Kinder- und Jugendliteratur: Eine Einführung 3534235460, 9783534235469

Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur präsentiert dieser Einführungsband als sachkundigen Überblick über die ne

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German Pages 156 [155] Year 2012

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
I. Kinder- und Jugendliteratur: Definition und Begriffsgeschichte
1. Definition
2. Begriffsgeschichte
II. Forschungsgeschichte
III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen
1. Literacy Studies
2. Kinderkulturforschung/Kindheitsforschung
3. Kinderliterarische Komparatistik
4. Klassik- und Kanonforschung
5. Crosswriting
6. Kinderliteratur und Medien
7. Text-Bild-Interdependenzen
IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur
1. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit
2. Aufklärung
3. Romantik
4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges
5. Weimarer Republik
6. Nationalsozialismus und Exil
7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980
8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. E.T.A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig (1816)
2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf (1885)
3. Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929)
4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967)
5. Kirsten Boie: Ich ganz cool (1992)
6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie (2003–2007)
Zeitleiste
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Kinder- und Jugendliteratur: Eine Einführung
 3534235460, 9783534235469

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Bettina Kümmerling-Meibauer

Kinder- und Jugendliteratur Eine Einführung

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23546-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72692-9 eBook (epub): 978-3-534-72693-6

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Kinder- und Jugendliteratur: Definition und Begriffsgeschichte . 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen . . 1. Literacy Studies . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kinderkulturforschung/Kindheitsforschung 3. Kinderliterarische Komparatistik . . . . . . 4. Klassik- und Kanonforschung . . . . . . . 5. Crosswriting . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Kinderliteratur und Medien . . . . . . . . 7. Text-Bild-Interdependenzen . . . . . . . .

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur 1.Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . 2. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges . . 5. Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nationalsozialismus und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980 . . . . . 8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011 . . .

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke . . . . . . . . . . . . . . 1. E.T.A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig (1816) . . . 2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf (1885) . . . . . . . . . . . 3. Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929) . . . . . . . . . 4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967) 5. Kirsten Boie: Ich ganz cool (1992) . . . . . . . . . . . . . . . 6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) . . . . . .

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Zeitleiste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Die Bücher brauchen die Phantasie der Kinder, das ist wahr. Aber noch wahrer ist es, dass die Phantasie der Kinder die Bücher braucht, um zu leben und zu wachsen. Es gibt nichts, was das Buch als Wurzelboden der Phantasie ersetzen kann (Astrid Lindgren: Ansprache in Florenz am 17. Mai 1958) Als renommierte Kinderbuchautorin hat sich Astrid Lindgren in ihren Essays und Reden immer wieder mit den Fragen auseinandergesetzt, warum Kinderliteratur so wichtig ist für die sprachliche, emotionale und ästhetische Entwicklung des Kindes und welchen Stellenwert die Lektüre im Leben von Kindern einnimmt. Seit Lindgrens Ansprache sind mehr als fünf Jahrzehnte vergangen, aber ihre Überlegungen sind aktueller denn je. Obwohl es mittlerweile ein fast unüberschaubares Angebot an Medien für Kinder und Jugendliche gibt, spielt die Begegnung mit dem Buch und mit kinderliterarischen Texten weiterhin eine prominente Rolle. Die Faszination, die Kinderund Jugendliteratur auf ihre Leserschaft – und dazu gehören nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene – ausübt, hat nicht nachgelassen. Worin diese Faszination besteht, welches kognitive, emotionale, sprachliche und ästhetische Potential Kinder- und Jugendliteratur anbietet, warum Erwachsene sich zunehmend für Kinder- und Jugendbücher interessieren und wie Kinderliteratur zum Literaturerwerb und zur Erweiterung des Weltwissens beitragen kann, sind Fragen, denen sich die Kinderliteraturforschung stellen muss. Der vorliegende Einführungsband, der sich vom Aufbau her am Konzept der bereits vorliegenden Bände der Reihe „Einführung Germanistik“ orientiert, kann diese Fragen nicht gänzlich und im Detail beantworten, dennoch verfolgt er die Intention, Studierenden, Wissenschaftlern und allen, die sich für Kinder- und Jugendliteratur interessieren, einen Eindruck davon zu vermitteln, welche interessanten Perspektiven die Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur eröffnet. Kinder- und Jugendliteratur ist ein sehr breiter Begriff. Er umfasst nicht nur Prosa für Kinder und Jugendliche, sondern auch Bilderbücher, Kinderlyrik und Kindertheater und steht in enger Verbindung mit anderen Kindermedien, wie Kinderfilm, Hörbuch, Comic, Graphic Novel und Computerspiel. Auch wenn die Einzeltextanalysen in diesem Band, mit Ausnahme des Gedichtbandes von Josef Guggenmos, den Fokus auf Prosawerke legen, wird auf weitere Gattungen und Genres der Kinder- und Jugendliteratur sowie andere Kinder- und Jugendmedien in den Kapiteln zur Forschungsgeschichte, den theoretischen Ansätzen und zur Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur eingegangen, um auf diese Weise die Vielfalt der Themen, Formen und Genres der Kinder- und Jugendliteratur zu demonstrieren. Die nach den Einzeltextanalysen eingefügte Zeitleiste dient dazu, einen ersten Eindruck von den wichtigsten kinderliterarischen Werken und damit in Zusammenhang stehenden Ereignissen zu vermitteln.

I. Kinder- und Jugendliteratur: Definition und Begriffsgeschichte 1. Definition Der Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ ist mehrdeutig: er kann einerseits als Literatur für Kinder und Jugendliche, andererseits als Literatur von Kindern und Jugendlichen interpretiert werden. Dennoch hat man von Anfang an mit ihm nur die erste Bedeutung konnotiert, obwohl es nachweislich auch von Kindern und Jugendliche geschaffene Literatur gibt. Hierzu gehören die von Kindern erfundenen Verse und Kinderreime, die meist mündlich tradiert werden (Messerli 1991), aber auch umfangreichere Texte, die nur in seltenen Fällen in Anthologien oder als Einzelpublikation ediert werden, wie etwa das berühmte Tagebuch (1947) der Anne Frank. Im Zuge der Möglichkeiten, die das Internet mit Online Publikationen, Blogs und Fan Fiction bietet, nimmt die literarische Textproduktion von Kindern und Jugendlichen kontinuierlich zu, so dass sich hier ein neuer Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur eröffnet. Allgemein kann man Kinder- und Jugendliteratur als Oberbegriff für die gesamte für noch nicht erwachsene Rezipienten bestimmte Produktion von (literarischen) Werken bestimmen, die in der Regel von Erwachsenen verfasst werden und Kindern entweder mündlich vorgetragen oder vorgelesen oder von Kindern und Jugendlichen selbst gelesen werden. Ihr Spektrum umfasst alle Gattungen und fast alle Genres, die auch in der Literatur für Erwachsene anzutreffen sind, angefangen vom Kleinkindbilderbuch für Kinder ab dem Alter von 10 bis 12 Monaten bis zu den für junge Erwachsene verfassten Romanen (im Englischen: Young Adult Novel), die sich an die Altersgruppe der 16- bis 20-Jährigen richtet. Ein genuin kinderliterarisches Genre ist das Bilderbuch, das allerdings verwandte Züge mit dem für Erwachsene bestimmten „Künstlerbuch“ und der Graphic Novel aufweist. Neben fiktionalen Werken gehören zur Kinder- und Jugendliteratur noch die Sachliteratur – neuerdings wird auch der Begriff „Wissensliteratur“ vorgeschlagen – sowie Zeitschriften und Comics für Kinder und Jugendliche. Des Weiteren fallen unter diesen Begriff auch alle für Kinder und Jugendliche bestimmten Bearbeitungen erwachsenenliterarischer Werke, die durch den Autor selbst oder andere Personen angefertigt werden. Einen Sonderfall nimmt die mündlich vorgetragene, aber oft nicht schriftlich festgehaltene Literatur für Kinder ein, die nach Forderung der Oral-Poetry-Forschung als Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur angesehen werden sollte (Ong 1988). Ebenso gibt es unveröffentlichte kinderliterarische Manuskripte, auch diese gehören im weiteren Sinne zum Gegenstand der Kinder- und Jugendliteratur. Die in Printmedien (Bilderbogen, Buch, Zeitschrift, Heft) veröffentlichte Kinder- und Jugendliteratur ist zugleich Bestandteil der Kinder- und Jugendmedien, zu denen noch die AV-Medien (Hörkassette, Hör-

Der Begriff Kinderund Jugendliteratur

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I. Kinder- und Jugendliteratur: Definition und Begriffsgeschichte

Kinder- und Jugendlektüre

Heterogene Begriffsvielfalt

Schulbuchliteratur und Kindheitsliteratur

buch, CD, Fernsehen, Film u. a.) und interaktiven Medien (Computerspiel, E-Book, Internet) gehören. Über die genannten medialen Formen hinaus gibt es Werke und Medien, die zwar von Kindern und Jugendlichen rezipiert und gelesen werden (wie etwa Erwachsenenliteratur, Zeitungen, Zeitschriften, Comics und Fachliteratur sowie Filme und Computerspiele für Erwachsene), aber nicht für diese Zielgruppe geschaffen oder an diese durch Bearbeitungen angepasst worden sind. Diese Werke gehören nicht zur Kinder- und Jugendliteratur im engeren Sinne. In der deutschsprachigen Forschung hat man hierfür den Begriff „Kinder- und Jugendlektüre“ vorgeschlagen (Brüggemann/Ewers 1984), der allerdings keine scharfe Trennung zum Terminus „Kinder- und Jugendliteratur“ erlaubt, weil dieser in einer systematischen Perspektive ebenfalls zur Kinderund Jugendlektüre zu rechnen ist. Über diese Unterscheidungen hinaus hat man in der deutschen Kinderliteraturforschung mehrfach den Versuch unternommen, das breite Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur genauer zu spezifizieren, indem man verschiedene Kategorien wie „intentionale Kinder- und Jugendliteratur“ (= Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche als geeignet empfundene Literatur), „spezifische Kinder- und Jugendliteratur“, neuerdings auch „originäre Kinder- und Jugendliteratur“ (= Gesamtheit der für Kinder und Jugendliche geschriebenen Literatur) oder „sanktionierte (versus nicht-sanktionierte) Kinder- und Jugendliteratur“ (= Texte, die von den gesellschaftlich autorisierten Instanzen zur geeigneten Kinder- und Jugendlektüre erklärt worden sind) vorgeschlagen hat (Brüggemann/Ewers 1984; Ewers 2000; Gansel 1999). Diese Terminologie, die verschiedene Aspekte – literaturhistorische, rezeptionsgeschichtliche, soziologische und pädagogische – miteinander vermischt, trägt allerdings eher zur Verwirrung bei (auch aufgrund der immer wieder anzutreffenden Verwechslung von intentionaler und spezifischer Kinder- und Jugendliteratur), als dass sie zu einer systematisch-analytischen Zugangsweise zum Gegenstand beiträgt. Von der Kinder- und Jugendliteratur sind ferner die Schulbuchliteratur und die sogenannte Kindheitsliteratur zu unterscheiden. Die Schulbuchliteratur, wozu u. a. Fibeln, Lesebücher und Fachbücher für den schulischen Sachund Sprachenunterricht gehören, ist zwar auch für Kinder und Jugendliche geschrieben worden und war bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts eng mit der Kinder- und Jugendliteratur verzahnt, wird aber jetzt als eigenständiger Bereich angesehen, der von der Schulbuchforschung und der Literaturdidaktik untersucht wird. Zur Kindheitsliteratur dagegen rechnet man diejenigen fiktionalen Werke der Erwachsenenliteratur, in denen der Werdegang von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt steht. Hierzu gehören u. a. Kindheitsautobiographien, Adoleszenzromane, Entwicklungsromane und Schülerromane, sofern diese für eine erwachsene Leserschaft verfasst worden sind (Seibert 2005).

2. Begriffsgeschichte Probleme der Eingrenzung

Die wissenschaftliche Diskussion über die Bedeutung des Begriffs „Literatur“ hat zu immer neuen Kontroversen geführt hat, die hier nicht im Einzelnen

2. Begriffsgeschichte

wiederholt werden sollen. Ebenso wird an dieser Stelle nicht im Detail über die Bedeutung der Begriffe „Kind“, „Jugend“ und „Kindheit“ reflektiert. Es ist jedoch festzuhalten, dass diese Begriffe im Verlauf der Jahrhunderte unterschiedliche Bedeutungen erhielten und entsprechend auch verschiedene Altersabstufungen umfassten. Hinzu kommt noch, dass bis in die 1960er Jahre hinein diese Begriffe weitgehend synonym verwendet wurden und die dem Erwachsenendasein vorausgehenden Lebensphasen bezeichneten (Lesnik-Oberstein 1994; Wild 1993). Mit dem Wandel der Kindheitskonzepte befasst sich neben der Kinderliteraturforschung auch die Kindheitsforschung (vgl. Kapitel III). Die Bezeichnungen „Kinderliteratur“ bzw. „Jugendliteratur“ kommen in älteren Wörterbüchern und Universallexika nicht vor (z. B. Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff. (= DWb), Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1802 ff.). Die einzigen relevanten Stichworte sind „Kinderbuch“ (DWb 11, 734), „Kindergeschichte“ (Campe 2, 929), „Kinderschrift“ (DWb 11, 747), „Jugendbuch“ (Campe 2, 853) und „Jugendschrift“ (DWb 10, 2367), die aber weder etymologisch abgeleitet noch detailliert erklärt werden. Der Begriff „Jugendliteratur“ hat sich seit Detmer (1842) eingebürgert und wird als Äquivalent für den älteren Terminus „Jugendschrift“ verwendet. Der erste Beleg für das Kompositum „Kinderliteratur“ findet sich bei Wilhelm Buchner (1852) und später bei Carl Kühner (1862), wobei die Autoren die Neubildung nicht explizit von den Begriffen „Jugendliteratur“ bzw. „Jugendschrift“ abgrenzen, sondern diese zuweilen synonym verwenden (Kümmerling-Meibauer 2003). In den Literaturgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts wird in der Regel nicht genau zwischen kinder- und jugendliterarischen Werken differenziert. Die Verfasser verwenden die Termini „Kinderschrift“, „Kinderbuch“, „Jugendroman“ und „Jugendlektüre“, ohne die Unterschiede zu benennen, eine Tendenz, die sich auch bei den Kinderliteraturgeschichten von Wilhelm Fricke (1886), Irene Dyrenfurth-Graebsch (1967) und Adelbert Merget (1866) beobachten lässt. Am häufigsten wird die Umschreibung „Kinder- und Jugendschriften“ gewählt, im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird aber der Begriff „Jugendliteratur“ oder „Jugendschrift“ als Bezeichnung für das gesamte Schrifttum für Kinder und Jugendliche favorisiert. Der Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ setzte sich dagegen erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Im 18. Jahrhundert ist bei Campe (1778) allerdings schon eine Ausdifferenzierung von Kindheit und Jugend als Altersstufen zu erkennen, ohne dass deren Terminologie sich langfristig durchsetzte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gehen die mit dem Begriff „Kind“ gebildeten Komposita merklich zurück. Seitdem dominierten die Bezeichnungen „Jugendschrift“ bzw. „Jugendliteratur“. Die ersten geschichtlichen Darstellungen zur Kinder- und Jugendliteratur tragen sämtlich mit „Jugend“ gebildete Komposita im Titel. Die Unterscheidung von „Jugendliteratur“ und „Jugendlektüre“ geht auf Carl Kühner (1862) zurück, an den sich Heinrich Wolgast (1896) anschließt. Eine weitere Begriffsverwirrung entsteht dadurch, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnungen „Jugendliteratur“ und „Volksliteratur“ häufig synonym verwendet werden. In vielen Buchtiteln oder Kapitelüberschriften werden beide Begriffe zusammengefasst, als Standarduntertitel wird oft auf

Erste Begriffsbildungen

Differenzierung nach Altersstufen

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I. Kinder- und Jugendliteratur: Definition und Begriffsgeschichte

Terminologische Überlegungen

Systematisierungsversuche

die Formel „Für Volk und Jugend“ zurückgegriffen. Diese Gleichsetzung geht auf die Vorstellung der Romantik zurück, dass eigentlich nur die ältere, mündlich tradierte Volksliteratur (Märchen, Sage, Legende, Volkslied) die dem Kind angemessene Literatur sei. Dies führt im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Überschneidung der Begriffe Volks- und Jugendliteratur, wobei man die Interessen und literarische Kompetenz von Kindern/Jugendlichen und dem Volk gleichsam auf eine Stufe stellte (Kümmerling-Meibauer 2003). Erst Ende der 1920er Jahre setzt sich der Begriff „Kinderliteratur“ zunächst im Bereich der proletarischen bzw. kommunistischen Kinderliteratur-Kritik durch, um die negative Konnotation, die mittlerweile mit dem Wort „Jugendliteratur“ einhergeht, zu vermeiden (Hoernle 1929). Die wachsende Bedeutung des Begriffs „Kinderliteratur“ geht auch auf den Einfluss der ausländischen Terminologie zurück. Denn in der englischsprachigen, skandinavischen, ost- und südeuropäischen Kinderliteraturforschung wird in der Regel keine Unterscheidung zwischen Kinder- und Jugendliteratur getroffen, sondern nur von „Kinderliteratur“ (children’s literature, barnlitteratur, detskaja literatura, littérature enfantine) gesprochen. In der Nachkriegszeit etabliert sich in der DDR und BRD der Begriff „Kinderliteratur“ zusammen mit demjenigen der „Jugendliteratur“. Als Bezeichnung des literarischen Gesamtkomplexes wählt man entweder „Kinder- und Jugendliteratur“ (Brüggemann 1966, Scherf 1975) oder nur „Kinderliteratur“ (Hürlimann 1959). Trotz vielfach geäußerter Kritik hält man in der deutschsprachigen Kinderliteraturforschung – mit einigen Ausnahmen – weiterhin an dem Doppelbegriff „Kinderund Jugendliteratur“ fest, obwohl die Grenzziehung zwischen beiden Bereichen – außer über eine willkürliche Festlegung einer Altersgrenze hinaus – weder pädagogisch noch entwicklungspsychologisch eindeutig begründet werden kann. Der noch im 18. und 19. Jahrhundert ungebräuchliche Begriff „Jugendbuch“ (Thalhofer 1925) wird in der westdeutschen und österreichischen Kinder- und Jugendliteraturkritik nach 1945 zum Schlüsselbegriff. Der „spezifischen Jugendliteratur“ wird dabei das „gute Jugendbuch“ (Bamberger 1965) entgegengesetzt. Der Begriff der „intentionalen Kinderliteratur“ ist in Abgrenzung von demjenigen der Kinderlektüre in der Kinderliteraturforschung der DDR in den 1960er Jahren entwickelt worden und entspricht demjenigen der spezifischen Kinderliteratur in der westdeutschen Literaturgeschichtsschreibung. Zu Beginn der 1980er Jahre werden diese Begriffe spezifiziert und erhalten ihre heutige Bedeutung. In der Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur als Altersstufen-Literatur zeigen sich ebenfalls Veränderungen. In der DDR galt Kinderliteratur als spezifische Literatur für Leser unter 14 Jahren (Kunze 1964), in der BRD für Leser bis 10–12 Jahren, während sich Jugendliteratur in der DDR an 14–18jährige Leser, in der BRD an 12–14-jährige Leser wandte. Für die seit den 1970er Jahren stetig wachsende Literatur für Leser ab 14 Jahren wird in Abgrenzung gegen den Terminus Jugendliteratur sporadisch auch „Jeansliteratur“ (in den 1970er Jahren) oder „Literatur für junge Erwachsene“ (in Analogie zu Young Adult Literature) verwendet. Erste Versuche zu einer Systematisierung des breiten Gattungsspektrums wurden bereits in den 1970er Jahren unternommen (Doderer 1975) und führten schließlich zu einer Dreiteilung des Gesamtkorpus in „Kinder- und Jugendlektüre“, „intentionale Kinder- und Jugendliteratur“ und „spezifische

2. Begriffsgeschichte

Kinder- und Jugendliteratur“ (Brüggemann/Ewers 1984). Diese Terminologie hat sich seitdem in der deutschsprachigen Kinderliteraturforschung durchgesetzt. Wegen der inhaltlichen Verwechselbarkeit der Begriffe „intentional“ und „spezifisch“ hat Ewers (2000; 2011) stattdessen die Termini „intendierte Kinder- und Jugendliteratur“ (= intentionale Kinder- und Jugendliteratur) und „originäre Kinder- und Jugendliteratur“ (= spezifische Kinder- und Jugendliteratur) vorgeschlagen. Neben diesen Unterscheidungen, die durch Lektüreentscheidung, Auswahlkriterien und Absichtserklärung von Autoren getroffen werden, sind außerdem Bestimmungen anzutreffen, die den Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ inhaltlich und formal zu bestimmen versuchen. Hierbei können drei Ansätze unterschieden werden. Kinder- und Jugendliteratur kann aufgefasst werden als (a) Literatur, die für die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen unabdingbaren Werte und Kenntnisse vermittelt (= Erziehungs- oder Sozialisationsliteratur); (b) Literatur, die sich gemäß den Vorstellungen einer entwicklungspsychologischen Altersstufen-Theorie an das Sprachvermögen, die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten sowie die Bedürfnisse des kindlichen und jugendlichen Lesers anpasst (= kind- und jugendgemäße Literatur); (c) Literatur, die der Aneignung literarischer Regeln dient und sich hinsichtlich der Kinderliteratur durch spezifische Merkmale wie Einfachheit, Redundanz und Nachahmung mündlichen Erzählens auszeichnet (= Anfänger- oder Einstiegsliteratur), hinsichtlich der Jugendliteratur dem Jugendlichen den Übergang zur Erwachsenenliteratur erleichtern soll (= Übergangsliteratur) (Ewers 2000). In der englisch- und deutschsprachigen Forschung trifft man gelegentlich auch Studien an, die Kinder- und Jugendliteratur als „Gattung“ bzw. „Genre“ definieren. Diese Klassifizierung ist überaus problematisch, weil es hierbei zu einer Gleichsetzung von einem theoretischen Begriff für Textgruppenbildungen mit einem Literaturbereich kommt, dessen konstituierendes Merkmal die Ausrichtung an einer bestimmten Rezipientengruppe ist. Diese verwirrende Begriffsvielfalt verdeutlicht auf der einen Seite, dass der Gegenstandsbereich der Kinderliteraturforschung überaus vielfältig ist, auf der anderen Seite wird aber auch ersichtlich, dass es bislang noch zu keiner Einigung hinsichtlich der Definition des Untersuchungsgegenstandes gekommen ist. Mit den aus dem englischen Sprachraum übernommenen Begriffen „All Age Literatur“ und „Crossover Literatur“ wird auf ein seit den 1990er Jahren viel diskutiertes Phänomen, die formale, thematische und narrative Annäherung von Kinder- und Jugendliteratur an die Erwachsenenliteratur auf der einen Seite und die damit einhergehende zunehmende Lektüre von Kinderund Jugendliteratur durch Erwachsene auf der anderen Seite hingewiesen. Während „All Age Literatur“ für die Bezeichnung von Werken gewählt wird, die sich generationenübergreifend an alle Leser/-innen wenden (oft findet sich im Klappentext oder im Untertitel ein entsprechender Vermerk wie „von 9 bis 99“), deutet der Begriff „Crossover Literatur“ (oder: Crossover Fiction) darauf hin, dass hier nicht nur Kinder, Jugendliche und Erwachsene zugleich angesprochen werden (wofür man schon vorher den Begriff der „Mehrfachadressiertheit“ verwendet hat), sondern dass man die entsprechenden Werke aufgrund der Themenwahl, Erzählstrategien und Genres nicht mehr eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur bzw. der Erwachsenenliteratur zuordnen kann (Beckett 2009; Falconer 2009, vgl. Kapitel III).

All Age Literatur und Crossover Literatur

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II. Forschungsgeschichte Beginn der Kinderliteraturforschung

Verbindung mit der Märchenforschung

Reformpädagogik und Heinrich Wolgast

Als Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung kommt Kinder- und Jugendliteratur zum ersten Mal im fünften Band des von Carl Bouginé verfassten Handbuch(s) der allgemeinen Litterargeschichte (1792) vor, in der die Leistung der philanthropinen Kinderliteratur gewürdigt wird. Obwohl auch in den nachfolgenden Literaturgeschichten immer wieder Kapitel und Ausführungen zur deutschen Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung und der Romantik zu finden sind, kann von einer eigenen Forschungstradition erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. Diese ersten Forschungsbeiträge stammen vorwiegend von Lehrern, gelegentlich auch von Bibliothekaren und Geistlichen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem von Kinderbuchsammlern (Walter Benjamin, Karl Hobrecker, Bettina Hürlimann, Arthur Rümann). Eine Fanalwirkung ging von Charlotte Bühlers Das Märchen und die Phantasie des Kindes (1918) aus, weil hier erstmals auf der Grundlage entwicklungspsychologischer Kenntnisse eine Typologie des Lesealters entwickelt wurde. Diese schrieb den kindlichen Altersstufen eine Präferenz für bestimmte Genres und Themen zu (Struwwelpeter, Märchen, Robinson) und legte damit die Basis für die spätere Lesesozialisationsforschung (Ewers 2002b). Bedeutsam für die theoretische Reflexion über Kinderkultur und Kinderliteratur waren zudem die in den 1920er und 1930er Jahren verfassten Essays von Walter Benjamin, deren weitreichende Implikationen bislang nur marginal erforscht worden sind (Doderer 1988). Eine enge Verzahnung existierte von Anfang an mit der Märchenforschung, vor allem im Hinblick auf die Untersuchung der Volksmärchen und Kunstmärchen für Kinder sowie die Märchen der Brüder Grimm. Mittlerweile haben sich Märchen- und Kinderliteraturforschung als eigenständige Forschungsbereiche etabliert, dennoch ergeben sich weiterhin Überschneidungen, wenn es z. B. darum geht, den Einfluss des Märchens auf die Kinderund Jugendliteratur oder aktuelle Umsetzungen von Märchen in Kinderliteratur und Kinderfilm zu analysieren (Beckett 2002; Liptay 2004; Joosen 2011; Zipes 2009, 2011). Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich unter dem Einfluss der Reformpädagogik zudem die Jugendschriften-Bewegung mit der Zeitschrift Jugendschriften-Warte (die unter wechselnden Namen bis heute herausgegeben wird und jetzt den Titel kjl&m trägt) und zahlreichen Prüfungsausschüssen, die von progressiven Volksschullehrerkreisen getragen wurde. Eine Wende in der Diskussion um Kinder- und Jugendliteratur als Bestandteil des Lektürekanons leitete die Streitschrift Das Elend unserer Jugendliteratur (1896) des Hamburger Lehrers und Reformpädagogen Heinrich Wolgast ein. Unter dem Einfluss der Kunsterziehungsbewegung stehend, forderte Wolgast, dass Kinder- und Jugendliteratur an denselben ästhetischen Kriterien gemessen werden sollte wie die Erwachsenenliteratur. Da jedoch die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur, worunter er insbesondere die kommerzielle Massenliteratur für Kinder und Jugendliche subsumierte, diesem Anspruch

II. Forschungsgeschichte

nicht gerecht werde, stritt Wolgast ihr jegliche Existenzberechtigung ab. Deshalb forderte er die Lektüre ausgewählter erwachsenenliterarischer Werke im Schulunterricht, u. a. von Adalbert Stifter und Theodor Storm (Dolle-Weinkauff/Ewers 1996). Wolgasts Schrift zeigte eine weitreichende Wirkung mit unterschiedlichen Folgen. Während seine Studie in Skandinavien als Anregung zur Schaffung einer qualitätsvollen Kinder- und Jugendliteratur gedeutet wurde, führte Wolfgasts Kritik in Deutschland, auch in Schulkreisen, zu Vorbehalten gegenüber der Kinder- und Jugendliteratur, und leitete damit einen De-Kanonisierungsprozess ein, dessen Anfänge sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts abzeichneten (Kümmerling-Meibauer 2003). 1866 erschien die erste geschichtliche Darstellung der deutschen Kinderund Jugendliteratur von Albert Merget, weitere historische Abrisse stammen u. a. von Wilhelm Fricke (1868), Ludwig Wiegand (1897), Ludwig Göhring (1904), Leopold Köster (1906–08) und Josef Prestel (1933). Die Abhandlung von Irene Dyrenfurth-Graebsch (1942; Neuausgabe 1967) war bis Mitte der 1970er Jahre die aktuellste Übersicht zur Geschichte der deutschen Kinderliteratur. In der DDR erschien seit 1973 die auf vierzehn Bände angewachsene Reihe Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, in der BRD wurde die erste umfassende Kinderliteraturgeschichte erst 1990 publiziert, die mittlerweile in der dritten bearbeiteten Auflage vorliegt (Wild 2008). Zur Geschichtsschreibung der Kinderliteratur der Schweiz und Österreichs liegen bislang keine Gesamtdarstellungen vor. Vorreiterfunktion übernehmen hierbei die Bände Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (herausgegeben von Hans-Heino Ewers und Ernst Seibert, 1997) sowie Nebenan. Der Anteil der Schweiz an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur (herausgegeben von Verena Rutschmann, 1998). Ganz im Gegensatz zu diesen Bestrebungen einer literaturhistorischen Aufarbeitung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur steht die Tendenz, in aktuellen Literaturgeschichten zur Allgemeinliteratur überhaupt nicht mehr oder höchstens beiläufig auf diesen Bereich einzugehen oder aber Kinder- und Jugendliteratur im Vergleich zur Erwachsenenliteratur abzuwerten (Kümmerling-Meibauer 2003). Pionierleistungen der historischen Kinderliteraturforschung sind die von Theodor Brüggemann initiierte Reihe Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur (1982 ff., bisher acht Bände, die den Zeitraum vom Beginn des Buchdrucks bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus und der DDR abdecken), das von Klaus Doderer herausgegebene Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur (1975– 1982) sowie die vierbändige Bibliographie Alte deutsche Kinderbücher von Heinz Wegehaupt (1979–2003) und die fünfbändige Bibliographie Kinderund Jugendliteratur in Deutschland 1840–1950 (1990–1999) von Aiga Klotz, ergänzt durch Claudia Weilenmanns Annotierte Bibliographie der Schweizer Kinder- und Jugendliteratur von 1750 bis 1900 (1993) für die gesamte Schweiz. Als weitere Nachschlagewerke haben sich weiterhin das zweibändige Lexikon Klassiker der Kinder- und Kinderliteratur (1999) von Bettina Kümmerling-Meibauer und das zunächst von Alfred Clemens Baumgärtner und Helmut Pleticha und später von Kurt Franz, Günter Lange und FranzJosef Payrhuber herausgegebene, als Loseblattsammlung konzipierte Nachschlagewerk Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon (1995 ff.) etabliert.

Kinderliteraturgeschichten

Standardwerke der Kinderliteraturforschung

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II. Forschungsgeschichte

Internationale Jugendbibliothek in München

Forschungseinrichtungen

Über diese historischen Gesamtdarstellungen, Bibliographien und Lexika hinaus hat die deutschsprachige Kinderliteraturforschung große Anstrengungen unternommen, den historisch gewachsenen Bestand in Einzelmonographien wissenschaftlich zu erforschen. So liegen mittlerweile fundierte Untersuchungen zu einzelnen Epochen und Zeitstufen (Aufklärung, Romantik, Kaiserzeit, Weimarer Republik, NS-Zeit, Nachkriegszeit in der BRD, DDRKinderliteratur) sowie zu Gattungen und Genres der Kinder- und Jugendliteratur vor (u. a. zum Abenteuerroman, Adoleszenzroman, Kriminalroman, Kindertheater, zur Kinderlyrik, phantastischen Kinderliteratur und historischen Literatur für Kinder und Jugendliche). Mehrere Projekte widmeten sich außerdem der Erforschung der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendliteratur (Glasenapp/Nagel 1996; Hyams u. a. 2001; Shavit u. a. 1996; Völpel/Shavit 2002). Auf Betreiben von Jella Lepman wurde 1948 in München die Internationale Jugendbibliothek begründet, die den weltweit größten Bestand an internationaler Kinder- und Jugendliteratur vorzuweisen, sich aber auch als Forschungsstätte für Wissenschaftler/-innen aus aller Welt etabliert hat. Im Jahr 1955 gründete man auf Initiative des Familienministeriums den „Arbeitskreis für Jugendliteratur“, der für die Organisation und Vergabe des „Deutschen Jugendliteraturpreises“ zuständig ist und als deutsche Sektion im International Board on Books for Young People (IBBY) vertreten ist. Galt Kinder- und Jugendliteratur noch bis Ende der 1960er Jahre als Domäne der Pädagogik, so wurde sie in den 1970er Jahren infolge der Erweiterung des traditionellen Literaturbegriffs um wirkungsorientierte Literaturformen als Teilbereich der Literaturwissenschaft anerkannt. Dies führte zur Einrichtung von Forschungsinstitutionen und Lehrstühlen mit dem Schwerpunkt Kinderund Jugendliteratur an einigen Universitäten. So gibt es seit 1963 an der Universität Frankfurt das Institut für Jugendliteratur. Durch Schenkungen und Zukäufe entstanden darüber hinaus Spezialsammlungen historischer Kinderbuchbestände an verschiedenen Bibliotheken, Museen und Universitäten in Deutschland (u. a. Kinderbuchabteilung der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin; ALEKI, Universität Köln; Bilderbuchmuseum Burg Wissem, Troisdorf; Forschungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, Universität Oldenburg; Arbeitsstelle Kinder- und Jugendliteratur, Universität Göttingen), Österreich (Internationales Institut für Jugendliteratur, Wien) und der Schweiz (Schweizerisches Kinder- und Jugendmedieninstitut, Universität Zürich). Der Archivierung und Erforschung des Kinder- und Jugendfilms widmet sich das 1977 gegründete Kinder- und Jugendfilmzentrum in Remscheid; seit 1989 gibt es in Frankfurt zudem ein Zentrum für Kinder- und Jugendtheater. 1987 wurde außerdem die „Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung“ gegründet, die seitdem jährlich eine Tagung veranstaltet. Seit 1995 erscheint das von Mitgliedern dieser Gesellschaft herausgegebene Jahrbuch Kinderund Jugendliteraturforschung. Weitere wichtige Institutionen, die sich der Förderung und Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur widmen, sind die „Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur“ (Volkach, gegründet 1976), die „Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung“ (Wien, gegründet 2001) und die „Stiftung Lesen“ (Mainz, gegründet 1988), die sich der Leseförderung im Allgemeinen widmet und sich um das vom Bund finanzierte Lesestart-Projekt kümmert.

II. Forschungsgeschichte

Widmete man sich zunächst der historischen Erforschung und bibliographischen Erfassung der Kinder- und Jugendliteratur, so kamen in den nachfolgenden Jahrzehnten vermehrt theoretische Untersuchungen hinzu. Stand in den 1950er und 1960er Jahren die „Theorie des guten Jugendbuches“ (Bamberger 1965; Krüger 1963; Maier 1965) im Mittelpunkt der Diskussion, so dominierten in den 1970er Jahren ideologiekritische Ansätze, die die jeweiligen Gesellschafts- und Rollenbilder in der Kinder- und Jugendliteratur analysierten. Dies führte in einem weiteren Schritt zu einer vehementen Kritik an vielen älteren Kinder- und Jugendbüchern, darunter auch etablierten Kinderklassikern, die ein antiquiertes und nicht zeitgemäßes Kindheitsbild tradieren würden (Dahrendorf 1980b; Doderer 1969). Im Gefolge dieser Debatten kam es zu einem Aufschwung der Mädchenliteraturforschung, die sich mit der Geschichte, dem Wandel des (weiblichen) Rollenverständnisses und der narrativen Struktur der Mädchenliteratur befasste und seit den 1980er Jahren Anschluss an die Gender Studies gefunden hat (Barth 1994; Dahrendorf 1980a; Grenz 1981; Lehnert 1996; Wild 2006; Wilkending 1994; Zahn 1983). In den 1980er Jahren nahm die Lesesozialisationsforschung, die sich auch mit der Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur befasste, einen Aufschwung. Hierbei bemühte man sich um eine Verbindung von Kinderliteraturforschung und Leserforschung, indem man rezeptionsorientierte und leserpsychologische Forschungsansätze integrierte und sich auf die empirische Erforschung des Leseverhaltens von Kindern und Jugendlichen sowie der Bedeutung des Vorlesens für Kinder im Vorschulalter konzentrierte (Eggert/Garbe 1995; Elias 2009; Groeben/Hurrelmann 2002; Wieler 1997; Wildemann 2003). An der kulturgeschichtlichen Wende in den Geisteswissenschaften partizipierte auch die Kinder- und Jugendliteraturforschung, indem kulturwissenschaftliche Fragestellungen in die wissenschaftliche Untersuchung von Kinder- und Jugendliteratur einflossen. Einen Aufschwung erlebte die Bilderbuchtheorie in den 1980er Jahren mit der Studie von Nodelman (1988), der sich später die Monographien von Nikolajeva/ Scott (2001), Lewis (2001) und Thiele (2000) anschlossen. Hierbei spielte der Begriff des Bildes als eigene ästhetische Kategorie ebenso eine Rolle wie die Bedeutung der symbolischen Formen von Bild und Text und deren Interaktion. Mit der Geschichte des Comics in der Bundesrepublik Deutschland befasste sich Dolle-Weinkauff (1990; 2008). Überlegungen zu einer Poetik der Kinder- und Jugendliteratur finden sich bei Lypp (1984) und Shavit (1986). Seit den 1990er Jahren rückten die Kindermedienforschung, systemtheoretische, sowie komparatistische Fragestellungen, aber auch das Interesse an der Kindheits- und Kinderkulturforschung zunehmend in den Fokus. Während in der Medienforschung einerseits der Einfluss der Neuen Medien auf die Kinder- und Jugendliteratur (Dresang 1999) und andererseits die Geschichte einzelner Kindermedien untersucht wird (Heidtmann 1992; Woijcik-Andrews 2001), hat die komparatistische Perspektive wesentlich dazu beigetragen, auf die Verzahnung der deutschsprachigen mit der internationalen Kinder- und Jugendliteratur hinzuweisen und infolgedessen die theoretischen Ansätze der Imagologie, Interkulturalitätsforschung, Motivund Stoffgeschichte, Translationswissenschaft und Intertextualität gewinnbringend für die Analyse der Kinder- und Jugendliteratur einzusetzen (Ewers/

Theoretische Fragestellungen

Theoretische Ansätze seit den 1990er Jahren

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II. Forschungsgeschichte

Aktuelle Forschungsfragen

Lehnert/O’Sullivan 1994; Kreller 2007; Kümmerling-Meibauer 1996, 1999; O’Sullivan 2000; Surmatz 2005; Thompson-Wohlgemuth 2009; Weinkauff/ Seifert 2006). Der auf Niklas Luhmann zurückgehende systemtheoretische Ansatz wurde in den Untersuchungen von Ewers (2000) und Gansel (1999) aufgegriffen, um mit dem Konzept von Kinder- und Jugendliteratur als Handlungs- und Symbolsystem zu der aktuellen theoretischen Diskussion beizutragen. Zur Erforschung der Kindheitsgeschichte, die seit der bahnbrechenden Studie von Ariès (1960) von Pädagogen, Soziologen, Kulturhistorikern und Literaturwissenschaftlern weitergeführt wurde, trugen vor allem die Studien von Behncken/Zinnecker (2001), Krüger (2002), Larass (2000) und Weber-Kellermann (1979) bei. Die seit Mitte der 1990er Jahre wieder aufgegriffene Kanondebatte in den Philologien wurde ebenfalls in der Kinderliteraturforschung aufgegriffen und führte u. a. zu einer Neubesinnung über den Klassiker- und Kanonbegriff in der Kinderliteratur (Hurrelmann 1995; Kümmerling-Meibauer 1999; Kümmerling-Meibauer 2003; Lexe 2003). Ebenso ist ein wachsendes Interesse an der Narrationsforschung (Wall 1991; Stephens/McCallum 1998; Hofmann 2010) sowie dem Phänomen des Crosswriting (Beckett 1999, 2009, 2011; Blume 2005; Falconer 2009; Kümmerling-Meibauer 2003) zu beobachten. Im Rahmen der PISA-Studie rückte zudem die Bedeutung des Vorlesens und des frühen Kontaktes mit Bilderund Kinderbüchern immer mehr in den Vordergrund und hat entsprechende Studien im Bereich der Literacy Studies angeregt (Hall/Larson/Marsh 2003; Jones 1996; Kress 1997; Kümmerling-Meibauer 2011; Rau 2007). Während sich die Literaturdidaktik mit dem Bilder- und Kinderbuch als Medium der literarisch-ästhetischen Sozialisation in der Grundschule befasst, hat die Fremdsprachendidaktik das Kinderbuch als adäquate Buchform für die in der Schule vermittelte Heranführung an sprachliche und literarische Strukturen entdeckt (Eder 2009). Neben dem weiterhin vorhandenen Interesse an der literatur- und kulturhistorischen Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur ist in der aktuellen (internationalen) Forschung ein gestiegenes Interesse an der Bilderbuchforschung (Bannasch 2007; Colomer/Kümmerling-Meibauer/Silva-Díaz 2010; Franz/Lange 2006; Heller 2008; Zöhrer 2011) sowie an der Erforschung der Intermedialität und des wechselseitigen Einflusses von Kindermedien aufeinander (Bolter/Grusin 2001; Steitz-Kallenbach/Thiele 2002; Jenkins 2006; Tomkowiak 2011; Exner/Kümmerling-Meibauer 2012) zu beobachten. Ein weiterer Trend zeigt sich in dem Bestreben, der Kinderliteraturforschung durch die Vernetzung verschiedener Disziplinen, wie Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaft, Bildwissenschaft, Literacy Studies, Psychologie, Medienwissenschaft und/oder Narrationsforschung neue Impulse zu verleihen und zugleich darauf aufmerksam zu machen, dass nur ein interdisziplinärer Zugang dem komplexen Phänomen der Kinder- und Jugendliteratur gerecht werden kann (u. a. Mackey 2007; Klein/Meibauer 2011; Kümmerling-Meibauer 2011; Wolf/Coats/u. a. 2011).

III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen Mit der Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen sich vor allem die philologischen Fächer, darüber hinaus ist sie aber auch Gegenstand der Bilderbuchforschung, Comicforschung, Medienwissenschaft, Leseforschung, Buchwissenschaft, Pädagogik, Sprachwissenschaft, Kulturwissenschaft, Literacy Studies und Entwicklungspsychologie, um nur die wichtigsten Disziplinen zu nennen. Die Kinderliteraturwissenschaft ist ein relativ junges Forschungsgebiet und hat sich international erst in der Nachkriegszeit etablieren können. Aus diesem Grund standen zunächst die historische Bestandsaufnahme und die literaturgeschichtliche Erforschung im Vordergrund, die zur Publikation einschlägiger Bibliographien, Handbücher, Kinderliteraturgeschichten und Textsammlungen führte. Darüber hinaus wurden und werden aber auch theoretische Fragestellungen entwickelt, die darauf zielen, die besonderen Merkmale und Leistungen der Kinder- und Jugendliteratur herauszustellen. Hinter diesen Bemühungen steht der Gedanke, eine eigene Poetik und/oder Theorie der Kinder- und Jugendliteratur zu etablieren. Hierzu gibt es bereits einige Vorüberlegungen und vielversprechende Ansätze, die allerdings noch nicht zu einem ausgereiften Theoriekonzept geführt haben. Der in der allgemeinen Literaturwissenschaft zu beobachtende Wandel der Methoden und theoretischen Ansätze spiegelt sich auch in der Kinderliteraturwissenschaft wider. Neben leser- bzw. rezeptionsorientierten Ansätzen (Rezeptionsforschung, literarische Sozialisationsforschung, Literacy Studies) haben gerade die kontextorientierten, oft von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ausgehenden Ansätze wie Gender Studies, Interkulturalitätsforschung, Kanonforschung, Sozialgeschichte der Literatur, Systemtheorie und Kindheitsforschung sowie medienorientierte Ansätze, etwa Kindermedienforschung, Intermedialitätsforschung, Filmtheorie oder Bildwissenschaft, der Kinderliteraturforschung in den letzten Jahrzehnten neue Impulse verliehen und zu fruchtbaren Ergebnissen geführt. Neben der Öffnung der einzelnen Philologien für komparatistische Fragestellungen profitiert die Kinderliteraturforschung auch von der zunehmenden Tendenz zur Interdisziplinarität. Anreiz zu entsprechenden Untersuchungen sind u. a. die folgenden Fragen: Was unterscheidet Kinder- und Jugendliteratur von der Literatur für Erwachsene? Welche Gemeinsamkeiten weisen die beiden Literaturbereiche auf? Inwiefern kann Kinder- und Jugendliteratur zum Sprach- und Literaturerwerb beitragen? Gibt es einen Wandel in der Konzeption des zugrunde liegenden Kindheitsbildes? Worin bestehen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen nationalen Kinderliteraturen, kann man eine wechselseitige Rezeption und Einflussnahme beobachten? Welchen Einfluss nehmen die modernen Medien auf die Kinder-und Jugendliteratur und welche Bedeutung hat Kinder- und Jugendliteratur für moderne Medienphänomene wie Medienverbund, Transmedialität oder Medienkonvergenz?

Allgemeiner Überblick

Fragestellungen der Kinderliteraturwissenschaft

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Im nachfolgenden werden exemplarisch einige theoretische Ansätze und Konzepte vorgestellt, die gerade für die Kinderliteraturforschung von weitreichender Bedeutung sind und bereits interessante Aspekte und Forschungsergebnisse zutage gefördert haben.

1. Literacy Studies Kinderliteratur und Kognition

Verschiedene Formen von Literacy

Eine wesentliche Eigenschaft von Kinder- und Jugendliteratur ist, dass sie auf den kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nimmt, ob das nun altmodisch als „Kind- und Jugendgemäßheit“ oder in neueren Studien als „Akkomodation“ (Ewers 2000) bezeichnet wird. Die Anpassung an soziale, ethische, gesellschaftliche und ästhetische Vorstellungen der Zeit wird dagegen oft mit dem Begriff „Akkulturation“ umschrieben. Eine wichtige Rolle spielt dabei sicher das Konzept der „Einfachheit“, dessen Bedeutung für das Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur von Maria Lypp (1984; 2000) und Perry Nodelman (2008) herausgestellt wurden. Dieser Ansatzpunkt, so einfach er in mancher Hinsicht wirken mag, ist eine Herausforderung für alle diejenigen, die einen primär literaturgeschichtlichen Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur wählen bzw. deren theoretischer Fokus es ist, die Kinderund Jugendliteratur als spezifisches Handlungssystem von der Erwachsenenliteratur abzugrenzen. Wenn Kinder- und Jugendliteratur eine Literatur ist, die auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt, muss man also genau erklären, wie diese Anpassung geschieht. Dass ein wesentliches Merkmal von Kinderliteratur darin besteht, sich in bestimmter Weise an die kindliche Zielgruppe anzupassen, ist bekannt. Allerdings ist bislang kaum darüber reflektiert worden, inwiefern Kinderliteratur eine Schlüsselposition hinsichtlich des Verständnisses des Phänomens „Literatur“ einnehmen kann, um auf diese Weise die enge Verzahnung von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zu analysieren. Diese grundlegenden Aspekte, die sowohl für die allgemeine Literaturwissenschaft als auch für die Literaturdidaktik von großem Interesse sein dürften, können nur durch einen interdisziplinären Zugang, der Ergebnisse der Kinderliteraturforschung, kognitiven Psychologie, Spracherwerbsforschung und Literacy Studies berücksichtigt, erforscht werden. Einen wichtigen Beitrag haben hierbei die Literacy Studies geleistet. Mit dem Begriff „Literacy“ werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet (sogenannte Functional Literacy), sondern auch weitere grundlegende Kompetenzen wie Textverständnis, Vertrautheit mit Literatur und anderen Medien sowie Erfahrungen mit der Lese-, Bild- und Erzählkultur. Man unterscheidet dabei drei spezifische Formen: a) Literary Literacy, d. i. die Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren; in der deutschen Forschung als „Literaturerwerb“ bezeichnet, b) Visual Literacy als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb), und c) Media Literacy als die Kompetenz, mit verschiedenen Medien (Printmedien, AV-Medien, interaktive Medien) umgehen zu können. Die damit verbundenen Fähigkeiten werden in einem offenen Erwerbsprozess erworben, der

1. Literacy Studies

nicht nur die Kindheits- und Jugendphase, sondern auch den erwachsenen Leser einschließt. Die Literacy Studies weisen zwar einige Gemeinsamkeiten mit der literarischen Sozialisationsforschung auf, sind aber im Gegensatz zu diesem theoretischen Ansatz weitaus breiter angelegt. Die literarische Sozialisationsforschung geht der Frage nach, wie jemand zu einem Leser bzw. einer Leserin wird, wobei sie das Augenmerk ausschließlich auf literarische Texte richtet und folglich nicht-fiktionale Texte wie etwa Sachliteratur oder Zeitungen ausschließt. Im Gegensatz zur Leseforschung bezieht sie dagegen literarische Sozialisationsformen ein, die nicht auf der Lektüre beruhen, d. h. sie untersucht die frühkindliche literarische Sozialisation (z. B. Vorlesesituationen) ebenso wie den Einfluss anderer Medien auf die literarische Rezeptions- und Produktionsfähigkeit. In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die basalen kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fähigkeiten, die für das Verstehen von Literatur relevant sind, bereits im Vorschulalter erworben werden, wenn Kinder ab dem Alter von 10 bis 12 Monaten mit Kleinkindbilderbüchern – zumindest in westlichen Kulturen – in Kontakt kommen. Die Literacy-Konzepte und -kenntnisse, die Kinder in der Vorschulzeit erwerben, werden als Early Literacy oder zuweilen auch als Emergent Literacy bezeichnet. Um diesen Erwerbsprozess detaillierter zu beschreiben, sind zahlreiche empirische Studien durchgeführt worden, die sich vor allem auf die Vorlesesituation im Vorschulalter und den kindlichen Erzählerwerb fokussierten (Braun 1995; Boueke et al. 1994; Jones 1996; Wieler 1997). Im Rahmen dieses Erwerbsprozesses spielt Kinderliteratur (später kommen noch andere Kindermedien hinzu) eine wichtige Rolle. Denn die frühkindlichen Erfahrungen mit Literatur sind einerseits bestimmt durch den mündlichen Vortrag von Kinderliedern, Kinderversen und Geschichten, andererseits durch das gemeinsame Betrachten und Vorlesen von Bilderbüchern und Kinderbüchern. Kleine Kinder werden zunächst an das Konzept „Buch“ herangeführt, erfassen durch das Betrachten der Bilder visuelle Codes (Bilderwerb) und werden durch das Zeigen und Benennen der abgebildeten Gegenstände bei ihrem Wortschatzerwerb unterstützt. Diese Korrelation macht schon deutlich, dass Bilderwerb, Spracherwerb und Literaturerwerb eng miteinander verzahnt sind. Später werden Kinder mithilfe komplexerer Bilderbücher und Kinderbüchern mit einfachen Geschichten mit dem Konzept „Narration“ vertraut gemacht. Darüber hinaus werden die kindlichen Rezipienten allmählich an literarische Phänomene herangeführt. So wurde im Rahmen der Early Literacy-Forschung nachgewiesen, dass Kinder im Vorschulalter schon erste Kenntnisse bestimmter literarischer Funktionen und Formen erwerben, z. B. Genrebewusstsein, Fiktionsbewusstsein, Verstehen von Komik und indirektem Sprachgebrauch (Metapher, Ironie) sowie rudimentäres Wissen über Intertextualität und die Bedeutung der Erzählerperspektive. Diese Kenntnisse unterstützen die zunehmende Fähigkeit, über Sprache und Literatur zu reflektieren. Man bezeichnet diese Fähigkeit als metalinguistische bzw. metaliterarische Aufmerksamkeit (Gombert 1992; Kümmerling-Meibauer 2003). Diese Kenntnisse werden nicht nur passiv erworben, sondern im spielerischen Umgang von den Kindern selbst angewendet. Kinder erwerben die Fähigkeit, selbst Geschichten zu erzählen, und dies

Literarische Sozialisation

Early Literacy

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Interaktion verschiedener Literacy-Formen

geht Hand in Hand mit dem Verstehen komplexer Strukturen in literarischen Texten. Mit dem Eintritt in die Schule beherrschen die Kinder weitgehend ihre Muttersprache, doch der Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben (Literacy im engeren Sinne) beginnt erst. Das Kind wird nun mehr und mehr fähig, Literatur selbständig zu rezipieren und zu produzieren. Diese ganzen Erwerbsprozesse sind äußerst diffizil, zumal dann, wenn verschiedene Literacy-Formen interagieren wie etwa beim Bilderbuch, Kinderfilm oder Computerspiel. Der potenzielle Nutzer muss dann Kenntnisse über visuelle und sprachliche Symbole besitzen, um die auf der Text- und Bildebene (beim Film und Computerspiel noch ergänzt um eine auditive Ebene) vermittelten Inhalte angemessen zu verstehen. Die Interaktion verschiedener Symbolsysteme in einem Medium wird als „Multimodalität“ bezeichnet, einem Ansatz, der von Gunter Kress und Theo van Leeuwen entwickelt wurde und darauf aufmerksam macht, dass diese Symbolsysteme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen. Darüber hinaus besitze jedes Symbolsystem eine eigene „Grammatik“, die nicht angeboren, sondern durch einen langwierigen Prozess erworben werde (Kress 1997; Kress/van Leeuwen 1996). Es hat schon einige fruchtbare Versuche gegeben, das Zusammenspiel von Kinderliteratur und Literacy, auch unter Berücksichtigung des kindlichen Spracherwerbs, zu analysieren, (u. a. Hall et al. 2003; Jones 1996; Klein/Meibauer 2011; Kümmerling-Meibauer 2011; Rau 2007), die Forschung steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen.

2. Kinderkulturforschung/Kindheitsforschung Konzepte der Kinderkulturforschung

Der Begriff „Kinderkultur“ umfasst alle Aktivitäten und Kunstformen, die von Kindern oder für Kinder produziert werden, d. h. Spiele, Mode, Spielzeug, Möbel, Feste, Kinderzeichnungen, aber eben auch Kinderliteratur und andere Kindermedien. Kinderkultur wird oft als Gegenbegriff zur „Erwachsenenkultur“ verwendet. Damit wird einerseits auf die Gleichberechtigung beider Kulturbereiche hingewiesen, andererseits die „Andersheit“ der kindlichen Welt akzeptiert. Während man lange Zeit Kinderkultur oft nur als (außerschulische) Kulturarbeit von Erwachsenen mit Kindern betrachtet hatte, wird in neueren Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik, Medienwissenschaft und Kinderliteraturforschung darauf hingewiesen, dass Kinder selbst einen produktiven Anteil an der Kinderkultur haben, indem sie kreativ tätig sind und das Medienangebot aktiv nutzen. Hier zeigen sich Anknüpfungspunkte an die Erforschung des Medienverbundes, weil hierbei ebenfalls verschiedene mediale Formen und Konsumgüter für Kinder (Merchandising) in ihrer Interaktion untersucht werden. So werden seit den 1980er Jahren zunehmend Medienverbünde organisiert, die nicht nur Kinder- und Jugendmedien involvieren, sondern auch Spielzeug, Konsumgüter für Kinder und Jugendliche und andere Merchandisingprodukte. Ziel dieser umfassenden Verbundsysteme ist es, den gesamten Lebensbereich von Kindern und Jugendlichen einzubeziehen, wobei der Aspekt des „Edutainments“, also die Verknüpfung unterhaltender und wissensvermittelnder Elemente, ebenso eine Rolle spielt

2. Kinderkulturforschung/Kindheitsforschung

wie das Phänomen der Serialisierung. Allerdings ist der Kinderkulturbegriff weiter gefasst. Er schließt nicht nur alle artifiziellen Produkte ein, die den Lebens- und Erlebnisraum von Kindern und Jugendlichen bestimmen, sondern auch alle Institutionen, die sich um die Archivierung und Verbreitung von Kinderkultur bemühen. Dazu zählen Museen (wie etwa das Museum of Childhood in London), Kinderbibliotheken und Kindertheater, wobei sowohl eine historische als auch eine zeitbezogene aktuelle Perspektive eingenommen werden kann. In diesem Kontext spielt der Aspekt der Nostalgie eine wichtige Rolle, weil damit die Phänomene Rückbesinnung auf die eigene Kindheit und das Sammeln von kindheitsbezogenen Produkten (Kinderliteratur, Spielzeug, Kindermöbel usw.) konnotiert sind. Es liegen bereits umfassende Kataloge und Einzelstudien zur Kinderkultur vor, welchen Einfluss aber entsprechende Kinderkulturkonzepte – wie etwa die pädagogischen Ansätze von Maria Montessori und Friedrich Fröbel oder die am Bauhaus entwickelten Ideen – auf die Kinder- und Jugendliteratur ausgeübt haben, ist so gut wie unerforscht. Ebenso weiß man bislang wenig über die wechselseitige Beziehung von Spielzeug und Kinderliteratur, obwohl es diese nachweislich gibt (Kuznets 1994). Die Vorstellung einer Kinderkultur ist zugleich mit bestimmten Kindheitsbildern konnotiert. Seit Philippe Ariès bahnbrechendem Werk Geschichte der Kindheit (franz. EA 1960) hat sich Kindheitsforschung als eigener Forschungszweig etabliert, der sowohl soziologische als auch pädagogische und kulturhistorische Aspekte berücksichtigt (Weber-Kellermann 1979; Mitterauer 1983; Larass 2000; Behncken/Zinnecker 2001). Kinder- und Jugendliteratur ist untrennbar mit bestimmten Vorstellungen von Kindheit und Jugend verbunden. Diese Vorstellungen können auf verschiedene Kindheitsbilder rekurrieren. Dabei kann es sich um Kindheitsbilder handeln, die auf Beobachtung von Kindern (Gegenwart), eigene Kindheitserinnerungen (Vergangenheit) oder Ideen über zukünftige kindliche Lebenswelten basieren, es können aber auch Kindheitskonzepte vorliegen, die durch den literarischen und/oder wissenschaftlichen Diskurs geprägt sind (Higonnet 1998; Nassen 1995; Neumann/Sträter 2000; Oesterle 1997; Stewen 2011). So hat gerade das Kindheitsbild der Romantik einen nachhaltigen Einfluss auf die Kinderliteratur der Romantik in Deutschland, aber auch anderer europäischer Länder ausgeübt (Alefeld 1996, Ewers 1989, Kümmerling-Meibauer 2008a, Natov 2003). Darüber hinaus ist das romantische Kindheitsbild trotz zahlreicher Modifikationen bis in die Gegenwart hinein in zahlreichen Kinder- und Jugendmedien präsent. Ein weiteres Gebiet für die Beschäftigung mit Kindheitsbildern sind Kindheitsautobiographien, die sich seit den 1950er Jahren vermehrt an die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen richten (Kümmerling-Meibauer 2004; Seibert 2005). Inwieweit Kindheitsbilder die Erinnerungskultur und das „kulturelle Gedächtnis“ prägen, wurde im Hinblick auf die Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit und den geschichtlichen Roman für Kinder und Jugendliche untersucht (Glasenapp/Wilkending 2004; Glasenapp/Ewers 2008). Diese Studien verdeutlichen darüber hinaus, dass Kindheitsforschung eng mit Fragestellungen der Komparatistik und des Crosswriting verknüpft ist.

Kindheitsforschung

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

3. Kinderliterarische Komparatistik Vielfalt komparatistischer Fragestellungen

In der Regel konzentrieren sich kinderliteraturwissenschaftliche Studien auf einzelne Philologien bzw. nationale Kinderliteraturen. Obwohl bereits Paul Hazard in seinem Werk Les livres, les enfants et les hommes (Kinder, Bücher und große Leute, 1925; dt. 1952) auf die wechselseitige Rezeption von Kinderliteratur in Europa und Nordamerika hingewiesen hat, nimmt die komparatistische Kinderliteraturforschung eher eine Randposition ein. Es gibt bislang nur wenige Studien, die die Kinderliteratur mehrerer Länder miteinander vergleichen oder die Rezeption von kinderliterarischen Werken über nationale Grenzen hinweg untersuchen, obwohl Autoren wie Joachim Heinrich Campe, E. T. A. Hoffmann, Erich Kästner oder Michael Ende mit ihren mittlerweile klassischen Kinderbüchern in fast alle Weltsprachen übersetzt worden sind und die Entstehung neuer Themen, Erzählformen und Genres im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur nachhaltig beeinflusst haben (Dolle-Weinkauff/Ewers 1996; Kümmerling-Meibauer 1999a; O’Sullivan 2000). Zum Gegenstandsbereich der kinderliterarischen Komparatistik gehören zunächst Untersuchungen zur (wechselseitigen) Rezeption von nationalen Kinder- und Jugendliteraturen. Diese Rezeption kann Motive, Stoffe, Figuren, Werke, deren Umsetzung in andere Medien, aber auch Genres, Kindheitsbilder oder narrative Erzählmuster betreffen. Der dadurch ausgelöste Vergleich von entsprechenden Phänomenen leistet einen wesentlichen Beitrag zur Mentalitäts- und Ideengeschichte. Aus diesem Grund spielt die Übersetzung und die damit verbundene Transferleistung eine wichtige Rolle, so dass bis heute Studien zur Übersetzung und Adaption von Kinder- und Jugendliteratur dominieren (O’Sullivan 2000; Jendis 2001; Surmatz 2005; Weinkauff/Seifert 2006; Lathey 2006; Kreller 2007). Komparatistisch ausgerichtete Kinderliteraturgeschichten, die die Vernetzung und die wechselseitige Rezeption von Werken und Autoren über einen langen Zeitraum hinweg darlegen, gibt es bislang noch nicht, auch wenn in den vorhandenen Geschichten zur Kinder- und Jugendliteratur gelegentlich auf Übersetzungen und einflussreiche Autoren aus anderen Ländern hingewiesen wird. Über Rezeption und Translation hinaus befasst sich die kinderliterarische Komparatistik aber noch mit anderen Aspekten. Neben der Diskussion des Begriffs „Weltliteratur (für Kinder)“ und den damit einhergehenden Implikationen gehört auch die Kanon- und Klassikerdebatte zu den Fragestellungen, die in der Komparatistik aufgegriffen werden. Weitere Perspektiven ergeben sich durch die theoretischen Konzepte Interkulturalität und Intertextualität sowie Intermedialität, hier verstanden als die Analyse der Interaktion verschiedener Künste (Literatur, Malerei, Photographie, Architektur, Skulptur) und Medien (Kümmerling-Meibauer/Surmatz 2011). Interkulturalität als Bezeichnung für den Komplex der Kommunikation und Interaktion verschiedener Kulturen spielt in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur eine größere Rolle als je zuvor, weil das Aufeinandertreffen von Kulturen, das bereits in der Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung thematisiert wird, in der modernen Welt im Zuge der Globalisierung ein virulentes Thema darstellt (Hurrelmann/Richter 1998). Der Einfluss dieser interkulturellen Begegnungen macht auch vor der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nicht Halt. Es gibt immer mehr Autoren und Autorinnen, die einen Migrationshin-

4. Klassik- und Kanonforschung

tergrund haben und das Wissen über ihre jeweilige Kultur und Sprache in ihren kinderliterarischen Werken einfließen lassen, bis hin dazu, dass die Sprachenvielfalt in den entsprechenden Büchern selbst reflektiert wird. Mehrsprachigkeit ist zwar kein neues Phänomen in der Kinder- und Jugendliteratur, man denke nur an Comenius’ zweisprachiges Elementarwerk Orbis sensualium pictus (1658) und die mehrsprachigen für Kinder bestimmten Enzyklopädien der Aufklärung, aber seit der Jahrtausendwende werden vermehrt bilinguale oder plurilinguale Kinder- und Jugendbücher gedruckt, die nicht nur den (Bildungs-)Spracherwerb, sondern auch das interkulturelle Verstehen fördern sollen. Mit den Stereotypen und Klischees über fremde Kulturen und Minderheitengruppierungen befasst sich insbesondere die Imagologie (O’Sullivan 2011). Auch die Intertextualitätsforschung, die sich der Erforschung bewusster und unbewusster Referenzen auf kinderliterarische Prätexte widmet, profitiert von einem komparatistischen Zugang, insofern gerade intertextuelle Anspielungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur sich oft auf die international bekannten Kinderklassiker beziehen (Kümmerling-Meibauer 2003).

4. Klassik- und Kanonforschung Die Frage nach den Auswahlkriterien für den Klassikerstatus kinderliterarischer Werke hat ebenso heftige Diskussionen hervorgerufen wie die Überlegungen, ob ein Kanon der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt notwendig sei. Die ideologiekritischen Vorbehalte gegenüber den etablierten Kinderklassikern führten in den 1970er Jahren dazu, dass man dem traditionellen Klassikerbegriff gegenüber skeptisch blieb (Dahrendorf 1980; Doderer 1969). Eine Neubesinnung setzte erst im Zuge der allgemeinen Klassik- und Kanondebatte in der Germanistik und anderen Philologien seit Mitte der 1980er Jahre ein. Drei Fragestellungen standen im Vordergrund: erstens Definitionsversuche des Klassikerbegriffs; zweitens Eingrenzung und Typologie des Klassikerkanons und drittens Ansätze zu einer Theorie des Klassischen. Bis heute scheiden sich die Kinderliteraturforscher im Hinblick auf eine Klassikerdefinition in zwei Lager: auf der einen Seite orientiert man sich am Postulat der Popularität und Langlebigkeit, ergänzt um eine wirkungsund rezeptionsgeschichtliche Perspektive (Hurrelmann 1995, O’Sullivan 2000), auf der anderen Seite hebt man die literarische Qualität und Vorbildfunktion als wesentliche Kriterien hervor (Kümmerling-Meibauer 1999a, Nodelman 1985). Eine Verbindung dieser synchronen und diachronen Merkmale wird in Kümmerling-Meibauer 2003 vorgeschlagen. Hinsichtlich der Typologie ist die Unterscheidung zwischen klassischem Werk, klassischem Autor und klassischer Epoche bzw. Epochenabschnitt (in einigen Ländern wie Großbritannien, Norwegen oder den USA hat sich der Begriff „Goldenes Zeitalter der Kinderliteratur“ für die Bewertung einer bestimmten Zeitspanne durchgesetzt) noch nicht hinreichend erforscht und reflektiert worden. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Abgrenzung von älteren und modernen Kinderklassikern, wobei die allgemein akzeptierte Zeitgrenze das Jahr 1945 darstellt. Die damit einhergehende Debatte über die Dialektik von Wahrnehmung der Historizität und Wahrnehmung der

Klassiker- und Kanondebatte

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Bestimmung des Klassikerbegriffs

Weltliteratur für Kinder

überzeitlichen Geltung hat der Klassik- und Kanonforschung großen Auftrieb gegeben. Die Schwierigkeiten, den Kinderklassikerbegriff präziser zu erfassen und wissenschaftlich zu begründen, hängen einerseits mit der nicht reflektierten Übertragung des Klassikbegriffs der Allgemeinliteratur auf die Kinder- und Jugendliteratur, zum anderen mit dem beschränkten Kinderklassiker-Korpus (in der Regel beziehen sich entsprechende Studien auf eine Auswahl von ca. 20-30 Werken mit einer Dominanz der angloamerikanischen Kinderklassiker) zusammen. In nur wenigen Fällen wird diese Übertragung als Analogie in dem Sinne verstanden, dass klassische Kinder- und Jugendbücher für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur das leisten können, was klassische Werke für Erwachsene für den Bereich der Hochliteratur bedeuten, nämlich diese als Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ zu verstehen. Da die Auseinandersetzung mit dem Klassiker-Konzept untrennbar mit dem Aspekt der Kanonisierung und (literarischen) Bewertung verknüpft ist, ergeben sich hierbei äußerst komplexe Fragestellungen. Neben der Bedeutung eines kinderliterarischen Kanons für das „kulturelle Gedächtnis“, wurden noch der Zusammenhang mit der „literarischen Bildung“ (als einem Bestandteil literarischer Rezeptionskompetenz) sowie dem zugrundeliegenden Kindheitskonzept diskutiert. Da die berühmtesten Kinderklassiker durch Medienverbundsysteme und Merchandising über Jahrzehnte hinweg immer wieder in neuen medialen Formen präsent sind, nehmen diese weiterhin als transmediale Long- und/oder Bestseller einen bedeutenden Platz in der aktuellen Kinderund Jugendliteratur ein. Welchen Einfluss die damit einhergehenden Änderungen der literarischen Originalvorlage in Form von Modernisierungen, Adaptionen und Remediationen auf die Rezeption und das Verständnis der zugrunde liegenden Geschichte und ihrer Figuren haben, ist wiederholt analysiert worden und ist ein beliebter Gegenstand medienhistorischer und medientheoretischer Studien, ebenso die Umschreibung bzw. Adaption von klassischen Werken der Erwachsenenliteratur für Kinder und Jugendliche, auch in Form von Bilderbüchern (Zöhrer 2011). Kinder- und Jugendliteratur war schon früh „Weltliteratur“. Daher sollten nationale Kinderliteraturen immer im Kontext der internationalen Kinderliteratur betrachtet werden. Erich Kästner oder Astrid Lindgren sind in diesem Sinne internationale Autoren, die deshalb auch in die meisten Weltsprachen übersetzt worden sind. Der literaturtheoretische Diskurs über den Kinderklassikerbegriff ist folglich verzahnt mit dem Konzept einer „Weltliteratur für Kinder“, das auf Überlegungen von Paul Hazard (1925) zurückgeht. Hazards Ideen sind wegen ihres Eurozentrismus und ihrer „naiven“ Sichtweise auf die tatsächlichen Produktions- und Vertriebsverhältnisse auf dem internationalen Buchmarkt wiederholt kritisiert worden (O’Sullivan 2000). Eine Basis für eine Neubestimmung des Begriffs bietet der theoretische Ansatz der PostColonial Studies, der dazu beigetragen hat, den tradierten WeltliteraturBegriff kritisch zu reflektieren. Das Plädoyer für eine Erweiterung des Kanons um nicht-europäische, indigene Literaturen führte zu einer veränderten Perspektive auf die Peripherie. Im Rekurs auf die Idee einer „New World Literature“ bedeutet diese Forderung den kosmopolitischen Einschluss von Literaturen aus Dritte-Welt-Ländern, aber auch von Minderheiten und Migranten. Die durch diese Überlegungen ausgelöste Debatte ist eng mit der Kanonisie-

5. Crosswriting

rung bzw. De-Kanonisierung von Kinder- und Jugendliteratur verknüpft. Die Forderung nach einer Neubesinnung und kritischen Reflexion des kinderliterarischen Kanons hat auf der einen Seite dazu geführt, den Normcharakter des Kinderliteraturkanons kritisch zu überprüfen, auf der anderen Seite historische Studien zur Kanonforschung angeregt. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war die Frage, aus welchen Gründen Kinder- und Jugendliteratur nicht als Bestandteil der Allgemeinliteratur angesehen und folglich de-kanonisiert worden ist. Dies zeigt sich u. a. daran, dass Kinder- und Jugendliteratur in der Regel nicht in nationalen Literaturgeschichten berücksichtigt oder nur marginal, oft in Verbindung mit abwertenden Einschätzungen, behandelt wird. Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, müssten sowohl die Wissenschaftsgeschichte der Kinderliteraturforschung als auch der historische Wandel der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur anhand historischer Quellen (Literaturgeschichten, Literaturkritiken, Schulund Lesebücher, Leselisten usw.) erforscht werden. Entsprechende Studien liegen bislang nur zu Deutschland (Kümmerling-Meibauer 2003) und den USA (Clark 2003) vor.

5. Crosswriting Die Kinder- und Jugendliteratur ist historisch immer auf die Erwachsenenliteratur bezogen. Sie nimmt deren Strömungen auf, agiert zum Teil aber auch als Avantgarde. Kinder- und Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur gehören zusammen, sollten also auch in ihren wechselseitigen Beziehungen erforscht werden. Nimmt man diese Thesen ernst, so stellen sich für die (Kinder-)Literaturwissenschaft folgende Fragen: Schreiben Autoren anders, wenn sie sich an verschiedene Zielgruppen richten? Gibt es literarische Werke, die sich sowohl an Kinder und Jugendliche als auch an Erwachsene richten? Und: Warum enthalten viele Kinderbücher Informationen, die offenbar nur von einem erwachsenen Mitleser verstanden werden können? Obwohl es zu diesen Fragen schon seit den 1980er Jahren Untersuchungen gibt, so etwa der Sammelband Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? (1990) von Dagmar Grenz oder die Studie Poetics of Children’s Literature (1986) von Zohar Shavit, hatte erst ein special issue des Jahrbuches Children’s Literature (1997) mit dem ungewöhnlichen Titel „Crosswriting“ die entsprechende Fanalwirkung. Die Begriffsbildung Crosswriting ist selbst ein Kunstwort und geht offensichtlich auf die beiden Herausgeber U. C. Knoepflmacher und Mitzi Myers zurück, die den Terminus in Analogie zu dem Begriff „Crossover Literature“ des viktorianischen Satirikers Samuel Butler bildeten (Knoepflmacher/Myers 1997). Crosswriting lässt sich – auch aufgrund der Ambivalenz des Wortes „cross“ – nicht adäquat ins Deutsche übersetzen, weshalb der englische Begriff beibehalten wird. Drei Formen des Crosswriting werden im Allgemeinen unterschieden. Zunächst macht Crosswriting darauf aufmerksam, dass es eine wachsende Anzahl von Autoren und Autorinnen gibt, die literarische Werke sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben, man denke nur an Autoren wie Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Peter Härtling, E. T. A. Hoffmann, Erich Kästner, Christian Morgenstern und Joachim Ringel-

Begriffsbestimmung

Formen des Crosswriting

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Crossover Literatur

Zusammenhang mit anderen theoretischen Fragestellungen

natz. Außerdem referiert Crosswriting auf das Phänomen des rezipientenübergreifenden Schreibens, d. h. ein kinderliterarisches Werk spricht sowohl Kinder als auch Erwachsene an, wobei verschiedene Bedeutungsebenen herausgeschält werden können. In der deutschsprachigen Forschung haben sich für diese Form des gleichzeitigen Ansprechens zweier Lesergruppen die Termini Mehrfachadressiertheit oder doppelsinniges Kinderbuch etabliert (Ewers 2000). Dieser Gruppe ordnet man viele Kinderklassiker, aber auch zahlreiche moderne Kinder- und Jugendbücher zu, so etwa E. T. A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig (1816) oder Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) (vgl. Kapitel V.1 und V.6). Zuletzt verweist Crosswriting auf die Tatsache, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor/derselben Autorin in ein Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt. Für die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur kann stellvertretend Leonie Ossowski genannt werden. Unter dem Pseudonym Jo Tiedemann veröffentlichte sie 1956 bei einem Ostberliner Verlag ihren Erwachsenenroman Stern ohne Himmel, der 1978 in einer gekürzten und sprachlich bearbeiteten Version als Kinderbuch publiziert wurde. Hiervon zu unterscheiden sind die kinderliterarischen Adaptionen von Werken der Erwachsenenliteratur durch andere Autoren, wie dies etwa mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719/20; dt. 1720) oder Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (Gullivers Reisen, 1726; dt. 1727) mehrfach geschehen ist. Für eine Theorie des Crosswriting sind diese Adaptionen ebenfalls von großem Interesse. Die Konzeption des Crosswriting hat man mittlerweile auch auf andere mediale Formen, z. B. das Bilderbuch oder den Kinderfilm, übertragen (Beckett 2011; Kümmerling-Meibauer/Koebner 2010). Der Begriff „Crossover Literatur“ – oft auch als „All Age Literatur“ bezeichnet – ist zwar eng mit dem Konzept des Crosswriting verbunden, verweist darüber hinaus aber auf das Phänomen, dass sich die Kinder- und Jugendliteratur auf der einen Seite und die Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite hinsichtlich der Themen, Formen und narrativen Strukturen immer mehr einander angleichen, so dass es bei manchen Werken zuweilen schwierig ist, sie einem Literaturbereich eindeutig zuzuordnen (Beckett 1999, 2009; Blümer 2009; Blume 2005; Falconer 2009). Der Terminus „Crossreading“ dagegen referiert auf das Phänomen, dass Erwachsene Kinder- und Jugendliteratur lesen, während Jugendliche ein vermehrtes Interesse an der Erwachsenenliteratur zeigen, vor allem im Bereich der Fantasyliteratur. Über die Erstellung einer Typologie des Crosswriting und den Vergleich von Werken desselben Autors, die sich an Erwachsene und/oder Kinder und Jugendliche richten, hinaus ist das Phänomen des Crosswriting für verschiedene literaturhistorische und theoretische Fragestellungen von großer Bedeutung, etwa für die historische Kanonforschung, das Konzept der Intertextualität, die Narrationsforschung, die Frage nach dem Remake bzw. dem Verhältnis von Original und Kopie, dem Einfluss künstlerischer Avantgarden auf die Kinder- und Jugendliteratur, die Untersuchung verschiedener Leserrollen von Erwachsenen oder die Analyse der zugrundeliegenden Kindheitsbilder. Obwohl das Phänomen, dass Autoren sowohl für Kinder als auch für Erwachsene schreiben, sich bereits seit dem 18. Jahrhundert nachweisen lässt, hat sich die allgemeine Literaturwissenschaft dieses theoretisch hochinteressanten Aspektes bisher nicht angenommen. Offenbar hat man noch

6. Kinderliteratur und Medien

gar nicht die Brisanz dieser Thematik erkannt, denn hier ergibt sich die Chance, auf die enge Verzahnung von Kinder- und Jugendliteratur mit der Erwachsenenliteratur hinzuweisen und folglich die Schnittstellen zwischen beiden Literaturbereichen genauer zu analysieren.

6. Kinderliteratur und Medien Intermedialität, Transmedialität, Hypermedialität und Medienkonvergenz sind Schlagworte, die seit Mitte der 1990er Jahre die Debatte über den Zusammenhang zwischen verschiedenen Medien bestimmen. Allen diesen Begriffen ist gemeinsam, dass sie Manifestationsformen eines umfassenden Phänomens der medialen Interferenzen und Grenzüberschreitungen darstellen. Dass sich verschiedene Medien miteinander vermischen und aufeinander Bezug nehmen, ist keineswegs eine neue Erscheinung, bestimmt jedoch die mediale Wahrnehmung und das künstlerische Schaffen immer mehr. Bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt sich in einer Vielzahl kinderliterarischer Texte eine Öffnung gegenüber anderen medialen Ausdrucksformen, die seit den 1980er Jahren stetig zugenommen hat. Mit diesem Phänomen muss sich folglich auch die Kinderliteraturforschung auseinandersetzen, wenn sie sich gegenüber den technischen und digitalen Vermittlungsformen kinderliterarische Texte nicht verschließen will. Im Bereich der Kindermedien, neben Printmedien zählen hierzu die AV-Medien und die interaktiven Medien, können verschiedene Strategien des Medientransfers unterschieden werden. Bei dem nach dem Baukastensystem funktionierenden Medienverbund wird ein Leitmedium in andere Medien umgesetzt und gleichzeitig oder mit zeitlicher Verschiebung auf den Markt gebracht. Dieser Medienverbund wird durch den Verkauf von Nebenrechten, sog. Merchandising, auf die verschiedensten Konsumgüterbereiche ausgedehnt. Ausgangsmedium kann dabei ein Buch, ein Comic, aber auch ein Film, ein Hörspiel, ja sogar ein Spielzeug sein. Bei Medienverbundsystemen wird jedoch nicht nur ein Ausgangsmedium in diverse andere Medien umgesetzt, zunehmend ist dabei die Tendenz zu beobachten, dass die jeweiligen Medien Strukturmerkmale anderer Medien aufgreifen und zitieren. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, für das sich der Begriff Intermedialität (der den ungenauen Begriff der Adaption ersetzt) durchgesetzt hat. Intermedialität umfasst alle Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren (Rajewsky 2002). Das Konzept der Transmedialität verweist auf das Vorkommen eines bestimmten Stoffes oder Motivs bzw. die Umsetzung eines Genres in verschiedenen Medien, ohne dass die Annahme eines Ursprungsmediums relevant ist. So können einzelne Medien auf Stoffe aus der Bibel oder der antiken Mythologie zurückgreifen, die im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Mit der Entwicklung der interaktiven Medien, die sich durch eine besondere Struktur der Hyperlinks auszeichnen, hat sich eine weitere Form medialer Repräsentation etabliert: Hypermedialität. Darunter versteht man die nichtlineare Anordnung von Informationen (Text, Bild, Film, Spiel), die durch mehrere Ebenen miteinander vernetzt bzw. verlinkt sind. Ein markantes Bei-

Bedeutung der Kindermedien

Transmedialität und Hypermedialität

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Kindermedienforschung

Medienkompetenz und Media Literacy

spiel hierfür sind die Fenster von Websites und Desktop Interfaces im Internet, die durch Anklicken geöffnet werden können und zu einer Verschachtelung der verschiedenen Ebenen beitragen. Zum Gegenstand der Kindermedienforschung gehören u. a. a) Medienkombination, auch Multimedialität genannt. Hierbei handelt es sich um eine Verbindung mehrerer Medien wie z. B. beim Bilderbuch (Verbindung aus Text und Bild), dem Comicroman, dem Computerspiel oder dem Kinderfilm. Anhand dieser Auflistung wird schon ersichtlich, dass eine Kombination unterschiedlicher Medien häufig zur Entstehung und Entwicklung neuer eigenständiger Kunstformen führen kann; b) das Phänomen des Medienwechsels (auch: Medientransformation), d. h. Literaturverfilmungen und andere Formen der Umsetzung von einem Medium in ein anderes Medium wie Transformation eines Filmes in einen literarischen Text (Novelization), Vertonungen, Umsetzung in ein Computerspiel usw.; c) Intermedialität, d. h. der Bezug eines Mediums auf ein anderes Medium und dessen Ausdrucksformen. Hierzu gehören Erscheinungen wie die „filmische Erzählweise“ oder die Einfügung narrativer Elemente in den Film, z. B. durch aus dem Off gesprochene Texte, oder die Integration von Filmsequenzen in Computerspiele; d) Remediation, d. h. die Umgestaltung „älterer“ Medien in neuen (digitalen) Medien (Bolter/Grusin 2001). Das damit zusammenhängende Phänomen der Medienkonvergenz spielt im Zeitalter des Internets eine immer größere Rolle, weil sich durch den Umgang mit diesem Medium neue Partizipationsmöglichkeiten der Rezipienten ergeben, etwa durch Fan Fiction oder Blogs (Carr 2010). Durch die Verbreitung eines Mediums auf verschiedenen Plattformen und die Strategie, einen Inhalt über mehrere Medien hinweg zu erzählen, ist eine neue Erzählform entstanden, die man als „transmediales Erzählen“ bezeichnet (Jenkins 2006). Ferner zeichnen sich viele Kindermedienverbünde durch das Prinzip der Serialisierung aus. Das Serienprinzip, ob in der Kinder- und Jugendliteratur oder in den AVMedien und interaktiven Medien, wird in der Forschung wenig diskutiert und eher negativ eingestuft. Erfolgreiche Medienprodukte – ob Kinderbücher, Filme, Hörspiele, Computerspiele oder Spielzeug – bauen auf dem Serienprinzip auf, indem im regelmäßigen Turnus Fortsetzungen oder um weitere Geschichten ergänzte Versionen erscheinen. Obwohl das Printmedium Buch weiterhin eine bedeutende Rolle im Alltag des Kindes einnimmt und das Bilderbuch offensichtlich immer noch das erste Medium ist, mit dem Kleinkinder in Berührung kommen, ist die moderne Kinderkultur in eine multimediale Welt integriert: außer den Printmedien Buch, Zeitschrift und Comics nehmen andere Medienformen immer größeren Einfluss auf die kindliche Medienrezeption (Hurrelmann/Becker 2003). Die Erweiterung des traditionellen Lese-Konzeptes auf das Verstehen von Bildern, Symbolen und Programmiersprachen mündete in ein Plädoyer für eine multimediale Erziehung des Kindes (Groeben/Hurrelmann 2002b). Durch das Erlernen der medialen Codes und die Anleitung zum kritischen Umgang und Vergleich soll die Bedeutung der Kindermedienkultur für die kognitive, sprachliche und emotionale Entwicklung des Kindes herausgestellt werden. Das von der Kindermedienforschung in die Diskussion eingebrachte Konzept der Media Literacy oder Medienkompetenz macht auf die besonderen kognitiven Fähigkeiten, die der Umgang mit Printmedien, AV-

7. Text-Bild-Interdependenzen

Medien und interaktiven Medien aktiviert, aufmerksam (z. B. Wahrnehmung von Sprache-Bild-Relationen, Deutung von Szenenwechseln und multimodaler Kombination bei Spielen und Websites). Je nach ausgewähltem Medium wird noch weiter spezifiziert, indem zwischen Computer Literacy, Electronic Literacy (Dresang 1999) und New Visual Literacy (Kress/van Leeuwen 1996) unterschieden wird. Neben der Untersuchung dieser Medienvielfalt und ihrem Einfluss auf die Medienkompetenz der Zielgruppe haben sich in den letzten Jahren, auch bedingt durch die rasante Entwicklung des Internets, weitere Tendenzen herausgestellt, die für die Kinderliteraturforschung von Relevanz sind (Ewers 2002c). Eine Tendenz besteht in der zunehmenden Hybridisierung, d. h. der Verschachtelung und Kombination verschiedener medialer Inhalte und Strukturen. Besonders deutlich wird dieses Phänomen im modernen Kinderfilm, der durch die Kombination populärer Filmgenres mit avantgardistischen Filmtechniken eine bestimmte Form des Crossover hervorgerufen hat (Wojcik-Andrews 2000). Vergleichbare Tendenzen lassen sich im Printmedium Buch beobachten, wenn Elemente des Comics, Films und des Computerspiels eindringen und dadurch neue Erzählformen generieren. Das gleichzeitig stattfindende multimediale Franchise eines Werkes in Buchform, als Verfilmung, Comicversion, Hörbuch, Anime, Online- und Computerspiel bis hin zu Websites und Blogs, die zur aktiven Mitarbeit der Rezipienten auffordern, ist maßgeblich an der Entstehung eines transmedialen Netzwerkes beteiligt. Die jeweiligen Medien enthalten dabei Leerstellen, die erst dann ergänzt werden können, wenn man die anderen medialen Varianten heranzieht. Diese Struktur verlangt von dem interessierten Rezipienten, dass er sich mehrerer Medien bedient, um eine Geschichte in all ihren Details erfassen zu können. Außerdem erfordert diese neue Strategie eine Kompetenz, die man in der Forschung als „Transliteracy“ bezeichnet. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass man zwischen verschiedenen Medien, die nicht mehr ausschließlich textbasiert sind, wechseln kann und dabei in der Lage ist, die verschiedenen Symbolsysteme zu verstehen und miteinander in Verbindung zu setzen. Für die Kinderliteraturforschung stellt diese Entwicklung insofern eine Herausforderung dar, als sie einen nachhaltigen Einfluss auf Form, Format und Erzählstrategien kinderliterarischer Texte ausübt und mit dazu beiträgt, dass das Printmedium Buch an einem transmedialen Formen- und Bedeutungswandel partizipiert und damit einhergehend neue Buch- und Erzählformen generiert werden. Die Kinderliteraturforschung muss sich jedoch nicht nur diesen aktuellen Herausforderungen stellen, bislang liegen auch keine umfassenden und vergleichenden Studien zur Geschichte der Kindermedien und des Kindermedienverbundes von ihren Anfängen am Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart vor.

Hybridisierung und Transliteracy

7. Text-Bild-Interdependenzen Nicht nur das Bilderbuch, sondern auch der Comic und Manga für Kinder sowie illustrierte Kinder- und Jugendbücher zeichnen sich durch einen hohen Bildanteil aus. Die Interaktion von Text und Bild sowie Ton spielt darüber hinaus im Film, im Computerspiel und im Internet eine tragende Rolle.

Bedeutung von Bildern in Kindermedien

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III. Theoretische Ansätze und Fragestellungen

Bilderbuch- und Comicforschung

Medien- und Kunstwissenschaft

Weiterführende Fragestellungen

Fazit und Ausblick

Seit den 1980er Jahren hat sich eine eigenständige Bilderbuch- und Comicforschung entwickelt, die innerhalb der Kinderliteraturwissenschaft nur einen marginalen Status einnimmt. Ebenso gibt es bislang kaum wissenschaftliche Studien, die sich mit der Bedeutung des Bildes im Kinder- und Jugendfilm und internetbasierten medialen Formen auseinandersetzen. Durch die Übernahme filmischer Erzählweisen ergeben sich darüber hinaus Verbindungslinien zum Film (Kinofilm, Fernsehen, animierte Sequenzen im Computerspiel). Am umfänglichsten sind bisher Forschungen zur Geschichte des Bilderbuches und der Illustration im Kinderbuch (Doderer/Müller 1975; Ries 1988; Franz/Lange 2006; Heller 2008) und des Comics (Dolle-Weinkauff 1990, 2008), die auf die Entwicklung der Drucktechniken, die Stilgeschichte, den inhaltlichen und formalen Wandel sowie die Rezeption eingehen. Bahnbrechende theoretische Studien zum Bilderbuch und Comic wurden vorwiegend von englischsprachigen Forschern verfasst. In den Studien von Lewis (2001), Nikolajeva/Scott (2001) und Thiele (2000) rückte der Begriff des Bildes als eigene ästhetische Kategorie ebenso ins Blickfeld wie die Bedeutung der symbolischen Formen von Bild und Text und deren Interaktion. Neue Impulse hat die Bilderbuch- und Comicforschung, die ihr Tätigkeitsfeld inzwischen auf die Untersuchung von Manga und Graphic Novels ausgedehnt hat, durch die Narrationsforschung und filmtheoretische Studien erhalten (Packard 2006; Thiele 2007; Schüwer 2008; Colomer/KümmerlingMeibauer/Silva-Díaz 2010). Die Medienwissenschaft hat das Bilderbuch und den Comic bislang eher stiefmütterlich behandelt. Erst in letzter Zeit widmen sich einzelne Forscher der filmischen Umsetzung von Bilderbüchern und Comics in Real- oder Animationsfilme, um daraus neue Perspektiven für einen medienkompetenzorientierten Zugang zum Bilderbuch bzw. Comic zu eröffnen. Von Seiten der Kunstwissenschaft liegen bislang keine umfangreichen Studien zur Geschichte oder Theorie des Bilderbuches vor, obwohl es mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Entwicklung des illustrierten Buches (für Erwachsene) und des Künstlerbuches gibt. Angeregt durch die Visual Literacy-Forschung und Ergebnisse der Bildwissenschaft und kognitiven Psychologie verlagerte sich der Fokus seit den 1990er Jahren zunehmend auf die kindliche Rezeption von Bilderbüchern und deren Einfluss auf die kognitiv-emotionale Entwicklung des Kindes. Entsprechende Untersuchungen für die Rezeption von Comics und Kinderfilmen durch Kinder und Jugendliche stehen bislang aus. Dennoch sind viele bedeutende Aspekte, die mit dem Bild konnotiert sind, in den Fokus der Forschung gerückt. Dazu gehören u. a. die Interdependenz von Text und Bild, der Einfluss der Paratexte, die narrative Herausforderung textloser Bildsequenzen, das Phänomen der Interpiktorialität, Remediationen (z. B. Bilderbuch- und Comicverfilmungen), die Bedeutung des Remake (mehrfache Umsetzung desselben Stoffes in einem Medium), Darstellung von Raum und Zeit sowie der Einfluss narratologischer Parameter (Metafiktion, Intertextualität, Multiperspektivität) auf die Gestaltung und Wahrnehmung von Bildern. Je länger man sich mit Kinder- und Jugendliteratur und deren Erforschung befasst, desto mehr neue Perspektiven eröffnen sich. Die in diesem Kapitel

7. Text-Bild-Interdependenzen

genannten theoretischen Ansätze und Aspekte stellen nur eine Auswahl dar und können durch weitere Fragestellungen fortgeführt und ergänzt werden. Sie sollten vor Augen führen, dass die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur nicht nur für die Literaturdidaktik, sondern auch für die allgemeine Literaturwissenschaft von großem Interesse ist, sei es hinsichtlich der Frage nach dem Literaturerwerb, nach den Schnittstellen zwischen Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur oder dem Aspekt der Kanonisierung von Werken und Autoren, die sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben. In den letzten Jahren haben sich neue kulturwissenschaftliche und literaturtheoretische Ansätze in der allgemeinen Literaturwissenschaft etabliert, so etwa Animal Studies, Ecocriticism, Materiality oder Cognitive Poetics. Zwar beziehen sich vereinzelt Kinderliteraturwissenschaftler schon auf diese Ansätze, inwiefern sie für die Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur zu fruchtbaren Ergebnissen führen werden, wird sich allerdings erst in der Zukunft erweisen.

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur 1. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit Anfänge der Kinderund Jugendliteratur

Schul- und Lehrbücher

Die Anfänge der Kinder- und Jugendliteratur reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Die zunächst in lateinischer Sprache verfassten Werke, die vorwiegend für den Klerikernachwuchs und Kinder aus adligen Kreisen bestimmt waren, dienten ausschließlich propädeutischen Zwecken und zeichneten sich durch ihren lehrhaften Charakter aus. Drei erzieherische Absichten wurden mit ihnen verknüpft: Alphabetisierung, Einweisung in religiöse Dogmen, Vermittlung von Grundwissen und wesentlichen Verhaltensregeln. Zu den religiösen Schriften gehörten Historienbibeln, d. h. Nacherzählungen der biblischen Geschichten, Bilderbibeln, Katechismen, Kinderpredigten und Werke, die dem Zweck der religiösen Erbauung dienten (Der Seele Trost, ca. 1350). Standesgemäße Verhaltensnormen und moralische Wertvorstellungen wurden durch Tugend- und Standeslehren, Ratgeber und Lehrgespräche vermittelt (Der Winsbecke, entstanden 1210–1220), wobei es bereits im Mittelalter schon Standesunterweisungen gab, die sich ausdrücklich an Mädchen und junge Frauen richtete, wie etwa Vrouwen Buoch (1257) von Ulrich von Lichtenstein oder Fraw Dugentreich (Frau Tugendreich, 1518-21) (Barth 1994). Zu den bedeutendsten Werken gehört die aus dem 3./4. Jahrhundert stammende Spruchsammlung Cato, verfasst von einem unbekannten spätantiken Autor. Dieses in Form eines Lehrgespräches strukturierte Werk wurde bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur als Anstandsbuch, sondern wegen seines vorbildlichen lateinischen Stils auch im lateinischen Schulunterricht verwendet. Die vorwiegend propädeutische Funktion dieser Werke erklärt sich auch daraus, dass weit bis in die frühe Neuzeit hinein Kindheit und Jugend nicht als eigenständige Lebensphasen, sondern als Vorbereitung auf das Erwachsensein betrachtet wurden. Ebenso unterschied man nicht genau zwischen den Kategorien „Kindheit“ und „Jugend“, sondern verwandte diese Begriffe synonym. Diese beiden Termini waren außerdem sehr weit gefasst und konnten angefangen vom Kleinkind bis zum Erwachsenen alle Altersstufen umfassen. Des Weiteren wurde der Begriff „Kind“ verwendet, um damit das einfache Volk oder Gläubige, die die Taufe empfangen hatten, zu bezeichnen (Wild 1993). Während die von kirchlichen Institutionen verbreiteten Publikationen für Kinder und Jugendliche den Hauptakzent auf religiöse Belehrung legten, dienten die Schul- und Lehrbücher der Vermittlung elementaren Wissens, das aber immer mit moralischer Belehrung verbunden wurde. Die nicht-religiösen Lehrwerke bekamen erst im Humanismus einen Bildungswert zugesprochen. Die ganz für die zukünftige Rolle des Kindes in der Gesellschaft bestimmten Texte der frühen Neuzeit boten Modelle für das künftige Rollen-

1. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit

verhalten. Diese antizipierende Funktion stand unter der Dominanz der pädagogischen Funktion von Kinder- und Jugendliteratur. Sie entwickelte sich historisch zunächst in einzelnen, durch den Unterricht gesteuerten Bereichen als belehrende Literatur bei noch nicht scharfer Trennung vom Schulbuch. Die Belehrungs- und Erziehungsfunktionen erwiesen sich dabei als gattungs- und strukturbildend. Man kann vier Gruppen von Kinderbüchern unterscheiden: religiöse Schriften (Kinderbibeln, Katechismen, Erbauungsliteratur), Werke zur Sprachbildung, Rhetorikerziehung und Realienkunde in der Tradition der Artes-Literatur (ABC-Bücher, Grammatiken, Spruchsammlungen, Lesebücher), Civilitas-, Offizien- und Virtusliteratur (Zuchtbücher, elterliche Ratgeber, Fürstenspiegel) und fiktional-unterhaltende Literatur mit didaktischem Anspruch (Fabeln, Tierepen, Schwanksammlungen, Schauspiele, Gedichte), die allerdings bis Mitte des 18. Jahrhunderts zahlenmäßig gering war (Brüggemann/Brunken 1990). Die zuletzt genannte Gruppe umfasst Bücher, die nach der rhetorischen Standardformel praecepta (Regeln) – exempla (Beispiele) – imitatio (Nachahmung) strukturiert waren und für den Sprach-, Rhetorik- und Ethikunterricht verwendet wurden; eine literarästhetische Erziehung war nicht beabsichtigt. Im Humanismus entwickelten sich einige neue Genres (Schuldrama, Lehrgespräch), die den kommunikativen Aspekt in Form eines fiktiven MentorSchüler-Gespräches oder einer Theateraufführung hervorhoben und der rhetorischen Schulung dienten (Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria, 1518–1533; Christian Weise: Vom Verfolgten Lateiner, 1693). Obwohl es bereits im 14. Jahrhundert illustrierte Fabeln, ABC-Bücher, Fibeln und Bibeltexte und ab dem 16. Jahrhundert auch Emblembücher für Kinder gab, dominierte in diesen Büchern die Textebene gegenüber der Bildebene. Die beigefügten Illustrationen hatten vorwiegend eine dekorative Funktion oder dienten der Veranschaulichung komplexer Sachverhalte sowie dem Lese-Erwerb. So betonte Martin Luther in seinem für Kinder und im Lesen nicht geübte Erwachsene edierten Betbüchlein (1529), dass die Illustrationen einerseits ein „Fest für das Auge“ seien, anderseits als Gedächtnisstütze fungieren sollten. Als wichtiger Vorläufer des Bilderbuches und des Sachbuches wird das zweisprachige Realienbuch Orbis sensualium pictus (1658) des aus Böhmen stammenden Humanisten Johann Amos Comenius angesehen, dem erstmals Überlegungen zu einer kindgemäßen Pädagogik zugrunde liegen. Die thematisch zusammengestellten Bildkapitel vermitteln einen Überblick über die wichtigsten Naturphänomene, Berufe, Wissenschaften, bürgerliche und politische Ordnungen. Gemäß seinem pansophischen Erziehungsideal strebte Comenius an, über das Bild zur elementaren Kenntnis der Dinge und deren Platz in der Schöpfungsgeschichte zu gelangen. Comenius setzte sich nicht nur für den muttersprachlichen Unterricht und die Vermittlung elementaren Wissens (sogen. „Realien“ wie Geschichte, Geographie, Naturkunde und Technik) ein, sondern betonte auch die Bedeutung der Illustration als Mittel der Anschauung und sinnlichen Wahrnehmung. Comenius entwickelte im Vorwort ein pädagogisches Konzept, das mithilfe der Visualisierung der Inhalte die Aufmerksamkeit, Verständlichkeit und Einprägsamkeit fördern soll. Neben dem Kriterium der Anschauung und Aufmerksamkeits-

Vier Gruppen von Kinderbüchern

Humanismus

Orbis sensualium pictus von Comenius

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Rezeption von Comenius

Volkstümliche Literatur

Einstellungen zum Roman für Kinder

schulung verwies Comenius auf sein rhetorisches Programm der Sprachschulung, das auf der Idee basierte, dass nur die Klarheit der Begrifflichkeit die Klarheit des Denkens und der Argumentation fördere. Diese Einübung habe Auswirkungen auf die sprachliche Vielfalt und Ausdrucksfähigkeit des Kindes. Bemerkenswerterweise hob Comenius in diesem Kontext hervor, dass der Orbis sensualium pictus auch als Malbuch dienen könnte, um die Feinmotorik, die Farbwahrnehmung und die Konzentrationsfähigkeit des Kindes zu schulen. Das zunächst in den Sprachen Latein und Deutsch edierte Werk, das in 150 Holzschnitten einen Überblick über das damalige, für Kinder als relevant erachtete Sachwissen vermittelt, wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Comenius beeinflusste nicht nur die Entwicklung des Schulbuches bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, sondern fand mit seinem Konzept zahlreiche Nachahmer, die in der Regel den Titel „Orbis pictus“ übernahmen (z. B. Jacob Eberhard Gailer: Neuer Orbis pictus für die Jugend, 1832; anon. Neuer Orbis Pictus in sechs Sprachen, oder das unterhaltende und belehrende Bilderbuch für Kinder von jedem Alter, 1808). In den jeweiligen Vorworten knüpften die Autoren an die Programmatik von Comenius an, lehnten jedoch mehrheitlich die Ausrichtung am Pansophismus ab. Die wesentlichen Unterschiede lagen darin, dass die beigefügten Texte noch in weitere Fremdsprachen (u. a. Englisch und Französisch) übersetzt wurden und auf das aktuelle Sachwissen rekurrierten. Außer dieser sanktionierten Kinderliteratur bestand die Kinderlektüre in nicht-sanktionierter volkstümlicher Literatur, die seit dem 17. Jahrhundert in Volksbüchern verbreitet wurde und sich an einen weitgefassten Adressatenkreis (ungebildete Volksschichten, Kinder) richtete. Neben dem Humanismus nahmen aber weiterhin religiöse Bewegungen Einfluss auf die Kinderund Jugendliteratur. Die konfessionelle Literatur in Deutschland wurde zunächst durch die reformatorische Bewegung, später durch die pietistische Kinderliteratur beeinflusst, wobei beide Richtungen sowohl die religiöse als auch die volkserzieherische Absicht von Kinder- und Jugendbüchern betonten (Bottigheimer 1996). Die ablehnende Haltung gegenüber fiktionaler und erzählender Literatur für Kinder und Jugendliche führte dazu, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Entwicklung des Romans – mit Ausnahme des Erziehungsromans für eine jugendliche Leserschaft – als eigenständiger kinderliterarischer Gattung mehr oder minder verhindert wurde. Dem Bedürfnis nach fiktionaler Literatur wurde zunächst mit Fabelsammlungen (basierend auf den Fabeln der antiken Dichter Aesop und Phädrus) nachgegeben, später kamen noch die populären Volksbücher (Die schöne Magelona, 1535; Doktor Faust, 1599) hinzu, die zwar nicht explizit für Kinder und Jugendliche publiziert wurden, aber unter diesen eine breite Leserschaft fanden. Jörg Wickram verfasste mit Der Jungen Knaben Spiegel (1554) einen Erziehungsroman, der sich explizit an eine jugendliche Leserschaft richtete, dennoch stand die lehrhafte Intention weiterhin im Vordergrund. Zum bedeutendsten Erziehungsroman für jugendliche Adlige und Bürger avancierte zu Beginn des 18. Jahrhunderts der französische Bildungsroman Les aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach; 1699 unvollständige Version; 1717 vollständige Version) von François de Salignac de la Mothe Fénelon, der in der Tradi-

2. Aufklärung

tion des Fürstenspiegels steht und 1700 (unvollständige Fassung) bzw. 1727 (vollständige Fassung) ins Deutsche übersetzt wurde.

2. Aufklärung Seit Mitte des 18. Jahrhunderts führten die Kommerzialisierung des Buchhandels und die zunehmende Alphabetisierung der Bevölkerung zu einem breit gefächerten kinderliterarischen Angebot (im gesamten 18. Jahrhundert erschienen auf dem deutschen Buchmarkt ca. 3.000 Kinderbücher, inklusive Schulbücher), das weitreichende Folgen für das Leseverhalten hatte. Während bislang die „intensive Lektüre“ (d. h. das wiederholte Lesen desselben Buches) in Ermangelung geeigneter Werke und wegen der hohen Buchpreise im Vordergrund stand, setzte sich allmählich die „extensive Lektüre“ (einmaliges Lesen eines Buches, dafür Lektüre vieler Bücher) durch. Diese Tendenz führte bereits Ende des 18. Jahrhunderts zu vehementer Kritik am Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen, das als krankmachende „Lesesucht“, „Lesewuth“ und „Vielleserei“ diffamiert wurde. Unter dem Einfluss der vom Rationalismus geprägten Frühaufklärung wurde die Vernunft als Leitbegriff etabliert. Die damit verbundene Idee der Perfektibilität des Menschen führte in einem weiteren Schritt dazu, der Erziehung von Kindern zu mündigen und vernunftgeleiteten Bürgern einen höheren Stellenwert einzuräumen. Damit war zugleich der Grundstein für die Pädagogik als eigenständige wissenschaftliche Disziplin gelegt. Die geänderten sozialen Verhältnisse und die Trennung von Familie und Beruf ermöglichten darüber hinaus die Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie, der bestimmte Erziehungsaufgaben zugewiesen wurden. Während die Mutter für den Haushalt und die Erziehung der kleinen Kinder zuständig war, oblag dem Vater die Erziehung der älteren Kinder. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung, in der vorwiegend Männer als väterliche Mentorfiguren auftreten (Wild 1987). Die der Familie und Schule zugesprochene Erziehungsfunktion führte dazu, dass eine strikte Trennung von Kinderbuch und Schulbuch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht immer möglich war, denn sowohl die fiktionalen als auch die enzyklopädischen Werke, die dem Bereich der Wissensliteratur zuzuordnen sind, wurden mehrheitlich auch im Unterricht (Schulunterricht, Privatunterricht) eingesetzt. Die sozialisatorische Funktion (Enkulturation von Kenntnissen und moralischen Werten, Vorführen vorbildhaften Verhaltens) der Kinder- und Jugendliteratur blieb zwar als Norm erhalten, wurde aber seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch den Aspekt der „Kindgemäßheit“, d. h. der Anpassung an den kindlichen Leser, ergänzt. Im Verlauf dieser Entwicklung kam es zu einem umfassenden Formen- und Funktionswandel der Kinder- und Jugendliteratur, aus dem deren moderne, in Grundzügen bis heute gültige Gestalt, hervorging. Zwei ihrer hervorstechendsten Merkmale, der Unterhaltungsanspruch und der betont belletristische Charakter, entsprangen der Universalisierung des pädagogischen Kontrollanspruchs; wenn die gesamte Kinder- und Jugendlektüre durch pädagogisch sanktionierte Kinder- und Jugendliteratur abgedeckt werden soll, muss diese ein umfassendes attrakti-

Intensive und extensive Lektüre

Familie und Schule als Erziehungsinstanzen

Formen- und Funktionswandel

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Der Einfluss von John Locke und JeanJacques Rousseau

Philanthropische Kinder- und Jugendliteratur

ves Angebot entwickeln. Unter diesen Prämissen entstand eine Allianz von literarischen Erziehern und Verlegern mit allerdings nur partieller Interessenübereinstimmung. Für die Pädagogen waren Unterhaltsamkeit und Fiktionalität nur Mittel zum Zweck und dienten der Realisierung ihrer erzieherischen Absichten, während die Verleger sie als absatzfördernde Eigenschaften ansahen. Dieser durchgreifende Wandel wurde durch die philosophischen Schriften von John Locke: Some Thoughts Concerning Education (Gedanken über Erziehung, 1693; dt. 1762) und Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation (Emil oder über die Erziehung, 1762; dt. 1789) vorbereitet und theoretisch reflektiert. Locke begründete den Status des Kinderbuchs als geeignetes Instrument der Erziehung. Im Mittelpunkt stand jetzt aber nicht mehr die religiöse Erziehung, sondern die Vorbereitung des Kindes auf das Erwachsenendasein und seine Erziehung zum mündigen Bürger. Wenn auch weiterhin die pädagogische Funktion betont wurde, so legitimierte Locke doch den unterhaltenden Charakter der Kinderliteratur. Als geeignete Lektüre empfahl er insbesondere die Fabeln des Aesop. Außerdem betonte er den Nutzen von Illustrationen für Kinder, weil sie Neugier und Wissensdurst unterstützen. Als Hauptmerkmal forderte er Klarheit der Darstellung, der ästhetische Aspekt war für ihn nicht relevant. Wenn auch weiterhin die pädagogisch-belehrende Funktion (docere) im Vordergrund stand, legitimierte Locke doch den unterhaltenden Charakter (delectare) der Kinderliteratur. Locke erkannte nämlich die Bedeutung des kindlichen Spiels und der kindlichen Phantasie und löste mit seiner Forderung nach der kinderliterarischen Verbindung von Belehrung und Unterhaltung einen paradigmatischen Wandel aus. Rousseau dagegen lehnte – aus einer skeptischen Haltung gegenüber der Wissenschaft und Kultur heraus – das Buch als Erziehungsmittel des Kindes ab, da es seiner Konzeption einer natürlichen Erziehung entgegenstand. Dieser Konzeption lag die Idee zugrunde, dass Kindheit eine eigenständige Daseinsform des Menschen darstelle, die sich fundamental von derjenigen des Erwachsenen unterscheide. Aus diesem Grund kritisierte Rousseau die zeitgenössische Schuldidaktik, der er vorwarf, Kindern ein leeres Wortwissen zu vermitteln. Folglich erlaubte er die Buchlektüre erst ab dem 12. Lebensjahr. Durch die Zuordnung eines bestimmten literarischen Textes, nämlich Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) als Lektüre für Jungen und François de Salignac de la Mothe Fénelons Les aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach, 1699) als Lektüre für Mädchen, zu einer entsprechenden kindlichen Entwicklungsstufe nahm Rousseau moderne, psychologische Ansätze der Kinderliteraturtheorie und der Lesealter-Typologie vorweg. Obwohl Rousseau die Existenzberechtigung der Kinderliteratur bestritt, waren seine Forderungen bahnbrechend für eine pädagogische Kinder- und Jugendliteratur, die von der Idee eines kindlichen Entwicklungsschemas geprägt war und infolgedessen Kindheit als eigene, unabhängige Lebensphase ansah. Lockes und Rousseaus Ideen setzten sich aber erst mit der philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland durch. Im Selbstverständnis aufklärerischer Kinderbuchautoren stellte sich das Kinder- und Jugendbuch als zweckorientierte Literatur mit dem Primat der Belehrungs- und Wissensvermittlungsfunktion dar. So entstanden zahlreiche Lehrwerke, die der Schulung des kindlichen Denkens dienten und bei der Klärung von Begriffen

2. Aufklärung

behilflich sein sollten (Kinderlogiken, Seelen- und Sittenlehren). Die Einübung in das richtige Denken geschah vor allem durch das Gespräch, das als narrative Strategie in zahlreichen kinderliterarischen Werken der Aufklärung verwendet wird, so auch in Karl Philipp Moritz’ Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik (1786), der sich an der Erkenntnistheorie von Christian Wolff orientierte. Durch die philanthropische Pädagogik wurde in der Kinder- und Jugendliteratur der Spätaufklärung eine durchgreifende Veränderung bewirkt. Die dominante Ausrichtung der frühen aufklärerischen Kinderliteratur auf eine Vernunfterziehung machte in der Spätaufklärung einer Mehrfunktionalität Platz, wobei die erzieherische Funktion weiterhin erhalten blieb, wie man noch an Christian Gotthilf Salzmanns Sittenlehre Moralisches Elementarbuch (1782–83) ersehen kann. Seitdem Johann Bernhard Basedow in seinem Methodenbuch für Väter und Mütter (1770) die erzählende Kinderliteratur neben den reinen Elementarwerken und moralischbelehrenden Schriften als zentrales Instrument der Erziehung einstufte, wurde der unterhaltenden Funktion von Kinder- und Jugendliteratur von pädagogischer Seite aus Rechnung getragen. Diese Forderung regte die Entstehung neuer kinderliterarischer Genres an (literarische Lesebücher, Reisebeschreibungen, Abenteuerbücher, Spielbücher, Kinderzeitschriften), die sich allerdings dem Idealtypus der moralischen Beispielgeschichte anpassten, so etwa Johann Gottlieb Schummels Kinderspiele und Gespräche (1776–78) als Prototyp des philanthropischen Lehrbuches, das aus einer Kombination von Sachtexten, Spielen, Rätseln und kurzen Erzählungen besteht. In der Tradition der moralischen Wochenschriften stehend, spielten gerade Kinderzeitschriften, wie etwa das von Johann Christoph Adelung herausgegebene Leipziger Wochenblatt für Kinder (1772–1774) oder Christian Felix Weißes Der Kinderfreund (1776–1782) ebenso wie die beliebten Almanache und unterhaltenden Lesebücher für Kinder und Jugendliche (z. B. Friedrich Eberhard von Rochows Der Kinderfreund, 1776/1779) bei der Verbreitung neuer Genres und Erzählformen eine zentrale Rolle. Auch wenn in ihnen die moralischen Beispielgeschichten dominierten, wurden darin u. a. Kinderschauspiele (z. B. von Kaspar Friedrich Lossius und Christian Felix Weiße), Lehrgespräche und Sachtexte (Biographien, Historien) abgedruckt. Dem Volksmärchen stand man skeptisch gegenüber, als geeignete Lektüre akzeptierte man lediglich die französischen Feenmärchen (Marie Catherine d’Aulnoy, Charles Perrault) und die orientalische Märchensammlung Tausendundeine Nacht, die 1704–1707 von Jean-Antoine Galland ins Französische übersetzt wurde (1717 erschien in Deutschland eine Auswahl-Ausgabe für Kinder und Jugendliche). Begründet wurde diese Auswahl mit dem Argument, dass es sich um artifizielle Kunstwerke (Kunstmärchen) handele und dass die Darstellung phantastischer Ereignisse zugunsten realistischer Alltagsschilderungen in den Hintergrund gedrängt werde. Der Widerstreit zwischen pädagogischen und ästhetischen Maximen bei der Gestaltung von Kinderbüchern fand seinen Widerhall in der gegensätzlichen Einstellung Joachim Heinrich Campes und Johann Karl Wezels zur Kinderliteratur. Beide hatten fast zeitgleich eine kinderliterarische Bearbeitung von Daniel Defoes Robinson Crusoe verfasst. Campe und Wezel bezogen sich in ihren Vorreden auf Rousseaus Émile und den darin enthaltenen Vorschlägen zur Heranführung von Kindern an die Buchlektüre. Während

Die RobinsonBearbeitungen von Campe und Wezel

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Phantasiepädagogik

Wezel sich in Robinson Krusoe (1779/80) der Forderung Rousseaus anschloss, Kindern die Lektüre erst ab dem Alter von 12–13 Jahren zu erlauben, sah Campe seine Robinsonbearbeitung Robinson der Jüngere (1779/80) bereits für Kinder ab dem Alter von 6 Jahren vor. Campes besondere Leistung beruht auf der Struktur seines Romans, der eine Rahmenhandlung mit eingebetteten Erzählungen über das Schicksal der Hauptfigur umfasst. Der Gegenstand wird dabei gesprächsweise zwischen einer väterlichen Mentorfigur und einer Kindergruppe entwickelt. Robinson der Jüngere wurde als erzieherisch-praktisches Methodenbuch konzipiert, das ein Vorbild für Pädagogen im Umgang mit Kindern darstellen sollte. In dem ausdrücklich für Erzieher verfassten Vorwort nannte Campe zudem fünf Gründe für die Wahl des Robinsonthemas: Das Buch solle den kindlichen Leser unterhalten, ihm elementare Kenntnisse über die Natur und das häusliche Leben verschaffen, eine „litterarische Vorerkenntniß“ vermitteln, in die bürgerliche Ethik einführen und ein Gegengift gegen das „Empfindsamkeitsfieber“ darstellen (Steinlein 1987). Wezel dagegen betonte, dass Literatur dazu diene, mit literarischen Mitteln eine eigene fiktionale Welt zu repräsentieren. Dieser poetische Effekt dürfe nicht einem moralischen Endzweck geopfert werden. Mit dieser Einstellung wandte sich Wezel folglich strikt gegen Campes einseitige Ausrichtung an moralisch-belehrenden Grundsätzen. Die Aufgabe, mithilfe von Kinderliteratur die ästhetische Geschmacksbildung zu schulen, sah er zugunsten der sittlichen Erziehung vernachlässigt. Im Gegensatz zu Campe fühlte sich Wezel nicht einem optimistischen Erziehungskonzept verpflichtet, sondern ließ als dem Skeptizismus verpflichteter Aufklärer nur die Erfahrung gelten. Wezel entwickelte folglich in der Vorrede ein kinderliterarisches Realismuskonzept, das sich erst im 20. Jahrhundert durchsetzte. Denn die beste Erziehung bestand nach Wezel darin, dem kindlichen Leser ein wirklichkeitsgetreues Panorama menschlicher Handlungen und Gefühle vorzuführen. Seine nicht nur gegen Campe gerichtete Kritik an der moralischen Einseitigkeit der zeitgenössischen Kinderliteratur mündete in der Behauptung, dass Literatur für Kinder und für Erwachsene nach denselben Kriterien beurteilt werden sollte (Wild 1987). Seine Ansichten über den kinderliterarischen Realismus wurden jedenfalls von den Zeitgenossen nicht geteilt. Diese stellten sich mehrheitlich auf die Seite Campes, dessen Robinsonbearbeitung bei den Käufern und Kritikern auch der größere Erfolg beschieden war. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreichte sie 120 Auflagen und wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Anstelle der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung trat in der philanthropischen Kinder- und Jugendliteratur die vermittelte Erfahrung durch das Buch. Durch Untertitel, Vorwort, Rahmenhandlung und Anweisungen an den erwachsenen Mitleser wurde angedeutet, dass der kinderliterarische Text eine erzieherische Funktion übernehmen sollte, die die Anwesenheit eines Lehrers oder Erziehers nicht unbedingt erfordere. Hierin enthüllte sich der funktionale Doppelcharakter der Kinder- und Jugendliteratur: sie ist einerseits nützliche Unterhaltung für den kindlichen Leser und anderseits Erziehungsschrift für Erwachsene, indem sie durch die Thematisierung des Vermittlungsprozesses der Lektüre eine Modellsituation familiären Lesens und Lernens statuierte. Durch die Einsicht, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht nur auf den Verstand wirke, sondern auch auf die Einbildungskraft, haben

2. Aufklärung

die Philanthropisten des Weiteren die Phantasie als ästhetischen Aspekt in das pädagogische Schrifttum für Kinder einbezogen. Dieser Ansatz einer Phantasiepädagogik wurde in der Spätromantik und Jugendschriftenbewegung aufgegriffen und modifiziert (Steinlein 1987; Wild 1987). Eine Sonderstellung nimmt in der Kinderliteratur der Aufklärung die von der Anakreontik beeinflusste Kinderliedersammlung Frizchens Lieder (1781) von Christian Adolf Overbeck ein. Dem Verfasser gelingt es, entsprechend seiner Forderung im Vorwort: „Hier spricht, wenn ichs gut gemacht habe, wirklich ein Kind“, mit seinen Gedichten (am bekanntesten dürfte das Kinderlied „An den May“ sein) die kindliche Sprache und Sichtweise einzufangen. Als das bedeutendste illustrierte Werk wird Friedrich Justin Bertuchs zwölfbändiges, mit mehr als tausend Kupferstichen versehenes Bilderbuch für Kinder (1792–1830) angesehen, das auf das pädagogische Konzept des Philanthropismus rekurriert und in der Orbis-pictus-Tradition von Comenius steht. Bertuch hob im Vorwort hervor, dass das Bilderbuch ein unerlässlicher Bestandteil der frühkindlichen Erziehung darstelle: „Ein Bilderbuch ist für eine Kinderstube ein ebenso wesentliches und noch unentbehrlicheres Meuble als die Wiege, eine Puppe, oder das Steckenpferd. Diese Wahrheit kennt jeder Vater, jede Mutter, jeder, der Kinder erzogen hat, und von Locke an bis auf Basedow, Campe und Salzmann empfiehlt jeder vernünftige Pädagog den frühesten Unterricht des Kindes durchs Aug anzufangen und ihm so viel gute und richtige Bilder und Figuren, als man nur kann, vor das Gesicht zu bringen.“ (Vorrede zu Band 1. 1790, S. 4–5). Rousseaus Ideen, die auf die Kinderliteratur der Aufklärung nachhaltigen Einfluss ausübten, fanden jedoch keinen Widerhall hinsichtlich der Gestaltung einer zeitgemäßen Jugendliteratur. Als sanktionierte Jugendliteratur werden auf der einen Seite moralische Lehrwerke, wie etwa Campes Theophron oder der erfahrene Ratgeber für die unerfahrene Jugend (1783), oder Verhaltenslehren propagiert, auf der anderen Seite publizierte man enzyklopädische Werke und Reisebeschreibungen, die sich explizit an jugendliche Leser wandten, z. B. Campes aus 18 Teilen bestehende Sammlung interessanter und durchgängig zweckmäßig abgefasster Reisebeschreibungen für die Jugend (1785–93). Ab 1780 wurden darüber hinaus moralisch belehrende Schriften und Zeitschriften für ältere Mädchen veröffentlicht (Campe: Väterlicher Rath für meine Tochter, 1789; Sophie von la Roche: Briefe an Lina, 1785; Pomona für Teutschlands Töchter, hg. von Sophie von la Roche, 1783–84). Die von der Empfindsamkeit beeinflussten Romane Julchen Grünthal (1784) von Friederike Helene Unger und Rosaliens Briefe an ihre Freundin in St* (1780–81) von Sophie von la Roche waren zwar nicht eigens für junge Mädchen verfasst worden, wurden aber von diesen gelesen und werden als Wegbereiter der Backfischliteratur angesehen (Wilkending 1994). Die Lebensphase der Adoleszenz mit den damit verbundenen Fragen nach der eigenen Identität und Rolle in der Gesellschaft wurde ausschließlich in der Erwachsenenliteratur thematisiert. Zu den bedeutendsten Werken zählen Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785/86), Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (1798) sowie Johann Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers (1774), der einen nachhaltigen Einfluss auf die zeitgenössische Jugend ausübte. Die in diesen Romanen anklingenden Aspekte und Probleme wurden wieder in den Schülerromanen zu

Sonderstellung von Overbeck und Bertuch

Jugendliteratur der Aufklärung

Beginn der Adoleszenzliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Beginn des 20. Jahrhunderts (Hermann Hesse: Unterm Rad (1906), Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Emil Strauß: Freund Hein (1902)) aufgegriffen, fanden aber erst in der Nachkriegszeit ihren Weg in die moderne Jugendliteratur.

3. Romantik Widerstreit pädagogischer und literarisch-ästhetischer Funktionen

Kritik an der Lesesucht

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Kinder- und Jugendliteratur weiterhin auf pädagogische Funktionalität hin verpflichtet, d. h. religiös-moralische Erziehung, sprachliche Bildung sowie Vermittlung von Wissen und Weltkenntnis blieben als Normen erhalten. Seit der Romantik standen sich allerdings zwei Tendenzen gegenüber: eine pädagogisch motivierte Richtung, die die Kinder- und Jugendliteratur von anderen Literaturformen abgrenzte, und eine literarisch-ästhetische Strömung, die die Gemeinsamkeiten zwischen Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur hervorhob. In der Romantik, die sich bewusst als Gegenbewegung zur Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung ansah, wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Befreiung von unmittelbaren Erziehungszwecken erreicht. Neben den Postulaten der Belehrung und Unterhaltung kam noch die Forderung nach dem Ansprechen der kindlichen Empfindungen hinzu. Die durch die geschichtsphilosophischen Reflexionen Johann Gottfried Herders, Jean Pauls und Jean-Jacques Rousseaus vorbereitete, von den Romantikern aufgegriffene Idee der Kindheitsautonomie betonte den Eigenwert der Kindheit als ursprüngliche und authentischere Daseinsform und bedingte eine Zurückweisung der Funktionalisierung dieses Lebensabschnittes als Vorbereitung auf das Erwachsenendasein (Ewers 1989). Die Ablehnung utilitaristischer Zwecke und die Aufwertung der Phantasie und der Gefühlswelt gegenüber dem Verstand führten paradoxerweise dazu, dass die in der Aufklärung begonnene Entwicklung zur Verselbständigung der Kinder- und Jugendliteratur wieder zurückgenommen wurde. Stattdessen wurde unter Berufung auf Herders Überlegungen zur Onto- und Phylogenese Kindheit und volkstümliche Poesie (Märchen, Volkslied, Sage, Legende) aufeinander bezogen. Verständlich wird diese Korrelation vor dem Hintergrund von Herders Geschichtsphilosophie, die eine Verwandtschaft zwischen der Lebensphase Kindheit und den Volksmärchen als Werk einer historischen Zeit, die als Kindheitsphase der Menschheit gedeutet wird, vermutet. Da die kindliche Phantasie auf das Gute und Schöne gelenkt werden müsse, seien als Lektüre eher die Werke dieser Frühphase geeignet als spätere Werke, wie etwa die in der Aufklärung verbreiteten Fabeln und Sittensprüche für Kinder. Hinzu kam noch die Kritik namhafter Philosophen und Pädagogen an der unkontrollierten Lektüre von Kinder und Jugendlichen. So hat sich etwa Immanuel Kant in seiner Schrift Über Pädagogik (1803) kritisch über den schädlichen Einfluss der Romanlektüre bei Kindern geäußert, da diese zum Tagträumen verleite und die Schulung des Gedächtnisses behindere. Auch Jean Pauls Erziehungsschriften Die unsichtbare Loge (1793) und Levana oder Erziehlehre (1814) gaben die ambivalente Einstellung des Autors wieder, der einerseits von Rousseau, andererseits von den Romantikern beeinflusst war. Während er sich im erstgenannten Werk noch für eine konsequente Absage

3. Romantik

an jegliche Kinderliteratur einsetzte, vertrat er in Levana in Anlehnung an Rousseau die Ansicht, dass Kinder erst nach dem 13. Lebensjahr mit literarischen Werken in Kontakt kommen sollten. Allerdings erlaubte er zwei Ausnahmen: das Märchen und den Reim, denen er eine besondere Affinität zur kindlichen Weltauffassung einräumte. Bei den Märchen dachte Jean Paul jedoch weniger an die überlieferten Volksmärchen, sondern vielmehr an die orientalischen Märchen aus Tausendundeiner Nacht, die die kindliche Phantasie anregen würden. Eine eigenständige Kinder- und Jugendliteratur wurde allerdings erst in der Spätromantik geschaffen, während in der Frühromantik ausschließlich erwachsenenliterarische Werke erschienen, in denen die Darstellung der kindlichen Lebenswelt in den Mittelpunkt gestellt wurde. Hierzu zählen etwa Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1802) sowie die Bildungs- und Künstlerromane von Jean Paul, Friedrich Hölderlin oder Ludwig Tieck. In diesen Werken wurde Kindheit als poetische Daseinsform begriffen, die auf die Affinität des Kindes zur Dichtkunst und seine metaphysisch erhöhte Nähe zu Gott hinweise. In Anlehnung an Überlegungen Herders sah man ausschließlich in der Volkspoesie eine geeignete Lektüre für Kinder und hob somit die in der Aufklärung postulierte Trennung in Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zeitweilig auf. Ein Nachhall dieser frühromantischen Ideen findet sich noch in der Vorrede der Deutsche(n) Sagen (1810) der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm, worin diese das Märchen als Naturpoesie der Lebensphase Kindheit zuordnen, während die Sage die angemessene Literaturform für die Jugend sei. Bestärkt wurde diese Einstellung zur Kinderliteratur durch die maßgeblich von Herder geprägte frühromantische Geschichtsphilosophie. Die zugrunde liegende triadische Geschichtskonzeption unterschied zwischen einer ersten vergangenen Phase der Menschheit, die sich in der Naivität und Gottesnähe der Lebensphase Kindheit spiegele, dem gegenwärtigen Menschheitsstadium als zweiten Phase, die durch Reflexion und Intellekt bestimmt sei, und dem zukünftigen „Goldenen Zeitalter“, das als zweite Kindheit und Überwindung der mittleren Phase deklariert wurde. Dieser progressive Verlauf wandte sich gegen eine Verklärung der ersten Kindheit, die als vergangen und nicht wiederholbar eingestuft wurde. Diese utopische Konzeption änderte sich in der Spätromantik, als man – auch aufgrund der politischen Entwicklung in Europa (Eroberungszüge Napoleons, Zerfall des Deutschen Reiches) – die chiliastische Hoffnung auf eine neue menschliche Gesellschaft zugunsten der Rückbesinnung auf die nationale Vergangenheit aufgab. In dieser Zeit fing man an, die bislang nur mündlich tradierte Volkspoesie zu sammeln und schriftlich festzuhalten, um diese als nationales Erbe vor dem Vergessen zu bewahren. Als die bedeutendsten Werke können die Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm und die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808) von Achim von Arnim und Clemens Brentano angesehen werden. In diesem Zusammenhang kam es zu einer heftigen Kontroverse zwischen den Brüdern Grimm auf der einen Seite und Achim von Arnim auf der anderen Seite. Während die Brüder Grimm die Ansicht vertraten, dass zwischen Volks- und Kunstpoesie eine unüberbrückbare Kluft vorhanden sei und jegliche Form von Bearbeitung die Volkspoesie verfälsche, sah Arnim dies

Kindheitsbild der Frühromantik

Johann Gottfried Herders Geschichtsphilosophie

Kontroverse zwischen Achim von Arnim und den Brüdern Grimm

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch

Das Kleinkind als neue Zielgruppe

anders. Wirkliche Poesie bestand nach seiner Auffassung in der Mischung beider Formen. In der Aneignung überlieferter Volkspoesie erzeuge der Dichter ein Gleichgewicht zwischen alten naturpoetischen und modernen kunstpoetischen Elementen, das erst eine lebendige Literatur erschaffe. Die Brüder Grimm dagegen strebten zunächst an, mithilfe der Naturpoesie als ursprüngliche Ausdrucksform des Volkes eine „deutsche Mythologie“ zu rekonstruieren, an ein Kinderbuch dachten sie zunächst nicht. Obwohl sie bestrebt waren, die Märchen wahrheitsgetreu aufzuzeichnen, griffen sie doch in den Text ein und glichen die Texte stilistisch aneinander an, im Glauben, damit eine verschollene Urform des Märchens rekonstruieren zu können. Hierbei zeigt sich der Einfluss der von den Spätromantikern erstmals in den Vordergrund gerückten Forderung nach der ästhetisch-literarischen Bildung des Kindes, die eine Pädagogisierung der Volkspoesie bewirkte. Die in mehreren Stufen erfolgte Bearbeitung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm zum „Erziehungsbuch“ (Vorrede zur Ausgabe letzter Hand, 1819) lieferte die Legitimationsgrundlage für die Funktionalisierung des Märchens als prototypische kinderliterarische Gattung. Diese Entwicklung demonstriert, dass die von romantischen Autoren verfassten Kinderbücher erst in assimilierter Form, d. h. in Anpassung an die Forderung der literarischen Erzieher wirksam werden konnten. Durch Kontaminationen, Einfügungen volkstümlicher Redensarten, direkte Rede und Umschreibung der Märchen vom Präsens in das Präteritum entstand eine neue Märchenform, die sich durch einen kindertümlichen Tonfall auszeichnet. Diese bezeichnet man heute als „Buchmärchen“ in Abgrenzung zum Volksmärchen einerseits und zum Kunstmärchen andererseits (Rölleke 2000). Der Grimmsche Märchenstil beeinflusste nachhaltig die internationale Vorstellung vom Märchenerzählton in den nächsten 150 Jahren und bestimmte den Charakter von weiteren Märchensammlungen in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern (Kümmerling-Meibauer 2008a). Weitaus erfolgreicher als die Grimmsche Märchensammlung war im gesamten 19. Jahrhundert die Sammlung Deutsches Märchenbuch (1845) von Ludwig Bechstein. Wegen der Verlagerung in eine vorindustrielle kleinbürgerliche Welt, der Hervorhebung bürgerlicher Tugenden, der Anspielungen auf Zeitgenossen und die deutsche Geschichte sowie der anheimelnd sentimentalen Holzschnitte von Ludwig Richter wird deutlich, dass sich das Märchenbuch trotz der Bezeichnung als „Volksbuch“ (Vorwort zur 12. Auflage) eher an ein aufgeklärtes Bürgertum wandte. Dennoch gewann Bechsteins Märchenbuch dank der bevorzugten Darstellung des Bauernund Kleinbürgermilieus und der dem Genrebild nahestehenden Illustrationen den Status einer volkstümlichen Ausgabe, während die Grimmschen Märchen, obwohl sie sich schon im Titel an eine kindliche Zuhörerschaft wandten, auch wegen des wissenschaftlichen Anhangs (der bei späteren Ausgaben weggelassen oder in einem separaten Band abgedruckt wurde) mehr das Image einer populärwissenschaftlichen Ausgabe innehatten. Des Weiteren wurde mit dem Kleinkind eine neue Zielgruppe entdeckt, der mit der Integration von Sprachspielen und Kinderreimen in die Kinderund Jugendliteratur Rechnung getragen wurde. Der 140 Texte umfassende Kinderlieder-Anhang zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos mehrbändiger Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808) erzeugte ein Be-

3. Romantik

wusstsein für volkstümliche Kinderreime und stellt insofern eine Pionierleistung dar. Viele der darin enthaltenen Gedichte und Lieder wurden von namhaften Komponisten, darunter Robert Schumann, Johannes Brahms oder Gustav Mahler vertont, fanden Eingang in Liederbücher der Jugendbewegung und sind heute noch bekannt („Es tanzt ein Bi-ba-Butzemann“; „Schlaf, Kindlein, schlaf“, „Guten Abend, gute Nacht“, „Das bucklicht Männlein“). Das kinderliterarische Interesse der Herausgeber zeigte sich in der durch romantische Kindheitsvorstellungen geprägten Parallelisierung der kindlichen und dichterischen Erfindungsgabe, die durch volkstümliche Lieder und Verse angeregt werde. Durch diese Ausgabe wurde auch die Auffassung von Kinderlyrik verändert. Während man in der Aufklärung nur sinnvermittelnde Lyrik, bei der die Aussage der lyrischen Sprache übergeordnet war, zuließ, wurde nunmehr das Augenmerk auf die Ausdrucksmittel (Geräuschimitationen, Lautspielereien, Rhythmus) gelenkt. Dies führte zur Entstehung eines kinderliterarischen Stils („Kinderton“), der später von den Kinderlyrikern der Biedermeierzeit aufgegriffen wurde (Friedrich Güll, Wilhelm Hey, Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Friedrich Rückert). Ferner sah man in der spätromantischen Pädagogik Kindheit als eine Mittlerinstanz an, indem man durch die Erinnerung an die eigene Kindheit oder die Beobachtung von Kindern zumindest indirekt an der weiterhin angenommenen Nähe des Kindes zur Transzendenz zu partizipieren gedachte. Zugleich deutete sich bei Autoren wie Ludwig Tieck oder E. T. A. Hoffmann ein neues Kindheitsbild an, das auf die Bedrohung der kindlichen Imaginationskraft durch den Rationalismus der Erwachsenen hinweist. Der vordergründig naive Zugang zum Phantastischen wird in den Kindermärchen dieser Autoren durch ironische Bemerkungen und die Antizipation moderner kinderpsychologischer Einsichten konterkariert. Neben der Sammlung von mündlich überlieferten Volksmärchen oder der Bearbeitung bereits vorhandener Märchenbücher – so basiert Clemens Brentanos Sammlung Italienische Märchen (Vorabdrucke einzelner Märchen 1826/1838; vollständige Ausgabe 1846–47) auf Giambattista Basiles Pentamerone (1634–37) – entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrere Kunstmärchen für Kinder, die als Vorläufer der modernen kinderliterarischen Phantastik angesehen werden und thematisch auf den Gegensatz von Kindheit und Gesellschaft abzielten. Während Ludwig Tieck mit Die Elfen (1812 im 1. Band des Phantasus; erste kinderliterarische Edition 1822) ein allegorisches Märchen verfasste, das bereits auf den Gegensatz von aufgeklärter Rationalität der Erwachsenen und Wunderglauben der Kinder hinweist, entwickelte E. T. A. Hoffmann in seinen beiden Kindermärchen Nußknacker und Mausekönig (1816) und Das fremde Kind (1817) ein Kindheitsbild, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart hinein nachweisen lassen. In Nußknacker und Mausekönig steht der Leidensweg eines „lebhaft fantasiereichen Kindes“ im Mittelpunkt (vgl. Kapitel V.1). Durch die Versetzung der Szenerie in eine realistisch dargestellte moderne Alltagswelt und die psychologisch gezeichnete kindliche Hauptfigur, die Mehrdeutigkeit der Handlung und das offene Ende hat sich Hoffmann bewusst von den zeitgenössischen kinderliterarischen Konventionen entfernt. Die vehemente Kritik an diesem Märchen führte dazu, dass Nußknacker und Mausekönig in Deutschland bis Mitte des 20. Jahrhunderts nur noch in Editionen für Erwachsene aufgenommen und folg-

Kindheitsbild der Spätromantik

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Wilhelm Hauffs Märchen-Almanache

Wandel der Funktionen von Kinder- und Jugendliteratur

lich als kinderliterarisches Werk de-kanonisiert wurde. In fast alle europäischen Sprachen übersetzt, hat es aber die phantastische europäische Kinderliteratur maßgeblich beeinflusst. Hierzu zählen etwa die Märchen des Dänen Hans Christian Andersen oder des Finnen Zachris Topelius, aber auch die Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts in England, Frankreich, Norwegen, Russland und Schweden (Kümmerling-Meibauer 2008a). Weitreichende Auswirkungen hatte auch das Motiv des „fremden Kindes“, das auf Hoffmanns gleichnamiges Kindermärchen Das fremde Kind (1817) zurückzuführen ist und Autoren und Autorinnen bis in die Gegenwart hinein beeinflusst hat (James Matthew Barrie, Michael Ende, Astrid Lindgren, Paul Maar, Christine Nöstlinger, Peter Pohl, Antoine de Saint-Exupéry, u. a.) (Ewers 1985; Kümmerling-Meibauer 1996; Kümmerling-Meibauer 2003). Die drei Mährchen-Almanache (1825–1828) von Wilhelm Hauff, mit den bis heute bekannten Märchen wie Zwerg Nase, Kalif Storch, Die Geschichte vom kleinen Muck oder Das kalte Herz, zeichnen sich dagegen durch eine Verbindung verschiedener Genres (Gespenstergeschichte, historische Erzählung, Märchen, Kriminalgeschichte u. a.) und Märchentraditionen (Kunstmärchen der Romantik, Volksmärchen, Märchen aus 1001 Nacht) aus und greifen bereits Elemente des Biedermeier auf. Während Hauff in seiner Einleitung „Märchen als Almanach“ zum ersten Band auf die aktuelle Diskussion über die Relevanz des Märchens reagierte, setzte er sich in der Rahmengeschichte des zweiten Almanachs mit der spätromantischen Märchenauffassung E. T. A. Hoffmanns auseinander. Auch wenn Hauff den Zauber in den Alltag integrierte, ging er noch einen Schritt weiter, indem er für das Wunder eine rationale Erklärung bot. Mit seiner Sozialkritik (Das kalte Herz, Der Affe als Mensch) wandte sich Hauff von der utopischen Zielsetzung des romantischen Kunstmärchens ab. Die Befreiung von pädagogischer Kontrolle erreichte die Kinder- und Jugendliteratur aber mehr durch die Entwicklung des Buchmarktes und der Unterhaltungsliteratur, weniger durch den Einfluss der romantischen autonomieästhetischen Bewegung. Trotz des Wandels des Kindheitsbildes blieb die Kinder- und Jugendliteratur weiterhin an die Aufgabe gebunden, auf zukünftige gesellschaftliche Aufgaben vorzubereiten. Zwar wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in einem Teilbereich der Kinder- und Jugendliteratur die Forderung nach dem Pädagogisch-Nützlichen durch die ästhetische Idee von Kindheit angefochten, die die pädagogisch-antizipatorische Funktion abschwächte und hochliterarische Aspekte zuließ. Diese Entwicklung führte aber nicht auf direktem Weg zu einer literarischen Kinder- und Jugendliteratur, sondern die Forderung nach dem PädagogischNützlichen wurde im Zusammenhang mit einem umfassenden literarischen Wandel zur Forderung nach dem Pädagogisch-Angemessenen abgemildert.

4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Tendenzen der Biedermeierzeit

In der Kinder- und Jugendliteratur der Biedermeierzeit lassen sich drei Tendenzen beobachten. Die moralische Geschichte und das moralische Schauspiel für Kinder und Jugendliche waren weiterhin von Pädagogen bevorzugte

4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

Genres. Obwohl hiermit an bereits in der Aufklärung etablierte Genres und Erzählmuster angeknüpft wurde, stand nicht die Erziehung zur Vernunft, sondern die Vermittlung einer Tugendlehre, die durch ein patriarchalisches Weltbild bestimmt war, im Vordergrund. Als wichtigster Autor der 1820er und 1830er Jahre wurde Christoph von Schmid angesehen, dessen Werke (z. B. Die Ostereyer, 1816) eine Präferenz für die Darstellung einer Idylle, die Betonung des Gefühls und die Vermittlung von Frömmigkeit aufweisen. Neben illustrierten Fabeln, Märchen und Gedichtsammlungen entwickelte sich in dieser Zeit auch das von der Genremalerei des 19. Jahrhunderts geprägte Genrebilderbuch, das mit der Darstellung von Szenerien aus Haushalt, Stadt und Land ein bürgerliches Ideal verkörperte und von Künstlern wie Ludwig Richter, Hermann Kaulbach und Franz von Pocci repräsentiert wurde. Mit dem Bilderbuch Die Ammenuhr (1843) mit Illustrationen von Ludwig Richter setzte sich zudem der Typus des poetischen Bilderbuches durch. Des Weiteren ist seit den 1820er Jahren ein gestiegenes Interesse an der Sachliteratur zu verzeichnen, die fast ein Drittel der gesamten kinderliterarischen Buchproduktion ausmachte. Ein Grund für diese Entwicklung liegt in der Gründung von Realschulen und Technischen Hochschulen, die dem Sachunterricht einen größeren Stellenwert verschafften. Ein weiterer Grund liegt in der Entwicklung der Technik und Naturwissenschaften (Pech 1998). Mit der Verbesserung der Drucktechniken und dem wachsenden Interesse an Sachthemen ging ein Wandel auf dem Zeitschriftenmarkt für Kinder und Jugendliche einher. In der Zeit von 1820 bis 1870 erschienen ca. 250 verschiedene Zeitschriften, die sich an verschiedene Altersgruppen richteten und sich durch eine Mischung aus fiktionalen und sachbezogenen Texten auszeichneten. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entglitt der Buchmarkt immer mehr der Kontrolle der literarischen Erzieher, die zunehmend mit der Ignorierung und Ächtung des kommerziellen Kinder- und Jugendbuches reagierten. Es entwickelte sich eine Massenliteratur für Kinder und Jugendliche, bei der kommerzielle Interessen, pädagogische Ambitionen und die Leselust der Rezipienten verknüpft wurden. Zur Steigerung der Buch- und Zeitschriftenproduktion trugen insbesondere neue Vertriebsmethoden (Grossobuchhandel, Verkauf in Kaufhäusern), die Lockerung des Urheberrechts und die Einrichtung von Leihbibliotheken und Lesezirkeln bei. Die technischen Neuerungen im Druckwesen, z. B. Farbdruck oder Rotationsdruckverfahren, ermöglichten die billigere Herstellung von Büchern, so dass der Buchmarkt von sogenannten Volksausgaben überschwemmt wurde. Im Verbund mit Schulbuchverlagen entstanden Verlage, die sich ganz auf die Herstellung und den Vertrieb von unterhaltender Massenliteratur konzentrierten und mit dem häufig vorkommenden Vermerk „für Jugend und Volk“ anzeigten, dass sie neben Kinder und Jugendlichen auch die breite Bevölkerung erreichen wollten. Marktbeherrschend war die „Union Deutsche Verlagsgesellschaft“ (ein Verbund mehrerer Verlage). Aus Kostengründen wurden die kinderliterarischen Werke vermehrt in Heftform über den Kolportagebuchhandel vertrieben, so dass um die Jahrhundertwende fast 50 % der Kinder- und Jugendliteratur über dieses Printmedium verbreitet wurde. Die Autoren passten sich dieser Tendenz an und es entstand eine kommerzialisierte Literatur, die oft als Fortsetzungen in Kinderzeitschriften, Almanachen und Jahrbüchern

Kommerzialisierung des Buchmarktes

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Entwicklung neuer kinderliterarischer Genres

Heinrich Hoffmanns Der Struwwelpeter

erschien. Die in hohen Auflagen verbreitete Massenliteratur führte zu einer Serienbildung mit gleichbleibendem Figurenarsenal und wiedererkennbaren narrativen und sprachlichen Mustern, um die Leserschaft an sich zu binden (erfolgreiche Autoren waren hierbei etwa Franz Hoffmann, Gustav Nieritz und Amalie Schoppe). Die Reihenliteratur, auf deren Produktion sich Verlage wie Spamer, Spemann und Weichert spezialisierten, zeichnete sich durch eine standardisierte Aufmachung und gleichbleibende Reihentitel aus. Da die meisten Autorenhonorare sich an den Auflagenhöhen richteten, orientierten sich die berufsmäßigen Autoren, die vielfach als „Vielschreiber“ oder „Scribler“ diffamiert wurden, immer mehr an dem Publikumsgeschmack. Unter dem Einfluss des Realismus entwickelte sich außerdem eine Abenteuer- und Geschichtsliteratur, die einerseits dem Bedürfnis nach Unterhaltung nachkam, andererseits der Vermittlung von aktuellem Wissen diente. Zu den neuen kinderliterarischen Genres, die sich seit den 1840er Jahren durchsetzten, zählen die Puppengeschichte (Antonie Cosmar: Schicksale der Puppe Wunderhold, 1839), die Tiergeschichte, die Mutter-KindGeschichte (Friedrich Fröbel: Mutter- und Koselieder, 1844), das Kasperleund Puppentheater (Franz Pocci: Neues Kasperltheater, 1855) und das Weihnachtsmärchen (Carl August Görner). Heinrich Dittmar kreierte mit dem dreibändigen Deutschen Lesebuch (1821–27) den Typus des literarischen Lesebuchs, der einen nachhaltigen Einfluss auf die Konzeption von Schullesebüchern ausübte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kamen weitere Genres hinzu: die sittlich-historische Erzählung, die Schul- und Feriengeschichte (Emma Biller; Tony Schumacher), das Naturmärchen (Carl Ewald) und der Familienroman (Agnes Sapper). Hinsichtlich der historischen Erzählung bildeten sich zwei Richtungen heraus, die auf unterschiedliche Erzählmodi zurückgriffen. Die mehr ereignisorientierten historischen Romane konzentrierten sich auf die Darstellung von bedeutenden Episoden der deutschen Geschichte mit einem Fokus auf Schlachten und Kriege (Vertreter dieser Richtung sind z. B. die Autoren Marie von Felseneck und Wilhelm Kotzde), während die kulturgeschichtlichen Erzählungen das Augenmerk auf die Alltagsgeschichte richteten. In Anlehnung an Gustav Freytags populären Romanzyklus Die Ahnen (1872–1880) entstanden als kinderliterarische Pendants Brigitte Augustis An deutschem Herd (1885–1891) und Oskar Höckers Das Ahnenschloss (1879–1881), die eine mehrere Generationen umfassende Familiengeschichte mit der Geschichte der deutschen Nation verbinden. Eine Verbindung von Sachinformation und Fiktion zeichnet David Friedrich Weinlands historischen Kinderroman Rulaman (1878) aus, der mit der ausgehenden Steinzeit zum ersten Mal eine prähistorische Epoche in den Fokus rückte. Die Rezeption der griechischen und römischen Mythologie dagegen wurde nachhaltig durch Gustav Schwabs dreibändiges Werk Sagen des klassischen Altertums (1838–1846) geprägt. Der Aufschwung des Bilderbuches begann mit der Entwicklung neuer Drucktechniken, die eine Massenproduktion farbig illustrierter Bücher ermöglichte (Stahlstich, Chromlithographie, Drei-Farbendruck). Eines der frühesten Beispiele stellt Heinrich Hoffmanns Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorirten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren (1845) dar, das ab der fünften Auflage von 1847 mit dem Titel Der Struwwelpeter verbreitet wurde und bis heute nicht an Popularität verloren hat. Die in

4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

diesem Buch enthaltenen Warngeschichten in Reimform werden durch eine Bildsequenz visualisiert. Durch das Zusammenspiel von karikaturistisch verfremdeten kolorierten Zeichnungen und den humoristisch-ironischen Versen ergibt sich eine komische Wirkung, die den vordergründig moralischen Beispielcharakter der Warngeschichten relativiert und den satirischen Charakter des Bilderbuches betont. Hoffmanns Bilderbuch war Vorlage für zahlreiche Parodien und Travestien und regte zu einer Vielzahl ähnlicher Werke an, die man unter den Begriff „Struwwelpetriade“ subsumiert. Indem sich Bild- und Textebene gegenseitig ergänzen und Informationen vermitteln, die in dem jeweils anderen Medium nicht ausgedrückt werden, hat Hoffmann mit dem Struwwelpeter dem modernen Bilderbuch den Weg bereitet, während die Bildergeschichte Max und Moritz (1865) von Wilhelm Busch als Vorläufer des Comics angesehen wird. Buschs cartoonhafter Stil und seine innovative Bild-Text-Konzeption wurden von dem Schweizer Illustrator Rudolphe Toepffer und den amerikanischen Cartoonisten Richard Felton Outcault und Rudolph Dirks weiterentwickelt. Hoffmann und Busch haben zugleich ein neues Kindheitsbild etabliert, das auf die negativen und anarchischen Seiten des Kindes hinweist. Die Forderung, dass Mädchen und Jungen im Jugendalter einer geschlechtsspezifischen Erziehung unterzogen werden müssten, führte seit 1860 zur Auffächerung der Jugendliteratur in erzählende Mädchen- und Jungenliteratur und zur Publikation von Zeitschriften, die sich entweder an Mädchen oder Jungen richteten, z. B. Töchter-Album (1855–1931), Herzblättchens Zeitvertreib (1856–1897), Kränzchen (1889–1934), Der neue deutsche Jugendfreund (1842–1918) oder Der gute Kamerad (1886–1944; 1951– 1968). In der Mädchenliteratur wurde bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf Erzählmuster der moraldidaktischen und empfindsamen Literatur des 18. Jahrhunderts zurückgegriffen, ehe sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der modernere, psychologisch subtilere „Backfischroman“ herausbildete (Grenz 1981; Zahn 1983). Während Clementine Helms Backfischchen’s Leiden und Freuden (1863) als erster deutscher Liebesroman für Mädchen Berühmtheit erlangte, steht in Emmy von Rhodens Der Trotzkopf (1885) eine Erziehungsgeschichte in Verbindung mit einer Liebesgeschichte im Vordergrund. Obwohl beide Autorinnen noch an einem traditionellen Frauenbild festhalten, enthüllen sich in ihnen bei näherer Betrachtung bereits Aspekte, die die nachfolgende Mädchenliteratur nachhaltig beeinflussten. Dazu gehören u. a. die Auflösung des tradierten Familienbildes, die ödipale Bindung an den Vater, die Fokussierung der weiblichen Pubertät, die Bedeutung der Mädchenfreundschaft und die Berufstätigkeit von Frauen (Wilkending 2003). Emmy von Rhoden etablierte mit dem Trotzkopf zugleich die Pensionsgeschichte als Subgenre. Durch geschickte Vermarktung mit ständig wechselnden Covern und werbewirksam angekündigten Fortsetzungen (die u. a. von Else Wildhagen, der Tochter Emmy von Rhodens verfasst wurden) entwickelte sich dieser Roman zu einem Long- und Bestseller, der Vorbild für zahlreiche Mädchenbuchreihen wurde (Else Ury: Nesthäkchen, 1913 ff.; Magda Trott: Pucki, 1935 ff.). Neben der Pensions- und Liebesgeschichte etablierten sich in den nachfolgenden Jahrzehnten noch weitere Erzählformen in der Mädchenliteratur: Brief- und Tagebuchroman (Hermine Villinger), autobiographischer Roman (Adelheid Popp) und Werke, die das Berufsleben von Frauen in den

Ausdifferenzierung nach Mädchen- und Jungenliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Abenteuerliteratur

Frühe Formen der Sachliteratur für Kinder und Jugendliche

Skalierung nach Altersgruppen

Kolonialistische und nationalistische Kinder- und Jugendliteratur

Vordergrund stellen (Helene Raff). Einen besonderen Stellenwert nimmt Johanna Spyris Heimatroman Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) ein, der sich am Modell des klassischen Entwicklungsromans orientiert, aber ein weibliches Wesen in den Mittelpunkt stellt. Spyri kreierte mit diesem Werk ein Kindheitsbild, das einerseits die Leidensgeschichte eines Kindes fokussiert, andererseits die in der Frühromantik postulierte enge Bindung von Kind und Natur relativiert und damit auf die Brüchigkeit der Idylle und die Heimatlosigkeit des Menschen verweist. Als geeignete Lektüre für Jungen wurden zunächst die aus dem 18. Jahrhundert tradierten didaktisch orientierten Abenteuerbücher ediert, wozu vorwiegend Robinsonaden gehörten (Johann David Wyß: Der Schweizerische Robinson, 1812–1827; Friedrich Marryat: Sigismund Rüstig, 1843). Auch hier setzte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine moderne Abenteuerliteratur durch, die sich bewusst erwachsenenliterarischer Motive und Erzählmuster von populären Autoren wie James Fenimore Cooper, Gabriel Ferry und Charles Sealsfield bediente, etwa in den Werken von Sophie Wörishöffer (Robert des Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegsflotte, 1873), Friedrich Joachim Pajeken (Bob der Fallensteller, 1890) und Karl May (Winnetou, der Rote Gentleman, 1893). Während der Aktionsradius in den Mädchenromanen zunächst auf das Elternhaus, die nähere Umgebung und das Pensionat beschränkt war, wurden in den entsprechenden Jungenbüchern exotische Schauplätze gewählt. Als Subgenres entstanden Reise-, Indianer-, Kolonial- und Auswandererromane, die den Ausbruch aus der Enge der Heimat fokussierten und größtenteils von einer kolonialistischen Perspektive geprägt waren (Gustav Frenssen; Friedrich Gerstäcker). Einen besonderen Stellenwert nimmt hierbei Hans Dominiks Auswanderergeschichte John Workman, der Zeitungsjunge (1909) ein, die sich an dem von dem amerikanischen Autor Horatio Alger etablierten rags-to-riches-Schema orientierte. Durch die Ausrichtung an aktuellen Themen und den Anspruch, Wissen in Form eines fiktionalen Diskurses zu vermitteln, entstand Mitte des 19. Jahrhunderts ein neues Genre, der wissenschaftliche Roman, der als eine Vorstufe des modernen Sachbuches für Kinder und Jugendliche anzusehen ist und in Jules Verne seinen bekanntesten Vertreter fand. Mit seiner Bildungskampagne ordnete sich dieser Romantyp zugleich dem Postulat nach der gesellschaftlichen Sozialisation des kindlichen bzw. jugendlichen Lesers unter. Gleichzeitig wurde die Vorstellung einer Skalierung der Kinder- und Jugendliteratur nach Altersgruppen, die bereits in der Spätaufklärung thematisiert wurde, von den Verlagen aufgegriffen. Die Altersgrenzen und die Zuordnung bestimmter Genres und Themen wurden mit Berufung auf Ideen Ernst Haeckels und Charles Darwins zur Entwicklung der Menschheit begründet und stellten die Basis für eine Theorie der Lesealtersstufen dar, die detailliert in Charlotte Bühlers bahnbrechender Studie Das Märchen und die Phantasie des Kindes (1918) entwickelt wurde. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts diente das Kinder- und Jugendbuch ferner dem Zweck, mit kolonialistischem, imperialistischem und nationalem Gedankengut vertraut zu machen, wobei sich seit 1840 auch vermehrt antisemitische Tendenzen abzeichneten. Diese Entwicklung mündete in den

4. Vom Biedermeier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges

patriotischen, chauvinistischen und kriegsverherrlichenden Kinder- und Jugendbüchern während der Zeit des Ersten Weltkrieges, die sich an Mädchen und Jungen richteten. Unter den zahlreichen Kriegserzählungen erlangte der Roman Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916) von Walter Flex einen Kultbuchstatus unter jugendlichen Lesern, auch wenn das Werk nicht explizit für diese Lesergruppe verfasst worden ist. Wilhelm Lamszus’ vom Expressionismus beeinflusster Antikriegsroman Das Menschenschlachthaus (1912) fand dagegen – trotz ausdrücklicher Empfehlung von Kritikern aus liberalen und pazifistischen Kreisen – seinerzeit kaum das Echo, das ihm gebührte. Einen durchschlagenden Erfolg hatte darüber hinaus der phantastische Tierroman Die Biene Maja (1912) von Waldemar Bonsels, der vom Pantheismus der Neuromantik und den Kunstmärchen Hans Christian Andersens beeinflusst ist. Das ebenfalls von neuromantischen Ideen geprägte Kindertheaterstück Peterchens Mondfahrt (1912; Prosafassung 1915) von Gerdt von Bassewitz wurde bis in die 1960er Jahre hinein an westdeutschen Bühnen aufgeführt. Eine Sonderstellung nimmt Otto Julius Bierbaums phantastische Erzählung Zäpfelkerns Abenteuer (1905) ein, die zwar auf Carlo Collodis Kinderklassiker Le avventure di Pinocchio (Pinocchios Abenteuer, 1883) rekurriert, aber keine reine Nacherzählung ist, sondern im Gewand einer Kasperlegeschichte eine Satire auf die zeitgenössische politische und gesellschaftliche Situation in Deutschland darstellt. Außerdem entstand im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine sozialdemokratische Kinderliteratur, die als Vorreiter der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur der 1920–1930er Jahre anzusehen ist, sich an Kinder aus dem Arbeiter- und Proletariermilieu wandte und damit zu einer Ausdifferenzierung der Kinder- und Jugendliteratur nach sozialen Klassen führte. Als frühe Werke der sozialdemokratischen Kinderliteratur sind das allegorische Märchen Der große Krach (1875) von Friedrich Gottlieb Schulze und das Bilderbuch König Mammon und die Freiheit (1878) von Leo Berg und Erwin Rossbach zu nennen. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes (1878–1889) wurde das Projekt einer proletarischen Kinder- und Jugendliteratur mit dem Bilderbuch für grosse und kleine Kinder (1893–1900) und der von Clara Zetkin initiierten Kinderbeilage in der Zeitschrift Die Gleichheit (ab 1905 ff.) wieder aufgenommen. Die Dissoziation von sanktionierter Kinder- und Jugendliteratur und faktisch gegebener Kinder- und Jugendbuchproduktion und der sich daraus ergebende Streit zwischen literarischen Erziehern, wozu vor allem Lehrer, Bibliothekare und Geistliche gehörten, und Buchverlegern löste um 1890 eine „Schunddebatte“ aus, die sich vor allem gegen die aus den USA importierten Dime Novels (billig produzierte Bücher mit einer Präferenz für spannende, seriell aufbereitete Geschichten) und den von ihnen beeinflussten Detektiv- und Indianergeschichten für Kinder und Jugendliche richtete. Zugleich wurde die schlechte Qualität der Periodika für Kinder bemängelt, deren Kompilation verschiedener Textsorten und Fortsetzungsgeschichten zum unkonzentrierten Durcheinanderlesen verführe. Im Zeitraum von 1880 bis 1914 sind ca. 400 verschiedene Zeitschriften für Kinder und Jugendliche erschienen (Wild 2008). An dieser Debatte beteiligten sich politische Parteien, kirchliche Institutionen, Schulbehörden und kulturelle Verbände. Das

Phantastische Erzählungen

Sozialdemokratische Kinderliteratur

Heinrich Wolgasts Das Elend unserer Jugendliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Einfluss der Reformpädagogik

dadurch ausgelöste öffentliche Interesse führte zur Gründung von Kommissionen und Vereinen, die sich 1893 im Dachverband „Vereinigte Prüfungsausschüsse“ zusammenschlossen. In der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift Jugendschriften-Warte (die unter wechselnden Namen bis heute herausgegeben wird) wurden Leselisten „wertvoller Jugendschriften“ veröffentlicht, zugleich setzte man sich für einen an ästhetischen Kriterien orientierten Literaturunterricht ein. Die Kritik an den sogenannten „Tendenzschriften“ für Kinder und Jugendliche kulminierte schließlich in Heinrich Wolgasts Streitschrift Das Elend unserer Jugendliteratur (1896), die der eigentlichen Kinder- und Jugendliteratur jegliche Existenzberechtigung absprach. Mit dem Diktum „Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein“ setzte sich Wolgast für eine anspruchsvolle Kinderlektüre ab dem Alter von 12 Jahren ein, die nach seiner Auffassung eher von ausgewählten Werken der Erwachsenenliteratur erfüllt werde. Hierzu zählte er volksliterarische Genres wie Märchen, Balladen und Sagen, aber auch Erzählungen von Marie von Ebner-Eschenbach, Jeremias Gotthelf, Peter Rosegger, Adalbert Stifter und Theodor Storm, dessen Novelle Pole Poppenspäler (1874) als „Klassiker der erzählenden Jugendschrift“ kanonisiert wurde. Ausgewählt wurden dabei bevorzugt Werke mit Kindheitsdarstellungen, ob diese sich nun auf autobiographische Erinnerungen oder auf die Darstellung einer fiktiven Kindheit bezogen. Beeinflusst von Gedanken der Spätromantik, verstand Wolgast literarische Erziehung zugleich als Nationalerziehung, d. h. die kindliche Leserschaft sollte mit den Klassikern der Nationalliteratur vertraut gemacht werden. Obwohl Wolgast die Instrumentalisierung der Literatur für belehrende Zwecke ablehnte, wurde mit dem Begriff der „ästhetischen Erziehung“ bzw. „literarischen Genußfähigkeit“ unter Bezugnahme auf das romantische Erbe ein weiterer Bereich des kindlichen Erlebens pädagogisch besetzt (Dolle-Weinkauff/Ewers 1996; Kümmerling-Meibauer 2003). Das kulturpolitische Ziel der Jugendschriftenbewegung, nämlich die Vermittlung von Literatur als einer besonderen Kunstform fand dabei ihr Pendant im Stockholmer Kreis um die Pädagogin Ellen Key, die mit ihrem Buch Århundradets barn (Das Jahrhundert des Kindes, 1900; dt. 1902) eine weit über Skandinavien hinausgehende Wirkung auf das Kindheitsbild des frühen 20. Jahrhunderts ausübte. Entgegen Wolgasts ursprünglicher Intention bemühte man sich in Deutschland in reformpädagogischen Kreisen um eine literarische Qualitätssteigerung der Kinder- und Jugendliteratur, um damit den Weg für das „künstlerisch wertvolle Kinderbuch“ und einer „Dichtung vom Kinde aus“ (William Lottig) zu bahnen. Der Einfluss dieser reformpädagogischen Bestrebungen zeigte sich vor allem in der Kinderlyrik (Paula und Richard Dehmel: Fitzebutze, 1900), den Großstadt- oder Umweltgeschichten für Kinder (Fritz Gansberg: Streifzüge durch die Welt der Großstadtkinder, 1905; Heinrich Scharrelmann: Berni-Geschichten, 1912–1921) und den Ich-Erzählungen für Kinder, die den Fokus auf die kindliche Wahrnehmungsweise richten (Paula Dehmel: Singinens Geschichten, 1903). Die Kindergeschichten von Gansberg und Scharrelmann, die dem reformpädagogischen Konzept der Anschauung und Beobachtung verpflichtet waren, wurden als Vorlesetexte in Volksschulen eingesetzt und erreichten damit auch einen größeren Rezipientenkreis.

5. Weimarer Republik

Zur ästhetischen Qualität des zeitgenössischen Bilderbuches trug vor allem die Kunsterziehungsbewegung unter der Ägide von Konrad Lange bei. In seiner Schrift Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend (1893) forderte Lange die Konzentration auf Einfachheit, Klarheit und Eindeutigkeit als ästhetischen Prinzipien des Bilderbuches und wandte sich gegen den malerischen Stil im Bilderbuch. Damit setzte er im Sinne einer „Pädagogik vom Kinde aus“ Bildprinzipien durch (z. B. deutliche Umrisslinien, flächendeckende Farbgebung), die das Bilderbuch bis zur Gegenwart prägen. Beeinflusst von dem Reformpädagogen Heinrich Wolgast, der mit der Schrift Über Bilderbuch und Illustration (1884) selbst eine Monographie über das Bilderbuch verfasste, übertrug man das kulturpolitische Ziel, die Vermittlung von Literatur als eine besondere Kunstform an Kinder, auch auf das Bilderbuch, um damit den Weg für das „künstlerisch wertvolle“ Bilderbuch zu bahnen (z. B. Ernst Kreidolf: Blumen-Märchen, 1898; Karl Hofer: Rumpumpel, 1903; Sybille von Olfers: Etwas von den Wurzelkindern, 1906) (Stark 2000). Anknüpfend an Ideen der Spätromantik richtete man im pädagogischen Kreis um Berthold Otto zudem das Augenmerk auf die literarische Produktivität von Kindern, indem man einerseits Anthologien mit Schüleraufsätzen und Kinderversen veröffentlichte, andererseits die sprachlichen Äußerungen von Kindern (von Otto als „Altersmundart“ gekennzeichnet) archivierte und in Lesebücher integrierte (Berthold Otto: Vorlesebuch, 1903; KinderGeschichten, 1913). Trotz dieser vielfältigen Bestrebungen um eine literarische und künstlerische Qualitätssteigerung konnte sich die Unterhaltungs- und Massenliteratur für Kinder und Jugendliche auch im 20. Jahrhundert weiterhin behaupten. Die von der Reformpädagogik und Kunstmoderne beeinflussten Kinder- und Jugendbücher verzeichneten nur einen geringen Markterfolg. Dennoch ist gerade der Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges von einer divergierenden Vielfalt von literarischen Strömungen und Diskursen bestimmt, die allesamt Einfluss auf die Kinder- und Jugendliteratur ausübten. Neben der Frauen-, Arbeiter- und Jugendbewegung, die der Modernisierung der Kinder- und Jugendliteratur Vorschub leisteten, bestimmten weiterhin konservative und kirchliche Kreise die pädagogischen Debatten um die angemessene Lektüre von Kindern und Jugendlichen. Durch die Einrichtung von Schülerbibliotheken und die Lehrmittelzuweisung nahm darüber hinaus der Staat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Legitimation geeigneter Kinder- und Jugendbücher.

Bedeutung der Kunsterziehungsbewegung für das zeitgenössische Bilderbuch

Altersmundart

Vielfalt der literarischen Strömungen

5. Weimarer Republik In der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik knüpfte man größtenteils an die kinderliterarischen Traditionen der Kaiserzeit an. Neben populären Serien und Zeitschriften für Mädchen und Jungen wurde der Buchmarkt weiterhin von Abenteuerromanen, Mädchenbüchern, historischen Erzählungen und für Kinder bearbeiteten Werken der Weltliteratur dominiert, die in Neuauflagen erschienen. Außerdem wurden weiterhin Kinderklassiker aus anderen Ländern aufgelegt oder neu übersetzt. Hierbei

Allgemeine Tendenzen

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Jugendschutzbestimmungen

dominierten Übersetzungen aus dem englischen Sprachraum (u. a. Doctor Dolittle-Bücher von Hugh Lofting, Tiergeschichten von Jack London und Pu der Bär von A. A. Milne) und den skandinavischen Ländern (Marie Hamsuns Bände über die Langerud-Kinder, Bibi-Bücher von Karin Michaëlis). Darüber hinaus wurden Kinder- und Jugendbücher von sowjetrussischen Autoren übersetzt (Hopster 2012). Hinsichtlich des Gattungsspektrums dominierte bei den Neuerscheinungen bis zur Mitte der 1920er Jahre das Märchen, wobei es sowohl künstlerisch gestaltete Ausgaben mit Illustrationen bekannter Künstler als auch billig produzierte Bücher in hohen Auflagen gab. Die Zeitphase nach 1925 erlebte einen Aufschwung der realistischen Kinderund Jugendliteratur, die deutliche Einflüsse der Neuen Sachlichkeit erkennen lässt. Dadurch bedingt, entwickelten sich neue Genres (Großstadtroman, Detektivroman), ebenso drangen neue Motive und Themen in die Kinderund Jugendliteratur ein. Der zeitgenössische Diskurs war einerseits durch die politischen Errungenschaften der Zwischenkriegszeit (Demokratie, Wahlrecht für Frauen), andererseits durch soziale und kulturelle Verschiebungen bestimmt. Diese Tendenzen hatten längerfristige Auswirkungen auf die aktuellen Debatten über die Kinder- und Jugendliteratur, wobei sich bereits erste Anzeichen einer Diskussion über das Phänomen der Kinderkultur abzeichneten. Bedingt durch die Entstehung neuer Medien (Rundfunk, Film), die Etablierung von Kinderpsychologie als eigener Wissenschaft und das marktwirtschaftliche Interesse an Kindern und Jugendlichen entwickelte sich in Ansätzen eine Konsumgüter- und Kulturindustrie, die explizit auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe abgestimmt war und alle privaten und öffentlichen Lebensbereiche umfasste. Während viele dieser Produkte, inklusive der Kinder- und Jugendliteratur und ihren medialen Umsetzungen, aus kommerziellen Gründen entwickelt wurden, griffen Künstler, die am Bauhaus in Dessau arbeiteten, das Konzept der Kinderkultur auf, um künstlerisch hochwertige Alltagsgegenstände wie Möbel, Kleidung, Spielzeug oder Stoffe für Kinder zu kreieren. Unter der Ägide von Walter Gropius und später Hannes Meyer war in jeder Werkklasse mindestens ein Künstler dafür verantwortlich, entsprechende Produkte zu entwerfen. Für den Bereich des Kinder- und Puppentheaters waren Paul Klee und Oskar Schlemmer zuständig, im Bereich der Kinderliteratur engagierte sich vor allem Lou Scheper-Berkenkamp, deren Bilderbücher allerdings erst in der Nachkriegszeit veröffentlicht wurden (u. a. Die Geschichten von Jan und Jon und ihrem Lotsenfisch, 1947). Der pädagogische Diskurs wurde wesentlich von den JugendschriftenAusschüssen bestimmt, die alljährlich entsprechende Empfehlungslisten herausgaben. Das wichtigste Organ war weiterhin die Jugendschriften-Warte, deren Auflage Ende der 1920er Jahre 80.000 Exemplare betrug. Die in pädagogischen Kreisen geäußerten Bedenken hinsichtlich des negativen Einflusses der Massenkultur (Comics, Heftchenserien) und modernen Medien, insbesondere des Kinofilms, auf Kinder und Jugendliche führte im Jahr 1926 zum „Gesetz zum Schutz der Jugend gegen Schmutz und Schund“, das aber nur geringe Erfolge erzielte. Weitaus restriktiver war das 1920 verabschiedete „Reichslichtgesetz“, das den Kinobesuch erst ab dem Alter von sechs Jahren erlaubte. Ferner durften Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren nur eigens für sie freigegebene Kinofilme sehen.

5. Weimarer Republik

Unter dem Einfluss der Jugendschriftenbewegung und der von Charlotte Bühler in ihrem Standardwerk Das Märchen und die Phantasie des Kindes (1918) etablierten Lesealter-Theorie kam es nicht nur zu einer deutlicheren Trennung von Kinderliteratur und Jugendliteratur, obwohl sich der Sammelbegriff „Jugendschrifttum“ weiterhin hielt, sondern auch zu ersten empirischen Studien zur Erfassung der Leseinteressen von Kindern und Jugendlichen mithilfe von Fragebögen und statistischen Auswertungen von Bibliotheksausleihen (Albert Rumpf: Kind und Buch, 1928). Die durch die „Jungleserpsychologie“ aufgeworfenen Fragen über die sprachliche und literarische Angemessenheit kinder- und jugendliterarischer Texte führten dazu, dass der in der Reformpädagogik favorisierte Begriff der „Kindertümlichkeit“ zugunsten der „Kindgemäßheit“ verdrängt wurde. Darüber hinaus wurde die Bedeutung der Kinderliteratur und Kinderkultur für die Entwicklung eines modernen Kindheitskonzeptes von bekannten Literaturkritikern, Philosophen und Kunsttheoretikern wie Rudolf Arnheim, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Alice Rühle-Gerstel in Zeitschriftenartikeln und Essays theoretisch reflektiert. Dieser vielseitige Diskurs, der sich durch eine Verbindung ästhetischer, pädagogischer, psychologischer und philosophischer Vorstellungen auszeichnete und als Beginn einer vortheoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kinder- und Jugendliteratur anzusehen ist, wurde mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten abrupt beendet. Die Präferenz für das Märchen als kindgemäßes Genre ist u. a. Charlotte Bühlers Studie zu verdanken, in der behauptet wird, dass das Märchen die geeignete Lektüre für Kinder im Alter von 6–12 Jahren sei. Zugleich hat die neuromantische Bewegung der Jahrhundertwende in Anknüpfung an frühromantische Ideen die Affinität zwischen Kindheit und (Volks-)Märchen betont und damit entsprechenden Märcheneditionen für Kinder Auftrieb verliehen. So erschien seit 1912 beim Diederichs Verlag die 40-bändige Reihe Märchen der Weltliteratur, die sich sowohl an ein kindliches als auch ein erwachsenes Lesepublikum richtete. Die Kunstmärchen der Weimarer Zeit zeichneten sich insgesamt durch ein Konglomerat von konventionellen Erzählmustern und reformpädagogischen Ideen aus, wobei man sich um die Anbindung an den Zeitgeist durch moderne Szenerien und Darstellung der kindlichen Alltagswelt bemühte. Hierzu zählen etwa die ätiologischen Märchen von Sophie Reinheimer, die Technikmärchen von Wilhelm Matthießen und die anthroposophischen Märchen von Manfred Kyber. Bruno H. Bürgel bezog sich in Seltsame Geschichten des Doktor Ulebuhle (1920) mit der Verbindung von Rahmen- und Binnengeschichte und dem Erzähler als väterlicher Mentorfigur auf das pädagogische Erzählkonzept der Aufklärung. Die in diesem Werk enthaltenen naturwissenschaftlichen Märchen verfolgten den Zweck, Sachwissen in Form einer märchenhaften Handlung zu vermitteln. In der Reihe „Märchen der Armen“ im Malik-Verlag erschienen mehrere Märchenausgaben, die an die sozialdemokratischen Märchen der Vorkriegszeit anknüpften und an das Klassenbewusstsein appellierten (Hermynia zur Mühlen: Was Peterchens Freunde erzählen, 1921; Ali der Teppichweber, 1923). Im Umkreis der proletarischen Kinderliteratur entstanden auch etliche Großstadtmärchen, die Alltagsschilderung und Sozialkritik mit einer märchenhaften Handlung kombinierten und von den „Dingmärchen“ Hans

Theorie des Lesealters

Bedeutung des Märchens

Didaktischer Reiseroman

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Neue Sachlichkeit in der Kinderliteratur

Christian Andersens inspiriert waren (Bruno Schönlank: Großstadt-Märchen, 1924; Carl Dantz: Vom glückhaften Stern, 1927). In Zusammenarbeit mit Béla Balász verfasste Lisa Tetzner das sozialkritische märchenhafte Theaterstück Hans Urian geht nach Brot (1929), auf dem die spätere Prosaversion Hans Urian: Die Geschichte einer Weltreise (1931) basiert. Mit der Verbindung von Reisemotiv und Bildungsanspruch (Vermittlung von Sachwissen, Sozialkritik) bezog sich Tetzner intertextuell auf Selma Lagerlöfs schwedischen Kinderklassiker Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige (Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, 1906/ 1907), der bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschien. Lagerlöfs Werk war Vorbild für mehrere didaktische Reiseromane, die seit Mitte der 1920er Jahre in Deutschland publiziert wurden, u. a. Berta Lask: Auf dem Flügelpferde durch die Zeiten (1925) und Wie Franz und Grete nach Rußland reisten (1926); Elisabeth Walter: Abenteuerliche Reise des kleinen Schmiedledick mit den Zigeunern (1930); Fritz Rosenfeld: Tirilin reist um die Welt (1931) und Erika Mann: Stoffel fliegt übers Meer (1932) (KümmerlingMeibauer 2003). Mit seinem phantastischen Roman Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) knüpfte Erich Kästner nicht nur an diese Tradition an, sondern verband deutlich markierte Anspielungen auf E. T. A. Hoffmanns Kindermärchen Nußknacker und Mausekönig (1816) mit NonsensEpisoden (Verkehrte Welt-Motiv) und einer Satire auf die zeitgenössischen Verhältnisse in Deutschland. Die populären Kasperle-Bände von Josephine Siebe (Kasperle geht auf Reisen, 1921; insgesamt sieben Bücher) dagegen rekurrieren auf die Tradition des Puppentheaters. In Anbindung an den realistischen Kinderroman der Jahrhundertwende entwickelte sich während der Weimarer Republik in einem Teilbereich der Kinderliteratur eine kinderliterarische Moderne, als deren Hauptvertreter die Autoren Wolf Durian (Kai aus der Kiste, 1926) und Erich Kästner (Emil und die Detektive, 1929; Pünktchen und Anton, 1931) angesehen werden. Von der Neuen Sachlichkeit beeinflusst, etablierten sie nicht nur den Großstadtroman für Kinder (mit entsprechenden Vorläufern um die Jahrhundertwende), sondern übernahmen innovative Motive und Erzählmodi in die Kinderliteratur. Dazu gehören u. a. Gegenwartsbezug, Technikbegeisterung, Darstellung einer Kindergruppe als positiver Gegenentwurf zur Erwachsenenwelt, Großstadt als Erfahrungsraum für Kinder, verschiedene Sprachregister und filmisches Erzählen (Kinometaphorik, schnelle Szenen- und Perspektivenwechsel, Betonung visueller und auditiver Eindrücke, dialogreiche Passagen). Durians Roman, der 1925 zunächst als Fortsetzung in der Zeitschrift Der heitere Fridolin erschien, erweist sich durch die Großstadtkulisse, den knappen und pointierten Stil, die filmische Erzählweise, die Illustrationen und die Darstellung der Werbung als Kinderbuch im Stil der Neuen Sachlichkeit. Durch den Untertitel („Eine ganz unglaubliche Geschichte“) zeigt sich aber auch die Zugehörigkeit zur Kategorie „Großstadtmärchen“. Der märchenhafte Aufstieg vom Straßenjungen zum Reklamekönig geht auf das Tellerwäschermotiv (rags-to-riches) zurück. Nicht nur dieses Motiv, sondern auch die eingefügten Amerikanismen, der Glaube an den „American dream“ und die positive Darstellung des kapitalistischen Unternehmergeistes zeugen vom Einfluss des amerikanischen Lebensstils, den der Autor während einer USA-Reise kennengelernt hatte. Obwohl das Buch deswegen

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vom Prüfungsausschuss der Jugendschriften-Warte bereits 1927 abgelehnt wurde, hatte der Roman unter der Leserschaft einen durchschlagenden Erfolg, wurde aber nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verboten (Springman 2007). Die Modernität von Kästners Kinderroman Emil und die Detektive wird bereits in der dreifachen Exposition ersichtlich, in der der Autor nicht nur eine Metalepsis einfügte, sondern auch eine neusachliche Poetik der Kinderliteratur entwickelte (vgl. Kapitel V.3). Bei allem Realismus der Milieudarstellung trägt der Roman auch utopische Züge, wozu das idealistische Kindheitsbild und das doppelte Glück am Ende zählen. Kästner begründete mit Emil und die Detektive den Detektiv- oder Kriminalroman für Kinder und war damit Vorbild für zahlreiche deutschsprachige und europäische Kinderbuchautoren (u. a. Paul Berna, Enid Blyton, Astrid Lindgren und Václav Rˇezacˇ). So übernahmen etwa Wilhelm Matthießen (Das rote U, 1932) und Ruth Rewald (Müllerstraße, 1932) Kästners Konzept einer Kinderbande, die ohne Hilfe von Erwachsenen agiert, und seinen Erzählstil, der durch Leseranreden, Humor, verschiedene Sprachregister und erlebte Rede gekennzeichnet ist. Berühmtheit erlangte die Verfilmung von Kästners Roman durch Gerhard Lamprecht, die 1931 in die Kinos kam und als erster abendfüllender Real- und Tonfilm für Kinder gilt. Zu Erich Kästners Pünktchen und Anton (1931) verfasste Alex Wedding mit Ede und Unku (1931) ein Gegenstück, das im Gegensatz zu Kästners Roman nicht das gutbürgerliche Milieu fokussiert, sondern Figuren aus dem Arbeitermilieu in den Mittelpunkt stellt. Lisa Tetzners Erzählungen wiederum wären ohne den Einfluss des Rundfunks nicht zustande gekommen. Seit 1924 gab es regelmäßige Kinderfunksendungen, die die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen am Weltgeschehen ermöglichte. Tetzner, die seit 1927 freie Mitarbeiterin am Berliner Kinderfunk war und dort live aufgenommene Gespräche mit Berliner Kindern führte, ließ sich durch die Berichte der Kinder zu ihren beiden Kinderbüchern Der Fußball (1932) und Erwin und Paul (1933) inspirieren. Diese beiden Erzählungen bilden zugleich den ersten Band von Tetzners Kinderodyssee Die Kinder aus Nr. 67 (1933–1949), einem der bedeutendsten Werke der Exilliteratur für Kinder. Dem Realismusprinzip waren auch die modernen Mädchenbücher der Weimarer Zeit verpflichtet. Auch wenn sich deutliche Bezüge zum Backfischroman des späten 19. Jahrhunderts feststellen lassen, knüpfte etwa die jüdische Autorin Else Ury, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, in ihrer die Geschichte dreier Generationen umfassenden Nesthäkchen-Serie (1913–1925) an die aktuelle Frauendebatte an. Der erste Teil ist noch an den zeitgeschichtlichen Kontext gebunden (Vorkriegszeit, Erster Weltkrieg, politische und wirtschaftliche Wirren in der Frühphase der Weimarer Republik), während der zweite Teil zeitlos ist, so dass die tatsächlichen gesellschaftlichen Ereignisse in den Hintergrund geraten. Neben diesem Bestseller (bis 1933 wurden mehr als 2 Millionen Exemplare verkauft) erfreuten sich die Bibi-Bände (1929–1939) der dänischen Autorin Karin Michaëlis großer Beliebtheit. Sie erschienen zeitgleich auf Dänisch und in deutscher Übersetzung und waren in Deutschland weitaus populärer als in Dänemark. Dies veranlasste die Autorin, die Hauptfigur im zweiten Band eine Reise nach Deutschland unternehmen zu lassen. Michaëlis weicht in mehrfacher Hin-

Erich Kästner und Lisa Tetzner

Mädchenliteratur in der Weimarer Republik

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Schülerroman

Jüdische Kinder- und Jugendliteratur

sicht vom traditionellen Mädchenschema ab: ihre Hauptfigur zeichnet sich durch ein genderübergreifendes Verhalten, Souveränität und bedingungslose Freiheit aus (so darf sie ohne Aufsicht allein durch Dänemark und später durch andere europäische Länder reisen). Inspiriert vom Kindheitsbild der Romantik wird das Lernverhältnis umgekehrt: die Erwachsenen können von den Kindern lernen, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Dieser Reiseund Entwicklungsroman greift nicht nur Aspekte einer feministischen Mädchenliteratur auf, die sich erst nach 1945 durchsetzen konnte, sondern formuliert zugleich ein politisches Programm, das auf den Prinzipien Humanismus, Respekt vor der Natur, ökologisches Gleichgewicht und Pazifismus beruht. Eine pazifistische Tendenz offenbart sich ebenfalls in dem Mädchenroman Liselott diktiert den Frieden (1932) von Grete Berges. Die hierin und auch bei Michaëlis angedeutete Idee eines Kinderbundes zur Verteidigung der Menschenrechte findet sich gleichfalls in Rudolf Franks antimilitaristischem Roman Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua (1931), der von den Nationalsozialisten verboten wurde. Eine Neuauflage mit dem geänderten Titel Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. Ein Roman gegen den Krieg erschien erst wieder 1979. Als neues Genre setzte sich Ende der 1920er Jahre mit Wilhelm Speyers Der Kampf der Tertia (1927) und Erich Kästners Das fliegende Klassenzimmer (1933) der Schülerroman für Kinder und Jugendliche durch. Beide Autoren knüpften dabei nicht an die Schülerromane der Jahrhundertwende an (u. a. von Hesse, Musil und Strauß), sondern bezogen sich auf das Modell des englischen Schülerromans (Thomas Hughes). Speyers Roman basiert auf autobiographischen Erinnerungen des Autors und verweist mit den Anspielungen auf die Antike und Goethes Konzeption der Pädagogischen Provinz (in Wilhelm Meisters Wanderjahre) sowie dem zugrunde liegenden pädagogischen Schulmodell auf die Landerziehungsheimbewegung von Hermann Lietz (Kümmerling-Meibauer 2003). Kästner dagegen entwarf eine Idealform gesellschaftlichen Zusammenlebens, die sowohl Schüler als auch Lehrer einbezog. Die in beiden Romanen implizit ausgedrückte Kritik am Machtmissbrauch und den zeitgenössischen Verhältnissen in Deutschland wurde dagegen lange Zeit verkannt. Obwohl sich eine deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur bereits in der Aufklärung (sogen. „Haskala“) etablierte, dominierten in diesem Bereich zunächst belehrende und religiöse Schriften. Eine Blütezeit erzählender Kinderliteratur jüdischer Autoren und Autorinnen zeichnete sich jedoch erst nach 1918 ab. Während zunächst jüdische Volks- und Erwachsenenliteratur als geeignete Kinderlektüre empfohlen wurde (Bin Gorion: Der Born Judas, 1916–1922) und man sich zu Beginn der 1920er Jahre auf die jiddisch-sprachige Literatur aus Osteuropa besann (Jizchak Leib Perez), entstand seit Mitte der 1920er Jahre eine eigenständige deutsch-jüdische Kinderliteratur, die sich durch ein breites Gattungsspektrum auszeichnet. Im Zuge der Säkularisierung wurde das religiös motivierte Bilderverbot gelockert, so dass nunmehr vermehrt Bilderbücher und illustrierte Ausgaben für Kinder publiziert wurden. Auch das von Haskala und orthodoxen Kreisen abgelehnte Genre des Märchens erlebte in der Weimarer Zeit eine Renaissance. Autoren wie Siegfried Abeles, Ilse Herlinger, Max Nordau und Else Ury verfassten Kindermärchen, deren Handlung explizit jüdisches Brauchtum thematisiert. Die

5. Weimarer Republik

unterschiedlichen religiösen und politischen Strömungen drückten der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur gleichfalls ihren Stempel auf. Neben Gedichtbänden, Theaterstücken, Erzählungen und Romanen, die von der Neo-Orthodoxie oder dem Chassidismus geprägt sind, finden sich seit Beginn der 1930er Jahre vermehrt Werke, die zionistisches Gedankengut aufnehmen. Einen besonderen Stellenwert nimmt Felix Saltens Tierroman Bambi (1923) ein, der subtextuell zionistische Ideen ausdrückt und sich gegen die Assimilation ausspricht. Ein frühes Beispiel für den Einfluss der Neuen Sachlichkeit auf den realistischen Kinderroman ist Cheskel Zwi Klötzels Moses Pipenbrinks Abenteuer (1920). In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erlebte die künstlerische Avantgarde im Kinder- und Bilderbuch eine kurze Blütezeit in Deutschland. Im Bereich der Kinderlyrik sind besonders die Kindergedichte von Christian Morgenstern (Klein Irmchen, 1921) und Joachim Ringelnatz (Geheimes Kinder-Spiel-Buch, 1924; Kinder-Verwirr-Buch, 1931) zu nennen, die nicht nur der Nonsenstradition in der deutschen Kinderlyrik den Weg bereiteten, sondern auch bewusst Tabuthemen ansprachen. Der Bruch mit kinderliterarischen Konventionen und die provokanten Äußerungen über Sexualität, Gewalt und das anarchische Verhalten von Kindern in Ringelnatz Gedichtbänden erregte die öffentlichen Gemüter und führte dazu, dass diese nach 1933 von den Nationalsozialisten als „zersetzend“ indiziert wurden. Bedeutende Künstler, die dem Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit, dem Bauhaus oder dem Dadaismus nahestanden (Otto Dix, Lyonel Feininger, Hilde Krüger, Tom Seidmann-Freud, Adolf Uzarski), publizierten Bilderbücher für Kinder, die nur in kleinen Auflagen erschienen, aber bestimmte Merkmale, Techniken und Stile des modernen Bilderbuches der Nachkriegszeit vorwegnahmen und bewusst einen Gegenpol zu den sentimental gestimmten Bilderbüchern von Illustratoren wie Fritz Koch-Gotha oder Else Wenz-Vietor darstellten. Mit der Collagetechnik und der Abstraktion implementierten diese Illustratoren avantgardistische Kunststile in das zeitgenössische Bilderbuch. So gestaltete Kurt Schwitters in Zusammenarbeit mit Käte Steinitz und Theo van Doesburg das „typographische Märchen“ Die Scheuche (1925), dessen Text und Illustrationen ausschließlich aus Setzkastenmaterial besteht. Der Experimentierfreudigkeit dieser Künstler verdankte vor allem das Photobilderbuch seinen Aufschwung (Friedrich Böer: Drei Jungen erforschen eine Stadt, 1931). Ein Jahr vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erschien Karl Aloys Schenzingers Jugendroman Hitlerjunge Quex (1932), der sich am Modell des Entwicklungsromans orientiert, aber wegen der Darstellung der politischen Kämpfe zwischen Kommunisten und Anhängern Hitlers sowie des Opfertodes der Hauptfigur alsbald zum Vorbild für eine vom nationalsozialistischen Gedankengut geprägte Kinder- und Jugendliteratur wurde.

Avantgarde und Kinderliteratur

Aloys Schenzingers Hitlerjunge Quex

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

6. Nationalsozialismus und Exil Umstrukturierung des Literaturbetriebs

Empfehlungslisten und Preisverleihungen

Die Instrumentalisierung von Kinder- und Jugendliteratur für politische und propagandistische Zwecke hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, wurde aber in der Zeit von 1933 bis 1945 in einem bislang unbekannten Maße betrieben. Ein wichtiger Schritt war die Umstrukturierung des gesamten Literaturbetriebs; so wurde die Bibliothek- und Verlagslandschaft durch Erlasse des Reichsministeriums für Erziehung, Wissenschaft und Volksbildung ebenso neugeordnet wie das Schulwesen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendliteratur. Im Herbst 1933 mussten alle Autoren, Verleger, Buchhändler und Bibliothekare Mitglied der Reichsschrifttumskammer werden, wobei viele Personen aus rassistischen oder politischen Gründen ausgeschlossen wurden. Bereits existierende Schulverbände wurden in den nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) überführt, dessen Aufgabe u. a. in der Standardisierung und Überprüfung der Bücherbestände in Schulbüchereien bestand. Die Jugendschriftenausschüsse wurden gleichgeschaltet und auf die Vermittlung der nationalsozialistischen Ideologie verpflichtet. Im Juli 1933 veröffentlichte man erstmals eine „schwarze Liste“ mit Kinder- und Jugendbüchern, die aus allen öffentlichen Bibliotheken entfernt werden mussten. Ab 1935 folgten weitere „Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Hierzu gehörten vor allem Werke, denen man eine pazifistische oder „wehrzersetzende“ Tendenz nachsagte oder die von Autoren verfasst worden waren, die mit dem Kommunismus, der Sozialdemokratie oder dem Marxismus sympathisierten. Betroffen waren u. a. die kinderliterarischen Werke von Bertolt Brecht, Carl Dantz, Berta Lask, Joachim Ringelnatz, Felix Salten, Wilhelm Speyer, Alex Wedding und Hermynia zur Mühlen. Die meisten Autoren erhielten Publikationsverbot, so dass diese ihre Werke nur unter Pseudonym oder im Ausland veröffentlichen konnten. Auch zwei Kinderromane Erich Kästners fanden sich auf der Liste: Pünktchen und Anton (1931) sowie Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931), die als „zersetzend“ eingestuft wurden. Lediglich bei dem erfolgreichen Emil-Roman wurde eine Ausnahme gemacht; die Verfilmung dieses Romans wurde sogar noch bis 1937 in den deutschen Kinos gezeigt. In den nächsten Jahren beteiligten sich weitere Institutionen an der Auswahl und Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur, die teils miteinander kooperierten, teils aber auch gegeneinander konkurrierten. Zu den Konkurrenten gehörten jahrelang der „Nationalsozialistische Lehrerbund“ (NSLB) und die „Reichsjugendführung“ (RJF). Der NSLB übernahm die Jugendschriften-Warte und versuchte unter der Ägide von Eduard Rothemund, der die Jugendschriftenstelle und später auch die Abteilung für Schülerzeitschriften leitete, den Einfluss der RLF auf die Begutachtung von Kinder- und Jugendbüchern einzudämmen (Wild 2008). Bis 1941 erschien jährlich ein offizielles Verzeichnis Das Buch der Jugend mit Empfehlungslisten und Rezensionen opportuner Kinder- und Jugendliteratur. Durch die Verleihung des Hilf-mit-Preises (seit 1936, für ein unveröffentlichtes Manuskript) und des Hans-Schemm-Preises (seit 1936, für eine Erstveröffentlichung) und jährliche Ausstellungen im Rahmen der „Woche des Buches“ (seit 1934) versuchte man darüber hinaus, Autoren zum Schreiben genuin nationalsozialistischer Kinder- und Jugendbücher anzuregen.

6. Nationalsozialismus und Exil

Das zugrunde liegende literarische Erziehungskonzept gründete nicht mehr auf der Vermittlung von Wissen und Bildung, sondern auf der „Schulung des Charakters“. Mit dem Topos der „Jugendlichkeit“ wurde dabei nicht mehr auf die biologische Lebensphase referiert, sondern eine ideologische Haltung propagiert, die auf den Ideologemen Lebensbejahung, Heldentum, Kampfesmut und Gefolgschaft basierten. Als neues Kriterium der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur wurde die „Gesinnungsmäßigkeit“ gefordert. Dieses Kriterium ergänzte man später durch diejenigen der Kindertümlichkeit und künstlerischen Gestaltung. Trotz dieser Bestrebungen konnte aber eine vollständige Kontrolle des Buchmarktes nicht erreicht werden. Die Aktivitäten der verschiedenen politischen und pädagogischen Institutionen, Verlage und des Buchhandels waren nicht immer aufeinander abgestimmt und führten zu teilweise divergierenden und widersprüchlichen Wertungen und Schwerpunktsetzungen. Den größten Anteil nahm auch in der Zeit von 1933 bis 1945 die ideologisch unverfängliche Kinder- und Jugendliteratur aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik ein, die in Neuauflagen weiterhin auf dem Buchmarkt präsent waren. Quantitativ war insbesondere die historische Literatur für Kinder und Jugendliche gut vertreten, wobei entweder auf die Kolonialliteratur der Vorkriegszeit (Gustav Frenssen) zurückgegriffen wurde oder Kriegsdarstellungen favorisiert wurden. Die historische Literatur diente einerseits dazu, Wissen über die nordischen Mythen und Sagen (Nibelungenlied) zu vermitteln. Andererseits wurden Themen bevorzugt, die historische Führerfiguren, wie Hermann den Cherusker oder Heinrich den Löwen, und Kriege, wie den Dreißigjährigen Krieg, den Siebenjährigen Krieg oder den Ersten Weltkrieg, in den Mittelpunkt stellten. Von den Literaturinstanzen besonders geschätzt waren Seekriegsbücher und Romane über Jagdflieger, weil in ihnen der Heroismus des Einzelnen oder einer Gruppe dargestellt wurde. Eine weitere Gruppe historischer Kinder- und Jugendliteratur waren die völkischen Kinder- und Jugendbücher, die über das Schicksal deutscher Kolonien oder im Ausland lebender deutscher Bevölkerungsgruppen (Wolgadeutsche) berichteten. Mit Kriegseintritt erschienen eigene Heftchenreihen, z. B. Die Kriegsbücherei der deutschen Jugend (1939–1944) oder Kleine Kriegshefte (1940–1942), die über das aktuelle Geschehen an der Front berichteten (Hopster/Josting/Neuhaus 2001/2005). Auch wenn die Jugendschriftenausschüsse und andere Instanzen dem Abenteuerroman wegen dessen eskapistischer Tendenzen eher skeptisch gegenüberstanden, wurden insbesondere diejenigen Abenteuerbücher, die sich durch eine kolonialistisch-imperialistische Perspektive auszeichneten, weiterhin gedruckt. Dazu gehörten auch englischsprachige Abenteuerromane und Robinsonaden, sofern sie eine Affinität zum nationalsozialistischen Gedankengut aufwiesen oder ideologisch unverfänglich waren. Erhard Wittek, zunächst bekannt geworden mit dem als Gegendarstellung zu Erich Maria Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues (1929) konzipierten Jugendroman Durchbruch anno achtzehn (1933), verfasste unter dem Pseudonym Fritz Steuben Indianerromane über den Häuptling Tecumseh (1930–1939), die auch nach 1945 weiterhin im Buchhandel präsent waren. Obwohl die Indianer im Verständnis des Nationalsozialismus nicht zu den Ariern gehörten, heroisierte Steuben die Indianer als den Germanen

Ideologisch unverfängliche Kinderliteratur

Abenteuer- und Indianerromane

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Didaktischer Reiseroman für Kinder

Nationalsozialistische und tendenziöse Kinder- und Jugendliteratur

Propagandaliteratur

ebenbürtige Rasse, die mit ihrem Kampfesmut, Führerkult und Heldentum dem nationalsozialistischen Menschenbild entsprachen. Um die Heimatliebe zu fördern und zugleich Sachwissen über Deutschland zu vermitteln, griff man das bereits in der Weimarer Republik etablierte Genre des didaktischen Reiseromans auf, das auf Selma Lagerlöfs schwedischen Kinderklassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (1906/07) rekurriert. Bis 1944 erschienen mehr als zehn Romane, die von einer phantastischen Reise eines Kindes durch einen deutschen Landstrich (Niedersachsen, Bayern, Schleswig-Holstein u. a.) berichten. Am bekanntesten dürfte Tamara Ramsays Wunderbare Fahrten und Abenteuer der kleinen Dott (1938–42) sein, das eine Reise durch Brandenburg schildert. Die im engeren Sinne durch faschistisches Gedankengut geprägte Kinderund Jugendliteratur nimmt nur einen Bruchteil der Gesamtproduktion ein. Die Verquickung gegenläufiger Tendenzen, rückwärtsgewandter Germanenkult auf der einen Seite sowie progressiver Technikkult auf der anderen Seite, weist die entsprechenden Werke als Vertreter einer „reaktionären Moderne“ (Nassen 1987) aus. Neben der Agitationsliteratur, die oft im hagiographischen Stil verfasst war und eine Identifikation der Leserschaft mit dem Regime und der nationalsozialistischen Ideologie intendierte (Biographien über Hitler und seine Mitarbeiter, Bücher über die Hitlerjugend), wurde eine emotionale Bindung vor allem durch die „Erlebnisbücher“ angestrebt, die über Arbeitsdienst, Lager und Fahrten der Hitlerjugend, Pimpfe und Hitlermädel berichteten und entsprechende Tugenden (Kameradschaft, Treue, Opferbereitschaft) propagierten. Dieser Kategorie kann man viele Werke von Hans Baumann und Alfred Weidenmann, dessen Roman Jungzug 2 (1935) den Hans-Schemm-Preis erhielt, zuordnen. Vergleichbare Tendenzen lassen sich auch im Bereich der Mädchenliteratur und des Bilderbuches beobachten. Während im „Jungmädchenbuch“ Tugenden wie Opfer- und Einsatzbereitschaft mit einer Blut-und-Boden-Ideologie vermischt wurden, nutzte man das Bilderbuch vor allem, um die Zielgruppe der Klein- und Vorschulkinder ideologisch zu beeinflussen. Neben Natur- und Heimatliebe standen deshalb auch rassistisches Denken und Führerkult im Vordergrund, was sich insbesondere an den tendenziösen Bilderbüchern von Elvira Bauer: Trau’ keinem Fuchs auf grüner Heid, trau’ keinem Jud bei seinem Eid (1936) und Ernst Hiemer: Der Giftpilz (1938) veranschaulichen lässt, die von einer perfiden Rassenideologie geprägt waren. Als Klassiker der nationalsozialistischen Propagandaliteratur etablierte sich Karl Aloys Schenzingers bereits 1932 publizierter Roman Hitlerjunge Quex, der im Auftrag des HJ-Führers Baldur von Schirach verfasst wurde und zunächst als Fortsetzung im Völkischen Beobachter erschien. Unterstützt wurde die weitreichende Wirkung dieses Buches durch die gleichnamige Verfilmung (mit dem Untertitel: Vom Opfergeist der deutschen Jugend) aus dem Jahr 1933, die mit hohem technischen Aufwand produziert wurde und mit geschickt arrangierten filmästhetischen Mitteln den Opfertod der Hauptfigur stilisiert. Im Gegensatz zu Schenzingers Roman, der an die Tradition des Entwicklungsromans anknüpft und durchaus literarischen Ansprüchen genügt, war die überwiegende Mehrzahl der Propagandaliteratur für Kinder und Jugendliche von minderwertiger Qualität. Die entsprechenden Werke

6. Nationalsozialismus und Exil

wurden von den Literaturinstanzen wegen ihrer Unglaubwürdigkeit kritisiert und als Konjunkturliteratur abgewertet. Auch wenn sich die Kritiker hinsichtlich der Bewertung der ideologisch angepassten oder nationalsozialistischen Kinder- und Jugendliteratur teilweise uneinig waren und zu widersprüchlichen Urteilen kamen, ist festzuhalten, dass es den entsprechenden Institutionen nicht gelungen war, eine nachhaltig wirksame und anspruchsvolle Propagandaliteratur für Kinder und Jugendliche zu fördern. Ästhetisch ansprechende Werke wurden dagegen von Autoren und Autorinnen verfasst, die aus rassistischen oder politischen Gründen verfolgt und deren Werke verboten wurden. Hierzu gehören die deutsch-jüdische Kinderund Jugendliteratur, die kinderliterarischen Werke von Autoren, die man der Inneren Emigration zurechnet, und die Exilliteratur für Kinder und Jugendliche. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten kam es zu einem Bruch in der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendliteratur. Die Trennung von deutscher und jüdischer Kultur führte zur Schaffung einer staatlich kontrollierten Ghettosituation, die Autoren, Verlage und Buchhändler gleichermaßen betraf. Ab 1935 durften Kinderbücher jüdischer Autoren nur noch in jüdischen Verlagen publiziert werden, 1938 wurden alle jüdischen Verlage aufgelöst, ab 1940 alle jüdischen Schriften generell verboten. Politische Verfolgung und ökonomische Probleme erschwerten darüber hinaus die Schaffung und Verbreitung jüdischer Kinder- und Jugendbücher. Die Konfrontation mit den neuen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten veranlasste daraufhin viele Autoren, sich vom Akkulturationskonzept zu verabschieden. Kinder- und Jugendliteratur diente jetzt nicht mehr vorrangig dazu, zur deutsch-jüdischen Identitätsstiftung beizutragen, sondern sollte stattdessen den Selbstbehauptungswillen stärken. Um diese Kehrtwendung zu unterstützen, entstanden Kinder- und Jugendbücher, die sich auf die Vermittlung von Wissen über die jüdische Kultur und Religion konzentrierten (Leo Hirsch: Das Lichterhaus im Walde, 1936), sozialutopische Gegenentwürfe zur nationalsozialistischen Ideologie entwickelten (Bernhard Gelbart: Die Jungen vom „Gusch“, 1936) oder die Leserschaft auf den Gedanken der Emigration vorbereiteten (Miriam Singer: Benni fliegt ins Gelobte Land, 1936) (Völpel/Shavit 2002). Anfänglich hielten sich neo-orthodoxe, liberaljüdische und zionistische Bestrebungen die Waage. Die beiden ersten Richtungen wurden jedoch zunehmend durch zionistische Verbände zurückgedrängt, so dass seit Mitte der 1930er Jahre zionistisch geprägte Kinder- und Jugendbücher dominierten (Salo Böhm: Helden der Kwuzah, 1935; Ludwig Strauß: Die Zauberdrachenschnur, 1936). Hierzu zählen auch einige Photobilderbücher, die Kindern und Jugendlichen einen anschaulichen Eindruck vom Leben in Palästina vermitteln sollten, um die von zionistischen Kreisen gewünschte Entscheidung zur Auswanderung zu erleichtern (Hans Casparius: Das Palästina-Bilderbuch, 1934). Eine verdeckte Kritik an der politischen Situation in Deutschland erlaubten sich nur wenige Autoren, wie etwa Hans-Martin Schwarz in Einer wie du und ich (1937) und Meta Samson in Spatz macht sich (1938). Samsons Mädchenbuch wurde zwar noch gedruckt, durfte aber nicht mehr im Buchhandel vertrieben werden. Trotzdem wurde das Buch heimlich verkauft und weitergereicht und gehört folglich zur deutsch-jüdischen Untergrundliteratur, der man auch die Neuinsze-

Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Kinderliteratur der „Inneren Emigration“

Kinderliteratur des Exils

nierung des Theaterstücks Emil und die Detektive (1943) durch Hardy Plaut und die von Adolf Hoffmeister in tschechischer Sprache verfasste Kinderoper Brundibár (Musik von Hans Krása, 1938; seit 1942 in Theresienstadt mehrfach aufgeführt) zuordnen kann. Die zunehmenden Repressalien gegen die Juden löste eine Emigrationswelle unter jüdischen Künstlern aus, die ihre späteren Werke dann im Exil verfassten. Nur wenige von ihnen kehrten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Deutschland zurück. Aus politischer Überzeugung entschied sich die Mehrzahl für eine Übersiedlung in die DDR (u. a. Bertha Lask, Auguste Lazar, Max Zimmering). Diejenigen jüdischen Autoren, die nicht mehr rechtzeitig das Land verlassen konnten (1941 wurde ein Auswanderungsverbot ausgesprochen), wurden deportiert und ermordet, darunter Ilse Herlinger, Josefa Metz, Meta Samson und Else Ury, sofern sie nicht abtauchen und in der Illegalität überlebten konnten (wie etwa Ralph Giordano). Autoren, die nicht ins Exil gingen, aber auch nicht bereit waren, sich dem Regime anzudienen, wurden oft mit Publikationsverbot bestraft, darunter auch Erich Kästner, dessen Kinderbücher nach 1933 nur in der Schweiz verlegt werden konnten. Einige vom Publikationsverbot betroffene Autoren veröffentlichten ihre Werke unter Pseudonym. So verfasste Erich Kästner unter dem Namen „Berthold Bürger“ Theaterstücke und Filmdrehbücher. Die von der Gestapo inhaftierte Autorin Anni Geiger-Gog arbeitete nach ihrer Freilassung beim Franckh-Verlag und veröffentlichte dort mehrere Kinderbücher unter dem Pseudonym „Hanne Menken“ (Josting, in Wild 2008). Auch der Illustrator Erich Ohser, der sich wegen seiner politischen Karikaturen bei den Nationalsozialisten unbeliebt gemacht hatte und deswegen nicht Mitglied der Reichsschrifttumskammer werden durfte, konnte seine Bildergeschichten Vater und Sohn (1934–1937) nur unter dem Pseudonym „e.o. plauen“ in der Berliner Illustrierten Zeitung unterbringen. Wer nicht dem Publikationsverbot unterlag, verdiente sich seinen Unterhalt mit unverfänglichen, der Unterhaltung dienenden Schriften, um nicht den Maßnahmen der Zensurbehörde ausgesetzt zu sein. Dennoch gelang es einigen Autoren, sublime Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland in ihre kinderliterarischen Werke zu integrieren (Hans Fallada: Geschichten aus der Murkelei, 1938; Erich Kästner: Emil und die drei Zwillinge, 1934). Die meisten Autoren, die man der Exilliteratur zurechnet, verließen bereits 1933 Deutschland, weil sie wegen ihrer jüdischen Herkunft oder Mitgliedschaft in der SPD, KPD oder nahestehenden Organisationen Repressalien ausgesetzt waren. Viele flohen zunächst in die Nachbarländer (Niederlande, Belgien, Frankreich, Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei, Dänemark). Als diese Länder von den Nationalsozialisten besetzt wurden, flüchteten die Exilanten nach England, Schweden, Spanien, Russland, China, Südamerika (Mexiko, Argentinien) und die USA. Das Spektrum der Exilliteratur für Kinder und Jugendliche umfasst alle Gattungen und Genres. Die Exilthematik, die Darstellung der politischen Situation in Europa und ein Appell zum Pazifismus tauchten zwar in vielen Werken auf, waren aber nicht in allen Kinderund Jugendbücher, die in der Zeit nach 1933 im Exil verfasst wurden, vertreten. In der Forschung herrscht bislang noch kein Konsens hinsichtlich der Eingrenzung des Begriffs „Exilliteratur“, aber es können mehrere Kategorien unterschieden werden (Josting, in Wild 2008). Die erste Kategorie umfasst

6. Nationalsozialismus und Exil

alle kinderliterarischen Werke, die im Exil entstanden und veröffentlicht worden sind, wie etwa Bertolt Brechts Kinderlieder (aus dem Zyklus Svendborger Gedichte, 1939), Irmgard Keuns Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936), Auguste Lazars Sally Bleistift in Amerika (1935), Erika Manns Muck der Zauberonkel (1934) oder Alex Weddings Das Eismeer ruft (1938). Hierunter fallen auch alle Werke, die von den Autoren in der Sprache des gewählten Exillandes geschrieben wurden, z. B. Erika Mann: A Gang of Ten (1942; 1989 erstmals auf Deutsch unter dem Titel Zehn jagen Mr X erschienen) oder die Bilderbücher von Bettina Ehrlich, sowie die Kinderbücher, die zuerst in Übersetzung erschienen sind: Anna Maria Jokls Die wirklichen Wunder des Basilius Knox (1935; dt. 1948) und Max Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel (1936; dt. 1954) wurden zuerst auf Tschechisch ediert, die deutsche Version erschien erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges bei ostdeutschen Verlagen. Eine weitere Kategorie umfasst alle Kinder- und Jugendbücher, die zwar im Exil geschrieben, aber erst in der Nachkriegszeit publiziert wurden, u. a. Anna Maria Jokls Die Perlmutterfarbe (1937 entstanden, 1948 veröffentlicht) und Mascha Kalékos Kindergedichte, die 1961 unter dem Titel Der Papagei, die Mamagei und andere komische Tiere veröffentlicht wurden. Viele Manuskripte von Exilautoren wurden mit einer großen zeitlichen Verspätung veröffentlicht, wie man beispielhaft an Ruth Rewalds Vier spanische Jungen (entstanden 1938, 1987 veröffentlicht) oder Margarete Steffins Kindergeschichten (entstanden 1940; veröffentlicht 1991) sehen kann. Darüber hinaus kann man noch weitere Unterscheidungen treffen: Werke, die noch in Deutschland verfasst, aber erst im Exil veröffentlicht wurden, sowie Werke, die bis 1933 in Deutschland publiziert, danach aber nur in Exilverlagen verlegt wurden (das trifft auf die Kinderbücher von Felix Salten oder Lisa Tetzner zu). Nicht zu vergessen ist die relativ große Anzahl an Autoren, die als Kinder ins Exil gingen und ihre Exilerfahrungen erst Jahre, zuweilen sogar Jahrzehnte später literarisch verarbeiteten. Gerade diese Werke sind in der Mehrzahl nicht auf Deutsch, sondern in der jeweiligen Landessprache des Exillandes verfasst worden. Zu dieser Autorengruppe gehören u. a. Judith Kerr und Doris Orgel, die ihre Werke auf Englisch verfassten, sowie Raya Harnik und Dorit Orgad, die ihre Kinderbücher auf Hebräisch schrieben. Zu den bedeutendsten Werken der Exilliteratur für Kinder zählen Kurt Helds (d. i. Kurt Kläber) Jugendroman Die rote Zora und ihre Bande (1941) sowie die neunbändige Kinderodyssee Die Kinder aus Nr. 67 (1933–1949) von Lisa Tetzner. Beide Autoren sind aus politischen Gründen in die Schweiz geflüchtet und konnten dort ihre Werke publizieren. Held führte mit seinem Roman ein neues Thema ein: die Darstellung der Lebensverhältnisse einer Kinderbande ohne familiäre Bindungen, die durch die Schuld der Gesellschaft aus dem Gleis gerät und erst durch die Hilfe verständiger Erwachsener wieder in die Gemeinschaft integriert wird. Ein weiterer innovativer Aspekt ist die Wahl einer weiblichen Figur als Anführerin einer Kinderbande. Damit stellte sich Held gegen den von den Nationalsozialisten propagierten männlichen Führungsanspruch. Beeinflusst von der sozialistischen Arbeiterliteratur, appellierte der Autor an das Rechtsbewusstsein des Lesers und deutete Möglichkeiten des Zusammenlebens zwischen Kindern und Erwachsenen an, ohne eine Utopie zu entwerfen. Das Werk seiner Ehe-

Kurt Held und Lisa Tetzner

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

frau Lisa Tetzner ist eine kinderliterarische Darstellung der Zeitgeschehnisse, die noch während der nationalsozialistischen Herrschaft entstand. Zugleich gilt Tetzner mit ihrem Romanzyklus als Wegbereiterin der sozialkritischen realistischen Kinderliteratur. Durch den Wechsel zwischen verschiedenen Erzählformen und Genres ist ein literarisch komplexes Werk entstanden, das man als Entwicklungsroman einer Kindergruppe charakterisieren kann. Wegen der schonungslosen Darstellung der Kriegsgräuel und der antizipierenden Sicht auf das folgenschwere Ende des Krieges fand Die Kinder aus Nr. 67 in Deutschland nach 1945 lange keine Zustimmung, was auch Folgen für die Nachkriegsausgaben hatte: Eine Edition in der DDR wurde nach Erscheinen der ersten sechs Bände abgebrochen, in der ersten BRD-Nachkriegsausgabe wurde der neunte Band weggelassen. Eine vollständige Neuausgabe erschien 1990 und ermöglichte damit erst eine Neueinschätzung der bedeutenden Leistung Tetzners für die deutschsprachige Exilliteratur für Kinder.

7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980 Politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland nach 1945

Die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen mit zwei verschiedenen politischen und literarischen Kulturen hatte auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Die Publikationsmöglichkeiten waren durch Papierknappheit, die teilweise restriktive Lizenzvergabe durch die Besatzungsmächte und Zensurmaßnahmen eingeschränkt. Hinzu kamen die materiellen und seelischen Folgen des Krieges. Ältere Kinder und Jugendliche waren nachhaltig von der nationalsozialistischen Propaganda geprägt worden. Die dadurch ausgelöste Verunsicherung bewirkte einerseits die strikte Ablehnung aller Schriften, denen eine Affinität zur faschistischen Ideologie nachgesagt wurde. Anderseits wurde durch entsprechende Erlasse gefordert, dass Kindern und Jugendlichen mittels der Kinder- und Jugendliteratur demokratische und humane Werte vermittelt werden sollten. Von einem Neubeginn kann man – zumindest in den drei westlichen Besatzungszonen – nicht sprechen. Allerdings erschienen seit Ende der 1940er Jahre (die Währungsreform im Jahr 1948 führte zur Gründung zahlreicher Kinderbuchverlage) Übersetzungen englischsprachiger, französischer und skandinavischer Kinderklassiker, die die Entwicklung der modernen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland nachhaltig prägten. Hinsichtlich der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur knüpfte man zunächst an die traditionell überlieferte Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts und der Vorkriegszeit an, wobei ein gewisser literarischer Konservativismus zunächst die Oberhand behielt. Die neu publizierten Kinder- und Jugendbücher enthielten sich jeglicher politischer Stellungnahme und siedelten das Geschehen bevorzugt in zeitlos wirkenden Schauplätzen mit einer Präferenz für idyllische Szenen aus dem Dorfleben an. Hinzu kam, dass viele Autoren, die bereits vor 1945 Kinderbücher verfasst und sich damit teilweise in den Dienst der nationalsozialistische Machthaber gestellt hatten, auch in der Nachkriegszeit weiter publizieren konnten (Hans Baumann, Hertha von Gebhardt; Fritz Steuben; Alfred Weidenmann). Im Gegensatz zur Erwachsenenliteratur der unmittelbaren Nachkriegszeit erschienen kaum Kinder- und

7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980

Jugendbücher, die sich mit den Folgen der nationalsozialistischen Herrschaft und des Krieges auseinandersetzten (eine der wenigen Ausnahmen sind Walter Pollatscheks Romane 3 Kinder kommen durch die Welt (1947) und Die Aufbaubande, 1948 in der SBZ und 1949 in Westdeutschland veröffentlicht). Auch wenn auf die Zerstörung der Städte oder die Flüchtlingstrecks hingewiesen wurde, dominierte doch ein restauratives Denken, das mehr die Opferrolle als die Schuld der Deutschen betonte. Eine Sonderstellung nimmt die von Erich Kästner herausgegebene Kinderzeitschrift Pinguin (1945–1949) ein, die an die kindliche Vernunft und Solidarität mit Kindern anderer Völker appellierte und in denen Artikel zum politisch-gesellschaftlichen Zeitgeschehen abgedruckt wurden. Die Entwicklung der DDR-Kinderliteratur nahm einen anderen Verlauf. Während der Zeit der SBZ bis zur Gründung des Staates DDR im Jahr 1949 war der Buchmarkt von Übersetzungen sowjetischer Kinder- und Jugendliteratur bestimmt (Arkadi Gajdar; Valentin Katajew; Samuil Marschak; Nikolaj Ostrowskij), die auf die Anfänge der DDR-Kinderliteratur einen nachhaltigen Einfluss ausübten. In den nachfolgenden Jahren richtete sich das Augenmerk auch auf Kinderklassiker anderer osteuropäischer Länder, sofern sie den ideologischen Prämissen einer sozialistischen Erziehung entsprachen. Westeuropäische Kinderbuchautoren, wie etwa James Krüss oder Astrid Lindgren, fanden erst in den 1970er Jahren in der DDR Verbreitung (Thomson-Wohlgemuth 2009). Viele Autoren, die während der nationalsozialistischen Ära wegen ihrer politischen Gesinnung ins Exil gegangen waren und nach 1945 nach Deutschland zurückkehrten, siedelten sich in der DDR an und trugen wesentlich dazu bei, dass in der DDR an die Traditionen der proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur der 1920er und 1930er Jahre angeknüpft wurde. Viele im Exil entstandene kinderliterarische Werke wurden erneut aufgelegt oder erschienen erstmals bei einem ostdeutschen Verlag (Berta Lask, Auguste Lazar, Alex Wedding, Ehm Welk, Friedrich Wolf, Max Zimmering). Nach der Staatsgründung entstanden im Jahr 1949 zwei neue Verlage. Während die Veröffentlichungen des Kinderbuchverlags, bei dem als erstes Buch die Parabel Der verwundete Sokrates (1949) von Bertolt Brecht erschien, sich an Kinder im Vorschul- und Grundschulalter wandten, konzentrierte sich der „Verlag Neues Leben“ auf die Publikation von Jugendliteratur. Das Jahr 1949 stellte für die westdeutsche Kinder- und Jugendliteratur ebenfalls einen Wendepunkt dar. Der Hamburger Verlag Oetinger veröffentlichte den phantastischen Roman Pippi Langstrumpf (schwed. EA 1945) der Schwedin Astrid Lindgren, der zunächst – wie in Schweden – wegen des aufmüpfigen Verhaltens der Hauptfigur eine heftige Kontroverse unter Pädagogen und Literaturkritikern auslöste, langfristig aber Einfluss auf die Konzeption eines neuen Kindheitsbildes und Erziehungsideals nahm. Erich Kästners Das doppelte Lottchen (1949) griff zum ersten Mal nicht nur das Tabuthema Scheidung und dessen Auswirkungen auf die kindliche Psyche auf, sondern betonte zugleich, dass Kinder und Erwachsene als gleichberechtigte Partner agieren sollten. Während die Handlung in diesem Roman nicht explizit auf die Nachkriegszeit eingeht, entwickelte Kästner in Die Konferenz der Tiere (1949, mit Illustrationen von Walter Trier) eine politische Utopie, die direkte Bezüge zur Zeitgeschichte (Kalter Krieg, UN-Konferenzen) aufweist und den

Die Anfänge der DDR-Kinderliteratur

Astrid Lindgren und Erich Kästner

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Blütezeit kinderliterarischer Phantastik

Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Fragen

Tieren sowie den Kindern die Rolle als Friedensbringer und Hoffnungsträger zuordnet. Die 1950er Jahre waren in Westdeutschland durch divergierende pädagogische Konzepte bestimmt. Joseph Antz und Anna Krüger setzten sich für das „gute Jugendbuch“ ein und entwickelten ein Konzept, das sich gegen die Psychologisierung der Kinder- und Jugendliteratur richtete. Zugleich wurde eine „Schmutz- und Schundkampagne“ gegen die beliebten Comics und Heftchenreihen initiiert. Aber ebenso nahmen neue Trends in der Kinderpsychologie und ein freieres Erziehungsideal (A.S. Neill) Einfluss auf die Kinderund Jugendliteratur. Mit dem Rückgang der zivilisatorischen Funktionen und der Zunahme des unterhaltenden Charakters der Kinder- und Jugendliteratur deutet sich ein tiefgreifender Wandel an. Die Zeit von Mitte der 1950er Jahre bis Ende der 1960er Jahre kann als eine wichtige Phase kindgemäßer Kinderliteratur, die an die Weltsicht und Erlebnisperspektive des Kindes anknüpft, eingestuft werden (Ewers 1995). Die bereits von der Romantik geforderte Autonomie der Kindheitsphase und die Vorstellung eines kindlichen Freiraums setzten sich in einem Großteil der Kinder- und Jugendliteratur durch. Das moderne Erziehungskonzept, das von der Vorstellung der kindlichen Entwicklung als einem organischen Reifungsprozess ausgeht, führte zu einer Anerkennung des besonderen Status der Lebensphase Kindheit, die u. a. durch rege Spiel- und Phantasietätigkeit gekennzeichnet ist. Diese Tendenz zur Entdidaktisierung bewirkte den Aufstieg des bisher von Kritikern und Pädagogen wenig geschätzten Genres der phantastischen Erzählung in Deutschland. Vorbereitet durch die Übersetzungen englischsprachiger und skandinavischer Kinderklassiker kam es Ende der 1950er bis Mitte der 1970er Jahre zu einer ersten Blütezeit der deutschen kinderliterarischen Phantastik. An dieser waren in der BRD die Autoren Michael Ende (Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, 1960; Momo, 1973), James Krüss (Timm Thaler oder das verkaufte Lachen, 1962), Paul Maar (Eine Woche voller Samstage, 1973) und Otfried Preußler (Die kleine Hexe, 1957; Krabat, 1974) maßgeblich beteiligt. In der DDR zählten hierzu vor allem die Werke von Peter Hacks (Das Windloch, 1956) und Peter Abraham (Das Schulgespenst, 1978). Mit der Forderung nach Berücksichtigung der kindlichen Alltagswelt und Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte zeichnete sich im Kinder- und Jugendroman ein Wandel ab, indem vermehrt auf politische Probleme eingegangen wurde (Heinrich Maria Denneborg: Jan und das Wildpferd, 1957; Karl Bruckner: Sadako will leben, 1961). Mit seinem auf Helgoland spielenden Hummerklippen-Zyklus, beginnend mit Der Leuchtturm auf den Hummerklippen (1956), kreierte James Krüss über mehrere Jahrzehnte hinweg ein umfangreiches, 16 Bände umfassendes Werk, das nicht nur den jeweiligen Zeitgeist widerspiegelt, sondern sich auch durch eine Diversifizierung der Themen und Genres auszeichnet. Nachdem mit dem Tagebuch der Anne Frank (1947; dt. 1950), Clara Asscher-Pinkhoffs Sterrekinderen (Sternkinder 1946; dt. 1961) und Michel del Castillos Tanguy (Elegie der Nacht, 1957, dt. 1958) die Darstellung der Shoah Eingang in die internationale Kinder- und Jugendliteratur gefunden hatte, veröffentlichten auch deutschsprachige Autoren Kinder- und Jugendbücher, die sich mit der Judenverfolgung, der Verfolgung der Roma und Sinti und den Folgen des Zweiten Weltkrieges

7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980

befassten (Hans Peter Richter: Damals war es Friedrich, 1961; Ursula Wölfel: Mond, Mond, Mond, 1962; Winfried Bruckner: Die toten Engel, 1963; Willi Fährmann: Das Jahr der Wölfe, 1962). Die in pädagogischen und politischen Kreisen festgestellte Unwissenheit von Kindern und Jugendlichen über den Nationalsozialismus und das Erstarken neonazistischer Aktionen veranlasste die zuständigen Institutionen, den Einsatz entsprechender Bücher, die Hintergrundwissen über die jüngste Vergangenheit vermittelten, im Schulunterricht zu fördern. Im gleichen Zeitraum ist eine große Vielfalt in der Kinderlyrik zu beobachten. Neben der Vorliebe für den volkstümlichen Kinderreim ist eine Annäherung an die Naturlyrik für Erwachsene (Elisabeth Borchers; Christine Busta; Josef Guggenmos) und eine Affinität für komisch-groteske Kinderlyrik erkennbar, die Elemente der Nonsens-Poesie aufweist (Hans A. Halbey, James Krüss, Jürgen Spohn) und bewusst an die wiederentdeckten Kindergedichte von Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz anknüpft. Nach 1950 setzte sich allmählich auch eine innovative Bilderbuchästhetik durch, die durch die Verwendung verschiedener Buchformate, Layouts, Rahmengestaltungen, Typographien und künstlerischer Stile neue Wege in der Gestaltung des Verhältnisses von Text und Bild einschlug. Ein Merkmal war die Integration moderner Kunstformen (Expressionismus, Surrealismus, Pop Art), die zu einer Aufwertung des künstlerischen Bilderbuches führte. Ali Mitgutsch begründete mit Rundherum in meiner Stadt (1968) den Typus des „Wimmelbuches“. Mit der Bildermappe Alle Jahre wieder saust der Preßlufthammer nieder oder die Veränderung einer Landschaft (1973) thematisierte Jörg Müller schon sehr früh die Folgen von Umweltverschmutzung und Urbanisierung für die Natur. Janoschs Oh, wie schön ist Panama (1978) dagegen wurde durch Fortsetzungen, Remediatisierungen und Merchandisingprodukte in ein Medienverbundsystem integriert. Der Beginn einer eigenständigen Jugendkultur zeichnete sich bereits Mitte der 1950er Jahre ab, als einerseits kommerzielle Zeitschriften, wie Bravo (1956 ff.) und Twen (1959–1971), für diese Zielgruppe auf dem Markt lanciert wurden, andererseits die amerikanischen Kultromane der Beat-Generation in deutscher Übersetzung erschienen. Obwohl Jerome Salingers The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen, 1951, dt. 1956) in einer eher biederen Übersetzung erschien, löste er in Deutschland ein anhaltendes Interesse an Romanen für junge Erwachsene aus, die man zunächst als „Jeansliteratur“ bezeichnete, für die sich dann in den 1980er Jahren der Begriff „Adoleszenzliteratur“ durchsetzte. Nach dem Vorbild der amerikanischen Adoleszenzromane wurden seit den 1970er Jahren sowohl in der BRD als auch in der DDR Werke für die Zielgruppe der 15–20-Jährigen verfasst. So entwickelte sich etwa Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W (1973) zu einem Kultbuch in beiden deutschen Staaten. Weitere wichtige Romane sind Leonie Ossowskis Die große Flatter (1977) und die in der DDR publizierten Werke Das Klassenfest (1969) von Uwe Kant, Den Wolken ein Stück näher (1971) von Günter Görlich und Trampen nach Norden (1975) von Gerhard Holtz-Baumert. In der DDR waren die 1950er Jahre vor allem durch ideologische Erzählungen für Kinder und Jugendliche bestimmt, die sich mit ihrem aufklärerischen Gestus den Statuten/Ideen des aufzubauenden sozialistischen Staates

Kinderlyrik

Neue Bilderbuchästhetik

Jugendkultur und der Adoleszenzroman für junge Erwachsene

DDR-Kinderliteratur der 1950er und 1960er Jahre

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

anpassten (Richter 1990, 1995). Nach dem Erlass des Gesetzes über die „Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik“ (8. Februar 1950) suchten staatliche Institutionen durch Preisausschreiben und andere Fördermaßnahmen Autoren zum Verfassen ideologiekonformer Kinder- und Jugendbücher anzuregen. Die meisten dieser kinderliterarischen Werke folgten festgelegten Mustern, wobei die Kinderfiguren entweder Mitglied einer Gemeinschaft sind oder in ihrer Funktion als Außenseiter wieder ins Kollektiv eingegliedert werden (Horst Beseler: Die Moorbande, 1952; Ilse Korn: Mit Bärbel fing es an, 1952; Benno Pludra: Sheriff Teddy, 1956). Mit wenigen Ausnahmen wurden ausschließlich positive Kindergestalten präsentiert, die mehr noch als viele Erwachsene das Idealbild eines dem Sozialismus verpflichteten Menschen verkörperten. Die Anpassung an die literarische Strömung des sozialistischen Realismus bedingte, dass phantastische Kinderliteratur, aber auch Kriminalliteratur für Kinder und Jugendliche wegen ihrer vermeintlichen eskapistischen Tendenzen und ihrer Affinität zur Massenliteratur vehement abgelehnt wurden (Löwe 2011; Roeder 2006). Dennoch erschienen in diesen Jahren auch Kinder- und Jugendromane, die sich durch einen kritischen Blick auf die Gesellschaft auszeichneten, wie etwa Erwin Strittmatters Tinko (1954) oder Ludwig Renns Trini (1954). Mit dem Faschismus und dessen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft befasste sich die DDR-Kinderliteratur – im Gegensatz zur Entwicklung in der BRD – bereits seit Beginn der 1950er Jahre. Neben Horst Beselers Käuzchenkuhle (1965) sind hierbei vor allem Die erste Reihe (1951) von Stephan Hermlin, Die Abenteuer des Werner Holt (1960) von Dieter Noll, Tambari (1969) von Benno Pludra und Das Mädchen hieß Gesine (1960) von Karl Neumann zu nennen. Der in ihnen angedeutete Widerspruch zwischen staatlicher Propaganda und den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen veranschaulicht zugleich, dass es zuweilen möglich war, kritische Aspekte in Kinder- und Jugendbüchern aufzugreifen, während dies von den Zensurbehörden in der Erwachsenenliteratur nicht geduldet wurde (Dolle-Weinkauff/Peltsch, in Wild 2008). Das Zusammenspiel von kulturpolitischer Reglementierung, und künstlerischer Tätigkeit, Verlagspraxis und Literaturvermittlung zeigt sich deutlich bei der Besinnung auf das sogenannte „kulturelle Erbe“ in den 1960er Jahren, als man sich auf antike Mythen, überlieferte Sagen (Nibelungenlied; Reineke Fuchs) und Werke der Weltliteratur (William Shakespeare) besann und diese in adaptierter Form Kindern und Jugendlichen zu vermitteln suchte (Gerhart Holtz-Baumert, Franz Fühmann, Werner Heiduczek, Hannes Hüttner). Viele kinderliterarische Werke von DDR-Autoren wurden – ebenso wie Märchen – von den DEFA-Filmstudios umgesetzt (Das kalte Herz. 1950. Regie: Paul Verhoeven; Die Geschichte vom kleinen Muck. 1953. Regie: Wolfgang Staudte; Tinko. 1957. Regie: Herbert Ballmann). Die in Co-Produktion mit dem tschechischen Barandos-Studio entstandene Märchenverfilmung Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (1973, Regie: Václav Vorlícek) gehört bis heute zu den beliebtesten Kinderfilmen und wird alljährlich im Weihnachtsprogramm öffentlicher Fernsehsender gezeigt. Seit der ersten westdeutschen Kindersendung im Fernsehen (Fernseh-Kinderfunk mit Dr. Ilse Obrig) hat sich die Fernsehlandschaft stark verändert. Neben der Ausstrahlung von amerikanischen Fernsehserien für Kinder (Las-

7. Restaurative und moderne Tendenzen: 1945–1980

sie, 1954–1973; Fury, 1955–1960; Flipper, 1964–1966) setzten sich seit Ende der 1960er Jahren neue Konzepte durch, die auf die Verbindung von Wissensvermittlung und Unterhaltung zielten. Bahnbrechend waren hierbei die aus den USA übernommene Serie Sesame Street (1969 ff., in Deutschland seit 1973 unter dem Titel: Sesamstraße) und Die Sendung mit der Maus (ARD 1971 ff.), die sich explizit an Kinder im Vorschul- und Grundschulalter wenden. Populär sind bis heute die täglich gezeigten Gutenachtsendungen mit dem Sandmännchen (DDR seit 1959; BRD seit 1962; seit 1992 Fortführung mit dem DDR-Sandmännchen), die aus einer Kombination von Puppenspiel und Bildergeschichte bestehen. Der gesellschaftliche und kulturelle Wandel in der BRD am Ende der 1960er Jahre hatte weitreichende Folgen für den Funktionswandel der Kinder- und Jugendliteratur. Durch die Erweiterung des Literaturbegriffs wurde Kinder- und Jugendliteratur als Teil der Allgemeinliteratur anerkannt. Seit dieser Zeit wurde auch der Anspruch der pädagogischen Angemessenheit neu gedeutet. Die traditionelle erzieherische und antizipatorische Funktion wich einer neuen sozialisatorischen Aufgabe, die sich auf die Klärung der Erfahrungen und der Verständnisbedürfnisse des Kindes bezog. Der kindliche Leser sollte durch das Kinder- und Jugendbuch Einsicht in die bestehenden Verhältnisse und Gesellschaftssysteme erhalten. Kommunikatives Ziel der antiautoritären Kinderliteratur war dabei die Erfassung von Konflikten und sozialen Missständen. Die Rückkehr zur Instrumentalisierung der Kinderliteratur im Rahmen einer politisch-gesellschaftlichen Erziehung führte zur Wiederbelebung des spätaufklärerischen Modells vom literarischen Erzieher. Mit diesem emanzipatorisch-aufklärerischen Impuls näherte sich diese Kinder- und Jugendliteratur wieder der traditionellen Kinderliteratur der Aufklärung, allerdings mit dem Unterschied, dass das Kind nicht mehr als zukünftiger Erwachsener, sondern als eigenständiges, mündiges Wesen, das aktiv in die Wirklichkeit eingreifen könne, gesehen wurde (Günther Herburger: Birne kann alles, 1971; Christine Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig, 1972; Ursula Wölfel: Die grauen und die grünen Felder, 1970). Berühmtheit erlangten das 1966 gegründete GRIPS-Theater in Berlin, dessen Mitbegründer Volker Ludwig (d. i. Eckart Hachfeld) auch Kindertheaterstücke verfasste (Balle, Malle, Hupe und Arthur, 1969), und das 1973 gegründete Kindertheater „Rote Grütze“, das ebenfalls emanzipatorische und vom antiautoritären Denken bestimmte Theaterstücke inszenierte (Darüber spricht man nicht, 1973; Was heißt hier Liebe, 1976). Ebenso entstanden zu Beginn der 1970er Jahre mehrere Verlagsreihen, die sich der Verbreitung der kritisch-emanzipatorischen Kinder- und Jugendliteratur verschrieben hatten (Beltz & Gelberg; dtv junior; rororo rotfuchs). Die sozialkritisch ausgerichteten Bilderbücher (Fünf Finger sind eine Faust, 1969) bedienten sich dabei der Elemente der sozialkritischen Erwachsenenliteratur (politische Lyrik, Dokumentarliteratur). Auffällig ist bei diesen Bilderbüchern, dass die kindliche Zielgruppe in Vorworten, Klappentexten, beigelegten Blättern oder eingefügten Erzählerkommentaren zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Inhalt und den Bildern aufgefordert wird, um ihnen damit den Zugang zu einer mehr kritischen und souveränen Sichtweise auf die Erwachsenenwelt und die zeitgenössische Gesellschaft zu ermöglichen. Das von der Aufklärung her bekannte konventionelle Erzählmuster der Beispielgeschichte

Problemorientierte Kinder- und Jugendliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Wiederentdeckung des Märchens und der Phantastik

Wachsende Anerkennung der Kinderliteratur

erlebte als „Problemliteratur“ eine Renaissance (Max von der Grün; Peter Härtling; Hans-Georg Noack). Die emanzipatorischen Funktionen (Erweiterung des Wissens, Identitätsfindung, Einfluss auf die Lösung von Konflikten, Einsicht in politisch-gesellschaftliche Prozesse) und die von Pädagogen und Kritikern erhobene Forderung nach einem „neuen Realismus“ in der Kinderliteratur waren der Auslöser für die Integration von Tabuthemen in der Kinderliteratur (Gewalt, Tod, Sexualität, Drogen usw.). Darüber hinaus entstand eine emanzipatorische Mädchenliteratur, die sich vehement von den tradierten Rollenbildern distanzierte (Christine Nöstlinger: Ilse Janda, 14, 1974). Während der Kinder- und Jugendfilm in Westdeutschland bis zu Beginn der 1970er Jahre von Märchenproduktionen dominiert war, setzte mit Tschetan der Indianerjunge (1972, Regie: Hark Bohm) eine Hinwendung zu aktuellen Themen und zur Darstellung des kindlichen Alltags ein. Ende der siebziger Jahre wurde allerdings die bundesrepublikanische Kritik an der sozialrealistischen und problemorientierten Kinder- und Jugendliteratur immer lauter. Die dadurch ausgelöste Debatte über den ästhetischen Wert der Kinder- und Jugendliteratur leitete eine neue Phase ein, die u. a. zur Restitution des Märchens und der kinderliterarischen Phantastik führte. Unter Berufung auf Bruno Bettelheims Abhandlung The Uses of Enchantment. The Meaning and Importance of Fairy Tales (Kinder brauchen Märchen, 1976; dt. 1977) schuf Michael Ende mit Die Unendliche Geschichte (1979) einen phantastischen Roman, der mit seinen intertextuellen Anspielungen auf bedeutende Werke der Weltliteratur, den metafiktionalen Einschüben und dem Genrepluralismus als ein frühes Beispiel einer postmodernen Kinderliteratur angesehen werden kann. Dank seines Crossover-Appeals fand Endes Werk eine wachsende Zustimmung bei der erwachsenen Leserschaft und stand als erstes deutsches Kinderbuch monatelang auf der Bestenliste des Spiegel. Zur Anerkennung der Kinder- und Jugendliteratur in der BRD trugen Ende der 1970er Jahre darüber hinaus die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an Astrid Lindgren im Jahr 1978, das regelmäßige Erscheinen von Kinderliteraturkritiken in Feuilletons namhafter Tages- und Wochenzeitungen und die Aufnahme von ausgewählten Kinder- und Jugendbüchern in den Schullektürekanon bei (die Lektüre von Kinderliteratur gehört seitdem zum curricularen Standard im Deutschunterricht der Primarstufe und Sekundarstufe I).

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011 Wandel seit den 1980er Jahren

Erst mit den 1980er Jahren vollzog sich in der Kinder- und Jugendliteratur der BRD im Allgemeinen die Einführung von Formmerkmalen und Themen der Erwachsenenliteratur. Mit dazu beigetragen haben die Übersetzungen bedeutender Kinder- und Jugendbücher aus dem angloamerikanischen und skandinavischen Sprachraum, die sich durch eine zunehmende Komplexität der Themen und narrativen Darstellung auszeichnen. Die Kommentarhaltung des literarischen Erziehers wich einer Position moralischer Neutralität, die auch die Neigung zum offenen bzw. ambivalenten Schluss förderte. Wegen der Konzentration auf existentiell-philosophische Fragen und der

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

facettenreichen Beschreibung seelischer Prozesse könnte man die Haupttendenz in der Kinder- und Jugendliteratur seit Ende der 1980er Jahre (mit Vorläufern in der angloamerikanischen Jugendliteratur der 1970er Jahre) als psychologischen Realismus bezeichnen. Die kommunikativ-kognitiven Funktionen der Kinder- und Jugendliteratur bestanden u. a. darin, eine Hilfestellung bei der Erweiterung der kognitiven Kompetenz zu geben, die mündliche und schriftliche Aktivität zu stimulieren, das Vergnügen an der eigenen Imaginationsfähigkeit zu wecken, zu Denkprozessen und zur Entwicklung eigener Ideen anzuregen, eine kritische Einstellung zu den dargestellten Problemen einzunehmen und sich in die Perspektive oder Gefühlswelt anderer Personen hineinzuversetzen (LesnikOberstein 1994). Mit diesem Prozess geht die Aufgabe einher, dem zunächst unwissenden Leser Kenntnisse über das Phänomen „Literatur“ zu vermitteln. Ihre pädagogische Funktion wird dadurch nicht aufgehoben, aber neu gewertet, nämlich als inner-literarische Leistung für das gesamte Literatursystem, d. h. als ästhetisch-literarische Sozialisation. Damit erhöhen sich auch die ästhetischen Anforderungen an die Kinder- und Jugendliteratur. Die zunehmende Komplexität der modernen Kinder- und Jugendliteratur, die durch die Integration erwachsenenliterarischer Genres (Adoleszenzroman, Science-Fiction) und Erzählformen zustande kommt, führte seit Ende der 1970er Jahre (in den USA und England bereits in den 1950er Jahren) zu einer Dichotomisierung in „einfache“ Kinder- und Jugendliteratur, wozu neben der Kleinkindliteratur auch die Trivialliteratur und die Leseanfängerliteratur gehören, und eine künstlerisch anspruchsvolle Kinder- und Jugendliteratur, die von ihren Lesern ein hohes Maß an literarischem Vorwissen und kognitiver Aufmerksamkeit verlangt. Bei der Einstiegsliteratur für Kleinkinder (Vorläufer gibt es bereits seit der Jahrhundertwende) standen zunächst eher kognitive als ästhetische Aspekte im Vordergrund. Das Frühe-Konzepte-Buch übernimmt dabei die kommunikativen Funktionen des Wiedererkennens und Benennens von bildlich dargestellten Gegenständen (Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2011). Durch das Konzeptebuch, das Wimmelbuch und einfache Bildergeschichten wird der kindliche Betrachter an einfache Erzählstrukturen und das Konzept „Geschichte“ herangeführt. Angeregt durch den pädagogischen Ansatz des spielerischen Lernens erlebten die Spielbücher eine Renaissance. Neben den bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Typen des Leporellos, des PopUp-Buches und der Bücher mit integrierten Spielen (Puzzle, Rätsel, Ausschneidebogen) findet man Klappbilderbücher und Kombinationen von Buch und beigelegtem Stoffspielzeug vor. Die Rücksichtnahme auf die begrenzten Fähigkeiten des literarisch unerfahrenen Kleinkindes, die bereits ansatzweise in der Romantik gefordert wurde, verlangte von der für diese Zielgruppe bestimmten Kinderliteratur besondere literarische Eigenschaften. Die geforderte „Einfachheit“ bezieht sich auf alle literarischen Elemente wie Thematik, Figurendarstellung, Erzählweise oder Sprache. Die Leseanfängerliteratur, die in eigenen Verlagsreihen erscheint („Leserabe“ bei Ravensburger, „Leselöwe“ bei Loewe, „Laterne, Laterne“ bei Oetinger), nimmt Rücksicht auf die begrenzte literarische Kompetenz des Lesers und soll zugleich den Einstieg in den Lese-Erwerb erleichtern. Mit wenigen Ausnahmen (z. B. Kirsten Boie: Lena-Serie, 1994 ff. und King Kong-Serie,

Dichotomisierung in einfache und ästhetisch komplexe Literatur

Literatur für Kleinkinder

Leseanfängerliteratur

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Der psychologische Kinderroman

Annäherung an die Erwachsenenliteratur

1989 ff.; Christine Nöstlinger: Geschichten vom Franz, 1984 ff.; Paul Maar: Das kleine Känguruh auf Abenteuer; 1989 ff.) zeichnet sich diese Literatur durch ihre didaktische Orientierung aus. Der wachsende Markt der Leselern-Reihen findet seinen Nachhall in der zeitgenössischen Gestaltung von Schullesebüchern, bei denen die Abkehr von phonetisch basierten Leselerntexten zugunsten einfacher kinderliterarischer Texte zu erkennen ist. Die bereits in der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1950er Jahren anklingende Tendenz zur Wahrnehmung kindlicher Interessen und zur Darstellung aus der Perspektive des Kindes setzte sich nicht nur in der modernen Jugendliteratur, sondern auch in der Kinderliteratur, insbesondere im „psychologischen Kinderroman“ (Steffens 1998) durch. Namhafte Vertreter sind u. a. Kirsten Boie (Paule ist ein Glücksgriff, 1985) Peter Härtling (Ben liebt Anna, 1979) und Gudrun Mebs (Das Sonntagskind, 1983), die sich von den Vorgaben des problemorientierten Romans zugunsten einer Darstellungsweise lösten, die sich mehr auf das Innenleben der Figuren konzentrierte und zu einem offenen Ende tendierte. Diese Aspekte lassen sich nicht nur im realistischen Kinder- und Jugendroman, sondern auch in der kinderliterarischen Phantastik beobachten (Benno Pludra: Das Herz des Piraten, 1985; Cornelia Funke: Herr der Diebe, 2000). Die damit einhergehende Komplexität und der Anspruch auf künstlerische Autonomie leitete einen Formen- und Funktionswandel ein, der in der Erwachsenenliteratur bereits im 18. Jahrhundert stattgefunden hat. Es sind keine deutlich konturierten Erziehungsvorstellungen mehr erkennbar. Stattdessen wird der modernen Kinder- und Jugendliteratur die Funktion zugeschrieben, im Sinne der literarischen Enkulturation mit den poetischen Regeln und Genres vertraut zu machen und dem Leser den Übergang zur Lektüre von Erwachsenenliteratur zu erleichtern (Ewers 2000). Die Differenz der modernen Kinder- und Jugendliteratur zur Erwachsenenliteratur zeigt sich in der Fokussierung auf die kindliche Perspektive und in der Abschwächung progressiver Elemente zugunsten konventioneller kinderliterarischer Normen. Dennoch bricht die moderne Kinder- und Jugendliteratur mit der Übernahme von Themen und Erzählstrukturen der Erwachsenenliteratur mit gängigen Vorstellungen von der literarischen Kompetenz kindlicher und jugendlicher Leser. Die komplexe Literarität verlangt vom Leser eine besondere ästhetische Rezeptionsweise, die auf einem psychologischen Interesse (Empathie, innere Selbstwahrnehmung) beruht. Tabuthemen werden mit einer Offenheit und zugleich in einer moralisch neutralen Haltung angesprochen, wie man sie bisher nur von der Erwachsenenliteratur kannte. Weitaus auffälliger ist jedoch die Komplexität der Erzählstruktur und der sprachlichen Gestaltung. Das Experimentieren mit verschiedenen literarischen Formen (Integration medialer Erzählweisen, Mischung der Genres, Verfahren der Intertextualität) wird noch durch das Phänomen der Metafiktion ergänzt. Die Thematisierung des Schreibprozesses und die Lenkung der Aufmerksamkeit des Lesers auf die Entstehung und den Aufbau literarischer Texte sind weitere Aspekte, die die Mannigfaltigkeit und erzählerische Komplexität der Kinder- und Jugendliteratur illustrieren (Beckett 1999; Nikolajeva 1996; Stephens 1998). Trotz dieser sich abzeichnenden Tendenzen konnte die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises 1988 an Gudrun Pausewangs dystopischen Roman Die Wolke (1987) wegen der darin geäu-

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

ßerten Kritik an der Atomkraftindustrie und der Verweigerung eines happy ending noch einen Skandal auslösen. Ein Paradigmenwechsel lässt sich Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre auch in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR beobachten, insofern der bis dahin dominierende optimistische Grundton einer zunehmend kritischen Haltung wich. Zugleich stand seitdem nicht mehr allein der Zusammenhalt im Kollektiv im Vordergrund, sondern der Fokus richtete sich vermehrt auf die Darstellung des Familienlebens und das Bekenntnis zu den eigenen kindlichen Wünschen und Bedürfnissen (Alfred Wellm: Karlchen Duckdich, 1979; Benno Pludra: Die Insel der Schwäne, 1980). Der sich hierbei abzeichnende kritische Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wurde sowohl in der realistischen als auch der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur gespiegelt (Alfred Wellm: Das Mädchen mit der Katze, 1983; Wolfgang Spillner: Wasseramsel, 1984; Christa Koz˙ik: Moritz in der Litfaßsäule, 1980; Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart, 1983). Trotz der Offenheit der Texte und erkennbaren Annäherungen an Themen und Erzählweisen der Erwachsenenliteratur wird Kindheit weiterhin nicht von der Erwachsenenwelt abgetrennt, sondern in die gesellschaftliche Entwicklung des Staates eingebunden. Auch wenn in entsprechenden kinderliterarischen Werken Kindern mehr Freiraum für Spiele und Kontakt mit Freunden eingeräumt wird, hielt man weiterhin am „Mythos Kind“ (Richter 1995) fest. Hier manifestiert sich ein Kindheitsbild, das für das Festhalten an sozialistischen Idealen trotz fehlender Lösungen für gesellschaftliche Probleme steht. In der Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur spielte der Fall der Mauer im Jahr 1989 insofern eine wichtige Rolle, als mit dem Ende der DDR auch die unterschiedliche Entwicklung der bundesrepublikanischen und der DDR-Kinderliteratur ein Ende fand. Dieses historische Ereignis wurde sowohl in Werken von westdeutschen Autoren (Karin König, Herbert Günther) als auch von DDR-Autoren (Gunter Preuss, Jutta Schlott, Günter Saalmann) reflektiert. Auch wenn diese sogenannte „Wende“ für die deutsche Politik und Gesellschaft von einschneidender Wirkung war, hatte sie weit weniger Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre. Zwei Faktoren bestimmen die besondere Rolle der modernen Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre. Erstens verbinden sich in ihr Elemente der literarischen Moderne und Postmoderne (z. B. mehrere Erzählebenen, Verbindung paraliterarischer, medialer und postmoderner Erzählformen, offener Schluss, Verknüpfung mehrerer Sprachstile, Darstellung eines seelischen Entwicklungsprozesses, Verbindung von Tragik und Humor). Diese Tendenz hatte u. a. Auswirkungen auf die moderne Mädchenliteratur, die sich nunmehr vermehrt von traditionellen Geschlechterrollen emanzipierte (Dagmar Chidolue: Lady Punk, 1985). Zweitens erreichte diese Literatur erstmals einen größeren Leserkreis unter den Erwachsenen und machte damit die Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur für Erwachsene salonfähig. Seit dem Hype um die Harry Potter-Romane von Joanne K. Rowling (1997–2008) bürgerten sich für die entsprechenden Werke die Begriffe „Crossover Literatur“ oder „All Age Literatur“ ein, um auf das generationen- und altersgrenzenüberschreitende Interesse an den entsprechenden Werken hinzuweisen. Ursprünglich für Kinder und Jugendliche publizierte Werke erschienen nunmehr auch in Parallelausgaben für Erwachsene, die sich oft nur durch die

DDR-Kinderliteratur seit den 1980er Jahren

Tendenzen der 1990er Jahre

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Neue hybride Genres

Crossover Literatur

Autobiographisches Erzählen

Paratexte (Cover, Untertitel) voneinander unterscheiden. Gerade der Erfolg der Harry Potter-Serie und später der Twilight-Serie von Stephenie Meyer (2005–2008) sorgte darüber hinaus dafür, dass umfangreiche, mehr als 500 Seiten umfassende Kinder- und Jugendromane von den Verlagen und Buchhandlungen nicht mehr als absatzmindernd angesehen wurden. Außerdem erlebte die phantastische Literatur für Kinder und Jugendliche in Deutschland einen Boom, der bis in die Gegenwart hinein noch nicht abgeklungen ist (mit Werken von Kirsten Boie, Cornelia Funke, Ralf Isau und Kai Meyer). Insbesondere die Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) von Cornelia Funke erzielte einen weltweiten Erfolg (siehe Kapitel V.6). Dieser Erfolg wird durch entsprechendes Merchandising und Medienverbundsysteme unterstützt, wobei insbesondere die neuen filmtechnischen Möglichkeiten (z. B. Computersimulation) dazu beitragen, die literarisch vermittelten phantastischen Welten und ihre Bewohner auf eine Weise zu visualisieren, dass damit auch neue Interessenten- und Lesergruppen erreicht werden konnten. Als neues hybrides Genre erfreut sich die Steampunk Novel, die sich durch eine Mischung aus Science Fiction, Phantastik, Abenteuerroman und historischem Roman auszeichnet, wachsender Beliebtheit. Die retro-futuristischen Romane von Richard Harland (Worldshaker-Trilogie, 2009 ff.), Philip Reeve und Peter Schwindt (Morland-Trilogie, 2010 ff.) kombinieren Science-Fiction-Elemente mit einer historischen Kulisse, wobei eine Präferenz für das viktorianische Zeitalter gezeigt wird. Die dystopischen Jugendromane von Suzanne Collins: The Hunger Games (Die Tribute von Panem, 2008–2010; dt. 2009–2011), Philip Reeve: Hungry City Chronicles (Mortal Engines. Krieg der Städte (Bd. 1), 2001–2006; dt. 2008) und Scott Westerfeld: Uglies-Quartett (Ugly – Pretty – Special, 2005–2007; dt. 2007–2011) dagegen knüpfen an Forderungen der Ökokritik an und werden deshalb auch als „eco-tragedies“ eingestuft. Mit dem Begriff „Crossover Literatur“ wird ferner darauf hingewiesen, dass sich in den seit den 1990er Jahren erschienenen Romanen, die man der Adoleszenzliteratur und der Popliteratur zuordnet, etwa Alexa Henning von Langes Relax (1998), Benjamin Leberts Crazy (1999) oder Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998), die Grenzen zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur zunehmend verwischen, was sich auch darin zeigt, dass Werke dieser Autoren und Autorinnen für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden (Baßler 2002; Gansel 2004; Wagner 2007). Die Tendenz, dass Kinder- und Jugendbücher von Autoren und Autorinnen verfasst werden, die sich als Schriftsteller für eine erwachsene Leserschaft einen Namen gemacht haben, ist zwar bereits seit der Romantik zu beobachten, nimmt allerdings seit den letzten Jahrzehnten erkennbar zu. So schreiben Irene Dische, Hans Magnus Enzensberger, Peter Härtling, Christoph Hein und Mirjam Pressler alternierend für Kinder und Erwachsene und tragen damit auch zur höheren Wertschätzung von Kinder- und Jugendliteratur bei. Die Komplexität der narrativen Erzählstrategien lässt sich besonders deutlich an Kirsten Boies Ich ganz cool (1992; vgl. Kapitel V.5) und Andreas Steinhöfels Die Mitte der Welt (1995) veranschaulichen. Beide Romane sind als Ich-Erzählungen konzipiert, zeichnen ein Bild der zeitgenössischen Gesellschaft und schrecken auch nicht vor Tabuthemen zurück. Neben einem Perspektivenwechsel weisen beide Romane ein offenes Ende auf.

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

Steinhöfels Roman, der gleichsam als moderner Bildungsroman eingestuft werden kann, ist darüber hinaus noch durch zahlreiche intertextuelle Anspielungen bestimmt (Kümmerling-Meibauer 2008b). Die Verarbeitung autobiographischer Erinnerungen, die mit fiktionalen Passagen kombiniert werden, ist ein weiteres Merkmal zahlreicher kinderliterarischer Werke seit den 1990er Jahren. In diesen „retrospektiven Romanen“, z. B. Kirsten Boies Monis Jahr (2003), Mirjam Presslers Wenn das Glück kommt, muss man ihm einen Stuhl hinstellen (1994) oder Rafik Schamis Eine Hand voller Sterne (1987), wird der autobiographische Bezug durch Namensänderungen und die Wahl einer Er-Perspektive verschleiert (Kümmerling-Meibauer 2004). Eine hohe Aufmerksamkeit erlangte die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises im Jahr 2003 an Holly-Jane Rahlens Prinz William, Maximilian Minsky und ich (2002), weil dieser Jugendroman ein beredtes Zeugnis dafür ist, dass nach vielen Jahrzehnten wieder kinderliterarische Werke jüdischer, in Deutschland lebender Autoren, die sich zudem mit der gegenwärtigen Situation jüdischer Kinder und Jugendlicher auseinandersetzen, publiziert werden. Ebenso übernimmt die Sach- oder Wissensliteratur für Kinder und Jugendliche seit den 1990er Jahren einen immer größeren Marktanteil. Neben der bereits seit Jahrzehnten etablierte Reihe Was ist Was (1966 ff.) ist ein Anstieg an anspruchsvollen und aufwändig produzierten Wissensbüchern zu verzeichnen, die oft noch durch eine beigelegt CD-ROM aufgewertet werden. Das Interesse an Sachthemen schlägt sich entsprechend in Kinder- und Jugendromanen nieder, die sich durch eine Verbindung von literarischem und dokumentarischem Erzählduktus auszeichnen (Thorsen Naeter: Die Bombe tickt, 1993; Christa Zimmermann: Die Nacht, als die Titanic sank, 1998). In diesen Kontext ist auch die zunehmende Publikation von historischen Romanen mit Bezug zur jüngeren Vergangenheit oder zur Zeitgeschichte einzubetten, so etwa Klaus Kordons „Trilogie der Wendepunkte“ über die Zeit von 1918 bis 1945: Die roten Matrosen; Mit dem Rücken zur Wand; Der erste Frühling (1994–95) oder Anne Voorhoeves Roman über die Kindertransporte jüdischer Kinder nach England: Liverpool Street (2007). Der Darstellung einer „Geschichte von unten“ sehen sich neben Klaus Kordon auch Tilman Röhrig und Arnulf Zitelmann verpflichtet, die in ihren Romanen historische Ereignisse von der Antike bis zur Französischen Revolution abdecken. Innovative Aspekte lassen sich auch im modernen Bilderbuch seit den 1990er Jahren beobachten. Der Einfluss anderer visuell geprägter Printmedien (Comic), des Films und des Computers führte dazu, dass bis dahin ungewöhnliche Perspektiven (Zoom, Camera Eye) und Bildgestaltungen (Anordnung einzelner Bilder in Form von Panels, Einfügen von Sprechblasen, Verschachtelung von Bildebenen wie bei einem Hypertext) in das Bilderbuch eindrangen. Durch die Einbeziehung des Covers und anderer paratextueller Elemente (Vorsatzpapier, Titelei) in die Bilderbuchgeschichte entstanden neue narrative Konzepte, die den Weg für das Eindringen postmoderner Erzählformen und Kunststile in das Bilderbuch ab den 1990er Jahren vorbereiteten. Bislang nur der Adoleszenzliteratur und der Literatur für Erwachsene vorbehaltene narrative Phänomene wie Metafiktion, Intertextualität, Parodie oder Selbstreferenz drangen in das Bilderbuch ein und trugen mit dazu

Sachliteratur für Kinder und Jugendliche

Neue narrative und visuelle Konzepte im Bilderbuch

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Mehrsprachige Kinderliteratur

bei, dass das Bilderbuch sich einer immer größer werdenden Rezipientengruppe öffnete. Zugleich wurden im Bilderbuch auch bislang tabuisierte Themen angesprochen (Shoah, Gewalt, Tod, Krieg), die in einem weiteren Schritt dazu führten, dass anspruchsvolle Bilderbücher sich durch einen offenen Schluss oder eine melancholische Stimmung auszeichnen. Die damit einhergehende Psychologisierung bedingte, dass die Darstellung von Emotionen und psychischen Prozessen in den Vordergrund rückte und zur Entstehung eigenwilliger Bilderbuchkreationen beitrug, die den traumartigen oder psychologischen Charakter der Szenerie betonten; ein Phänomen, das mit dem Begriff „mindscape“ oder „dreamscape“ umschrieben wird (Nikolajeva/Scott 2001). Mit der Verleihung der Hans Christian AndersenMedaille an Lisbeth Zwerger (1990), Jörg Müller (1994), Klaus Ensikat (1996) und Wolf Erlbruch (2006) wurde darüber hinaus auch international die große Bedeutung deutscher Künstler in diesem Bereich gewürdigt. Ferner werden Bilderbücher zu bekannten Spielzeugprodukten („Bob der Baumeister“, „Thomas the Tank Engine“, „American Girl“) produziert. Die Popularität von Bilderbüchern bei jüngeren Kindern macht sich auch die Filmindustrie zunutze, die seit etlichen Jahren erfolgreich Realverfilmungen oder Animationsverfilmungen von Bilderbüchern lanciert, so etwa Der kleine Eisbär (Buchfassung von Hans de Beer, 1987, Regie: Piet de Rycker, 2001) oder Die drei Räuber (Buchfassung von Tomi Ungerer, 1963, Regie: Hayo Freitag, 2007), um damit die Zielgruppe langfristig an sich zu binden. In Ländern wie den USA, der Schweiz oder Spanien, die sich durch einen hohen Migrationsanteil auszeichnen oder durch Mehrsprachigkeit gekennzeichnet sind, werden seit etlichen Jahrzehnten mehrsprachige Bilderbücher und Kinderbücher publiziert; eine Entwicklung, die mittlerweile auch in Deutschland zu beobachten ist. Hierbei handelt es sich in der Regel um parallel mehrsprachige Bilderbücher, in denen der Originaltext neben der Übersetzung in eine andere Sprache abgedruckt ist, wobei neuerdings nicht nur Prestigesprachen wie Englisch oder Französisch, sondern gezielt auch Migrationssprachen wie Türkisch, Arabisch, Koreanisch oder Russisch gewählt werden (Walid Taher: Mein neuer Freund, der Mond, 2004; Lee Tae-Jun/Kim Dong-Seong: Wann kommt Mama? 2007). Für ältere Kinder und Jugendliche werden zudem gemischtsprachige Kinderbücher produziert, die sich durch einen alternierenden Wechsel von zwei bis zu vier Sprachen auszeichnen (Anja Tuckermann: Ein Buch für Yunus, 1997). Ziel dieser mehrsprachigen Bücher ist es u. a., diese im Kindergarten oder in der Schule einzusetzen, um einerseits das Interkulturelle Lernen zu unterstützen, andererseits die Reflexion über Sprache und den Respekt vor anderen Sprachen zu fördern. Eine Sonderstellung nimmt die sorbische Kinder- und Jugendliteratur ein, die von Autoren wie Jurij Brezan (Die Abenteuer des Kater Mikosch, 1967; Die schwarze Mühle, 1968), Jan Radyserb-Wjela oder Handrij Zejler verfasst wurde. Um diese Minderheitensprache, die in der Lausitz weiterhin gesprochen wird und zur Gruppe der westslawischen Sprachen gehört, auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen, erscheinen seit den 1990er Jahren zweisprachige Ausgaben von kinderliterarischen Texten. Außerdem werden vermehrt Kinder- und Jugendbücher publiziert, die von Autoren und Autorinnen mit Migrationshintergrund verfasst werden. Obwohl Deutsch nicht ihre Erstsprache ist, schreiben

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

diese Autoren ihre Kinderbücher in deutscher Sprache, so die aus Syrien stammenden Autoren Rafik Schami (Erzähler der Nacht, 1989) und Suleman Taufiq (Oh wie schön ist Fliegen, 2001), Kemal Kurt (Die Kinder vom Mondhügel, 1997) aus der Türkei, Zoran Drvenkar (touch the flame, 2001) aus Kroatien oder Ghazi Abdel-Qadir (Die sprechenden Steine, 1998) aus Palästina. Die Konkurrenz der modernen Unterhaltungsmedien dürfte ein weiterer wichtiger Grund für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur seit den 1980er Jahren darstellen. Waren in den 1950er bis 1970er Jahren vor allem der Hörfunk und das Fernsehen die verfügbaren AV-Medien, so stehen seit den 1980er Jahren mehrere auditive, audiovisuelle und interaktive Medien zur freien Verfügung. Das Fernsehen hat sich an die gewandelten Bedürfnisse der kindlichen und jugendlichen Rezipienten angepasst, so gibt es seit 1988 die Kindernachrichtensendung logo! (ZDF), 1995 wurden die ersten Spartenkanäle für Kinder eingerichtet (SuperRTL, Nickelodeon, seit 1997 noch KI.KA) und 1998 wurde die erste Staffel der Kinder-Soap Schloss Einstein (ARD, bis heute produziert) gesendet. Obwohl das Printmedium Kinderbuch weiterhin eine prominente Rolle im Alltag des Kindes einnimmt und das Bilderbuch offensichtlich immer noch das erste Medium ist, mit dem das Kleinkind in Berührung kommt, ist die kindliche Lektüre in eine multimediale Welt einbezogen (Groeben/Hurrelmann 2002). Mit anderen Worten: außer den Printmedien Buch, Zeitschrift und Comic nehmen andere Kommunikationssysteme einen immer größeren Einfluss auf den kindlichen Medienkonsum. Mit der Erfindung und Verbreitung neuer Medien verschwinden die alten nicht, unterliegen aber einem Funktionswandel: sie büßen bestimmte Funktionen ein, übernehmen gleichzeitig aber neue. Der Wunsch nach Spannung, Unterhaltung und Abenteuer wird zunehmend durch Fernsehen, Film und Computer erfüllt. Kinder erhalten zudem durch die AV-Medien Einblick in die sie umgebende Welt, so dass sich die Medienerfahrung von Kindern und Erwachsenen angleicht. Die Debatte um den möglicherweise negativen Einfluss des Medienkonsums auf die kindliche Wahrnehmung und Entwicklung hat eine regelrechte Medienpanik hervorgerufen, die von ihrer Argumentationsweise her an die gegen triviale Kinderliteratur gerichtete „Schmutz- und Schundkampagne“ in den 1950er Jahren, die Comic-Debatte in den 1960er Jahren und die Frontstellung von Fernsehgegnern in den 1970er Jahren erinnert. Das gleichbleibende Argument vom hilflosen, passiv der Bilderflut ausgeliefertem Kind wurde erst in der Kindermedienforschung entschärft. Das von ihr in die Diskussion eingebrachte Konzept der Media Literacy oder Medienkompetenz machte auf die besonderen kognitiven Fähigkeiten, die den Umgang mit AV-Medien und interaktiven Medien verlangt, aufmerksam und thematisierte in einem weiteren Schritt die Auswirkung dieser Kenntnisse auf die Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur . Die Erweiterung des traditionellen Lese-Konzeptes auf das Verstehen von Symbolen, Bildern und Programmiersprachen mündete in ein Plädoyer für eine multimediale Erziehung des Kindes, das neben den Printmedien auch die anderen Kindermedien heranzieht. Mit diesem Ansatz versucht die Medienforschung die Tendenz, dass die Unterhaltungsfunktion zunehmend den AV-Medien und interaktiven Medien zugeordnet wird und dem Printme-

Einfluss moderner Unterhaltungsmedien

Wechselseitiger Einfluss der Kindermedien

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Serialisierung

Comics und Manga

dium Kinder- und Jugendbuch ausschließlich die Aufgabe des Lese-Erwerbs und der Vermittlung von Sachwissen vorbehalten bleibt, entgegenzusteuern. Im Hinblick auf die Kinder- und Jugendliteratur können dabei vier Aspekte der wechselseitigen Einflussnahme von Printmedium Buch und AV-Medien sowie interaktiven Medien hervorgehoben werden: Multimedialität oder Medienverbund als die gleichzeitige oder zeitlich verschobene Repräsentanz eines Mediums in mehreren Medien; Intermedialität als die Übertragung eines ästhetischen Stoffes von einem Medium in ein anderes; die Integration medialer Erzählformen in der Kinder- und Jugendliteratur und die Entwicklung neuer medialer Buchformen. Die Kommerzialisierung der Kindermedien wird besonders beim Medienverbund und dem Phänomen der Serialisierung deutlich. Bei dem nach dem Baukastensystem funktionierenden Medienverbund wird ein Leitmedium (zunächst eine Buchvorlage, seit den 1980er Jahren zunehmend auch ein Film, Comic oder Computerspiel) in andere Medien umgesetzt und gleichzeitig auf den Markt gebracht. Die kommerzielle Vermarktung von erfolgreichen Medienprodukten (Merchandising) erstreckt sich hierbei auch auf medienfremde Konsumbereiche wie Mode, Schmuck, Spielzeug, Geschirr oder Süßgkeiten. Ausgangspunkt ist seit den 1980er Jahren vorwiegend ein erfolgreicher Spielfilm oder eine Fernsehserie, die nachträglich in Buchform (TV-tie-in-novelization) erscheint (z. B. Alf, Der König der Löwen, Beverly Hills 902/10). Ein vorherrschendes Prinzip ist dabei die Serialisierung, mit dem in allen Kindermedien gearbeitet wird und das seit der Kommerzialisierung des literarischen Marktes im 19. Jahrhundert auch das Kinder- und Jugendbuch betraf. Das Serienprinzip wird in der Kinderliteraturforschung wenig beachtet und eher negativ eingestuft. Die möglicherweise positiven Konsequenzen (Wiedererkennen von literarischen Mustern und Erzählmustern) sind bislang kaum diskutiert worden. Die Serienangebote decken dabei ein weites Spektrum an Gattungen ab und richten sich an alle Altersgruppen, angefangen von Bilderbuchserien über Tierbuch-, Abenteuer- und Detektivserien bis hin zu literarischen Sitcoms und Mystery-Serien für junge Erwachsene. Eine der erfolgreichsten Jugendbuchserien ist die von Robert Arthur konzipierte Reihe Die drei ???, die erstmals 1964 in den USA erschien und vom Kosmos-Verlag übernommen wurde. Die seit 1993 von deutschen Autoren fortgeschriebene Serie umfasst mittlerweile mehr als 160 Bände und wurde durch die Reihen Die drei ??? Kids (1999 ff., für jüngere Leser) und Die drei !!! (2006 ff., für Mädchen) ergänzt. An Mädchen richtet sich die fünfbändige Serie Die Wilden Hühner (fünf Bände, 1993–2001) von Cornelia Funke über eine weibliche Kinderbande, während Joachim Masanneks Serie Die Wilden Fußballkerle (15 Bände, 2002–2012) an Jungen adressiert ist. Diese Serien wurden darüber hinaus durch einen Medienverbund (Verfilmungen, Hörspielfassungen, Merchandising) kommerziell vermarktet. Neben Serien erfreuen sich europäische und amerikanische Comics und seit der Jahrtausendwende Manga einer großen Beliebtheit unter der kindlichen und jugendlichen Leserschaft. Obwohl die ersten japanischen Manga-Serien bereits seit den 1990er Jahren auf dem deutschen Buchmarkt präsent sind (Katsuhiro Otomo: Akira, 1991–1996; Akira Toriyama: Dragon Ball, 1996–2000; Naoko Takeuchi: Sailor Moon; 1995 ff.), eroberten sie sich ihre Vormachtposition erst zehn Jahre später. So sind 2005 über 800 Manga-

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

bände in Deutschland erschienen. Der wachsenden Nachfrage kommen vermehrt deutsche Mangakünstler/-innen nach, die die Richtung der „Germanga“ begründeten (Anne Delseit, Anika Hage, Martina Peters, Christina Plaka). Von mehreren Kinderklassikern und populären Kinder- und Jugendbüchern liegen außerdem Comic-Versionen vor (Erich Kästner: Der 35. Mai, gestaltet von Isabel Kreitz, 2006; Morton Rhue: Die Welle, gestaltet von Stefanie Kampmann, 2007; Gudrun Pausewang: Die Wolke, gestaltet von Annika Hage, 2008). Weitere multimediale Produkte sind die seit Mitte der 1990er Jahre produzierten Hörbücher für Kinder, deren Texte oft von den Autoren selbst gesprochen werden, sowie moderne Kinder- und Jugendfilme, deren Drehbücher bis heute größtenteils auf kinderliterarischen Vorlagen basieren. So ist das gestiegene Interesse am deutschen Kinder- und Jugendfilm (bis 1990 wurden in der BRD lediglich 3 Kinderspielfilme im Jahr realisiert) auch den erfolgreichen Neuverfilmungen von Erich Kästnerns Kinderklassikern zu verdanken. Der Aspekt der Intermedialität steht mit einem anderen Phänomen, das die moderne Kinder- und Jugendliteratur zunehmend bestimmt, in engem Zusammenhang. Die Medien nehmen gegenseitig Einfluss aufeinander und nähern sich in ihren Darstellungsweisen an. So zeichnet sich die moderne Kinder- und Jugendliteratur ebenso wie das Bilderbuch durch die Integration medialer Erzählformen aus. Im Bilderbuch finden sich Elemente des Films, des Comics und des Computers, etwa bei Raymond Briggs, Jörg Müller und F. K. Waechter. Im modernen Kinder- und Jugendroman hat sich ein filmischer Erzählstil durchgesetzt, der sich durch wechselnde Perspektiven in Analogie zur Kameraperspektive, plötzliche Szenenwechsel und Montagetechnik auszeichnet. Seit dem neuen Jahrtausend hat sich mit dem durchschlagenden Erfolg von Brian Selznicks The Invention of Hugo Cabret (Die Entdeckung des Hugo Cabret, 2008; dt. 2009) eine neue Erzählform etabliert, die alternierend Prosa- und textlose Bildsequenzen kombiniert und Elemente des Comics und Film aufgreift (so etwa die Romane von Jeff Kinney: Gregs Tagebuch-Reihe, 2008 ff. und Chris Wooding: Malice, 2010). Die interaktiven Medien greifen bei den Abenteuerspielen (Adventure Games) auf Märchen oder Heldenepen als literarische Vorlagen zurück und übertragen dieses Genre in eine interaktive Form, indem das Erzählmuster des Märchens durch Bilder ergänzt und der kontinuierliche Erzählfluss durch Rätselaufgaben unterbrochen wird. Umgekehrt zeichnet sich das moderne Kinder- und Jugendbuch durch die Integration medialer Erzählformen aus. Im Gefolge dieser Entwicklung haben sich einige neue interaktive Kinderbuchtypen konstituiert, die als Mischformen von traditionellem Buch und interaktivem Medium anzusehen sind (Dresang 1999). Dazu gehören die Ende der 1970er Jahre in den USA und Großbritannien entwickelten Game Books oder Choose Your Own Adventure Books, die dem Leser die Wahl zwischen verschiedenen Handlungseinheiten und damit ein aktives Gestalten der Geschichte ermöglichen (Edward Packard: 1000 Gefahren-Serie, 1984 ff.; Dave Morris/Jamie Thomson: Sagaland (1997 ff.). Dieses Genre, das größtenteils durch die Abwandlung bekannter High Fantasy Stoffe in der Nachfolge von J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (Der Herr der Ringe, 1954/55, dt. 1983) bestimmt ist, hat seinen Ursprung in den Dungeons and Dragons-Rollenspielen, die 1974 von Gary Gygax und Dave Arneson in den

Integration medialer Erzählformen

Rollenspiele und Computerspiele

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IV. Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Interaktive Bücher

Hybridisierung und Digital Storytelling

USA begründet wurden. Eine Weiterentwicklung dieses transmedialen Genres stellen die phantastischen Kinderromane von Dianne Wynne Jones: Hexwood (1993), Conor Kostick: Epic (Epic, 2004; dt. 2006) oder Salman Rushdie: Luka and the Fire of Life (Luka und das Lebensfeuer, 2010; dt. 2011) dar, die die narrativen Erzähltechniken kinderliterarischer Phantastik mit denjenigen von Computerspielen und Rollenspielen verbinden. Kindercomputerspiele sind oft Remediationen von Kinderklassikern (z. B. die Kinderromane von Astrid Lindgren oder Paul Maar) oder zeitgenössischen populären Kinderbüchern (Die Wilden Hühner von Cornelia Funke). Bei den Computerspielen für Jugendliche wird zudem auf bekannte Comics (Sin City, 1989; Tomb Raider, 1996) zurückgegriffen. Der Aspekt des spielerischen Umgangs mit den Medien (edutainment) hat zwei Buchformen etabliert, bei denen der Leser mit dem Medium Computer vertraut gemacht wird. Es handelt sich zum einen um Kinderbücher mit beigefügter CD, mit deren Hilfe der Leser selbst in die Rolle der dargestellten Figuren schlüpfen kann (ein frühes Beispiel ist Frank Stiepers Die Jagd nach dem PC-Phantom, 1995), zum anderen gibt es Living Books oder Electronic Books auf CD-ROM., d. h. interaktive Bücher mit bewegten Bildern, Tonkulisse und Fenstern zum Anklicken (z. B. Lewis Carolls Alice’s Adventures in Wonderland, 1995). Eine Verschachtelung von Buch und Computer ist bei den Computerspielen Myst (1993 ff.) und Alberts abenteuerliche Reise (2000) ersichtlich. Bei diesen Spielen wird in der Intro ein geschlossenes Buch gezeigt, das durch Links geöffnet werden kann und in nicht-linearer, hypertextueller Weise Einblick in ein Tagebuch oder in verschiedene narrative Ebenen gibt. Seit einigen Jahren gibt es zudem erfolgreiche E-Books für Kinder und Jugendliche, die auf das eigene Handy oder Tablet heruntergeladen werden können (Alice for the iPad, 2010). Neben der Fortführung dieser Kindermedienvielfalt und intermedialen Verknüpfung lassen sich seit der Jahrtausendwende weitere Tendenzen in der Entwicklung medialer Formen beobachten. Eine Tendenz besteht in der zunehmenden Hybridisierung, d. h. der Kombination verschiedener medialer Inhalte und Strukturen. Die mediale Kommunikationsform MUD (Multiuser Dungeon) gewinnt allmählich an Bedeutung. Internetbenutzern ist es hierbei möglich, gemeinsam an einer bereits existierenden virtuellen Welt teilzunehmen, dort aktiv in das Geschehen einzugreifen und sich miteinander zu vernetzen. Vorbild hierfür ist das Computerspiel The Baby-Sitters Club Friendship Kits (1996 ff.), das auf der amerikanischen Buch- und Fernsehserie The Baby-Sitters Club (1986–2000) basiert. Bei diesem Spiel kann der kindliche Nutzer als eigene Figur (Avatar) in die Geschichte einbezogen werden, Mitglied im Baby-Sitters Club werden und ein eigenes Tagebuch anfertigen (Kümmerling-Meibauer 2007a). Diese neue narrative Form, die als Digital Storytelling bezeichnet wird, hat einen weitreichenden Einfluss auf die Gestaltung des Plots und der Figuren, denn das Kind kann als Avatar nicht nur die Handlung beeinflussen, sondern betrachtet die anderen Figuren und das Setting gleichsam als intradiegetische Figur aus der Innenperspektive. Der hier bereits anklingende Aspekt der interaktiven Teilnahme (Verfassen eines digitalen Tagebuches) hat auch zu entsprechenden neuen Buchkonzepten geführt, bei denen die Kinder und Jugendlichen aufgefordert werden, selbst eine Geschichte zu Ende zu erzählen oder ein Buch kreativ

8. Entwicklung neuer Themen und Formen: 1980–2011

nach Vorgaben oder eigenen Ideen zu gestalten (Keri Smith: Mach dieses Buch fertig, 2010; Danny Morgenstern: Der LiebesLebenRetter, 2011). Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen spielen das Internet und der Austausch in sozialen Netzwerken eine immer größere Rolle. Dies hat zur Etablierung von Blogs und Fan Sites geführt, auf denen die Teilnehmer/-innen eigene kreative Werke ausstellen. Es handelt sich dabei entweder um Fortschreibungen, Parodien und Neuversionen weltweit bekannter Franchises, wie etwa die Harry Potter-Romane von Joanne K. Rowling (Burn 2004), oder neu kreierte Werke, wobei Comics, Manga und hybride Textkonstruktionen überwiegen, anzutreffen sind aber auch konventionelle literarische Genres wie phantastische Romane und Erzählungen (Jenkins 2006). Auf Websites wie „deviantArt“ (USA) oder „pixiv“ (Japan) werden täglich Tausende von Bildern, (literarischen) Texten und Filmen eingestellt, die mehrheitlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen produziert worden sind. Diese Werke können von anderen Nutzern kommentiert und in manchen Fällen auch ergänzt und verändert werden, so dass sich hier eine sogenannte „kollektive Intelligenz“ bzw. „kollektive Kreativität“ zu erkennen gibt. Der damit einhergehende Wandel in der Einstellung zum Copyright und zur Autorschaft stellt nicht nur etablierte Autoren, Verlage und Produktionsfirmen vor neue Herausforderungen, sondern könnte langfristig auch zu neuartigen narrativen und visuellen Konzepten führen, wie es sich bereits im transmedialen Erzählen andeutet, d. h. der Fortführung, Ergänzung oder Kommentierung der in einem Ausgangsmedium erzählten Geschichte in einem bzw. mehreren anderen Medien. Für ein transmedial erzähltes Projekt wird z. B. auf der Grundlage eines Buches zunächst ein Film produziert, der das Interesse der Rezipienten weckt. Besonders interessierte Fans nutzen dann die begleitend produzierten Comics, Videospiele, Fernsehserien, Animes, Online-Spiele etc. und tauschen sich auf Fanseiten im Internet über Inhalte aus, regen neue mediale Umsetzungen an und stellen ihre kreativen Leistungen dann selbst wieder ins Netz (Mackey 2007). Ziel dieser Strategie ist es, einen singulären Komplex aus narrativen Strukturen zu schaffen und dadurch die Rezeption selbst zu einem besonderen Erlebnis zu machen. Im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur lassen sich erste Bestrebungen in dieser Hinsicht in den letzten Jahren beobachten, so etwa das Transmedia Storytelling Project (2011 f.) des White Ravens Festivals an der Internationalen Jugendbibliothek in München.

Fan Fiction

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. E.T.A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig (1816) Ambivalenz des Begriffs „Kindermärchen“

Inhalt

1816 erschien ein von E. T. A. Hoffmann zusammen mit Carl Wilhelm Salice Contessa und Friedrich de la Motte Fouqué initiierter Sammelband mit dem Titel Kinder-Mährchen, in dem erstmals sein Werk Nußknacker und Mausekönig abgedruckt wurde. Dieser Band gilt als erste Sammlung romantischer Kindermärchen in Deutschland. Ein Jahr später erschien ein zweiter Band, in dem u. a. Hoffmanns Kindermärchen Das fremde Kind abgedruckt wurde. Der schlichte Titel „Kindermärchen“ war zu dieser Zeit schon durch Albert Ludwig Grimms gleichnamige Märchensammlung von 1809 besetzt. Hinzu kam, dass auch die Brüder Grimm diesen Begriff bei ihrer Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen (1812–1815) verwendeten. Mit den Grimmschen Ausgaben wurde der Begriff populär gemacht und zugleich auf eine bestimmte Erzählweise, die durch Naivität, Schlichtheit und Volkstümlichkeit gekennzeichnet war, festgelegt. Hoffmann distanzierte sich mit seiner Anthologie und vor allem mit seinem eigenen Märchen bewusst von dieser Gattungstypologie und schuf einen neuen Märchentyp, der sich einerseits durch die Ambivalenz der Darstellung hinsichtlich der phantastische Ereignisse auszeichnet und andererseits die Handlung nicht mehr in ein unbestimmtes Irgendwo verlagert, sondern Einblick in den Alltag eines Kindes im städtischen großbürgerlichen Milieu zu Beginn des 19. Jahrhunderts bietet. Zugleich wird deutlich, dass Hoffmann mit dem Begriff „Kindermärchen“ eine doppelte Bedeutung intendierte. Auf der einen Seite verweist er auf die kindliche Phantasie, auf der anderen Seite fokussiert er die Darstellung der Handlung aus der Perspektive eines Kindes. Das Märchen besteht aus einer Rahmenhandlung, in die ein dreiteiliges Binnenmärchen integriert ist. Die Rahmenhandlung beginnt am Weihnachtsabend und findet ausschließlich in der Wohnung der gutsituierten Familie Stahlbaum statt. Hauptfigur ist die siebenjährige Marie, die unter dem Weihnachtsbaum einen Nussknacker findet, den sie trotz seiner Hässlichkeit gleich in ihr Herz schließt und gegen die Attacken ihres Bruders Fritz in Schutz nimmt. Als um Mitternacht alle Spielsachen lebendig werden, wird Marie Augenzeugin einer Schlacht zwischen ihren Puppen, die vom Nussknacker angeführt werden, und dem siebenköpfigen Mausekönig und seiner Mäuseschar. Marie kommt dem bedrohten Nussknacker zu Hilfe, verletzt sich dabei schwer an einer Glasscheibe und erkrankt an Wundfieber. Ihr Pate Droßelmeier erzählt ihr an drei aufeinander folgenden Abenden das „Märchen von der harten Nuß“, das aus Sicht von Marie die Vorgeschichte ihres Nussknackers berichtet: Aus Rache für die Ermordung ihrer Untertanen hatte die Mausekönigin Mauserinks einst die liebliche Prinzessin Pirlipat in ein Monster verwandelt. Der Hofastronom und der Uhrmacher Droßelmeier

E. T. A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig

erfahren durch ein Horoskop, dass nur der süße Kern der goldenen Nuss Krakatuk der Prinzessin ihr ursprüngliches Aussehen wiedergeben würde. Diese Nuss müsse aber von einem Jüngling, der sich noch nie rasiert und bislang keine Stiefel getragen habe, geknackt werden. Nach fünfzehnjähriger Suche gelangen beide Männer nach Nürnberg, wo sie nicht nur die goldene Nuss, sondern auch den Jüngling vorfinden, der ein Verwandter Droßelmeiers ist. Zwar wird Pirlipat erlöst, aber der Jüngling wird von der sterbenden Mauserinks in einen Nussknacker verwandelt. Er wird mit seinem Onkel des Hofes verwiesen und kann nur dann erlöst werden, wenn er den siebenköpfigen Sohn von Mauserinks tötet und ein Mädchen findet, das ihn trotz seiner Missgestalt liebt. – Marie schließt aus diesem Märchen, dass ihr Pate und der Uhrmacher identisch seien und dass ihr Nussknacker der verzauberte Neffe sein müsse. Um ihn vor den Angriffen des Mausekönigs zu schützen, gibt sie ihre Süßigkeiten und Spielsachen her. Dem Nussknacker gelingt es schließlich, mithilfe eines von Marie beschafften Schwertes den Mausekönig zu töten. Zum Dank schenkt er ihr die sieben Krönchen des Mausekönigs und führt sie durch einen Wandschrank ins Zuckerbäckerland, seine Residenz. Als Marie in ihrem Bett erwacht, werden die von ihr berichteten Erlebnisse als Traum gedeutet. Selbst die vorgewiesenen sieben Krönchen gelten nicht als Beweis, weil ihr Pate behauptet, sie ihr zum Geburtstag geschenkt zu haben. Marie verstummt und verfällt in Tagträume. Als sie dem Nussknacker ihre Zuneigung gesteht, verspürt sie einen Schlag und fällt vom Stuhl. Ihre Mutter eilt herbei und stellt ihr den aus Nürnberg kommenden Neffen Droßelmeiers vor. Dieser gibt sich als der ehemalige Nussknacker zu erkennen und hält um Maries Hand an. Nach einem Jahr findet die Hochzeit statt und beide ziehen ins Zuckerbäckerland. In Nußknacker und Mausekönig werden zahlreiche Themen und Aspekte angesprochen: die Beziehung eines siebenjährigen Mädchens zu seiner Familie, die Spiel- und Phantasiewelt Maries, die ambivalente Beziehung zwischen Alltagsrealität und Traum sowie die Belebung von Spielsachen. Außerdem werden mehrere Metamorphosen dargestellt, Menschen verwandeln sich in Puppen, Spielzeug nimmt menschliche Gestalt an, die Figuren im Binnenmärchen finden ihren Gegenpart in den Figuren der Rahmenhandlung, so dass sich nicht nur eine wechselseitige Spiegelung ergibt, sondern auch die Identität der Figuren in Frage gestellt wird. Durch den Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenrede, die metafiktiven Leseranreden, die widersprüchlichen Aussagen der Erzählinstanzen und den Fokalisierungswechsel ergibt sich eine Vieldeutigkeit des Geschehens, die bis zum Schluss hin anhält und auch keine endgültige Auflösung zulässt. Das von Hoffmann gewählte Genre, das Kindermärchen, wird darüber hinaus durch den Autor in seinem Märchencharakter potenziert, indem er das Hauptmärchen mit einem Binnenmärchen kombiniert. Schon zum Einstieg wählt Hoffmann ein romantisches Motiv: Das Märchen beginnt am Weihnachtsabend. Im Zuge der Idealisierung von Kindheit wird das Weihnachtsfest als Fest für Kinder zu einer Möglichkeit des nostalgischen Rückbezugs in die eigene Kindheit. Weitere Aspekte des romantischen Kindheitsbildes manifestieren sich in der Hauptfigur Marie: sie hat eine verklärte Sicht auf Alltagsgegenstände, besitzt die Fähigkeit zur Einbindung der Gegenstände in die Phantasiewelt und zu einem unbefangenen

Vielfalt der Themen in Nußknacker und Mausekönig

Idealisierung der Kindheit

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Fokussierung der Kinderperspektive

Verbindung mit der zeitgenössischen Kinderpsychologie und Pädagogik

Umgang mit dem Wunderbaren. Dennoch ist Marie kein naives Kind, sie kann ebenso wie ihr Bruder Fritz als „aufgeklärtes“ Kind betrachtet werden, denn beide sind sich bewusst, dass ihnen nicht der „liebe Heilige Christ“, sondern ihre Eltern und der Pate die Weihnachtsgeschenke bescheren. Ebenso wird betont, dass Marie sich nicht gleich den phantastischen Ereignissen hingibt, sondern die Diskrepanz zwischen realer und phantastischer Welt durchaus bemerkt: „Bin ich nicht ein töricht Mädchen, daß ich so leicht erschrecke, so daß ich sogar glaube, das Holzpüppchen da könne mir Gesichter schneiden!“ (33). Doch ihre Phantasie scheint sich nicht zähmen zu lassen, so dass sie von den außerordentlichen Ereignissen vollkommen eingenommen wird. Hoffmann stellt mit Nußknacker und Mausekönig die Wahrnehmung und Perspektive des Kindes in den Mittelpunkt, ohne sie als falsch oder naiv zu deklarieren. Das verklärte Bild der Frühromantiker differenziert Hoffmann insofern, als dass er kindlichen Phantasie ernst nimmt und zugleich ihre möglichen Gefahren beleuchtet, wie sie bereits durch Johann Gottfried Herder in seiner Vorrede zum ersten Band der Palmblätter (1786) angesprochen wurden. Einen Gegenpol zu Maries überbordender Phantasie bilden die Eltern (und später auch Fritz), die vom aufklärerischen Prinzip der Vernunft geleitet sind, obwohl die Mutter einmal zugesteht, dass es Dinge geben würde, die man mit dem Verstand allein nicht erfassen könne. Der Pate Droßelmeier nimmt eine Zwischenstellung ein. Er verkörpert sowohl die frühromantische Sehnsucht nach einer Rückkehr in die eigene Kindheit als auch die spätromantische Warnung vor den Kehrseiten der Phantasie: „Aber viel hast du zu leiden, wenn du dich des armen missgestalteten Nußknackers annehmen willst!“ (88). Die Darstellung des Alltags wird nach den Gesetzen des modernen psychologischen Realismus gestaltet, der eigentlich das Wunderbare ausschließt. Dadurch wird der Zusammenprall von Realitäts- und Märchenerfahrung mehrdeutig. Die phantastischen Ereignisse können als Traum, Einbildung, Wirklichkeit oder Bewusstseinskrise gedeutet werden. Marie wird mit beiden Erfahrungsweisen konfrontiert und gerät in einen psychischen Konflikt. Von ihr werden die Ereignisse als Wirklichkeit empfunden, von den Eltern jedoch als Fieberträume. Der Pate nimmt eine Mittlerfunktion ein, weil er noch am ehesten Verständnis für Marie zeigt. Der auktoriale Erzähler stellt sich mit seinen Kommentaren scheinbar auf die Seite Maries, tatsächlich deutet er auf den ambivalenten Status der Erzählung hin, in der sich kindliche und erwachsene Perspektive widerspiegeln. Hoffmanns Kindermärchen weist etliche Parallelen mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Kinderpsychologie und Pädagogik auf. Bereits Karl Philipp Moritz hatte in dem von ihm herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783–93) der Lebensphase Kindheit einen besonderen Stellenwert eingeräumt, indem er autobiographische Berichte über Kindheitserlebnisse und Beobachtungsstudien über Kinder abdruckte. In seinen eigenen Beiträgen verwies er auf den Einfluss des Elternhauses auf die frühe kindliche Entwicklung. Dabei betonte er die Bedeutung der kindlichen Phantasietätigkeit, weil diese nicht nur die kindliche Entwicklung fördern, sondern auch der Verarbeitung von familiären Konflikten bis hin zu traumatischen Eindrücken dienen würde. Moritz’ Ideen wurden von Dieterich Tiedemann in Untersuchungen über den Menschen (1778) sowie Jean Paul aufgegriffen,

E. T. A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig

der im dritten Kapitel von Levana oder Erziehlehre (1814) eine Theorie des kindlichen Spiels konzipierte. Tiedemann weist darauf hin, dass Kinder lange nicht – ein genaues Alter nennt Tiedemann nicht – zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden könnten und ihnen deshalb die Distinktion zwischen Imagination, Traum und Realität schwer falle. Verstärkt werde diese Tendenz bei besonders sensiblen, aber auch bei kranken Kindern (342), denen Tiedemann eine hohe poetische Einbildungskraft zuschreibt. Jean Paul wiederum vergleicht das kindliche Spiel mit der schöpferischen Kraft des Dichters und charakterisiert es deshalb als „erste Poesie des Menschen“ (603). Beim Spiel mit Puppen oder mit Gegenständen übernehme das Kind die Rolle eines „Theaterdichter(s) und Regisseur(s)“ (604). Des Weiteren führt Jean Paul aus, dass gerade der Umgang mit „toten Spielsachen“ deshalb so wichtig sei, weil diese in der kindlichen Vorstellung lebendig und sogar als menschliche Wesen wahrgenommen würden (605). Diese Fähigkeit der Projektion sieht Jean Paul als wichtigen Schritt in der Entwicklung des Kindes an, weil es ihm einen Zugang zur Sphäre der Phantasie und Imagination gewähre. Bereits im frühromantischen Diskurs über Kindheit wurde dem Kind eine besondere Affinität zur Phantasie zugesprochen (Alefeld 1996; Baader 1996; Ewers 1989). Jean Paul sieht diese Befähigung als einen Prozess an, der einem Wandel unterliegt. So ginge das symbolische Spielen mit dem fortschreitenden Alter des Kindes in ein Rollenspiel über, indem das Kind nicht mehr für sich allein spielt, sondern sich anderen Kindern zuwendet. Dadurch wandelt sich auch der Charakter des kindlichen Spiels, wobei die kindliche Phantasiewelt zunehmend durch die Beschäftigung mit der Alltagswirklichkeit in den Hintergrund gedrängt werde. Vergleichbare Ideen zur kindlichen Phantasietätigkeit und zur Bedeutung des kindlichen Spiels finden sich im 20. Jahrhundert bei Jean Piaget und Lawrence Kohlberg, wobei beide Psychologen den Übergang vom symbolischen Spiel zum Rollenspiel und damit einhergehend die Fähigkeit, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden, auf das 7./8. Lebensjahr festlegen (Schikorsky 1995). Dieser Prozess gehe mit einem auffallenden Verstummen der Kinder einher. Während sie vorher noch freimütig alle Erlebnisse, Phantasien und Träume berichten würden, entwickelten sie nunmehr eine Scheu gegenüber Erwachsenen und würden ihre Geheimnisse eher Gleichaltrigen anvertrauen. Wie man daraus ersieht, lässt sich eine Verbindungslinie von den theoretischen Überlegungen Karl Philipp Moritz’, Dieterich Tiedemanns und Jean Pauls sowie der auf den spätromantischen Kindheitsdiskurs rekurrierenden Erzählung Nussknacker und Mausekönig von Hoffmann bis hin zur modernen Kindheitspsychologie ziehen. Hoffmann zeigt folglich ein für seine Zeit ungewöhnliches Verständnis für psychische Phänomene und besaß die Fähigkeit, sie in eindringlicher Weise darzustellen (Steinlein 1999). Dieser Blick in die kindliche Seele war innovativ und wegweisend für spätere Kinderbuchautoren. Über eine Synthese dieser von einem entwicklungspsychologischen Ansatz ausgehenden Ideen der genannten Autoren hinaus stellt Hoffmann des Weiteren den Reifungsprozess eines Kindes in den Fokus. Dass es Hoffmann gelingt, Spiel- und Phantasiewelt eines Kindes in Einklang zu bringen, enthüllt sich auch bei der Reise von Marie und Nussknacker ins Zuckerbäckerland. Hier trifft Marie auf ihre eigenen Puppen und die Spielzeugsoldaten und -figuren von Fritz, die nunmehr die Bewohner des vom

Spätromantischer Kindheitsdiskurs

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Deutung des ambivalenten Schlusses

Multiperspektivität

Nussknacker regierten Puppenreiches sind. Bemerkenswert ist hierbei die synästhetische Qualität des Puppenreichs, die an Herders Bemerkungen über die sinnliche Welterfahrung des Kindes erinnert. Bei ihrem Eintritt in das Königreich des Nussknackers strömen visuelle, auditive, olfaktorische und haptische Eindrücke auf Marie ein. Mit dem Neffen Droßelmeiers hat Marie endlich einen gleichaltrigen Spielgefährten gefunden, mit dem sie ihre Märchenwelt teilen kann. Die Schüchternheit und das Erröten Maries deuten darauf hin, dass sie ihre Anhänglichkeit zum Nussknacker auf den Jungen überträgt. An die Stelle eines leblosen Spielzeuges rückt ein menschliches Wesen. Zugleich ändert sich auch das Spielverhalten Maries: hatte sie vorher immer allein mit ihren Puppen gespielt, so entwickelt sich zwischen den beiden Kindern ein Rollenspiel, d. h. die Phantasiewelt bleibt erhalten, nur ihr Stellenwert und ihre Funktion sind verändert. Diese Veränderung ist eine Möglichkeit, den ambivalenten Schluss von Nussknacker und Mausekönig zu deuten, denn über die Bedeutung des Schlussteils, ein siebenjähriges Mädchen verlobt sich mit dem Neffen Droßelmeiers und nach einem Jahr findet die Hochzeit statt, haben sich schon manche Interpreten den Kopf zerbrochen. Eine mögliche Deutung der Ereignisse wäre dann, zwei verschiedene Sichtweisen anzunehmen: Aus der Sicht der Erwachsenen ergibt sich eine Krankheitsgeschichte, aus der Sicht des Kindes ein optimistisches Märchen. Diese Ambivalenz offenbart sich auch im Schluss. Die Hochzeit und die Reise ins Zuckerbäckerland können als heiterer Märchenausgang oder als euphemistische Umschreibung einer Wahnvorstellung gedeutet werden (Ewers 1987). Diese Multiperspektivität, die sich auf alle Aspekte und Figuren des Märchens erstreckt, wird auf der Narrationsebene auf mehrfache Weise erzeugt. Anfänglich scheint es sich um einen allwissenden Erzähler zu handeln, der über die Ereignisse im Hause Stahlbaum berichtet. Mit seinen Kommentaren stellt er sich scheinbar auf die Seite Maries: tatsächlich deutet er auf den ambivalenten Status der Erzählung hin, in der sich kindliche und erwachsene Perspektive hinsichtlich der Deutung der Ereignisse die Waage halten. Das Eindringen der Mäuse und das Lebendig-Werden der Spielsachen werden zunächst so beschrieben, als würden diese Ereignisse tatsächlich stattfinden: allerdings wird im Verlauf der Schilderung durch vage Vergleiche, Vermutungen, die Verwendung von Modalverben und Konjunktiv sowie den Tempuswechsel der Wirklichkeitsanspruch des Phantastisch-Wunderbaren zurückgenommen. Da die phantastischen Ereignisse zudem in der Nacht passieren, wird angedeutet, dass es sich hierbei auch um Wahrnehmungstäuschungen oder Träume handeln könnte. Dieses Wechselspiel der Deutung der nächtlichen Abenteuer zwischen Realität und Imagination wiederholt sich mehrfach und wird noch durch die verschiedenen Figurenreden und den Fokalisierungswechsel betont. Auch die Aussagen Maries und Droßelmeiers sind zum Teil widersprüchlich: mal hält Marie daran fest, dass sich alles so abgespielt hat, wie sie es erzählt, mal äußert sie aber selbst Zweifel, indem sie überlegt, ob nicht ein Lichtschein daran schuld sei, dass der Nussknacker sie auf einmal mit seinen grünen Augen anfunkele. Ebenso verhält es sich mit Droßelmeier: so bezeichnet er die Geschichten Maries als „tollen Schnack“, wenig später spricht er von den „vierzehn Augen des Mau-

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sekönigs“, bevor Marie ihm überhaupt die Begegnung mit dem Mausekönig geschildert hat. Auf der einen Seite gibt sich Droßelmeier ahnungslos und relativiert Maries Schilderungen, auf der anderen Seite weiß er mehr, als er zugeben möchte. Auf diese Weise wird der Leser angehalten, an der Wahrhaftigkeit der Aussagen der Figuren, aber auch des Erzählers zu zweifeln, so dass sich hier Anzeichen unzuverlässigen Erzählens offenbaren. Hoffmanns Erzählweise überlässt es dem Leser, selbst über diese Fragen nachzudenken. Es bleibt offen, ob die phantastischen Ereignisse in Wirklichkeit stattgefunden haben oder nur in der Vorstellung des Kindes existieren. Immer wieder werden Phänomene rational erklärt, aber man kann nie sicher sein, ob diese Erklärungen hinreichen oder ob sie nicht gar in die Irre führen; und es bleiben stets weitere Teile, die solchen Erklärungen unzugänglich sind. Dieser Schwebezustand offenbart eine multiperspektivische Sichtweise, die dazu führt, dass das Geschehen auf mehreren Ebenen lesbar ist. Aus der Perspektive des kindlichen Lesers, der sich mit Marie identifiziert, ergibt sich ein spannendes Märchen, das mit einem harmonischen Ende ausklingt. Aus der Sicht des erwachsenen Mitlesers ergibt sich jedoch eine kindheitspsychologische Studie, dessen Ende offen ist, so dass Hoffmanns Erzählduktus dem Crosswriting, d. h. dem grenzüberschreitenden Schreiben für Kinder und für Erwachsene, zugeordnet werden kann (Grenz 1990). Die enge Verzahnung von Kind, Spielzeug und Phantasiewelt wird darüber hinaus durch die in Nussknacker und Mausekönig stattfindenden Metamorphosen thematisiert. Drei Figuren sind davon betroffen: der Nussknacker, Droßelmeier und Marie. Der Nussknacker ist im Binnenmärchen der verzauberte Neffe des Uhrmachers Droßelmeier, er ist zugleich eine Spielzeugfigur von Marie, König im Zuckerbäckerland und zuletzt offenbar noch der tatsächliche Neffe von Maries Patenonkel. Auf die Ähnlichkeit zwischen dem Nussknacker und den jeweiligen Neffen aus Binnen- und Rahmengeschichte wird mehrfach hingewiesen: die Jungen verfügen über ein widerstandsfähiges Gebiss, mit dem sie selbst die härtesten Nüsse knacken können. Zur Unterstützung ziehen sie an dem langen Haarzopf im Rücken, der damit eine Hebelfunktion übernimmt: „Bei Tische knackte der Artige für die ganze Gesellschaft Nüsse auf, die härtesten widerstanden ihm nicht, mit der rechten Hand steckte er sie in den Mund, mit der linken zog er den Zopf an – Krak – zerfiel die Nuß in Stücke“ (143). Droßelmeier ist die vielschichtigste Figur: Er ist der Pate Maries, taucht als Miniaturfigur in dem von ihm gebauten mechanischen Schloss auf, sitzt um Mitternacht als Spukfigur auf der Kaminuhr, hat im Binnenmärchen sein Pendant im Uhrmacher Christian Elias Droßelmeier und wird einmal mit einer Marionette verglichen: „Aber der Pate Droßelmeier schnitt sehr seltsame Gesichter, und sprach mit schnarrender, eintöniger Stimme: „Perpendikel musste schnurren – picken – wollte sich nicht schicken – Uhren – Uhren – Uhrenperpendikel müssen schnurren – leise schnurren […]“ Marie sah den Paten Droßelmeier starr mit großen Augen an, weil er ganz anders, und noch viel häßlicher aussah, als sonst, und mit dem rechten Arm hin und her schlug, als würd’ er gleich einer Drahtpuppe gezogen. Es hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Paten, wenn die Mutter nicht zugegen gewesen wäre, und wenn nicht endlich Fritz, der sich unterdessen hineingeschlichen, ihn mit lautem Gelächter unterbrochen hätte. „Ei, Pate Droßelmeier“, rief

Metamorphosen der Figuren

Rolle des Paten Droßelmeier

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Die verschiedenen Facetten Maries

Der Mensch als Maschine

Fritz, „du bist heute wieder auch gar zu possierlich, du gebärdest dich ja wie mein Hampelmann, den ich längst hinter den Ofen geworfen“ (94 f.). Marie wiederum trägt den gleichen Namen wie das in den Leseranreden angesprochene Mädchen, bei dem es sich offenbar um die Tochter des Verlegers Hitzig handelt, für die Hoffmann dieses Märchen als Weihnachtsgeschenk niedergeschrieben hatte. Außerdem gleicht Marie von ihrem Aussehen her der schönen Prinzessin Pirlipat. In einer Szene im Binnenmärchen wird allerdings angedeutet, dass Pirlipat selbst von Geburt an Ähnlichkeit mit einem Nussknacker hat: sie kam mit einem fertigen Gebiss auf die Welt und ernährt sich ausschließlich von Nüssen. Als sie durch den Fluch der Frau Mauserinks in einen hässlichen weiblichen Nussknacker verwandelt wird, nimmt sie der Uhrmacher Droßelmeier wie eine Maschine auseinander, um die Ursache für die Verwandlung zu ermitteln: „Er nahm Prinzeßchen Pirlipat sehr geschickt auseinander, schrob ihr Händchen und Füßchen ab, und besah sogleich die innere Struktur, aber da fand er leider, daß die Prinzessin, je größer, desto unförmiger werden würde, und wußte sich nicht zu raten und zu helfen. Er setzte die Prinzessin behutsam wieder zusammen, und versank an ihrer Wiege, die er nie verlassen durfte, in Schwermut“ (104). Marie vereinigt in sich die äußere Schönheit Pirlipats mit den inneren Eigenschaften der Treue, Güte und Liebe, die ihr es ermöglichen, den Nussknacker zu erlösen. Allen drei Figuren, Nussknacker, Marie/Pirlipat und Droßelmeier, ist folglich gemeinsam, dass bei ihnen ein Übergang vom Organischen zum Anorganischen stattfindet, indem sie sich anscheinend in leblose Puppen verwandeln oder Menschengestalt erlangen. Seit Julien Offray de La Mettries Abhandlung L’homme machine (Der Mensch als Maschine, 1738; dt. 1875) hat der Gedanke, dass der Mensch wie eine Maschine funktioniert und dass man menschliche Wesen selbst konstruieren könnte, wenn man nur den dahinter stehenden Mechanismus durchschaut hat, Wissenschaftler, Mechaniker und Künstler fasziniert. Die Spielautomaten von Jacques de Vaucanson (ca. 1740), die Androiden von Pierre und Henri-Louis Jacquet-Droz, wie z. B. der berühmte Schreiber (1775), oder der Schachspieler (1782) von Johann Nepomuk Maelzel, waren Attraktionen, die das Publikum anzogen und die Debatte über die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Maschine erneut anfachten. In der Romantik wurde diese Thematik aufgegriffen, indem etwa Menschen wie Marionetten agieren oder von scheinbar lebendigen Automaten getäuscht werden, wie dies Hoffmann z. B. in seinen Erzählungen Der Sandmann (1816) oder Die Automate (1814) illustriert hat. Wenn Hoffmann in Nußknacker und Mausekönig auf diesen Diskurs zurückgreift, ist es möglich, die darin dargestellten Verwandlungen einerseits als Kritik an der Entfremdung des modernen Menschen zu deuten, andererseits aber auch Bezüge zu Ideen von Gotthilf Heinrich Schubert zur „Traumbildersprache“ zu erkennen. Sowohl in den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) als auch in der Symbolik des Traumes (1814) (beide Schriften wurden nachweislich von Hoffmann gelesen) geht Schubert auf die Lebensphase Kindheit ein, indem er diese als „Vorstellung einer früheren vollkommeneren Menschheit“ charakterisiert. Gerade Kinder hätten deshalb eine besondere Befähigung, durch den Traum und die Einbildungskraft Zugang zum Unbewussten (= die Nachtseiten) zu erlangen. In der Sprache

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des Traumes und der Phantasie sei es besonders sensiblen Menschen, wozu neben Kindern noch Kranke und Künstler zählen, möglich, die Grenzen zwischen anorganischem und organischem Zustand zu überschreiten, leblose Gegenstände zu beleben und die „Doppelsinnigkeit“ der Welt zu erfassen. Mit der Darstellung des Entwicklungsprozesses eines Kindes und der Einbeziehung des Grauens überschreitet Hoffmann die Schwelle vom romantischen Kunstmärchen hin zur modernen Phantastik. Zugleich hat Hoffmann mit Nußknacker und Mausekönig dem Subgenre der Spielzeuggeschichte neue Impulse verliehen. Bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein dominierten Puppen- oder Spielzeuggeschichten, die ausschließlich didaktischen Zwecken dienten. Sie waren als fiktive Autobiographien konzipiert und schilderten den Umgang zwischen Spielzeug und Kind aus den Augen des Spielzeuges bzw. der Puppe. Die ältesten bekannten Texte wurden in England und Frankreich verfasst, wie z. B. The History of a Doll (1805) von Nancy Manwell oder Jeux de la poupée (anonym, 1806). In Deutschland setzte sich dieser Typ erst mit dem Buch Mémoires d’une poupée von Julie Gouraud durch, das 1839 in Paris veröffentlicht wurde und 1844 in deutscher Übersetzung mit dem Titel Memoiren einer Puppe erschien. Hierbei handelt es sich immer um Beispiel- bzw. Erziehungsgeschichten, die zum richtigen Umgang mit Spielsachen, aber auch zum einwandfreien moralischen Verhalten erziehen sollen (Kuznets 1994). Bei Hoffmann ändert sich die Darstellungsweise, indem das Geschehen nicht aus der Perspektive des Spielzeugs betrachtet und erzählt wird. Außerdem wird Spielzeug nicht mehr ausschließlich zu Lernzwecken eingesetzt, sondern seine Rolle für die psychische und kognitive Entwicklung des Kindes betont. Die Interdependenz von Kind und Spielzeug wurde erst Ende des 19. Jahrhundert wieder thematisiert und erreichte seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit den Kinderklassikern Winnie the Pooh (Pu der Bär, 1926; dt. 1928) von A. A. Milne, The Return of the Twelve (Die Zwölf vom Dachboden, 1956; dt. 1967) von Pauline Clarke oder Kleine Sofie en Lange Wapper (Die wundersame Reise der kleinen Sofie, 1984, dt. 1985) von Els Pelgrom. Hoffmanns Märchen löste wegen seiner innovativen kinderliterarischen Elemente einen Skandal aus. Schon die ersten zeitgenössischen Rezensionen sahen in dem von Hoffmann als „Kindermärchen“ bezeichneten Werk ein Indiz für die Unfähigkeit des Autors, für Kinder zu schreiben. Die Kritiker begründeten ihre Ablehnung mit dem Verweis auf die verschachtelte Erzählstruktur, die intertextuellen Anspielungen, die komplexe, mit Fremdwörtern versehene Sprache, die beunruhigende Darstellung des kindlichen Seelenlebens und den offenen Schluss (Ewers 1987). Aus Hoffmanns Korrespondenz mit seinem Verleger Georg Reimer geht jedoch hervor, dass er das Werk als geeignete Lektüre für Kinder verstand. Metatheoretische Reflexionen über den kinderliterarischen Status des Märchens legte Hoffmann seinem Alter Ego Lothar im ersten Band der Erzählsammlung Die Serapionsbrüder (1819) in den Mund. Zu diesem Zeitpunkt ist das Nußknacker-Märchen schon nicht mehr allein für Kinder vorgesehen. Als Mitglied im Bund der Serapionsbrüder erzählt Lothar das Märchen von Nußknacker und Mausekönig und verteidigt es gegen den Vorwurf der Zuhörer, dass Kinder die komplexe Erzählstruktur nicht verstehen würden: „Es ist [...] überhaupt meines Bedünkens ein großer Irrtum, wenn man glaubt, daß lebhafte fantasiereiche Kinder, von

Spielzeuggeschichte für Kinder

Hoffmanns Reaktion auf die zeitgenössische Kritik

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Entwicklung einer kinderliterarischen Poetik

Rezeption in Deutschland

denen hier nur die Rede sein kann, sich mit inhaltsleeren Faseleien, wie sie oft unter dem Namen Märchen vorkommen, begnügen. Ei – sie verlangen wohl was Besseres und es ist zum Erstaunen, wie richtig wie lebendig sie manches im Geiste auffassen, das manchem grundgescheutem Papa gänzlich entgeht. Erfahrt und habt Respekt!“ (1999, 306). Mit dieser Aussage formuliert Lothar als Sprachrohr des Autors eine Poetik des Kindermärchens, die auf die Aufhebung der Grenze zwischen Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zielt und damit theoretische Überlegungen des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Auch wenn konzediert wird, dass Kindern die Bedeutung nicht in allen Einzelheiten erfassen können, wird ihnen aufgrund ihrer Phantasietätigkeit ein Zugang zum Werk eingeräumt, der möglicherweise sogar das Verständnis des erwachsenen Lesers übertreffe. Hinter diesen Ideen steckt Hoffmanns Konzept einer ideellen Kindheit, die nicht an die biologisch determinierte Lebensphase gebunden ist, sondern als unendliche Möglichkeit im Geiste bewahrt werden könne. Das sogenannte „serapiontische Prinzip“ gelte auch für Nußknacker und Mausekönig. Es besagt, dass die höhere Wirklichkeit, die von den normalen Menschen als Wahn angesehen werde, aus der visionären Kraft des Dichters entstehe. Die phantastische Welt der Einbildungskraft dürfe sich im Märchen jedoch nicht verselbständigen, sondern müsse mit der sie erzeugenden Wirklichkeit in Kontakt bleiben. Die kindliche Wahrnehmung und Phantasietätigkeit wird in den Mittelpunkt gestellt und nicht mehr als Fehlverhalten im Sinne der aufklärerischbürgerlichen Vernunft gedeutet. Mit dem Schluss wird darüber hinaus auf die Gefahren hingewiesen, denen „lebhafte fantasiereiche Kinder“ aufgrund des mangelnden Verständnisses ihrer Umgebung ausgesetzt sind. Mit Verweis auf das Vorbild Ludwig Tieck, dem die Verbindung von naivem Märchenton und ironisierender Darstellung gelungen sei, und der Rezeption des Märchens bei zwei kindlichen Lesern bezieht Hoffmann psychologische, rezeptionsorientierte und ästhetische Kriterien ein und betont den nur graduellen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen als Lesern. Sind Kinder aufgrund ihrer fehlenden literarischen Bildung gegenüber Erwachsenen im Nachteil, zeichnen sie sich durch kognitive Fähigkeiten aus, die dieses Defizit kompensieren. Der Autor spielt damit auf die in der Frühromantik postulierte Affinität zwischen Kindheit und Dichtertum an. Diese ermögliche es dem Kind, ein tieferes Verständnis eines Kunstwerkes zu erlangen. Hoffmann formuliert damit ein rezeptionsästhetisches Programm, das sich der Förderung der literarischen Kompetenz durch ästhetisch anspruchsvolle Kinderliteratur verschrieben hat. Zugleich weist er auf die Mehrfachadressiertheit seines Märchens hin, das von Kindern und von Erwachsenen mit Vergnügen gelesen werden könne. Auch aus diesem Grund hält Hoffmann daran fest, dass es sich bei Nußknacker und Mausekönig um ein Märchen für Kinder handele (Kümmerling-Meibauer 2003). Trotzdem führte die vehemente Kritik an Nußknacker und Mausekönig dazu, dass Hoffmanns Kindermärchen in Deutschland bis in die 1950er Jahre hinein nicht mehr als geeignete Lektüre für Kinder angesehen und fast ausschließlich in Editionen für eine erwachsene Leserschaft abgedruckt wurde. Auch in der Hoffmann-Forschung ignorierte man jahrzehntelang den kinderliterarischen Status des Werkes und behandelte es so, als hätte Hoffmann es

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überhaupt nicht als Märchen für Kinder intendiert. Eine Renaissance erlebte das Werk mit Beginn der 1980er Jahre, als man in der Kinderliteraturforschung die Bedeutung des Werkes für die Entwicklung der phantastischen Kinderliteratur hervorhob. Seitdem kann man von einer Wiederentdeckung des Werks, das mittlerweile den Status eines Kinderklassikers erlangt hat, sprechen. Das zeigt sich u. a. daran, dass in Deutschland mehr als 30 verschiedene Ausgaben erschienen sind, die sich hinsichtlich des Textumfangs und der Illustration voneinander unterscheiden. Während nur wenige Ausgaben den Originaltext abdrucken, wurde er in den meisten Editionen sprachlich überarbeitet („modernisiert“) und zuweilen auch gekürzt, um das Märchen in ein Bilderbuchformat zu pressen. Selbst die letzten Passagen wurden teilweise umgeändert, um den ambivalenten Charakter des Schlusses aufzuheben. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes verlief die Rezeption jedoch gänzlich anders. Nußknacker und Mausekönig wurde in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und beeinflusste maßgeblich die Entwicklung einer kinderliterarischen Phantastik, die den Siegeszug mit Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (Alice im Wunderland, 1865; dt. 1869) antrat. Folgende, mittlerweile klassische Kinderbücher, basieren auf Ideen und Strukturmerkmalen von Hoffmanns Kindermärchen und verweisen teilweise intertextuell auf das literarische Vorbild: Hans Christian Andersen: Den lille Idas blomster (Die Blumen der kleinen Ida, 1835; dt. 1839), George Sand: Histoire du véritable Gribouille (Geschichte vom wahrhaften Gribouille, 1850; dt. 1987), John Ruskin: The King of the Golden River (Der König des Goldflusses, 1851; dt. 1869), George MacDonald: At the Back of the Northwind (Hinter dem Nordwind, 1871; dt. 1981), bis hin zu Edith Nesbits The House of Arden (Die Kinder von Arden, 1908; dt. 1959), Pamela Travers’ Mary Poppins (1934; dt. 1935) und Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979). In Deutschland weist Erich Kästners Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee (1931) zahlreiche inhaltliche und formale Parallelen mit Hoffmanns Märchen auf (Kümmerling-Meibauer 2008a). Alexandre Dumas übernahm Hoffmanns Märchen für seine Adaption L’histoire d’un casse-noisette (Geschichte eines Nussknackers, 1845; dt. 1978), die von vielen Forschern bis heute fälschlicherweise als getreue Übersetzung der Originalvorlage angesehen wird. Dieses Märchen geht durch die Anpassung an das großbürgerliche Milieu in Frankreich, die Abschwächung der Groteske, die Entrückung der realistischen Rahmenhandlung ins Märchenhafte und die Angleichung an die Tradition des französischen Feenmärchens sowie die geänderte Schlussfassung weit über eine bloße Übersetzung hinaus. Dumas’ Version wiederum hat durch ihre Übersetzung in andere Sprachen zeitweilig das Hoffmannsche Märchen verdrängt, wurde Vorlage für das berühmte Ballett Der Nußknacker (1892) von Peter Tschaikowski und führte aufgrund des Fehlschlusses, dass beide Märchen gleichsam identisch seien, auch zu Interpretationen, die die Modernität des Märchens von Hoffmann verkannten. Mittlerweile hat sich – vor allem im englischsprachigen Raum – ein Medienverbund etabliert, so dass der Stoff, der weiterhin Hoffmann zugeschrieben, aber größtenteils Dumas’ Version entnommen ist, in Form von Filmen (als Animationsfilm und als Realfilm), Hörspielen und Computerspielen vorliegt. Zur Kommerzialisierung haben vor allem die Dis-

Rezeption in Europa und den USA

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

ney-Version The Nutcracker (USA 1999; Regie: J. Winfield) und die als Film und Computerspiel produzierte Version Barbie and the Nutcracker (USA 2001; Regie: O. Hurley) beigetragen.

2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf (1885) Rezeptionsgeschichte

Inhalt

Emmy von Rhodens Mädchenroman kann auf eine wechselvolle Rezeptionsgeschichte zurückblicken. Während das Werk bei der vorwiegend weiblichen Leserschaft auf großes Interesse stieß und infolgedessen ein Longseller wurde, der bis heute weiterhin aufgelegt wird, wurde es von Pädagogen und Literaturkritikern kontrovers diskutiert. Man warf dem Roman vor, dass er die weibliche Lesesucht fördere, an tradierten Rollenbildern festhalte und Wunschphantasien junger Mädchen und Frauen hervorrufe. Während Heinrich Wolgast dem Trotzkopf in seiner Schrift Das Elend unserer Jugendliteratur (1896) vorwirft, die Emanzipationssucht anzustacheln, stuften die Frauenrechtlerinnen Gertrud Bäumer und Helene Lange das Werk als „krankmachend“ ein (Wilkending 2003). Auch in den Literaturgeschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts kam Rhodens Roman, der als Prototyp des Backfisch- oder Mädchenbuches angesehen wurde, nicht gut weg. Der deutschen Mädchenliteratur des 19. Jahrhunderts wird in Literaturgeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zwar ein großer Einfluss auf die gesellschaftlich-moralische Sozialisation von jungen Mädchen eingeräumt, auch ihr kulturhistorischer Stellenwert ist unbestritten, aber einen ästhetisch-literarischen Anspruch streitet man diesen Werken in der Regel ab. Aus ideologiekritischer Sicht stufte man den Trotzkopf als Inbegriff sentimentaler und schematischer Literatur ein und bemängelte vor allem, dass die weibliche Hauptfigur sich am Ende in ihre gesellschaftliche Rolle füge und damit das tradierte Klischee der Frau als Hausfrau, Ehefrau und Mutter bediene (Dahrendorf 1980a). Die Beschränkung auf die sozialisatorische Funktion des Werkes konnte vor allem nicht dazu beitragen, den großen Erfolg des Romans zu erklären. Erst seit Mitte der 1980er Jahre wurde Rhodens Roman von der Mädchenliteraturforschung rehabilitiert (Grenz 1981; Wilkending 1997). Seitdem gilt Der Trotzkopf neben Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) als repräsentativer deutschsprachiger Mädchenroman des 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Romans steht die vierzehnjährige Halbwaise Ilse Macket, die eine unbeschwerte Kindheit auf dem Gutshof des Vaters verbringt und wie ein Junge aufwächst. Weil sie sich den Anordnungen der neuen Stiefmutter widersetzt, wird Ilse in ein Mädchenpensionat gegeben, um ihr dort eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. Ilse schließt schnell Freundschaften mit den Mitschülerinnen, fällt allerdings durch ihr Ungestüm und jähzorniges Wesen auf. Als sie gegenüber der Schulleiterin mit einem Trotzanfall reagiert, wird der Schulverweis nur durch die Lehrerin Fräulein Güssow verhindert. Diese erzählt Ilse eine Warngeschichte von dem Mädchen Luzie, das durch sein trotziges Verhalten den Verlobten verschreckt habe und nun sein Dasein als Gouvernante fristen müsse. Dieses Beispiel vor Augen überwindet Ilse allmählich ihren Trotz und fügt sich in die Einübung ihrer zukünftigen weiblichen Rolle. Bei der Abschlussfeier spielt Ilse

2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf

in einem Theaterstück die Rolle des „Trotzkopfes“. Auf der Rückfahrt zu den Eltern lernt sie den Gerichtsassessor Leo Gontrau kennen. Das Buch endet mit der Verlobung von drei Frauen. Ilses beste Freundin Nellie heiratet den Englischlehrer Dr. Althoff, Fräulein Güssow – die „Luzie“ aus der Warngeschichte – hat ihren früheren Verlobten, Ilses Onkel, wiedergetroffen, und Ilse verlobt sich mit Leo Gontrau. Oberflächlich gesehen können der Plot und der Wandel Ilses von einem jungenhaft sich gebärdenden Mädchen zu einer wohlerzogenen jungen Dame als Bestätigung des Klischees von der dreifachen Bestimmung der Frau, wie sie bereits in Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789) formuliert wird, gesehen werden. Eine genaue Lektüre enthüllt jedoch die Brüchigkeit der tradierten Frauenrollen ebenso wie die innerfamiliären Spannungen und psychischen Konflikte der weiblichen Figuren. Die von der bürgerlichen Frauenbewegung aufgeworfenen Fragen nach der Bestimmung der Frau in der modernen Gesellschaft kommen virulent auch im Trotzkopf vor. Die Zukunftsungewissheit, die Entscheidung für Beruf oder Ehe und der Diskurs über die Entwicklung einer Geschlechtsidentität bestimmen in mehr oder minder deutlicher Form die Narration in Rhodens Mädchenroman. Die Hauptstationen, die den Werdegang der Hauptfigur Ilse Macket strukturieren, nämlich Trennung vom Vater, Aufenthalt im Pensionat, Begegnung und Verlobung mit dem Assessor Leo Gontrau, führen mit der neuartigen Verbindung von Trennungsgeschichte, Erziehungsgeschichte und Liebesgeschichte zur Bildung eines Genres, das von Wilkending (1997) als „Entwicklungsroman eines Mädchens“ bezeichnet wird. Rhoden nimmt gleichsam entwicklungspsychologische Erkenntnisse vorweg und hat mit ihrer Hauptfigur ein Muster vorgegeben, das für alle Nachfolgeromane und Mädchenbuchserien prägend war. Während Backfischromane wie Clementine Helms Backfischchen’s Leiden und Freuden (1863) sich an die Erzählstruktur der Wandlungs- und Umkehrgeschichte anlehnen, entfernt sich Rhoden von diesem Vorbild (lediglich die Warngeschichte über Luzie ist an diesem Erzählmodell orientiert) und bemüht sich um eine subtilere Psychologisierung der Hauptfigur. Der Entwicklungsprozess Ilses wird durch verschiedene narrative Strategien, wie multiperspektivisches Erzählen oder Subjektivierung der Figurenperspektive, veranschaulicht, zugleich werden widersprüchliche Zuordnungen und Aussagen nicht gänzlich aufgelöst, so dass diese zur Mehrdeutigkeit des Romans beitragen. Bereits mit dem Buchtitel weist von Rhoden auf ein wesentliches Merkmal der weiblichen Pubertät hin. Mit „Trotzkopf“ hat die Autorin in Analogie zur kleinkindlichen Trotzphase einen Begriff gewählt, der auf das Phänomen der Infantilisierung des Mädchens hinweist. Kennzeichnend für diese Phase sind ein freches, unangepasstes Verhalten, jungenhaftes Benehmen und eine Verweigerungshaltung. Zugleich ist dieser Begriff als Synonym für eine bestimmte weibliche Entwicklungsphase anzusehen, die entwicklungspsychologisch als weibliche Vorpubertät, zuweilen auch als „zweites Trotzalter“ bezeichnet wird. Bereits 1805 hatte sich der Spätromantiker Ernst Moritz Arndt in seiner Schrift Fragmente über Menschenbildung mit dem Wesen der weiblichen Pubertät auseinandergesetzt und als ihre Merkmale das „Kindlich-Verspielte“ des jungen Mädchens sowie seine Sprödigkeit gegenüber

Dreifache Bestimmung der Frau

Entwicklungsroman eines Mädchens

Darstellung der weiblichen Pubertät

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Charakterisierung der Hauptfigur

dem männlichen Geschlecht betont (Grenz 1981). Aber erst Rhoden ist es gelungen, die Ideen Arndts in einem Mädchenbuch umzusetzen. Sie stellt die psychische Entwicklung der weiblichen Figuren, die sich in der Phase der Pubertät befinden, in den Fokus. Infolgedessen handelt es sich weniger um eine Beispielgeschichte, wenn auch Elemente des Tugend-Laster-Schemas übernommen werden, sondern um eine psychologische Geschichte, in deren Mittelpunkt die Entwicklung eines jungen Mädchens steht (Zahn 1983; Wilkending 1997). Der Titel des Buches weist schon unterschwellig auf das Interesse der Erwachsenen an der Überwindung dieser Phase und die Eingliederung des jungen Mädchens in die Gesellschaft hin. Auch wenn durch den Handlungsverlauf angedeutet wird, dass das Stadium der Trotzphase überwunden werden muss, gibt die Autorin durch die Charakterisierung der Hauptfigur doch deutlich ihre Sympathie für diese zu verstehen. Ilse dient als gelungenes Beispiel der praktizierten Methode. Anfänglich benimmt sie sich noch wie Junge, reitet auf dem Gut der Eltern umher, kümmert sich nicht um ihr Äußeres und verstößt gegen „weibliche“ Tugenden wie Sanftmut, Freundlichkeit und Selbstverleugnung. Als Ilses zentrale Eigenschaft wird ihr Trotz angesehen, wobei jede Form des Widerspruchs damit bezeichnet wird. Durch die Erziehung im Pensionat und das Verhalten ihrer Mitschülerinnen passt sie sich allmählich den Idealvorstellungen einer tugendhaften Frau an, die dabei ihre Natürlichkeit und Liebenswürdigkeit bewahren soll. Obwohl Ilse Macket Fehler begeht und nicht dem Idealbild eines tugendhaften Mädchens entspricht, wirkt sie mit ihrer Offenheit weitaus sympathischer auf den Leser als die Musterschülerin Rosa, die wegen der ihr fehlenden Natürlichkeit nicht mehr eine ausschließliche Vorbildfunktion besitzt. Ilse wird nicht aufgrund ihrer Tugenden, sondern aufgrund ihrer Fröhlichkeit, Kameradschaftlichkeit und ihres natürlichen Aussehens und Verhaltens geliebt. Selbst nach dem Aufenthalt im Pensionat bewahrt sie ihren rebellischen Charakter, der sich in dem Drang, Streiche zu spielen und in gelegentlichen Trotzanfällen äußert. Bei der Darstellung der psychischen Entwicklung Ilses, die anfänglich durch Distanz zur Stiefmutter und eine fast ödipale Bindung an den Vater bestimmt ist, greift Rhoden auf ein entwicklungspsychologisches Modell zurück, das erst um die Jahrhundertwende durch Sigmund Freud wissenschaftlich etabliert wurde. Die Gefühlsschwankungen Ilses, ihr Wechsel zwischen Unbekümmertheit, Trauer, Trotz, Scham und Stolz vermitteln ein anschauliches Bild der psychischen Verfassung eines jungen Mädchens, das sich in einer Umbruchsphase befindet. Dass sie gegenüber ihren Mitschülerinnen durch ihre Offenheit und Natürlichkeit gewinnt, wird in einem Vergleich Fräulein Güssows ersichtlich: „Sie verglich Ilse mit den übrigen und fand, daß sie nicht nur die hübscheste, sondern auch viel natürlicher und unbefangener war als die meisten andern. Ihr Wesen war frei von jeder Koketterie, offenherzig und fröhlich blickte sie mit großen Kinderaugen in die Welt“ (171). Dieser Beobachtung kommt deshalb eine Schlüsselrolle zu, weil Fräulein Güssow die Funktion einer positiven Identifikationsfigur für Ilse einnimmt. Zugleich spiegelt sich ihr früheres Schicksal (als Trotzkopf Luzie) im gegenwärtigen Entwicklungsstadium Ilses. Das Besondere an Rhodens Werk ist außerdem die Darstellung einer geschlossenen Lebenswelt in einem Pensionat. In den früheren Backfischro-

2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf

manen für Mädchen spielte die Schule bzw. das Pensionat keine solche bedeutende Rolle wie in Rhodens Roman. Die Dreiteilung mit Beginn im Elternhaus, Aufenthalt im Internat und Rückkehr ins Elternhaus, die zugleich eine neue Lebensphase einleitet, ist ein typisches Kennzeichen des englischen Schülerromans. Ein Prototyp dieses Genres ist Thomas Hughes’ Tom Brown’s Schooldays (1857), der 1867 ins Deutsche übersetzt wurde und möglicherweise Rhoden bei ihrer Konzeption beeinflusst hat (KümmerlingMeibauer 1999a). Auffallende Merkmale von Hughes’ Roman sind die Konzentration auf einen Weltausschnitt und das typische Figurenensemble, das nachfolgende Schülerromane prägte: so gibt es den moralisch entwicklungsfähigen Schüler, den Sportsmann, den Feigling, den Sensiblen, den verkannten Schüchternen, das versponnene Genie und den liberalen (oder autoritären) Schulleiter. Jedenfalls weist Rhodens Roman etliche Parallelen mit Tom Brown’s Schooldays auf: so etwa Dreiteilung der Handlung, Figurenensemble, Wechsel zwischen lustigen und ernsthaften Szenen, Aufführung eines Theaterstückes und Integration zahlreicher Dialoge. Darüber hinaus verleihen die eingefügten intertextuellen Anspielungen auf Werke der deutschen Literatur dem Roman eine größere Vielschichtigkeit. Genannt werden u. a. Goethes Werther, Ottilie Wildermuth, Jean Pauls Werke und Adelbert von Chamissos Gedichte. Während der Goethe-Roman als verbotene Lektüre bezeichnet wird, gehören die anderen Werke zum Lektürekanon für junge Mädchen. Obwohl mehrmals Vorbehalte gegen eine wissenschaftliche Ausbildung von Mädchen geäußert werden und auch die Lesesuchtdebatte angesprochen wird, wird auf die gründliche Lektüre ausgewählter Werke der deutschen Literatur durchaus Wert gelegt. Die Auswirkungen dieser Lektüre auf das Verhalten der Figuren werden ebenfalls thematisiert. Während etwa Flora Hopfstange sich vergeblich bemüht, ihren literarischen Vorbildern Jean Paul und den Dichtern der Empfindsamkeit nachzueifern, fühlt sich Ilse Macket zu Chamisso hingezogen. Den einzigen Satz, den Ilse nach der Begegnung mit Leo Gontrau in ihr Tagebuch schreibt, ist ein Chamisso-Zitat („Ich habe ihn gesehen“). Sie gibt damit einerseits ihre aufkeimenden Gefühle für Gontrau zu erkennen, bemerkt aber andererseits, dass sie sich eines Klischees bedient hat. Mit dieser Entscheidung bewahrt sich Ilse ihre Eigenständigkeit. Sie weigert sich, ihr Tagebuch als „Bekenntnisbuch“ zu verwenden (wie es in zahlreichen Mädchenratgebern empfohlen wurde) und sie lehnt es ab, auf abgegriffene Metaphern zurückzugreifen, wenn es um die Darstellung von Gefühlen geht. Diese intertextuellen Hinweise auf kanonische Werke der deutschen Literatur verdeutlichen das Bemühen der Autorin, an die bildungsbürgerliche Tradition und die zeitgenössische Debatte über den Unterricht an höheren Mädchenschulen anzuknüpfen. Obwohl als höchstes Lebensziel weiterhin die Heirat und das Dasein als Hausfrau und Mutter verkündet werden, zeigen sich in diesem Roman bereits Anzeichen einer geänderten Einstellung hinsichtlich der Ausbildung und Berufstätigkeit von Frauen. Vorherrschend bleibt zwar das Idealbild einer „höheren“ Tochter, die über einen gewissen Bildungsgrad verfügen soll, um mit ihrem Mann und den Gästen des Hauses eine geistreiche Konversation betreiben zu können, doch die Alternative, als (unverheiratete) Frau selbst den Lebensunterhalt als Lehrerin oder Gouvernante bestreiten zu

Einfluss des englischen Schülerromans

Intertextuelle Anspielungen auf die deutsche Literatur

Genderkonstruktionen

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Narrative Strategien

Jugendsprache

müssen, wird mehrfach angedeutet. Auch wenn am Beispiel von Nellie und Fräulein Güssow die Berufstätigkeit nicht ausschließlich in ein positives Licht gestellt wird, zeigt sich deutlich, dass es neben der Eheschließung auch andere Alternativen gibt. Im Sinne des „Gender Crossing“ haben Frauen die Chance, einen Beruf zu ergreifen und damit eine vorwiegend männliche Domäne zu besetzen. Diese Situation kann allerdings auch dazu führen, „männliche“ Eigenschaften wie Autorität, nüchternes Denken oder sachlicher Umgangston zu übernehmen, wie sich an der Pensionatsleiterin Fräulein Reinmar ersehen lässt. Mit dem „Gender Crossing“ verbunden ist das Motiv des „Crossdressing“. Der Terminus beschreibt das Phänomen, dass sich Figuren sich so kleiden, wie es eigentlich nur dem anderen Geschlecht vorbehalten ist. Im Mädchenroman Trotzkopf ist dieser Aspekt bei Ilse ersichtlich, die sich anfangs wie ein Junge benimmt und zerrissene und fleckige Kleidung trägt. Ilse wird deshalb im Roman mehrmals mit einem Jungen verglichen. Das Motiv der „falschen“ Kleidung und des damit verbundenen „falschen“ Benehmens taucht als Leitmotiv mehrmals im Roman auf und wird immer wieder modifiziert. Der Höhepunkt ist die Theateraufführung, bei der Ilse die Rolle des Trotzkopfes spielt und ihre verborgenen Kleidungsstücke als Kostüm hervorholt. Ein weiteres innovatives Merkmal ist die Erzähltechnik. Bereits die berühmte Anfangsszene des Romans, der medias-in-res beginnt, stellt gewisse kognitive Anforderungen an den präsumtiven Leser. Die in dieser Szene auftretenden Figuren werden durch ihre Dialoge und kurze Beschreibungen des Äußeren charakterisiert. Der schon in dieser Anfangssequenz unterschwellige Konflikt zwischen Ilse und ihrer Stiefmutter wird durch die Reaktionen der anwesenden Gäste und die Mittlerrolle des Vaters angedeutet, ohne dass die Beweggründe explizit erläutert werden. Die zurückhaltenden Erzählerkommentare und das Überwiegen von Dialogen tragen nicht nur zur Anschaulichkeit der Darstellung, sondern auch zur Identifikation der Leserschaft mit der weiblichen Hauptfigur bei. Die pädagogischen Maximen sind geschickt in die Handlung und Dialoge integriert und verlieren dadurch ihren explizit belehrenden Charakter. Die pädagogischen Intentionen enthüllen sich in den eindringlichen Gesprächen und Gewissensappellen, wobei durch die Verschränkung personalen und auktorialen Erzählens die moralische Absicht nicht allzu deutlich akzentuiert wird. Durch die häufigen Dialoge, in denen sich die Mädchen sogar der zeitgenössischen Jugendsprache bedienen, wird dem Leser eine unmittelbare Teilnahme an den Schicksalen der Mädchen ermöglicht. Die Pensionatsschülerinnen verwenden eine spezifische Ausdrucksweise, die durch feststehende Idiome und bestimmte Modewörter gekennzeichnet ist. Zu diesen Modewörtern gehören die Adjektive „furchtbar“ (19mal) – oft in Verbindung mit „öde“ oder scheußlich“ – „klassisch“ (6), „himmlisch“ (6), „famos“ (4) „primitiv“ und „entzückend“ (2). Diese Ausdrücke werden ausschließlich von den Mädchen verwendet und erhalten in ihren Dialogen auch eine neue Bedeutung, wie man beispielsweise an dem Wort „klassisch“ erkennen kann. Es kann etwas Geheimnisvolles andeuten („Wir haben es doch stets gewußt, wenn eine neue Schülerin ankam! Ich finde das, aufrichtig gesagt, klassisch!“ (122)); zur Charakterisierung eines perfekten, vollendeten Zustand dienen („Wie geschickt du bist […] Das hast du doch gerade-

2. Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf

zu klassisch gemacht!“ (137)), eine besondere Eigenschaft betonen („Du bist klassisch!“ (160)) oder die Ahnungslosigkeit einer Person herausstellen („Sie sind aber klassisch!“ (248)). Es ist überliefert, dass Rhoden bei der Niederschrift ihres Romans auf Tagebuchaufzeichnungen ihrer Tochter, die Vorbild für die Hauptfigur war, über ihre Erlebnisse im Pensionat Möder bei Eisenach zurückgreifen konnte (Wilkending 2003). Folglich zeigt sich bei den Dialogen oder von den Mädchen verfassten Texten das Bemühen der Autorin, durch die verschiedenen Sprachregister ihrem Werk eine größere Authentizität zu verleihen. Diese Erzähltechnik war zur damaligen Zeit eine literarische Novität und sollte zur Identifikation mit der Hauptfigur anregen. Unterstützt wird der Eindruck des unmittelbaren Erzählens durch in den Text integrierte Tagebuchauszüge, Briefe und die literarischen Versuche Floras, die die Figurenperspektiven ergänzen. Jede Figur wird durch eine persönliche Sprech- und Schreibweise charakterisiert, die zu ihrer Individualisierung beiträgt. Der plötzliche Stilwechsel trägt neben der Darstellung lustiger Begebenheiten und der Typenkomik zur humoristischen Wirkung des Romans bei. Damit wird einerseits ein Gegengewicht zu den belehrenden Passagen geschaffen, andererseits die Ernsthaftigkeit der Probleme relativiert. Zu den lustigen Begebenheiten gehören u. a. die Streiche Ilses und Nellies, die Begegnung mit den Jungen in der Tanzstunde oder das heimliche Treffen der Schülerinnen im Garten des Pensionats. Die Typenkomik bezieht sowohl einige Erwachsene (Monsieur Michael, Miß Lead) als auch einige Schülerinnen ein. Diese verkörpern bestimmte Schülertypen, sind zum Teil aber durch die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften überzogen dargestellt (Flora Hopfstange, Rose, Melanie, Grete). Zur Komik tragen ferner die individuellen Sprech- und Schreibweisen der jungen Mädchen bei; neben Verwendung von Jugendjargon gehören hierzu die literarischen Versuche Floras, die Briefe Ilses an den Vater oder die grammatisch inkorrekte Verwendung der deutschen Sprache durch die Engländerin Nellie. Darüber hinaus finden sich in Der Trotzkopf wiederholt widersprüchliche Aussagen, die dem Werk einen ambivalenten Charakter verleihen. Ein Widerspruch ist der nicht zu vereinbarende Gegensatz zwischen der Erziehung zur weiblichen Tugendhaftigkeit und dem gleichzeitigen Anspruch, die Natürlichkeit des weiblichen Wesens zu bewahren. Das Oszillieren zwischen Verweigerung und Anpassung macht den Reiz der Hauptfigur aus und ergibt sich aus der Verbindung zweier Frauenbilder und Erziehungsvorstellungen. Diese Ambivalenz wird mit der Metapher von der „frischen Waldblume“, mit der Ilses Aussehen und Verhalten beschrieben wird, umschrieben. Denn die mit dieser Metapher verbundenen Assoziationen wie natürliche Schönheit, Frische, Bescheidenheit und Jugendlichkeit werden als positive Attribute junger Mädchen angesehen. Zugleich konnotiert dieselbe Metapher den implizit angesprochenen Widerspruch zwischen Natur und Kunst, denn Ilse wird nicht mit einer Zierrose verglichen, sondern mit der in der freien Natur wachsenden Waldblume. Das Bedeutungsumfeld der Metapher erzeugt Bilder und Vorstellungen, die nur zum Teil mit dem weiblichen Tugendkatalog übereinstimmen. Sie machen stattdessen auf Eigenschaften Ilses aufmerksam, die sie in den Augen ihrer Umgebung als unverwechselbar und individuell charakterisieren. Ihre Individualität und ihr Bestreben, auch

Humoristische Wirkung

Neues Frauenbild

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Ambivalenz der Einstellungen und offener Schluss

Fortsetzungen

Mädchenbuchserien

Übersetzungen

nach der Verlobung noch ihre privaten Interessen weiterzuverfolgen, entsprechen nicht dem weiblichen Ideal der Kaiserzeit. Vielmehr kündigt sich bereits ein Frauenbild an, das sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts allmählich durchsetzen konnte. Die Ambivalenz zwischen Wunsch nach individueller Entfaltung und weiblichem Erziehungsideal kommt des Weiteren in der skeptischen Einstellung von Ilses Vater gegenüber seiner Tochter nach der Rückkehr aus dem Pensionat zum Vorschein. Während alle anderen Erwachsenen von der Wandlung Ilses angetan sind, vergleicht ihr Vater Ilses gegenwärtiges Auftreten mit demjenigen in der Vergangenheit und konstatiert mit leichtem Bedauern, dass ihm seine Tochter früher besser gefallen habe: „Ilse ist mir zu zahm geworden. Ich kann mir nicht helfen, aber mein unbändiges Kind, mit dem Loch im Kleid, gefiel mir besser, als die junge Dame im modischen Kleid.“ (262). Ebenso bewahrt der Schluss des Romans eine gewisse Offenheit, was das weitere Schicksal Ilses betrifft. In der Verlobungsszene wird ersichtlich, dass Ilse von widersprüchlichen Gefühlen dominiert ist. Sie lehnt den Antrag Gontraus zunächst ab, stimmt dann aber in Erinnerung an die Warngeschichte über Luzie doch zu. Dennoch verweigert sie Leo einen Kuss, während sie ihrem Vater ungestüm um den Hals fällt. Hier enthüllt sich die noch fehlende Einsicht Ilses in ihre neue Rolle (was dann auch in dem Folgeband Trotzkopfs Brautzeit thematisiert wird). Trotz der Kritik an der Verdrängung sozialer Fragen und der Oberflächlichkeit der Darstellung ließ sich der Erfolg dieses für seine Zeit modernen Mädchenromans nicht aufhalten. Da die Autorin noch vor dem Erscheinen der Erstausgabe verstorben war, wurden die Nachfolgebände von anderen Autorinnen verfasst. Else Wildhagen, die Tochter Emmy von Rhodens, schrieb Trotzkopfs Brautzeit (1892) und Aus Trotzkopfs Ehe (1895). Die holländische Schriftstellerin Suse la Chapelle-Roobol verfasste Trotzkopf als Großmutter (übersetzt von Anna Herbst, 1905). In Erwiderung auf diesen Band veröffentlichte Else von Wildhagen Trotzkopfs Nachkommen – ein neues Geschlecht (1930). Doris Mix verfasste Frau Ilse (1895) und von Marie von Felseneck stammen die beiden Bände Trotzkopfs Erlebnisse im Weltkrieg (1916) und Trotzkopf heiratet (1919). Keines dieser Nachfolgewerke hat die Originalität und sprachliche Qualität von Rhodens Trotzkopf erreicht. Der Trotzkopf wurde zum Vorbild für zahlreiche Mädchenbuchserien, die den Werdegang einer weiblichen Figur (von der Kindheit bis zur Eheschließung, manchmal sogar bis zum hohen Alter) schildern. Zu den beliebtesten Mädchenbüchern, die Motive und Struktur des Trotzkopfs aufgreifen, zählen die Serien über Nesthäkchen (1913 ff.) von Else Ury, Pucki (1935 ff.) von Magda Trott, Elke (1937 ff.) von Elke Gündel, Gisel und Ursel (1952 ff.) von Margarete Haller und Hummelchen (1963 ff.) von Käthe Theuermeister. In Abgrenzung zu diesen Werken schrieb die dänische Autorin Karin Michaëlis ihre Bibi-Bücher (1930 ff.), die auch in Deutschland einen großen Erfolg hatten. Obwohl der Trotzkopf in mehrere Sprachen, u. a. ins Englische und Niederländische übersetzt wurde, ist bisher kaum etwas darüber bekannt, inwiefern dieser Roman die Entwicklung anderer nationaler Mädchenliteraturen beeinflusst hat. Der Titel der englischen Übersetzung von Rhodens Roman Taming a Tomboy (1898) knüpft ersichtlich an die Tomboy-

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive

Tradition der amerikanischen Mädchenliteratur an (Abate 2008), zugleich kann er auch als Anspielung auf William Shakespeares Drama The Taming of the Shrew (Der Widerspenstigen Zähmung, 1594) eingestuft werden.

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive (1929) Nach einer viel zitierten Anekdote aus seiner Rede anlässlich der Verleihung der Hans Christian Andersen-Medaille im Jahr 1960 kam Kästner rein zufällig zur Kinderliteratur. Die Verlegerin Edith Jacobsohn vom Verlag Williams & Co (Berlin) hatte einige Texte Kästners, die er für die Kinderbeilage der Dresdner Zeitschrift Beyers für Alle geschrieben hatte, gelesen und forderte daraufhin den Autor auf, einen Roman für Kinder zu verfassen. Die Vorstellung, in einem renommierten Verlag veröffentlicht zu werden, bei dem schon berühmte Kinderklassiker von Hugh Lofting: The Story of Doctor Dolittle (Doktor Dolittle und seine Tiere, 1920; dt. 1928) und A. A. Milne: Winnie-the-Pooh (Pu der Bär, 1926; dt. 1928) in deutscher Übersetzung erschienen waren, war für Kästner so verlockend, dass er das Angebot annahm. Als Illustrator konnte Walter Trier gewonnen werden, der das berühmte gelbe Buchcover mit den beiden Jungen hinter der Litfasssäule gestaltete, das mittlerweile schon ikonischen Status genießt und die Buchgestaltungskunst der Weimarer Republik nachhaltig beeinflusste. Der eigentlichen Geschichte wird eine zweifache Exposition vorangestellt. Im ersten Teil („Die Geschichte fängt noch gar nicht an“) reflektiert der Autor über die Entstehung seines Werkes. Der zweite Teil („Zehn Bilder kommen jetzt zur Sprache“) ist eine Bilderfolge mit Darstellungen der Figuren und Lokalitäten des Romans. Der dritte Teil („Die Geschichte fängt nun endlich an“) schildert anfänglich das Leben des Realschülers Emil Tischbein und seiner Mutter, die als Friseuse arbeitet, in Neustadt. Zum ersten Mal in seinem Leben unternimmt Emil eine Reise nach Berlin, um seine Großmutter zu besuchen und ihr 140 Mark zu überbringen. Emil schläft im Zug ein und bemerkt zu spät, dass ihm das Geld gestohlen worden ist. Er verdächtigt einen Mann namens Grundeis, der ihm im Abteil gegenüber gesessen hat. Im Bestreben, den Dieb nicht aus den Augen zu lassen, steigt Emil in Berlin am falschen Bahnhof aus und heftet sich an die Fersen des Mannes. Weil er in Neustadt ein Denkmal bemalt hat und deshalb Strafe befürchtet, traut er sich nicht, zur Polizei zu gehen. Als er Wache vor einem Café steht, lernt er den Jungen Gustav mit der Hupe und seine Bande kennen. Sie unterstützen als „Detektive“ Emil bei der Beschattung von Grundeis, indem sie einen Bereitschaftsdienst gründen. Als Grundeis das gestohlene Geld am nächsten Morgen bei einer Bank wechseln will, wird er von Emil und seinen Freunden gestellt. Auf der Polizeiwache stellt sich heraus, dass Grundeis ein gesuchter Bankräuber ist, für dessen Ergreifung eine Belohnung von 1.000 Mark ausgesetzt worden ist, die Emil erhält. Emil und die Detektive ist in vielerlei Hinsicht innovativ: der Roman hat dazu beigetragen, das neue Genre des Detektiv- bzw. Kriminalromans für Kinder zu etablieren und gilt zugleich neben Wolf Durians Kai aus der Kiste (1926) als der wichtigste Kinderroman der Neuen Sachlichkeit. Außerdem gehört Emil und die Detektive zu den ersten deutschsprachigen Kinderbü-

Entstehung

Inhalt

Innovative Aspekte des Kinderromans

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Kinderliterarische Poetik der Neuen Sachlichkeit

Metafiktion und Interaktion

chern, die das Leben in der Großstadt fokussieren. Der Roman zeichnet sich durch ein neues Kindheitsbild aus, das die Selbstständigkeit und Überlegenheit des Kindes gegenüber Erwachsenen betont. Kästner zieht auch alle sprachlichen Register, indem er die Spannung durch humoristische und ironische Bemerkungen ausgleicht und nicht hochsprachliche Formen wie Dialekt und Jugendjargon integriert. Zur Modernität des Romans trägt wesentlich auch das Vorwort mit den zehn Bildern bei, mit dessen Hilfe der Autor eine kinderliterarische Poetik der Neuen Sachlichkeit entwickelt (Steck-Meier 1999). Diese Poetik wird narratologisch im ersten Teil des Vorworts durch einen fiktiven Dialog zwischen einem Kellner namens Nietenführ und einem IchErzähler, von Beruf Schriftsteller, der als „Herr Kästner“ angesprochen wird, vermittelt. Ganz im Sinne eines Streitgespräches werden hier Argumente und Gegenargumente ausgetauscht. Das Realismusprinzip, d. h. die Aufgabe, nur das darzustellen, was man kennt bzw. selbst erlebt hat, wird im weiteren Verlauf des Gesprächs durch weitere Prinzipien ergänzt, nämlich die Forderungen nach a) schriftstellerischer Kompetenz (der Beruf des Schriftstellers wird hierbei mit einem Handwerk und einer Dienstleistung verglichen), b) wissenschaftlicher Recherche, um sich Wissen über den Gegenstand anzueignen; c) aktuellem Gegenwartsbezug, d. h. Beschreibung des Lebens in einer Großstadt; und d) Beachtung des Rezeptionsprinzips, d. h. Wissen über die Interessen von Kindern. Dieses Streitgespräch wird durch die Einfügung komischer Beispiele und anschaulicher Metaphern sehr unterhaltsam vermittelt. Hierbei wird der kindliche Leser an den Diskurs der Argumentation herangeführt und kann entschlüsseln, welche Argumente den Schriftsteller letztendlich dazu gebracht haben, sich den Rat des Kellners zu Herzen zu nehmen und einen Großstadtroman für Kinder zu verfassen. Dass der ursprünglich geplante Südseeroman über das karierte Kannibalenmädchen Petersilie dann doch zwei Jahre später unter dem Titel Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee publiziert wurde, ist eine ironische Volte, die sich allerdings nur demjenigen offenbart, der diesen Roman kennt. Der zweite Teil des Vorwortes beschreibt detailliert, wie ein literarischer Text entsteht: von der Suche nach einer Idee über die Sammlung von Einfällen bis hin zur Skizzierung des Inhalts. Dabei wird zugleich veranschaulicht, welcher Strategien sich der fiktive Ich-Erzähler bedient, um auf eine zündende Idee zu kommen. Hierzu gehören Perspektivenwechsel (Vogelperspektive durch den Blick vom Fenster auf die Straße, dann Froschperspektive durch den Blick des auf dem Fußboden liegenden Erzählers auf die Tischbeine); Assoziationsketten (Beine des Tisches sehen wie Waden aus, erinnern an Jungenbeine, dann Einfall des Namen „Tischbein“) und der Topos der Erinnerung (Erinnerung an Zeitungsartikel über Jungen Emil Tischbein, den der Erzähler selbst verfasst hat). Das Sammeln der Einfälle wird mit einer Szene aus einem expressionistischen Stummfilm verglichen. So wie einem Mann in diesem Film die einzelnen Kleidungsstücke zufliegen, so muss ein Autor die Heterogenität der einzelnen Teile bzw. Ideen in eine kohärente Form bringen. Im zweiten Teil des Vorworts findet folglich eine Metareflexion über die Entstehung und Konzeption von Geschichten bzw. Texten statt. Das Vorwort schließt mit der Aufforderung an den Leser zur aktiven Mitarbeit ab. Er erhält nämlich die Aufgabe, sich anhand der nachfolgenden zehn Bilder –

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive

wie beim Baukastenprinzip – die Geschichte selbst zusammenzureimen. Die zehn Bilder, die an Filmstills oder Reklamefotos aus Kinos erinnern, stellen die wichtigsten Figuren und Schauplätze des nachfolgenden Haupttextes vor. Jedes Bild wird durch einen Titel und einen erklärenden Text gerahmt. Durch die Verbindung von Vorwort und Haupttext ergeben sich darüber hinaus zwei weitere Aspekte, die zur Komplexität des Werkes beitragen. Ein Aspekt hat mit der Namensgleichheit von Autor, Erzähler im Vorwort und einer Figur im Roman selbst zu tun. Der Erzähler wird vom Kellner als „Herr Kästner“ angeredet, der Journalist, der Emil in der Straßenbahn aushilft und ihn später für die Zeitung interviewt, stellt sich ebenfalls als „Herr Kästner“ vor (Ewers 2002a). Über die Namensgleichheit ergibt sich noch ein weiterer Anknüpfungspunkt durch die Mitteilung im Vorwort, dass sich der Erzähler an den Zeitungsartikel über Emil Tischbein erinnere. Damit wird impliziert, als wären Journalist und Erzähler dieselben Personen. Zugleich wird auch angedeutet, dass die Geschichte offenbar tatsächlich passiert sei, denn sonst könne sich der Erzähler ja nicht an den Artikel erinnern. Nicht nur, dass hier das Verhältnis von Realität und Fiktionalität angesprochen wird, sondern zugleich deutet sich hier ein Zirkelschluss an: der Erzähler des Vorwortes behauptet, einen Roman zu erzählen, dessen Handlung sich tatsächlich ereignet habe und deren Verlauf ihm von Emil persönlich berichtet worden sei. In Wirklichkeit ist auch diese Behauptung Bestandteil der Fiktion. Mit dem dritten Teil beginnt die Detektivgeschichte. Das Verbrechen wird dabei nicht direkt, sondern als Traumsequenz geschildert. Thematisiert werden im Roman vor allem die Folgen des Diebstahls für das Opfer Emil, der sich gezwungen sieht, die Detektivrolle zu übernehmen. Da der Täter von vornherein bekannt ist, bezieht sich die Spannung der Handlung vor allem auf die Verfolgung des Diebes durch Berlin. Neben der Bedeutung des Detektivmotivs ist vor allem die Darstellung der Großstadt als Handlungsort hervorzuheben. Vorläufer waren hierbei Heinrich Scharrelmanns Berni-Geschichten (1908 ff.), Hans Dominiks John Workman, der Zeitungsboy (1909), Carl Dantz’ Peter Stoll. Ein Kinderleben (1925) und Wolf Durians Kai aus der Kiste (1926). Während sich der Aktionsradius von Kindern bislang eher auf Haus, Garten, Dorf und nähere Umgebung beschränkte, führt der Weg von der idyllisch geschilderten Provinz in die anonyme Großstadt. Zwischen der Abreise aus dem gemütlichen überschaubaren Neustadt, das sogar noch über eine Pferdebahn verfügt, und der Ankunft in Berlin liegt die Bahnfahrt Emils, deren Schilderung sich über zwei Kapitel hinzieht. Diese Fahrt ist für den weiteren Handlungsverlauf insofern wichtig, als hier nicht nur der Diebstahl während eines Alptraums von Emil passiert, sondern der Dieb Grundeis dem Jungen und den anderen Passagieren im Abteil auch eine surrealistisch anmutende Schilderung Berlins zum Besten gibt: „Na, da wirst du aber staunen! In Berlin gibt es neuerdings Häuser, die sind hundert Stockwerke hoch, und die Dächer hat man am Himmel festbinden müssen, damit sie nicht fortwehen… Und wenn es jemand besonders eilig hat, und er will in ein andres Stadtviertel, so packt man ihn auf dem Postamt rasch in eine Kiste, steckt die in eine Röhre und schießt sie, wie einen Rohrpostbrief, zu dem Postamt, das in dem Viertel liegt, wo der Betreffende hin möchte ... Und wenn man kein Geld hat, geht man auf die Bank

Verhältnis von Realität und Fiktionalität

Detektivroman für Kinder

Darstellung der Großstadt

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Perspektivenwechsel

Psychischer Gefühlszustand eines Kindes

und läßt sein Gehirn als Pfand dort, und da kriegt man tausend Mark. Der Mensch kann nämlich nur zwei Tage ohne Gehirn leben; und er kriegt es von der Bank erst wieder, wenn er zwölfhundert Mark zurückzahlt“ (47 f.). Diese Beschreibung Berlins durch Grundeis und der Traum, in dem mehrfach auf die Übertreibungen von Grundeis angespielt wird, sind Textpassagen, die nicht der Neuen Sachlichkeit, sondern dem Expressionismus zugeordnet werden können und Kästners literarische Vielseitigkeit unter Beweis stellen. Zugleich zeigt sich in der Reaktion Emils deutlich seine ambivalente Gefühlslage. Einerseits ist er neugierig und erwartungsvoll, andererseits unsicher und verängstigt. In dieser emotionalen Situation wird Emil nach dem Aufwachen mit dem Diebstahl des Geldes konfrontiert. Er reagiert zunächst völlig kopflos und panisch, besinnt sich dann aber und fällt in Windeseile den Entschluss, den Dieb, den er beim Blick aus dem Abteilfenster zufällig auf dem Bahnsteig des Berliner Bahnhofes „Zoologischer Garten“ entdeckt, zu verfolgen. Die erste Begegnung mit der Stadt Berlin ist folglich mit einer mehrfachen Stresssituation verbunden. Emil weiß, dass er am falschen Bahnhof ausgestiegen ist (er wird am Bahnhof Friedrichstraße von den Verwandten erwartet), dass er sich in der Stadt nicht auskennt und dass er allein die Verfolgung des Diebes auf sich nehmen muss, immer auf der Hut, nicht von diesem entdeckt zu werden. Der Wechsel zwischen Innensicht und Handlung bestimmt die nachfolgenden Kapitel. Die Gedanken Emils, seine Befürchtungen und seine visuellen Eindrücke von Berlin wechseln mit kurzen Passagen, in denen seine Aktionen beschrieben werden: „Wo war der steife Hut? Der Junge stolperte den Leuten vor den Beinen herum, stieß wen mit dem Koffer, rannte weiter. Die Menschenmenge wurde immer dichter und undurchdringlicher. Da! Dort war der steife Hut! Himmel, da drüben war noch einer! Emil konnte den Koffer kaum schleppen. Am liebsten hätte er ihn einfach hingestellt und stehenlassen. Doch dann wäre ihm auch der noch gestohlen worden!“ (66). Die Verbindung von Emils gehetztem Blick, seinen Gedankenfetzen, seiner durch das Menschengewühl eingeschränkte Wahrnehmung vermitteln ein anschauliches Bild von dem inneren Aufruhr des Jungen. Die Reizüberflutung, der er auf dem Weg durch die Bahnhofshalle zur Straßenbahnhaltestelle ausgesetzt wird, wird durch die Verknüpfung visueller (Leuchtreklame, Menschenmenge, Autos, hohe Gebäude), akustischer (Verkehrslärm, Geschrei) und haptischer (schwerer Koffer) Eindrücke verstärkt. Begleitet sind diese Eindrücke von Emils Gefühl der Hilflosigkeit und Angst. Einerseits traut er sich nicht, Erwachsene um Hilfe zu bitten, weil er befürchtet, dass ihm nicht geglaubt wird. Andererseits kennt er sich in Berlin überhaupt nicht aus und ist nur von dem Drang getrieben, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Die Furcht vor den Erwachsenen wird gleich an drei Stellen thematisiert: als Emil den Bahnhof verlässt und sich scheut, eine Dame anzusprechen, als er feststellt, dass er kein Geld bei sich hat, um eine Fahrkarte zu kaufen, und als er in der Straßenbahn ein Gespräch über Betrug belauscht. Selbst ein freundlicher Mann, der ihm das Geld für die Fahrkarte schenkt, wendet sich gleich wieder von ihm ab und vertieft sich in seine Zeitung. Das Gefühl der Verlassenheit kulminiert schließlich in der Aussage: „Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wußte, wo er aussteigen sollte. Vier

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive

Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Niemand will von den Sorgen des andern etwas wissen. […] Was würde werden? Emil schluckte schwer. Und er fühlte sich sehr, sehr allein“ (74 f.). In diesem Passus wird auf die Anonymität und die Entfremdung des Menschen in der Großstadt explizit hingewiesen. Emil empfindet die ihm ungewohnte Situation als bedrohlich, weil er sich nicht in Ruhe auf die neuen Umstände einlassen kann („Emil hätte sich gern alles in größter Ruhe betrachtet. Aber er hatte keine Zeit dazu“ (70)) und weil er – im Vergleich zu seiner Heimatstadt, wo jeder jeden kennt – bemerkt, dass die Menschen sich nebeneinander her bewegen und keinerlei Interesse für seine Sorgen zeigen. Gerade dieser Romanteil, beginnend mit der Schwellenüberschreitung im Bahnhof und endend mit dem Beobachterposten hinter dem Kiosk, hebt die ambivalenten Gefühle und Gedanken Emils angesichts der auf ihn einströmenden Eindrücke in der Großstadt hervor (Kümmerling-Meibauer 2007b). Das dominante Gefühl der Unsicherheit und Befremdung weicht von Emil erst, als er Gustav und seine Bande kennenlernt und diese ihn bei der Verfolgung des Diebes unterstützen. Ab diesem Moment, als er sich auf die Stadtkenntnis der anderen Jungen verlassen kann und nicht mehr allein Entscheidungen treffen muss, ist er in der Lage, Berlin mit anderen Augen zu betrachten. Die Verfolgungsjagd mit dem Taxi wird dabei nicht mehr aus der Perspektive Emils, sondern von einem extradiegetischen Erzähler geschildert. Durch die exakte Wegbeschreibung und die Nennung von Straßennamen und Plätzen ist der Leser in der Lage, den Weg Emils und der Detektive vom Bahnhof Zoologischer Garten bis zum Hotel Kreid am Nollendorfplatz nicht nur in Gedanken nachzuvollziehen, sondern er könnte ihn sogar anhand eines Berliner Stadtplanes detailliert verfolgen. Dieses „Prinzip der Verräumlichung“ (Karrenbrock 1995) ermöglicht es den Kindern erst, ohne ständige Kontrolle der Erwachsenen selbstständig zu agieren. Die Straße fungiert als sozialer Ort des Lernens, wobei die Stadt durch die filmische Erzählweise (rascher Szenenwechsel, Wechsel der Perspektiven, Dynamik der Handlung) als Handlungsspielraum erfahren wird. In der Großstadt lernt Emil Gefahren zu erkennen, rational zu denken und mit einer Gruppe Gleichaltriger zusammenzuarbeiten. Dass Emil nunmehr fasziniert, ja „verzaubert“ von Berlin ist, geht aus der nächtlichen Beschreibung der Stadt hervor: „Es war schon dunkel geworden. Überall flammten Lichtreklamen auf. Die Hochbahn donnerte vorüber. Die Untergrundbahn dröhnte. Straßenbahnen und Autobusse, Autos und Fahrräder vollführten ein tolles Konzert. Im Café Woerz wurde Tanzmusik gespielt. […] Der Junge war bezaubert und gerührt. Und er vergaß beinahe, wozu er hier stand und daß ihm hundertvierzig Mark fehlten“ (111 f.). Berlin verliert seine bedrohliche und einschüchternde Wirkung und nach der Verhaftung des Diebes findet Emil sogar, dass die Stadt und der Nollendorfplatz „viel harmloser und gemütlicher“ (153) aussehen, als er sie anfänglich wahrgenommen hatte. Diese letzte Beschreibung Berlins aus der Innenperspektive Emils macht nochmals explizit den Wandel in der Sichtweise des Jungen deutlich. Mit den Adjektiven „harmlos“ und „gemütlich“ nimmt er der Großstadt nicht nur den Schrecken, sondern stellt indirekt auch einen Bezug zu seinem Heimatort Neustadt her. Dennoch relativiert Emil in einem Gespräch mit dem Professor seine Begeisterung für Berlin. Er vergleicht Neustadt mit Berlin und stellt

Stadt als sozialer Ort des Lernens

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Filmische Erzählweise

Kindheitsbild

Utopische Aspekte

fest, dass ihm die Überschaubarkeit der Kleinstadt mehr behagt als die Unübersichtlichkeit der Großstadt, in der er sich letztendlich doch nicht heimisch fühlen und sich ständig verlaufen würde (Weinkauff 1999). Neben der einfühlsamen Darstellung des psychischen Gefühlszustandes eines Kindes zeichnet sich der Roman außerdem durch eine filmische Erzählweise aus. Bereits die Bildersequenz am Anfang, die an Standphotos für Kinoreklame erinnert, greift das Filmmotiv auf, auf narrativer Ebene zeigt sich der Einfluss des Films durch die Einfügung rascher Szenenwechsel und den Wechsel der Perspektiven, die wesentlich zur Dynamik der Handlung beitragen. Die Verbindung von Großstadt mit Abenteuer und neuen, faszinierenden Eindrücken wird zusätzlich durch die mehrfach in den Text eingefügten Kinovergleiche betont. Wenn Gustav nach der Schilderung des Diebstahls ausruft: „Na Mensch, das ist ja großartig! […] das ist ja wie im Kino!“ (84), verkennt er einerseits die Brisanz der Lage, denn der Diebstahl ist in den Augen Emils keineswegs „großartig“, andererseits hebt er den durch Kinofilme beeinflussten Blick auf die Ereignisse hervor. Die Kinder möchten gern ein Abenteuer wie im Kino erleben und schließen sich deshalb zur Detektivbande zusammen, um gemeinsam – ohne die Hilfe von Erwachsenen, die ihnen dieses Abenteuer verwehren würden – den Fall zu lösen. Während Petzold aufgrund seiner Kenntnis von „zweiundzwanzig Kriminalfilmen“ (93) wenig hilfreiche Vorschläge macht, sind die anderen Bandenmitglieder vernünftig genug, nicht alles, was sie im Kino gesehen haben, auch in die Tat umzusetzen. Dennoch kommt die Kinometaphorik nochmals in zwei Textpassagen vor. Emils Kusine Pony Hütchen sagt zur Begrüßung Emils gleich: „Also, Emil, du Rabe, […] kommt nach Berlin und dreht gleich ’nen Film!“ (107). Auch Emil erliegt kurzfristig dem Rausch der Großstadt und gesteht: „Berlin ist natürlich großartig! Man denkt, man sitzt im Kino“ (112), konzediert danach aber sofort, dass er doch lieber nicht in Berlin leben möchte. Diese Vergleiche betonen nicht nur die Vertrautheit der Kinder mit dem neuen Medium Kino, sondern auch die distanzierte Wahrnehmung der Ereignisse. Sie erleben die Aktionen so, als würde vor ihren Augen ein Film ablaufen und sie wären zufälligerweise die Akteure darin. Damit betont der Autor den Unterschied zwischen dem Detektivabenteuer der Kinder und ihrem gewöhnlichen Alltagsleben (Tost 2005). Kästner kritisiert zugleich das Ideal des gehorsamen Kindes, wie es noch in der Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts tradiert wurde, und schafft einen neuen Kindertypus, der sich durch Klugheit, Kooperationsbereitschaft und Selbstständigkeit auszeichnet. Die Selbsterziehung der Kinder wird dabei über die Kommunikation miteinander und die Aufstellung eines „Kinderparlaments“ („wir wollen wie im Reichstag abstimmen“ (116)) verdeutlicht. Die Diskussion zwischen dem Professor und den anderen Bandenmitgliedern über Recht und Unrecht versinnbildlicht, dass moralische Werte über Argumente vermittelt werden sollen. Mit der Integration öffentlicher Institutionen (Polizei, Presse), die Emil bei der Wahrheitsfindung behilflich sind, verdeutlicht Kästner – angesichts der Krisensituation in der Weimarer Republik – sinnfällig seine demokratische Auffassung (Schikorsky 1995). Bei allem Realismus der Darstellung trägt der Roman auch utopische Züge, wozu die Idealisierung des kleinbürgerlichen Milieus (mit den Forderungen nach Anstand, Zuverlässigkeit und Sparsamkeit), die Darstellung

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive

Emils als Musterknaben und das doppelte Glück am Ende zu rechnen sind. Gerade die ersten beiden Aspekte offenbaren die autobiographischen Bezüge zu Kästners eigener Kindheit. Seine Mutter war ebenfalls Friseuse und musste die Familie ernähren, als der Vater seine Sattlerei aufgeben musste. Die Verehrung Kästners für seine Mutter und der Wunsch, ihr zuliebe gute Schulleistungen zu erbringen, werden in der Beziehung zwischen Emil und seiner Mutter gespiegelt. Zudem glaubte Kästner mehr an die moralische Integrität von Kindern als von Erwachsenen und sieht in ihnen die Hoffnungsträger für eine humanere Gesellschaft. Der Lebensoptimismus der Figuren soll den kindlichen Lesern Mut machen und sie anregen, sich für sozial Schwache und deren Rechte einzusetzen. Neusachlich sind in Emil und die Detektive aber nicht nur die Motive (Großstadt, Verkehr, Tempo, Kino, Anonymität des Einzelnen in der Masse), die filmische Erzählweise, die Umsetzung des Realismus-Prinzips, der Zeitbezug und die Konzeption eines neuen Kindheitsbildes, sondern auch die sprachlichen Mittel. Neben den Leseranreden („Könnt ihr begreifen und werdet ihr nicht lachen, wenn ich euch jetzt erzähle, daß Emil ein Musterknabe war?“ (37)) gehören hierzu die Dialektausdrücke und der von den Kindern verwendete Jugendjargon. Auch hierdurch grenzt sich Kästner von den Forderungen vieler Kritiker ab, in Kinderbüchern ausschließlich Hochsprache zu verwenden. Formulierungen wie „jemanden für dußlig halten“, „quatsch dir keine Fransen“, „jemanden hopp nehmen“ oder „in die Klappe trollen“ und Ausdrücke wie „kolossal“ oder „dämlich“ sind dem zeitgenössischen Jugendjargon entnommen, während die Jungen aus der Detektivbande und Emils Großmutter typische Berliner Dialektausdrücke verwenden („Du kriegst die Motten!“, „Quatsch nicht Krause!“). Damit kommt Kästner dem Streben nach möglichst großer Authentizität hinsichtlich der Charakterisierung der Figuren nach, indem er sich bemüht, den Kindern und Erwachsenen auch durch ihren Sprachgebrauch Individualität zu verleihen. Die lustigen Formulierungen und die Diskrepanz zwischen sachlicher Darstellung und Jargonausdrücken tragen wesentlich zum Humor des Kinderromans bei. Ein wichtiger Bestandteil des Kästnerschen Humors sind darüber hinaus die ironischen Bemerkungen und schlagfertigen Dialoge, die teilweise schon Situationskomik aufweisen, so etwa beim Gespräch zwischen Emil und Kriminalwachtmeister Lurje, der Emils Nachnamen nacheinander als Stuhlbein, Fischbein und Überbein angibt und auf die Einwendungen Emils, dass er doch „Tischbein“ heiße, mit frechen Sprüchen „Jacke wie Hose“ oder „Auch’n ganz hübscher Name“ kontert (142 f.). Emil und die Detektive weist zahlreiche inhaltliche und strukturelle Gemeinsamkeiten mit Kästners Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (1931) auf. Auf den ersten Blick scheinen beide Romane gegensätzliche Weltanschauungen zu vertreten. Fabian wird von einem Gefühl der Ohnmacht und moralischen Verzweiflung dominiert, während in Emil und die Detektive eine optimistische Weltsicht vorherrscht. Aber dieser offensichtliche Gegensatz relativiert sich bei eingehender Betrachtung. In beiden Romanen trifft man auf das bedeutende Motiv des Kindes als Symbol der Hoffnung, eine weitere Gemeinsamkeit sind die ironisch gemeinten moralischen Schlussfolgerungen, die in den letzten Romankapiteln verkündet werden. Darüber hinaus sind beide Werke noch durch weitere thematische und

Sprachliche Merkmale

Vergleich mit Kästners Roman Fabian

107

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Bedeutung der Träume

Anfangs- und Schlussgestaltung

narrative Aspekte verzahnt: topographische Darstellung (Kleinstadt, Großstadt Berlin), die wichtige Funktion eines Traumes, der dem Leser Aufschluss über die Gefühle der Hauptfigur gibt, sowie die Anfangs- und Schlussgestaltung (Kümmerling-Meibauer 1999b). Die Anonymität der Großstadt, der Lärm und der Verkehr in Berlin werden in beiden Werken thematisiert. Die Hilflosigkeit der jeweiligen Hauptfiguren, die sich in der Menge verloren fühlen, wird durch eine filmische Erzählweise, die sich in schnellen Szenenwechseln und häufigem Wechsel der Perspektiven manifestiert, hervorgehoben. Die gegensätzliche Entwicklung der Hauptfiguren wird vor allem durch den von ihnen unternommenen Ortswechsel evident. Emil verlässt die Kleinstadt und wird in Berlin mit neuen Erfahrungen konfrontiert. Fabian dagegen kehrt nach mehreren Jahren in Berlin in seinen Heimatort zurück, findet aber auch dort keinen Halt angesichts seiner zunehmenden Desillusionierung. Ein Vergleich beider Romane enthüllt folglich zwei unterschiedliche Einstellungen gegenüber der Gesellschaft und dem Leben: in Fabian werden die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Weimarer Republik schonungslos aufgedeckt, in Emil und die Detektive dominiert eine utopische Weltsicht, indem ein Modell einer Kinderrepublik konstruiert wird, in der die politischen Ideen der Weimarer Republik verwirklicht werden. Ein anderer Anknüpfungspunkt ist die zentrale Rolle der Träume. In seinem Traum im Zug verarbeitet Emil die Ereignisse der letzten Tage: seine Angst vor der Polizei, seine Neugier über Berlin, seine Sorge um das Geld und die Sehnsucht nach der Mutter. In einer krisenhaften Situation verarbeitet auch Fabian seine Sorgen und Ängste in einem langen Traum, der von der Suche nach Freundschaft und Liebe sowie dem Sinn des Lebens bestimmt ist. Beide Träume, die mit ihren surrealistischen Passagen an den Expressionismus und den deutschen Stummfilm erinnern und durch die Ergebnisse der Psychoanalyse geprägt sind, können als psychologische Porträts der Hauptfiguren gedeutet werden. Moderne Erzähltechniken bestimmen auch die Anfangs- und Schlussgestaltung der Werke. Zu Beginn wird jeweils ein Dialog zwischen dem Erzähler (Emil und die Detektive) bzw. der Hauptfigur (Fabian) mit einem Kellner namens Nietenführ geführt, der um Rat gebeten wird. Während Fabian sich nicht an den Rat des Kellners hält und eine Vergnügungsstätte von zweifelhaftem Ruf aufsucht, entschließt sich der Ich-Erzähler in Emil und die Detektive, den Rat Nietenführs zu befolgen und statt eines phantastischen Südseeromans einen Großstadtroman für Kinder zu verfassen. Die Schlusskapitel sind durch ein doppeldeutiges Ende gekennzeichnet. Mit der Kapitelüberschrift „Läßt sich daraus etwas lernen?“ spielt Kästner in Emil und die Detektive auf die Erwartung an, dass ein Kinderbuch mit einer moralischen Botschaft enden sollte. So machen Emil und seine Mutter auch zwei verschiedene Vorschläge, als ihnen diese Frage gestellt wird. Die Großmutter lehnt beide ab und schlägt als Regel vor: „Geld soll man per Postanweisung schicken!“ (173). Diese pragmatische Lösung widerspricht der Erwartung einer allgemeinen moralischen Regel. Zugleich deutet sich hier ein Zirkelschluss an. Wenn Emils Mutter das Geld per Postanweisung geschickt hätte, hätte Emil nicht das Abenteuer in Berlin erlebt und demzufolge auch nicht die Belohnung erhalten. Auch in Fabian wird die ambivalente Bedeutung

3. Erich Kästner: Emil und die Detektive

des Endes bereits in der Kapitelüberschrift angezeigt: „Lernt schwimmen!“. Dieser Titel hat eine zweifache Bedeutung: einerseits kann er auf den Tatbestand hindeuten, dass man selber schwimmen können muss, bevor man einen Ertrinkenden rettet, andererseits referiert er auf die idiomatische Wendung „mit/gegen den Strom schwimmen“. In beiderlei Hinsicht scheitert Fabian, denn er kann weder schwimmen noch fügt er sich in die Gesellschaft ein. Dem traurigen Ende Fabians, der bei beim Versuch, ein in den Fluss gefallenes Kind zu retten, ertrinkt, steht jedoch ein glückliches Ende gegenüber: das Kind überlebt. Die Ironie von Fabians unnötigem Tod ergibt sich aus der Tatsache, dass das Kind eigentlich nicht gerettet zu werden braucht, denn es kann – im Gegensatz zu Fabian – schwimmen. Wenn man diese Beobachtungen weiterführt, so erkennt man, dass beide Romane von einer utopischen Idee bestimmt sind, nämlich dem Kind als Symbol der Hoffnung. Dies wird direkt in Emil und die Detektive und indirekt in Fabian ausgedrückt. Kästner, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlte, hielt Werte wie moralische Integrität, Gerechtigkeit, demokratisches Verhalten und Solidarität hoch. Er glaubte, dass diese Werte eher bei Kindern als bei Erwachsenen anzutreffen seien. Aus diesem Grund betonte er die Souveränität und den Mut von Kindern. Indem er die moralische Integrität des Kindes hervorhob, verfolgte Kästner ein utopisches Ziel, das in die Zukunft weist. Diese Ideen kommen auch in Fabian vor. Viermal trifft die Hauptfigur auf Kinder. Jede Szene unterstreicht die Unschuld der Kinder und bildet somit einen Kontrast zur Weltsicht der Erwachsenen. Durch den Vergleich eines Kinderromans mit einem Erwachsenenroman ergeben sich folglich neue Aspekte. Beide Werke ergänzen sich, obwohl sie voneinander unabhängig sind. Man muss nicht das Kinderbuch lesen, um Fabian zu verstehen, und umgekehrt. Dennoch zeigt sich, dass die Kenntnis beider Werke dazu beiträgt, ihre tiefere Bedeutung zu erfassen. Das Netz intertextueller Anspielungen zwischen beiden Romanen erzeugt den Effekt, dass jeder Roman in sich abgeschlossen zu sein scheint, aber zugleich auch eine Bedeutung erlangt, die über das Einzelwerk hinausgeht. Durch diese komplexe Verbindung erweist sich Kästner als Crosswriter, der nicht nur für Erwachsene und für Kinder geschrieben hat, sondern der die kindliche und die erwachsene Perspektive in seinen Werken miteinander verknüpft und ihnen dadurch eine Doppelsinnigkeit verleiht. Mit seinem ersten Kinderroman war Kästner ein internationaler Erfolg beschieden. In der englischsprachigen Forschung wird er sogar als „Dean of German Writers for Children“ (Encyclopedia of Britannica, 1973) tituliert, sein Emil-Roman hat es zudem – neben den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm – als einziges deutschsprachiges Kinderbuch in entsprechende internationale Kinderklassikerreihen geschafft. Viele deutschsprachige, aber auch internationale Autoren begannen, nach Kästners Vorbild Detektivgeschichten für Kinder zu verfassen, so dass der Literaturkritiker Rudolf Frank 1932 sogar von einem „Emilismus-Trend“ sprach. Die deutschsprachigen Kriminalromane für Kinder, wie Alex Weddings Ede und Unku (1931), Wilhelm Matthießens Das rote U (1932) und Max Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel (entstanden 1932, 1953 auf Deutsch erschienen), sowie die tschechischen Romane Kluci, huá za nim! (Haltet den Dieb!, 1933; dt. 1964) von Václav Rˇezacˇ und Bileho Klice (Der weiße Schlüssel, 1934; dt.

Kind als Symbol der Hoffnung

Kästner als Crosswriter

Internationale Rezeption

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Mediatisierungen

1958) von Frantisek Langer sind ohne das Vorbild Kästners nicht denkbar. Auch nach 1945 lässt sich der Einfluss von Kästner auf Kinderkriminalromane nachweisen, etwa Paul Berna: Le cheval sans teˆte (Das Pferd ohne Kopf, 1955; dt. 1956), Enid Blyton: The Famous Five-Serie (1942–1963; dt. 1953 ff.), Astrid Lindgren: Mästerdetektiven Kalle Blomkvist (Meisterdetektiv Kalle Blomquist, 1948; dt. 1954) und Alfred Weidenmann: Gepäckschein 666 (1959). Emil und die Detektive wurde in fast alle Weltsprachen übersetzt, wobei man bei vielen Ausgaben das Vorwort und die zehn Bilder weggelassen hat. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten gehörte Kästner zu den verfemten Autoren, dessen Werke öffentlich verbrannt wurden. Seine Romane wurden auf die „Schwarze Liste“ gesetzt, wobei allerdings Emil und die Detektive mit dem Vermerk „Alles außer Emil“ ausgenommen wurde. Dennoch durfte dieses Werk nicht mehr in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen werden. Kästner verfasste bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des Kinderromans ein Theaterstück, das 1930 in Berlin uraufgeführt wurde. Er war auch an der Ausarbeitung des von Billy Wilder verfassten Drehbuches, das von den UFA Studios in Auftrag gegeben wurde, beteiligt und setzte sich mit seiner Forderung durch, dass die Kinder in dem Film nicht von Erwachsenen, sondern von Kinderschauspielern gespielt werden. Der berühmte Film von Gerhard Lamprecht, der dann 1931 in die Kinos kam und als erster abendfüllender Spielfilm für Kinder angesehen wird, durfte noch bis 1937 in deutschen Kinos vorgeführt werden. Dass der Roman bis heute nicht an Attraktivität verloren hat, sieht man daran, dass mehr als zehn weitere Filmadaptionen (u. a. in England, den USA, Ungarn, Japan, Brasilien und der DDR) gedreht wurden. Mit der Neuverfilmung durch die Regisseurin Franziska Buch im Jahr 2001 wurde in Deutschland zugleich eine neue Welle des modernen Kinderfilms eingeleitet.

4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967) Kinderlyrik und der deutsche Buchmarkt

Gedichte für Kinder bilden – im Vergleich zu den fast 7.000 Neuerscheinungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur, die jährlich auf dem deutschsprachigen Buchmarkt erscheinen – ein kleines und überschaubares Textkorpus. Neben Reprints erfolgreicher Gedichtanthologien, etwa So viele Tage wie das Jahr hat (1959, herausgegeben von James Krüss) oder Das große Lalula (1971, herausgegeben von Elisabeth Borchers), und Bilderbüchern mit Versen, seien es Heinrich Hoffmanns Der Struwwelpeter (1845), Erich Kästners Das verhexte Telefon (1931) oder die zahlreichen Bilderbücher mit Gedichten von James Krüss, wie Henriette Bimmelbahn (1958) oder Der blaue Autobus (1958), findet man in diesem Sektor vor allem Bände mit Kinderliedern oder Gedichten für Kleinkinder. Neu konzipierte und verfasste Gedichtbücher für ältere Kinder oder Jugendliche sind dagegen eher selten; durchschnittlich erscheinen in Deutschland pro Jahr ca. 10–20 neue Gedichtbände für Kinder, darunter auch Anthologien mit bereits veröffentlichten Gedichten. Darüber hinaus werden weiterhin Bilderbücher mit Texten in Versform verlegt, die sich aber eher an die Zielgruppe der Vorschulkinder richten.

4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag?

Obwohl Kinder in der Regel schon sehr früh mit einfachen Gedichten in Form von Kinderliedern, Kniereiterliedern, Fingerspielen und Abzählversen in Berührung kommen, sich folglich hierbei ein erster Kontakt zu literarischen Formen abzeichnet, nimmt die Kinderlyrik in der deutschsprachigen, aber auch in der internationalen Kinderliteraturforschung nur eine Randstellung ein. Am ehesten befasst man sich noch in der Sprach- und Literaturdidaktik mit Kinderliedern und Kindergedichten, denen man eine zentrale Rolle beim frühen Sprach- und Literatur-Erwerb einräumt. Durch die Strukturierung von Sprache durch Metrik, Reime und Strophen werde einerseits die Freude am sprachlichen Klang und die Einprägsamkeit der literarischen Formen unterstützt, andererseits haben linguistische Untersuchungen bewiesen, dass etwa mithilfe des Binnen- und Endreims, aber auch der Alliteration das phonologische Bewusstsein, d. h. die Fähigkeit, Wörter in Silben und einzelne Phoneme zu segmentieren, von Kindern im Vorschulalter gefördert wird. Dem phonologischen Bewusstsein räumt man einen hohen Stellenwert beim frühen Lese- und Schreiberwerb ein, so dass Kindergedichte und Sprachspiele mittlerweile zum unverzichtbaren Bestand der vorschulischen und schulischen Sprachförderung, auch im Hinblick auf den integrativen Deutschunterricht, geworden sind. Literaturhistorische, poetische und ästhetische Fragestellungen, die mit der Analyse von Kindergedichten konnotiert sind, werden hierbei allerdings kaum beachtet. In der deutschen Kinderliteraturgeschichtsschreibung wird zwar auf die Bedeutung kinderlyrischer Werke, angefangen von den Kindergedichten Christian Adolf Overbecks, der Kinderliedsammlung im Anhang zu Des Knaben Wunderhorn (1808), herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano, über die Fabelsammlung von Wilhelm Hey, den Kindergedichten von Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Friedrich Rückert, Richard und Paula Dehmel, Erich Kästner, Bertolt Brecht, Mascha Kaléko, Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz bis hin zu den kinderlyrischen Werken von Christine Busta, Josef Guggenmos, Peter Hacks, James Krüss, Hans Manz und Jürgen Spohn hingewiesen, eine eingehende theoretische Analyse dieser Werke steht in der Regel noch aus. Dies verwundert umso mehr, wenn man bedenkt, dass sich unter den deutschsprachigen Kinderlyrikern viele Autoren und Autorinnen von Rang und Namen befinden, die darüber hinaus auch als Crosswriter bekannt geworden sind, also Werke sowohl für Kinder als auch für Erwachsene verfasst haben. Ein weiteres, bislang kaum untersuchtes Phänomen ist die Integration von Gedichten in Kinderromane. Herausragend sind die zyklisch angeordneten Helgoland-Romane von James Krüss (Der Leuchtturm auf den Hummerklippen, 1956; Mein Urgroßvater und ich, 1959), Das Windloch (1956) von Peter Hacks, oder die sechs Sams-Bände von Paul Maar (1973–2011). Die eingefügten Kindergedichte dienen in diesen Romanen verschiedenen Zwecken. Sie unterstützen die humorvolle Wirkung der Handlung, regen die kindliche Phantasie und Kreativität an und reflektieren die poetische Funktion von Literatur. Obwohl sich in der deutschsprachigen Kinderlyrik nach 1945 keine großen Zäsuren abzeichnen, so dass man eher von einem Nebeneinander verschiedener Traditionen und innovativer Ansätze sprechen kann (Kliewer 1999), können doch unterschiedliche Einflussbereiche und Themen ausfindig gemacht werden. Mit Lustige Verse für kleine Leute (1956), Was denkt

Bedeutung von Reimen und Kindergedichten für den Literaturerwerb

Kinderlyrik seit der Aufklärung: ein Überblick

Entwicklung der Kinderlyrik nach 1945

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Kanonisierung von Guggenmos als Kinderlyriker

die Maus am Donnerstag? (1967), Gorilla, ärgere dich nicht (1971), Oh Verzeihung, sagte die Ameise (1990) und Groß ist die Welt (2006) publizierte Guggenmos Gedichtbände, die sich durch eine Vielfalt der Themen und Formen auszeichnen. Waren die 1950er Jahre noch von einer eher elegischsentimentalen Rückbesinnung geprägt, wobei Christine Busta, Peter Hacks und James Krüss mit ihren Gedichtbänden und Anthologien wichtige Akzente setzten, zeichnete sich mit den 1960er Jahren ein durchgreifender Wandel ab. Auf der einen Seite entdeckte man die Vorkriegslyrik für Kinder wieder, allen voran die bahnbrechenden Werke von Bertolt Brecht (Die drei Soldaten, 1932; Svendborger Gedichte, 1939), Christian Morgenstern (Osterbuch, 1908; Klein-Irmchen, 1921) und Joachim Ringelnatz (Geheimes Kinder-Spiel-Buch, 1924; Kinder-Verwirr-Buch, 1931). Dem Einfluss von Morgenstern und Ringelnatz, aber auch dem wachsenden Interesse an der angelsächsischen Kinderliteratur ist es ferner zu verdanken, dass der Nonsens seinen angestammten Platz in der Kinderlyrik fand. Während die 1960er Jahre von Autoren wie Bruno Horst Bull, Michael Ende, Hans Adolf Halbey, Max Kruse und Wolfdietrich Schnurre geprägt wurden, trugen die Gedichte von Susanne Kilian, Hans Manz, Christine Nöstlinger und Jürgen Spohn in den 1970er Jahren wesentlich zur Erweiterung des kinderlyrischen Spektrums bei. Beeinflusst durch die antiautoritäre Bewegung und das damit einhergehende geänderte Kindheitsbild wurden vermehrt sozialkritische Gedichte veröffentlicht, die die aktive Teilnahme des Kindes an gesellschaftlich-politischen Prozessen forderten. Darüber hinaus wurden Dialekt und Kindermundart wieder hoffähig, wobei an entsprechende kinderlyrische Experimente der Jahrhundertwende (Richard Dehmel, Berthold Otto, Frida Schanz) angeknüpft wurde. Eine Hinwendung zur Erwachsenenlyrik, die sich bereits in der Anthologie Das große Lalula (1971) anbahnte, ist ein wesentliches Merkmal der Kinderlyrik seit Beginn der 1980er Jahre. Autoren, die sich als Verfasser von Lyrik für Erwachsene einen Namen gemacht hatten, verfassten nun Gedichte für Kinder, darunter Erich Fried, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker. Dies führte dazu, dass nicht nur bis dahin tabuierte Themen aufgegriffen wurden, sondern dass auch immer mehr mit den Konventionen des Kindergedichtes gebrochen wurde, indem auf den Reim als strukturierendes Element verzichtet wurde und freie metrische Formen verwendet wurden. In mehrfacher Hinsicht stellt Josef Guggenmos’ Gedichtsammlung Was denkt die Maus am Donnerstag? (1967) einen Meilenstein in der Geschichte der deutschsprachigen Kinderlyrik des 20. Jahrhunderts dar. Für dieses Werk erhielt der Autor 1968 die Prämie zum Deutschen Jugendbuchpreis. Damit wurde zum ersten Mal im Rahmen dieses Preises ein Werk mit Kindergedichten ausgezeichnet, eine Ehre, die nach ihm nur noch Jürgen Spohn für Drunter und drüber (1981) zuteilwurde. Für Guggenmos bedeutete diese Auszeichnung der Durchbruch. Seitdem werden seine Gedichte in Anthologien, Lesebüchern und Schulbüchern abgedruckt und haben wesentlich zu seiner Kanonisierung als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kinderlyriker der Nachkriegszeit beigetragen. Mit der Verleihung des Sonderpreises für ein kinderlyrisches Gesamtwerk im Jahr 1993 (im Rahmen des Deutschen Jugendliteraturpreises) hat man diesem Umstand Rechnung getragen. Bis in die Gegenwart hinein kommt in fast allen (auch aktuellen) Schullese-

4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag?

büchern und Anthologien mindestens eines seiner populären Gedichte vor, seien es „Was denkt die Maus am Donnerstag?“, „Wieviel wiegt ein Fink?“, „Ich weiß einen Stern“, „Ein Elefant marschiert durchs Land“, „So geht es in Grönland“ oder „Auf dieser Erde“. Was denkt die Maus am Donnerstag?, illustriert mit 56 Holzschnitten von Günther Stiller, enthält 123 Kindergedichte. Neben Tier- und Naturgedichten finden sich ABC-Gedichte, Nonsens-Gedichte, Dialog-Gedichte, Rätselgedichte, Spielgedichte und Gedichte, die den Alltag und die Erlebniswelt des Kindes beschreiben. Die Mehrzahl der abgedruckten Gedichte ist relativ kurz, die kürzesten umfassen vier Zeilen, andere wiederum haben 2–4 Strophen mit 3–6 Zeilen. Zu den längsten Gedichten gehören „Die Giraffe“, „Geschichte vom Wind“ und „Briefwechsel zwischen Erna … und der Maus“, die jeweils eine ganze Buchseite ausfüllen. Die Gedichte in diesem Band sind weder durch Rahmengedichte noch Kapitelunterteilungen strukturell angeordnet. Dennoch ist die Reihenfolge der Gedichte nicht willkürlich, sondern folgt gewissen thematischen und formalen Prinzipien. Das erste Gedicht „Mein Haus“ kann als Kontrapunkt zum letzten Gedicht „Große Fahrt“ eingestuft werden. Während im erstgenannten Gedicht das Innere des Hauses und die darin ausgeübten Tätigkeiten im Verlauf einer Woche beschrieben werden, schildert das abschließende Gedicht die Fahrt eines Kindes auf seinem Dreirad, weg vom Haus auf einer langen Straße bis zum Ende der Welt. Mit dem letzten Wort „Ade“ schließt nicht nur dieses Gedicht, sondern zugleich auch der gesamte Band. In der Mitte des Werkes finden sich 15 Vierzeiler, in denen jeweils ein Tier beschrieben wird. Eine weitere thematische Gruppe stellen die sechs Stimmungsgedichte „Wäre die Wolke ein Kissen …“, „Das Windrad“, „Im Bett“, „Die Kuckucksuhr“, „Wer war’s?“ und „Der Schatten“ dar, die die in den Titeln genannten Dinge aus der Perspektive eines Kindes schildern, wobei eine elegische Stimmung zutage tritt. Andere Gedichte wiederum sind durch Themen, Figuren oder Gedichtstruktur miteinander verzahnt. Die sich auf einer Doppelseite gegenüberstehenden Gedichte „Eine Gans aus Buntpapier“ und „Der Scherenschnitt“ thematisieren den Aspekt, was man aus Papier herstellen kann. „Nadel und Schere“ und „Der Faden“ sind Dinggedichte, die mithilfe von Dialog bzw. Inneren Monolog charakteristische Eigenschaften der Nähwerkzeuge hervorheben. An „Was denkt die Maus am Donnerstag?“ schließt das zwei Seiten umfassende Gedicht „Briefwechsel zwischen Erna ... und der Maus“ an. Neben dem Prinzip des Parallelismus ist noch dasjenige des Kontrastes erkennbar, wenn ein lustiges Nonsensgedicht mit einem eher ernsthaften Naturgedicht kombiniert wird. Die zyklische Struktur des Bandes wird darüber hinaus durch Motivketten betont. Durch die Anordnung nach dem Parallelismus- und Kontrastprinzip entsteht beim Lesen eine Netzstruktur, die Beziehungen zwischen den einzelnen Gedichten herstellt und damit beim Leser den Eindruck hinterlässt, dass jedes Gedicht für sich gelesen werden kann, aber zugleich in enger Verbindung zu den anderen Gedichten des Bandes steht. Neben der sprachlichen Prägnanz fallen die differenzierte Reimgestaltung und der prosanahe Zeilenbau auf (Kliewer 1999). Obwohl bei den meisten Gedichten der Endreim vorzufinden ist (eine Ausnahme ist etwa das Gedicht „Amsel“, das keinerlei Reimformen aufweist), wird zwischen verschiedenen

Inhalt

Struktur des Gedichtbandes

Stilistische Merkmale

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Tier- und Naturgedichte

Reimanordnungen (Kreuzreim, Paarreim, Blockreim, Kettenreim, Schweifreim), mitunter auch in demselben Gedicht, gewechselt (vgl. „Drei Grafen“). Neben der Wahl ungewöhnlicher Reime (tat/Inserat; Brüssel/Rüssel; vor/ Humor; bröselfein/querfeldein) fällt die Tendenz zur Bildung unreiner Reime auf (Riese/Gemüse; los/Geschoss; Mann/stramm; Berlin/grün). Weitere stilistische Eigenheiten, die Guggenmos verwendet, sind die parametrischen Elemente Enjambement und Alliteration („Sieben kecke Schnirkelschnecken“), außerdem Bending, d. h. die Anpassung sprachlicher Formen an literarische Formen (z. B. sag/Tag; Wurstebrot) sowie die Silbenwiederholung (Kro-kro-Krokodil; nähtetetete), und die Silbenvariation (Hi-hu-ha-heulen). Auffällig ist ferner die Nähe zu kommunikativen Diskursformen. So fangen allein acht Gedichte mit einer Frage an, um die Neugier des Lesers zu wecken. Wiederum andere Gedichte sind in Form eines Dialogs („Die Traufe und das Kind“, „Gespräch mit der Raupe“, „Gespräch im Wald“, „Nadel und Schere“) oder Briefwechsels gehalten („Briefwechsel zwischen Erna … und der Maus“). Beim Versmaß ist eine Vorliebe für die metrischen Formen Trochäus und Jambus erkennbar, etliche Kindergedichte weisen jedoch freie Rhythmen auf („Im Bett“; „Geschichte vom Wind“, „Am Morgen“). Während einige Gedichte eine didaktische Tendenz erkennen lassen („ABC“, „Mein Haus“), regen die Rätselgedichte („Es war einmal ein lustiger Mann“, „Das W…“, „Ein Baum wächst am Hügel“) zum Erraten der beschriebenen Gegenstände an. Die eingefügten Nonsens-Gedichte („Wick“, „Ein Elefant marschiert durchs Land“, „Hans Hense mit der Sense“, „Halb so schlemm“) und das Buchstabengedicht „O unberachenbere Schreibmischane“ weisen zahlreiche Neologismen, Okkasionalismen und Sprachspiele auf, die die metasprachliche Aufmerksamkeit des kindlichen Zuhörers bzw. Lesers herausfordern. Zugleich tragen die Nonsensgedichte ebenso wie die Dialoggedichte und einige Tiergedichte zur humoristischen Wirkung bei. Trotz des zuweilen aufscheinenden Humors schneidet Guggenmos aber durchaus ernsthafte Themen an, insbesondere in seinen Naturgedichten, wenn er die Not der Tiere im Winter erwähnt („Im Herbst“) oder die Veränderungen in der Natur beschreibt („Die Tulpe“, „Regen“). Im Gedicht „Ein Riese warf einen Stein“ wird die Kritik am unbedachten Verhalten von Menschen gegenüber Tieren metaphorisch umschrieben. Aus der Sichtweise von Ameisen erscheint ein Junge, der mutwillig durch einen Steinwurf ihre Burg beschädigt, riesengroß. Während die ersten beiden Strophen die Aktion des „Riesen“ und die dadurch ausgelösten Folgen (Einsturz von Zimmern und Gängen, zahlreiche Tote und Verletzte) in allgemeiner Weise schildern, wird mit der dritten Strophe der Sachverhalt aufgelöst, wobei der kontextauflösende Begriff „Ameisenhaufen“ erst in der letzten Verszeile genannt wird. Die Tiergedichte weisen eine Tendenz zur Anthropomorphisierung auf: die Tiere haben Eigennamen, verhalten sich wie neugierige Kinder, kommunizieren untereinander oder gehen sogar eine Unterhaltung mit Menschen ein („Gespräch mit der Raupe“, Wieviel wiegt ein Fink?“), während die Naturgedichte sich mehr auf die poetische Beschreibung von Naturphänomenen (Wind, Regen, Jahreszeitenwandel, Pflanzenwachstum) konzentrieren. Das titelgebende Gedicht „Was denkt die Maus am Donnerstag?“, das nicht am Anfang des Bandes, sondern im letzten Drittel abgedruckt ist, gehört zwar ebenfalls zur Kategorie der Tiergedichte, widerläuft aber durch

4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag?

konzeptuelle Verschiebungen und ironische Wendungen die Lesererwartungen. Was denkt die Maus am Donnnerstag? Was denkt die Maus am Donnerstag, am Donnerstag, am Donnerstag? Dasselbe wie an jedem Tag, an jedem Tag, an jedem Tag. Was denkt die Maus an jedem Tag, am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und jeden Tag, und jeden Tag? O hätte ich ein Wurstebrot mit ganz viel Wurst und wenig Brot! O fände ich, zu meinem Glück, ein riesengroßes Schinkenstück! Das gäbe Saft, das gäbe Kraft! Da wär ich bald nicht mehr mäuschenklein, da würd ich bald groß wie ein Ochse sein. Doch wäre ich erst so groß wie ein Stier, dann würde ein tapferer Held aus mir. Das wäre herrlich, das wäre recht – und der Katze, der Katze ginge es schlecht! (Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? Recklinghausen 1967. S. 87) Bereits im Titel werden drei verschiedene konzeptuelle Domänen miteinander verbunden: Tier (Maus), Wochentag (Donnerstag) und die intellektuelle Fähigkeit des Nachdenkens. Die Kombination dieser drei Domänen betont die Ungewöhnlichkeit der Frage, denn man erwartet weder, dass eine Maus denken kann, noch dass für diese Wochentage relevant sind. Die TitelFrage ist zugleich die erste Verszeile der ersten Strophe, wobei die Präpositionalphrase „am Donnerstag“ drei Mal wiederholt wird. Die Antwort in der zweiten Strophe greift das Strophenschema der ersten Strophe auf, indem wiederum eine Präpositionalphrase („an jedem Tag“) drei Mal wiederholt wird. Die Antwort selbst ist redundant, indem nicht verraten wird, was die Maus denkt, sondern nur, dass sie an jedem Tag dasselbe denkt. Infolgedessen wird die Frage in variierter Form in der dritten Strophe nochmals wieder-

Interpretation des titelgebenden Gedichtes

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Das Stimmungsgedicht „Der Schatten“

holt, wobei „am Donnerstag“ durch „an jedem Tag“ ersetzt wird, mit einer eingefügten Verszeile, in der drei Wochentage (Dienstag, Mittwoch, Donnerstag) aufgezählt werden. Während die ersten drei Strophen aus drei bzw. vier Zeilen bestehen, die alle mit dem Wort „Tag“ enden, ändert sich das Reimschema in der letzten Strophe, die 16 Verszeilen enthält. Hier werden Paarreim und Kreuzreim verwendet, wobei zwei Verszeilen keinen Reim bilden. In der vierten Strophe findet ein Sprecher- und Perspektivenwechsel statt. Während die Fragen und Antworten der ersten drei Strophen einem personalen, namenlosen Erzähler zugeordnet werden können, kommt in der vierten Strophe die Maus zu Worte, indem ihre Gedanken wiedergegeben werden. Durch die ausschließliche Verwendung des Konjunktivs II wird indiziert, dass hier eine Traumwelt evoziert wird. Die Maus wünscht sich ein Wurstbrot mit viel Wurst und ein riesengroßes Schinkenstück. Diese Nahrung soll dabei nicht nur den Hunger stillen, sondern der Maus so viel Kraft verleihen, dass sie über sich selbst hinauswächst und es sogar mit der Katze aufnehmen kann. Das Wunschdenken der Maus wird durch einen Größenvergleich symbolisiert. Sie würde sich von einer winzigen Maus zu einem Tier wandeln, das so groß wie ein Ochse sei. Diese Veränderung der Statur, nochmals betont durch den nachfolgenden Vergleich mit einem Stier, würde zugleich bedingen, dass die Maus ihre hilflose Opferrolle aufgäbe und sich als „tapferer Held“ aufführen könnte, der sich den Attacken der Katze widersetzen könnte. Die mit diesem Wunschdenken einhergehende Emphase wird durch die zweimal eingefügte Interjektion „O“ und die Interpunktion (mehrmalige Verwendung des Ausrufezeichens) betont. Ein Spannungsbogen wird in diesem Gedicht dadurch aufgebaut, dass das Ziel dieses Wunschtraumes, nämlich sich gegen die Katze wehren zu können, erst in den letzten drei Zeilen genannt wird: „und der Katze, der Katze, ginge es schlecht!“. Mit dieser Aussage, die gleichsam den Kulminationspunkt des Wunschtraumes darstellt, endet das Gedicht. Die Deutung dieses Wunsches, insbesondere seine Irrealität, bleibt dem Leser überlassen. Durch den zunächst profan klingenden Wunsch nach Wurstbrot und Schinkenstück und die damit konnotierten Wunschvorstellungen von riesiger Größe, Kraft und Heldentum entsteht eine komische Wirkung, die durch die Wiederholungen einzelner Wörter und Satzpassagen betont wird. Die Poetizität des Gedichtes enthüllt sich dabei vor allem in den Endreimen, den Wiederholungen, Kontrasten („riesengroß“ versus „mäuschenklein“), der Verwendung des Konjunktivs II, und dem „Bending“ („Wurstebrot“ statt „Wurstbrot“, „wär“ statt „wäre“, usw.). In dem Gedicht „Der Schatten“ tritt ein lyrisches Ich zutage. Die drei Strophen mit Blockreim beschreiben aus der Sicht eines Kindes, wie es den Schatten wahrnimmt, wobei nur durch den Titel indiziert wird, dass das Gedicht das Phänomen des Schattens umschreibt. Wenn man den Titel nicht wüsste, hätte das Gedicht eine Rätselstruktur, weil man als Leser anhand der Angaben ermitteln müsste, wovon die drei Strophen eigentlich handeln. Der Schatten selbst, als „er“ bezeichnet, wird anthropomorphisiert, indem ihm Handlungen zugeschrieben werden, die sich im Verhalten des Kindes spiegeln (gehen, stehen, herumtollen). Zugleich wird festgehalten, dass er weder sprechen noch Gefühle äußern kann. Als auffallendstes Merkmal wird jedoch die Größenrelation genannt: der Schatten könne sowohl winzig klein

4. Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag?

als auch riesengroß sein, wobei der Grund für diese Veränderung nicht genannt wird. Die in diesem Gedicht anklingenden Topoi und Ideen weisen gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gedicht „My shadow“ aus Robert Louis Stevensons klassischer Gedichtsammlung The Child’s Garden of Verses (Im Versgarten, 1885; dt. 1960) auf. Dieses Werk hatte Guggenmos 1969 unter dem Titel Mein Königreich übersetzt, so dass es naheliegt, dass Guggenmos durch die intensive Auseinandersetzung mit Stevensons Kinderlyrik zu seinen Stimmungsgedichten angeregt wurde. Der Topos der kindlichen Stimme, die sich in Stevensons, aber auch vielen Gedichten von Guggenmos manifestiert und der Leserschaft auf der narratologischen und sprachlichen Ebene den Eindruck vermittelt, dass ein kindlicher Erzähler unmittelbar über seine Erlebnisse und Eindrücke berichtet, gehört jedenfalls zu den innovativen Leistungen, die Guggenmos’ Gedichtsammlung auszeichnen. Guggenmos, der mehrere Lyrikausgaben für Erwachsene verfasst (u. a. Gugummer geht über den See, 1957) und sich in seinen letzten Lebensjahren dem japanischen Haiku zugewandt hatte, hat im Nachwort mit dem Titel „Das Schreiben von Kindergedichten als schöne Kunst betrachtet“ über die Affinität von Kinderlyrik und Lyrik für Erwachsene reflektiert. Guggenmos beginnt seinen Essay mit einem Gedankenspiel: wie würde ein Kindergedicht des antiken Dichters Vergil aussehen? Weder habe Vergil ein Kindergedicht verfasst noch seien Kindergedichte aus der Antike überliefert, aber Guggenmos sieht eine Analogie zum Kindergedicht in Vergils Hinwendung zu den einfachen Dingen und alltäglichen menschlichen Handlungen in seinen Eklogen und Hirtengedichten. Die drei Eigenschaften Anschaulichkeit der Sprache, Konzentration auf das Wesentliche und Darstellung alltäglicher Dinge und Handlungen schreibt Guggenmos somit einem gelungenen Kindergedicht zu. Um seine Ansichten zu untermauern, zitiert Guggenmos ein wenig bekanntes Gedicht aus Achim von Arnims und Clemens Brentanos Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808). Anhand dieses kurzen Kinderreimes stellt Guggenmos zwei weitere Merkmale gelungener Poesie für Kinder heraus: die Mehrdeutigkeit, die dazu verleitet, das Gedicht immer wieder zu lesen oder aufzusagen, und die stilistischen Abweichungen, die verhindern, dass man das Gedicht herunterleiern könne. Daran schließt Guggenmos die Beobachtung an, dass Kinder zwar künstlerisch überaus produktiv seien und sich durch ein hohes kreatives Potential auszeichneten, allerdings in der Regel nicht in der Lage seien, selbst ein Gedicht oder Reime zu produzieren, die nicht von inhaltlichen und sprachlichen Klischees dominiert wären. Guggenmos führt diese Tendenz darauf zurück, dass Kindern zu viele schlechte Kindergedichte vorgetragen oder vorgelesen würden, so dass ihre Spontaneität und Kreativität dadurch behindert werde. In einem letzten Schritt behauptet Guggenmos einerseits, dass ein Autor von Kindergedichten diese zunächst für sich selbst, gleichsam für das Kind im erwachsenen Menschen, geschrieben habe. Neben diesem nostalgischen Rückbezug fordert Guggenmos andererseits, dass auch ein Kinderlyriker die höchsten literarischen Ansprüche an sein Werk stellen müsse. Kinderlyrik, die all diesen genannten Ansprüchen genüge, würde denselben kanonischen Status erlangen wie die berühmtesten Gedichte für eine erwachsene Leserschaft. Guggenmos greift folglich in seinem Nachwort Aspekte auf, die in der Crosswriting-Forschung thematisiert werden. Vergleichbare Anstren-

Das Nachwort von Guggenmos

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Guggenmos als Übersetzer

gungen, eine Poetik des Kindergedichts zu entwickeln, zeigen sich bei Peter Hacks und James Krüss, die in Nachworten zu ihren Gedichtbänden oder Anthologien über die literarische Bedeutung von Kinderlyrik reflektierten und sich ebenfalls darum bemühten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Lyrik für Erwachsene herauszustellen. Auch wenn Guggenmos mittlerweile als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Kinderlyriker angesehen wird und seine bekanntesten Kindergedichte in Anthologien und Lesebücher weiterhin verbreitet werden, hat man seine Übersetzertätigkeit bisher kaum gewürdigt. Denn er hat nicht nur die Kinderlyrik von Robert Louis Stevenson und die Limericks Edward Lears, sondern auch mehrere Bilderbücher, u. a. von John Burningham und Charles Keeping, sowie einige Kinderklassiker ins Deutsche übertragen. Inwiefern diese Übersetzertätigkeit sein kinderliterarisches Schaffen beeinflusst hat, darüber ist bislang noch nichts bekannt.

5. Kirsten Boie: Ich ganz cool (1992) Deutschsprachige Jugendliteratur seit den 1980er Jahren

Tabuthemen und ambivalenter Schluss

Komplexität der Erzählstruktur

Die Kritik an der problemorientierten und sozialrealistischen Jugendliteratur der 1970er Jahre leitete seit Ende der 1980er Jahre eine neue jugendliterarische Phase ein. Seitdem vollzog sich in der Jugendliteratur zunehmend die Einführung von Themen und Formmerkmalen der Erwachsenenliteratur. Die Kommentarhaltung wich einer Position moralischer Neutralität, die auch die Neigung zum offenen und ambivalenten Schluss förderte. Wegen der Konzentration auf existentielle Fragen und der detaillierten Beschreibung seelischer Prozesse kann man von einem psychologischen Realismus in der Jugendliteratur seit Ende der 1980er Jahre sprechen. Die moderne Jugendliteratur verbindet dabei die Beschreibung psychischer Prozesse und Stimmungsbilder mit einem Gegenwartsbezug der fiktionalen Handlung und eine subjektive Ich-Erzählweise. Dieser Wandel führte dazu, dass vermehrt Tabuthemen, etwa jugendliche Gewalt und Sexualität, angesprochen wurden. Damit gingen zugleich eine Radikalität der Figurendarstellung und eine geänderte Schlussgestaltung einher. Die Radikalität der Figurendarstellung manifestierte sich u. a. in der Wahl einer zunächst unsympathisch wirkenden Hauptfigur, die wegen ihrer Widersprüchlichkeit und ihres befremdenden Verhaltens nicht den landläufigen Vorstellungen einer Identifikationsfigur entspricht. Durch das Fehlen eines kommentierenden auktorialen Erzählers wird der Leser zudem unvermittelt mit der Lebenskrise der Hauptfigur(en) konfrontiert. Darüber hinaus ist die Tendenz zu einem offenen oder ambivalenten Schluss zu beobachten, so dass ein happy ending in der Regel verweigert wird. Weitaus auffälliger ist jedoch die Komplexität der Erzählstruktur und der sprachlichen Gestaltung. Diese sind verbunden mit den Bemühungen der Autoren und Autorinnen, der in der Jugendliteratur verbreiteten Erzählweise der homodiegetischen Erzählung neue erzähltechnische Möglichkeiten und Bedeutungen abzugewinnen, z. B. mittels der Unterbrechung der realistischen Schilderung des Alltags durch Tagträume, der Integration von Tagebüchern, Briefen und Aufzeichnungen des Ich-Erzählers, Vor- und Rückblenden und Verwendung des Bewusstseinsstroms (Stream of Consciousness).

5. Kirsten Boie: Ich ganz cool

Das Experimentieren mit verschiedenen literarischen Formen wird noch durch die zunehmende Integration medialer Erzählweisen – vorzugsweise des Films und des Videoclips – und typographische Gestaltungsmittel ergänzt. So ist der in vielen Jugendromanen zu beobachtende, zuweilen oft unvermittelte Wechsel zwischen Szenen, Tagträumen und Beobachtungen durch den Videoclip inspiriert. Diese narratologische Struktur stellt den Versuch dar, das Lebensgefühl von Jugendlichen einzufangen. Die typographische Gestaltung dagegen kann einerseits auf die Fragmentarisierung der Wirklichkeitserfahrung, die auf diese Weise dem Leser visuell vermittelt wird, hinweisen. Andererseits dient sie dazu, das Textverständnis zu erleichtern, indem auf einen Genre- oder Perspektivenwechsel aufmerksam gemacht wird. Diese Tendenzen lassen sich im angloamerikanischen und skandinavischen Sprachraum seit den 1970er Jahren beobachten und haben die Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit Ende der 1980er Jahren nachhaltig beeinflusst, wofür die Jugendromane von Dagmar Chidolue, Christine Nöstlinger, Mirjam Pressler, Jutta Richter und Andreas Steinhöfel stehen. Kirsten Boies Werke spielen hierbei eine wichtige Rolle. Ihre Jugendromane, darunter Ich ganz cool (1992), Erwachsene reden, Marco hat etwas getan (1995) und Nicht Chicago, nicht hier (1999), haben wegen der bewussten Thematisierung von Tabuthemen in der zeitgenössischen Literaturkritik kontroverse Debatten ausgelöst, zählen aber heute zu den bahnbrechenden Werken der modernen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre. Ich ganz cool nimmt aufgrund seiner eigenwilligen und ungewöhnlichen Sprachgestaltung und der Fokussierung auf eine Hauptfigur aus einem bildungsfernen Milieu bis heute eine singuläre Stellung ein. Kirsten Boie hatte bis zur Arbeit an diesem Werk ausschließlich Kinderromane aus der Sichtweise von Kindern verfasst, die aus Mittelschicht-Familien stammten. Nach dem Wechsel vom Gymnasium auf eine sogenannte Brennpunktschule, wo sie als Lehrerin unterrichtete, kam Boie mit Jugendlichen in Kontakt, die in sozial prekären Verhältnissen aufwuchsen. Als ihr bewusst wurde, dass es über diese Jugendlichen keine Erzählungen und Romane für Kinder und Jugendliche gab, die deren Sichtweise und Probleme wiedergaben, entschloss sie sich, darüber ihr nächstes Kinderbuch zu schreiben. In ihrem Nachwort zur Neuausgabe (2009) betont sie explizit, dass sie das Leben von Jugendlichen, die in schwierigen Verhältnissen aufwachsen, „sichtbar“ machen wollte. Hauptfigur des Romans Ich ganz cool ist der dreizehnjähriger Ich-Erzähler Steffen, der mit seiner alleinerziehenden Mutter, deren Freund Kudde, und zwei Halbgeschwistern, dem 15-jährigen Kai und einer vierjährigen Schwester, genannt „Süße“, zusammenlebt. Die Familie ist auf Sozialhilfe angewiesen, hinzu kommen die Alimente für Steffen und das von der Mutter schwarz verdiente Geld als Putzfrau. In der Hoffnung auf das große Los meldet die Mutter ihre Tochter, die intellektuell wenig gefördert wurde und deshalb den Sprachstand einer Zweijährigen hat, bei einem Filmcasting an. Trotz des Misserfolgs versucht sie es anschließend bei Modelagenturen. Steffens Alltag ist durch familiäre Konflikte, Perspektivlosigkeit und Mangel an tiefergehenden Freundschaften geprägt. Seine heimlichen Wünsche und Hoffnungen, die von den tagtäglich konsumierten Fernsehsendungen und

Entstehung

Inhalt

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Funktion der Tagträume

Prekäre Familiensituation

Videofilmen bestimmt sind, gibt Steffen in seinen Tagträumen preis, die als typographisch abgesetzte Texte am Ende jedes Kapitels abgedruckt sind. Diese sind einerseits Ausdruck seiner Allmachtphantasien, die durch eine einfache Handlung und ein eindeutiges moralisches Schema gekennzeichnet sind, andererseits Abbild seiner Suche nach einer Vaterfigur und später einem Freund. Zu Beginn stehen noch seine Kumpel Holger und Recep, mit denen er nach der Schule „Mutjoggen“ spielt (d. h. das Überqueren einer Straße kurz vor einem schnell heranfahrenden Auto), und sein von ihm bewunderter Bruder Kai, der sich seinen Kick beim S-Bahn-Surfen holt, im Vordergrund. Als er seinen Vater, der Filialleiter bei einem Supermarkt ist und auf den er seine ganzen Hoffnungen gelegt hat, endlich persönlich kennenlernt, ist er von der Begegnung mit dem aus seiner Sicht spießigen und verklemmten Mann enttäuscht. Eine Wende tritt ein, als er mit dem in der Schulklasse ausgegrenzten Mitschüler Sebastian, von allen „Schnulli“ gerufen, und dessen Vater angeln geht. Hier erfährt er zum ersten Mal Verständnis und Geborgenheit. Obwohl der Roman einen offenen Schluss aufweist, deutet sich doch eine beginnende Freundschaft mit Schnulli an. Eine besondere Rolle kommt den Tagträumen zu, weil sie die psychische Situation des Ich-Erzählers deutlich spiegeln. Diese Tagträume bestehen aus medial vermittelten Versatzstücken, vermischt mit Alltagseindrücken von Steffen und seinen unterschwellig existierenden Wunschträumen. Steffen erträumt sich darin die Rolle eines einsamen Helden, bekleidet mit schwarzen Ledersachen und ausgestattet mit einer Harley Davidson, der unerschrocken allen Gefahren trotzt und seine ihn verfolgenden Gegner abschüttelt. Vor der ersten Begegnung mit dem Vater taucht dieser in den Tagträumen als weiß gekleideter Motorradfahrer auf, der Steffen aus Lebensgefahr rettet und ihn in die Künste des Ninjakampfes einweist. Nach dem Angelausflug mit Schnulli und dessen Vater findet ein Wandel statt. Anstelle von Actionszenen dominieren jetzt Bilder und Vorstellungen, die von Harmonie und einer engen Bindung an die Natur und Geborgenheit geprägt sind. Während in diesen neuen Tagträumen die Lagerfeuerromantik noch von einer vertraulichen Vater-Sohn-Beziehung dominiert ist, drückt sich die Enttäuschung Steffens über seinen Vater im nachfolgenden Tagtraum aus, bei dem der Vater tödlich verunglückt. Am Ende des letzten Kapitels wird das Thema der Naturverbundenheit nochmal aufgegriffen, aber die Stelle des Vaters übernimmt nun Schnulli. Die Allmachtphantasien spielen hierbei keine Rolle mehr, vielmehr fokussiert das letzte Bild die Friedlichkeit der Szenerie und das gemeinsame Einschlafen am Lagerfeuer. Die familiäre Situation ist durch Gleichgültigkeit, Vernachlässigung und fehlende Kommunikation gekennzeichnet. Die Familienmitglieder sprechen in der Regel nicht miteinander, sie fluchen oder schreien sich an. Angesichts dessen ersinnt sich Steffen ein unrealistisches Traumbild von seinem Vater. Seine mentalen Bilder stehen jedoch in großem Gegensatz zum Verhalten und Aussehen seines Vaters, so dass ihre erste Begegnung in einer tiefen Enttäuschung endet. Steffen zieht sich daraufhin noch mehr in sein Schneckenhaus zurück und bemerkt nicht das Interesse seines Schulkameraden Schnulli an ihm. Der Wendepunkt tritt ein, als Steffen mit der Trauer seines großen Bruders über den Unfalltod seines Freundes konfrontiert wird. Er wendet sich Schnulli, den er vorher wegen seiner Ängstlichkeit abgelehnt hatte, zu

5. Kirsten Boie: Ich ganz cool

und akzeptiert endlich auch dessen Vorschlag, mit ihm zusammen angeln zu gehen. Zur Originalität des Romans hat die sprachliche Gestaltung erheblich beigetragen. Die soziale, emotionale und kognitive Benachteiligung von Steffen spiegelt sich in seiner Figurenrede und Inneren Monologen wieder, in der Boie kunstvoll verschiedene Sprachregister miteinander verbindet, wie bereits der Romananfang eindrucksvoll dokumentiert: „Schule, also logisch, das bockt nicht so, aber was sollst du machen, ich geh trotzdem meistens hin. Und zurück denn immer, also zurück ist logisch besser, geh ich meistens mit Holger und Recep, und denn machen wir noch Mutjoggen auf dem Weg. Also Mutjoggen, nä, darfst du erst losrennen, wenn das Auto voll auf der Kreuzung ist; der Kühler muß hinter der Fensterscheibe von Edeka, sonst gilt das nicht. Gibt es auch keine Ausnahme, Recep sagt, egal, ob einer kleiner ist oder was und kürzere Beine hat, ganz egal. Wer mitmachen will, gleiche Spielregeln. Der Trick ist, du mußt an der Stelle rennen, wo die Baustelle ist, da können die Autos nicht ausweichen. Bremsen können sie da auch nicht mehr, haben wir alle abgecheckt. Entweder, du bist schnell genug rüber, oder bommmppp!, ist es gewesen. Alles nur noch Matsche. Ja Pech.“ (S. 5). Steffens Ausführungen sind durch einen sprachlichen Code gekennzeichnet, der auf die zeitgenössische Jugendsprache, durchmischt mit dem Hamburger Regionaldialekt, zurückgeht. Charakteristische Kennzeichen sind auf der syntaktischen Ebene Aneinanderreihung von Ellipsen („Ich da aber sauber, nä.“), Wortwiederholungen („grins, grins, kicher, kicher“), Interjektionen, Füllwörtern („und so“) und der mündlichen Sprache entnommenen grammatischen Strukturen (Umstellung von Nomen, Verb und Partikeln, fehlende Satzglieder, Verwendung des Infinitivs statt des finiten Verbs). Weitere auffallende stilistische Merkmale sind Oralität bzw. fingierte Mündlichkeit. Kennzeichnend für Steffens emotional-expressive Erzählweise sind zudem die Übertreibung und die Intensivierung der Darstellung durch Verbindung von Gefühlsausdrücken, Wiederholungen und Interjektionen. Die Gespräche werden mit nachgestellten inquit-Formeln („ich sag“, „sagt Kai“) wiedergegeben. Zugleich manifestieren sich hierbei die Einflüsse verschiedener Medien. Anglizismen wie „cool“, „okay“ oder „feeling“, aus Gewalt- und Horrorvideos übernommene Sprüche und Sprachklischees („Alles nur noch Matsch, ja Pech“), Fäkalsprache und der Comicsprache entliehene Onomatopoesien („Gröl-gröl“, „bommppp“) prägen den Sprachduktus von Steffen. Dieses Sprachkonglomerat mag beim ersten Lesen auf manche Leser irritierend, wenn nicht sogar verstörend wirken (wie man einigen Rezensionen und Buchbesprechungen entnehmen kann), stellt aber den ernstzunehmenden Versuch der Autorin dar, ein möglichst authentisches Bild von der Gefühls-, Sprach- und Vorstellungswelt der Hauptfigur zu vermitteln. Um dies zu bewerkstelligen, hat sich Boie auf der einen Seite dafür entschieden, die Geschichte nicht durch einen personalen Erzähler, sondern in Form einer Ich-Erzählung wiederzugeben. Auf der anderen Seite hat sie Gespräche von Jugendlichen in der Hamburger S-Bahn belauscht, um die von ihnen verwendete Sprache kennenzulernen und in ihr Buch zu übertragen (Boie 1995). Allerdings handelt es sich nicht um eine exakte Übertragung der zeit-

Sprachliche Gestaltung

Merkmale der zeitgenössischen Jugendsprache

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Vielfalt der sprachlichen Codes

Sprachliche Gestaltung der Tagträume

genössischen Jugendsprache, wie sie unter Jugendlichen aus sozial benachteiligten Schichten gesprochen wird. Die Autorin hat vielmehr aus diesen Versatzstücken eine Kunstsprache geschaffen, um auf diese Weise ein literarisch angemessenes Selbstporträt eines Jugendlichen zu kreieren, der nicht über die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen aus Mittelschicht- und Bildungsbürgerkreisen verfügt. Auch wenn eine oberflächliche Lektüre zunächst den Eindruck einer gewissen Monotonie und Restriktion hinsichtlich der sprachlichen Codes erweckt, enthüllt eine eingehende Analyse, dass der Roman auf der Sprachund Textebene eine überraschende Vielfalt aufweist. Steffen bedient sich zwar bei seinem Bericht eines eigenen, von der Jugendsprache dominierten Sprachcodes, ist aber durchaus in der Lage, die verschiedenen Sprachstile der Gesprächspartner wiederzugeben, so etwa die Aussagen der Lehrer in der Hauptschule, die aus seiner Sicht pedantischen Fragen und Sprüche des Vaters („Von nichts kommt nichts, mein Junge, das will alles erst erarbeitet werden“), die Fragen der Sozialarbeiterin oder die phonetisch falsche, kindliche Sprechweise der kleinen Schwester („hübß aus, Deffen, Süße hübß aus?“). Trotz der oft unfreundlichen Atmosphäre in der Schule und zu Hause sieht Steffen auch die komische Seite mancher Episoden, die von ihm ironisch kommentiert werden: „Also wenn die von der Stütze mal kommen, nä, also passiert ja nicht so einfach, aber kann man sich ja vorstellen, und Kuddi sitzt da so in seinem Sessel beim Video, und die: „Leben Sie dauerhaft mit in diesem Haushalt?“, und Kuddi: „Nee, nee, ich bin hier nur zu Besuch!“, nä, und denn Süße: „Papa, Papa!“ Kriegt die von der Stütze ganz große Augen, sagt „Ja, entschuldigen Sie bitte, aber das sieht mir doch mehr nach – wie heißt das noch mal? – eheähnlicher Gemeinschaft aus!“, und Kuddi: „Nee, nee!“, aber die von der Stütze schon ab ins Badezimmer, Zahnbürsten zählen, nä, bringt aber leider nichts, weil Kuddi hat keine Zahnbürste.“ (S. 17). In schnellem Wechsel folgen dabei Beschreibungen, Darstellungen von Empfindungen, Innerer Monolog, Rückblenden und Wiedergabe von Dialogfetzen aufeinander. Die fragmentarische Struktur des Textes spiegelt zugleich die Zerrissenheit und Unzufriedenheit Steffens wieder, der weder in der Schule noch im Elternhaus Anerkennung findet. Die typographisch durch Fettdruck abgehobenen Tagträume heben sich sprachlich und stilistisch von den Alltagsbeschreibungen ab. Obwohl es Analogien zur Wortwahl und Ausdrucksweise der anderen Textteile gibt, werden in den Tagtraum-Passagen Begriffe verwendet, die nur hier vorkommen. Die hierbei verwendeten stilistischen Mittel, Wiederholung, Aufzählung, Metapher, Hyperbole, rhetorische Frage oder Alliteration, verleihen diesen Texten einen poetischen Charakter. „Die Maschine donnert durch die Nacht. Schwarz, neue Triumph, ganz schwarz. Die Lederklamotten, auch, schwarz, ganz schwarz, nicht zu sehen in der Nacht, nur der Scheinwerfer, weißer Finger, Halogen, schneidet Schneisen: Mittelstreifen, Bäume rechts, Bäume links, Zweige kahl. Soll das Winter sein? Alles wie tot.

5. Kirsten Boie: Ich ganz cool

Aber die Maschine nicht, schräg in den Kurven, immer dem Licht hinterher. Autos, logisch auch, rote Rücklichter, schon vorbei. Einer ab in den Graben, gleich ist es Mitternacht. Gleich ist es Mitternacht, und nur ich noch auf der Straße, ich und meine Maschine, schwarz, ganz schwarz, ich und meine Maschine allein“ (15). Die Tagträume bilden aber nicht nur stilistisch einen Kontrast zu den anderen, weitaus längeren Textteilen, sondern geben einen Einblick in die Psyche der Hauptfigur. Während Steffen sich sonst als Jugendlicher darstellt, der abgebrüht ist und sich weder durch Horrorvideos noch durch gefährliche Mutproben schrecken lässt, deuten die Tagträume an, dass er durchaus sensibel ist und sich nach einem Menschen sehnt, mit dem er sich aussprechen oder etwas unternehmen kann. Dass seine „Coolness“ eine Maske ist, hinter der er sich verbirgt, wird angesichts zweier Szenen besonders deutlich. Trotz des häufigen Konsums von Gewalt- und Splatterfilmen zeigt Steffen ein tiefes Mitgefühl. So ist er erschüttert, als er seinen bewunderten Bruder weinend vorfindet. Dieser trauert um den Tod eines Freundes, der beim S-Bahn-Surfen ums Leben gekommen ist. Eine weitere wichtige Episode ist der Angelausflug mit Schnulli und dessen Vater. Steffen lernt nicht nur eine neue Umgangsweise kennen, sondern hat mit dem selbst geangelten Fisch auch ein wichtiges Erfolgserlebnis, das aber weder von Kai noch von seiner Mutter gewürdigt wird. Der für das Abendessen bestimmte Fisch landet im Mülleimer, weil die Mutter sich davor ekelt und nur Fischstäbchen als Mahlzeit akzeptiert. Sein Erlebnis kann er nur seiner kleinen Schwester anvertrauen, die ihm zwar geduldig zuhört, aber es bleibt unklar, ob sie den Sachverhalt überhaupt verstanden hat. Ich ganz cool konfrontiert den Leser mit einer von Medien dominierten Kindheit, wobei hierzu ausdrücklich nicht das Printmedium Buch, sondern AV-Medien wie das Fernsehen, Musikkassetten und Videofilme gehören. Steffens Medienrezeption und seine Verarbeitung des medial Vermittelten spielt in seinem Bericht eine wesentliche Rolle. Der Medienkonsum bestimmt den außerschulischen Alltag von Steffen, der sich sonst nur mit seinen Kumpels auf der Straße herumtreibt. Der permanent angeschaltete Fernseher prägt die Atmosphäre und unterminiert jede längere Unterhaltung. Steffen nennt explizit Filmgenres, Musikrichtungen (Heavy Metal), Musikgruppen (Scorpions) oder Filmtitel (Terminator, Ghost Busters), wobei sein Konsum sowohl Animationsfilme der Disney Studios, Westernserien („Rauchende Colts), Softpornos („Tutti Frutti“), Werbesendungen, Teleshop-Sendungen als auch Action- und Horrorfilme umfasst. Die durch diese Filme wahrgenommenen visuellen Muster und Dialoge beeinflussen nicht nur Steffens Alltagssprache, sondern werden in seinen Tagträumen verfremdet und umgemodelt, um seine Sehnsüchte und Wunschvorstellungen bildlich und sprachlich auszudrücken. Die Lebenssituation Steffens wird kongenial in der Cover-Gestaltung der Originalausgabe aufgegriffen. Auf dem Titelbild, das von Jutta Bauer gestaltet wurde, sieht man in der Bildmitte einen Jungen, mit Pullover, Hose und Turnschuhen bekleidet, der hastig eine Straße überquert. Sein Kopf mit den nach oben gekämmten kurzen Haaren und sein Rumpf sind nach hinten gebeugt, seine Arme horizontal vom Körper weggestreckt, wobei er in der linken Hand eine große Angel hält. Die Körperhaltung und der Gesichtsaus-

Einblick in die Psyche der Hauptfigur

Darstellung einer Medienkindheit

Paratext: Cover der Originalausgabe

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Paratexte: Cover der Neuauflagen

Rezeption

druck des Jungen ergeben einen Kontrast zum Titel des Buches und veranschaulichen dessen Verunsicherung. Dem Jungen sind vier Dinge zugeordnet, die von vier Seiten auf ihn zuzukommen scheinen, ein weißes Haus, ein schwarzer Mercedes, ein Mann in schwarzem Anzug und mit Brille sowie ein großer grüner Fisch. Der Hintergrund ist durch eine Horizontlinie mittig geteilt. Die untere Hälfte, in einem schmutzigen Weißgrau mit gelben und schwarzen Flecken, kann als Straße interpretiert werden. Über dem Kopf des Jungen ist in Handlettering der Buchtitel in Großbuchstaben zu lesen, wobei das in der Farbe Gelb mit schwarzem Rand geschriebene Wort „Ich“ doppelt so groß ist wie die darunter stehenden, in Schwarz geschriebenen Begriffe „ganz“ und „cool“. Der cartoonhafte Zeichenstil mit den betonten schwarzen Konturen, den schrägen Linien, den nur im Ausschnitt wiedergegebenen Gegenständen am linken und rechten Rand ist erkennbar durch die Punkästhetik beeinflusst. Betont wird dieser Stil noch durch den breiten schwarzen Rand um das Coverbild. Die Gegenstände und Personen auf dem Cover verweisen auf wichtige Episoden des Romans: Mutjoggen, Schulalltag, Begegnung mit dem Vater und Angelausflug mit Schnulli. Bei den Neuauflagen wurde entweder das Design des Originalcovers verändert oder ein neues Cover entworfen, so dass sich hinsichtlich dieses Paratextes nicht nur ein genereller Wandel in der Buchgestaltung im Verlauf von 15 Jahren feststellen lässt, sondern damit einhergehend auch eine Neudeutung der Zielgruppe. Die 2001 bei Oetinger erschienene Neuauflage hat zwar das Motiv von Jutta Bauer beibehalten, aber den Buchtitel und den Rahmen neu gestaltet. Die Gestaltung des ursprünglichen Buchcovers wurde dem konventionellen Schema der Oetinger-Reihe angepasst. Die 1997 bei dtv publizierte Taschenbuchausgabe weist ebenfalls ein von Jutta Bauer konzipiertes Cover auf, das vom Bildaufbau und der Farbgebung gesehen weitaus vereinfachter ist. In der Bildmitte ist ein Junge im Profil zu sehen. Seine Körperhaltung und der grimmige Blick sollen den Eindruck von Coolness vermitteln, deuten aber durch ihre Widersprüchlichkeit zugleich eine gewisse Unsicherheit an. Während diese drei gezeichneten Cover von der Gestaltung her weder eindeutig der Kinderliteratur für jüngere Leser noch der Jugendliteratur zuzuordnen sind, also eine Zwischenstellung einnehmen und damit auch das Anliegen der Autorin, ein Werk für diejenige Lesergruppe zu verfassen, die sich im Übergang von der Kindheit zur Jugend befindet, betonen, zielt das Cover der Broschur-Neuausgabe von 2009 erkennbar auf Jugendliche ab. Auf dem Cover ist eine Fotografie abgebildet, die das Gesicht eines Jugendlichen im Dreiviertel-Profil zeigt, dessen Haare vollständig von einer Wollmütze bedeckt sind. Auf seiner Schulter trägt er ein abgewetztes Skateboard. Hinter ihm befindet sich eine Ziegelmauer, auf die der Buchtitel in Graffiti-Manier geschrieben ist. Dieses Cover suggeriert, dass die Handlung in einem bestimmten Milieu und unter Jugendlichen spielt, die weitaus älter sind als 13 Jahre. In Boies Roman wird das Skateboard-Fahren allerdings nicht thematisiert. Die Hauptfigur Steffen äußert lediglich mehrfach den Wunsch, selbst ein Skateboard zu besitzen. Boies Kinderroman, der 1993 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, ist zwar nie ein Bestseller geworden, hat sich aber mittlerweile als Schullektüre etabliert. Bis heute ist in Deutschland kein weiterer Kinderroman erschienen, der hinsichtlich der sprachlichen und narratologi-

6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie

schen Gestaltung auch annähernd so innovativ und radikal ist wie Ich ganz cool. Während sich vergleichbare Erzählstrategien und Sprachregister in der modernen Adoleszenzliteratur für junge Erwachsene finden lassen, bedient sich die Literatur für jüngere Leser/innen in der Mehrzahl weiterhin eher konventioneller Themen und narrativer Formen.

6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) Seit der Jahrtausendwende hat das internationale Interesse an der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur wieder stetig zugenommen und dieses Interesse hängt auch mit dem unerwarteten Erfolg der phantastischen Romane Cornelia Funkes zusammen, angefangen mit Drachenreiter (1997) und Herr der Diebe (2000) und kulminierend in der Tintenwelt-Trilogie mit den drei Bänden Tintenherz (2003), Tintenblut (2005) und Tintentod (2007). Diese drei Bände wurden in mehr als 23 Sprachen übersetzt und entwickelten sich zu einem internationalen Bestseller. Der erste Band wurde 2008 verfilmt (Regie: Ian Softley), außerdem liegen Theaterstücke, Musicals und ein Brettspiel vor, die auf Funkes Romanvorlage basieren. Ein Auslöser für die Geschichte über die Tintenwelt war Funkes Beobachtung, dass manche literarische Figuren so plastisch dargestellt würden, dass sie realistischer und lebensnaher wirkten als wirkliche Menschen. Daraus habe sich für sie die Frage ergeben, was passieren würde, wenn Figuren aus einem Buch heraustreten und in eine reale Welt eindringen würden. Diese Idee ist nicht ganz neu, denn sie wurde bereits in anderen phantastischen Kinderromanen aufgegriffen, so etwa in Patricia Lynchs irischem Klassiker The Turfcutter’s Donkey (Der König der Tinker, 1934; dt. 1993), Michael Endes Die Unendliche Geschichte (1979) und Jostein Gaarder Sofies verden (Sofies Welt, 1991; dt. 1993), wobei in diesen Werken die aus dem Buch entstiegenen Figuren relativ wenig Einfluss auf die Gestaltung der real-fiktionalen Welt ausüben. Während die Buchfiguren bei Lynch und Ende wieder in die Buchwelt zurückkehren, verhält es sich bei Gaarder anders: hier gelangen die entsprechenden Figuren, darunter auch die im Titel genannte Hauptperson Sofie, in eine Zwischenwelt, die von Märchengestalten und Figuren aus bekannten Kinderklassikern bevölkert ist. Eine Rückkehr in die Buchwelt ist ebenso wenig möglich wie ein Weiterleben in der „realen“ Welt. Funke geht bei der Konzeption ihrer Trilogie noch einen Schritt weiter, indem Figuren einerseits mehrmals zwischen Buch- und fiktiver Realwelt wechseln können, andererseits steht der Aspekt der Verantwortung des Künstlers bzw. Schriftstellers für sein Werk im Vordergrund. Das ist eine Thematik, die bei Ende und Gaarder bereits anklingt, bei Funke aber weitaus elaborierter dargelegt wird, so dass sich hierbei ein metafiktives Spiel ergibt, das um die Frage nach der Autorschaft und der Rolle des Lesers kreist. Hauptfiguren des ersten Bandes, der 59 Kapitel umfasst, sind die zwölfjährige Meggie und ihr Vater Mortimer Folchart, genannt Mo, der als Buchbinder arbeitet. Die Handlung, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts spielt, wird von verschiedenen Erzählern vorgetragen, die von Kapitel zu Kapitel wechseln. Meggies Mutter Teresa, genannt Resa, ist angeblich bei einer Abenteuerreise verschollen. Die Handlung setzt mit dem Auftauchen eines Frem-

Der Erfolg Cornelia Funkes

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Inhalt der Nachfolgebände

Phantastischer Kinderroman

den namens Staubfinger ein, der Mo vor einem gewissen Capricorn warnt. Daraufhin fliehen Mo, Meggie und Staubfinger mit dem Buch „Tintenherz“ zu Meggies Tante Elinor. Dennoch werden sie von Capricorns Männern aufgespürt, die Mo entführen. Als Tausch gegen ihn bieten Meggie und Elinor das Buch an, werden aber von Staubfinger verraten und ebenfalls gefangen genommen. Mo offenbart nun Meggie seine ihr gegenüber bisher geheim gehaltene Gabe: er sei in der Lage, Figuren und Gegenstände aus Büchern herauszulesen, dafür würden aber Menschen aus der Realwelt in der Bücherwelt verschwinden. Aus „Tintenherz“ habe er einst Staubfinger, Capricorn und Basta herausgelesen, dafür seien im Gegenzug seine Frau und zwei Katzen im Buch verschwunden. Capricorn hat alle Exemplare von „Tintenherz“ – bis auf dasjenige im Besitz von Mo – vernichten lassen, damit er nicht in die Tintenwelt zurückgelesen werden kann. In der Nacht werden sie von Staubfinger befreit und entfliehen. Sie suchen Fenoglio, den Autor von „Tintenherz“ auf, der aber kein Exemplar des Buches mehr besitzt. Fenoglio und Meggie werden von Basta entdeckt und in Capricorns Dorf zurückgebracht. Zufällig entdeckt Meggie, dass sie über dieselbe Gabe wie ihr Vater verfügt. Als dies Capricorn zu Ohren kommt, verlangt er von Meggie, dass sie ihm einen „Schatten“ aus „Tintenherz“ herauslesen soll. Fenoglio weiß um die bösen Eigenschaften des Schattens (er tut alles, was ihm Capricorn befiehlt) und schreibt eine neue Version der entsprechenden Episode. Zugleich versucht Staubfinger, mithilfe der Magd Resa, die sich später als Meggies Mutter entpuppt, das letzte „Tintenherz“-Exemplar zu stehlen. Beide werden ertappt und eingekerkert. Meggie gelingt das Herauslesen des Schattens, der aber Capricorn und seine Männer tötet oder in die Flucht treibt. An seiner Stelle ist jedoch Fenoglio in der Tintenwelt verschwunden. Die Familie Folchart versammelt sich mit Staubfinger, Farid und anderen Tintenweltbewohnern im Haus von Elinor, um die von Capricorns Männern zerstörte wertvolle Bibliothek wieder aufzubauen. Ein Großteil der Handlung des zweiten und dritten Bandes spielt in der Tintenwelt, nachdem Meggie, Mo und zwei weitere Personen namens Darius und Orpheus sich und andere Figuren in die Tintenwelt gelesen haben. Sie erleben dort zahlreiche Abenteuer, wobei sich Staubfinger auf die Seite von Mo und Meggie stellt. Fenoglio entgleitet die Macht über die von ihm geschaffene Tintenwelt, die ein zunehmendes Eigenleben entwickelt, immer mehr. Nach vielen Verwicklungen entschließen sich alle, in der Tintenwelt zu bleiben. Der dritte Band schließt mit einer Prolepse: Meggie weiß durch Fenoglio, dass sie in einigen Jahren den Erfinder Doria (eine Figur aus einer unveröffentlichten Geschichte Fenoglios) heiraten wird, während ihr kleiner, in der Tintenwelt geborener Bruder plant, später in die fiktive Realwelt zurückzukehren. Bei der Tintenwelt-Trilogie handelt es sich um phantastische Romane, in denen sich zwei Welten gegenüberstehen, so dass ein „offenes“ Weltkonzept vorliegt (im Gegensatz zu den geschlossenen Welten, die viele High Fantasy-Romane wie J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (Der Herr der Ringe, 1954/55; dt. 1983), aber auch einige phantastische Kinderromane, z. B. Tove Janssons Mumin-Bücher (1945 ff.), auszeichnet). Die „primäre“ Welt stellt eine fiktive Welt dar, die der realen Welt gleicht und durch Naturgesetze bestimmt wird, während die „sekundäre“ Welt eine magische Welt reprä-

6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie

sentiert, die von der primären Welt durch eine Grenze abgetrennt ist. Diese Grenze kann materiell durch eine Tür, einen Schrank oder andere Übergänge markiert sein, sie kann aber auch immateriell durch einen Traum oder einen Zeitsprung überschritten werden (Nikolajeva 1988). Die Funktion der Schwelle bzw. des Übergangs übernimmt in Funkes Roman das Buch bzw. die gedruckten Wörter in Kombination mit einem Vorleser, der die Begabung des Herauslesens besitzt. Auf diese Weise gelangen Figuren der Primärwelt in die Sekundärwelt und umgekehrt. In den Tintenwelt-Büchern gibt es sowohl lineare Bewegungen (eine Figur, etwa Capricorn, verlässt die Sekundärwelt, kehrt aber nicht mehr in diese zurück), zirkuläre Bewegungen (eine Figur reist von einer Welt in die andere und kehrt wieder in die erste Welt zurück; dies trifft u. a. auf Staubfinger und Basta zu) sowie schleifenförmige Bewegungen (eine Figur, wie etwa Teresa, pendelt mehrmals zwischen beiden Welten). Mit Farid gibt es darüber hinaus noch eine Figur, die zwei verschiedene sekundäre Welten betritt (1001 Nacht und Tintenwelt). Im dritten Band kommt mit der Unterwelt noch eine weitere phantastische Welt hinzu, die aber nur über die Tintenwelt betreten werden kann und folglich den Status einer tertiären Welt erlangt. In die primäre Welt bricht das Phantastische in Form übernatürlicher Wesen („der Schatten“) oder Figuren aus der Sekundärwelt herein. Die wunderbare Fähigkeit, Figuren aus Büchern herauszulesen, besitzen der Buchbinder Mo, seine Tochter Meggie, der Vorleser Darius und Orpheus (der allerdings erst im 2. Band auftaucht), wobei beim Herauslesen einer Gestalt oft eine andere Figur aus der eigenen Welt in der Buchwelt verschwindet. Später gelingt es Darius, Resa aus der Tintenwelt herauszulesen, allerdings vollzieht er diese Aufgabe so stümperhaft, dass Resa stumm bleibt. Mo liest Unmengen von Gold aus Robert Louis Stevensons Kinderklassiker Treasure Island (Die Schatzinsel, 1883; dt. 1897), um die Geldgier von Capricorn zu befriedigen, und Meggie liest zunächst zwei Figuren aus klassischen Kinderbüchern heraus: die Fee Tinker Bell aus James Matthew Barries Peter Pan (1911; dt. 1948) und den Zinnsoldaten aus Hans Christian Andersens Märchen „Der tapfere Zinnsoldat“ (1835), bevor sie auf Geheiß Capricorns den unheimlichen Schatten aus „Tintenherz“ herausliest. Während die sekundäre Welt im ersten Band der Trilogie nicht detailliert beschrieben wird und auch nicht Setting der Romanhandlung ist, spielen die beiden nachfolgenden Bände alternierend in der primären Welt und in der Tintenwelt. Folglich kann der erste Band als implizite Form des Zwei-Welten-Modells beschrieben werden, weil die sekundäre Welt nur durch die daraus entsprungenen Figuren, die Beschreibung Resas und die Textauszüge, die von Meggie vorgelesen werden, vertreten ist. In die Tintenwelt erhält der Leser im ersten Band folglich nur Einblick durch Berichte von Figuren, die aus ihr stammen Die Primärwelt wird dagegen von den Figuren, die in der Sekundärwelt leben oder dorthin wechseln, zunehmend als Parallelwelt empfunden, die Züge einer phantastischen Welt annimmt. Als eigenständige Welt tritt die Tintenwelt erst ab dem zweiten Band zutage, wobei die Topographie durch detaillierte Schilderungen und beigefügte, von Cornelia Funke gezeichnete Karten vermittelt wird – während es keine Karte der Primärwelt gibt. Die Landschafts- und Kleinstadtbeschreibungen der primären Welt evozieren ein südliches Land, für das die Küstenregion Ligurien in Nordwestita-

Das „Herauslesen“ als phantastische Eigenschaft

Alternierender Wechsel zwischen zwei Welten

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Darstellung einer weiblichen Initiation

lien Pate gestanden hat. Die phantastische Tintenwelt ähnelt einer vormodernen mittelalterlichen Welt, die von Fabelwesen (Kobolde, Feen, Drachen), Rittern, fahrenden Spielleuten und armen Bauern bevölkert ist, mit Anklängen an die englische Schauerromantik und die grotesk-unheimlichen Darstellungen in E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. Durch diese Anleihen entsteht eine hybride Kunstwelt, die als ein Amalgam verschiedener literarischer Traditionen (High Fantasy, Märchen, Romantik, Gothic Novel) aufzufassen ist. Während zu Beginn des zweiten Bandes in den Kapiteln noch alternierend von den Ereignissen in beiden Welten berichtet wird, nimmt die Anzahl der Kapitel, die in der Tintenwelt spielen, kontinuierlich zu. Dies hängt auch mit der wachsenden Anzahl der Figuren zusammen, die von der primären in die sekundäre Welt wechseln. Der dritte Band enthält dann auch nur noch vier (von 81) Kapitel, die in der primären Welt spielen, deren Geschehen ausschließlich aus der Perspektive Elinors berichtet wird. Mit ihr und Darius wechseln die letzten Figuren aus dem ersten Band in die Tintenwelt über, so dass am Ende der Trilogie die Tintenwelt im Fokus steht, während die primäre Welt jetzt als Spiegelung wahrgenommen wird, von der Figuren wie etwa Meggies neugeborener Bruder nur durch Erzählungen erfahren. Die Tintenwelt-Bücher stehen nicht nur in der Tradition der literarischen Phantastik, sondern können auch – in Anlehnung an Überlegungen von Peter Freese zum Initiationsroman in der amerikanischen Literatur – als Darstellung einer weiblichen Initiation gedeutet werden. In der Anthropologie wird die Initiation als Übergang von der Kindheit zur Adoleszenz und dem späteren Erwachsenendasein verstanden (Freese 1971). Diese Initiation, der in der Regel eher männliche Jugendliche unterzogen werden, ist mit bestimmten Ritualen (Absonderung von den Erwachsenen, Namenswechsel, Einweisung durch einen Mentor, Verleihung einer Gabe oder eines besonderen Gegenstandes, Kleiderwechsel, usw.) verknüpft und zerfällt in drei Phasen (Ausgang, Übergang, Eingang). Die Ausgangsphase wird häufig durch den Verlust von mindestens einem Elternteil bestimmt. Die Übergangsphase schildert den Wandel vom Kind bzw. Jugendlichen zum Erwachsenen, exemplifiziert in Initiationsprüfungen, die den Charakter von Abenteuern annehmen können. Die Eingangsphase ist oft mit einer Rückkehr an den Ausgangsort verbunden und stellt heraus, dass der Initiand zur Selbsterkenntnis gelangt ist und seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Die Entwicklung Meggies kann vor diesem Hintergrund als Initiation eines Mädchens interpretiert werden. Ihre einzelnen Abenteuer lassen sich als Initiationsprüfungen lesen, an deren Ende die Ablösung vom Vater und die Hinwendung zu Doria besteht. Ihr Wandel, der zugleich mit einer Reise einhergeht (Reise zu Elinor und in Capricorns Dorf, später Reise in Fenoglios Dorf und in die Tintenwelt, Abstieg in die Unterwelt als Symbol für den descensus ad inferos und Rückkehr in die Tintenwelt), kann als Weg von kindlicher Naivität und Unschuld zur Erfahrung, versinnbildlicht in der IchErkenntnis (Individuationsprozess) und in der Einsicht in die komplexen gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Verhältnisse (Sozialisationsprozess), beschrieben werden. Der erste Schritt in diesem Initiationsprozess ist die Erkenntnis des Bösen und die Beobachtung der Fehlbarkeit der Erwachsenen. Daraus ergibt sich in einem weiteren Schritt die Entdeckung ihrer besonderen Gabe (Fähigkeit des Herauslesens), die Meggie – im

6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie

Gegensatz zu Mo – in den Dienst der Mitmenschen stellen möchte. Fenoglio fungiert hierbei als ihr Mentor, der sie bei ihrem Vorhaben, in das Geschehen aktiv einzugreifen, unterstützt. Mit dem Verlust ihrer Naivität geht ihr Engagement für die Belange der Mitmenschen einher. Ein wichtiger Schritt ist schließlich die Begegnung mit dem Tod. Meggie muss sich mehrfach bewähren und durchläuft dabei mehrere Stufen, als deren letzte Etappe der Gang in die Unterwelt anzusehen ist. Meggie wird hierbei mit mannigfachen Gefahren konfrontiert. Sie reift dadurch zur jungen Frau (auch versinnbildlicht in der Abkehr von Farid und Hinwendung zu Doria). Auf diese Weise gelangt sie zur Selbst-Erkenntnis und entwickelt eine eigene Identität, die den Ablösungsprozess vom Vater begleitet. Der Initiation Meggies wird zudem eine politische Dimension verliehen, indem indirekt auf den Faschismus hingewiesen wird (Capricorns Kleidung und diktatorisches Verhalten weist zahlreiche Parallelen zu faschistischen Machtstrukturen auf). Initiation erscheint hier als die Emanzipation von totalitären Strukturen und der Befreiung von dem Machteinfluss von Führergestalten. So stellt sich Meggie trotz ihrer Angst der Konfrontation mit Capricorn. Sie überzeugt Fenoglio davon, die Geschichte von „Tintenherz“ umzuschreiben, um die verheerenden Folgen der Beschwörung des Schattens zu verhindern. Mit dem Herauslesen des Schattens übernimmt sie zugleich die Verantwortung für Resa und alle Dorfbewohner, im Vertrauen auf ihre Kräfte und die Fähigkeit Fenoglios, der Geschichte nachträglich eine andere Wendung zu geben. Meggie stellt somit einen Gegenpol zu der Figur des ewigen Kindes, das nicht erwachsen werden und sich folglich auch nicht ändern will, dar. Dieses Kindheitsbild, das auf das Kindermärchen Das fremde Kind (1817) von E. T. A. Hoffmann zurückgeht, hat im 20. Jahrhundert in Peter Pan (1911; dt. 1948) von James Matthew Barrie seinen sinnfälligen Ausdruck gefunden. Peter Pan ist das Symbol des ewigen und unsterblichen Kindes, das mit seinen Gefährten im Niemandsland, zu dem nur Kinder Zutritt haben, lebt. Ausgestattet mit der Fähigkeit des Fliegens und der Gabe, die Sprache der Tiere und Elfen zu verstehen, befindet sich Peter Pan in einer immerwährenden Auseinandersetzung mit Piraten und Indianern, ohne dass es zu gravierenden Änderungen in seiner Weltsicht und Lebensweise kommt. Dass diese Kindheitsvorstellung, die der Entwicklung Meggies konträr gegenübersteht, subtextuell das Geschehen begleitet, ist auch daran ersichtlich, dass immer wieder Anspielungen auf Barries Roman eingefügt werden. Nicht nur der Aspekt der Initiation, des Erzählerwechsels und der offene Schluss deuten darauf hin, dass Funke sich darum bemüht, Aspekte postmodernen Erzählens in ihre Trilogie aufzunehmen. Hierzu zählen Intertextualität, Metafiktionalität, Selbstreferenz und die Bedeutung der Paratexte, die den Haupttext rahmen, unterbrechen und kommentieren. Jeder Band hat eine vorangestellte Widmung und ein Motto, entweder in Form eines Gedichtes oder eines Zitates. Außerdem werden jedem Kapitel eine Überschrift und ein Motto, die durch Vignetten voneinander abgetrennt sind, vorangestellt. Hierbei handelt es sich in der Regel um Zitate aus bekannten Werken der Weltliteratur für Erwachsene und für Kinder, die sich auf den Haupttext beziehen und bestimmte Ereignisse vorausdeuten. Zu den Paratexten gehören auch die beiden Karten der Tintenwelt am Ende des zweiten und dritten Bandes sowie die gelegentlich in den Text eingefügten Illustrati-

Das Motiv des ewigen Kindes

Postmodernes Erzählen

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Selbstreferentialität

Intertextualität

Mythos von Orpheus und Eurydike

onen der Autorin, die immer am Ende eines Kapitels platziert sind. Im Anhang der drei Bände befindet sich ein Quellenverzeichnis aller in den Motti und Widmungen verwendeten Zitate. Die Widmung des ersten Bandes ist nicht nur eine deutliche Referenz auf Tolkiens Herr der Ringe-Trilogie, sondern greift durch die Anordnung der Zeilen in Form einer Sanduhr auf einen Topos des Barock zurück. Die Sanduhr als Symbol der Vergänglichkeit deutet darauf hin, dass die Todes-Thematik ein Leitmotiv der Trilogie darstellt (Bösewichter wie Capricorn und der Natternkönig werden getötet; Staubfinger opfert sich für Farid; Farid wird durch Orpheus wieder zum Leben erweckt; Mo und Meggie gehen in die Unterwelt; der Tod alias „Die große Wandlerin“ tritt als Figur im dritten Band auf usw.). Viele Motti befassen sich mit dem Konzept der Selbstreferenz, sei es durch Begriffe wie „Buch“ oder „Lied“ oder die Thematisierung des Lesens und Reflektierens über die Bedeutung von Geschichten. Im Verlaufe der drei Bände nehmen die markierten intertextuellen Bezüge ab. Dies korreliert mit der wachsenden Entfremdung von Mo und Meggie. Während Mo unter dem neuen Namen „Eichelhäher“ sich auf die Seiten der Armen und Unterdrückten stellt, quasi eine Art Robin Hood in der Tintenwelt darstellt, emanzipiert sich Meggie von ihrem Vater und wird erwachsen. Die wichtigsten Prätexte, die in allen drei Bänden vorkommen, sind die Metamorphosen des Ovid, hier besonders der Mythos von Orpheus und Eurydike, und Peter Pan von James Matthew Barrie. Darüber hinaus werden u. a. Zitate aus Werken von Bertolt Brecht, George Eliot, Ted Hughes, Astrid Lindgren, Friedrich Nietzsche, Philip Pullman, Arthur Rimbaud, Friedrich Schiller, Isaac Bashevis Singer, Robert Louis Stevenson, Mark Twain, Oscar Wilde und Marcus Zusak eingefügt. Diese Zitate antizipieren oder kommentieren die Handlung, verweisen auf eine weitere Sinnebene des Geschehens und betten die Trilogie in einen bildungsbürgerlichen Kontext ein, der von den Lesern eine gewisse Vertrautheit mit den genannten Quellen und Kennerschaft voraussetzt. Darüber hinaus strebte Funke mit der Integration ihrer Lieblingsschriftsteller und -werke an, ihre Leser dazu anzuregen, die genannten Bücher als potentielle Lektüre ins Auge zu fassen. Neben diesen markierten intertextuellen Hinweisen finden sich in der Trilogie zahlreiche unmarkierte intertextuelle Textpassagen, die sich nur dem kundigen Leser erschließen. Ein signifikantes Beispiel ist der Schlusssatz der Abenteuerhandlung im dritten Band: „Und alles war gut“ (718). Dieser Satz ist eine deutliche Referenz an den letzten Band des Harry Potter-Zyklus Harry Potter and the Deathly Hallows (Harry Potter und die Heiligtümer des Todes (2007; dt. 2007), der mit der Aussage „All was well“ („Alles war gut“) endet. Zugleich bezieht sich diese Formulierung auf die biblische Schöpfungsgeschichte, wenn im ersten Buch Mose ausgesagt wird, dass Gott feststellt, dass „es [d. i. die Schöpfung] gut war“. Obwohl zahlreiche antike Mythen in den Text verwoben sind, spielt der Mythos von Orpheus und Eurydike die zentrale Rolle (Heber 2010). Eine Figur namens Orpheus tritt im Roman auf, die nicht nur über die Gabe des Hinauslesens von Figuren verfügt, sondern neben Fenoglio auch als Autor von „Tintenherz“ fungiert. Vom ersten Band an lassen sich immer wieder Analogien zum Orpheus-Mythos ermitteln, wobei die Rolle der antiken Figuren Orpheus und Eurydike von Mo und Resa übernommen wird. Die

6. Cornelia Funke: Tintenwelt-Trilogie

enge Verknüpfung wird auch durch die Kürzel „Mo“ angedeutet: diese Buchstaben verweisen auf den Mythos Orpheus, die Metamorphosen Ovids und den Kurznamen von Mortimer, so dass auch durch dieses Wortspiel betont wird, dass Mo der wahre Orpheus ist. Im Gegensatz zu dem Adepten Orpheus greift er tatkräftig in das Geschehen ein und rettet damit die Tintenwelt. Der intertextuelle Bezug enthüllt sich bei genauerer Lektüre: Mythos und Tintenwelt-Trilogie handeln von der Macht der Dichtung und Liebe. Zugleich wird die Einsicht vermittelt, dass man den Tod nicht durch Worte bezwingen kann und dass es nicht möglich ist, Verstorbene aus dem Totenreich zurückzuholen (Heber 2010). Darüber hinaus zeigen sich Analogien zu den Metamorphosen des Ovid durch die Doppelbesetzung von Rollen (Fenoglio und Orpheus als Autoren von „Tintenherz“, Mo und Darius als Vorleser aus der primären Welt usw.), aber auch durch den Wandel einzelner Figuren, der sich u. a. im Namenswechsel andeutet. So heißt Mortimer in der primären Welt „Mo“, in der sekundären Welt wird er wegen seiner Fähigkeit zunächst „Zauberzunge“ genannt, später erhält er den Namen „Eichelhäher“, als er sich dem Widerstand gegen den Natternkönig anschließt. Durch den ständigen Verweis auf das Buch „Tintenherz“, aus dem Figuren herausgelesen werden, und seinen Autor Fenoglio, der zugleich Figur in Funkes gleichnamigen Roman ist, wird eine Metalepse geschaffen. Der Leser hält selbst ein Buch mit dem Titel „Tintenherz“ in Händen und erfährt von dem geheimnisvollen Buch „Tintenherz“, aus dem Figuren in die primäre Welt wechseln können. Auch die Beschreibung des roten Einbandes und des Layouts weist gewisse Analogien zur Buchedition auf. Die grotesken Initialen, mit denen die Kapitel in dem beschriebenen Buch anfangen, sind allerdings in der beim Verlag Dressler erschienenen Edition alle auf dem Buchcover abgedruckt, während die Kapitelinitialen aus fett gedruckten Buchstaben, gerahmt von grotesken Figuren, bestehen. Durch diese Selbstreferenz entsteht ein komplexes Netz aus intertextuellen und intratextuellen Anspielungen, die den Leser zugleich anregen, über die Entstehung einer Geschichte zu reflektieren. Der Topos vom „Buch im Buch“ trägt durch die wechselseitigen Spiegelungen und Parallelismen zur Selbstreferentialität und zum metafiktiven Charakter der Tintenwelt-Trilogie bei. Des Weiteren wird mit den Buchtiteln darauf hingewiesen, dass die dargestellte Welt auf einer Fiktion, die mithilfe von Tinte auf Papier niedergeschrieben wurde, beruht. Die Metapher der „Tinte“ durchzieht das gesamte Werk, wobei den drei Begriffen „Herz“, „Blut“ und „Tod“ auch innerliterarisch eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird. Im dritten Band gelingt es Mo, den Tyrannen Natternkopf dadurch zu besiegen, dass er in ein leeres Buch, Symbol der Seelenlosigkeit des Herrschers und zugleich Zeichen seiner Unsterblichkeit, diese drei Worte mit Tinte hineinschreibt. Die Faszination des Bösen, symbolisiert in Capricorn und Natternkopf, ist ein weiteres Leitmotiv der Trilogie. Beide Figuren bauen einen Machtapparat auf und vertreten eine Ideologie, die deutliche Analogien zum Faschismus aufweist. Sie terrorisieren ihre Umgebung und erzeugen ein Klima von Angst und Schrecken. Die Bedrohlichkeit von Capricorn wird nicht nur durch seine schwarze Kleidung, seine heisere Stimme und seine grausamen Taten, sondern auch durch die Furcht vor dem „Schatten“, der allein Capricorn gehorcht, forciert. Diese Konstellation kann

Bedeutung der Metalepse

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Der Autor als Schöpfer

Die TintenweltTrilogie als Crossover Literatur

einerseits als Hinweis auf das Verhältnis von Tengil und Katla in Astrid Lindgrens Bröderna Lejonhjärta (Die Brüder Löwenherz, 1974; dt. 1974), andererseits als Anspielung auf den Schatten, der die Hauptfigur Ged bedroht, aus Ursula Le Guins A Wizard of Earthsea (Der Zauberer von Erdsee, 1968; dt. 1986) verstanden werden, zumal beide Werke in der Tintenwelt-Trilogie zitiert werden. Obwohl Fenoglio zunächst stolz auf sein Produkt und die von ihm erdachten Figuren ist, entgleitet ihm die Macht über diese immer mehr. Bereits im ersten Band unternimmt er zwar den Versuch, den Gang der Geschichte in Zusammenarbeit mit Meggie zu ändern, allerdings zeigen die vorgenommenen Änderungen nicht immer die gewünschte Wirkung. Fenoglio ist zwar Erfinder der Tintenwelt, jedoch als Teil von ihr nicht mehr in der Lage, den Verlauf der Ereignisse vollständig zu lenken. In der Tintenwelt, wo er sich als Dichter und „Tintenweber“ betätigt, verfällt er aufgrund dieser Einsicht in Depressionen und spürt seine Ohnmacht angesichts der Bestrebungen der Figuren, sich von ihm als ihrem Schöpfer loszusagen und ein Eigenleben zu entwickeln. Durch Orpheus erhält er noch einen Konkurrenten, denn dieser ist bestrebt, das Werk Fenoglios in seinem Sinne umzuschreiben, so dass das Buch „Tintenherz“ nunmehr von zwei Autoren fortgeschrieben und verändert wird. Diese metafiktionalen Einschübe sind mit der Frage verbunden, ob man eine Handlung in der Zukunft ändern kann, wenn man die Möglichkeit besitzt, in die Vergangenheit bzw. Gegenwart einzugreifen. Diese Rolle maßt sich Fenoglio an, als er Teile seines Romans umschreibt, um den Gang der Handlung in der Primärwelt zu beeinflussen. Allerdings entsprechen die sich daraus ergebenden Änderungen nicht den erwarteten Ergebnissen und demonstrieren demzufolge, dass Menschen, in diesem Falle Künstler, nicht die Allmacht besitzen, über das Verhalten und Innenleben anderer Menschen, selbst wenn diese zunächst nur erdacht sind, zu verfügen. Insofern können die entsprechenden Passagen als Aussagen über die Verantwortung des Künstlers und die weltverändernde Funktion von Kunst gedeutet werden. Durch die Lektüre bzw. das Vorlesen erhalten die Figuren individuelle Züge, die ihnen nicht vom Autor als ihrem Schöpfer zugedacht waren, die ihnen aber von den Lesern als Rezipienten zugeordnet werden. Mit diesem Gedankenspiel verweist Funke auf das Phänomen, dass eine literarische Figur im Prozess der Lektüre einem Wandel unterliegt und dass sie von verschiedenen Lesern auch unterschiedlich wahrgenommen werden kann. Funkes Erfolg lässt sich nicht allein mit Verweis auf den Boom phantastischer Literatur im Gefolge der Harry Potter-Bände (1998 ff.) von Joanne K. Rowling erklären. Das Besondere an der Tintenwelt-Trilogie besteht darin, dass die Autorin nicht nur ein Werk verfasst hat, das sich in der Tradition der Crossover Literatur sowohl an Kinder als auch Erwachsene richtet, sondern auch mit narrativen Strategien arbeitet, die man als Charakteristika postmodernen Erzählens ansieht. Hierzu gehören Intertextualität, Bedeutung der Paratexte, Metafiktion, Selbstreferentialität, offenes Ende durch Prolepse sowie der Topos vom „Buch im Buch“, der eine Metaebene schafft. Dadurch weist die Trilogie eine Vielschichtigkeit auf, die zu immer neuen Deutungen und Re-Lektüren einlädt.

Zeitleiste Vor 1500 1210 Der Winsbecke (bis 1220) – erste volkssprachliche Erziehungslehre 1350 Der Seele Trost – Erbauungsbuch für Kinder und Erwachsene in Form eines Lehrgespräches zwischen Vater und Sohn

16. Jahrhundert 1517 Martin Luthers Anschlag der 95 Thesen in Wittenberg, Beginn der Reformation 1518 * Erasmus von Rotterdam: Colloquia familiaria (bis 1533) – Schülergespräche in der Tradition des Humanismus * Fraw Dugentreich (Frau Tugendreich) – erste durchgängige Prosaerzählung für Mädchen und Frauen 1554 Jörg Wickram: Der Jungen Knaben Spiegel – Erziehungsroman für jugendliche Leser 1592 Herzogtum Pfalz-Zweibrücken führt als erstes Territorium weltweit die Schulpflicht für Kinder ein

17. Jahrhundert 1618 Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1648 Ende des Dreißigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden 1658 Johann Amos Comenius: Orbis Sensualium Pictus – zweisprachiges Anschauungsbuch für Kinder; Vorbild für Bildenzyklopädien der Aufklärung; von vielen Forschern als Beginn des Bilderbuches und Sachbuches für Kinder angesehen 1693 John Locke: Some Thoughts Concerning Education (Gedanken über Erziehung, dt. 1762) – bahnbrechend für die Idee, dass die frühen Kindheitsjahre entscheidend für die Erziehung und Bildung seien Christian Weise: Vom Verfolgten Lateiner – bedeutendstes Schuldrama der Barockzeit 1699 François de Salignac de la Mothe Fénelon: Les aventures de Télémaque (Die Abenteuer des Telemach, dt. 1700) – Fürstenspiegel und politischer Roman für Jugendliche

18. Jahrhundert 1717 erste deutsche Übersetzung von Tausendundeine Nacht (arabische Märchensammlung, entstanden im 3.–10. Jahrhundert) – enthält bekannte orientalische Märchen, die zur Kinderlektüre geworden sind (Ali Baba und die vierzig Räuber, Aladin und die Wunderlampe)

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1719 Daniel Defoe: Robinson Crusoe – eines der am meisten für Kinder adaptierten Werke der Erwachsenenliteratur; Begründung des Subgenres „Robinsonade“ 1740 Regierungsantritt Friedrich des Großen, Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht 1762 Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation (Emil oder über die Erziehung, dt. 1789) – Topos einer natürlichen Kindheit, ausschlaggebend für die Konstitution des romantischen Kindheitsbildes; Ablehnung einer frühzeitigen Buchlektüre im Kindesalter 1772 J.C. Adelung (Hrsg.): Leipziger Wochenblatt für Kinder – erste deutsche Kinderzeitschrift, erscheint bis 1774 1774 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers – Vorläufer des Adoleszenzromans, obwohl für eine erwachsene Leserschaft verfasst, übte er einen nachhaltigen Einfluss auf die zeitgenössische Jugend aus 1779 Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere (2. Band 1780) – erfolgreichstes Kinderbuch des 18. Jahrhunderts, Robinsonade als Erziehungsbuch mit einem Vorwort, dessen Maximen auf Rousseau zurückgehen 1781 Christian Adolf Overbeck: Frizchens Lieder – von der scherzhaften Rokokolyrik beeinflusste Kinderliedersammlung der Aufklärung, mit dem berühmten Kinderlied „An den May“ 1789 Beginn der Französischen Revolution 1792 Friedrich Justin Bertuch: Bilderbuch für Kinder (12 Bände bis 1830) – Elementarwerk in der Orbis pictus-Tradition, das das zeitgenössische Wissen an Kinder vermittelt

19. Jahrhundert 1805 Achim von Arnim/Clemens von Brentano: Des Knaben Wunderhorn – erste umfassende Sammlung alter deutscher Volkslieder, Anhang zum dritten Band (erschienen 1808) enthält 140 Kinderreime 1812 * Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen – bedeutendste deutschsprachige Sammlung von Volksmärchen, durch mehrere Bearbeitungen zum „Erziehungsbuch“ für Kinder umgewandelt * Johann David Wyß: Der Schweizerische Robinson (vier Bände bis 1827) – erste Familien-Robinsonade für Kinder 1816 E. T. A. Hoffmann: Nußknacker und Mausekönig – Wegbereiter der modernen kinderliterarischen Phantastik 1817 E. T. A. Hoffmann: Das fremde Kind – Konstitution des Motivs des „fremden Kindes“, das bis in die Gegenwart hinein die internationale Kinderliteratur beeinflusst hat 1821 Heinrich Dittmar: Deutsches Lesebuch (drei Bände bis 1827) – frühes Beispiel eines literarischen Lesebuchs für Schulkinder 1825 Wilhelm Hauff: Mährchen-Almanache (drei Bände bis 1827) – Auseinandersetzung mit spätromantischer Märchentradition, Übergang zum Biedermeier

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1840 Friedrich Fröbel richtet den ersten Kindergarten in Blankenburg ein 1843 Ludwig Richter: Die Ammenuhr – Auswahl von Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn, Beginn des poetischen Bilderbuchs 1845 * Heinrich Hoffmann: Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorirten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren (ab der 5. Auflage bekannt mit dem Titel: Der Struwwelpeter) – satirische Warngeschichten in Reimform, von vielen Forschern wegen der Text-Bild-Relation als erstes genuines Bilderbuch angesehen * Ludwig Bechstein: Deutsches Märchenbuch – bis Ende des 19. Jahrhunderts die populärste Märchensammlung für Kinder 1848 Märzrevolution in Deutschland 1863 Clementine Helm: Backfischchen’s Leiden und Freuden – bedeutendster Backfischroman für Mädchen 1865 Wilhelm Busch: Max und Moritz – Bildergeschichte, als Vorläufer des modernen Comics angesehen 1866 Adelbert Merget: Geschichte der deutschen Jugendliteratur – erste historische Darstellung der deutschen Kinder- und Jugendliteratur 1871 Gründung des Deutschen Reiches 1874 Theodor Storm: Pole Poppenspäler – durch Heinrich Wolgast als „Klassiker der erzählenden Jugendschrift“ kanonisiert 1880 Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre – Entwicklungsroman eines Mädchens in Anlehnung an Goethes Wilhelm Meister- Romane 1885 Emmy von Rhoden: Der Trotzkopf – Erziehungs- und Liebesroman für Mädchen, begründet Subgenre der Pensionsgeschichte 1893 * Karl May: Winnetou, der Rote Gentleman – Verknüpfung von Abenteuer- und Initiationsroman, Rückgriff auf Rousseaus Konzeption des „edlen Wilden“ * Gründung der Jugendschriften-Warte als Zeitschrift der Jugendschriftenbewegung, erscheint bis heute unter wechselnden Namen (jetzt: kjl&m) 1896 Heinrich Wolgast: Das Elend unserer Jugendliteratur – Streitschrift gegen die sogenannten „Tendenzschriften“ für Kinder und Jugendliche 1898 Ernst Kreidolf: Blumen-Märchen – Jugendstil-Bilderbuch, beeinflusst durch die Kunsterziehungsbewegung

20. Jahrhundert 1900

Ellen Key: Århundradets barn (Das Jahrhundert des Kindes, dt. 1902) – reformpädagogische Schrift mit Auswirkungen auf das Kindheitsbild der Jahrhundertwende bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs * Paula und Richard Dehmel: Fitzebutze – Kindergedichte aus der Sicht des Kindes 1904 Granville Stanley Hall: Adolescence. Its Psychology and Its Relations to Physiology, Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion and Education – Pionier der Jugendforschung, erstmalige umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Lebensphase Adoleszenz *

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1906 Sybille von Olfers: Etwas von den Wurzelkindern – neoromantisches Bilderbuch, beeinflusst von Ideen Ellen Keys und der skandinavischen Bilderbuchästhetik (Elsa Beskow) 1909 Hans Dominik: John Workman, der Zeitungsjunge – Übernahme des amerikanischen rags-to-riches-Motivs 1912 * Waldemar Bonsels: Die Biene Maja – neuromantisches Naturmärchen, eines der erfolgreichsten Bücher in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts * Gerdt von Bassewitz: Peterchens Mondfahrt – bis in die 1960er Jahre hinein das erfolgreichste Kindertheaterstück in Westdeutschland * Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus – Antikriegsroman für Kinder 1913 Else Ury: Nesthäkchen und ihre Puppen – erster Band der Nesthäkchen-Serie (zehn Bände bis 1925), umfasst die Geschichte dreier weiblicher Generationen 1914 Beginn des Ersten Weltkrieges 1918 * Ende des Ersten Weltkrieges * Charlotte Bühler: Das Märchen und die Phantasie des Kindes – Entwicklung einer Theorie der Lesealtersstufen 1919 Allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland in der Weimarer Verfassung (Artikel 145) festgelegt 1921 Hermynia zur Mühlen: Was Peterchens Freunde erzählen – proletarische Märchen für Kinder 1923 * Felix Salten: Bambi – Tierroman, der Ideen des Zionismus ins Tierreich transformiert, durch die Disney-Verfilmung von 1942 berühmt geworden * Lotte Reiniger: Die Abenteuer des Prinzen Achmed – erster abendfüllender Animationsfilm in Scherenschnitttechnik, entstanden 1923–1926 * Jean Piaget: Le langage et la pensée chez l’enfant (Sprechen und Denken des Kindes, dt. 1972) – Begründung der kognitiven Kinderpsychologie 1924 * erste Rundfunksendung für Kinder (Berliner Funk-Stunde) * Joachim Ringelnatz: Geheimes Kinder-Spielbuch – Nonsenslyrik für Kinder 1925 Kurt Schwitters/Käte Steinitz/Theo van Doesburg: Die Scheuche – von der künstlerischen Avantgarde inspiriertes abstraktes Bilderbuch 1926 * Wolf Durian: Kai aus der Kiste – Großstadtroman der Neuen Sachlichkeit für Kinder * Bauhaus in Dessau: in jeder Werkklasse ist ein Künstler für die Konzeption von kinderkulturellen Produkten verantwortlich 1929 Erich Kästner: Emil und die Detektive – Begründung des Detektivund Kriminalromans für Kinder, Entwicklung einer kinderliterarischen Poetik der Neuen Sachlichkeit im Vorwort 1931 * Emil und die Detektive (Regie: Gerhard Lamprecht), erster abendfüllender Tonfilm für Kinder * Friedrich Böer: Drei Jungen erforschen eine Stadt – Einführung der Photomontage in das Sachbuch

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Lisa Tetzner: Der Fußball (bildet zusammen mit Erwin und Paul (1933) den ersten Band der neun-bändigen Kinderodyssee Die Kinder aus Nr. 67 (1937–1949), bedeutendster deutscher Beitrag zur Exilliteratur für Kinder * Karl Aloys Schenzinger: Hitlerjunge Quex – Entwicklungsroman, Vorbild für eine vom nationalsozialistischen Gedankengut geprägte Literatur * „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten * Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer – neben Wilhelm Speyers Der Kampf der Tertia (1927) der wichtigste Schülerroman für Kinder der Weimarer Republik * Ausschluss zahlreicher Kinderbuchautoren aus rassistischen oder politischen Gründen aus der Reichsschrifttumskammer * Erstmalige Veröffentlichung einer schwarzen Liste mit Kinder- und Jugendbüchern, die aus allen öffentlichen Bibliotheken entfernt werden mussten e. o. plauen (d. i. Erich Ohser): Vater und Sohn – textlose Bildergeschichten, erschienen bis 1937 Anna Maria Jokl: Die Perlmutterfarbe (erschienen 1948 in Ostberlin) – Schülerroman mit einer wechselvollen Rezeptionsgeschichte, Parabel auf Machtmissbrauch im Mikrokosmos einer Schule Meta Samson: Spatz macht sich – Mädchenroman der deutsch-jüdischen Autorin, letzter gedruckter Kinderroman eines deutsch-jüdischen Verlages * Beginn des Zweiten Weltkrieges * Bertolt Brecht: Kinderlieder (aus dem Zyklus Svendborger Gedichte) – politisch-aufklärerische Gedichte für Kinder Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande – Darstellung einer Kinderbande mit weiblicher Anführerin * Ende des Zweiten Weltkrieges, Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen * Pinguin, Kinderzeitschrift (erscheint bis 1949) herausgegeben von Erich Kästner, Appell an kindliche Vernunft und Solidarität mit Kindern aus anderen Ländern * Währungsreform in Westdeutschland * Gründung der Internationalen Jugendbibliothek in München durch Jella Lepman * Erich Kästner: Das doppelte Lottchen – Tabuthema Scheidung und Auswirkungen auf kindliche Psyche thematisiert * Erich Kästner: Die Konferenz der Tiere – politische Utopie mit direkten Bezügen zur Zeitgeschichte * Bertolt Brecht: Der verwundete Sokrates – erstes im neugegründeten Kinderbuchverlag (Ostberlin) veröffentlichtes Buch * Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf (schwed. EA 1945) erscheint beim Oetinger Verlag in deutscher Übersetzung, heftige Kontroverse unter Pädagogen wegen des anarchischen Verhaltens der Hauptfigur Anne Frank: Das Tagebuch (niederl. EA 1947) – erste Darstellung der Shoah in einem in Deutschland publizierten Kinderbuch *

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1952 Gründung des DEFA-Kinderfilmstudios 1953 * Erste westdeutsche Kindersendung im Fernsehen (Fernseh-Kinderfunk mit Dr. Ilse Obrig) * Rolf Kauka: Fix und Foxi (1995 eingestellt), wichtigste westdeutsche Comicserie für Kinder * Gründung der IBBY (International Board on Books for Young People) in Zürich 1954 Erwin Strittmatter: Tinko – Gegenwartsroman für Kinder mit kritischer Sicht auf die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR 1956 * Erste Ausgabe der Jugendzeitschrift Bravo * Erstmalige Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises * Deutsche Übersetzung von Jerome Salinger: The Catcher in the Rye (Der Fänger im Roggen, amerik. EA 1951) – Auslöser für Interesse an Romanen für junge Erwachsene 1957 Otfried Preußler: Die kleine Hexe – Beginn der Blütezeit kinderliterarischer Phantastik in Westdeutschland 1959 Sandmännchen (DDR) – tägliche Gutenachtsendung im Abendprogramm, mit Bildergeschichten und Puppenspiel; seit 1962 Äquivalent im Westfernsehen; ab 1992 fortgeführt mit DDR-Sandmännchen 1960 Philippe Ariès: L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime (Die Geschichte der Kindheit, dt. 1975) – Begründung der Kindheitsforschung 1961 * Bau der Berliner Mauer * Karl Bruckner: Sadako will leben – Schilderung der Folgen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima * Hans-Peter Richter: Damals war es Friedrich – vielfach kritisierte, aber dennoch kanonische Schullektüre über die Judenverfolgung in der NS-Zeit 1962 Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer – phantastischer Kinderroman, Darstellung einer Friedensutopie 1966 Gründung des GRIPS-Theaters in Berlin 1967 Josef Guggenmos: Was denkt die Maus am Donnerstag? – Gedichtsammlung, als Schullektüre kanonisiert 1968 * Juri Brezan: Die schwarze Mühle – bedeutendster Beitrag der sorbischen Kinderliteratur, Pendant zu Otfried Preußlers Krabat * Ali Mitgutsch: Rundherum in meiner Stadt – Wimmelbuch als neues Bilderbuchgenre * Erster Band der von Robert Arthur begründeten Drei FragezeichenBände (amerik. EA 1964) erscheint in deutscher Übersetzung, nach Einstellung der Serie in den USA seit 1993 von deutschen Autoren und Autorinnen weitergeschrieben, mit bislang 164 Bänden eine der erfolgreichsten Kinderbuchserien in Deutschland 1970 Ursula Wölfel: Die grauen und die grünen Felder – gesellschaftskritische Erzählungen unter dem Einfluss der 1968er-Bewegung 1971 * Otfried Preußler: Krabat – phantastischer Roman, politische Parabel auf die NS-Zeit * Die Sendung mit der Maus – Kindersendung für Vorschul- und Grundschulkinder, bis heute von der ARD produziert

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1972 Christine Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig – phantastischer Kinderroman, der Ideen der emanzipatorischen und antiautoritären Kindererziehung aufgreift 1973 * Paul Maar: Eine Woche voller Samstage – phantastischer Kinderroman mit Anknüpfung an das Motiv des „fremden Kindes“ (E. T. A. Hoffmann), fünf Fortsetzungen (bis 2011) * Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W – Kultbuch für Jugendliche in der DDR und der BRD, moderne Version von Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) * Jörg Müller: Alle Jahre wieder saust der Preßlufthammer nieder oder die Veränderung einer Landschaft – früher Bezug auf den Umweltschutz in einer Bildermappe * Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (Regie: Václav Vorlícek; deutsch-tschechische Co-Produktion) – Märchenfilmklassiker, seit Jahren fester Bestandteil des Weihnachtsprogramms öffentlicher Fernsehsender * Sesamstraße (Sesame Street, USA 1969), bis heute produzierte Fernsehsendung für Kinder im Vorschul- und Grundschulalter 1974 Start der „Dungeons and Dragons“-Serie – eine der frühesten und erfolgreichsten Rollenspiele Beginn des alljährlich stattfindenden „Lucas“-Kinderfilmfestivals, Frankfurt am Main 1977 Gründung des Kinder- und Jugendfilmzentrums in Remscheid 1978 Janosch: Oh, wie schön ist Panama – preisgekrönter Bilderbuchklassiker im Medienverbund 1979 Michael Ende: Die Unendliche Geschichte – Phantastischer Roman, der durch das narrative Verfahren der Metafiktion gekennzeichnet ist; erstmals steht mit diesem Werk ein Kinderbuch monatelang auf der Bestsellerliste des SPIEGEL 1980 Benno Pludra: Insel der Schwäne – gesellschaftskritische Perspektive auf die DDR 1983 Erstes Computerspiel mit dem Klempner Mario 1985 Dagmar Chidolue: Lady Punk – postmoderner Adoleszenzroman für Mädchen 1987 Gudrun Pausewang: Die Wolke – Dystopie für Kinder, trotz Bedenken des Familienministeriums mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet 1988 Gründung der „Stiftung Lesen“ in Mainz logo! – erste Kindernachrichtensendung, produziert vom ZDF 1989 * Mauerfall und Öffnung der innerdeutschen Grenze (9. November) * Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention am 20. November 1989 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen; von den meisten Ländern der Welt ratifiziert 1990 Internet: Start von www, http und html 1991 * Katsuhiro Otomo: Akira (1991–1996) – erste erfolgreiche MangaSerie in Deutschland * Mit dem internationalen Erfolg von Jostein Gaarders Jugendroman Sofies verden (Sofies Welt, dt. 1993) setzt sich in der Verlagswelt der Terminus „All Age Literatur“ durch

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1992 Kirsten Boie: Ich ganz cool – ungewöhnliche sprachliche Gestaltung durch Integration von zeitgenössischer Jugendsprache 1993 Cornelia Funke: Die wilden Hühner (fünf Bände bis 2001) – Darstellung einer weiblichen Kinderbande, Anknüpfung an die Girlie-Literatur 1995 * Toy Story (USA, Regie: John Lasseter) – erster Animationsfilm in der CGI-Technik (computer-generated imagery) * Einrichtung erster Spartenkanäle nur für Kinder (Nickelodeon, SuperRTL, ab 1997 KI.KA) 1996 * The Baby-Sitters Friendship Kits – erstes Computerspiel für Kinder mit der Möglichkeit, als Avatar in die Geschichte einbezogen zu werden * Tamagotchi (Aki Maita) – japanisches Card-Game zur Aufzucht eines virtuellen Wesens 1997 Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Philosopher’s Stone (Harry Potter und der Stein der Weisen, dt. 1998) – erster Band der siebenteiligen Harry Potter-Reihe, erscheint parallel in Ausgaben für Kinder und für Erwachsene, globaler Siegeszug der Crossover Literatur 1998 * Benjamin von Stuckrad-Barre: Soloalbum – Auftakt der deutschen Popliteratur * Schloss Einstein (ARD) – erste deutsche Kinder-Soap, bis heute produziert

21. Jahrhundert 2000 Die Sims (Maxis, konstruiert von Will Wright) – eines der meist verkauften Computer-Strategiespiele 2001 Emil und die Detektive (Regie: Franziska Buch) – Beginn der erfolgreichen Remediatisierungen von Erich Kästners Kinderklassikern 2003 Cornelia Funke: Tintenherz – erster Band der international erfolgreichen Tintenwelt-Trilogie (2005 und 2007), Vertreter einer postmodernen Phantastik für Kinder 2007 Anne Voorhoeve: Liverpool Street – historischer Jugendroman über die Kindertransporte jüdischer Kinder nach England 2010 Alice for the iPad – E-Book für Kinder, das auf das Handy oder Tablet heruntergeladen werden kann 2011 offizieller deutschlandweiter Beginn des Lesestart-Projekts (größtes und längstes Leseförderungsprogramm in Deutschland, gefördert vom BMBF)

Literaturverzeichnis Primärliteratur Boie, Kirsten: Ich ganz cool. Hamburg 1992. Funke, Cornelia: Tintenherz. Hamburg 2003. Funke, Cornelia: Tintenblut. Hamburg 2005. Funke, Cornelia: Tintentod. Hamburg 2007. Guggenmos, Joseph: Was denkt die Maus am Donnerstag? Recklinghausen 1967. Hoffmann, E.T.A.: Nußknacker und Mausekönig. Stuttgart 2006 (EA 1816). Hoffmann, E.T.A.: Die Serapionsbrüder. Frankfurt 1999 (EA 1819–21). Kästner, Erich: Emil und die Detektive. Hamburg 2010 (EA 1929). Rhoden, Emmy von: Der Trotzkopf. Würzburg 2005 (EA 1885).

Literaturgeschichten, Quellensammlungen und theoretische Schriften (vom 18. Jahrhundert bis 1970) Bamberger, Richard: Jugendlektüre. Wien 1965. Bouginé, Carl Joseph: Handbuch der allgemeinen Litterargeschichte nach Heumanns Grundriß. 5 Bde. Zürich 1789–1792. Buchner, Wilhelm: Lehrbuch der Geschichte der deutschen Nationalliteratur nebst einem Abriß der deutschen Kunstgeschichte als Anhang. Für höhere Lehranstalten und den Selbstunterricht. Mainz 1852. Bühler, Charlotte: Das Märchen und die Phantasie des Kindes. Leipzig 1918. Campe, Joachim Heinrich: Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. In: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. Th. 3. Hamburg 1785, S. 291–434. Detmer, A.: Musterung unserer deutschen Jugendliteratur. Hamburg 1842. Dyrenfurth-Graebsch, Irene: Geschichte des Jugendbuchs. Leipzig 1967 (1. Aufl. 1942 unter dem Namen Irene Graebsch). Fricke, Wilhelm: Grundriß der Geschichte deutscher Jugendliteratur. Minden 1886. Gedike, Friedrich: Einige Gedanken über Schulbücher und Kinderschriften. Berlin 1787. Göhring, Ludwig: Die Anfänge der deutschen Jugendliteratur im 18. Jahrhundert. Nürnberg 1904.

Hazard, Paul: Kinder, Bücher und große Leute. Köln 1952 (franz. EA 1925). Hobrecker, Karl: Alte vergessene Kinderbücher. Berlin 1924. Hoernle, Edwin: Unorganisierte Formen der KinderMassenbeeinflussung. In: E.H.: Grundfragen der proletarischen Erziehung. Berlin 1929, S. 132–138. Hürlimann, Bettina: Europäische Kinderbücher in drei Jahrhunderten. Zürich u. Freiburg 1959. Jean Paul: Levana oder Erziehlehre. Paderborn 1963 (EA 1804). Köster, Hermann Leopold: Geschichte der deutschen Jugendliteratur. 2 Bde. Hamburg 1906/08. Krüger, Anna: Kinder- und Jugendbücher als Klassenlektüre. Weinheim 1963. Kühner, Carl: Jugendlectüre, Jugendliteratur. In: Schmid, Karl Adolf (Hrsg.): Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens. Bd. 3. Gotha 1862, S. 802–840. Kunze, Horst: Schatzbehalter. Hanau 1964. Maier, Karl Ernst: Jugendschrifttum. Formen, Inhalte, pädagogische Bedeutung. Bad Heilbrunn 1965. Merget, Adelbert: Geschichte der deutschen Jugendliteratur. Berlin 1866. Prestel, Josef: Geschichte des deutschen Jugendschrifttums. Freiburg 1933. Rümann, Arthur: Alte deutsche Kinderbücher. Wien 1937. Thalhofer, Franz Xaver: Die Jugendlektüre. Geschichtliches und Grundsätzliches. Paderborn 1925. Tiedemann, Dieterich: Untersuchungen über den Menschen. Leipzig 1778. Wiegand, Ludwig (Hrsg.): Die Deutsche Jugendlitteratur, nebst einem Verzeichnis bewährter Jugendschriften. Hilchenbach 1897. Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendliteratur. Hamburg 1896.

Einführungen, Handbücher, Kinderliteraturgeschichten, Lexika und Textsammlungen Altner, Manfred (Hrsg.): Das proletarische Kinderbuch. Dokumente zur Geschichte der sozialistischen deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Dresden 1988.

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Literaturverzeichnis Ariès, Philipp: Geschichte der Kindheit. München 1975 (franz. EA 1960). Baumgärtner, Alfred Clemens/Pleticha, Heinrich (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Autoren, Illustratoren, Verlage. Meitingen 1995 ff. (Loseblattsammlung; seit 1995 herausgegeben von Kurt Franz, Günter Lange und Franz-Josef Payrhuber). Behncken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (Hrsg.): Kinder – Kindheit – Lebensgeschichte. Ein Handbuch. Seelze 2001. Brüggemann, Theodor/Brunken, Otto (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570. Stuttgart 1987. Brüggemann, Theodor/Brunken, Otto (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1570 bis 1750. Stuttgart 1991. Brüggemann, Theodor/Ewers, Hans-Heino (Hrsg.).: Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1750 bis 1800. Stuttgart 1982. Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Michels-Kohlhage, Maria/Wilkending, Gisela (Hrsg): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900. Stuttgart u. Weimar 2008. Brunken, Otto/Hurrelmann, Bettina/Pech, Klaus-Ulrich (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1800 bis 1850. Stuttgart u. Weimar 1998. Doderer, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. 4 Bde. Weinheim u. Basel 1975– 1982. Doderer, Klaus (Hrsg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945–1960. Weinheim u. Basel 1988. Ewers, Hans-Heino (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung. Eine Textsammlung. Stuttgart 1980. Ewers, Hans-Heino (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Romantik. Eine Textsammlung. Stuttgart 1984. Ewers, Hans-Heino: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung. München 2000. Ewers, Hans-Heino/Mieles, Myriam (Hrsg.): Kinderund Jugendliteratur. Von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg. Eine Textsammlung. Stuttgart 1995. Ewers, Hans-Heino/Seibert, Ernst (Hrsg.): Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Wien 1997. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin 1999. Glasenapp, Gabriele von/Weinkauff, Gina: Kinderund Jugendliteratur. Paderborn 2010.

Hall, Nigel/Larsson, Joanne/Marsh, Jackie (Hrsg.): Handbook of Early Childhood Literacy. London 2003. Heller, Friedrich C.: Die bunte Welt. Handbuch zum künstlerisch illustrierten Kinderbuch in Wien 1890–1938. Wien 2008. Hopster, Norbert/Josting, Petra/Neuhaus, Joachim (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945. Ein Handbuch. 2 Bde. Stuttgart u. Weimar 2001/ 2005. Hunt, Peter (Hrsg.): International Companion Encyclopedia of Children’s Literature. London u. New York 1996. Hurrelmann, Klaus/Bründel, Heidrun: Einführung in die Kindheitsforschung. Weinheim 2003 (2. Aufl.). Klotz, Aiga: Kinder und Jugendliteratur in Deutschland 1840–1950. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen in deutscher Sprache. 5 Bde. Stuttgart u. Weimar 1990–1999. Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Opladen 2002. Kübler, Hans-Dieter: Medien für Kinder. Von der Literatur zum Internet-Portal. Wiesbaden 2002. Kümmerling-Meibauer, Bettina: Klassiker der Kinderund Jugendliteratur. 2 Bde. Stuttgart u. Weimar 1999 [1999a]. Kunze, Horst (Hrsg.): Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. 14 Bde. Berlin 1974–1988. Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. 2 Bde. Baltmannsweiler 2000. Lange, Günter (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler 2011. Mitterauer, Michael: Sozialgeschichte der Kindheit. Frankfurt a. M. 1983. Pech, Klaus-Ulrich (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur vom Biedermeier bis zum Realismus. Eine Textsammlung. Stuttgart 1985. Phillips, Zlata Fuss: German Children’s and Youth Literature in Exile 1933–1950. Biographies and Bibliographies. München 2001. Ries, Hans: Illustration und Illustratoren des Kinderund Jugendbuchs im deutschsprachigen Raum 1871–1914. Osnabrück 1992. Schäfer, Horst (Hrsg.): Lexikon des Kinder- und Jugendfilms im Kino, im Fernsehen und auf Video. Meitingen 1998 ff. (Loseblattsammlung). Schikorsky, Isa: Dumont Schnellkurs Kinder- und Jugendliteratur. Köln 2003. Seibert, Ernst: Stoffe und Motive in der Literatur für Kinder und Jugendliche. Wien 2008. Shavit, Zohar/Ewers, Hans-Heino/Völpel, Annegret/ HaCohen, Ran/Richter, Dieter (Hrsg.): Deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur von der Haskala bis 1945. Stuttgart u. Weimar 1996.

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Sekundärliteratur Aktuelle Fachliteratur findet man in der umfangreichen Bibliographie des Jahrbuchs „Kinder- und Jugendliteraturforschung“, das seit 1995 erscheint. Die Bibliographie ist auch online abrufbar unter: http:// 141.2.185.24:8060/alipac/. Abate, Michelle Ann: Tomboys. A Literary and Cultural History. Philadelphia 2008. Alefeld, Yvonne-Patricia: Göttliche Kinder. Die Kindheitsideologie in der Romantik. Paderborn 1996. Baader, Meike Sophia: Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld. Neuwied 1996. Bannasch, Bettina: Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das „bildende Bild“ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen 2007. Barth, Susanne: Jungfrauenzucht. Literaturwissenschaftliche und pädagogische Studien zur Mädchenerziehungsliteratur zwischen 1200 und 1600. Stuttgart 1994. Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. München 2002. Beckett, Sandra (Hrsg.): Transcending Boundaries.

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Personenregister Abdel-Qadir, Ghazi (*1948) 79 Abeles, Siegfried (1863–1943) 59 Abraham, Peter (*1936) 68 Adelung, Johann Christoph (1732–1806) 39, 134 Aesop (6. Jh. v. Chr.) 36, 38 Alger, Horatio (1832–1899) 50 Andersen, Hans Christian (1805–1875) 46, 51, 56, 78, 93, 101, 127 Antz, Joseph (1880–1960) 68 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860) 95 f. Arneson, Dave (1947–2009) 82 Arnheim, Rudolf (1904–2007) 55 Arnim, Achim von (1781–1831) 43 f., 111, 117, 134 Arthur, Robert (1909–1969) 80, 138 Asscher-Pinkhoff, Clara (1896–1984) 69 Augusti, Brigitte (d. i. Auguste Plehn, 1839–1930) 48 Aulnoy, Marie Catherine d' (1650–1705) 39 Balász, Bela (d. i. Herbert Bauer, 1884–1949) 56 Barrie, James Matthew (1860–1937) 46, 127, 129 f. Basedow, Johann Bernhard (1724–1790) 39, 41 Basile, Giambattista (1575–1632) 45 Bassewitz, Gerdt von (1878–1923) 51, 136 Bauer, Elvira (*1915–?) 62 Bauer, Jutta (*1955) 123 f. Baumann, Hans (1914–1988) 62, 66 Bechstein, Ludwig (1801–1860) 44, 135 Beer, Hans de (*1957) 78 Benjamin, Walter (1892–1940) 14, 55 Berges, Grete (1895–1957) 58 Berna, Paul (1908–1994) 57, 110 Bertuch, Friedrich Justin (1747–1822) 41, 134 Beseler, Horst (*1925) 70 Beskow, Elsa (1874–1953) 136 Bettelheim, Bruno (1913–1990) 72 Bierbaum, Otto Julius (1865–1910) 51 Blyton, Enid (1897–1968) 57, 110 Böer, Friedrich (1904–1987) 59, 136 Böhm, Salo (1910–2000) 63 Boie, Kirsten (*1950) 73 f., 76 f., 118–125, 140 Bonsels, Waldemar (1881–1952) 51, 136 Borchers, Elisabeth (*1926) 69, 110 Bouginé, Carl (1735–1797) 14 Brahms, Johannes (1833–1897) 45 Brecht, Bertolt (1898–1956) 27, 60, 65, 67, 111 f., 130, 137 Brentano, Clemens (1778–1842) 43–45, 111, 117, 134

Breˇzan, Jurij (1916–2006) 78, 138 Briggs, Raymond (*1934) 81 Bruckner, Karl (1906–1982) 68, 138 Bruckner, Winfried (1937–2003) 69 Bühler, Charlotte (1893–1974) 14, 50, 55, 136 Bürgel, Bruno H. (1875–1948) 55 Busch, Wilhelm (1832–1908) 49, 135 Busta, Christine (1915–1987) 69, 111 f. Campe, Joachim Heinrich (1746–1818) 11, 24, 39–41, 95, 134 Carroll, Lewis (d. i. Charles Lutwidge Dodgson, 1832–1898) 93 Castillo, Michel del (*1933) 68 Casparius, Hans (1900–1986) 63 Chamisso, Adelbert von (1781–1838) 97 Chidolue, Dagmar (*1944) 75, 119, 139 Clarke, Pauline (*1921) 91 Collins, Suzanne (*1962) 76 Comenius, Johann Amos (1592–1670) 25, 35 f., 41, 133 Contessa, Carl Wilhelm Salice (1777–1825) 84 Cooper, James Fenimore (1789–1851) 50 Cosmar, Antonie (1807–1870) 48 Dantz, Carl (1884–1967) 56, 60, 103 Defoe, Daniel (1660–1731) 28, 38 f., 134 Dehmel, Paula (1862–1918) 52, 111 f., 135 Dehmel, Richard (1863–1920) 52, 111f., 135 Delseit, Anne (*1986) 81 Denneborg, Heinrich Maria (1909–1987) 68 Dirks, Rudolphe (1877–1968) 49 Dische, Irene (*1952) 76 Disney, Walter Elias (1901–1966) 136 Dittmar, Heinrich (1792–1866) 48, 134 Doesburg, Theo van (1883–1931) 59, 136 Dominik, Hans (1872–1945) 50, 103, 136 Dong-Seong, Kim (*1970) 78 Drvenkar, Zoran (*1967) 79 Dumas der Ältere, Alexandre (1802–1870) 93 Durian, Wolf (d. i. Wolfgang Bechtle, 1892–1969) 56, 101, 103, 136 Ebner-Eschenbach, Marie von (1830–1916) 52 Ehrlich, Bettina (1903–1985) 65 Ende, Michael (1929–1995) 24, 51, 68, 72, 93, 112, 125, 138 f. Ensikat, Klaus (*1937) 78

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Personenregister Enzensberger, Hans-Magnus (*1929) 27, 76 Erasmus von Rotterdam, Desiderius (1465–1536) 35, 133 Erlbruch, Wolf (*1948) 78 Fährmann, Willi (*1929) 69 Fallada, Hans (1893–1947) 64 Felseneck, Marie von (1847–1926) 48, 100 Fénelon, François de Salignac de la Mothe (1651–1715) 36, 38, 133 Ferry, Gabriel (d. i. Eugène Louis Gabriel Ferry de Bellemare, 1809–1852) 50 Flex, Walter (1887–1917) 51 Fouqué, Friedrich Baron de la Motte (1777–1843) 84 Frank, Anne (1929–1945) 9, 68, 137 Frank, Rudolf (1886–1979) 58 Frenssen, Gustav (1863–1945) 61 Fröbel, Friedrich Wilhelm August (1782–1852) 23, 48, 135 Fühmann, Franz (1922–1984) 70 Funke, Cornelia (*1958) 28, 74, 76, 80, 82, 125132, 140 Gaarder, Jostein (*1952) 125, 139 Gailer, Jacob Eberhard (1792–1850) 36 Gajdar, Arkadi (1904–1941) 67 Galland, Jean-Antoine (1646–1715) 39 Gansberg, Fritz (1871–1950) 52 Geiger-Gog, Anni (1897–1995) 64 Gelbart, Bernhard (1919–2000) 63 Gerstäcker, Friedrich (1816–1872) 50 Giordano, Ralph (*1923) 64 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 41, 58, 97, 134 f., 139 Göhring, Ludwig (1860–1942) 15 Görlich, Günter (1928–2010) 69 Görner, Carl August (1806–1884) 48 Gotthelf, Jeremias (1797–1854) 52 Gouraud, Julie (1810–1891) 91 Grimm, Albert Ludwig (1786–1872) 84 Grimm, Jakob (1785–1863) 11, 14, 43 f., 84, 109, 134 Grimm, Wilhelm (1786–1859) 11, 14, 43 f., 84, 109, 134 Gropius, Walter (1883–1969) 54 Grün, Max von der (*1926) 72 Güll, Friedrich (1812–1879) 45 Günther, Herbert (1906–1978) 75 Guggenmos, Josef (1922–2003) 7, 69, 110–118, 138 Gygax, Gary (1938–2008) 82 Hacks, Peter (1928–2003) 68, 111 f., 118 Haeckel, Ernst (1834–1919) 50 Härtling, Peter (*1933) 27, 72, 74, 76 Hage, Anika (*1985) 81

Halbey, Hans Adolf (1922–2003) 69, 112 Hamsun, Marie (1881–1969) 54 Harland, Richard (*1947) 76 Harnik, Raya (*1933) 65 Hauff, Wilhelm (1802–1827) 46, 134 Hazard, Paul (1878–1944) 24, 26 Heiduczek, Werner (*1926) 70 Hein, Christoph (*1944) 76 Held, Kurt (d. i. Kurt Kläber, 1897–1959) 65, 137 Helm, Clementine (1825–1869) 49, 95, 135 Henning von Lange, Alexa (*1973) 76 Herburger, Günther (*1932) 71 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 42 f., 86, 88 Herlinger, Ilse (1903–1944) 59, 64 Hermlin, Stephan (1915–1997) 70 Hesse, Hermann (1877–1962) 42, 58 Hey, Wilhelm (1789–1854) 45, 111 Hiemer, Ernst (1900–1974) 62 Hirsch, Leo (1903–1943) 63 Hobrecker, Karl (1876–1949) 14 Höcker, Oskar (1840–1894) 48 Hölderlin, Johann Christian Friedrich (1770–1843) 43 Hoernle, Edwin (1883–1952) 12 Hofer, Karl (1878–1955) 53 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776–1822) 24, 27 f., 45 f., 48, 56, 84-93, 128 f., 134, 139 Hoffmann, Franz (1814–1882) 48 Hoffmann, Heinrich (1809–1894) 48 f., 110, 135 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich (1798–1874) 45, 111 Hoffmeister, Adolf (1902–1973) 64 Holtz-Baumert, Gerhard (1927–1996) 69 f. Hürlimann, Bettina (1909–1983) 12, 14 Hüttner, Hannes (*1932) 70 Hughes, Thomas (1822–1896) 58, 97 Isau, Ralf (*1956) 76 Jacquet-Droz, Henri-Louis (1752–1791) 90 Jacquet-Droz, Pierre (1721–1790) 90 Janosch (d. i. Horst Eckert, *1931) 69, 139 Jean Paul (d. i. Johann Friedrich Paul Richter, 1763–1825) 42 f., 86 f., 97 Jokl, Anna Maria (1911–2001) 65, 137 Kaléko, Mascha (1907–1975) 65, 111 Kästner, Erich (1899–1974) 24, 26 f., 56–58, 60, 64, 67, 81, 93, 101–111 f., 136 f., 140 Kampmann, Stefani (*1971) 81 Kant, Immanuel (1742–1804) 42 Kant, Uwe (*1936) 69 Katajew, Valentin (1897–1986) 67 Kaulbach, Hermann (1846–1909) 47 Keun, Irmgard (1905–1982) 65

Personenregister Kerr, Judith (*1923) 65 Key, Ellen (1849–1926) 53, 135 f. Kinney, Jeff (*1971) 81 Klee, Paul (1879–1940) 54 Klötzel, Cheskel Zwi (1891–1951) 59 König, Karin (*1946) 75 Kohlberg, Lawrence (1927–1987) 87 Kordon, Klaus (*1943) 77 Korn, Ilse (1907–1975) 70 Köster, Hermann Leopold (1872–1957) 15 Kostick, Conor (*1964) 82 Kotzde, Wilhelm (1878–1948) 48 Koz˙ik, Christa (*1941) 75 Kracauer, Siegfried (1889–1966) 55 Krása, Hans (1899–1944) 54 Kreidolf, Ernst (1863–1956) 53, 135 Kreitz, Isabel (*1967) 81 Krüger, Anna (1904–1991) 68 Krüss, James (1926–1997) 67–69, 110–112, 118 Kühner, Carl (1804–1872) 11 Kyber, Manfred (1880–1933) 55 Lagerlöf, Selma (1858–1940) 56, 62 La Mettrie, Julien Offray de (1709–1751) 90 Lamprecht, Gerhard (1897–1974) 57, 110, 136 Lamszus, Wilhelm (1881–1965) 51, 136 Lange, Konrad (1855–1921) 53 Langer, Frantisek (1888–1965) 109 La Roche, Sophie von (1730–1807) 41 Lask, Berta (1878–1967) 56, 60, 64, 67 Lazar, Auguste (1887–1970) 64 f., 67 Lebert, Benjamin (*1982) 76 Le Guin, Ursula (*1929) 132 Lepman, Jella (1891–1970) 16, 137 Lindgren, Astrid (1907–2002) 7, 26, 46, 52, 62, 67, 72, 82, 110, 130, 132, 137 Locke, John (1632–1704) 38, 41, 133 Lofting, Hugh (1886–1947) 54, 101 London, Jack (1876–1916) 54 Lossius, Kaspar Friedrich (1753–1817) 39 Lottig, William (1867–1953) 52 Ludwig, Volker (d. i. Eckart Hachfeld) (1910–1994) 71 Luther, Martin (1483–1546) 35, 133 Lynch, Patricia (1894–1972) 125 Maar, Paul (*1937) 46, 68, 74, 82, 111, 139 Maelzel, Johann Nepomuk (1772–1838) 90 Mahler, Gustav (1860–1911) 45 Mann, Erika (1905–1969) 56, 65 Marryat, Frederick (1792–1848) 50 Marschak, Samuil (1887–1964) 67 Matthießen, Wilhelm (1891–1965) 55, 57, 109 May, Karl (1842–1912) 50, 135 Mebs, Gudrun (*1944) 74

Menken, Hanne (d. i. Anni Geiger-Gog, 1897–1995) 64 Metz, Josefa (1871–1941) 64 Meyer, Hannes (1889–1954) 54 Meyer, Kai (*1969) 76 Meyer, Stephenie (*1973) 76 Michaëlis, Karin (1872–1950) 54, 57, 100 Milne, A(lan) A(lexander) (1882–1956) 54, 91, 101 Mitgutsch, Ali (* 1935) 69, 138 Montessori, Maria (1870–1952) 23 Morgenstern, Christian (1871–1914) 27, 59, 69, 111f. Morgenstern, Danny (*1979) 83 Moritz, Karl Philipp (1756–1793) 39, 41, 86 f. Morris, Dave (*1957) 81 Müller, Jörg (*1942) 81, 139 Musil, Robert (1880–1942) 42, 58 Naeter, Thorsten (*1953) 77 Neill, Alexander Sutherland (1883–1973) 68 Nesbit, Edith (1858–1924) 93 Neumann, Karl (1916–1985) 70 Nieritz, Gustav (1795–1876) 48 Noack, Hans-Georg (1926–2005) 72 Nöstlinger, Christine (*1936) 46, 71 f., 74, 112, 119, 139 Noll, Dieter (1927–2008) 70 Nordau, Max (1849–1923) 59 Novalis (d. h. Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, 1772–1801) 43 Olfers, Sybille von (1881–1916) 53, 136 Orgad, Dorit (*1936) 65 Orgel, Doris (*1929) 65 Ossowski, Leonie (*1925) 28, 69 Ostrowskij, Nikolaj (1904–1936) 67 Otomo, Katsuhiro (*1954) 80 Otto, Berthold (1859–1933) 52, 112 Outcault, Richard Felton (1863–1928) 49 Overbeck, Christian Adolf (1755–1821) 41, 111, 134 Ovid (43 v. Chr.–17 n. Chr.) 130 f. Packard, Edward (*1931) 81 Pajeken, Friedrich Joachim (1855–1920) 50 Pausewang, Gudrun (*1928) 74, 81, 139 Pelgrom, Els (*1934) 91 Perez, Jizchak Leib (1852–1915) 58 Perrault, Charles (1628–1703) 39 Peters, Martina (*1985) 81 Piaget, Jean (1896–1980) 87, 136 Plaka, Christina (*1983) 81 Plauen, e. o. (d. i. Erich Ohser, 1903–1944) 64, 137 Plenzdorf, Ulrich (1934–2007) 69, 139 Pludra, Benno (*1925) 70, 74 f., 139

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Personenregister Pocci, Franz von (1807–1876) 47 f. Pohl, Peter (*1940) 46 Pollatschek, Walther (1901–1975) 67 Popp, Adelheid (1869–1939) 50 Pressler, Mirjam (*1940) 76 f., 119 Preuss, Gunter (*1940) 75 Preußler, Otfried (*1923) 68, 138 Raff, Helene (1865–1942) 50 Rahlens, Holly-Jane (*1950) 77 Ramsay, Tamara (1895–1985) 62 Reeve, Philip (*1966) 76 Reinheimer, Sophie (1874–1935) 55 Remarque, Erich Maria (1898–1970) 61 Renn, Ludwig (1889–1979) 70 Rewald, Ruth (1906–1942) 57, 65 Rˇezacˇ, Václav (1901–1956) 57, 109 Richter, Hans Peter (1925–1993) 69 Richter, Ludwig (1803–1884) 44, 47, 135 Rhoden, Emmy von (d. i. Emmy von Friedrich, 1832–1885) 49, 94–101, 135 Rhue, Morton (*1950) 81 Ringelnatz, Joachim (d. i. Hans Bötticher, 1883–1934) 59, 69, 111 f., 136 Rochow, Friedrich Eberhard von (1734–1805) 39 Röhrig, Tilman (*1945) 77 Rosegger, Peter (1843–1918) 52 Rosenfeld, Fritz (1902–1987) 56 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1758) 38–43, 134 Rowling, Joanne K. (*1965) 75, 83, 132, 140 Rückert, Friedrich (1788–1866) 45, 111 Rühle-Gerstel, Alice (1894–1943) 55 Rümann, Arthur (1888–1963) 14 Rushdie, Salman (*1947) 82 Ruskin, John (1819–1900) 93 Saalmann, Günter (*1936) 75 Saint-Exupéry, Antoine de (1900–1944) 46 Salinger, Jerome David (1919–2010) 69, 138 Salten, Felix (d. i. Siegmund Salzmann, 1869–1947) 59 f., 65, 136 Salzmann, Christian Gotthilf (1744–1811) 39, 41 Samson, Meta (1894–1942) 63 f., 137 Sand, George (1804–1876) 93 Sapper, Agnes (1852–1929) 41 Schami, Rafik (*1946) 77, 79 Scharrelmann, Heinrich (1871–1940) 52, 103 Schenzinger, Karl Aloys (1886–1962) 59, 62, 137 Scheper-Berkenkamp, Lou (1901–1976) 54 Schiller, Friedrich (1759–1805) 130 Schlemmer, Oskar (1888–1943) 54 Schlott, Jutta (*1944) 75 Schmid, Christoph von (1768–1854) 47 Schönlank, Bruno (1891–1965) 56

Schubert, Gotthilf Heinrich (1780–1860) 90 Schumacher, Tony (1848–1931) 48 Schumann, Robert (1810–1856) 45 Schummel, Johann Gottlieb (1748–1813) 39 Schwab, Gustav (1792–1850) 48 Schwindt, Peter (*1964) 76 Schwitters, Kurt (1887–1948) 59, 136 Sealsfield, Charles (d. i. Karl Anton Postl, 1793–1864) 50 Seidmann-Freud, Tom (1892–1930) 59 Selznick, Brian (*1966) 81 Shakespeare, William (1564–1616) 70, 101 Siebe, Josephine (1870–1941) 56 Singer, Mirjam (1898–1989) 63 Speyer, Wilhelm (1887–1952) 58, 60, 137 Spillner, Wolf (*1936) 75 Spohn, Jürgen (1934–1992) 69, 111 f. Spyri, Johanna (1827–1901) 50, 94, 135 Steffin, Margarete (1908–1941) 65 f. Steinhöfel, Andreas (*1962) 76 f., 119 Steinitz, Käte (1889–1975) 59, 136 Steuben, Fritz (1898–1981) 61 Stevenson, Robert Louis (1850–1894) 117 f., 127, 130 Stifter, Adalbert (1805–1868) 15, 52 Stiller, Günther (*1927) 108 Storm, Theodor (1817–1888) 15, 52, 135 Strauß, Emil (1866–1960) 42 Strauß, Ludwig (1892–1953) 63 Strittmatter, Erwin (1912–1994) 70, 138 Stuckrad-Barre, Benjamin von (*1975) 76, 140 Swift, Jonathan (1667–1745) 28 Tae-Jun, Lee (1904–1956) 78 Takeuchi, Naoko (*1967) 81 Taufiq, Suleman (*1953) 79 Tetzner, Lisa (1894–1963) 56 f., 65 f., 137 Thomson, Jamie (*1958) 81 Tieck, Ludwig (1773–1853) 41, 43, 45, 92 Tiedemann, Dieterich (1748–1803) 86 f. Toepffer, Rudolphe (1799–1846) 49 Tolkien, John Ronald Reuel (1892–1973) 81, 126, 130 Topelius, Zachris (1818–1898) 46 Toriyama, Akira (*1955) 80 Travers, Pamela (1899–1996) 93 Trier, Walter (1890–1951) 62, 101 Trott, Magda (1880–1945) 49, 100 Tuckermann, Anja (*1961) 78 Ulrich von Lichtenstein (1198–1275) 34 Unger, Friederike Helene (1741(?)–1813) 41 Ungerer, Tomi (*1931) 78 Ury, Else (1877–1943) 49, 57, 59, 64, 100 Uzarski, Adolf (1885–1970) 59

Personenregister

Vaucanson, Jacques de (1709–1782) 90 Vergil (70 v. Chr. – 19. v. Chr.) 117 Verne, Jules (1828–1905) 50 Voorhoeve, Anne (*1963) 77, 140 Wedding, Alex (d. i. Grete Weiskopf, 1905–1966) 57, 60, 65, 67, 109 Weidenmann, Alfred (1916–2000) 62, 66, 110 Weinland, Christoph David Friedrich (1829–1915) 48 Weise, Christian (1642–1708) 35, 133 Weiße, Christian Felix (1726–1804) 39 Welk, Ehm (1884–1966) 67 Wellm, Alfred (1927–2001) 75 Westerfeld, Scott (*1963) 76 Wezel, Johann Karl (1747–1819) 39 f. Wickram, Jörg (um 1505–1562) 36, 133 Wilder, Billy (1906–2002) 110

Wildermuth, Ottilie (1817–1877) 97 Wildhagen, Else (1861–1944) 100 Wölfel, Ursula (*1922) 69, 71, 138 Wörishöffer, Sophie (1838–1890) 50 Wolf, Friedrich (1888–1953) 67 Wolff, Christian (1679–1754) 39 Wolgast, Heinrich (1860–1920) 11, 14 f., 51–53, 94, 135 Wooding, Chris (*1977) 81 Wynne Jones, Dianne (1934–2011) 82 Wyß, Johann David (1743–1818) 50, 134 Zejler, Handrij (1804–1872) 78 Zetkin, Clara (1857–1933) 51 Zimmering, Max (1909–1973) 64 f., 67, 109 Zimmermann, Christa (*1943) 77 Zitelmann, Arnulf (*1929) 77 Zur Mühlen, Hermynia (1883–1951) 55, 60, 136 Zwerger, Lisbeth (*1954) 78

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Sachregister ABC-Buch 35 Abenteuerroman 16, 39, 48, 50, 53, 61, 76, 80 Adaption 24, 26, 29, 93 Adoleszenzroman 10, 16, 51, 69, 73. 76 f., 125, 134, 139 All Age Literatur 13, 28, 75, 139 Animationsfilm 32, 93, 123, 136, 140 Antiautoritäre Kinder- und Jugendliteratur 71, 112, 139 Antike 34, 36, 58, 70, 117, 130 Antisemitismus 50, 62 Aufklärung 16, 24 f., 37–41, 71, 114, 133 f. Autobiographie 23, 49, 52, 57, 76 f., 86, 91, 107 Avantgarde 27 f., 31, 59, 136 Backfischliteratur 41, 49, 57, 95 f., 135 Biedermeier 45–50, 134 Bilderbuch 7, 9, 16–19, 21 f., 26, 28, 30–32, 35 f., 41, 47–49, 51, 53 f., 58 f., 62 f., 65, 69, 71, 73, 77 f., 79–81, 93, 110, 118, 133–136, 138 f. Bildergeschichte 49, 64, 71, 135 Bildungsroman 36, 77 Comic 9, 15, 17, 19, 29–32, 49, 68, 77, 79–83, 121, 135, 138 Computerspiel 7, 15, 27, 30–32, 80–82, 93 f., 139 f. Cognitive Poetics 33 Crossover Literatur 13, 27–29, 72, 75 f., 132, 140 Crosswriting 18, 23, 27 f., 89, 117 Dadaismus 59 Detektivroman für Kinder 51, 54, 57, 101, 103 Dokumentarliteratur 71, 77 Drama 35, 101, 132 Dystopie 74, 76, 139 E-Book 15, 32, 140 Ecocriticism 33, 76 Einfachheit 13, 20, 53, 73 Einstiegsliteratur 13, 73 Elementarbuch 25, 35, 39, 134 Empfindsamkeit 40 f., 97 Entwicklungsroman 10, 50, 58 f., 62, 66, 95, 135, 137 Erster Weltkrieg 46–52, 57, 136 Erzählerkommentar 71, 98 Erziehungsroman 36, 133 Exil 57, 60–67, 137

Expressionismus 51, 59, 69, 102, 104, 108 Familienroman 48 Fan Fiction 9, 30, 83 Fantasy 28, 81, 126, 128 Fokalisierung 85, 88 Frühe-Konzepte-Buch 73 Frühe Neuzeit 34–37 Gender Studies 17, 19, 97 Graphic Novel 7, 9, 32 Großstadtroman 54, 56, 102, 108, 136 Historischer Kinderroman 46, 48, 53, 61, 75–77, 140 Hörbuch 7, 31, 81 Hörspiel 29 f., 80, 93 Humanismus 34–36, 133 Humor 49, 57, 75, 95, 107, 111, 114 Hybridität 31, 76, 82, 88, 128 Hypermedialität 29 Ich-Erzählung 52, 76, 102, 107 f., 118–121 Illustration 32, 35, 38, 44, 47, 53 f., 56, 59, 67, 93, 113 Imagologie 17, 25 Imperialismus 50, 61 Initiationsroman 128 f. Innerer Monolog 113, 121 f. Intentionale Kinder- und Jugendliteratur 10, 12 f. Intermedialität 18 f., 24, 29 f., 80–82 Internet 9 f., 30–32, 73, 82, 139 Intertextualität 18, 21, 24 f., 28, 32, 56, 72, 74, 77 f., 91, 93, 97, 109, 129–132 Ironie 21, 45, 49, 92, 102, 107, 109, 115, 122 Jiddische Kinder- und Jugendliteratur 58 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur 16, 57–59, 63 f., 77, 137 Jugendschriftenbewegung 41, 52, 55, 135 Jugendsprache 98, 121 f., 140 Kanon/Kanonisierung 14 f., 18 f., 24–28, 33, 46, 52, 72, 97, 112, 117, 135, 138 Katechismus 34 f. Kinder- und Jugendfilm 7, 14, 27 f., 30–32, 36, 70, 110, 138 f. Kinder- und Jugendlektüre 10, 12, 36 f., 52, 58

Sachregister Kinder- und Jugendliteratur der DDR 12, 15 f., 64, 67–69, 70, 75 f., 110, 138 f. Kinderbibel 35 Kinderfernsehen 15, 32, 70, 79, 138 Kinderkultur 14, 17, 22 f., 30, 54 f., 136 Kinderlied 21, 41, 44, 65, 110–112, 134 Kinderlyrik 7, 16, 45, 52, 59, 69, 110–112, 117 f. Kindermärchen 45 f., 56, 59, 84–86, 92 f., 129 Kinderoper 64 Kinderpsychologie 45, 54, 68, 86, 136 Kindertheater 7, 16, 23, 51, 71, 136 Kinderzeitschrift 9 f., 30, 39, 41, 47 f., 49, 51, 53, 56, 59, 67, 69, 134, 137 f. Kindgemäßheit 35, 37, 55, 68 Kindheitsautonomie 42 Kindheitsbild 17 f., 23 f., 28, 43, 45 f., 49 f., 52, 57 f., 67, 75, 85, 102, 106 f., 112, 129, 134 f. Kindheitsliteratur 10 Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur 15, 17 f., 24–28, 51–53, 61 f., 66–68, 81 f., 91, 93, 101, 109, 118, 125, 139 f. Komparatistik 17, 19, 23–25 Kriminalroman für Kinder und Jugendliche 16, 46, 57, 70, 101, 109 f., 136 Kulturwissenschaft 17, 19, 33 Kunsterziehungsbewegung 14, 53, 135 Kunstmärchen 14, 39, 44–46, 51, 55, 91 Lehrgespräch 34 f., 39 Leseanfängerliteratur 73 Leseforschung 19, 21 Literacy 18–22, 31 f. – Early Literacy 21 – Emergent Literacy 21 – Literary Literacy 20 – Media Literacy 20, 30, 79 – Visual Literacy 20 Literarische Sozialisation 19, 21, 73 Literaturerwerb 7, 20 f., 33, 111 Literaturgeschichte 11, 13–15, 19 f., 24, 27, 94, 111 Mädchenliteratur 17, 49, 57 f., 62, 72, 75, 94–97 Manga 31 f., 80 f., 83, 139 Medienkonvergenz 19, 29 f. Medienverbund 69, 76, 80, 83, 139 Medienwechsel 30 Mehrfachadressiertheit 13, 28, 92 Mehrsprachigkeit 25, 78 Merchandising 22, 26, 29, 69, 76, 80 Metafiktion 32, 72, 74, 78, 85, 102, 125, 129, 131 f., 139 Mittelalter 34 f. Multimedialität 79–81 Multimodalität 22, 31 Multiperspektivität 32, 88, 94 f.

Mythos 130 f. Narrationsforschung 18, 28, 32 Nationalsozialismus 15, 55, 57–67, 69, 110, 137 Naturlyrik 69, 113 Naturmärchen 136, 148 Neo-Orthodoxie 59, 63 Neue Sachlichkeit 54, 56, 101–104, 136 Neuromantik 51, 55, 136 Novelization 30, 80 Nonsens 56, 59, 69, 112–114, 136 Orbis Pictus 25, 35 f., 41, 133 Paratext 32, 76 f., 123 f., 129, 132 Parodie 49, 78, 83 Phantastische Kinderliteratur 16, 45 f., 51, 56, 62, 67 f., 70, 72, 75 f., 82–86, 89, 92 f., 103, 125–128, 132, 138 f. Philanthropismus 14, 38–41 Photobuch 59, 63, 136 Poetik 17, 19, 57, 92 f., 102, 118, 136 Pop Art 69 Popliteratur 76, 140 Postmoderne 72, 75, 129, 132, 139 f. Problemorientierte Kinderliteratur 71 f., 74, 119 Propagandaliteratur 62 f. Puppengeschichte 48 Rahmenhandlung 40, 84 f., 93 Realienliteratur 35 Realismus (Epoche) 48 Reformpädagogik 14, 52 f., 55, 135 Reim 9, 43–45, 49, 69, 111–117, 134 Reiseroman für Kinder 39, 41, 55 f., 62 Remediation 26, 30, 32, 69, 82, 139 Rhetorik 35 Robinsonade 50, 61, 134 Rollenspiel 81 f., 87, 139 Romantik 14, 17, 23, 41–46, 50, 52 f., 58, 68, 73, 76, 81, 90, 92, 95, 128 Sachliteratur (s. a. Wissensliteratur) 9, 21, 47, 50, 75 Sage 12, 42 f., 48, 52, 61, 70 Satire 49, 51, 135 Schülerroman 41, 48, 96 f., 137 Schuldrama 35, 133 Serialisierung 23, 30, 48, 80 Serienliteratur 53 f., 70, 80, 95, 100, 138 Sorbische Kinder- und Jugendliteratur 78, 138 Sozialisation 13, 18 f., 21, 50, 73, 128 Sozialistischer Realismus 67, 70 Spezifische Kinder- und Jugendliteratur 10, 13 Spielbuch 39, 73 Spielzeuggeschichte 91

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Sachregister Spracherwerb 20–22, 25 Steampunk Novel 76 Stream of Consciousness 118 Struwwelpetriade 49 Surrealismus 69, 108 Systemtheorie 17–19 Tiergeschichte 48, 54 Transmedialität 19, 26, 29–31, 82 f. Übersetzung 24, 54, 56 f., 65–69, 72, 91, 93, 100 f. Unzuverlässiges Erzählen 89 Verfilmung 30–32, 57, 60, 62, 70, 78, 80 f., 110, 136

Volkslied 12, 42, 134 Volksliteratur 11 f., 36, 52 Volksmärchen 14, 39, 42–46, 134 Vorwort 35 f., 40 f., 44, 71, 102 f., 110 Weihnachtsmärchen 48 Weimarer Republik 16, 53–59, 61 f., 101, 106, 108, 137 Weltliteratur für Kinder 24, 26, 53, 55, 70, 72, 129 Wissensliteratur (s. a. Sachliteratur) 9, 21, 47, 50, 75 Zensur 64, 66, 70 Zionismus 59, 63, 136