hast mit Susin Nielsen. Mal so gesagt, wer politisch korrekt um jeden Preis sein will, der ist auch nicht in der Lage, Ironie zu verstehen. Das ist ein Thema für sich, die Unfähigkeit zur Ironie. Das zeigt sich übrigens darin, dass die Sittenwächter und Moralapostel auch keine Witze mehr erzählen können oder dürfen. Die nehmen sich so was von wichtig. Und nebenbei: Satire und Intelligenz gehören zusammen. Und bei Susin Nielsen, finde ich, sieht man auch wie Ironie und gegebenenfalls Satire funktionieren. Sie spitzen zu, sie pointieren, aber sie lassen den Figuren ihre Würde, sie sind schlichtweg menschlich. Wenn wir das weiter führten, dann kämen wir bei Leuten an, die nur vorgeben, Satire zu machen, aber das Gegenteil praktizieren, sie verletzen, sie machen klein, sie sind hämisch und schließlich gemein. Freilich nur gegenüber jenen, die sie ablehnen. Und noch ein Satz, Satire und Mainstream schließen sich aus. Kurt Tucholsky hat einmal zutreffend gesagt, dass – in diesem Fall – politische Satire immer in Opposition steht. Aber ich will nicht abschweifen. Wir sprachen über Susin Nielsen. RBB: Was Du zu Susin Nielsen und ihrer Art der Ironie andeutest – ja, das stimmt. Man müsste über diese Autorin ohnehin mal etwas mehr schreiben. Jedes ihrer Bücher ist einfach top. Sie stand auch auf der Liste zum Jugendliteraturpreis. Das spricht dafür, dass das Besondere ihrer Art zu erzählen, wahrgenommen worden ist. CG: Weil Du es sagst, nochmal zum »Was« und »Wie« des Erzählens bei ihr. Du meinst, dass die Figurenkonstellation, die sie entwirft, einen zunächst vermuten lässt, dass es hier hochgradig klischeehaft zugeht, von ihr bewusst gewählt ist, um das dann zu unterlaufen oder – meinetwegen – zu dekonstruieren. RBB: Ja. Das sehe ich so. Und man hat den Eindruck, dass diese Autorin so authentisch und gleichzeitig ironisch erzählen kann, weil sie solche Verhältnisse schlichtweg kennt. Die muss da jetzt nicht zwei lesbische Mütter erfinden, sondern das Leben selbst, wie man so sagt, hat die geschrieben. Und dieser Junge … Weißt Du, wenn Autoren aus der Erfahrung schreiben und ihre Moral vergessen, das ist aus meiner Sicht so wichtig. Denn unsere Kinder und Jugendlichen, die sind durch ihre medialen Erfahrungen und durch das, was sie selbst erfahren und erleben, schlichtweg geschult, die merken, wenn ihnen was aufgedrückt werden soll. Das ist vielleicht ein Unterschied zu jenen Jahren, als ich in der Zeitung

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begann. Die Medienlandschaft hat sich total verändert. Und das hat auch Auswirkungen auf die Literatur und auf das, was Jugendliche lesen. CG: Laß uns Deinen Hinweis zur Medienlandschaft weiterführen. In welcher Weise haben die Veränderungen in der Zeitungslandschaft Folgen für die Literaturkritik, ich meine jetzt die KJL-Kritik. RBB: KJL-Literaturkritik findet immer weniger in den großen Zeitungen statt. Ich glaube, das liegt auch daran, dass die Zeitungskritik zunehmend wegfällt, weil das Bloggertum im Internet so enorm zugenommen hat. Es ist einfach so, dass bestimmte Gruppen sich da ihre Informationen in ganz bestimmten Bloggs suchen. CG: Ja, es wäre ein Thema für sich, über die sogenannten »Blasen« in den social media zu sprechen und die Folgen für das, was man gesellschaftlichen Diskurs nennt. Dennoch bleibt die Literaturkritik nach wie vor wichtig für eine andere Gruppe von Personen, für jene Gruppe der Vermittler, die für die Literatur ganz entscheidend sind, immer noch. RBB: In der Tat. Ich weiß aus Erfahrung, wie wichtig Rezensionen nach wie vor für den Buchhandel sind. Ich habe ja ein Netz, über das Buchhändler informiert werden, Bibliothekare und auch Universitäten. Dazu gehört der Austausch zwischen uns, jetzt konkret. Das ist schon sehr wichtig. Aber Jugendliche selbst, die informieren sich eher nicht über die klassische Literaturkritik in der Zeitung. Obwohl es auch solche Gruppen gibt, zum Beispiel in München im Literaturhaus. Also junge Leute, die selbst Kritiken schreiben. CG: Die gibt es in Neubrandenburg bei der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft auch. Du kennst ja die »Lufti«-Gruppe, die Gundula Engelhard aufgebaut hat und betreut. Und das Team war über mehrere Jahre in der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises. RBB: Genau, ich erinnere mich gut daran. Aber zur Kritik. Das hängt natürlich von den Feuilleton-Chefs ab. Also unser Chef will im Grunde genommen keine Literaturkritik in der Form, wie sie auf der Literaturseite bei uns erscheint, sondern Essays über Literatur. Er sieht sich also nicht mehr als ein Informant, der den Leuten Tipps gibt. Er hat auch sofort die Taschenbücher abgeschafft, also die Spalte, in der Kritiken zu Taschenbüchern erschienen. Die Leute zu informieren, ist ihm nicht so wichtig. Und das wirkt sich natürlich auch auf die Kinderliteraturseiten aus. Also ich bin jetzt mal gespannt, wie das weiter geht. Ich weiß es derzeit nicht. Und ich weiß auch nicht, wie das mein Kollege bei der FAZ macht. Man müsste sich da mal hinsetzen und genauer schauen, was da eigentlich

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konkret noch läuft mit Kritiken für Kinder- und Jugendliteratur. Bei der ZEIT, da gibt es noch den »Luchs«, aber sonst nicht viel. Und die anderen großen Tageszeitungen, etwa die WELT, die machen inzwischen, soweit ich das sehe, nichts mehr. CG: Ich glaube, Dein Eindruck trifft zu. Das betrifft die Tagespresse insgesamt, das Feuilleton gibt es eigentlich nicht mehr und Literaturkritik existiert nur sporadisch. Da, wo es engagierte Journalisten gibt, die sich dann in ihren Redaktionen durchsetzen und mal ein wenig Platz bekommen. Es hängt dies mit den von uns besprochenen Veränderungen der Presselandschaft zusammen. Das ist jetzt nicht unser Thema, aber ich habe mehrfach mit Journalisten darüber gesprochen und letztlich haben sie die Entwicklung, die da abgelaufen ist, bestätigt: Bleiben wir mal bei den Tageszeitungen. Dort läuft seit Jahren ein Konzentrationsprozess ab – wie bei den Verlagen. Aber es kommt etwas Anderes hinzu. Die klassische Ressorteinteilung, u¨ber die wir in Seminaren immer gesprochen haben, die gibt es faktisch nicht mehr. Es ist vor allem in Regionalzeitungen, deren Bedeutung ich nach wie vor hoch ansiedle, ein sogenanntes »Newsdesk« eingerichtet worden. An diesem »Newsdesk« wird Agenturmaterial verarbeitet, wobei die Eigenbeiträge der Zeitungen zu den großen Themen der Welt immer geringer werden. Fu¨r einige Tageszeitungen ist der einzige u¨berregionale Informationsgeber inzwischen die dpa! Und dann wundert man sich, wenn alle das Gleiche schreiben. Zumeist noch runtergebrochen aus dem politischen Bereich. Das hat Folgen: Die u¨ber viele Jahre bestens ausgebildeten Redakteure mit breiter historischer Kenntnis zur Außenund Weltpolitik oder – um das Feuilleton zu nehmen – der Kultur und Literaturgeschichte gibt es immer weniger. Aber wie soll jemand mit Blick auf die Berichterstattung oder eben auf das, was wir jetzt gerade bereden, seine »Gatekeeper-Funktion« erfu¨llen, wenn er oder sie gar nicht in der Lage ist oder sein kann, auch nur ansatzweise die Entwicklungen selbstständig und kritisch einzuordnen und mit den gelieferten Informationen umzugehen? RBB: Ja, ich kann Dir da nicht widersprechen. Deine Beschreibung trifft es. Freilich gilt das nicht für die überregionalen Tageszeitungen. Ich spreche jetzt nur für die Süddeutsche. Da gibt es natürlich noch Spezialisten und Ressorts. Aber auch hier kommt es zur Ausdünnung. Viele ausgezeichnete Leute sind in den Ruhestand gegangen oder haben die Zeitungen verlassen und sie wurden nicht ersetzt. Aber zur Rezension: Ich weiß, dass mich die kleinen Verlage, wenn eine Rezension erschienen ist, häufig anrufen und sagen: »Wir haben das Buch jetzt – die können es ja verfolgen – an einem Tag 80 Mal verkauft.« CG: Ja, die Kritiken haben nach wie vor eine Funktion, sie werben im besten Fall für ein Buch. Und eine Kritik hat, glaube ich, immer auch Multiplikationseffekte.

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Da spielen auch die sozialen Medien eine Rolle. Im besten Fall wird auf die Rezension oder eben das Buch aufmerksam gemacht, dazu reicht eine Leserin, die beispielsweise Deine positive Besprechung in der Süddeutschen gelesen hat und dann im nächsten Schritt gewissermaßen über ihre Kanäle teilt. RBB: Auf jeden Fall, eine Rezension hat nach wie vor Bedeutung, vor allem für die Vermittler. Aber, wenn es um das Schreiben geht, da versuche ich bei der SZ, also bei unseren Seiten, immer auch das Spektrum derjenigen, die schreiben, zu verbreitern. So frage ich meine Kollegen oder auch deren Kinder. Und auch unsere Praktikanten beziehe ich ein. Das halte ich für ganz wichtig, weil die ja häufig zu ganz anderen Positionen gelangen. CG: Weil wir jetzt bei der Kritik sind und bei einigen Literaturkritiken, lass es uns mal konkreter machen. Die Literaturkritik ist gewissermaßen ein Kind des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Theoretisch würden wir sagen, sie hängt mit der Ausdifferenzierung eines Literatursystems zusammen. Und in diesem Zusammenhang ist immer mal wieder die Rede gewesen, dass es so etwas gibt, wie eine produktive Kritik und eine zerstörende. Johann Wolfgang von Goethe hat davon gesprochen, später auch Marcel Reich-Ranicki als der vielleicht einflussreichste Kritiker im deutschen Sprachraum der letzten Jahrzehnte. Ich könnte mir vorstellen, dass Du die zerstörende Kritik nicht so wirklich gut findest. RBB: Es kommt darauf an, was das konkret meint, zerstörerisch. Also, wenn ein bekannter Autor jetzt mal ein schwaches Buch macht; das schreibt man vermutlich eher nicht. Aber wenn das eine sehr moralisierend-penetrante Geschichte ist, von der man glaubt, dass sie schlichtweg die Maßstäbe verschieben kann, dann wohl schon. Ich werde jetzt auch mal wieder eine negative Kritik schreiben, weil ich mich sehr geärgert habe über ein Buch. Es ist ja so: Man greift die Autoren nicht persönlich an. Aber natürlich kann und muss ich in einer Kritik schon kenntlich machen, wenn die literarische Qualität nicht stimmt. Ich habe da jetzt so ein Kinderbuch, da ist wirklich alles drin, was heute einem Kind passieren kann und – das ist das Schlimme – es ist einfach nur trivial. Und der Autor ist ziemlich bekannt und da will, ja da muss ich einen Verriss schreiben. CG: Wir haben gerade ein Seminar zur Literaturkritik gemacht, eine Art Praxisseminar. Zusammen mit Michael Hametner, der über 20 Jahre beim MDR die Kultursendung »Figaro« gemacht hat und nach wie vor als Literaturkritiker für verschiedene Medien arbeitet. Mein Credo war und ist: Ich schreibe keine Verrisse, das ist mir zu billig. Wir haben darüber im Seminar diskutiert. Und Michael hat zu Recht gesagt, dass er das verstehen könne. Aber ich sei da eben in einer angenehmen Rolle, weil ich nur ab und an mal eine Besprechung schreibe. Das stimmt,

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ich kann es mir aussuchen. Der normale Literaturkritiker oder die normale Literaturkritikerin, die müssen schon mal, so wie Du es eben gesagt hast, auch prononciert sagen, was nicht gut ist und was gut ist. Das ist wie beim Kanon, über den wir jetzt aber nicht sprechen wollen. »Kanonisierung ist«, wie Theodor W. Adorno gesagt hat, »Bildung durch Fortlassen«. Und es geht letztlich immer auch um die Maßstäbe, die kann ein Verriss freilich deutlich machen. RBB: Das sehe ich auch so. Daher sind solche Kritiken auch unverzichtbar. Freilich muss oder sollte man es auch am richtigen Beispiel machen. Es macht ja wenig Sinn, eine junge Autorin runterzuschreiben. Monika Osberghaus, die früher bei der FAZ war, und eine heftige Kritikerin sein konnte – sie macht jetzt ihren Verlag, das Klett Kinderbuch, hat mal zu mir gesagt: »Schreib doch wirklich mal einen richtigen Verriss, das ist doch das Salz in der Suppe! Dann glaubt man Dir mehr, dass Du wirklich nicht nur gute Sachen aussuchst. Oder, dass Du was überliest und gar nicht richtig kritisch bist.« Und ich glaube, dass das stimmt. Kurzum, ich habe mir fest vorgenommen, das an dem von mir bereits genannten Kinderbuch auch zu machen, ich werde es einfach mal sehr schön zerlegen. CG: Wir werden darauf warten, Roswitha. Aber vermutlich werden wir nicht mehr erfahren, um welchen Autor und welchen Text es sich handelt. Jedenfalls nicht bis unser Gespräch gedruckt vorliegt. Aber nochmal zu Monika Osberghaus: Würdest Du ihrem Plädoyer für den Verriss folgen. Wobei es ihr ja nicht um den Verriss schlechthin geht. RBB: Ja. Auf jeden Fall. CG: Dann lass mich einen Einwand formulieren. Mitunter habe ich den Eindruck, ich meine jetzt gar nicht so sehr die Kritik im Bereich Kinder- und Jugendliteratur, dass das fast so etwas wie eine Mentalitätsfrage ist, also mit der Person des Kritikers zu tun hat. Ich behaupte mal: Es ist nichts einfacher, also einen Verriss zu schreiben. Ja, ich gestehe zu: Das stimmt nicht ganz und es ist ein wenig pauschal und ungerecht. Aber ist es nicht mitunter einfacher, einen Verriss zu schreiben, als eine substantielle Kritik. RBB: Das ist natürlich wahr, weil Du da ein bisschen ironisch sein kannst, manche sind sogar zynisch. Und das Draufhauen ist oftmals in der Tat leichter als eine ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Text. Aber während Du das gerade gesagt hast, wird mir bewusst: Das Wichtigste, was ich in diesen ganzen Jahren erlebt habe, ist: Jede Kritik ist persönlich, auch wenn sie von einem wissenschaftlichen Hintergrund aus herkommt, also wissenschaftlich legitimiert ist, mal so gesagt. Dennoch ist sie persönlich. Und es ist so, wenn man Kritiker kennt,

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dann weiß ich, wie die denken und fühlen, und wie sie ihre Kritiken bauen. Letztlich scheint hinter der Kritik immer die eigene Person durch. Du äußerst Dich immer selbst. In dieser Hinsicht gibt es eigentlich keine Objektivität. Freilich, im besten Fall gibt es eine – gegebenenfalls sogar – wissenschaftliche Begründung, die man nachvollziehen kann. Aber in dem Fall, da Du einen Verriss schreibst, da muss der Leser begreifen, warum Du den Verriss machst. Es ist eben nicht damit getan, dass da rauskommt, das ist ein schlechtes Buch, weg damit. Man muss das nachvollziehen können, damit die Chance besteht, auch zu einer anderen Meinung zu kommen. CG: Was Du gerade gesagt hast, das trifft sich mit einer Aussage von Christoph Hein, der ja auch sehr schöne Texte für junge Leser gemacht hat. Noch in der DDR »Das Wildpferd unterm Kachelofen« (1984) oder später dann »Mama ist gegangen« (2004). Also Christoph Hein hat einmal einen schönen Satz gesagt, der in etwa so lautet: »Wer schreibt, kann sich nicht bedeckt halten.« RBB: Ja, das ist völlig richtig. Du gibst etwas von Dir preis, jeder Mensch, der schreibt, macht das. Mal offensichtlicher, mal weniger erkennbar … CG: Du hast das soeben schön auf den Punkt gebracht und gesagt, dass jede Kritik auch persönlich ist. Und sie kann natürlich verletzen. Aber wie ist es eigentlich mit den Autoren? Wir wissen aus der Geschichte der Literaturkritik, dass viele Autoren der Kritik ausgesprochen distanziert gegenüberstehen. Wie ist in dieser Hinsicht Deine Erfahrung gewesen? RBB: Ja, es gab und gibt immer Autoren, die nicht so glücklich über Rezensionen sind, egal ob jetzt kritisch oder lobend. Ich denke immer, bevor ich mich da hinsetzte und eine Kritik schreibe: In den meisten Fällen ist das, was da steht, mit großem Aufwand gemacht und vielen Schwierigkeiten, mit viel Arbeit, ja mit viel »Herzblut« entstanden. Die wenigsten Leute schreiben ja ihre Texte mal so fix runter. Wenn man mal absieht von bestimmten Serien, die der Markt auch braucht. Aber ich muss gestehen, ich habe nach wie vor eine Hochachtung vor der Literatur, nicht nur vor der Kinder- und Jugendliteratur. Mich haben immer wieder mal Leute gefragt: »Wann schreibst denn Du endlich mal [selbst] ein Kinderbuch. Du müsstest es doch jetzt können.« Und dann habe ich immer wieder geantwortet: »Es gibt schon so viele schlechte Kinderbücher.« Nein, darum lese ich auch so gerne, weil ich dann immer wieder denke: Ach, da ist mal ein Motiv, ein Bild, ein Gedanke, das ist doch faszinierend. CG: Auf jeden Fall. Das ist das Schöne. Es besteht immer die Chance, dass man überrascht wird, von einem Motiv und wenn es noch besser kommt, von der ganzen

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Geschichte. Aber versuchen wir einmal und noch weiter uns an die ganz konkrete Kritik heranzutasten. Es gibt ja – gerade, wenn es um die Vermittlung von Methoden geht – gewisse Muster, von denen man sagt, so sollte eine ideale Kritik aussehen. Danach wäre es wichtig, dass die Kritik biographische Informationen zum Autor enthält. Es sollte Informationen zu vorangegangenen Texten gegeben werden. Thomas Anz hat das einmal sehr schön auf den Punkt gebracht. Schließlich geht es um die bisherige Bewertung des Autors, also wo steht er oder sie innerhalb des literarischen Lebens. Dann geht es natürlich um Inhalt und Form, wie man sagt, also um das »Was« und »Wie« des Erzählens und letztlich um die Bewertung des Textes. Wie siehst Du das bei den Kritiken, die für Deine Seite in der Süddeutschen geschrieben werden und die Du selbst schreibst? RBB: Du, das ist, so banal es klingt, eine Platzfrage. Das ist ja ein Handwerk, was wir da betreiben und ich habe nicht unendlich Platz. Also wenn ich jetzt länger über einen Autor schreiben kann und zwei Seiten habe, dann sollte man ihn schon einordnen. Aber wenn ich nur wenige Zeilen habe mit entsprechenden Anschlägen, 60 Zeilen, das wäre ja schon viel. Dann kommt es mir darauf an, dass der Leser erfährt, wer ist das, was macht der oder die und er die Chance hat, das Buch kennenzulernen. Das ist eine Platzfrage. Schön wäre es, wenn man immer alle Aspekte aufgreifen könnte! CG: Es gab mal eine Zeit, da die Kritik von Kinder- und Jugendliteratur noch nicht so recht einen Platz gefunden hatte, also ich nehme jetzt mal die frühen 1990er Jahre, da hatte man den Eindruck, es gibt gar keine Kriterien. Da wird eigentlich nur der U4-Text abgeschrieben, also der sogenannte Waschzettel. RBB: Ach Du, Carsten. Ich glaube, das hat es immer gegeben. Heute schreiben sie es aus dem Internet ab, von Amazon oder woher auch immer. Und natürlich merkst Du das. Daher ist die Voraussetzung aller meiner Kritiker: Ich kenne die Bücher und ich habe sie gelesen. Das ist natürlich ein Luxus, den sich eigentlich kein Mensch mehr leisten kann. Also diese 1.000 Bücher, die im Jahr bei mir ankommen, die werden von mir gelesen. Nicht immer ganz zu Ende, denn natürlich weißt Du ab einem bestimmten Punkt und bei einer bestimmten Sorte von Texten, wie es weiter geht. Aber grundsätzlich: Du musst die Texte lesen! Und wenn Du sie gelesen hast, dann weißt Du auch, wer abgeschrieben hat und wo abgeschrieben wurde. CG: Was Du soeben gesagt hast, das ist – so finde ich – eine ganz entscheidende Aussage, die keineswegs nur für die Literaturkritik gilt. Du musst Dich mit dem Gegenstand, um den es geht, ernsthaft beschäftigt haben. Wir würden mit Blick auf Literatur sagen: Nichts ersetzt das, was man »harte Textarbeit« nennt. Das

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Ergebnis ist nicht billiger zu bekommen. Wobei ich den Eindruck habe, dass genau dies in den letzten Jahren, übrigens auch im Journalismus, zurückgegangen ist. Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf einen Gegenstand ernsthaft einzulassen, sich die Mühe zu machen. Das ist – ich sage das jetzt ganz bewusst – eine Form der Nichtachtung der anderen, die sich breit gemacht hat. Da reden Leute – das betrifft übrigens in hohem Maße auch die Politik – und Du merkst sofort, die haben keinerlei Ahnung. Aber ich schweife ab. RBB: Mit der Politik, das ist so eine Sache. Aber, weil Du den Journalismus und die Kritik selbst ansprichst. Weißt Du, das kann sich heute keiner mehr leisten. Wer hat denn diese, ja ich sage mal, biographische Chance, dass man sich den ganzen Tag und auch noch gerne, mit dem Lesen und der Literatur beschäftigen kann. Schau doch mal, wieviel Geld man dabei verdient bzw. wie wenig. Davon kann niemand existieren, etwa vom Zeilenhonorar, das es gibt. Hinzu kommen die Veränderungen durch die Digitalisierung. Da musst Du noch doppelt so viel machen für die Seiten. Das ist überhaupt kein Vergleich mit jenen Jahren, als ich bei der Zeitung anfing. Ich bin ja viel mehr damit beschäftigt, die Seiten auch fürs Digitale vorzubereiten und dann auch Twitter und die ganzen digitalen Medien zu bedienen. Warum? Weil die Geschäftsleistung darauf achtet, wie viele Klicks erwirtschaftet werden und welche Themen gerade gehen und wie viele Probeabos eingegangen sind. Das ist seit vier, fünf Jahren so und das wird immer extremer. Es gibt bei uns Konferenzen, da tragen Mitarbeiter ihre Meinung über die Zeitung vor. Du, da sitzt eine Frau und sagt: »Ich lese keine Zeitung mehr, also kein Papier mehr, ich gehe nur noch ins Digitale.« Man hat den Eindruck, dass das Zeitungssterben gewollt ist, weil das Digitale einfach billiger ist. Und sie vergessen immer, dass das Geld die gedruckte Zeitung bringt. Also früher, da habe ich die KJL-Seite einmal gemacht, mir die Texte und das Layout schön zusammengestellt. Jetzt mache ich sie dreimal für die verschiedenen digitalen Verwertungen. CG: Das ist eine Frage, die müsste man nochmal genauer diskutieren, weil sie mit dem Zeitungsmachen insgesamt zusammenhängt und natürlich mit dem Anspruch, den die jeweilige Zeitung vertritt. Auch da hat es deutliche Veränderungen gegeben. Also, wo gehört eine Zeitung gesamtgesellschaftlich hin. Welche Positionen markiert sie. Aber das führt uns auf ein anderes Feld, eben eines, das das Verhältnis von Medien und Politik betrifft. RBB: Ja, dem ist so. Und damit hängt das Zeitungsmachen insgesamt zusammen. Wir erleben immer wieder, dass bestimmte Themen, die Literatur betreffen und eben auch die Rezensionen, die bekommen natürlich nicht so viele Klicks. Die werden unten irgendwo aufgeführt.

»Aber grundsätzlich: Du musst die Texte lesen!«

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CG: Kommen wir zum Abschluss. Wenn Du jetzt zurückschaust und nach vorne schaust, welche Tipps würdest Du jungen Leuten geben, die vielleicht irgendwann einmal in die Funktion kommen, Literaturkritiken für Kinder- und Jugendliteratur zu schreiben. Einen Punkt hast Du schon genannt: Die Texte lesen, selbst lesen. Du gehörst zu jenen, die alle selbst gelesen hat. Das unterscheidet Dich sicher von anderen. RBB: Wie sollen sie es denn auch machen, Carsten? Die haben doch keinen Ehemann, der sie ernährt. CG: Aber Roswitha, wir wollen jetzt doch nicht ein Rollenbild bedienen, das so – das weiß ich – gar nicht zutrifft. Aber ernsthaft: Es ist keiner verpflichtet, das zu tun. RBB: Du hast schon recht. Beim 1.000. Pferdebuch seufze ich auch. CG: Gleichviel, wie man sagt. Dennoch: Aber auch das muss man erstmal in der Hand gehabt haben, wie Du zu Recht gesagt hast. Meine Frage war anders gemeint, was sind Deine Essentials nach vielen Jahren in und mit der Literaturkritik? Was würdest Du auf den Weg geben und übermitteln wollen? RBB: Also ich würde schon in der Schule anfangen. Mitunter mache ich auch hier etwas, spreche also über Literatur. Es gibt da immer wieder junge Leute, die gerne über Literatur reden und schreiben. Die muss man bestärken. Und ich hole einige ja auch in die Zeitung. Die machen das dann umso lieber, weil sie ihren Namen lesen wollen. Aber nochmal: Das Gespräch über Bücher ist ganz entscheidend. Du weißt ja, die großen Erfolge wie Wolfgang Herrndorfs »Tschick«, die hängen auch damit zusammen, dass man darüber redet und auch schreibt. Freilich, mit Blick auf die Schule, das hängt natürlich immer wieder von den Lehrern ab. CG: In der Tat, die Schule ist eine zentrale Agentur. Und wenn Du Deine Erfahrungen der letzten Jahrzehnte, zusammenfasst. Ich frage nochmal, was würdest Du weitergeben wollen? RBB: Du meinst, um junge Leute zu ermuntern? CG: Nein, gar nicht um sie zu ermuntern. Ich gebe mal ein Beispiel. Ich habe einmal mit einem hervorragenden Arzt gesprochen, der weit über 2.000 Nasen operiert hat. Nein, das war kein Schönheitschirurg! Dieser Mann hat einmal bedauernd gesagt: Ich habe so viele Erfahrungen in den letzten 40 Jahren gesammelt, aber es tut mir so ungeheuer weh, dass ich davon so wenig wirklich

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Carsten Gansel / Roswitha Budeus-Budde

weitergeben kann. Wie gesagt, ein hervorragender Chirurg, der früher mal an der Universität gewesen ist und nun eine eigene Praxis hatte. RBB: Ach so, das meinst Du. Dann auf jeden Fall: Der erste Schritt ist immer, dass man liest. Das sagten wir bereits. Und es gibt kaum so viele Überraschungen wie in richtig guter Literatur. Und dann darüber zu schreiben, das ist eine große Herausforderung, die auch Spaß macht. Hinzu kommt, dass Literatur immer auch etwas über die Gesellschaft erzählt. Und natürlich auch deine Empfindungen, deine Gefühle, deine Wünsche spiegelt. Und gerade in der Jugendliteratur ist das oft so. Und was Du da erfährst, das kann Dich bestätigen und irritieren. Auf jeden Fall kann es sein, dass Du dich in den Texten selbst erkennst. Und sich dann hinzusetzen und darüber zu schreiben, das ist richtig faszinierend. Und noch besser ist es, wenn Du dann dabei nicht verhungerst. [Lachen] CG: Du hast ja den Wichard! RBB: Ja, ich habe meinen Ehemann [Lachen].

IV Prof. Dr. Benno Pubanz – Ehrung seines Engagements für die KJL

Benno Pubanz

Edith Rimkus-Beseler oder Wie man ein »Guckloch ins Paradies« schafft. Laudatio zum 85. Geburtstag1

Ich war bei der Wahl meines Beitrages unsicher. Logisch schien über den »Umweltpreis der Kinder- und Jugendliteratur« zu reden. Er hat hier im »Wildpark« seinen Ursprung, seine Heimat und ich habe nicht unwesentlich mit seiner Entstehung, Entwicklung und Pflege zu tun. Aber dann habe ich mich anders entschieden. Die Geschichte des Preises ist aufgeschrieben, man kann sie nachlesen, die Bibliothek ist eine Etage höher zu besichtigen und auf dem Weg dorthin lassen sich die Urkunden der bisherigen zehn Preisträger betrachten. Warum also noch darüber reden? Ich habe daher ein anderes, mir aber wichtiges Thema gewählt. Und, nebenbei, ich habe mir dazu eine eigene Kategorie geschaffen – das Thema muss zur Stimmung passen? Ich werde über Edith Rimkus-Beseler, die bedeutendste Porträtfotografin der DDR und die unverwechselbarste Kinderbuchautorin referieren. Sie war mir eine verehrte Freundin, lebte in Hinzenhagen, hier im Kreis Güstrow, mit ihrem Mann Horst Beseler und ihren Kindern, den Kunsttöpfern Ulrike und Sven. Wir konnten uns also jederzeit über den Weg laufen und zunehmend wollten wir das auch. Unsere erste Begegnung war zufällig, so zufällig, dass wir uns beide später nicht mehr daran erinnerten, warum wir uns eigentlich begegnet sind. Der ersten Begegnung folgten weitere, man redete, tauschte Bilder und Texte, las und sah und staunte, dass es viel Gleichklang in den Urteilen, Hoffnungen, aber auch Ängsten gab. Das muss gesagt werden, damit man versteht, warum Edith Rimkus-Beseler mich gebeten hat, ihr zum 85. Geburtstag die Laudatio zu halten, warum sie mich reden ließ und selbst zuhörte. Das fiel ihr nämlich gar nicht leicht, dazu hatte sie zu viel erlebt, hatte sie zu viele Erfahrungen und Erinnerungen. Allein ihr das nachsagen zu können, zeugt davon, wie verschwenderisch sie bis ins hohe Alter lebte, wie sie mut-, hoffnungs- und erwartungsvoll an die Vernunft der Menschen und ihre Einsicht in Gerechtigkeit glaubte. Ja, sie 1 Die Laudatio auf Edith Rimkus Beseler wurde am 14. 03. 2013 in der Landesbibliothek Schwerin zu ihrem 85. Geburtstag gehalten. Auf Quellennachweise wird an dieser Stelle verzichtet.

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Benno Pubanz

glaubte! Und sie vertraute ihrem Glauben, der auf drei Säulen ruhte: ihrem Selbstverständnis von der Würde des Kindes, Ihrer Verehrung für die Natur und ihrem Wunsch, dass der Mensch die Neugier und das Staunen nie verlernt. Wenn man von diesem »Glauben« weiß, versteht man einen Großteil ihrer Bilder, vor allem ihre Kinderbilder, die von der Idee her sicher meist schon lange da waren, aber nicht im Kopf vorbereitet wurden, sondern auf den richtigen Moment warteten, eingefangen zu werden. Aus dieser Sicht erschließt sich mir zum Beispiel das »Guckloch ins Paradies«. Es ist kein Märchen für Kinder, wenn sie beginnt: »Es war einmal – vor nicht allzu langer Zeit – da stand ein dunkelbraunes Pony auf einer grünen Wiese. Im Bauch dieser kleinen Shetlandstute PERLE wuchs ein Fohlen heran«, sondern eine Einladung, der Natur zu lauschen, sie mit allen Sinnen zu genießen, darin einzutauchen, sich aber auch ihrer Verletzbarkeit bewusst zu sein, zu begreifen, dass die Erde nicht nur den Menschen gehört. Keiner kann sich der Poesie dieses Buches entziehen. In unzähligen Briefen, die Edith Rimkus-Beseler dazu bekommen hat, ist das nachzulesen und in jeder Rezension, die es zum Buch gegeben hat. Wolf Spillner schrieb: »Zwischen ›… es war einmal vor nicht allzu langer Zeit …‹ und ›es ist alles möglich, solange die Sehnsucht bleibt‹ … liegt ein Paradies, es ist unverkäuflich.« Im »Nordkurier« war zu lesen: »Was, wo, wie ist das Paradies? Edith Rimkus-Beseler hat sich das gefragt, sie hat auch andere gefragt, sie hat das Leben ihrer Familie, ihre Erwartungen an das Leben und an sich selbst unter die Lupe genommen und – nein, sie ist nicht so vermessen zu behaupten, sie habe das Paradies entdeckt. Aber ein Guckloch ins Paradies hat sie geöffnet.« Brigitte Birnbaum meinte: »Ihre Liebe gilt besonders den Kindern und den Tieren. Aber dies ist keine übliche Geschichte zu diesem Thema … Sie lässt den Leser mühsam erworbene Erfolge miterleben und sich an ihnen mitfreuen. Nimmt ihn mit zu unvergesslichen Erlebnissen in Mecklenburgs Weiten und erinnert: ›Wenn Kinder ohne Unterschied ihre guten Fähigkeiten weitgehend entwickeln können, und dadurch an sich selbst zu glauben lernen, werden wir dem Paradies sehr nahe sein.‹« Eine andere Wortmeldung: »Nie betrachtet die Autorin ihre Welt als fertiges Bild. Sie hat sich die Fähigkeit bewahrt, Details immer neu zu entdecken, Gedachtes neu zu denken. Das gilt für ihre Naturbeobachtungen ebenso wie für die Ratlosigkeit gegenüber der absurden Gier der Menschen nach Macht und Gewalt.«

»Da schwingt ganz leise und unaufdringlich etwas altersreife Pädagogik mit«, heißt es an anderer Stelle. Das ist gewisslich wahr, die kann und will sie sich auch gar nicht verkneifen. Warum sollte sie? Sie hat ihr Menschenbild und dem folgt sie, »edel, hilfreich und gut«. Gitta Lindemann hat einst die Lehrerin, Kunsterzieherin Rimkus-Beseler in ihrer Schule in Langhagen begleitet und beschreibt sie so: Sie ist eine »Lehrerin,

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die das Leben nimmt, wie es kommt und dann etwas daraus macht, die von ihren Schülern verlangt, was in ihnen steckt, vom einen Spitzenleistungen, vom anderen durchzuhalten … Sie versucht viel, weil sie die Kinder sicher machen will im Umgang mit der Kunst.« Alle Bücher die Edith Rimkus-Beseler gemacht hat – das sind zwischen 1954 und 2009 immerhin ein Dutzend – haben ähnliche Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren wie »Das Guckloch ins Paradies«: natürlich mit zunehmender Bekanntheit der Autorin mehr und mehr. Ein Höhepunkt waren die »SchatzFinderKinder« im Jahr 2000. Viele, sehr viele haben sich damals zu Wort gemeldet. Was ihr Uwe Kant und Gisela Karau dazu geschrieben haben, gehört für mich zu dem schönsten. Uwe Kant beginnt: »Als jüngst die Trompeten zum Erscheinen Harry Potters d. IV. gerade am lautesten schmetterten, kam ganz leis, schier unbemerkt von der Menge, ein neues Buch von Edith Rimkus-Beseler aus Hinzenhagen über Langhagen im Kreis Güstrow … auf den Markt.« Aus ihrer Zeit als Kunsterzieherin hatte sie Schülerzeichnungen gesammelt und gemeinsam mit anrührenden Fotografien, die sie im Laufe der Jahre von den Kindern gemacht hat zu dem Bild-Foto-Text-Band »SCHATZFINDERKINDER« versammelt, einem Werk, welches sie ganz zutreffend ›Ein Buch zum Nachdenken über Kinder‹ nennt. Oder doch nicht zutreffend – es ist ja auch zugleich ein Buch zum Mitfühlen mit Kindern. Niemand, der sich auf das Buch eingelassen hat, soll sich genieren, eine Träne zu vergießen wie jener ›Junge mit totem Vogel‹, der im zweiten Teil seines Doppelportraits so entschlossen in die Welt blickt, die den Kleinen und Schwachen nicht immer günstig ist. Gisela Karau schrieb in ihrer Rezension: »In den siebziger und achtziger Jahren brachte ein Schulbus täglich Mädchen und Jungen aus ersten bis zehnten Klassen zum Unterricht in die kleine Landschule nach Langhagen in Mecklenburg. Das war der Ort, an dem Edith Rimkus experimentierte, eigene Vorstellungen vom Lehren und Lernen erprobte und eines Tags den begeisterten Ausruf eines Schülers vernahm: ›Ich habe schon wieder eine Farbe erfunden.‹ Die Lust am Kreativen wird mit jedem neuen Wesen, das zur Welt kommt, neu geboren. Dass das Staunen, die Freude des Entdeckens nicht vergeht, ist Aufgabe der Erwachsenen, nur wissen das viele nicht, oder sie vergessen es im Tagesgetriebe. Dieses Buch hilft uns anzuhalten und nachzudenken …«,

zum Beispiel darüber, warum Kinder zu dem Gedicht von Peter Hacks »Meine Katze Isabo« unglaubliche Farb- und Gestaltungsmöglichkeiten entdeckten, auch eine Katze, die raucht. Nun soll niemand glauben, dass sich all’ dies Können bei Edith RimkusBeseler von selbst eingefunden hat – die Begeisterung wahrscheinlich – aber das Vermögen zur klugen Lehrerin, die Fähigkeit, Menschen genau in dem Augenblick zu fotografieren, in dem sie sich zu erkennen geben, die Meisterschaft Text und Bild auf einen gemeinsamen Punkt zu bringen, haben gründliches Studium und harte Arbeit vorausgesetzt. Es begann mit einem Studium an der Akademie

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der Bildenden Künste Dresden bei Prof. Josef Hegenbarth, beim großen Hegenbarth: seine geistvollen Illustrationen zu Äsops Fabeln, Goethes »Reinecke Fuchs«, Cervantes »Don Quichotte«, Gogols »Tote Seelen« oder E. T .A. Hoffmanns Erzählungen fallen einem ein – bei diesem Meister ist Edith RimkusBeseler also in die Lehre gegangen. Es folgte eine Freie Ausbildung in der Werkstatt des Lichtbildners Pan Walter in Dresden-Loschwitz und dann beginnen nach den Lehrjahren die Wanderjahre, zunächst im Wismut-Bergbau, um sich das Geld für eine eigene Kamera zu verdienen, von dort zum Verlag »Volk und Wissen«, weiter zur Fachschule für Grafik und Buchkunst in Berlin-Schöneweide und nebenher noch zur Humboldt-Universität, um das Diplom als Fachlehrerin für Kunsterziehung zu erwerben. Wissbegierig, wie sie damals war und voranstürmend, ist sie bis ins hohe Alter geblieben. Wie das geht und warum das sein muss, hat sie bei der Eröffnung ihrer Ausstellung zu »Komm mit, sagte das Herz« erklärt: »Will jemand Menschlich-bleibendes schaffen, zu mindestens etwas länger im Gedächtnis der Generationen Haftendes, bedarf es der Zeit, der Geduld, des Risikos, eines nimmermüden Lernens und – es muss von innen kommen, durch einen selbst wachsen, es muss Begeisterung sein um dieser Sache willen.«

Die Ausstellung zum Buch, das schon 2009 erschienen war, stand unter dem eigenwilligen Motto »Gefühle hinter der Kamera«. Gefühle vor der Kamera mag man sich gut vorstellen, aber wie sollen sie hinter die Kamera geraten, zu der Edith Rimkus-Beseler selbst bemerkt, dass »heute jeder intelligente Affe mit modernster Kamera ein fotografisches Bild auslösen kann, indem er auf den richtigen Knopf drückt. Die Automatik wird es liefern.« Genau das ist es, was sie meint. Es genügt nicht ein Perfektionist der Kameratechnik zu sein. Die Kamera ist nur ein Instrument, sie kann und entscheidet selbst gar nichts, alles, was ein eingefangenes Bild auszudrücken vermag, hat der Fotokünstler in einem einzigen, vielleicht nie wiederkehrenden, außergewöhnlichen Augenblick aufgezeichnet. Edith Rimkus-Beseler hat mir davon erzählt, wie einige Bilder für ihr Buch »Komm mit, sagte das Herz« entstanden sind: wieviel Gespräch, Ermunterung und Behutsamkeit es brauchte bis Benno Plundra zu dem einmaligen Lächeln kam, das uns anrührt, warum man Eva Strittmatter in die Nasenlöcher schauen kann, wie sie Alfred Wellm als Nachbarn in Hinzenhagen erlebt hat und ihn deshalb auch so einzigartig portraitieren konnte, wie ihr Ludwig Renn als Adel in seiner Persönlichkeit begegnete oder mit welchen Beklemmungen sie zu Peter Hacks gereist ist, und wie unkompliziert dann die Aufnahmen waren. Peter Hacks hat Edith Rimkus-Beseler seine Reverenz erwiesen! 04. 03. 1978 – »Liebe gnädige Frau, Sie sind sehr freundlich und sehr höflich und, was die Hauptsache ist, sehr gut. Ich kenne Photographen, deren Hauptzweck darin besteht, Zelluloid

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zu verschwenden; ich kenne Photographen, deren Realismusbegriff sie dazu treibt, ihren Gegenstand zum Opfer zu machen. Ich bin über die Maßen froh, jetzt einen Photographen getroffen zu haben, welcher fotografiert. Mein Weib und ich bedanken uns aufs Herzlichste für die Bilder. Wir hoffen, wieder mit Ihnen zu tun zu kriegen. Ganz ergebenst, Ihr Peter Hacks.« Dieser Bild-Text-Erinnerungsband »Komm mit, sagte das Herz« hat seine Geschichte, eine sehr eigene. Edith Rimkus-Beseler hatte vom Kinderbuch-Verlag-Berlin einst den Auftrag erhalten, für einen Jubiläumsband 100 Autoren zu portraitieren. Das war eine große Aufgabe, aber auch ein besonderer Glücksfall. Sie hat beides freudig angenommen. Die Bilder sind entstanden, das Buch dazu nicht, eine Zeitenwende kam dazwischen. Viele Jahre blieben die Bilder verwahrt, bis sich Edith Rimkus-Beseler entschloss, daraus ein Buch ganz besonderer Art zu machen. Sie wählte 25 Portraits aus, verband sie mit ihren Erinnerungen an die Entstehung der Bilder, ließ die Autoren mit Textausschnitten zu Wort kommen und belebte die Texte mit Kinderbildern. Auf solch einen meisterlichen Mix muss man erst kommen. Was daraus geworden ist, weiß jeder, der das Buch in der Hand hatte. »Fotos von einst und Gedanken von heute«, hatte Gundula Engelhard ihre Laudatio zur Präsentation des Buches überschrieben. Im Bild festgehalten sind »›Gesichtslandschaften, Faltenstirnen und Lachfalten‹, Offenheit und Vertrauen, Zuneigung«, erkennt sie. Ihr Resümee: Rimkus-Beseler »hat nach den Perlen der Kinderliteratur gesucht und geborgen, was mit der DDR untergegangen oder allzu hastig entsorgt schien. Das ›Herz‹-Buch hält Wiederbegegnungen für die einen und Neuentdeckungen für die anderen bereit.« Es gibt noch eine andere, das Leitmotiv bestimmende Vorgeschichte, zu »Komm mit, sagte das Herz«. Nachdem Edith Rimkus-Beseler den Auftrag des Kinderbuchverlags angenommen hatte und kreuz und quer durch die kleine DDR gereist war, kam sie auch zu ihren Freunden auf den Schulzenhof, zu Eva und Erwin Strittmatter. Sie kannten sich schon lange. 1954 hatte Erwin sich breitschlagen lassen für den Fotobildband »Erntesommer« den Text zu schreiben. Das war, nach dem, was ich weiß, ein schwieriger Vorgang – Strittmatter arbeitete damals am »Katzgraben« –, aber für Edith Rimkus-Beseler der Beginn einer Beziehung, die vier Jahrzehnte andauern sollte und auch mit dem Tod der beiden nicht endete. Erwin riet ihr, nachdem sie ihm von ihren Begegnungen mit den Schriftstellerkollegen erzählt hatte, wie sie zustande gekommen waren und wie ihr »Gefühl hinter der Kamera« oft sehr geduldig sein musste: »Schreib dir das alles gut auf, man weiß nie, wann man es gebrauchen kann.« Es war ein kluger vorausschauender Rat und nicht der einzige, den sie von den Strittmatters bekam. Ich glaube, es hat nur wenige Menschen gegeben, die in ihrer Beziehung Eva und Erwin Strittmatter so nahe gekommen sind wie Edith Rimkus-Beseler. Dafür gab es viele gemeinsame gute Gründe: ihre Lebensversicherung mit der Natur

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Benno Pubanz

– die einen auf dem Schulzenhof, die andere in Hinzenhagen –, ihre Pferdeleidenschaft, ihre Überzeugung, dass Fortschritt sich nicht nur mit Technik erklären lässt und ihr Glaube daran, dass Kinder intellektuell und sittlich über ihre Eltern hinauswachsen können, wenn man ihnen die Bedingungen schafft. Edith konnte kommen, wann sie wollte. Ein Lager im Stroh oder Heu fand sich immer, wenn es schon spät war und morgens traf man sich dann beim Frühstück oder beim Ausritt. Nur aus dieser Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit des Umgangs miteinander ist zu erklären, warum Edith Rimkus-Beseler von Eva und Erwin Strittmatter so viele Bilder machen konnte: mit strahlendem und ernstem Gesicht, in leidenschaftlichen, intimen und geheimnisvollen Momenten, manchmal alles preisgebend, dann wieder in sich versunken und verschlossen. Ich kenne die Ausstellung, die sie zu Erwin Strittmatters 100. Geburtstag gemacht hat. Sie hat tief in ihrem Archiv nachgegraben und erstaunliches zutage gefördert. Andere haben ihn geschmäht und hätten ihn am liebsten aus dem Gedächtnis seiner Leser gestrichen, sie hat ihm ein Denkmal geschaffen, das an vielen Orten zu bestaunen war. Ich bin ihr dankbar, dass sie in ihre Ausstellung meinen Strittmatter-Beitrag als Begleittext aufgenommen hat. Mit Schiller kann ich jetzt sagen: »Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.« In einem Interview wurden Edith Rimkus-Beseler eine Reihe Fragen gestellt. Ich wähle zwei Fragen und die Antworten dazu für den Schluss: »Wie definieren Sie Glück?« Die Antwort: »Das bestimmen unterschiedliche Situationen. Ich habe in meinem Leben viel Glück erfahren durch Begegnungen mit Menschen, die mein Leben nachhaltig geprägt haben: Vaters Vorliebe für Bücher und Pflanzen, Mutters Aufgeschlossenheit für Gedichte und Musik, im Studium die Professoren Joseph Hegenbarth und Karl Manthey, in der Arbeit und im Alltag mein Mann, Horst Beseler, nicht zuletzt Erwin Strittmatter, der mir den Rat gab ›Suche jeden Tag ein kleines Glück und du wirst es finden‹.« Die zweite Frage: »Was ist für Sie ein verlorener Tag?« Und die Antwort: »Es scheint eigenartig, aber in meinem Gedächtnis finde ich keinen.« Auch eine Antwort auf die Frage, was Glück ist.

Carsten Gansel

Krebsgänge oder Von Toleranz und geistigem Austausch – Für Benno Pubanz

Es muss im Jahr 2013 gewesen sein, da kam mein engster Mitarbeiter, Dr. Norman Ächtler, auf mich zu und versuchte geschickt herauszubekommen, was ich denn von einer Festschrift zu einem Jubiläum halten würde. Er hatte bereits vorab zutreffend vermutet, dass mir dies nicht zusagen würde und daher sogleich einen anderen Vorschlag: »Wie wäre es«, fragte er schmunzelnd, »mit der Edition der Autorengespräche, die Du zwischen 1989 und 2014 geführt hast. Das sind immerhin 25 Jahre.« Das war eine Idee, die ich immer schon mal hatte, aber der Aufwand schien mir zu groß. Zahlreiche der Gespräche waren an unterschiedlichen Publikationsorten erschienen und ein Teil noch gar nicht veröffentlicht. Norman machte sich an die Arbeit und viele aus dem Team hatten daran Anteil, allen voran Heike Müller (†), die damals so etwas wie die Seele unserer Gemeinschaft war. Als alles auf einem guten Weg war, fand Norman, dass es von Interesse sein könnte, wenn wir abschließend ein »Gespräch über Gespräche« machen würden. Damals ahnten wir nicht, dass uns der Austausch weit zurückführen würde in die Vergangenheit. Ein Krebsgang sozusagen. Im Gespräch ergaben sich vielfach Momente, die das Erinnern motivierten und mich an einer Stelle gedanklich zurück führten auf einen Roman, den ich Mitte der 1980er Jahre untersucht hatte, nämlich Uwe Grünings »Das Vierstromland hinter Eden« (1986). In dem Roman gab es eine Figur, Arthur Wellesley hieß die, die die folgenden »berühmten Fragen« stellt: »Wer waren wir? Was sind wir geworden Woher stammen wir? Wohinein sind wir geworfen? Wohin eilen wir? Wovon sind wir befreit?« Die gehen zurück auf einen der Begründer der Gnosis, Clemens von Alexandria, der zwischen 140 und 211 u. Z. gelebt hatte. Über den Roman selbst hatte ich mich Ende 1986 oder Anfang 1987 mehrfach mit einem Theologiestudenten ausgetauscht, und von ihm zahlreiche Anregungen bekommen. Der Theologiestudent war Volker Mischok, der heute Domprediger in Schwerin ist. Der besuchte wie ich – allerdings einige Jahre später – die »John-BrinckmannOberschule« in Güstrow und machte dort Abitur, daher kannten wir uns entfernt. Die Fragen der Gnosis jedenfalls standen mehrfach hinter dem, worüber wir ins erinnernde Gespräch gerieten. Erinnern musste ich mich dabei auch an den

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Autor des Romans, Uwe Grüning, mit dem ich in den 1980er Jahren einen regen Briefwechsel hatte. Das Gespräch, das wir beide dann im Sommer 1990 führten, wurde im »Sonntag«, der Wochenzeitung des Kulturbundes, prominent auf einer Ganzseite abgedruckt. Und hier nun ist endlich der Bezugspunkt zu Benno Pubanz gefunden, der dann nach 1989 so etwas wie der Erhalter des »alten« und Begründer des »neuen« Kulturbundes war und von 1990 bis 2005 als deren Präsident den Landesverband Mecklenburg-Vorpommern durch die Wirrnisse der Wendezeit führte. Reinhard Rösler berichtet in seinem Beitrag von dieser Zeit. Aber da sind wir bereits in der Geschichte weit vorangekommen. Daher sei mit dem Blick zurück eine Erkenntnis auf den Punkt gebracht: Ohne Benno Pubanz würde ich hier nicht stehen! In dem Gespräch, das Norman Ächtler und ich für den Band »Literatur im Dialog« geführt haben und das fast 60 Seiten umfasst, kommt Benno Pubanz allerdings nicht vor. Das liegt nicht am Gespräch, sondern daran, dass in der letzten Fassung durch ein Versehen im Verlag einige Abschnitte schlichtweg verschwunden sind. Der Verlag hat sich im Schreiben an uns dazu bekannt und versichert, in einer möglichen zweiten Auflage diesen Fehler zu korrigieren. Da bislang eine erneute Auflage nicht absehbar ist, ergänze ich an dieser Stelle, was eigentlich im Text stand. Norman Ächtler fragte mich an einer Stelle danach, wie »der Umbruch«, mithin die »Wende« 1989 aussah und welche Folgen sich daraus ergaben. Meine Antwort im Gespräch sah so aus: Ich setze mal einfach mittendrin ein. Es gibt nach 1989 keinen einzigen Bereich der ostdeutschen Gesellschaft, der in diesem Maße evaluiert und letztlich ausgetauscht wurde, wie dies in der Hochschullandschaft geschah. Man möge einmal sehen, ob es in den Räten der Kreise oder Bezirke, den Zeitungen, den Schulen, den diversen Ämtern vergleichbar zur Einrichtung von Ehrenkommissionen und Überleitungskommissionen gekommen ist. Über die Gründe will ich hier nicht spekulieren. Wobei man rückblickend eingestehen muss, dass wir das durchaus als legitim empfanden. Ich habe damals gesagt, dass man diese Vorgänge nicht persönlich nehmen dürfe. Leicht gesagt, ich weiß. Aber im System Wissenschaft sei es nachvollziehbar, wenn die Frage nach der Qualität und Quantität dessen, was es bislang geschafft hat, gestellt würde. Heute ist mir klar, dass es einen Unterschied ausmacht, ob man das mit Mitte 30 sagt oder als – im besten Fall – etablierter Wissenschaftler damit konfrontiert wird. Es geht dann weiter zur eigenen Biografie und dem Hinweis auf Unterstützung von Kollegen aus den alten Bundesländern. »Einigen Kollegen von damals habe ich zu danken«, heißt es in dem Gespräch, »ich denke an Gerd de Haan von der FU Berlin, von dem ich viel gelernt habe und der über viele Jahre ein guter Freund wurde. Ich denke auch an Hans-Heino Ewers von der Goethe-Universität Frankfurt/Main, der mich 1993 zu einer Gastprofessur einlud, mit

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dem ich im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zusammenarbeitete und auch befreundet war.«

Der nachfolgende Abschnitt fehlt aus den genannten Gründen: »Wenn ich aber hier schon Namen nenne, dann sind zwei Personen nicht zu vergessen, die entscheidend für meine Biographie gewesen sind: Dr. Edith Harcks und Prof. Dr. Benno Pubanz, die während des Studiums Anreger waren und danach öfter schützend die Hand über mich gehalten haben. Ohne sie wäre ich möglicherweise irgendwo auf der Strecke geblieben und nicht in der Wissenschaft angekommen. Edith Harcks war meine Seminargruppenberaterin, die mich über die Jahre immer unterstützt und motiviert hat. Bei ihr bin ich die ersten Schritte in Sachen Narratologie gegangen, was damals so nicht hieß. Benno Pubanz war dann sicher die entscheidende Person, denn er hat mich dann im 3. Studienjahr gefragt, ob ich mir nicht vorstellen könne, ein Forschungsstudium zu machen und bei ihm zu promovieren. Das war für mich eine Sternstunde. Und ich habe sofort ›Ja‹ gesagt. Solche Mentoren wie Edith Harcks und Benno Pubanz hat es gebraucht. Sie waren für mich entscheidend.«

Nicht angesprochen ist in dem Gespräch zwischen Norman Ächtler und mir die Frage, wie es weiter ging, angedeutet ist es schon: Ich sprach davon, dass ich nach dem Ende des Studiums nicht vorhatte, zu Goethe, Schiller oder Lessing zu arbeiten, sondern es möglichst mit Gegenwartsfragen und dem aktuellen Literaturprozess in Ost und West zu tun bekommen wollte. Rückblickend betrachtet, war meine Vorstellung naiv, wie ich gegenüber Norman auch zugebe, denn die Begrenzungen auf dem Forschungsfeld, das sich auf die Gegenwartsliteratur bezog, waren weitaus größer als im Bereich etwa der Aufklärung oder Klassik. Eine Ahnung von dem wirklichen Ausmaß der verdeckten Widersprüche bekam ich allerdings erst, als ich um 1980 im sogenannten »Giftturm« der Deutschen Bücherei in Leipzig saß. Benno Pubanz hatte mir die Bescheinigung ausgestellt, und so las ich in der sogenannten »Kontigentliteratur«, also jenen Texten, für deren Studium man eine Sondergenehmigung brauchte, etwas über jene Abschnitte der internationalen und deutschen Literatur, die in Publikationen zumeist nur in einer Fußnote oder gar nicht vorkamen. Rückblickend kann man sagen, dass hier in diesen Jahren mein Interesse für Archive und Quellenarbeit geweckt und von Benno Pubanz gefördert wurde. Ab Mitte der 1980er Jahre fand ich mich durch den Romanisten Werner Krauss bestätigt. Werner Krauss war als Mitglied der »Roten Kapelle« im Dritten Reich im Januar 1943 zum Tode verurteilt worden. Letztlich gelang es, das Todesurteil in KZ-Haft umzuwandeln. In der Todeszelle Plötzensee hatte Krauss seinen Schlüsselroman »PLN. Die Passionen der halykonischen Seele« geschrieben, der 1946 erschien. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er ab 1946 zunächst Professor an der Universität Marburg, und schon ein Jahr später erhielt er einen Ruf an die Universität Leipzig, wo er bis 1958 lehrte und dann an die Akademie der Wissenschaften (AdW) nach Berlin ging. Krauss vertrat die Po-

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sition, dass nur die Sichtung von Archiv- und Originalquellen Neubewertungen und Entdeckungen möglich machen würde; es reiche nicht, die Auslegung von in der Vergangenheit erschlossenen Fakten lediglich vor einen anderen zeitpolitischen Hintergrund zu stellen. Benno Pubanz jedenfalls war als Betreuer der Arbeit, in der es um Fragen der Wertung von DDR-Literatur in der Bundesrepublik ging, ein sensibler Mentor. Bei ihm und bei Edith Harcks bin ich die ersten wichtigen Schritte hin zum wissenschaftlichen Schreiben gegangen. Ich weiß noch gut, wie er mir bei einer der kontinuierlichen Konsultationen sehr zurückhaltend mitteilte, dass das Vorgelegte wohl »etwas zu agitatorisch« geraten sei. Damit war ein Impuls gesetzt, der einen Prozess beförderte. Im Gespräch mit Norman Ächtler habe ich auf eben diese Frage nach dem Prozess geantwortet, dass dieser langwierig und arbeitsreich war und notiert: »Ich habe, etwas naiv vielleicht, meine Aufgabe, wenn man so will, zunächst darin gesehen, permanent Wissen zu akkumulieren. Dahinter stand die Auffassung, was du im Kopf hast, das kann dir keiner nehmen. Aber ich will ein Beispiel dafür geben, was ich mit Prozesshaftigkeit des Vorgangs meine: Uwe Johnson war als Autor von Beginn an Uwe Johnson. Eigentlich schon mit der ›Ingrid Babendererde‹, die ja erst postum erschien, in jedem Fall dann mit den ›Mutmaßungen über Jakob‹. Anders Christa Wolf, die sich von den ›rot angestrichenen Gartenlauben‹ weggeschrieben hat, wie es einmal hieß. Das meint keine Abwertung von Christa Wolf, deren Poetologie sich ja in einem längeren – eben – Prozess herausgebildet hat. Ich sage das, weil ich glaube, dass dies auch in der Wissenschaft, wenn sie auf dem Boden im Osten wuchs, so gewesen sein kann. Kurzum, auch ich habe Zeit gebraucht, um mich von eingelernten Wissensbeständen zu befreien und von ›rot angestrichenen Gartenlauben‹ wegzuschreiben. Das hat Zeit gekostet, aber es war darum auch um so prägender und wirkte nachhaltiger.«

In diesen Jahren war eines ganz entscheidend, glaube ich, gerade für jüngere und jüngste Wissenschaftler. Das war der geistige Austausch. Und Benno Pubanz hat dafür über Jahre fachlich und organisatorisch gewirkt. In der DDR gab es einen kleinen und inoffiziellen Verbund von Forschern, die sich mit der Literatur in der Bundesrepublik beschäftigten. Zumeist einzeln, aber an der Pädagogischen Hochschule existierte landesweit die einzige größere Forschergruppe, die auf die Kinder- und Jugendliteratur in der Bundesrepublik orientiert war und dabei natürlich auch die Allgemeinliteratur in den Blick nahm. Benno Pubanz leitete dieses – so hieß das damals – Forschungskollektiv. Und er war es, der in den 1980er Jahren die Forschungstagungen in Lähnwitz möglich machte. In Lähnwitz bei Lohmen im Mecklenburgischen gab es ein großes Gästehaus der Pädagogischen Hochschule direkt am Lähnwitzsee. Hier trafen sich jährlich um die zwanzig etablierte und junge Wissenschaftler und diskutierten neueste Beiträge und Bücher in einem offenen und kritischen Ton. Dabei war in dem Kreis etwas angesagt: Toleranz. Diese Tagungen stellten eine gänzlich selbstverständliche Form des wissenschaftlichen Disputs in der DDR dar. Ob sie einmalig waren, das

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vermag ich nicht zu sagen, selten aber vielleicht schon. Denn: Hier kamen über viele Jahre Kolleginnen und Kollegen von den Universitäten Rostock, Leipzig, Berlin und Jena sowie von der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin zusammen. Die große Chance für die Jüngeren bestand darin, hier erste Arbeitsergebnisse vorzustellen, den wissenschaftlichen Disput zu lernen und sich auch persönlich auszutauschen. Hinzu kam im Forschungskollektiv, und nicht zuletzt dafür zeichnete Benno Pubanz verantwortlich, eine Verständigung über aktuelle Fragen der Literaturtheorie mit Dieter Schlenstedt und Klaus Städtke von der Akademie der Wissenschaften, die mehrfach zu Arbeitsberatungen nach Güstrow kamen. Es ging damals um das Projekt »Literarische Widerspiegelung« sowie auch um Arbeiten von Jurij M. Lotmann, von dem 1981 bei Reclam »Kunst als Sprache« herausgekommen war, mit einem Nachwort von Klaus Städtke und Ewald Lang. Nun sind dies Aspekte, die das »System Wissenschaft« betrafen. Es geht allerdings – wohl nicht nur damals – um Persönliches. Davon, dass Benno Pubanz mehrfach die Hand über mich gehalten hat, war schon die Rede. Es seien lediglich zwei Beispiele angedeutet: Nach der Promotion, die ich termingemäß und erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde mir plötzlich offeriert, aus der Wissenschaft auszusteigen und eine Karriere im Funktionärsbereich einzuschlagen. Man brauche dort junge Leute, hieß es. Mir war von Anfang an klar, dass dies das Ende meiner Hoffnungen von der Zukunft bedeuten würde und es genau das Gegenteil dessen war, was ich mir vorstellte. Von daher stand meine Antwort von vornherein fest, obwohl ich mir – so musste man das machen – eine Bedenkzeit ausbat. Nach einer Woche wurde ich wieder vorstellig und lehnte das Angebot ab. Damit war die Geschichte allerdings nicht zu Ende: Ich wurde erneut vorgeladen und ein Kollege stellte mich vor die Wahl: »Entweder Du nimmst das Angebot an oder Du gehst für 18 Monate zur Armee, da warst Du doch noch nicht, oder?« Auch heute noch weiß ich – und dies ist kein »Trick der Erinnerung« – wo das Gespräch stattfand und wie ich reagierte. »Dann gehe ich zur Armee«, war meine sofortige Antwort. Und so kam es dann auch. Am 28. Oktober 1981 fand die Disputation statt, und am 4. November 1981 war ich bereits bei der Nationalen Volksarmee, in diesem Fall den Teilstreitkräften der Volksmarine. Benno Pubanz gehörte nicht nur deshalb, weil er sich einmal in einer vergleichbaren Situation befunden hat, zu jenen, die mich durchweg unterstützten und zu keinem Zeitpunkt – wie das andere taten – meine Entscheidung missbilligte. Im Gegenteil: In den 18 Monaten war ich oft bei ihm zu Hause und wir besprachen bereits das damals ins Auge gefasste Thema der Habilitation. So kam es, dass ich mich während der 18 Monate permanent in der vorhandenen freien Zeit mit der Literaturwissenschaft beschäftigte, viel las und zu Konsultationen, besser Gesprächen, bei Benno Pubanz vorbeischaute. Als ich Ende April 1983 zurückkam, konnte ich sofort wieder in die Lehre und Forschung einsteigen. Es sei noch ein

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zweites Exempel genannt, das mit dafür verantwortlich ist, dass ich mit Norman Ächtler ein »Gespräch über Gespräche« führen konnte: An »Kontigentliteratur« zu kommen, das war in der DDR ausgesprochen schwierig. Aber es gab die Möglichkeit, über Hochschulen und Universitäten bei Wissenschaftlern im Westen »Sonderdrucke« anzufragen. Das alles lief über den Auslandsbereich der Einrichtungen, die schickten die Karten weiter und wenn etwas ankam, wurde man informiert. In dem Fall, da es Bücher waren, gingen die natürlich sofort in die hochschuleigenen Bibliotheken. Nun konnte man allerdings die Karten auch selbst in den Briefkasten werfen und seine Privatanschrift darauf schreiben. In diesem Fall ging die Post – wenn die Kollegen im anderen Teil Deutschlands freundlich unterstützend agierten – dann auch direkt an die eigene Wohnadresse. Das war freilich illegal, aber wenn man Glück hatte, kam die Sendung sogar ohne Kontrolle durch. Die Post- und Zollorgane waren schlichtweg überfordert, alles zu kontrollieren. Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass solch ein Vorgehen bei den Zollorganen irgendwann registriert würde. Und so war es in meinem Fall. Ich erspare mir mitzuteilen, was für ein Vorgang nunmehr in Gang gebracht wurde, zumal ein solches Agieren als Straftat bewertet werden konnte. Letztlich kam es nicht dazu, dass alle Register gezogen wurden, ich kam aus der mißlichen Lage wieder frei. Benno Pubanz ist in einem Gespräch, dass er mit mir zu diesem Vorgang führen musste, das einzige Mal laut geworden. Zu Recht, wie mir schon damals klar war. Aber ebenso bin ich mir sicher, dass er mit Sicherheit hinter den Kulissen einen nicht geringen Aufwand hat betreiben müssen, um die entstandene Situation zu entschärfen. Gesprochen haben wir darüber bis heute nicht! Aber eine Lehre habe ich damals gezogen, und ich bin nicht müde geworden sie weiter zu geben: »Keine Hybris entfalten, bescheiden bleiben und den Ball immer schön flach halten. Gerade dann, wenn man glaubt, dass es gut läuft!« Dass Benno Pubanz Jahre später auch derjenige war, der uns dazu motivierte, den Weg nach Polen zu gehen und dort eine Institutspartnerschaft aufzubauen, das sei hier nur angedeutet. Ohne ihn wäre sie nicht zustande gekommen. Das und wie es dann weiter ging, das ist ein Kapitel für sich. Aber auch an der polnischen Einrichtung hat er junge Leute gefördert, in diesem Fall waren es junge Frauen, die teilweise ihren Weg in die Wissenschaft gegangen sind und heute an Universitäten lehren. Und schließlich hat Benno Pubanz 2001 den Umweltpreis der Kinder-und Jugendliteratur im Natur- und Umweltpark Güstrow ins Leben gerufen, deren Jury-Vorsitzender er über viele Jahre gewesen ist. Der Preis gehört inzwischen zu jenen, die eine Geschichte haben. Von Uwe Johnson stammt die zutreffende Aussage »Biographie ist unwiderruflich«, und in einem Essay notiert er, dass die DDR eine Erfahrung war, »obendrein die einer juvenilen Periode«. Aber diese Erfahrung, so Johnson, sollte »nicht verkleinert werden durch die Tricks der Erinnerung. Es gibt da auch Dinge, die der Regen nicht abwäscht«. Das ist in meiner Lesart ein eindeutiges

Krebsgänge oder Von Toleranz und geistigem Austausch

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Bekenntnis zu den gemachten Erfahrungen in der »Demokratischen Republik«. Freilich sei nicht alles, was da an »Biographie gestiftet« wurde, »notwendig zum Leben« gewesen. Das ist typisch Uwe Johnson, schlichtweg dialektisch. Johnson widerspricht letztlich einer einlinigen Abwehr der DDR und der dort gemachten Erfahrungen. Und selbst in dem Fall, da das Erlebte negative Konnotationen aufweist, kann dies für die Biographie, so kann man es lesen, bedeutsam gewesen sein. Letztlich geht es bei Uwe Johnson, der Jahrgang 1934 war, um das »einerseits« und »andererseits«. Dem dialektischen Ansatz mag ich folgen, aber Dinge aufzuzählen, »die nicht notwendig zum Leben« waren, fällt mir schwer. Und insofern möchte ich von den meisten Erfahrungen nichts missen. Dass das so ist, das liegt an Menschen wie Benno Pubanz.

Reinhard Rösler

Benno Pubanz und der (neue) Kulturbund

Als ich zu Beginn der 1980er Jahre an die Pädagogische Hochschule Güstrow kam, hatte Professor Benno Pubanz dort eine Truppe hoffnungsvoller junger Leute um sich geschart, die sich unter seiner Leitung mit aktuellen Tendenzen in der Kinder- und Jugendliteratur der BRD beschäftigten und ihre Diplomarbeiten dazu schrieben. Man wird das heute vielleicht nicht mehr so recht nachvollziehen können, aber es war durchaus etwas Besonderes, an einer Hochschule, die Margot Honecker, der Ministerin für Volksbildung der DDR, unterstand, so explizit zu Literatur von der »anderen Seite« zu forschen und Kontakte zu Autoren und Fachleuten in der BRD zu pflegen. Da gab es manches Stirnrunzeln an der Hochschule und auf allen möglichen Leitungsebenen und der Professor hatte manchen Strauß auszufechten. Die Kontakte blieben übrigens bestehen; 1991 veranstaltete Benno Pubanz gemeinsam mit Malte Dahrendorf die 1. Gesamtdeutsche Konferenz zur Kinder- und Jugendliteratur in Neubrandenburg. Auch als Benno Pubanz dann zwischen 1995 und 2005 an der Universität im polnischen Zielona Góra lehrte, galt sein Interesse der Kinder- und Jugendliteratur und er betreute Magisterarbeiten in beträchtlicher Zahl dazu. Nicht wenige davon hatten mit der Geschichte zu tun, auch und gerade mit der deutsch-polnischen; das schwierige Thema Flucht und Vertreibung wurde dabei keinesfalls ausgespart. Eine ganze Reihe dieser Arbeiten wurde von den Autorinnen auf eigens dazu veranstalteten Konferenzen in der Neubrandenburger Friedenskirche und im Brigitte-Reimann-Haus vorgestellt und diskutiert. Ich gehörte nun in Güstrow weder zu den jungen Leuten noch befasste ich mich mit Kinder- und Jugendliteratur. Ich war zwar in die Forschungsgruppe von Benno Pubanz integriert, stellte aber als eine Art Einzelkämpfer gewissermaßen einen Fremdkörper in ihr dar. Denn ich war, was die Forschung betrifft, auf einem ganz anderen Gebiet tätig, begann mit der Arbeit an meiner Habilitationsschrift, damals in der DDR Dissertation B genannt, und mein Thema war das Literarische Leben in Mecklenburg-Vorpommern in den Jahren von 1945 bis 1949. Und das wurde in meinem Untersuchungszeitraum maßgeblich von einer 1945 gegründeten Organisation namens Kulturbund geprägt – mit vollem

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Namen nannte er sich etwas sperrig, sein Anliegen aber doch treffend benennend »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands«. Mit dem Stichwort Kulturbund bin ich bei meinem Thema, will zuvor aber noch einmal auf die Güstrower Forschungsgruppe zurückkommen. Ich war darin ein Fremdkörper, habe ich gesagt, doch das bezieht sich nur auf mein so ganz anderes Forschungsgebiet damals. Ich las natürlich die zur Debatte stehenden Texte, beteiligte mich an den Diskussionen in der Gruppe, lernte viel dabei und konnte meinen Horizont erweitern. Nie hätte ich sonst etwas von Christine Nöstlingers schönem Buch »Wir pfeifen auf den Gurkenkönig« erfahren und vom Hirbel und dass Ben Anna liebte, wovon Peter Härtling erzählt hat, vermutlich auch nicht. In Güstrow und später an polnischen Universitäten habe ich dann eine ganze Reihe von Diplom- und Magisterarbeiten zu Autoren, die für Kinder und Jugendliche schrieben, betreut. Benno Pubanz und der Kulturbund also. Der »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« wurde im Sommer 1945 gegründet. Eines seiner ursprünglichen Hauptziele war es, Intentionen Johannes R. Bechers folgend, möglichst viele Intellektuelle, nicht zuletzt auch Geistliche, für die Mitarbeit an der demokratischen Neugestaltung zu gewinnen. In den ersten Jahren haben dann tatsächlich zahlreiche Intellektuelle im Kulturbund eine Heimstatt gesehen, ein Forum für den Gedankenaustausch, eine Stätte der Begegnung miteinander und mit Menschen aus anderen Lebensbereichen. Wenn man bedenkt, dass die Gründungsveranstaltung des Landesverbandes MecklenburgVorpommern am 26. August 1945 mit einer Morgenfeier im Schweriner Dom begann und dann im Mecklenburgischen Staatstheater fortgeführt wurde, kann man vielleicht erahnen, wie sich die Verhältnisse in der Anfangszeit des Kulturbundes darstellten. Benno Pubanz hat in diesem Theater in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Gründung des Kulturbunds am 27. August 1995 die Geschichte der Organisation beschrieben, ihre Leistungen gewürdigt und sich vor allem auch zu den Ursprüngen der Vereinigung bekannt.1 Man kann den frühen Kulturbund durchaus als »bürgerlich-antifaschistisch« bezeichnen. In Mecklenburg-Vorpommern standen in den ersten Jahren Willi Bredel und der Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt an seiner Spitze; die Schweriner Ortsgruppe leitete in dieser Zeit mit außerordentlich großem Erfolg der weithin bekannte Schriftsteller Ehm Welk. Die Geschichte des Kulturbundes im Allgemeinen und die des Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern kann hier natürlich nicht nachgezeichnet werden; sehr verkürzt lässt sich sagen, dass die bürgerliche Komponente nach der Euphorie der frühen Jahre kontinuierlich zurückgedrängt wurde. Die SED nahm immer stärker Einfluss auf die Organi1 Pubanz, Benno: »… ihr seid das Volk, das nie auf seine Dichter hört …«. Aufsätze zur Kultur. Schwerin: Edition Nordwindpress 2005, S. 9–14.

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sation, die dann, sozusagen von den »bürgerlichen Schlacken« gereinigt, zur umfassenden sozialistischen Kulturorganisation erklärt wurde. Sie trug seit 1972 auch nicht mehr den langen Namen der frühen Jahre, sondern hieß nun »Kulturbund der DDR«. Seine wichtigste Aufgabe sollte darin bestehen, zur weiteren Herausbildung von Kultur und Kunst der entwickelten sozialistischen Gesellschaft beizutragen.2 Unter dem Dach des Kulturbundes gab es natürlich auch Inseln unpolitischen Denkens und Handelns, auf denen sich Numismatiker, Philatelisten, Bibliophile und Esperantofreunde ebenso wohlfühlten wie Aquarien- und Terrarienfreunde. Mit Recht hat Benno Pubanz aber in seiner Rede im Schweriner Staatstheater darauf hingewiesen, dass der Kulturbund damals durchaus nicht der »kulturelle Gemischtwarenladen« gewesen ist, als der er nicht selten abqualifiziert wurde.3 Gerade der Reichtum der Möglichkeiten, der Pluralismus innerhalb der Organisation, so hat es Benno Pubanz formuliert, »hat den Kulturbund zu einer Begegnungsstätte, zum Forum der Meinungen und Ansichten, zum Ort der Interessen und Neigungen werden lassen.«4 Besonders in den 1980er Jahren wurden die Kulturbund-Klubs zu Zentren geistiger Begegnungen – so in Güstrow der Georg-Friedrich-Kersting-Klub. In jenen Jahren habe auch ich den Kulturbund, zumindest den in Rostock, wo ich damals wohnte und im Wossidlo-Klub im Stadtteil Groß Klein mitarbeitete, als Stätte ganz und gar nicht unpolitischer Debatten erlebt. Wir diskutierten dort mit Schriftstellern wie Volker Braun, Ulrich Plenzdorf und dem Chilenen Omar Saavedra Santis, verständigten uns über die gewissermaßen ungeheuerlichen Vorgänge auf dem X. Schriftstellerkongress der DDR 1987. Dort waren von uns geschätzte Autoren aufgetreten, Christoph Hein zum Beispiel oder aus unserer Region Horst Matthies, und hatten in aller Öffentlichkeit Front gemacht gegen die Zensur, die es ja offiziell in der DDR nicht gab, die aber unter anderem in Form des Genehmigungsverfahrens, das ein Buch vor seiner Drucklegung durchlaufen musste, selbstverständlich vorhanden war. Also, was ich hier nur andeuten kann – der Kulturbund wurde in diesen Jahren wieder stärker zum wirklichen Diskussionsforum; er gewann neue Kraft. Es kam die Wende von 1989/1990, und wie nahezu alle Organisationen im Lande stand der Kulturbund vor dem Nichts. Er ging jedoch in den Wirren der Wendezeit nicht sang- und klanglos unter, was durchaus hätte geschehen können. Er blieb am Leben oder, vielleicht besser ausgedrückt, er wurde zu neuem Leben erweckt. Hier in Mecklenburg-Vorpommern ist das in hohem Maße Benno Pubanz zu verdanken, der von 1990 bis 2005 Präsident des Landesverbandes der Organisation war; die Mitglieder wählten ihn dann zum Ehrenpräsidenten. Wenn man 2 Vgl. Berger, Manfred (Hrsg.): Kulturpolitisches Wörterbuch. Berlin (Ost): Dietz 1978, S. 378. 3 Pubanz, Ihr seid das Volk. 2005, S. 10. 4 Ebd.

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so will, ist Benno Pubanz sogar der Nachfolger Willi Bredels als Chef des Landesverbandes gewesen, denn das Land als Verwaltungseinheit hatte 1952 aufgehört zu bestehen, war in die Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg aufgegliedert worden. Und da gab es eben immer nur die Bezirksvorsitzenden der Organisation.5 In seiner schon zitierten Rede zum 50. Jahrestag des Kulturbundes sagte Benno Pubanz auch, dass sich manch einer zu Beginn der 1990er Jahre gefragt habe, wie es möglich gewesen sei, dass der Kulturbund die Wende überlebt habe. Seine Antwort: In dieser Organisation seien sich zu allen Zeiten Menschen begegnet, »die in gleicher Weise interessierte Partner suchten, die am geistigen Reichtum der anderen teilhaben wollten, die in freiwilliger Gemeinschaft Ideen, Vorstellungen, Wünsche – manchmal auch Träume – Wirklichkeit werden lassen wollten.«6 Und er betonte noch etwas, was ich für besonders wichtig halte: Im Kulturbund kenne man weder Neid noch Niedertracht, man respektiere einander; man gehe sich nicht aus dem Weg, man gehe aufeinander zu. Das sind Werte, Verhaltensweisen, die wir gar nicht hoch genug schätzen können, gerade heute, finde ich. Im Kulturbund, so hat Benno Pubanz an anderer Stelle gesagt, suche niemand nach Macht und Einfluss, nach Posten und Prestige, nach Klüngel und Beziehungen, sondern nach aufgeschlossenen, kreativen, klugen, talentierten Partnern. Und, mindestens ebenso wichtig – wer dem Kulturbund angehöre, wisse, dass er sich dort auch mit existentiellen Fragen unseres Lebens auseinandersetzen könne, ohne einem politischen Programm oder ideologischen Mustern folgen zu müssen.7 Der Kulturbund in Mecklenburg-Vorpommern, den Benno Pubanz mit großem persönlichen Einsatz leitete, hat, um es mit seinen Worten zu sagen, »nach der Wende und der Wiedervereinigung Deutschlands in einer radikal veränderten Wirklichkeit seinen Platz gefunden und behauptet; er wurde zu einer anerkannten und gefragten Institution, wenn es um die Bewahrung geistig-kultureller Werte ging.«8 Was den Kulturbund in diesen Jahren auch stark machte, war seine Zusammenarbeit mit vielen anderen Organisationen, etwa dem Landesheimatverband, dem Landesmusikrat, der Gesellschaft für Schulgeschichte, der Herdergesellschaft, dem Museumsrat, der Fritz Reuter Gesellschaft, mit den Kirchen, mit Sozialverbänden und vielen anderen. So konnten Kräfte gebündelt werden, unterschiedlichste Interessengruppen erreicht und einbezogen werden. 5 Mecklenburg-Vorpommern hieß das Land, wenn man genau sein will, nur bis Februar 1947. Von März 1947 bis zur Auflösung der Länder und der Neugliederung des Territoriums der Sowjetischen Besatzungszone und dann der DDR in Bezirke lautete der amtliche Name nur Mecklenburg. Es sollte wohl nichts an Pommern erinnern. 6 Pubanz, Ihr seid das Volk. 2005, S. 13. 7 Vgl. ebd., S. 5. 8 Ebd.

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Benno Pubanz hat die Leitung des Kulturbundes von Mecklenburg-Vorpommern 2005 abgegeben, just in dem Jahr, von dem an ich für geraume Zeit alle zwei Wochen mit ihm gemeinsam zur Arbeit an die Universität Zielona Góra fuhr. Auf den langen, mitunter umständlichen und manchmal leicht abenteuerlichen Bahnfahrten habe ich viel erfahren über seine Arbeit im und mit dem Kulturbund, auch von den Mühen, die es kostete, Drittmittel einzuwerben, Partner zu finden, Räume für Veranstaltungen aufzutreiben. Es stand ihm ja eigentlich kein Apparat zur Verfügung, den er hätte einsetzen können – der Landesverband verfügte gerade einmal über einen Geschäftsführer und eine Sekretärin. Mit Recht konnte Benno Pubanz 1995, nach den ersten fünf Jahren des Bestehens des neuen Kulturbundes also, sagen, dass der Anfang ungeheuer schwer war und es manchmal kaum zu glauben gewesen sei, dass die Schwierigkeiten dennoch gemeistert werden konnten.9 Und es wurde in den folgenden Jahren ja auch nicht leichter, Drittmittel zu bekommen, es wurde eher schwerer. Aber nicht von diesen Mühen soll hier die Rede sein, es werden auch keine Statistiken bemüht. Ich will vielmehr an einigen wenigen konkreten Beispielen deutlich zu machen versuchen, was es für Benno Pubanz hieß, sich die Bewahrung geistig-kultureller Werte auf die Fahne geschrieben zu haben. Es gelang ihm dabei immer wieder, Partner zu finden, was ja auch für die Akzeptanz des Kulturbundes im Lande spricht. Da gab es etwa im Mai 1997 in Neubrandenburg im Rahmen einer Europa-Woche ein Forum zum Thema »Das eigene Bild im Bild des anderen – Deutsche und Polen in der Darstellung des Nachbarn«, gemeinsam veranstaltet von der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft, dem Kulturbund und dem Studentenwerk Greifswald. Die Referenten kamen aus Deutschland und aus Polen. Es sprach zum Beispiel der Germanistikprofessor Eugeniusz Klin aus Zielona Góra zum Thema »Andrzej Szczypiorski und die Deutschen«, sein junger Kollege Ahmed Rafik Trad über »Tabu-Themen im deutsch-polnischen Umgang«. Mein Vortrag beschäftigte sich mit dem 1992 erschienenen und im deutschen Feuilleton kontrovers diskutierten, insbesondere von Marcel ReichRanicki geradezu vernichtend beurteilten Buch »Unkenrufe« von Günter Grass, für das ich eine Lanze zu brechen versuchte. Ich finde diese Erzählung auch heute noch großartig; sie und der nach dem Buch gedrehte Film boten mir später an der Universität Zielona Góra die Grundlage für Diskussionen mit den polnischen Germanistikstudenten über so manche polnisch-deutsche Problematik. Benno Pubanz sprach über einen Autor, der ihm – wie übrigens auch mir – am Herzen lag und noch immer liegt – Johannes Bobrowski. »Johannes Bobrowski – ein Dichter der Brüderlichkeit« lautete sein Thema und er wies da besonders auf die Aktualität dessen hin, worum sich Bobrowski mit all seinen Dichtungen bemüht hat – den Weg zu den Nachbarn im Osten zu finden, sie zu verstehen. Er betonte, 9 Vgl. ebd., S. 13.

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dass in der Vergangenheit weder in der DDR noch in der BRD die in Bobrowskis Werk angelegten Möglichkeiten dazu wirklich ernst genommen worden sind; er sprach die Hoffnung aus, dass sich dies nun endlich ändern könnte.10 Gewissermaßen in Klammern will ich hinzufügen, dass Bobrowski selbst wohl durchaus skeptisch hinsichtlich der Frage war, ob es uns Deutschen gelingen könnte, aus all den Verschuldungen der Vergangenheit herauszukommen und neu zu beginnen, heißt es doch in seinem wunderbaren Gedicht »Sprache« am Schluss, auf die Mühen der Schreibenden und sich um Verständigung Bemühenden verweisend: »Sprache / abgehetzt / mit dem müden Mund / auf dem endlosen Weg / zum Hause des Nachbarn.«11 Aber »endloser Weg« kann ja auch bedeuten, dass es immer wieder neuer Anstrengungen bedarf, den Nachbarn zu erreichen, also auch und wohl besonders der unseren, dass man nicht nachlassen darf in seinen Bemühungen, auch wenn alles schon hundertmal gesagt worden ist. Ich erinnere mich an so manche Diskussion mit einer meiner polnischen Magisterstudentinnen, die ihre Arbeit zu Bobrowski schrieb. Sie vertrat, was die Endlosigkeit des Weges betraf, eine eher pessimistische Sicht, ich eine vorsichtig optimistische. Am 15. Mai 2013 gab es, 80 Jahre nach der Schande der Bücherverbrennungen von 1933, im Gebäude der Stadtwerke Schwerin eine Veranstaltung unter dem Titel »Scham und Schande – 80 Jahre Bücherverbrennung in Deutschland«. Neben dem Eröffnungsvortrag von Benno Pubanz waren es besonders Wortmeldungen mehrerer Teilnehmer, die den Charakter des Treffens bestimmten. Aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beschäftigten diese sich in kurzen, prägnanten Beiträgen mit dem ungeheuerlichen Ereignis von 1933; auch vor bedrohlichen Entwicklungen heute wurde gewarnt. Die Schriftstellerin Jutta Schlott sagte gerade dazu Bedenkenswertes, auch die Schweriner Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow meldete sich zu Wort, der Direktor des Schweriner Konservatoriums und andere. Das Besondere dieser Wortmeldungen lag darin, dass im Vorfeld keiner vom anderen wusste, unterschiedlich geprägte Sichtweisen auf das Ereignis, eigene Erfahrungen, Haltungen und Bekenntnisse mitgeteilt wurden. 1947 war in Erinnerung an die Bücherverbrennung der »Tag des freien Buches« erstmalig in der DDR begangen worden; in Schwerin hatte der Schriftsteller Ehm Welk seinerzeit dafür gesorgt, dass alle Buchhandlungen und Leihbüchereien in ihren Schaufenstern Werke der 1933 verbotenen und verbrannten Literatur ausstellten. Dass sich der neue Kulturbund in diese Tradition stellte, war selbstverständlich. 10 Pubanz, Benno: Johannes Bobrowski – ein Dichter der Brüderlichkeit. In: Glasbrenner. Periodicum der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft e. V. 8, 1997, H. 1, S. 3–7. 11 Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Erster Band: Die Gedichte. Berlin: Union Verlag 1987, S. 117.

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Im November 2014 stellte die Hugendubel-Buchhandlung am Schweriner Marienplatz dem Kulturbund ihre Räume für eine Veranstaltung zu Willi Bredel zur Verfügung. Benno Pubanz hatte sie unter das Motto »Wehrt Euch! Lass dir kein Unrecht gefallen!« gestellt. Bredels Werk und sein Wirken in MecklenburgVorpommern wurde in differenzierter Weise behandelt; seine im Schwerin der ersten Nachkriegsjahre angesiedelte Novelle »Frühlingssonate« spielte ebenso eine Rolle wie seine Bedeutung für den Kulturbund und für das literarische Leben im Lande. Schließlich hatte Willi Bredel nicht nur den Kulturbund geführt; er gab auch die angesehene Literaturzeitschrift »Heute und Morgen« heraus und gründete und leitete den Schweriner Petermänken-Verlag. An der Veranstaltung nahmen Gäste aus Hamburg teil, Vertreter der dortigen Willi-Bredel-Gesellschaft, die von ihren Bemühungen um Bredel berichteten. Ein zahlreiches Publikum hörte aufmerksam zu und es gab eine rege Diskussion. Wer sonst als der Kulturbund wäre überhaupt auf die Idee gekommen, an Willi Bredel zu erinnern? Die Rostocker Stadtbibliothek jedenfalls hatte den Namen Willi Bredel, den sie in der DDR getragen hatte, nach der Wende alsbald abgelegt. Schließlich ein letztes Beispiel für die Bereitschaft vieler, Benno Pubanz zu unterstützen: Im November 2016 stellte die Stadtbücherei Schwerin dem Kulturbund ihre Räume für eine Veranstaltung unter dem Titel »Im Nachklang. Meine Begegnung mit Hermann Kant« zur Verfügung. Kant war am 14. August 2016 verstorben; die Redner dieses Abends berichteten auf sehr persönliche Weise von ihren Begegnungen mit dem Autor bzw. mit seinen Büchern. Was immer man auch in den letzten Jahren gegen Hermann Kant vorgebracht hat – für mich war und ist besonders wichtig, wie er in Romanen wie »Der Aufenthalt« und »Okarina« mit der Frage nach der eigenen Mitschuld im Krieg umgegangen ist. Andere Schriftsteller, etwa seines Alters und wie er als ganz junge Menschen in den Krieg geraten, hatten inzwischen zu verstehen gegeben, selbst in SSEinheiten gleichsam unschuldig durch die letzten Kriegswochen gekommen zu sein. Hermann Kant dagegen hat sich wie kein anderer Autor seiner Generation mit der Frage um die eigene Mitschuld gequält. Sein autobiographisch geprägter Held Mark Niebuhr hat geschossen, in Polen war das, und er betrachtet den »Aufenthalt« in Gefängnissen und Lagern dort nicht als ein ungerechtes Schicksal. Er ringt sich zu der Erkenntnis durch, dass die, die ihn einsperrten, Recht hatten, einen Feind in ihm zu sehen. Wie die Veranstaltung zu Willi Bredel ist mir gerade dieser Abend für Hermann Kant ein Beleg dafür, dass es Benno Pubanz nie darum ging, im Mainstream zu schwimmen. Themen, die ihm am Herzen lagen, griff er auf, er suchte und fand dafür immer Mitstreiter. Dass auch ich an diesem Abend zu ihnen gehören durfte, freute mich sehr. Meine Begegnungen mit Hermann Kant waren und sind vor allem Begegnungen mit seinen Büchern; sie begannen in meiner Zeit als Student und als ich dann Deutschlehrer, später Germanist im Ausland und an der Pädagogischen Hochschule Güstrow

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und an der Universität Rostock war, hatte ich immer mit seinen Texten zu tun. Seine Bücher begleiten mich seit mehr als 50 Jahren und nicht wenige von ihnen gehören zu denen, die ich, wie auch Bücher von Theodor Fontane und Thomas Mann, immer wieder lese. Noch einmal zurück zu den Anfängen. Ein absoluter Schwerpunkt in der Arbeit des frühen, sozusagen Bredelschen Kulturbundes in Mecklenburg-Vorpommern war das so genannte Goethe-Jahr 1949; Anlass war der 200. Geburtstag des Dichters und es wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Es fand sogar eine Vollsitzung des Landtages am 28. August 1949 als »Goethe-Festsitzung« im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin statt; die Festrede unter dem Titel »Goethes Erbe in unserer Zeit« hielt Willi Bredel. Fünfzig Jahre später, am 28. August 1999, sprach, nun nicht im Mecklenburgischen Staatstheater, aber in nicht weniger glanzvollem Rahmen, nämlich im Thronsaal des Schweriner Schlosses, Benno Pubanz zum 250. Geburtstag Goethes. Die Konstellation ähnelte der damaligen sehr – der Landtagspräsident hatte die Schirmherrschaft übernommen und den Thronsaal als Rahmen zur Verfügung gestellt, Abgeordnete aller Landtagsfraktionen nahmen teil, und der Präsident des Kulturbundes hielt die Festrede. Ich kann den Inhalt und den Gedankenreichtum dieser Rede hier nicht nachzeichnen; ich weise nur darauf hin, dass Benno Pubanz dazu aufrief, wir sollten uns auf Goethe und seinen sozialen Humanismus besinnen. Er betonte, dass über Goethe zu reden heiße, Fragen an unsere Zeit, ihre Zeugen und ihre Ziele zu stellen. Und das tat er. Willi Bredel hatte in seiner Rede 1949 recht kurzschlüssig gemeint, alles, was Goethe erträumt habe, alle seine sozialen Utopien seien nun verwirklicht oder doch auf dem besten Wege dazu. Benno Pubanz betonte, vor wie vielen ganz neuen, ganz anderen Herausforderungen wir heute stehen und er meinte, es werde unserem Gemeinwesen gut tun, Goethes Utopien, Ideale und Maximen wieder bewusster zu machen.12 Er sagte das im Jahr 1999; zwanzig Jahre später besteht diese Aufgabe noch immer. Benno Pubanz hat seine Funktion als Präsident des Kulturbundes in Mecklenburg-Vorpommern niemals als eine zum Repräsentieren verstanden. Es war ein Amt, das viel harte Arbeit mit sich brachte, und er nutzte das Podium des Kulturbundes dazu, streitbar seine Meinung zu sagen zu wichtigen Fragen unserer Zeit. Ich nenne nur einmal die Titel einiger seiner Vorträge, Reden und Aufsätze,13 um das zu verdeutlichen: »Man muss den Mund aufmachen, wenn man Geschichte anders kennt, als sie beschrieben wird« – da wendet er sich energisch gegen die Meinung, die DDR sei nur eine Fußnote in der Geschichte 12 Vgl. den Wortlaut der Rede in Pubanz, Ihr seid das Volk. 2005, S. 14–24. 13 Für die folgenden Bemerkungen konnte ich einen Privatdruck nutzen, in dem Benno Pubanz unter dem Titel »Man muss den Mund aufmachen! Wider die Küchen- und StammtischRevoluzzer« Reden und Aufsätze aus den Jahren nach 1996 zusammengestellt hat.

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gewesen, beschwört seine Zuhörer, ihre Geschichte nicht zu vergessen, ruft zu aufrechtem Gang auf und dazu, Selbstbewusstsein zu zeigen. Er sprach über »Persönlichkeit und Gesellschaft« und über »Wir und unsere polnischen Nachbarn«, er sprach über »Rassismus und Gewalt« und beschäftigte sich mit Johann Gottfried Herder und Christa Wolf. Er hielt die Laudatio auf Helmut Sakowski zu dessen 80. Geburtstag im Schweriner Schloss und verteidigte Erwin Strittmatter gegen ungerechtfertigte Angriffe. Sein Interesse galt auch Jürgen und Ursula Kuczynski – Ursula Kuczynski, das ist die Sonja aus »Sonjas Rapport«, ist die Schriftstellerin Ruth Werner, die auch schöne Kinderbücher wie »Die gepanzerte Doris« geschrieben hat, das gerade wieder auf den Buchmarkt gekommen ist. Die Geschichte und das Schicksal des »Schwebenden« von Ernst Barlach im Güstrower Dom liegt ihm am Herzen und er sprach über die Suche nach dem Begriffsinhalt von Heimat – letzteres im Zusammenhang mit dem Schriftsteller Wolf Spillner, Verfasser bedeutender Bücher für junge Leser wie Erwachsene gleichermaßen. Seinen Roman »Wasseramsel« von 1984 nenne ich hier vor allem, der immer wieder neue Auflagen erlebte. Wolf Spillner, der mit seinem Jugendbuch »Taube Clara« den Deutschen Jugendliteraturpreis 1991 erhielt, wäre übrigens ganz gewiss auch ein Kandidat für den »Umweltpreis der Kinderund Jugendliteratur« gewesen, einen Preis, der, von Benno Pubanz initiiert, in Güstrow seit 2001 vergeben wird. Am Ende seiner Goethe-Festrede von 1999 zitierte er Verse von Erich Kästner: »Ich bin der Dichter, / der euch anfleht und beschwört. / Ihr seid das Volk, / das nie auf seine Dichter hört.« Und dann sagte er noch: »Vielleicht hat sich Kästner einmal in seinem Leben geirrt.«14 Benno Pubanz hat immer wieder voller Sorge auf die ungeheure Macht heutiger Unterhaltungsindustrie und die Oberflächlichkeit vieler Menschen und ihre Verführbarkeit hingewiesen. Er hat dennoch die Hoffnung nicht aufgegeben, dass humanistische Kunst auch heute wirken kann.

14 Pubanz, Ihr seid das Volk. 2005, S. 24.

Rita Buchweiz

Ein Dankeschön an einen unermüdlichen Leser und Vermittler von Literatur

Ich danke für die Einladung zu dieser Tagung, die mir die Gelegenheit verschafft, mich einmal vor einem größeren Gremium bei Prof. Dr. Benno Pubanz für die Bereicherung zu bedanken, die wir in den letzten 30 Jahren in unterschiedlichen Gremien durch seine zahlreichen Aktivitäten, vor allem Vorträge, erfahren haben. Benno Pubanz gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Vereins der Freunde und Förderer des Ernst-Barlachtheaters Güstrow, der sich 1989 konstituierte und von dem zahlreiche kulturelle Aktivitäten organisiert wurden. So lud Benno Pubanz am 1. Juni 2004 den Vorstand und alle interessierten Vereinsmitglieder in das Schweriner Schloss zu einer Veranstaltung ein, die zu Ehren des 80. Geburtstages von Helmut Sakowski stattfand. Die Festrede auf den Jubilar hielt Benno Pubanz. Er begeisterte uns besonders durch seine methodische Herangehensweise und seine Haltung. Wir hatten inzwischen die »Zerstörung der eigenen medialen Öffentlichkeit« erleben müssen, von der der Historiker Klaus Wolfram notiert, dass »die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine Bevölkerung eben erobert hatte«, umschlug in »belehrende Entmündigung«.1 Benno Pubanz ließ sich an diesem Tag und bei allen folgenden 1 Wolfram, Klaus: Wo sie das alles gelernt hatten. In: Neues Deutschland, 26. 06. 2020. (letzter Zugriff: 15. 03. 2022). Klaus Wolfram gehörte zu einer Gruppe engagierter Oppositioneller, die bereits ab Mitte der 1970er Jahre für Reformen in der DDR eintraten. Im Handbuch »Wer war wer in der DDR?« wird seine Biografie wie folgt zusammengefasst: »Geb. in Berlin; Vater Theaterregisseur Gerhard W., Mutter Schauspielerin; EOS, 1969 Abitur; 1969 / 70 wiss.-techn. Mitarb. im IML, Marx-Engels-Abt. (MEGA-Edition); 1970 Kand., 1971 SED; 1970–74 Studium der Philos. an der HU Berlin; 1975 Mitarb. des IPW, Hauptabt. Ökonomie; Frühjahr 1975 Gründung einer illeg. opp. Gruppe (mit Wolfgang Templin, Sebastian Kleinschmidt u. a.); nach Zerschlagung der Gruppe durch das MfS im Juni 1977 Berufsverbot für wiss. Tätigkeit u. Ausschluß aus der SED; 1977–81 Fabrikarbeiter im VEB Steremat Berlin; vergebl. Bewerbungen an wiss. Instituten, 1981 / 82 arbeitslos; fortgesetzte Aktivitäten in opp. Kreisen; 1982–89 Lektor im Akademie-Verlag; Sept. 1989 Mitgl. im Neuen Forum (NF), Mitgl. im Arbeitsaussch. des NF, ab Nov. 1989 Ltr. der Programmgruppe, ab Dez. NF-Vertreter in der Verfassungsgruppe des zentr. Runden Tischs; Dez. 1989 Mitbegr. der BasisDruck Verlag GmbH, einem der ersten unabh. DDR-Verlage; Jan. 1990–Aug. 1992 Hrsg. u.

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Rita Buchweiz

Auftritten die Deutungshoheit nicht aus der Hand nehmen. Er schilderte Sakowski als einen bedeutenden sozialistischen Schriftsteller, dessen »literarische Versuche der Sehnsucht nach einer gerechten Ordnung der Dinge geschuldet waren, der Solidarität mit den Benachteiligten«. Neu für viele von uns Zuhörern waren Sakowskis Erfolge in der Kinderliteratur. Bücher wie »Raoul Habe nicht« und »Katja Henkelpott« waren in Verlagen der alten Bundesrepublik in hohen Auflagen erschienen. Bei vielen anderen Gelegenheiten hat Benno Pubanz seine Arbeiten zur Kultur vorgetragen, ich erwähne hier nur die Veranstaltung im Güstrower Dom zum 100. Jahrestag der Ansiedlung Ernst Barlachs in Güstrow im April 2010 mit dem Titel »Barlachs Domengel – Ehrung und Ächtung«. Es war dies eine gemeinsame Veranstaltung des Kulturbundes und der Domgemeinde. In Güstrow wurde 1991 ein Bund der Ruheständler an der Pädagogischen Hochschule gegründet, heute offen für alle, die sich für Kultur im weitesten Sinne interessieren. Auch hier, vor dieser zahlenmäßig starken Gruppe, meldet sich Benno Pubanz regelmäßig zu Wort mit Beiträgen zu Johannes Bobrowski, zu Jürgen und Ursula Kuczynski, Christa Wolf, Erwin Strittmatter oder Jutta Schlott, um nur einige zu nennen. Weitere Veranstaltungen, darunter ein Vortrag über Marcel Reich-Ranicki, mussten wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. Der letzte Beitrag aus dem Jahr 2019 ist mir noch in guter Erinnerung. Anlässlich des 80. Geburtstages von Volker Braun würdigte Benno Pubanz Leben und Werk dieses außergewöhnlichen Dichters, der mich immer wieder durch seine Hellsichtigkeit und dialektische Weltsicht fasziniert. Vielen Zuhörern waren die neueren Texte, über die Benno Pubanz sprach, nicht bekannt. Immer wieder beeindruckt mich ein Gedicht von Volker Braun aus der Wendezeit, auf das der Referent im Vortrag ebenfalls verwies, »Das Eigentum«: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen. KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN. Ich selber habe ihm den Tritt versetzt. Es wirft sich weg und seine magre Zierde. Dem Winter folgt der Sommer der Begierde. Und ich kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und unverständlich wird mein ganzer Text. Was ich niemals besaß wird mir entrissen. Red. der ersten unabh. Ztg. ›Die Andere‹; 1990 Mitbegr. der Robert-Havemann-Ges. e. V., Mitbegr. der Stiftung ›Haus der Demokratie Berlin‹, Vorstandsarbeit im ›Haus der Demokratie‹. 1991–2008 Vorstandsarbeit in der Robert-Havemann-Ges.; 1993 Teiln. am Arbeitskampf im Kaliwerk Bischofferode; 1994–99 Redaktionsmitgl. der Ztschr. ›Sklaven‹; 1998–2004 Vorstand im Haus der Demokratie; seit 1994 Lektor im BasisDruck Verlag.« Barth, BerndRainer: Eintrag Wolfram, Klaus. In: »Wer war wer in der DDR?« (letzter Zugriff: 12. 03. 2022).

Ein Dankeschön an einen unermüdlichen Leser und Vermittler von Literatur

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Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen, Die Hoffnung lag im Weg wie eine Falle. Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. Wann sag ich wieder mein und meine alle.«2

Zum Schluss möchte ich kurz auf den im Programm genannten Literaturkreis eingehen. Vor fünfzehn Jahren habe ich als »Leseverführerin« damit begonnen, monatlich einmal Bücher vorzustellen. Dieser kleine Kreis trifft sich heute noch, eine offene Runde zwischen zehn und zwanzig Personen. Wir haben noch immer den Standortvorteil, dass Dozenten aus der ehemaligen Pädagogischen Hochschule bereit waren, unentgeltlich bei uns zu sprechen, Prof. Dr. Neumann, Prof. Claus-Schulze und natürlich auch Prof. Dr. Pubanz. Aber auch Lehrerinnen, Erzieherinnen oder Laborantinnen sind enthusiastische Leserinnen und stellen gern ein Buch vor, so dass wir über Jahre hinweg ständig neue Leseanstöße geben und deutsche Schriftsteller und Autoren aus der ganzen Welt vorstellen konnten, darunter Christoph Hein, Sigrid Damm, Regina Scheer, Daniel Kehlmann, Robert Menasse, Margaret Atwood, Swetlana Alexijewitsch. Durch Benno Pubanz, der uns manchmal mit Ergebnissen von polnischen Magisterarbeiten bekanntmachte, haben wir auch Bücher von Kinderbuchautorinnen kennengelernt wie Gudrun Pausewang, die bei uns weniger verbreitet waren. Unsere Lesereisen führen uns von den Wanderarbeitern in China über Russland, Polen und Deutschland nach Island, wir tauchten ab zu Karl dem Großen, erlebten die Greuel des Dreißigjährigen Krieges und der Kriege aus der jüngsten Vergangenheit und Zukunft. Viele Fragen taten sich auf. Zufrieden war ich immer, wenn wir zu einer echten Diskussion fanden, und glücklich, wenn viele Teilnehmer das Buch vorher auch gelesen hatten, wie beispielsweise »Machandel« von Regina Scheer, eines unserer Lieblingsbücher. Manchmal gibt es Themen, ich nenne sie Selbstläufer, da kann ich die Teilnehmerinnen kaum stoppen, das letzte hieß »Ein Kinderbuch, das mich für mein Leben beeinflusst hat«. Alle Teilnehmer hatten sich darauf vorbereitet und wollten zu Wort kommen, so dass wir im Eifer die Zeit überschritten und ein Taxi warten ließen, das unsere älteste Teilnehmerin mit 94 Jahren regelmäßig abholt. Das ist nun auch schon wieder Geschichte. Am Montag hatten wir unsere erste Veranstaltung nach der Corona bedingten Pause, nun ohne die alte Dame. Vorgestellt wurde ein Briefroman über einen Buchclub auf einer englischen Kanalinsel während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Ich mache es kurz: Wir danken Benno Pubanz!

2 Braun, Volker: Das Eigentum. In: Ders.: Lustgarten, Preußen. Ausgewählte Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 141.

Jutta Schlott

Das eigene Bild im Bild der Andern oder Der Fährmann Benno Pubanz

Rhetorische Frage: Wer ist ein Fährmann oder eine Fährfrau? Ein Mensch, der andere mit seinem Gefährt von einem Ufer ans andere bringt. Über einen Fluß, über einen See. Manchmal ist er auch ein Über-Setzer und trägt Literatur von einer Sprache in eine andere. Im übertragenen Sinn hilft der Fährmann den ihm Anvertrauten über die dunklen Wasser der Dummheit und der Intoleranz an die helleren Gestade des Wissens, der heiligen Neugier und der Völkerfreundschaft, heute ein leider fast vergessenes Wort. Gestatten Sie mir am Ende dieses inhaltsreichen Tagungstages ein paar Bemerkungen zu deutsch-polnischen Beziehungen, zur Literatur, die sie reflektiert, und natürlich zum Jubilar, zu Benno Pubanz, dem Fährmann von Sachkenntnis und Literatur. Internationalität beginnt immer im Regionalen, im Lokalen. Hier das Engagement von Benno Pubanz für seine Stadt und ihre Kultur auszubreiten, hieße Barlach nach Güstrow zu tragen. Kein Glücksfall, der vom Himmel fiel, sondern Resultat beharrlicher Arbeit, daß es dem Pädagogen Pubanz gelang, in Gestalt des »Umweltpreises für Kinder- und Jugendliteratur« drei sehr eigenständige Phänomene unter einen Hut zu bringen: Kinder und Natur und Literatur. Hier am schönen Rand der Stadt, im ›Natur- und Umweltpark‹, dem Wildpark von Mecklenburg-Vorpommern, in dem wir tagen dürfen, haben dieser Preis und seine Jury ihr zuhause. Vermittler Pubanz verstand es, für diese Symbiose Preisgeld zu organisieren, von Ehre allein lebt es sich schlecht. Eine gedeihliche Verbindung entstand, die nun schon auf ein stolzes Jahrzehnt zurückblicken kann. Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichen Schulen der Region bestimmen gleichberechtigt mit, was gut und preiswürdig ist – und was nicht. Eine scheinbare Formalie, meist schwer durchzusetzen, und Ausdruck der wahrhaft demokratischen Grundgesinnung des Literaturwissenschaftlers. Zurück zum Fährmann zwischen den Völkern. Vor seiner Zeit an der Pädagogischen Hochschule Güstrow lehrte Benno Pubanz in den sechziger Jahren im bulgarischen Sofia, und nachwendisch viele Jahre an der Universität von Zielo-

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na Góra. Ein umtriebiger Mann, welterfahren und selbstkritisch. Er weiß, daß der Faschismus das Ansehen der Deutschen in den Augen ihrer Nachbarn, besonders der polnischen, für mehr als eine Generation fundamental verdorben hat. Ein schwer reparabler Schaden für beide Seiten. In seiner ebenso unaufdringlichen wie zielbewußten Art versuchte Benno Pubanz die Aufmerksamkeit der Studierenden immer auch auf die anderen, die unvoreingenommenen, wissbegierigen Deutschen zu lenken; auf die mit den symbolisch offenen Armen. Zitat: »Wer vom anderen nichts weiß, versteht ihn nicht.« Pubanz schreibt im Jahr 2001 einen Aufsatz, eine Betrachtung, unter dem Titel »Der schwierige Umgang junger Polen mit den Erinnerungen ihrer Eltern an Krieg, Vernichtung, Flucht und Vertreibung«. Dort steht: »Für Deutsche wie für Polen kann es kein Recht des Außenstehenden geben. Sie sind eingebunden in alle Verletzungen, die sie sich gegenseitig beigebracht haben und in alle Folgen, die noch immer wirken.« Benno Pubanz stellt sich der Aufgabe, mit den Augen der Nachgeborenen das eigene Bild im Bild der anderen zu erkennen und er stellt die Aufgabe den jungen polnischen Studentinnen und Studenten. Die Ergebnisse sind oft bitter. Sie offenbaren die verderblichen Pauschalisierungen auf beiden Seiten, besonders in der Generation der ›nachwendisch‹ Geborenen. Es gibt einen Punkt, an dem sich die Erfahrungen von Benno Pubanz und meine Erinnerungen berühren: Die Stadt Frankfurt. Ich bin ein Kind von fünf oder sechs Jahren. Ich stehe mit meiner Mutter und ihren Eltern am linken Ufer der Oder. Tief erschrocken sehe ich, wie mein Großvater minutenlang schweigend auf das Wasser starrt. Er ringt mit den Tränen, bis sie ihm schließlich unaufhaltsam über Wangen laufen. Die Erwachsenen waren verstummt. Ich spürte ihre Bedrückung und wagte nicht zu fragen. Erst viel später erfuhr ich, daß meine Familie vor dem Krieg auf der anderen Seite des Flusses, in der Dammvorstadt, heute Słubice, gelebt hat. Meine Mutter und ihre beiden Brüder sind dort geboren und zur Schule gegangen. Einfach über die Brücke ins Nachbarland – das war Anfang der fünfziger Jahre nicht möglich. Eine Grenze zwischen zwei Staaten. Und selbst wenn: Das Zuhause auf der anderen Seite war für immer verloren. Mein Großvater, ein begabter Laienfotograf, nahm damals das Panorama des gegenüberliegenden Ufers auf. Er setzte drei Fotos so zusammen, daß sie ein Gesamtbild ergaben. Diese gerahmte Ansicht hing bis zum Tod meiner Großeltern in ihrer Guten Stube, daneben ein Foto der Mole von Kolberg. Kołobrzeg mit polnischem Namen, mein Geburtsort. Meine Mutter hat mich dort im Oktober 1944 zur Welt gebracht. Sie erinnert sich in ihrem Tagebuch an die erste Bleibe von Mutter und Kind in der Näher des Ostseebades, im Dorf Quetzin: »Ich bin, so oft es die Witterung zuläßt, mit meinem Baby draußen. Ich fahre dorthin, wo die meist moorigen Feldwege beginnen. Hier wird noch Torf gestochen und die Untergründe sind entsprechend. Hin und wieder verschwindet in den wenigen Häusern

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ein Gesicht hinter den Gardinen, wenn wir vorbeifahren. Für einige Einwohner sind wir Eindringlinge. Fremde, die das gewohnte Bild stören. Wir sind zehn junge Mütter aus Stettin, die der Ort hat aufnehmen müssen. Nicht sehr bereitwillig wurden Abseiten oder Dachkammer geräumt. Als werdende Mütter, hochschwanger, sind wir aus Stettin evakuiert worden. Bei Protest oder Widersetzung gab es keine Lebensmittelkarten. Ich will mein Kind ganz bewußt abhärten, denn tief drinnen in mir ist immer die Angst: Wie wird es Weitergehen mit dem Krieg? Werden auch wir auf die Landstraße hinaus müssen? Ohne Bleibe, ohne Ziel?«

Wenige Wochen nach dem Weihnachtsfest 1944 zieht auch meine Mutter mit mir im Kinderwagen als einzigem »Besitz« in einem der vielen Flüchtlingstrecks vor der Front her in Richtung Westen. Sie legte die Strecke von Kolberg bis Wismar zu Fuß zurück. Als es aufs Frühjahr zuging, aß sie von den Bäumen entlang der Strecke Knospen und junge Blätter. Rat eines Mediziners, damit die Milch, mit der sie den Säugling am Leben hielt, trotz der kargen Ernährung reichlich floß. Als Kind hatte ich Mühe, mir diese Trecks vorzustellen. Heute, leider, genügt ein Blick in eine beliebige Nachrichtensendung, gleich ob über Boote auf dem Mittelmeer oder den afrikanischen Kontinent berichtet wird, um die traurige Gewißheit zu erlangen, daß die Leidenszüge der Flüchtlinge seit biblischen Zeiten scheinbar ohne Unterlaß vor einem Elend in das nächste fliehen. In meiner Familie wurde gern die Episode erzählt, daß im schlimmen Winter 1945 ein wohlhabender Bauer, bei dem meine Mutter um ein bißchen Milch bettelte, ihr den Vorschlag machte, den Säugling in ihrem Haus zu lassen. Seine Frau und er würden keine leiblichen Kinder bekommen. Es werde dem Kind an nichts fehlen und ein Mädchen sei ihnen besonders lieb. Meine Mutter könne verlangen, was sie wolle, auch Geld natürlich, um sich ein paar Erleichterungen zu verschaffen. Er redete ihr zu, daß sie noch jung genug sei, um viele Kinder zu gebären. Ich hörte in jungen Jahren mit wohligem Schaudern der Erzählung zu und fand das Ansinnen des Mannes ungeheuerlich. Es war nichts weiter als vernünftig, ein reeller Vorschlag. Die meisten der neun jungen Frauen, die sich wie meine Mutter auf den Weg ins Ungewisse machten, haben ihre Säuglinge unterwegs begraben müssen. Sie starben an Hunger, an Entkräftung, von den Geschossen der Tiefflieger getroffen. Von den elf Kindern, die in dem Grüppchen mit auf den Treck gingen, kamen nach der Flucht nur zwei in Wismar an: Ein kleiner Junge und ich. Meine Mutter hat mir das Leben zweimal geschenkt. Als ich in den fünfziger Jahren im Grenzort Selmsdorf nahe Lübeck zur Schule kam, wurde uns eingeschärft, wir seien Umsiedler, keine Flüchtlinge. Wahrscheinlich stand hinter dem verbalen Verdikt die politische Besorgnis, die aus ihren Heimatorten Vertriebenen könnten mit dem Wort »Flüchtling« ausdrücken, vor den Soldaten der Roten Armee geflohen zu sein. Und das ging ideo-

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logisch schlecht an. Vor Freunden – so das offiziöse Vokabular in der DDR – flieht man nicht. In meiner Grundschulzeit kam ein Junge neu in die Klasse. Ein stilles, verschlossenes Kind. Er wurde »Boschak« gerufen, von anderen »Polack«. Auf seltsame Weise wurden wir in Verbindung gebracht, als wir in einer Unterrichtsstunde unsere Geburtsorte aufsagen mußten. Ich stotterte mein Kołobrzeg, der Junge einen für deutsche Zungen ähnlich schwierigen Namen. Die Nennung der deutschen Namen war zu jener Zeit in der DDR als revanchistisch verschrien. Da diese Orte schier unaussprechlich schienen, galt der Klasse wohl auch ihre Existenz als fragwürdig. Ein Mädchen brachte es auf den Nenner: »Die hat der Esel im Galopp verlorn!« Es lag ein gehässiger Unterton in dem Satz. Ich habe ihn, wie Sie merken, bis heute nicht vergessen. Die Stadt Frankfurt/Oder rückte Jahrzehnte später wieder in mein Interesse, als ich, nun als reife Frau um die Fünfzig, aus Schwerin für zehn Jahre ins brandenburgische Cottbus wechselte. Ich freute mich, den Landschaften meiner Herkunft nahe zu sein. Ich freute mich auf die Mitarbeit im »Deutsch-Polnischen Literaturbüro«. Sein umtriebiger Leiter Hans Joachim Nauschütz hatte mich schon vor dem Umzug in die Lausitz bei einer Tagung zu Mitgliedschaft und Mitarbeit animiert. »Unser Hilfsmittel«, schrieb Nauschütz über das Literaturbüro, »ist die Zeitschrift ›Die Fähre‹, in polnischer Sprache Prom. Mit ihr kann man gefahrlos übersetzen zum anderen Ufer. Es braucht keinen Paß dazu und kein Geld – man kommt an und wird angenommen.« Ich hatte mich zu recht gefreut: Es gab grenzüberschreitenden Literaturaustausch, Lesungsangebote für polnische und deutsche Kinder. Es gab Exkursionen, Symposien, Begegnungen … Bei diesen Gelegenheiten trafen auch Benno Pubanz und ich Jahrzehnte nach meiner Studienzeit in Güstrow wieder aufeinander. Ich fühlte mich geehrt, von ihm nun als gleichberechtigte Partnerin in Sachen Literatur und Internationalismus behandelt zu werden. »Die Polen haben das Salz in der Suppe«, schwärmte ein Freund aus Jugendtagen gern. Das war durchaus auch kulinarisch gemeint. In jenen fernen Sommern gehörte eine Woche Tramp-Urlaub durch das Nachbarland zu unseren Ferien und wir genossen die polnische Küche. In den sechziger, siebziger Jahren konnte man an den legendären Ruch-Kiosken für einen kleinen Obolus eine spezielle Unfall-Versicherung erwerben. Eine sehr praktikable Karte des Landes gab es umsonst dazu: Sie verzeichnete nämlich in den größeren Städten die Ausfallstraßen, an die man sich verkehrssicher zum Trampen hinstellen konnte. Außerdem bekam man ein scheckheftähnliches Papier, dessen Abschnitte man tramperfreundlichen Autofahrern gab oder den Bauern, bei denen man auf dem

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Dachboden oder in Scheunen übernachten durfte. Am Ende des Jahres fand, wohl über den Rundfunk, eine Auszeichnung der freundlichsten Gastgeber statt. Bei unseren Fahrten ins Polnische waren wir froh, als Gäste behandelt zu werden. Uns beiden, meinem zehn Jahre älteren Freund und mir, war wohl bewußt, daß es hinreichend historische Gründe gab, in uns die Nachkommen von Marodeuren und Besatzern zu sehen. Vor allem aber zog uns die reiche Kultur des Landes an: Die Filme, nicht nur von Wajda, von Polan´ski, die Schauspielkunst von Jerzy Stuhr, die Werke von Wyspian´ski. Bücher von Reymont, von Brandys, von Bruno Schulz, von Iwaszkiewicz, von Lem gehörten zu unserer Lektüre – die bissigen Aphorismen von Jerzy Lec. Die Theaterinnovationen durch Grotowski, die Gastspiele polnischer Künstler und die Aufführungen polnischer Dramatiker in der DDR – sie alle haben mein Welt- und Kunstverständnis wesentlich geprägt. Warum diese Aufzählung? Seit dem Beginn der neunziger Jahre ist der Informationsfluß über Kunst und Kultur aus unserem Nachbarland ins nun Gesamtdeutsche weitgehend versandet. Die meisten Nachrichten, die uns über die gängigen Medien erreichen, sind negativ besetzt. Im historischen Gedächtnis der Völker diesseits und jenseits von Oder und Neiße sind weiße Flecken entstanden. Rassismus und Chauvinismus machen sich dort breit. Es sind Menschen wie Benno Pubanz, die humanistische Gegenpole bilden. Unerschrockene Fährmenschen, die immer beide Ufer des Flusses im Blick behalten und an beiden anlegen. Unerschütterlich bringen Menschen wie Benno Pubanz die Kultur, die Literatur, in das jeweils andere Land. Kein leichtes Unterfangen. Aufklärung ist ein hartes Brot. Benno Pubanz hat sein Leben lang tapfer für seine Ideale gefochten. Aber niemals war und wäre Gewaltsames für ihn ein Mittel der Gegenwehr. Mit Selbstbewußtsein und mit jenem Quentchen unerschütterlichen Humors, der sich aus Intelligenz speist, rückt der Germanist und auch im Wortsinn vielseitige Publizist den weißen Flecken kulturellen Mißverständnisses zuleibe. Unaufgeregt, kenntnisreich sachlich. Zum Schluß eine Anekdote aus meinen Cottbuser Jahren. Ich bin nach Göttingen zu Lesungen eingeladen und stehe eines freien Nachmittags fasziniert vor den Auslagen eines Feinkostgeschäftes. Edelste Delikatessen breiten sich vor mir aus. »Na«, ermuntert mich die rundliche Verkäuferin, »soll’s nicht doch was sein?!« Ich lehne mit Bedauern ab, ich sei noch etliche Tage unterwegs, dann die lange Bahnfahrt heimwärts. »Woher kommen Sie denn?«, erkundigt sich die Frau freundlich. Ich gebe Cottbus als Lebensort an und setze, als ich ihre ratlosen Augen sehe, erklärend dazu: »Eine Stadt im Südosten von Berlin, nahe der polnischen Grenze.« »Ach«, sagt sie und mustert mich anerkennend, »dafür sprechen Sie aber gut deutsch.« Das Kompliment, ein gutes Deutsch zu sprechen und zu schreiben, reiche ich hiermit voller Hochachtung an Benno Pubanz weiter. Seine Offerten zu geistiger

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Auseinandersetzung bieten – und sei das Thema noch so bitter – immer auch eine genußvolle Lektüre: Exzellente Wortwahl, geschliffene Sätze, weise Sentenzen. War am Anfang vielleicht doch das Wort? Ein deutsches und ein polnisches?

Beiträgerinnen und Beiträger

Anna Braun lehrt Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für Germanistik der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz. 2020 gab sie den Sammelband »Bildung in und mit Texten der Kinder- und Jugendliteratur« im Schneider Verlag Hohengehren heraus. Dr. Rita Buchweiz war Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Güstrow in der Abteilung Ausländerstudium/Deutsch für Ausländer. Dr. Martin Blawid vertritt den Bereich ›Deutsch als Bildungssprache‹ als Fachreferent im Hessischen Kultusministerium. Er ist Lehrer für Deutsch, Englisch, Italienisch und Deutsch als Fremdsprache. Zuletzt erschien sein Beitrag »›Der Vater ist das Schicksal für den Sohn.‹ Zur Inszenierung von hegemonialer Männlichkeit in Walter Hasenclevers Drama ›Der Sohn‹«, in der Zeitschrift Expressionismus, im Themenheft »Väter und Söhne«, herausgegeben von Kristin Eichhorn und Johannes Lorenzen bei Neofelis, Ausgabe 11/2020, S. 26–36. Thomas Boyken ist Professor für Kinder- und Jugendliteratur am Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Direktor der Oldenburger Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur. 2020 gab er den Band »Medialität des Erzählens. Die Wiederentdeckung des Buches im Roman« bei Wallstein heraus. Dr. Paulina Cioroch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literatur und Neue Medien der Universität Stettin. 2018 gab sie den Band »Der europäische Nordosten als Raum der Grenzerfahrungen. Nationen, Kulturen, Konfessionen im Werk von Edzard Schaper« bei Volumina.pl heraus.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Dr. José Fernández Pérez ist Studienrat im Hochschuldienst am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Entwicklungen der Kinder- und Jugendliteratur und der Gegenwartsliteratur. 2022 gab er den Band »Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR. Entwicklungen in der Gegenwartsliteratur seit 2000« bei Vandenhoeck & Ruprecht heraus. Carsten Gansel ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 2022 gab er den Band »Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre«, eine biographische Spurensuche samt Dokumenten aus russischen Archiven und unbekannten wie unveröffentlichten Texten des Autors bei Galiani heraus. Dr. Ewa Hendryk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literatur und Neue Medien der Universität Stettin. 2021 veröffentlichte sie den Beitrag »Der E-Mail-Roman als eine Sonderform des Briefromans – Inter- und transmediale Bezüge« in dem Band »Intermediale Verortung der Gegenwartsliteratur Mitteleuropas«, herausgegeben von Joanna Ławnikowska-Koper und Anna Majkiewicz bei Harrassowitz, S. 53–68. Dr. Monika Hernik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Potsdam im Fachbereich Grundschulpädagogik Deutsch mit den Schwerpunkten moderne Kinder- und Jugendliteratur, Kinderfilm und Didaktik. 2021 veröffentlichte sie den Beitrag »Was wollte der Autor uns damit fragen – Zu Martin Schäubles ›Endland‹« in dem Band »›Ausreißen‹ in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur. Analysen und didaktische Perspektiven«, herausgegeben von Sebastian Bernhardt, Schneider Verlag Hohengehren, S. 303–329. Cornelius Herz ist Professor für Didaktik der deutschen Literatur an der Leibniz Universität Hannover. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören integrative Literatur- und Mediendidaktik, empirische Professionsforschung, kinder- und jugendliterarische Kommunikation sowie digital literacy. 2021 publizierte er die Monographie »Ziele des Literaturunterrichts. Eine quantitativ-empirische Analyse von beliefs bei Deutschlehramtsstudierenden« bei Metzler. Petra Josting ist Professorin für Germanistische Literaturdidaktik sowie Kinderund Jugendliteratur an der Universität Bielefeld. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Kinder-/Jugendliteratur und Medien kjl&m. Gemeinsam mit Matthias Preis gab sie 2021 den Band »Klangwelten für Kinder- und Jugendliche. Hörmedien in ästhetischer, didaktischer und historischer Perspektive« bei kopaed heraus.

Beiträgerinnen und Beiträger

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Ewelina Kamin´ska-Ossowska ist Professorin für deutschsprachige Literatur am Institut für Literatur und Neue Medien der Universität Stettin. 2020 erschien ihr Beitrag »Zur Motivik des Märchenhaften im Werk von Tankred Dorst« in der Zeitschrift Fabula – Zeitschrift für Erzählforschung, Ausgabe 61, Heft 1/2, S. 100– 127. Anna Kaufmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Als freie Autorin der Süddeutschen Zeitung rezensiert sie aktuelle Kinder- und Jugendliteratur. Gemeinsam mit Carsten Gansel und Maria Kulkova gab sie das Sonderheft »Zum ›Prinzip Erinnerung‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – Ausgewählte Textanalysen« der Zeitschrift German as a Foreign Language (GFL), Ausgabe 1/2021 heraus. Sonja Klocke ist Professorin für deutsche Literatur, Kultur und Film im »Department of German, Nordic, and Slavic« an der University of Wisconsin – Madison. Zu ihren Veröffentlichungen zählt der Sonderband »New Perspectives on Young Adult GDR Literature and Film« der Zeitschrift Colloquia Germanica, den sie 2019 gemeinsam mit Ada Bieber herausgab. Dr. Nicola König lehrt als Privatdozentin Neuere deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der Philipps-Universität Marburg. 2021 gab sie den Band »Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive. Geschichte – empirischen Untersuchungen – Unterrichtspraxis« bei Narr Francke heraus. Tobias Kurwinkel ist Professor für Literaturwissenschaft und Didaktik mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Duisburg-Essen. Er leitet die Chefredaktion von KinderundJugendmedien.de und ist Mitherausgeber verschiedener Reihen zur Kinder- und Jugendliteratur. Gemeinsam mit Philipp Schmerheim gab er 2020 das »Handbuch Kinder- und Jugendliteratur« bei Metzler heraus. Dr. Jeannette van Laak lehrt als Privatdozentin Didaktik der Geschichte und Public History am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. 2020 veröffentlichte sie den Beitrag »In the Valley of Slaughter. Der Bildzyklus Lea Grundigs als Zeitdokument« in dem Band »Zeitdiagnose im Exil: Zur Deutung des Nationalsozialismus nach 1933«, herausgegeben von Rüdiger Hachtmann, Franka Maubach und Markus Roth bei Wallstein, S. 181– 211.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Jana Mikota ist Oberstudienrätin am Germanistischen Seminar der Universität Siegen. Sie forscht zur Kinder- und Jugendliteratur und ist Mitinitiatorin des Erstleseliteraturpreises SPELL. Gemeinsam mit Viola Oehme und Nadine Schmidt gab sie 2021 den Band »Nina Weger: Kindern vertrauen und etwas zutrauen« bei universi heraus. Prof. Dr. Benno Pubanz hatte ab 1980 an der Pädagogischen Hochschule Güstrow die einzige für Pädagogische Hochschulen vergebene Berufung auf eine Professur für BRD-Literatur. Er gründete die Forschungsgemeinschaft BRD-Kinder- und Jugendliteratur. Von 1995 bis 2005 war er Professor für Deutsche Literatur an der Universität Zielona Góra (Polen) und von 1990 bis 2005 Präsident des Kulturbundes Mecklenburg-Vorpommern. Caroline Roeder ist Professorin für Germanistische Literaturwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Sie leitet das Zentrum für Literaturdidaktik Kinder Jugend Medien. Gemeinsam mit Christine Lötscher gibt sie 2022 den Band »Das ganze Leben. Repräsentationen von Arbeit in Kindheit und Jugend erzählenden Texten« bei Metzler heraus. Dr. habil. Reinhard Rösler lehrte als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Güstrow, an der Universität Rostock sowie in Cluj-Napoca (Rumänien) und Gdan´sk (Polen) im Bereich Neuere und neueste deutsche Literatur. Nach dem Eintritt in den Ruhestand lehrte er von 2005 bis 2017 an polnischen Universitäten (Zielona Góra, Łódz´). Er publizierte zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dr. Eva Rünker studierte katholische Theologie in Münster und Innsbruck und promovierte in Christentums- und Kulturgeschichte. Sie ist als Pflegedienstleitung im AllgäuHospiz in Kempten tätig. 2020 veröffentlichte sie den Band »Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart« bei V&R unipress. Dr. Philipp Schmerheim ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Er forscht und lehrt zu Phänomenen des Erzählens in Kinder- und Jugendmedien (Literatur, Film, Theater, Comic) und ihren Wechselwirkungen. Gemeinsam mit Tobias Kurwinkel gab er 2020 das »Handbuch Kinder- und Jugendliteratur« bei Metzler heraus.

Beiträgerinnen und Beiträger

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Jutta Schlott ist Autorin und Dramaturgin, sie studierte Germanistik und Slawistik. Für ihre Kinder- und Jugendbüber erhielt sie zahlreiche Preise. 2019 veröffentlichte sie den Gedichtband »Tigrisbrücken« bei Wiesenburg. Dr. Hadassah Stichnothe lehrt Germanistische Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Bremen und ist Redakteurin der Plattform KinderundJugendmedien.de. 2021 veröffentlichte sie den Beitrag »Böses kommt aus Kinderbüchern? Politik und Poetik der Kinderund Jugendliteratur im Kontext der 68er-Bewegung« in dem Band »1968 – Ost – West. Deutsch-deutsche Kultur-Geschichten«, herausgegeben von Carsten Gansel und Janine Ludwig bei Okapi, S. 367–386. Dr. Michael Stierstorfer unterrichtet Deutsch und Latein am Gymnasium der Benediktiner in Schäftlarn. Als Redakteur der Plattform KinderundJugendmedien.de betreut er die Fachbuchrezensionen. 2017 gab er den Band »Antike Mythologie in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart – unsterbliche Götter- und Heldengeschichten?« bei Peter Lang heraus. Dr. Joanna Sumbor ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Literatur und Neue Medien der Universität Stettin. Zuletzt veröffentlichte sie den Beitrag »Das Problem der verschwiegenen Arisierung jüdischen Eigentums in der zeitgeschichtlichen KJL – Zu Mirjam Presslers Jugendroman ›Die Zeit der schlafenden Hunde‹ (2003)« in der Zeitschrift Colloquia Germanica Stetinensia, Ausgabe 29/2020, S. 89–111. Marlene Zöhrer ist Professorin für Kinder-, Jugendliteratur und Deutschdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Steiermark. Sie leitet das dortige KiJuLit Zentrum. 2020 veröffentlichte sie den Beitrag »Wissensbilder – Erzählen im Sachbilderbuch« in dem Band »Die Welt im Bild erfassen: Multidisziplinäre Perspektiven auf das Bilderbuch«, herausgegeben von Tobias Kurwinkel, Corinna Norrick-Rühl und Philipp Schmerheim bei Königshausen & Neumann, S. 129– 145.

Weitere Bände dieser Reihe Band 30: José Fernández Pérez

Zur literarischen Darstellung von Adoleszenz in der DDR

Band 27.1: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Entwicklungen der Gegenwartsliteratur seit 2000

Schreiben, Text, Autorschaft I

2022. 380 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-0913-6

Zur Inszenierung und Reflexion von Schreibprozessen in medialen Kontexten

Band 29: Carolin Führer/ Antonius Weixler (Hg.)

2021. 340 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1272-3

Umbruch – Bild – Erinnerung

Beziehungsanalysen in nationalen und transnationalen Kontexten 2022. 358 Seiten, gebunden € 55,– D ISBN 978-3-8471-1379-9

Band 28: Carola Hähnel-Mesnard

Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDRLiteratur

Literarische Figurationen von Zeitwahrnehmung im Werk von Lutz Seiler, Julia Schoch und Jenny Erpenbeck 2022. 293 Seiten, gebunden € 45,– D ISBN 978-3-8471-1345-4

Band 27.2: Carsten Gansel / Katrin Lehnen / Vadim Oswalt (Hg.)

Schreiben, Text, Autorschaft II

Zur Narration und Störung von Lebens- und Schreibprozessen 2021. 420 Seiten, gebunden € 60,– D ISBN 978-3-8471-1339-3

Band 26: Eva Rünker

Konstruktionen christlichen Lebens im populären Frühmittelalter-Roman

Eine Untersuchung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart 2020. 493 Seiten, gebunden € 65,– D ISBN 978-3-8471-1195-5