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German Pages 324 [326] Year 2011
Das Konzept wird in sechs unterschiedlich strukturierten Untersuchungs gebieten in Pune empirisch überprüft. Die Ergebnisse der Studie lassen auf erhebliche Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verschiedener Bevölkerungsgruppen schließen: Wesentliche Zugangsbarrieren entstehen durch die komplexe Anbieterstruktur im indischen Gesundheitssystem und die fehlende Regulierung des Gesundheitswesens. Dies resultiert in einer vielfach inadäquaten Leistungserbringung, häufig mit negativen Konsequenzen für die Nutzer. Die Studie leistet zudem einen konzeptionellen Beitrag im Bereich der interdisziplinären Zugangsforschung.
ISBN 978-3-515-09942-4
www.steiner-verlag.de
Carsten Butsch
Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen
Durch den raschen Urbanisierungsprozess in Schwellen- und Entwicklungs ländern entstehen Gesundheitsprobleme in bisher unbekanntem Ausmaß. Meist werden städtische Räume in diesen Ländern vereinfachend als ausreichend versorgt beschrieben. Dieser Sichtweise wird hier eine differenzierte Untersuchung des Zugangs von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen entgegengesetzt. Aufbauend auf einer Analyse etablierter Konzepte der Zugangsforschung wird ein erweitertes Konzept entwickelt: Zugang wird als Produkt von Zugangsbarrieren und -anreizen in sechs Dimensionen definiert.
MC 2
Barrieren und Anreize in Pune, Indien
Geographie
Megastädte und globaler Wandel Franz Steiner Verlag
Band 2
Carsten Butsch
Franz Steiner Verlag
Megacities and Global Change
US Butsch 4c.indd 1
02.08.11 15:59
Carsten Butsch Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen
megacities and global change megastädte und globaler wandel herausgegeben von Frauke Kraas, Jost Heintzenberg, Peter Herrle und Volker Kreibich Band 2
Carsten Butsch
Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen Barrieren und Anreize in Pune, Indien
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Lifeline Clinic, Sangam Bridge, Pune. © Carsten Butsch
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09942-4
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ........................................................................................................... 13 I
EINLEITUNG ........................................................................................ 15
II
BEZUGSPUNKTE IN DER FORSCHUNGSLANDSCHAFT .............. 20
II.1 II.1.1
Geographische Gesundheitsforschung ................................................... 20 Geomedizin und Medizinische Geographie – die Entwicklung in der deutschsprachigen Forschungstradition ........................................ 21 Medical geography und geographies of healthcare – die Entwicklung in der englischsprachigen Forschungstradition ....................... 23 Geographische Gesundheitsforschung als Bezugspunkt dieser Arbeit ........................................................................................... 25 Urbanisierung und Megaurbanisierung in globaler und regionaler Perspektive............................................................................................... 25 Urbanisierung als globaler Prozess ......................................................... 26 Megastädte als Extremprodukt des globalen Urbanisierungsprozesses ......................................................................... 28 Urbanisierung regional: Indiens Stadtkultur, Indiens Megastädte .......... 33 Fragmentierung und Armut in den indischen Metropolen ...................... 39 Menschliche Gesundheit – Urbane Gesundheit....................................... 42 Kulturelle Bewertung von Gesundheit .................................................... 43 Urbane Gesundheit – Stadt im Zentrum der Gesundheitsforschung ....... 46 Urbane Gesundheit im Entwicklungskontext .......................................... 50
II.1.2 II.1.3 II.2 II.2.1 II.2.2 II.2.3 II.2.4 II.3 II.3.1 II.3.2 II.3.3 III
ENTWICKLUNGEN AUF DEM GEBIET DER ZUGANGSFORSCHUNG ...................................................................... 54
III.1
Aday und Andersens Modell: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen im Spannungsfeld von Nutzern, System und Politik ............. 57 Der Ansatz von Khan und Bhardwaj als Weiterentwicklung des Modells von Aday und Andersen ..................................................... 61 Pechansky und Thomas’ Konzept: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen im Spannungsfeld von fünf Dimensionen .............................. 65 Der Ansatz von Obrist et al. als Weiterentwicklung des Modells von Penchansky und Thomas ................................................... 67 Geographische und nachbarwissenschaftliche Arbeiten und
III.2 III.3 III.4 III.5
6
III.5.1 III.5.2 III.5.3
Inhaltsverzeichnis
Perspektiven............................................................................................. 70 Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen als Thema Geographischer Gesundheitsforschung .......................................................... 70 Geographische und nachbarwissenschaftliche Kernthemen der Zugangsforschung ............................................................................ 71 Geographische Informationssysteme in der Zugangsforschung .............. 73
IV
ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN: EIN ERWEITERTES KONZEPT ........................................................... 76
V
UNTERSUCHUNGSKONTEXT ........................................................... 86
V.1 V.1.1 V.1.2 V.1.3 V.1.4 V.2 V.3 V.4 V.4.1 V.4.2 V.4.3
Das indische Gesundheitssystem ............................................................ 86 Strukturen vor der Unabhängigkeit ........................................................ 87 Entwicklung des Gesundheitssystems im unabhängigen Indien ............. 88 Indiens Gesundheitssystem heute ........................................................... 92 Bilanz und Reformbedarf ........................................................................ 95 Indien im Gesundheitsübergang – neue Herausforderungen ................... 99 Urbane Gesundheit in Indien ................................................................ 102 Pune: Megastadt von morgen ............................................................... 103 Eine Stadt – drei Siedlungen ................................................................ 104 Soziale Segregation in Pune ................................................................. 107 Pune als Wirtschaftsstandort ................................................................ 109
VI
METHODIK UND AUSWAHL DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE ............................................................ 113
VI.1 Methodischer Zugang ............................................................................ 113 VI.1.1 Ablauf der Erhebung ............................................................................ 115 VI.1.2 Kartierung von Gesundheitsdienstleistern: Zugangsoptionen, -barrieren und Anreize .......................................................................... 117 VI.1.3 Experteninterviews: Zugangsoptionen und -barrieren, Qualität und externe Einflussfaktoren ................................................................ 118 VI.1.4 Interviews mit Nutzern: Zugangsoptionen, -barrieren und realisierter Zugang ................................................................................. 122 VI.1.5 Standardisierte Interviews: Zugangsoptionen, -barrieren und -anreize sowie realisierter Zugang ........................................................ 125 VI.2 Auswahl der Untersuchungsgebiete ..................................................... 129 VII
EMPIRISCHE BEWERTUNG: ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN IN PUNE ............................................ 131
VII.1
Beschreibung und Analyse der Untersuchungsgebiete ........................ 131
Inhaltsverzeichnis
VII.1.1 VII.1.2 VII.1.3 VII.1.4 VII.1.5 VII.1.6 VII.2 VII.3 VII.3.1 VII.3.2 VII.3.3 VII.3.4 VII.3.5 VII.3.6 VII.4
VIII
7
Untersuchungsgebiet 1 „Peths Slum Area“ ........................................... 131 Untersuchungsgebiet 2 „Peths Middle Class Area“ .............................. 135 Untersuchungsgebiet 3 „Koregaon Park upper Middle Class Area“ ..... 137 Untersuchungsgebiet 4 „Koregaon Park Construction Worker Slums“ ................................................................................................... 140 Untersuchungsgebiet 5 „Kondhwa Slum Area“ .................................... 143 Untersuchungsgebiet 6 „Kondhwa Middle Class Area“ ....................... 146 Darstellung des Zugangsverhaltens in den sechs Untersuchungsgebieten .......................................................................... 150 Bewertung von Barrieren und Anreizen in den sechs Dimensionen ......................................................................................... 171 Verfügbarkeit ........................................................................................ 172 Erreichbarkeit ....................................................................................... 183 Anschauungen ...................................................................................... 201 Kompatibilität ....................................................................................... 217 Erschwinglichkeit ................................................................................. 230 Informiertheit ........................................................................................ 248 Adäquatheit, externe Einflussfaktoren und Variabilität von Zugang ................................................................................................... 274 DISKUSSION UND FAZIT ................................................................. 293
VIII.1 Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune ................................. 293 VIII.1.1 Der Einfluss der sechs Dimensionen im Fallbeispiel ........................... 294 VIII.1.2 Verknüpfungen und Grundursachen ..................................................... 298 VIII.1.3 Bewertung des Zugangs in Pune .......................................................... 301 VIII.1.4. Ansätze für gerechteren Zugang in Pune .............................................. 303 VIII.2 Reflexion des erweiterten Konzepts ..................................................... 305 VIII.2.1 Anwendbarkeit des Konzepts im konkreten Kontext ........................... 307 VIII.2.2 Methodenreflexion ................................................................................ 308 VIII.2.3 Übertragbarkeit des neuen Konzepts auf andere Kontexte .................. 310 VIII.3 Fazit und Ausblick ................................................................................. 312 LITERATURVERZEICHNIS.............................................................................315
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24:
Struktur der Arbeit .................................................................... 19 Entwicklung der urbanen Bevölkerung in globaler Perspektive ............................................................................... 27 Urbane Fragmentierung ............................................................ 31 Urbanisierung in Indien ............................................................ 37 Kontinuum von Gesundheit und Krankheit .............................. 45 Analyserahmen von Aday/Andersen ........................................ 59 Analyserahmen von Khan/Bhardwaj ........................................ 63 Typologie von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ........... 63 Penchansky und Thomas' fünf Dimensionen von Zugang ........ 66 Analyserahmen von Obrist et al. .............................................. 69 Eigenes Konzept Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ....... 79 Die duale Struktur des indischen Gesundheitssystems ............. 92 das indische Gesundheitssystem als Hybrid zwischen Marktmodell und staatlichem Modell ....................................... 94 Modell des Gesundheitsübergangs .......................................... 100 Operationalisierung des Analyserahmens ............................... 115 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 1......................... 134 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 2......................... 137 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 3......................... 140 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 4 ........................ 143 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 5......................... 146 Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 6......................... 149 Kognitive Gesundheitsinfrastrukturkarte einer Slumbewohnerin (Altstadt) .................................................... 269 Kognitive Gesundheitsinfrastrukturkarte einer Slumbewohnerin (Kondhwa) ................................................. 269 Kognitive Gesundheitsinfrastrukturkarte einer Middle Class Bewohnerin (Kondhwa) ................................... 270
DIAGRAMMVERZEICHNIS Diagramm 1:
Kinder- und Säuglingssterblichkeit in ausgewählten Bundesstaaten Indiens ................................................................ 97 Diagramm 2: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 1.................... 134 Diagramm 3: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 2 ................... 136 Diagramm 4: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 3 ................... 139 Diagramm 5: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 4 ................... 142 Diagramm 6: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 5 ................... 145 Diagramm 7: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 6 .................. 148 Diagramm 8: Nennungen wichtigste Behandlungseinrichtung nach Untersuchungsgebieten ............................................................. 151 Diagramm 9: Wichtigste Behandlungseinrichtung: alle Befragten ................ 153 Diagramm 10: Wichtigste Behandlungseinrichtung nach Wohlstandsindex .... 153 Diagramm 11: Gründe für die Meidung öffentlicher Gesundheitsdienstleister ............................................................ 154 Diagramm 12: Inanspruchnahme pränatale Versorgung ................................... 155 Diagramm 13: Inanspruchnahme Anganwadis .................................................. 157 Diagramm 14: Inanspruchnahme Impfungen ................................................... 157 Diagramm 15: Anzahl akuter Erkrankungen in der gesamten Stichprobe ........ 159 Diagramm 16: Tatsächlich aufgesuchte Behandlungseinrichtungen (akute Erkrankung) .................................................................... 163 Diagramm 17: Transportmittel: Inanspruchnahme bei akuten Erkrankungen ............................................................................ 164 Diagramm 18: Durchschnittliche Behandlungskosten: akute Episoden ........... 165 Diagramm 19: Anzahl chronische Erkrankungen in der gesamten Stichprobe .................................................................................. 166 Diagramm 20: Tatsächlich aufgesuchte Behandlungseinrichtungen (chronische Erkrankungen) ........................................................................... 168 Diagramm 21: Transportmittel bei Inanspruchnahme chronische Erkrankungen ............................................................................. 169 Diagramm 22: Durchschnittliche Behandlungskosten: chronische Episoden ... 171 Diagramm 23: Erreichbarkeit des nächstgelegenen Anganwadi ...................... 183 Diagramm 24: Erreichbarkeit des nächstgelegenen Primary Health Centres .... 184 Diagramm 25: Erreichbarkeit des nächstgelegenen öffentlichen Krankenhauses ........................................................................... 185 Diagramm 26: Erreichbarkeit des nächstgelegenen niedergelassenen Arztes (Allopathie) .................................................................... 186 Diagramm 27: Erreichbarkeit des nächstgelegenen niedergelassenen Arztes (ISMH) ............................................... 186
10
Diagrammverzeichnis
Diagramm 28: Erreichbarkeit des nächstgelegenen Privatkrankenhauses ........ 187 Diagramm 29: Bewertung der Öffnungszeiten nach Quintilen des Wohlstandsindex ....................................................................... 218 Diagramm 30: Bewertung der Öffnungszeiten nach Untersuchungsgebieten ... 219 Diagramm 31: Zufriedenheit mit der Ansprechbarkeit von Dienstleistern nach Quintilen des Wohlstandsindex ................ 219 Diagramm 32: Zufriedenheit mit der Ansprechbarkeit von Dienstleistern nach Untersuchungsgebieten .................................................... 220 Diagramm 33: Zufriedenheit mit den Preisen medizinischer Dienstleister ....... 232 Diagramm 34: Verkauf von Wertgegenständen ................................................ 232 Diagramm 35: Anteil Versicherter nach Quintilen des Wohlstandsindex ......... 233 Diagramm 36: Anteil Versicherter nach Untersuchungsgebieten ..................... 234 Diagramm 37: Bekanntheit von Gesundheitsprogrammen (offene Frage) ....... 249 Diagramm 38: Bekanntheit von Gesundheitsprogrammen (geschlossene Frage) .................................................................. 250 Diagramm 39: Zuversicht, einen guten Arzt zu finden (nach Untersuchungsgebieten) ................................................... 251 Diagramm 40: Zufriedenheit mit der Fähigkeit, einen guten Arzt für die Familie zu finden (nach Untersuchungsgebieten) ............... 251 Diagramm 41: Zufriedenheit mit dem eigenen Wissen über Gesundheitsversorgung (nach Untersuchungsgebieten) ........... 252 Diagramm 42: Zuversicht, einen guten Arzt zu finden (nach Quintilen des Wohlstandsindex) ................................................................ 253 Diagramm 43: Zufriedenheit mit der Fähigkeit, einen guten Arzt für die Familie zu finden (nach Quintilen des Wohlstandsindex) ......... 253 Diagramm 44: Zufriedenheit mit dem eigenen Wissen über Gesundheitsversorgung (nach Quintilen des Wohlstandsindex) ................... 254 Diagramm 45: Hypothetische Inanspruchnahme Gastroentheritis .................... 255 Diagramm 46: Hypothetische Inanspruchnahme bei Fieber .............................. 256 Diagramm 47: Hypothetische Inanspruchnahme bei Schmerz im Abdomen .... 257 Diagramm 48: Hypothetische Inanspruchnahme bei akuten Herzbeschwerden ....................................................................... 257 Diagramm 49: Hypothetische Inanspruchnahme bei Diabetes .......................... 258
TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Berechnungsgrundlage Wohlstandsindex ......................................... 128 Tabelle 2: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 1 ...................................................................... 133 Tabelle 3: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 2 ...................................................................... 136 Tabelle 4: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 3 ...................................................................... 139 Tabelle 5: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 4 ...................................................................... 142 Tabelle 6: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 5 ...................................................................... 145 Tabelle 7: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 6 ...................................................................... 148 Tabelle 8: Krankheitsepisoden und Inzidenzraten (akut) nach Untersuchungsgebieten und Quintilen des Wohlstandsindex ........... 159 Tabelle 9: Aufgesuchte Behandlungseinrichtungen: tatsächliche Inanspruchnahme .............................................................................. 161 Tabelle 10: Krankheitsepisoden und Prävalenzraten (chronisch) nach Untersuchungsgebieten und Quintilen des Wohlstandsindex .......... 166 Tabelle 11: Anreize und Barrieren in den sechs Dimensionen von Zugang in den Untersuchungsgebieten ......................................................... 294
KARTENVERZEICHNIS Karte 1: Lage des Mumbai-Pune Korridors in Indien ........................................ 104 Karte 2: Stadtentwicklung Punes ........................................................................ 105 Karte 3: Industrie-Cluster in Pune und Pimpri-Chinchwad ................................ 111
VORWORT Mein Interesse an den Problemen des indischen Gesundheitssystems wurde bereits bei meinem ersten Besuch Indiens, im Rahmen einer studentischen Exkursion im Jahr 2005, geweckt. Die Idee zu dem Dissertationsvorhaben entstand aus meiner Mitarbeit an dem durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekt „Governing Emerging Megacities: Water, Health and Housing – towards quality of life in Pearl River Delta/China and Pune/India.“ In diesem Projekt untersuchte ein trilaterales Konsortium, bestehend aus indischen, chinesischen und deutschen Wissenschaftlern, unter Leitung von Prof. Dr. Frauke Kraas von 2005 bis 2008 Fragen der Nachhaltigkeit in der entstehenden Megastadt Pune sowie in der polyzentrischen Megaagglomeration im Perlflussdelta. Meine Mitarbeit erlaubte mir nicht nur das Kennenlernen des Untersuchungsraums, sondern ermöglichte es mir auch zahlreiche Kontakte zu knüpfen. Insbesondere unsere Forschungspartner von dem Bharati Vidyapeeth Institute for Environmental Education and Research haben mich auch über die Laufzeit des oben genannten Projektes hinaus auf vielfältige Weise unterstützt. Hierfür bin ich besonders Prof. Dr. Erach Bharucha zu tiefem Dank verpflichtet. Besonderen Dank schulde ich meiner Doktormutter Prof. Dr. Frauke Kraas, die mir die nötigen Freiräume gegeben hat, damit ich mein Dissertationsvorhaben verfolgen konnte, und mich stets auf vielfältige Weise gefördert hat. Einen mindestens ebenso großen Anteil an dem Gelingen dieser Arbeit hat meine Familie, allen voran meine Frau Eva. Ohne den Rückhalt, den ich hier gefunden habe, aber auch ohne die großzügige finanzielle Unterstützung, wäre es mir nicht möglich gewesen, diese Arbeit zu schreiben. Das Entstehen dieser Arbeit haben zahlreiche Freunde und Kollegen begleitet, ohne deren Kritik, Rat und Unterstützung diese Arbeit anders aussähe. Besonders möchte ich Mareike Kroll für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und Dr. Regine Spohner für die geduldige Umsetzung sämtlicher Karten in dieser Arbeit danken. Mein Dank für die kritische Durchsicht des Manuskripts gilt Juliane Dame, Frank Wildauer, Dr. Holger Kretschmer, Lars Wiesemann, Gerrit Peters, Dr. Patrick Sakdapolrak, Frank Thönissen und Verena Diewald. Abschließend möchte ich Herrn Prof. Dr. Braun für die unkomplizierte Zweitbegutachtung dieser Arbeit danken. Bonn, im Juli 2011 Carsten Butsch
I EINLEITUNG Die hier vorgelegte Arbeit befasst sich mit einem von Geographen1 wenig behandelten Thema, dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. In gesundheitsbezogenen Fragestellungen wird häufig zunächst einmal Medizinern eine alleinige Kompetenz zugeschrieben. Gesundheit und Krankheit sind aber, wenn man von der Ebene des Einzelfalls abstrahiert, gesellschaftliche Konstrukte und Produkte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die vielfältigen Einflussfaktoren (Umwelteinflüsse, Sozialstrukturen, etc.) unterliegen. Grundlegende Verbesserungen des Gesundheitszustandes waren in der Vergangenheit ebenso auf medizinischen Fortschritt wie auf ökonomische Entwicklung oder infrastrukturelle Innovationen (beispielsweise Wasserver- und -entsorgung) zurückzuführen. Gleichzeitig ist der Gesundheitszustand innerhalb von Bevölkerungen sehr heterogen, was durch die Angabe von Kennziffern auf relativ hohen Aggregationsebenen häufig verschleiert wird. So wird beispielsweise die allgemeine Lebenserwartung meist nur auf Ebene der Nationalstaaten angegeben, teilweise noch auf regionaler Ebene. Für alle Gesellschaften dieser Welt gilt, dass der individuelle Gesundheitszustand maßgeblich durch den sozioökonomischen Status determiniert wird (vgl. Butsch/Sakdapolrak 2010). Hierdurch ergeben sich oft sehr große Unterschiede für unterschiedliche Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, die auch auf engstem Raum zu Tage treten können. Diese (sozial-)räumliche Variation von Gesundheit, ihre Ursachen, und die Identifizierung möglicher Lösungsansätze machen gesundheitsbezogene Fragestellungen auch für die Geographie interessant. Die häufig als ungerecht empfundenen Gesundheitsdisparitäten abzubauen ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts Anspruch der Gesundheitspolitiken in den Ländern Europas und – mit Einschränkungen – in den USA2. In der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird der universelle Anspruch auf Gesundheit verbrieft: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen...“ (Artikel 25 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte3)
Insbesondere in den Gesellschaften der Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen die Unterschiede im sozioökonomischen Status drastisch zu Tage treten, 1
2 3
Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die weibliche Form jeweils verzichtet. Selbstverständlich ist diese jedoch, falls nicht ausdrücklich anders markiert, zu jeder Zeit ebenfalls gemeint. Die Versicherungsschemata Medicaid und Medicare als Grundsicherung sozial Schwacher und älterer Menschen existieren seit 1965 zitiert nach www.un.org/Depts/german/grunddok/ar217a3.html (letzter Zugriff am 8.5.2010)
16
Einleitung
sind Ungleichheiten im Gesundheitsstatus besonders auffällig. Indien, das seit seiner wirtschaftlichen Öffnung in den 1990er Jahren einen enormen Aufschwung erlebt (Müller 2006), stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar, eher im Gegenteil: Indische Krankenhäuser werben ausländische Patienten mit einer „FünfSterne-Behandlung“, während die Armutsbevölkerung immer noch an leicht therapierbaren, sog. „alten“ Infektionskrankheiten leidet. In letztgenannter Bevölkerungsgruppe sind hauptsächlich vermeidbare Todesursachen für eine geringere Lebenserwartung verantwortlich (Gwatkin et al. 2007). Der indische Autor Aravind Adiga beschreibt beispielsweise in seinem Roman The White Tiger, wie der Vater des Protagonisten an einer offenen Tuberkulose stirbt, weil in dem nächstgelegenen öffentlichen Gesundheitszentrum kein Arzt anwesend ist. Hier werden literarisch eindrucksvoll die existentielle Bedrohung durch Krankheit und die Hilflosigkeit, mit der die Armutsbevölkerung dieser Bedrohung gegenübersteht, beschrieben. Neben den unterschiedlichen Lebensumständen ist der unterschiedliche Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dabei eine wesentliche Determinante. Gesundheitliche Ungleichheiten stellen in Indien auch deshalb einen besonderen Widerspruch dar, weil die Politik seit der Unabhängigkeit offiziell den Anspruch verfolgt, für jeden Bürger einen allgemeinen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sicher zu stellen. Dieser wird seit der von den Briten 1943 eingesetzten Kommission unter Leitung von Sir Joseph Bhore verfolgt. Diese entwickelte einen detaillierten Plan für den Aufbau eines modernen staatlichen Gesundheitssystems und formulierte den Anspruch, präventive, kurative und pflegerische Dienstleistungen ubiquitär verfügbar zu machen womit der Grundstein der indischen Gesundheitspolitik gelegt wurde – offiziell bis heute. Gleichwohl zeigen zahlreiche Studien, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht nur weit auseinanderfallen, sondern dass eine Verschärfung der Disparitäten in der Zukunft wahrscheinlich ist (Gangolli/Duggal/Shukla 2005). Derzeit bedeutet für ein Viertel aller indischen Haushalte der stationäre Krankenhausaufenthalt eines Familienmitglieds den Weg in die Verelendung (World Bank 2001). Alleine die direkten Kosten einer Behandlung in einem Krankenhaus führen dazu, dass Haushalte aufgrund der resultierenden Verschuldung unter die offizielle Armutsgrenze fallen. Diese offensichtliche Diskrepanz wird selbst in der aktuellen National Health Policy thematisiert (Government of India 2002). Vor diesem Hintergrund ist eine Kernfragestellung der Arbeit die Analyse der Zusammenhänge, die dazu führen, dass trotz des hohen Anspruchs der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für einen großen Teil der indischen Bevölkerung nur schwer realisierbar ist. Ein zweite Kernfragestellung ergibt sich daraus, dass in dem politischen Diskurs über Gesundheit in Indien im Wesentlichen die Dichotomie der städtischen und der ländlichen Versorgung in den Vordergrund gestellt wird. Dabei wird häufig pauschalisierend die insgesamt schlechtere Versorgung mit medizinischer Infrastruktur im ländlichen Raum als das wesentliche Problem für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen angesehen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die National Rural Health Mission (Government of India 2005): Im Jahr 2005 wurde
Einleitung
17
beschlossen, vorrangig die Gesundheitsversorgung in den ländlichen Regionen Indiens zu fördern. Dieser Fokussierung auf den ländlichen Raum scheint die Annahme zu Grunde zu liegen, dass die Bevölkerung in Städten besser versorgt, damit weniger bedürftig und insgesamt gesünder sei. Diese Position, die wohl zum Teil auch mit „antikolonialen Reflexen“ (Ablehnung des Städtischen aufgrund der kolonialen Vergangenheit) zu erklären ist, ignoriert aber die großen innerstädtischen Differenzen im Gesundheitsstatus und im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Alleine dadurch, dass in Städten die Gesundheitsinfrastruktur räumlich konzentriert ist, wird weder gleicher noch gerechter Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sichergestellt. Zudem leidet die städtische Bevölkerung unter besonderen gesundheitlichen Belastungen, die durch die Degradation der städtischen Umwelt und ungesunde Lebensstilen bedingt werden. Vor allem die schnell wachsenden Städte Indiens, darunter Pune, aufstrebende Megastädte „im Schatten“ der vier großen Agglomerationen Mumbai, Delhi, Chennai und Kolkata, gewinnen nicht nur an Bevölkerung, sondern auch an ökonomischer Bedeutung und sind durch enorme gesellschaftliche Polarisierung gekennzeichnet. Diese führen dazu, dass in Indiens Megastädten sowohl die gesündesten als auch die am wenigsten gesunden Bevölkerungsgruppen leben und sich der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen höchst unterschiedlich darstellt. Eine dritte Kernfragestellung der vorliegenden Arbeit stellt die Entwicklung und Überprüfung eines erweiterten Konzepts von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dar: Seit den 1980er Jahren werden im Wesentlichen zwei unterschiedliche Konzepte von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen nahezu unverändert verwendet (Aday/Andersen 1974 und Penchansky/Thomas 1981). Diese wurden allerdings für die Analyse von Zugang in Ländern mit hohem Einkommen konzipiert und sind nicht ohne Weiteres auf den indischen Kontext übertragbar. In der Geographischen Gesundheitsforschung ist in dem Themenbereich „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ eine starke Fokussierung auf Allokationsfragen festzustellen – und damit auf die räumliche Komponente von Zugang –, die mit der Verbreitung Geographischer Informationssysteme noch verstärkt wurde. Erste Beobachtungen im Feld, die im Rahmen explorativer Aufenthalte gewonnen wurden, machten deutlich, dass die bestehenden Konzepte und Ansätze nicht geeignet sein würden, um Zugang zu Gesundheitsdienstleitungen in Pune angemessen zu analysieren. Aus diesem Grund wurde im Rahmen dieser Arbeit ein erweitertes Konzept von „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ entwickelt, in einen Analyserahmen überführt und empirisch überprüft. Die drei genannten Kernfragestellungen stellen die Grundmotivation für die eingehende Beschäftigung mit dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den Städten Indiens dar. Als Fallbeispiel für die konkrete Untersuchung wurde die aufstrebenden Megastadt Pune gewählt, weil sie einerseits exemplarisch für die neu entstehenden aufstrebenden Megastädte mit ihren besonderen Prozessdynamiken steht, andererseits etablierte Beziehungen zu Forschungspartnern bestehen. Die Bearbeitung der drei Kernfragestellungen anhand des konkreten Fallbeispiels wurde durch zwei Forschungsfragen geleitet, die den weiteren Ausführungen zu Grunde liegen:
18 – –
Einleitung
Warum und in welchem Maße variiert der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen? Wie werden diese Unterschiede von Nutzern und Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen wahrgenommen?
Der Aufbau der Arbeit wird in der Übersicht in Abb. 1 verdeutlicht. In Kapitel II werden zunächst die Anknüpfungspunkte innerhalb der verschiedenen Teildisziplinen der Geographie dargelegt. Dabei ist die Geographische Gesundheitsforschung der wichtigste Bezugspunkt, da die Arbeit vorrangig in dieser Forschungstradition verortet ist. Die Arbeiten einer zweiten Teildisziplin, der Stadtgeographie und hier vor allem der Geographischen Stadtforschung im Entwicklungskontext, sind für diese Arbeit ebenfalls von besonderer Relevanz, da sich die Arbeit mit Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in dem Umfeld einer entstehenden Megastadt befasst. Dieses recht junge Phänomen des globalen Urbanisierungsprozesses wird in Kapitel II.2 in einen größeren Kontext gestellt, wobei ein Schwerpunkt auf der Darstellung des (Mega-) Urbanisierungsprozesses in Indien liegt. Der dritte Abschnitt des zweiten Kapitels befasst sich mit Fragestellungen der Gesundheitsforschung im Allgemeinen und urbaner Gesundheit im Besonderen. Hiermit wird nicht nur die Verknüpfung zwischen Geographischer Gesundheitsforschung und Stadtgeographie hergestellt, sondern auch der Kontext sozialwissenschaftlicher Gesundheitsforschung mit Stadtbezug dargestellt. Nach dieser allgemeinen Verortung der Arbeit im wissenschaftlichen Gesamtkontext wird in Kapitel III auf Vorarbeiten im Bereich der Zugangsforschung eingegangen. Dabei werden zunächst die Konzepte von Aday/Andersen (1974) und Penchansky/Thomas (1981) vorgestellt, die den Diskurs im Bereich der Zugangsforschung seit den 1980er Jahren dominieren. Exemplarisch wird in Kapitel III.2 dargestellt, wie diese Konzepte von einzelnen Autoren weiterentwickelt und für unterschiedliche Kontexte angepasst wurden. Der dritte Abschnitt des Kapitels befasst sich mit geographischen und nachbarwissenschaftlichen Ansätzen der Zugangsforschung. Nach der Darstellung des Stands der Forschung wird ein weiterentwickeltes Konzept von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen vorgestellt (Kapitel IV), das auch eine Berücksichtigung der spezifischen Rahmenbedingungen des Untersuchungskontextes erlaubt. Dieses Konzept wurde nach einer explorativen Feldphase auf Grundlage des Ansatzes von Penchansky/Thomas (1981) entwickelt und diente für die Hauptfeldphase als theoretisches Fundament. Kapitel V widmet sich der Beschreibung des Untersuchungsraum und den spezifischen Einflussfaktoren auf den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Für das Verständnis der Untersuchungsergebnisse ist es zunächst notwendig, die durch das indische Gesundheitssystem vorgegebenen Rahmenbedingungen zu erörtern; im zweiten Abschnitt dieses Kapitels wird die indische Stadt Pune beschrieben. In Kapitel VI sind die Operationalisierung des neuen Konzeptes und das methodische Vorgehen einer Überprüfung im Feld dargelegt. Anschließend wird die Auswahl der Untersuchungsgebiete vorgestellt. Kapitel VII beginnt mit einer Beschreibung der einzelnen Untersuchungsgebiete anhand empirischer Daten. Daran anschließend folgt
Einleitung
19
eine Darstellung der Ergebnisse der Untersuchungen in Pune, die jeweils für die einzelnen Komponenten des Analyserahmens getrennt nach Methoden vorgenommen wird. In Kapitel VIII findet darauf aufbauend eine Diskussion der Ergebnisse statt. Hierbei wird zunächst die Eignung des Analyserahmens und der Methodik erörtert und dann die Übertragbarkeit auf andere Kontexte kritisch diskutiert. Eine vergleichende Bewertung der Barrieren und Anreize, die den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen maßgeblich beeinflussen, mündet in die Erklärung, warum der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune variiert. Hieraus werden mögliche Handlungsoptionen abgeleitet und abschließend weitere Forschungsdesiderata diskutiert. Ergänzende Materialien enthält der Anhang, der aus dem Internet4 heruntergeladen werden kann. $'34 +'#!'$" "#'##34
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Abbildung 1: Struktur der Arbeit 4
www.geographie.uni-koeln.de/Butsch/Butsch_Zugang_Pune_Anhang.pdf
II BEZUGSPUNKTE IN DER FORSCHUNGSLANDSCHAFT II.1 GEOGRAPHISCHE GESUNDHEITSFORSCHUNG Raum und Gesundheit – oder Krankheit – verbinden viele, wechselseitige Einflüsse. Eine der frühesten Schilderungen räumlich variierender Determinanten des Gesundheitszustandes stammt von dem griechischen Arzt Hippokrates von Kos. In seinem Werk „Luft, Wasser und Ortslage“ weist er auf die unterschiedliche räumliche Verteilung klimatischer, pedologischer und hydrologischer Einflussgrößen – also die physisch-geographische Raumausstattung – menschlicher Gesundheit hin (vgl. Meade/Earickson 2000). Gleichzeitig bringt er aber auch unterschiedliche Ernährungsgewohnheiten, Sitten und Gebräuche in verschiedenen Landesteilen – also anthropogeographische Faktoren – mit dem Gesundheitszustand in Verbindung. Heute befasst sich Geographische Gesundheitsforschung als interdisziplinär ausgerichtete Teildisziplin der Anthropogeographie mit der räumlichen Verteilung von Gesundheit und Krankheit, mit Gesundheitsdeterminanten sowie im Sinne des Cultural Turn mit der Wirkung von Orten und Landschaften als konstruierten Räumen auf Gesundheit. Hierbei geht es um die soziokulturelle Konstruktion von Gesundheit und Krankheit sowie die sich hieraus ergebenden raumwirksamen Effekte. Der Text von Hippokrates zeigt den seit der Antike bis zur Entwicklung des biomedizinischen Krankheitsverständnisses, Ende des 19. bzw. im Verlauf des 20. Jahrhunderts, allgemein anerkannten Zusammenhang zwischen Raum und Gesundheit auf. Kistemann/Schweikart/Leisch (1997) geben einen Überblick über medizinische Arbeiten, die sich in der frühen Neuzeit, vor der Formulierung von Kochs Theorie der Krankheitserreger (1890), mit dem Zusammenhang von Gesundheit und Raum befassten. Die deutschen Ärzte Finke (1792–1795), Fuchs (1853) und Hirsch (1883–1886) prägten zunächst den Begriff der Medizinischen Geographie im Sinne einer ganzheitlichen ökologisch-kulturellen Sicht auf Krankheit und Gesundheit. In die gleiche Zeitspanne fällt eines der wegweisenden Beispiele für den Erfolg interdisziplinären Forschens in diesem Bereich: Der Arzt John Snow konnte durch eine kleinräumige Kartierung der Sterbefälle der Londoner Cholera-Epidemie von 1854 und ihrer Trinkwasserbezugsquelle den Nachweis erbringen, dass die Infektion durch verunreinigtes Trinkwasser erfolgt (Kistemann/Schweikart/Leisch 1997). Nahezu zeitgleich befasste sich auch der deutsche Geograph Petermann mit der großräumigen Kartierung von Choleraepidemien in England. Diese Phase, in der Epidemiologie und Geographie sich nicht nur wissenschaftlich ausdifferenzierten, sondern auch inhaltlich berührten, wird von Kistemann/Schweikart/Leisch (1997) als „wichtiger Grundstein für eine bis heute andauernde interdisziplinäre Partnerschaft der beiden Fächer“ (Kisteman/ Schweikart/Leisch 1997: 98) bezeichnet.
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II.1.1 Geomedizin und Medizinische Geographie – die Entwicklung in der deutschsprachigen Forschungstradition Wie die meisten Teildisziplinen der Geographie entwickelte sich auch die Geographische Gesundheitsforschung im deutschen und im englischen Sprachraum höchst unterschiedlich. 1983 wurden diese Entwicklungsstränge in der von McGlashnan und Blunden herausgegebenen Festschrift Geographical Aspects of Health in Aufsätzen von Fachvertretern aus Ländern mit jeweils eigenen Forschungstraditionen dargestellt. Im deutschen Sprachraum ist die Entwicklung eng mit Helmut Jusatz verbunden, der lange die Geomedizinische Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften leitete. Jusatz sah seine Arbeit und die Arbeit der Forschungsstelle als Weiterentwicklung der so genannten „Geomedizin“, ein Begriff, den Zeiß 1931 erstmals verwendete und der in Arbeiten von Rodenwaldt weiter konzeptionalisiert wurde (vgl. hierzu Kistemann/Schweikart/Leisch 1997). Im Internationalen Geographischen Glossarium der International Geographic Union (IGU), herausgegeben von Meynen (1985), definiert Jusatz Geomedizin als „Teildisziplin der physischen Anthropogeographie, die eine Forschungsrichtung bezeichnet, die auf der Grundlage der von der Geographie ermittelten räumlichen Bedingungen das Vorkommen und die Ausbreitung von Krankheiten in einem umschriebenen Gebiet [...] oder weltweit in Abhängigkeit von der Geosphäre untersucht, die als Kräfte der physikalischen und biologischen Umwelt einschließlich der Vorgänge in der Atmosphäre einen pathogenen Einfluß unmittelbar auf den Menschen oder mittelbar über Krankheitserreger und Krankheitsüberträger ausüben können“ (Meynen 1985: S. 387, Eintrag zu „Geomedizin“).
Die so definierte Geomedizin steht in starkem Bezug zu dem landschaftsökologischen Ansatz Carl Trolls. Medizinische Geographie definiert Jusatz in Abgrenzung hierzu in dem genannten Glossarium als rein deskriptive Methode mit dem Ziel der Darstellung räumlicher Verbreitung von Krankheitsmustern, deren Ergebnisse die Grundlage für Geomedizin und Humanökologie darstellen. Forschungsarbeiten, die sich mit sozialen Einflüssen auf den Gesundheitszustand befassen oder der Versorgungsforschung zuzuordnen sind, sah Jusatz lediglich im amerikanischen und britischen Schrifttum (Meynen 1985, Stichwort „Medizinische Geographie“), was die relative thematische Enge Geographischer Gesundheitsforschung in Deutschland zu dieser Zeit verdeutlicht. Allerdings erlangten die medizinischen Länderkunden aus dem subtropischen und tropischen Raum der Heidelberger Forschungsstelle auch international Anerkennung (Kistemann/ Schweikart/Leisch 1997). Dabei wurde konsequent ein interdisziplinärer Ansatz verfolgt: Jede der erschienenen Länderkunden hatte zwei Hauptautoren, einen Geographen und einen Mediziner. Ihr Erscheinen wurde mit der Emeritierung Jusatz im Jahr 1976 eingestellt. Die institutionelle Verankerung der Geomedizin fand mit der Auflösung der Forschungsstelle in den 1990er Jahren ein Ende. Eine geographische Beschäftigung mit Gesundheitsthemen findet seitdem nur noch in einzelnen Arbeitsgruppen und Forschungsprojekten statt, wobei der etablierte und aktive Arbeitskreis Medizinische Geographie in der DGfG ein Forum für einen regelmäßigen Austausch bietet. Geographische Gesundheitsforschung ist daher
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heute im deutschsprachigen Raum als eine relativ exotische Teildisziplin der Anthropogeographie, ohne eigenen Lehrstuhl in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, zu bezeichnen. Kistemann/Schweikart/Leisch skizzieren die trotz des Fehlens einer institutionellen Verankerung zu beobachtende Entwicklung der Medizinischen Geographie wie folgt: „Medizinische Geographie ist seit jeher durch die Beziehung zweier Fächer bestimmt, durch Medizin und Geographie. Diese Beziehung ist darin begründet, daß sich die Forschungen an der Schnittstelle beider Fächer bewegen. Zunächst wurden die Themen durch die Darstellung von Krankheiten in Raum und Zeit geprägt, und es wurde versucht, deren Ursachen zu ergründen. Inzwischen hat die Medizinische Geographie eine wesentliche Erweiterung erfahren. Gesundheitsprobleme werden zunehmend unter Einbeziehung sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Faktoren beleuchtet.“ (Kistemann/Schweikart/Leisch (1997: 199)
Neben medizinisch-geographischen Arbeiten im vorgenannten Verständnis, die sich entweder einem krankheitsökologischen oder gesundheitssystemischen Ansatz zuordnen lassen, sind in den letzten zehn Jahren vermehrt Arbeiten durchgeführt worden, die sich mit Gesundheit und Krankheit im Entwicklungskontext beschäftigen und Gesundheit stärker vor dem Hintergrund von Theorien der Geographischen Entwicklungsforschung untersuchten (vgl. Bohle 2005 und Butsch/Sakdapolrak 2010). Hierzu zählen etwa die Arbeit von Noe (2008) zu sozialen Netzwerken und deren Einfluss auf den Gesundheitsstatus urbaner Marginalgruppen Sri Lankas, Geiselharts (2009) und Winkelmanns (2010) Untersuchungen zum Einfluss der HIV/AIDS- Pandemie im südlichen Afrika sowie Sakdapolraks (2007) Arbeiten zu Health Vulnerability. Diese sollen durch die Verwendung des Begriffs Geographische Gesundheitsforschung explizit in die Betrachtung einbezogen werden. Auch die medizinisch-geographischen Dissertationsprojekte Kremers (2004) über Umweltgesundheit vulnerabler Gruppen in Pondicherry, Indien, oder die Arbeit von Welschhoff (2006) über Partizipationsprozesse bei der Reform öffentlicher Gesundheitsdienste auf lokaler Ebene in Indien stehen an der Schnittstelle zwischen den beiden geographischen Teildisziplinen. Arbeiten, die sich verstärkt an neueren Konzeptionen der geography of health and healthcare, wie etwa dem Konzept der Therapeutischen Landschaften nach Gesler (1992) (vgl. folgendes Teilkapitel), orientieren, sollen durch die Verwendung des Begriffs „Geographische Gesundheitsforschung“ ebenfalls mit berücksichtigt werden. Hierzu legten in der deutschsprachigen Geographie unter anderem Lengen (2007) und Claßen (2008) Arbeiten vor. Geographische Gesundheitsforschung steht damit im Gegensatz zur Geomedizin nicht an der Schnittstelle zwischen Medizin und Geographie, sondern beinhaltet ein Spektrum, das über die beiden etablierten Stränge der Medizinischen Geographie – Gesundheitssystemforschung und Krankheitsökologie – hinausgeht. Die Fokussierung auf Gesundheit5 im Sinne des Gesundheitsbegriffs der WHO, der über die Abwesenheit von Krankheit im biomedizinischen Sinne hinausgeht, kommt durch diesen Begriff ebenfalls besser zum Ausdruck.
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für eine ausführliche Diskussion der Begriffe Gesundheit und Krankheit vgl. Kapitel II.3
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II.1.2 Medical geography und geographies of healthcare – die Entwicklung in der englischsprachigen Forschungstradition Hunter (1974) definierte medical geography als die Anwendung geographischer Konzepte und Techniken auf gesundheitsrelevante Fragestellungen. Demgegenüber erweiterten Meade/Earickson (2000) diese Definition um das Postulat einer holistischen Sichtweise von Problemen unter dem Einfluss kultureller Systeme und der komplexen Biosphäre bei gleichzeitiger Betonung der interdisziplinären Ausrichtung dieser geographischen Subdisziplin. Der Begriff der medical geography im englischsprachigen Raum ist damit weiter gefasst als der deutsche Begriff Medizinische Geographie. Neben der thematisch inhaltlichen Differenz fällt auf, dass ein Unterschied auch in der stärkeren institutionellen Verankerung in Kanada, Großbritannien, Neuseeland und den USA besteht. Bis Ende der 80er Jahre entwickelte sich die Teildisziplin in zwei Hauptrichtungen: erstens die Gesundheitssystemsforschung mit Schwerpunkt auf der Analyse von Versorgungsstrukturen und zweitens die Krankheitsökologie mit Schwerpunkt auf der Analyse natürlicher und gesellschaftlicher Krankheitsdeterminanten sowie deren räumlicher Verteilung. Seit Beginn der 1990 Jahre wird jedoch in der englischsprachigen Geographie eine lebhafte Diskussion über Inhalte, Methoden und theoretische Konzepte der Teildisziplin geführt. Dabei plädiert eine Gruppe von Fachvertretern für eine grundlegende Neuausrichtung im Sinne des cultural turn und eine Umbenennung des Fachs in geography of health and health care, um den Neubeginn zu kennzeichnen (Kearns/Moon 2002). Diese Autoren fordern verstärkt, die gesellschaftliche Konstruktion von Raum und deren Auswirkung auf Gesundheit zu untersuchen, und streben eine methodische Weiterentwicklung an – insbesondere eine verstärkte Nutzung qualitativer Methoden. Inhaltlich wird eine stärkere Fokussierung auf Randgruppen und Minderheiten verlangt (Parr 2002). Gleichzeitig wird die Überwindung des westlichen, biomedizinischen Krankheits- und Gesundheitsverständnisses postuliert, verbunden mit einer Fokussierung auf Gesundheit als Teil einer hohen Lebensqualität. Im Sinne des cultural turn sollen Raum, Ort und Landschaft nicht mehr als Container gesehen werden, in denen Gesellschaft stattfindet oder Krankheit und Gesundheit nach beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten diffundieren, sondern als Konstruktionen verstanden und deren Einfluss untersucht werden. Einer der wesentlichen theoretischen Beiträge, der auf diesem Verständnis basiert und zahlreiche weitere Arbeiten angeregt hat, ist Geslers Konzept der therapeutic landscapes (Gesler 1992). Die Debatte über die inhaltliche Neuausrichtung wurde nicht nur im Streitgespräch auf Konferenzen geführt, sondern lässt sich auch anhand von Publikationen nachvollziehen. Insbesondere in der Zeitschrift Progress in Human Geography wurden mehrere Artikel veröffentlicht, die sich kritisch mit der disziplingeschichtlichen Weiterentwicklung befassen. Als Startpunkt kann eine Serie von drei Artikeln von Jones/Moon angesehen werden (1991, 1992, 1993), in denen sie über die Entwicklung der Teildisziplin berichten. Während in dem ersten Artikel noch ein klassisches Verständnis von medical geography transportiert wird, wid-
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met sich der zweite dem internationalen Vergleich von Gesundheit und Gesundheitssystemen und der dritte dem Verständnis von Raum in der medical geography. In dem Fazit dieses dritten Artikels schreiben die Autoren: „Research in medical geography needs to be sensitive to spatiality (recognizing contextual and composition effects) and temporality (so as to get a grip on change, to disentangle age and cohort effects). Research needs to be comprehensive enough to understand a complex interplay of forces, yet sufficiently focused to get valid and meaningful results. We need a methodology that recognizes that people make a difference and places make a difference“ (Jones/Moon 1993: 520).
In den folgenden Jahren wurde die Ausrichtung der Teildisziplin in weiteren Artikel diskutiert: Hayes (1999) argumentiert für eine Sozialgeographie der Gesundheit, in der Ungleichheiten im Gesundheitsstatus im Zentrum der Betrachtung stehen und mit neuen Methoden der Sozialgeographie bearbeitet werden sollen. Parr (2002) stellt ihren Beitrag in eine Reihe mit den Fortschrittsberichten von Jones und Moon und versteht bereits ganz selbstverständlich medical geography und geographies of health als zwei Teildisziplinen unter einem Dach, gleichwohl in Beziehung stehend. In ihrem kritischen Rückblick auf die Entwicklung der geographies of health in der Dekade 1992 bis 2002 halten Kearns/Moon (2002) fest, dass neue Themen, wie die soziale Konstruktion von Räumen und Gesundheit, in Publikationen verstärkt auftauchen und neue, eigenständige Theorien entwickelt wurden. Gleichzeitig stellen sie fest, dass es weiterhin eine große Anhängerschaft des „alten Projekts“ der medical geography gebe und Forschungsförderung in der Praxis harte quantitative Methodik bevorzuge und damit eine eigene, angewandte geographies of health geschaffen habe. Terminologisch halten sie es für sinnvoller, von geographies of health zu sprechen, da das klassische zweigleisige Modell der medical geography durch die Vielzahl der neuen Ansätze aufgebrochen worden sei. Hierdurch seien die Geographen, die sich mit Gesundheit und Gesundheitsversorgung befassten, wieder näher an den Kern der Geographischen Wissenschaft zurückgeführt worden. Demgegenüber plädiert eine zweite Gruppe für die Beibehaltung der Bezeichnung medical geography, da neben neuen Ansätzen auch weiterhin die Untersuchung von Gesundheit und Krankheit in räumlicher Hinsicht bzw. die Analyse des Gesundheitssystems wichtige Beschäftigungsfelder von Geographen darstellen (Del Casino/Dorn 1998). Wegen dieser Kontinuität sei eine Umbenennung der Teildisziplin überflüssig, da etablierte Methoden lediglich um neue Aspekte und Fragestellungen ergänzt würden. In der englischsprachigen Geographie hat sich jedoch die Sichtweise durchgesetzt, dass es zwei parallele Forschungsrichtungen gibt, was sich auch darin äußert, dass die vierte Auflage des Dictionary of Human Geography (Johnston et al. 2000) sowohl einen Artikel zu medical geography als auch einen zu geography of health and healthcare listet. Als wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Richtungen wird auf die Methodik (vorrangig qualitativ vs. vorrangig quantitativ), die Operationalisierung des Krankheitsbegriffs (medizinisch vs. sozial-biologisch) sowie auf die in der geography of health and healthcare differenziertere Analyse der Einflüsse gesellschaftlicher Konstrukte hingewiesen.
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II.1.3 Geographische Gesundheitsforschung als Bezugspunkt dieser Arbeit Der Begriff Geographische Gesundheitsforschung wird hier bewusst verwendet, um ein möglichst breites Spektrum aktueller geographischer und nachbarwissenschaftlicher Arbeiten in die Betrachtung einbeziehen zu können. Der Terminus wird als Überbegriff der unterschiedlich konnotierten deutschen Begriffe „Geomedizin“ und „Medizinische Geographie“ sowie der englischen Begriffe „medical geography“ und „ geography of health and healthcare “ verwendet. Dabei geht es weniger darum, ein eklektizistisches Prinzip für die Neudefinition einer wissenschaftlichen Teildisziplin vorzuschlagen, als vielmehr darum, einer theoretisch ohnehin wenig verwurzelten Subdisziplin einen Rahmen über die inhaltliche Verknüpfung zu bieten. Im Folgenden gilt in Anlehnung an Hunters Definition von medical geography (1965), dass Geographische Gesundheitsforschung die Anwendung geographischer Methoden auf gesundheitsrelevante Fragestellungen darstellt, wobei eine theoretische Fundierung unter Bezugnahme auf geographische und nachbarwissenschaftlicher Theorien erfolgt. Dabei wird ein weites Methodenspektrum angewandt, das auch neue Fernerkundungsmethoden, GIS, DVgestützte Simulationen und Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung beinhaltet. Gleichfalls bieten neuere theoretische Ansätze aus anderen Teildisziplinen der Geographie sowie den Gesundheits-, Sozial- oder den Wirtschaftswissenschaften ein reichhaltiges Portfolio zur Analyse und Erklärung gesundheitsrelevanter Fragestellungen aus geographischer Perspektive, die sich häufig als Theorien mittlerer Reichweite auch miteinander kombinieren lassen. Die Geographische Gesundheitsforschung, in der bisher wenig eigene Theoriebildung erfolgte, kann sich auf aktuelle nachbarwissenschaftliche Ansätze stützen. Durch die Übertragung dieser Ansätze kann die Teildisziplin einen sinnvollen und fundierten eigenständigen Beitrag zu dem immer wichtiger werdenden gesellschaftlichen Diskurs um Gesundheit leisten. Dies gilt nicht nur für die Industrieländer, in denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse um Gesundheitspolitik gerade in einer alternden Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen, sondern auch im Entwicklungskontext. II.2 URBANISIERUNG UND MEGAURBANISIERUNG IN GLOBALER UND REGIONALER PERSPEKTIVE Der seit mehreren tausend Jahren die menschliche Entwicklung begleitende und prägende Prozess der Urbanisierung hat sich in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigt und eine neue Qualität angenommen (Herrle/Jachnow/Ley 2006). Das International Human Dimensions Programme beschreibt ihn als eine der wichtigsten derzeit stattfindenden Veränderungen des Systems Erde: „Urbanization – both as a social phenomenon and a physical transformation of landscapes – is one of the most powerful, irreversible, and visible anthropogenic forces on Earth“ (IHDP 2005: 8).
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II.2.1 Urbanisierung als globaler Prozess Urbanisierung als stetiger, globaler Prozess hat seinen Charakter jedoch seit der Frühphase des neuzeitlichen Stadtwachstums Ende des 19. Jahrhunderts in Europa und Nordamerika stark gewandelt. Zum einen findet der Prozess global gesehen derzeit mit bisher ungekannter Geschwindigkeit statt. 2008 lebte erstmals mehr als jeder zweite Bewohner der Erde in einer Siedlung, die als städtisch klassifiziert werden kann (UNFPA 2007). Zukünftig wird de facto das gesamte NettoBevölkerungswachstum in städtischen Siedlungen, insbesondere in Schwellenund Entwicklungsländern, stattfinden (Cohen 2004). Die Dynamiken der Verstädterung haben mittlerweile eine nicht mehr negierbare, globale Reichweite: „Auch wenn die Urbanisierungsprozesse in einzelnen Regionen der Erde in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlich rasch verlaufen, gilt die grundlegende Dynamik doch für alle Länder. Die Entwicklung erfasst Länder aller politischen Systeme, arme und reiche Volkswirtschaften und industrialisierte und weniger industrialisierte Regionen.“ (Herrle/ Jachnow/Ley 2006: 3).
Der historische und prognostizierte Verlauf des Urbanisierungsprozesses verdeutlicht die Dynamik der Verstädterung, insbesondere in den Schwellen- und Entwicklungsländern (vgl. Abb. 2). Während 1950 nur 29 % der Weltbevölkerung in Städten lebten, waren es 2000 bereits 47 %, 2010 sind es 51 % und für 2050 wird ein Bevölkerungsanteil von 70 % in städtischen Siedlungen erwartet. In den Industrieländern lebten bereits Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als 50 % der Bevölkerung in Städten. Der weitere Verstädterungsprozess lief bei geringem Bevölkerungswachstum mit moderat stetigem Wachstum ab. 1990 lebten 818 Millionen Menschen in den Städten der Industrieländer, was einem Bevölkerungsanteil von 71 % entsprach. Bis 2050 werden die Städte der Industrieländer im Vergleich zu 1990 absolut um 253 Millionen Einwohner wachsen, der Anteil städtischer Bevölkerung wird in diesen Ländern um 15 % auf dann 86 % zunehmen. Gänzlich anderes stellt sich die Situation in Schwellen- und Entwicklungsländern dar. Lebten dort 1990 35 % der Bevölkerung in Städten – immerhin 1,5 Mrd. Einwohner – wird damit gerechnet, dass dieser Anteil bis 2050 auf 67 % steigen wird. Die Auswirkungen dieser Transformation werden durch den absoluten Bevölkerungszuwachs noch deutlicher: 2050 werden im Vergleich zu 1990 3,8 Milliarden Menschen mehr in städtischen Siedlungen im Entwicklungskontext leben. Diese gesellschaftlichen Umwälzungen werden Afrika, vor allem aber Asien, in den nächsten Jahrzehnten vor gewaltige Herausforderungen stellen.
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Abbildung 2: Entwicklung der urbanen Bevölkerung in globaler Perspektive, eigener Entwurf auf Grundlage von Daten der World Urbanisation Prospects6 (http://esa.un.org/undp; letzter Zugriff: 21.12.2009)
Die Tatsache, dass städtische Siedlungen zukünftig der Lebensraum der großen Mehrheit der menschlichen Bevölkerung sein werden, führt dazu, dass für drängende Probleme der Menschheit vor allem hier Lösungsstrategien zu entwickeln sind. Rees/Wackernagel (1996) verweisen auf die Notwendigkeit, in Städten Nachhaltigkeit zum Planungsideal und zur Handlungsmaxime zu erheben. Dies ist nicht nur deshalb notwendig, um den übergroßen ökologischen Fußabdruck von Städten zu reduzieren, sondern auch, weil Städte aufgrund der räumlichen Konzentration ideale Voraussetzungen für die Etablierung von Nachhaltigkeitsstrategien bieten. Diesen Zusammenhang betont auch Satterthwaite (2003: 74): „Africa, Asia, and Latin America also have nearly three-quarters of the world’s urban population and most of the world’s largest and fastest-growing cities. How these urban centers perform in terms of resource use and waste generation has very large implications for sustainable development within their regions and globally.“
Insbesondere vor dem Hintergrund der Entwicklungsdebatte verweist er jedoch auch darauf, dass die derzeitig noch verhältnismäßig milden Auswirkungen städtischer Nicht-Nachhaltigkeit mit dem geringen Konsum der städtischen Armen im Entwicklungskontext zusammenhänge: „Ironically, at a continental or global level, high levels of urban poverty in Africa, Asia, and Latin America (which also means low levels of consumption, resource use, and waste generation) have helped to keep down environmental degradation.“ (Satterthwaite 2003: 77).
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von der Quelle wird auch die Unterscheidung in „more“ und „less developed regions“ übernommen
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Für die globale Armutsbekämpfung sind Städte ein unumgängliches Betätigungsfeld, da über das Erreichen der millenium development goals (MDGs) nicht zuletzt in den Städten der Entwicklungsländer entschieden wird (Hasan et al. 2005). Insbesondere das Ziel der Sicherstellung einer nachhaltigen Entwicklung (MDG 7) kann nur verwirklicht werden, wenn die definierten Zielgrößen im urbanen Umfeld erreicht werden. Dies sind im Einzelnen: Stopp des Verlustes natürlicher Ressourcen, Erhöhung des Bevölkerungsanteils mit Zugang zu sicherem Trinkwasser sowie die Erreichung signifikanter Verbesserungen im Leben von mindestens 100 Mio. Slumbewohnern. Für die gesundheitsbezogenen Ziele – Reduzierung der Kindersterblichkeit (MDG 4), Verbesserung der Geburtsvor- und -nachsorge (MDG 5) und Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderer Krankheiten (MDG 6) – ist der urbane Raum ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Auch wenn Städte in Bezug auf Gesundheit und Gesundheitsversorgung häufig nicht im Zentrum des Interesses staatlicher Programme und der Initiativen der Entwicklungszusammenarbeit stehen (vgl. Kapitel II.3), sondern Programme meist auf die Verbesserung von Gesundheitsstatus und –versorgung im ländlichen Raum abzielen, kann aufgrund der oben skizzierten demographischen Transformation der urbane Raum nicht weiter ignoriert werden. Insbesondere zur Bekämpfung von HIV/AIDS, das als urbane Seuche begann und immer noch höhere Prävalenzraten in urbanen Räumen aufweist (vgl. Dyson 2003), oder von wieder auftretenden Erkrankungen Malaria und Tuberkulose müssen konzertierte Aktionen des Gesundheitsschutzes in städtischen Räumen ansetzen. Neben der Erreichung der MDGs oder der Verwirklichung des Ideals nachhaltiger Entwicklung ist auch für die Eindämmung des Klimawandels und die Anpassung an seine Folgen der städtische Raum qua Größe und komparativer Vorteile von zentraler Bedeutung (Gurjar/Lelieveld 2005). Innerhalb der Städte in ihrer Gesamtheit kommt den Megastädten und den aufstrebenden Megastädten eine zentrale Bedeutung zu, die im folgenden Teilkapitel erörtert wird. II.2.2 Megastädte als Extremprodukt des globalen Urbanisierungsprozesses In der Stadtforschung hat sich der Terminus Megastadt für solche Städte etabliert, die sich von anderen urbanen Agglomerationen hinsichtlich ihrer Größe, Wachstumsdynamik und Komplexität unterscheiden (vgl. Butsch/Sakdapolrak/Etzold 2009). Die Vorsilbe „Mega“, dem Griechischen entlehnt, bedeutet im engeren Sinne „millionenfach“, ist in diesem Falle aber in der umgangssprachlichen Verwendung von „groß“ oder „riesig“ zu verstehen. Denn über die quantitative Abgrenzung der Klasse der Megastädte herrscht in der Literatur Uneinigkeit: Kraas (2003) verweist darauf, dass je nach Quelle entweder fünf, acht oder zehn Millionen Einwohner als Untergrenze für diese neue Kategorie von Städten angenommen wird. Zudem weist Bronger (2004) darauf hin, dass für die Größenangaben von Einwohnerzahlen global höchst unterschiedliche Definitionen administrativer Einheiten verwendet werden, so dass eine Vergleichbarkeit kaum gegeben ist. Auch aufgrund dieser Schwierigkeiten statistischer Abgrenzungen rücken bei der
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Betrachtung von Megastädten bzw. aufstrebenden Megastädten7 die qualitativen Merkmale sowie ein prozessorientiertes Verständnis megaurbaner Regionen in das Zentrum des Interesses (Kraas 2007). Zu den qualitativen Merkmalen von Megastädten zählen neben ihrer Komplexität, ihrer Dynamik und ihrer Attraktivität für Zuwanderer (Pull- Faktoren), ihr Einfluss auf regionale Entwicklungsprozesse sowie ihre Position als Knoten in globalen Netzwerken. Kraas/Nitschke (2006: 18) führen hierzu aus: „Wesentlicher sind qualitative Charakteristika der Megastädte, zu denen – bei erheblichen individuellen Unterschieden zwischen Megastädten in Industrie-, Transformations- und Entwicklungsländern sowie in wachsenden, stagnierenden oder schrumpfenden Volkswirtschaften – allgemein eine Reihe oft anzutreffender Gemeinsamkeiten zählen: intensive Expansions-, Suburbanisierungs- und Verdichtungsprozesse, funktionale Primatstadtdominanz, infrastrukturelle, soziale, wirtschaftliche und ökologische Überlastungserscheinungen, Diversifizierung innerurbaner Zentrenstrukturen, Entstehung polarisierter und fragmentierter Gesellschaften sowie zunehmender Verlust von Steuer- und Regierbarkeit bei wachsender Informalität.“
Diese qualitativen Merkmale deuten darauf hin, dass Megastädte als Produkte des globalen Urbanisierungsprozesses neue Phänomene sind und deshalb eine Schlüsselposition für das Verständnis aber auch für die Gestaltung der Urbanisierung einnehmen. Sie können als „Labore“ für die Analyse der globalen Veränderungsprozesse angesehen werden, da sie diese nicht nur auf engstem Raum nahezu in Gänze widerspiegeln, sondern die Prozesse dort teilweise auch früher einsetzen, was eine ex ante Identifizierung und Bewertung neuer Prozesscharakteristika erlaubt (Kraas 2007). Der Terminus des Labors weist hierbei auf eine neue Konnotation in der Bewertung von Megastädten hin, die in dem wissenschaftlichen Diskurs über die Megastadtforschung zuletzt an Bedeutung gewonnen hat. Zunehmend stehen nicht allein die negativen Aspekte der Megaurbanisierung im Vordergrund. Jüngst haben Cohen (2004), Gurjar/Lelieveld (2005), Herrle et al. (2006), Kraas/Nitschke (2006) sowie Kraas (2007) die Chancen eines nachhaltigen Urbanisierungs- und Megaurbanisierungsprozesses akzentuiert. Taube/Nitschke/Peters (2006) plädieren gar für eine Sichtweise, in der Megastädte als Ankerstädte, analog zu dem Konzept der Ankerländer in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, durch ihre besondere Stellung und ihren regionalen Einfluss die gesamte Entwicklung ihres Hinterlandes positiv beeinflussen können. Neben der positiven Sichtweise des urbanen Zukunftslabors sind Megastädte aber auch globale Risikoräume (Kraas 2003). Megastädte sind aufgrund der Ballung von Bevölkerung und Kapital gegenüber natürlichen und von Menschen gemachten Gefahren besonders exponiert, wobei die Gefährdung durch den derzeitigen Globalen Wandel stetig steigt. So sind etwa küstennahe Megastädte durch den Meeresspiegelanstieg als Folge des Klimawandels stark betroffen, ebenso sind Megastädte gegenüber den Folgen von Wirtschafts- und Finanzkrisen, wie der 7
Hierunter werden Städte begriffen, die zwar statistisch gesehen noch nicht zur Kategorie der Megastädte gezählt werden, aber aufgrund ihrer Wachstumsdynamik einen der oben genannten statistischen Schwellenwerte in naher Zukunft überschreiten werden.
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Asienkrise Ende der 1990er Jahre oder der Wirtschaftskrise 2008/2009 besonders exponiert. In dem Prozess des Klimawandels nehmen Megastädte einerseits als Mitverursacher und andererseits als potentielle Opfer eine besondere Stellung ein. Gujar/Lelieveld (2005) zeigen, dass die fünf Megastädte mit dem höchsten CO2 Ausstoß (Peking, Shanghai, Los Angeles, Moskau und Mexiko City) die Emissionen europäischer Staaten, wie z.B. Portugal, Belgien oder Ungarn, zum Teil um das Doppelte übersteigen. Gleichzeitig weisen die Autoren darauf hin, dass insbesondere die Megastädte in Entwicklungs- und Schwellenländern stark von den Konsequenzen des Globalen Wandels betroffen sein werden. Hinsichtlich der Gefahren, denen Megastädte ausgesetzt sind, unterscheidet Kraas (2003) zwischen den natürlichen Gefahren, wie Erdbeben, Tsunamis, Stürmen, Überflutungen, Dürren, Hitzewellen und dem globalen Anstieg des Meeresspiegels, sowie den von Menschen gemachten Gefahren, wie etwa Umweltverschmutzung, Industrieunfälle, sozialen Krisen, Epidemien etc. Diese Gefahren bergen vor allem deshalb den Keim möglicher (Sozial-)Katastrophen in sich, weil es in der Mehrzahl der Megastädte, insbesondere aber in den Megastädten im Entwicklungskontext, zu einem massiven Verlust der Steuer- und Regierbarkeit kommt (vgl. Taube/Nitschke/Peters 2006, Kraas 2007, Krafft 2007, Butsch/Sakdapolrak/Etzold 2009). Dieser Verlust ist einerseits dem schnellen Wachstumsprozess geschuldet, der dazu führt, dass die administrativen Strukturen nicht in dem nötigen Maße mitwachsen können bzw. angepasst werden. Andererseits sind die etablierten und verfassungsmäßig vorgesehenen Strukturen meist überhaupt nicht dafür konzipiert, Städte dieser Größenordnung zu verwalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn ein großer Teil des Wachstums de facto unreguliert verläuft – etwa wie in der hier als Fallbeispiel ausgewählten Stadt Pune, wo über 40 % der Bevölkerung in Slums leben, die zumindest als illegale und/oder temporäre Siedlungen gegründet wurden und zu einem großen Teil auch heute noch keinen rechtlich anerkannten Status haben (vgl. Kapitel V.4). Der hohe Grad an Informalität führt in vielen Fällen zu einem faktischen Verlust der Kontrolle städtischer Entwicklung, einhergehend mit einer Überlastung der Infrastruktur sowie einer Degradierung der städtischen Ökosysteme und damit letztendlich einer Erhöhung der Risiken für die megaurbane Bevölkerung. Im Gesundheitsbereich treten dabei häufig zwei Phänomene parallel auf: Einerseits kann eine öffentliche Gesundheitsversorgung nicht mehr in einem adäquaten Maße bereitgestellt werden, andererseits ist auch ein Gesundheitsmonitoring nicht mehr möglich. Die Entstehung und Ausbreitung neuer Infektionserkrankungen, wie z. B. SARS, wird – in Kombination mit anderen Faktoren – unter diesen Bedingungen begünstigt (Bork et al. 2009). Als problematisch ist die extreme gesellschaftliche Fragmentierung, insbesondere in den Megastädten der Entwicklungs- und Schwellenländer, zu bezeichnen, die durch neoliberale Politiken, eine zunehmende Tertiärisierung und den Globalisierungsprozess verstärkt wird. Dieses von zahlreichen Autoren beschriebene Phänomen (vgl. Dittrich 2003 und Coy 2006) äußert sich in parallel existierenden sozialen Netzwerken mit lediglich geringer Interaktion, die häufig auf den Austausch von Waren und Dienstleistungen beschränkt sind, und manifestiert sich
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auch in der physischen Baustruktur. Abb. 3 zeigt ein Schema, das in Anlehnung an Coy (2006) die Fragmentierung lateinamerikanischer Städte illustriert und – wenn auch mit Einschränkungen – auf den südasiatischen Kontext übertragbar ist. #(!#($!()#(
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Abbildung 3: Urbane Fragmentierung, eigener Entwurf in Anlehnung an Coy 2006
Die Ausprägung der Fragmentierung unterscheidet sich dahingehend, dass extreme Formen gesellschaftlicher Abschottung, etwa die gated communities, in lateinamerikanischen Agglomerationen bereits ein etabliertes städtebauliches Konzept sind, während sie in Indien derzeit ein noch relativ junges Phänomen darstellen. Die Stärke der Gegensätze zwischen benachbarten Stadtfragmenten spiegelt sich in unten dargestelltem Schema, wie auch in anderen Arbeiten, die sich mit urbaner Fragmentierung befassen, in einer äußerst figurativen Sprache wider (Scholz 2002). Wenn von „Inseln des Wohlstands“ und einem „Ozean der Armut“ gesprochen wird, so soll dies natürlich einerseits in quantitativer Hinsicht verstanden werden. Andererseits in räumlicher Hinsicht: So liegen die Inseln nicht nur inmitten des Ozeans, sondern ragen auch aus diesem hinaus. Insbesondere vor dem Hintergrund der Fragmentierung megaurbaner Gesellschaften haben sich jüngere Arbeiten mit der Vulnerabilität bzw. der Resilienz von Individuen, Gruppen oder Institutionen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive befasst. Butsch/Sakdapolrak/Etzold (2009: 3) führen vor dem Hintergrund der Megastadtforschung hierzu aus: „Vulnerability and resilience are closely related concepts. Vulnerability refers, on the one hand, to the exposure of people or even whole systems like a city to disturbances, such as a natural hazard, an economic crisis or political upheaval. On the other hand, vulnerability refers to the (in)capability of individuals, groups or institutions to anticipate, cope with and adapt to these risks. Thereby they can prevent or recover from harm. In contrast, resilience refers to robustness, persistence and sustainability. Resilience can be understood as the ability
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Bezugspunkte in der Forschungslandschaft of a system to absorb shocks and stresses without collapsing. Self-organization, high flexibility and diversity and large capacities for adaptation, recovery and learning are central aspects of resilience.“
Während die Übertragung des Resilienzkonzepts im sozialwissenschaftlichen Verständnis auf megaurbane Systeme noch recht neu ist, wurde insbesondere im Entwicklungskontext bereits zur Vulnerabilität verschiedener sozialer Gruppen gearbeitet. Sakdapolrak (2007) analysiert den Umgang mit Gesundheitsrisiken in Zusammenhang mit wasserbürtigen Krankheiten bei vulnerablen Gruppen im indischen Chennai. Wehrhahn et al. (2008) untersuchen die Vulnerabilität in Bezug auf die Wasserversorgung in der chinesischen Megastadt Guangzhou, mit besonderer Berücksichtigung der individuellen Wahrnehmung von Vulnerabilität und möglichen Bewältigungsstrategien. Die Ansätze der Resilienzforschung, die sich ursprünglich im naturwissenschaftlichen Kontext entwickelte und nicht zuletzt aufgrund des Bezugs zur Systemtheorie eine Schnittstelle für gesellschaftswissenschaftliche Anknüpfungspunkte bietet, eignet sich in vielerlei Hinsicht für die Analyse von Megastädten. Eine systemtheoretische Sichtweise des Phänomens Megastadt erleichtert die Herausstellung der wesentlichen qualitativen Merkmale von (aufstrebenden) Megastädten und ermöglicht gleichzeitig eine handlungsorientierte Analyse. Hierbei bieten vor allem komplexe adaptive Systeme (im Englischen complex adaptive systems vgl. Norberg/Cumming 2008) einen vielversprechenden, bisher wenig erprobten Ansatz. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die in ihnen stattfindenden Prozesse nicht mehr allein mit linearen Funktionen abbildbar sind: In komplexen adaptiven Systeme können ähnliche Störungen des Systems zu vollkommen abweichenden Reaktionen führen. Komplexe Systeme sind entsprechend dadurch charakterisiert, dass „... eine große Zahl von Elementen miteinander vernetzt ist, d.h., jedes Element agiert nicht nur nicht isoliert – unabhängig und unbeeinflusst von anderen –, sondern es ist mit einer Vielzahl anderer Elemente verbunden (hohe Konnektivität), die es beeinflussen und die es beeinflusst. Da jede Intervention in solch ein System, an welchem Ort auch immer, aufgrund der sich ausbreitenden und potenzierenden Effekte langfristig nicht durchschaubare und nicht vorhersagbare Wirkungen hat, sind sie nicht wirklich zielgerichtet, von außen planbar und kontrollierbar“ (Simon 2006: 30).
Solchermaßen definierte komplexe Systeme zeichnen sich nicht nur durch Strukturkomplexität, sondern weitergehend durch Verhaltenskomplexität aus (vgl. Ratter/Treiling 2008). Dieser Ansatz ermöglicht es, vielschichtige Einflussfaktoren in die Betrachtung zu integrieren und megaurbane Akteure, Prozesse und Emergenzen in einem kohärenten Analyserahmen zu betrachten. Eine systemtheoretische Betrachtungsweise könnte zudem einen neuen Ansatz darstellen, um die definitorischen Schwierigkeiten, die zu Beginn dieses Teilkapitels erläutert wurden, zu lösen. Von Interesse ist für die Forschung allerdings vorrangig, wie diese Systeme beeinflussbar sind und welche Optionen sich für die Regierungsführung solcher komplexen Gebilde im Sinne einer good governance ergeben. Abschließend sei resümierend darauf verwiesen, dass die Bewertung von Megastädten von skeptisch-problematisierend (Risiko-Räume) über nüchtern-
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funktional (Megastädte als Schlüssel nachhaltiger – regionaler – Entwicklung) bis hin zu vorsichtig-optimistisch (Labore der urbanen Zukunft) eine erhebliche Bandbreite wiedergibt. Diese Bandbreite in der Bewertung der Probleme und Chancen betrifft auch die menschliche Gesundheit in Megastädten, wie in Kapitel II.3 gezeigt wird. II.2.3 Urbanisierung regional: Indiens Stadtkultur, Indiens Megastädte Die Stadtkultur Indiens hat eine neuntausendjährige Tradition, die bis zur Induskultur zurückreicht, auch wenn es keine siedlungstechnische Kontinuität gibt, da die frühen Städte, wie z.B. das in den 1920er Jahren entdeckte Harappa, nach dem Untergang der Induskultur verfielen (Stang 2002). Kulturell standen Städte in Indien schon immer im Mittelpunkt gesellschaftlicher Entwicklung, di durch sie wesentlich geprägt wurde. Das Städtische war in der gesamten Geschichte Indiens trotz des überwiegend ländlichen Charakters des Landes für Herrschende und Kulturschaffende zentral. Die heute zu beobachtende Skepsis gegenüber dem Städtischen und die Bevorzugung des Ländlichen seitens der Politik, etwa bei der staatlichen Investitions- und Subventionspolitik, wurzelt zu einem gewissen Teil in der Unabhängigkeitsbewegung. Da die Städte weitestgehend britisch dominiert waren, wurde versucht, mit einer Betonung des Ländlichen und einer Stilisierung des ländlichen Lebens eine bewusste Abgrenzung zu schaffen (Rothermund 2008). In Anlehnung an Bronger (1995) lassen sich fünf Phasen städtebaulicher Geschichte in Indien identifizieren, die sich teilweise zeitlich überlagern und in den heutigen Stadtbildern Indiens eine unterschiedliche Sichtbarkeit haben: 1. vor-hinduistische Stadtkulturen (Induskultur): 7. bis 2. Jtsd. v. Chr., für heutige städtische Strukturen irrelevant; 2. hinduistische Epoche: 300 v. Chr. bis 1800 n. Chr., bis heute in Residenz- und Tempelstädten sichtbar; 3. muslimische Epoche: 1300 n. Chr. bis 1800 n. Chr., Manifestation in heute sichtbaren Baudenkmälern, z.T. Grundrissstrukturen, die der islamischen Stadt im Mittelmeerraum verwandt sind (z.B. Old Delhi); 4. britische Kolonialepoche: 1780–1947, neue Stadtplanungsideen, die allerdings räumlich isoliert als Appendix der bestehenden indischen Städte realisiert wurden (z.B. New Delhi); 5. Post-Unabhängigkeitsepoche: ab 1947, Weiterentwicklung der Städte (sowie einige Neugründungen, etwa Chandigarh) mit amerikanischen, europäischen und genuin indischen Städtebaukonzepten.
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Ramachandran (1989) schlägt eine alternative Gliederung vor, die sich trotz einer anderen Einteilung der vorbritischen Zeit8 nicht grundsätzlich von dieser unterscheidet. Brongers (1995) Ansatz verdeutlicht die zweigeteilte Entwicklung (hinduistische vs. muslimische Stadt) Indiens in der Epoche von 1300 bis 1800 und bringt so besser die Diversität der indischen Stadtkulturen zum Ausdruck. Ob die Einflüsse der Globalisierung, denen Indien seit der New Economic Policy (NEP) 1991 verstärkt ausgesetzt ist und die sich auch in neuen städtebaulichen Strukturen manifestieren – man denke an die für Indien relativ neuen Phänomene der Shopping Malls oder der Housing Societies bzw. Gated Communities –, eine eigene, sechste Epoche der Stadtentwicklung darstellen, mag erst in Zukunft beurteilt werden. Für das Erscheinungsbild der heutigen indischen Stadt bedeutet dies, dass sich in nahezu allen Städten zwei bzw. drei genetisch unterschiedliche Siedlungsstrukturen finden. Es handelt sich meist um: Erstens einen präkolonialen Siedlungskörper, der entweder auf hinduistische oder muslimische Planungsschemata zurückgeht, zweitens davon durch einen cordon sanitaire – eine große Straße, eine Eisenbahnlinie oder ein Fluss – abgetrennt die britische Siedlungserweiterung. Diese besteht üblicher Weise einerseits aus den Civil Lines, den Wohnvierteln der britischen Zivilbediensteten und andererseits dem cantonment, der Militärsiedlung. Drittens finden sich neuere Strukturen, die seit der indischen Unabhängigkeit geschaffen wurden. Städte, in denen nicht alle drei Strukturen parallel vertreten sind, unterstanden entweder nicht direkt einer Kolonialmacht oder wurden – wie drei der vier Megastädte Indiens, nämlich Mumbai, Chennai und Kolkata – erst durch die jeweilige Kolonialmacht gegründet. Häufig handelt es sich bei den ältesten Siedlungsflächen um die Stadtgebiete mit der höchsten Einwohnerdichte9 mit häufig stark sanierungsbedürftiger Bausubstanz und einem massiv überlasteten Verkehrssystem. Die civil lines demgegenüber wurden als großzügige Anlagen geplant, häufig mit breiten Alleen. Die einzelnen Häuser wurden als Bungalows, in der Regel mit angeschlossenen Wirtschaftsgebäuden, die auch Wohnraum für Bedienstete boten, auf großen, parkartigen Grundstücken konzipiert. Die zentralen Einrichtungen der Briten lagen meist an einer Hauptstraße, der mall, wobei Bronger (1995) auf eine häufig zu beobachtende Nutzungskontinuität nach der Unabhängigkeit hinweist. Dies gilt auch für die cantonments, die auch heute noch meist in unverändertem Umfang vom indischen Militär genutzt werden. Diese Viertel sind in aller Regel von den civil lines räumlich getrennt und basieren oft auf einem schachbrettartigen Straßengrundriss. Demgegenüber heben sich in den allermeisten Städten Indiens die neueren Stadtteile durch das Fehlen der Umsetzung einer übergeordneten Planung ab. Zwar sind die Planungsverfahren rechtlich geregelt und die Planungsprozesse de jure institutionalisiert, jedoch werden diese Instrumente dem unkontrollierten 8
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Ramachandran unterscheidet folgende Perioden: (1) die prähistorische (2350–1800 v. Chr.), (2) die frühhistorische (600 v. Chr. –500 n. Chr.), (3) die mittelalterliche (600–1800), (4) die britische (1800–1947) und (5) die Post-Unabhängigkeit Periode. Bronger (1995) gibt für Old Delhi Werte von teilweise über 200.000 EW/km2 an.
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Wachstum nicht gerecht. Direkt nach der Unabhängigkeit führten vor allem die enormen Flüchtlingsströme, aufgrund der Teilung Indiens und Pakistans, zu einer raschen Bevölkerungszunahme in den Städten Indiens (Sivaramakrishnan/ Kundu/Singh 2007). Vielerorts findet die Stadtentwicklung heute durch private Entwickler statt, die neue Siedlungen im großen Maßstab planen und realisieren, aber lediglich rudimentär erschließen, so dass die Planung der öffentlichen Hand weitestgehend reaktiv erfolgt. Dies führt auch dazu, dass beispielsweise durchaus hochpreisige Appartmentkomplexe in den ersten Jahren nach ihrem Entstehen keinen Anschluss an die reguläre Wasserversorgung haben, was dann durch externe Lieferungen von Wasser mit Tankfahrzeugen überbrückt werden muss. Zum anderen heben sich die neueren Stadtviertel hinsichtlich der Bausubstanz deutlich von den präkolonialen und kolonialen Stadtstrukturen ab. In aller Regel sind die Bauten mehrgeschossige Betonskelettstrukturen mit viel Glas und verputzten Ziegelsteinwänden. Investoren errichten häufig mehrere, sich gleichende Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft, weshalb die neuen Stadtviertel insgesamt recht uniform wirken. In allen drei siedlungsgenetischen Stadtteilen der indischen Städte sind in unterschiedlich großer Ausdehnung Slums zu finden. Slums sind ein äußerst heterogenes Phänomen und der Terminus kann nur als Sammelbegriff für verschiedene Erscheinungsformen aufgefasst werden. Fuchs (2006) schreibt hierzu: „Die gängigen Lexikondefinitionen bezeichnen Slums als sehr dicht besiedelte Stadtteile mit elenden Lebensbedingungen, bewohnt von den Ärmsten der Armen und gekennzeichnet durch soziale Desorganisation. Solche Vorstellungen werden allerdings der Komplexität des Phänomens ‚Slum’ kaum gerecht.“ (Fuchs 2006: 77).
Stang (2002) verweist für den indischen Kontext auf die unterschiedlichen regionalen Erscheinungsformen von Slums in den Großstädten Indiens, die häufig auch mit unterschiedlichen Namen belegt werden, die zum Teil auch den rechtlichen Status der Siedlungen andeuten. Eine slum pocket kann eine Ansammlung weniger Hütten sein, zum Teil aber auch, wie in einem der bekanntesten Beispiele, dem größten Slum Mumbais (Dharavi), zusammenhängende und stadtplanerisch begehrte Flächen belegen10. Während die meisten der pockets als squatter settlements entstanden, kommt es zusätzlich zu dem Prozess der „Verslumung“ alter Bausubstanz, als Folge mangelnder Instandhaltung (Stang 2002). Oft werden die bestehenden Wohneinheiten immer weiter unterteilt, so dass es zu einer drastischen Überbelegung der Gebäude kommt und diese letztendlich vollständig verfallen. Die Stadtviertel, die nach der Unabhängigkeit entstanden, machen in nahezu allen Städten Indiens ein Vielfaches der Siedlungskörper aus, die bereits vor 1947 bestanden. Gleiches gilt auch für die Einwohnerzahlen dieser Gebiete. Dies ist das Resultat eines Urbanisierungsprozesses, der im globalen Trend zwar sehr spät einsetzte, jedoch aufgrund der großen Bevölkerungszahlen zu einem quantitativ 10
zu der Diskussion um die Umsiedlung und Neuplanung des Gebietes von Dharavi vgl. Swaminathan/Goyal 2006
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enormen Wachstum der Städte führte. Nath (2007) nennt als Gründe für das späte Einsetzen die relativ geringe Industrialisierungsquote und das damit verbundene Fehlen außerlandwirtschaftlicher Erwerbsalternativen (potentieller Pull-Faktor) in den Städten sowie die Skepsis gegenüber dem städtischen Leben, die in der Unabhängigkeitsbewegung wurzelt. 1897 schrieb Mark Twain noch über Indien: „Its stupendous population consists of farm labourers. India is one vast farm – one almost interminable stretch of fields with mud fences between. Think of the above facts: and consider what an incredible aggregate of poverty they place before you.“ (zitiert nach Luce 2006: 25).
Der ländliche Charakter änderte sich bis 1947 nur geringfügig, dann jedoch setzte ein erster Wachstumsschub der Städte ein. Zunächst führten die Wirren der Teilung der ehemaligen britischen Kolonie zu einem Flüchtlingsstrom aus dem Punjab, der zu einem großen Teil in den nordindischen Städte aufgefangen wurde. Das weitere Wachstum seit der Unabhängigkeit basiert gleichermaßen auf natürlichem Wachstum und Wanderungsgewinnen (Stang 2002). Für Letztere nennt Bronger (1995) Push-Faktoren, wie die ländliche Überbevölkerung, Verkleinerung der Betriebe, Mangel an Arbeitsplatzalternativen und die soziale Marginalisierung der scheduled casts und scheduled tribes11 insbesondere im ländlichen Raum sowie als pull-Faktoren das städtische Arbeitsplatzangebot und die Aussicht auf soziale Mobilität. Aus dem Verlauf des Urbanisierungsprozesses Indiens seit der Unabhängigkeit (Abb. 4) lässt sich dreierlei schließen: Erstens wächst die städtische Bevölkerung seit 1950 exponentiell, während sich das Wachstum der ländlichen Bevölkerung abschwächt und 2025 nahezu gegen Null strebt. Zweitens wird deutlich, dass hinter der gering scheinenden Zunahme des Anteils städtischer Bevölkerung von 17 % im Jahr 1950 über 28,7 % 2005 bis hin zu den für 2025 prognostizierten 37,2 % (alle Zahlen nach UN World Urbanisation Prospects 2007 Revision12) aufgrund des extremen absoluten Bevölkerungswachstums ein gewaltiger Zuwachs urbaner Bevölkerung steht. Im Zeitraum 1950 bis 2005 betrug dieser Zuwachs 262 Mio. Menschen, was in etwa der Bevölkerung der USA entspricht, während er zwischen 1950 und 2025 insgesamt sogar 474 Mio. Einwohner betragen wird.
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Hierunter werden Kastengruppen oder Stammesgruppen verstanden, die aufgrund historisch gewachsener Sozialstrukturen durch die indische Regierung als besonders benachteiligt und mithin besonders förderungswürdig eingestuft werden. Abrufbar unter http://esa.un.org/unup/ letzter Zugriff: 21. Dezember 2009
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Abbildung 4: Urbanisierung in Indien, eigener Entwurf auf Grundlage von Daten der World Urbanisation Prospects, online abrufbar unter: http://esa.un.org/undp (letzter Zugriff: 21. Dezember 2009)
Die geringe Urbanisierungsquote Indiens ist in Teilen als statistischer Effekt anzusprechen, da in Indien die Schwellenwerte für die Definition städtischer Bevölkerung im internationalen Vergleich sehr hoch13 gewählt wurden, so dass Cohen (2004: 26 f.) postuliert: „If India were to adopt a different definition of what constitutes an urban area, it could suddenly transform itself from a predominantly rural to a predominantly urban population.“
Drittens zeigt die Abbildung, dass der Anteil der städtischen Bevölkerung in Metropolen mit über einer Millionen Einwohner im internationalen Vergleich sehr hoch ist und bis 2025 auf über 40 % anwachsen wird, wobei alleine in den vier Städten mit über zehn Mio. Einwohnern – Mumbai, Kolkata, Chennai und Delhi – nahezu 15 % der urbanen Bevölkerung Indiens leben werden; ein knappes Viertel wird in Städten leben, die mehr als fünf Millionen Einwohner haben. Den Grund für die Konzentration auf die oben genannten vier größten Städte, die Stang (2002) als primate cities ihrer jeweiligen Region bezeichnet, sieht dieser in der verhältnismäßig besseren Infrastruktur (Bildung, Gesundheitsversorgung etc.) sowie der enormen wirtschaftlichen Konzentration, die durch das Arbeitsplatzangebot als starker Pull-Faktor wirkt. Diese Pull-Faktoren wirken stärker als die Überlastungserscheinungen, die mit dem Prozess der Megaurbanisierung einhergehen (vgl. Kapitel II.2). Auch Kundu (2009) beschreibt für den indischen Kontext die globale Einbettung der (aufstrebenden) Megastädte. Seiner Ansicht nach wirken starke Zuwächse an Arbeitsplätzen in Industrie und tertiärem Sektor aufgrund des Zuflusses ausländischen Kapitals als starke Pull-Faktoren. Nath (2007) verweist in diesem Zusammenhang auf die Probleme der vier giant-cities 13
Siedlungen mit eine Bevölkerung unter 5.000 Einwohnern werden als Dorf gelistet.
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Bezugspunkte in der Forschungslandschaft
Indiens, die aufgrund des immensen Bevölkerungswachstums starke Überlastungserscheinungen zeigen, da die administrativen Strukturen weder für die Masse an Bevölkerung ausgelegt sind noch mit dem Wachstum Schritt halten können. Diese Probleme entstehen derzeit aber in den aufstrebenden Megastädten, etwa Ahmedabad, Bangalore oder Pune, die – sofern nicht frühzeitig gegengesteuert wird – vor identischen Problemen stehen. In diesem Kontext verweist Nath (2007) auf den fehlenden politischen Willen, tragfähige Strukturen für die Megastädte der Zukunft zu schaffen. 2007 von der indischen Zentralregierung die Jawaharlal Nehru National Urban Renewal Mission (JNNURM) ins Leben gerufen, die einerseits zu einer Verbesserung der städtischen Infrastruktur, andererseits zu einer Verbesserung der Situation der Armen beitragen soll. Jedoch leistet auch dieses Programm nur einen Beitrag, der akute Symptome behandelt, ohne die Ursachen in den Blick zu nehmen. Folgendes Zitat aus der Einleitung zu dem Roman „Bombay – Maximum City“, in dem Suketu Mehta seiner Heimatstadt ein literarisches Denkmal gesetzt hat, verdeutlicht die Probleme, die mit dem derzeitigen Urbanisierungsprozess einhergehen: „Bald werden in Bombay mehr Menschen leben als auf dem gesamten australischen Kontinent. urbs prima in indis steht auf einem Schild vor dem Gateway of India, Bombays Triumphbogen. Bombay ist auch die urbs prima in mundis, jedenfalls wenn man nur jenen Aspekt betrachtet, der allerdings schon immer das entscheidende Kriterium für die Lebensfähigkeit einer Stadt war: die Anzahl der Menschen, die in ihr leben. Mit gut sechzehn Millionen Einwohnern ist Bombay die größte Stadt auf diesem von Städtern bevölkerten Planeten. Bombay verkörpert die Zukunft der urbanen Zivilisation auf der Erde. Gott stehe uns bei.“ (Mehta 2006: 13)
Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass Verstädterungsgrad und Verstädterungsrate innerhalb Indiens recht unterschiedlich verteilt sind. Der Verstädterungsgrad14 ist in dem Bundesstaat Delhi (93,0 %) sowie in den union territories Chandigarh (89,8 %) und Pondicherry (66,6 %) am höchsten, da diese größtenteils aus städtischen Räumen bestehen und lediglich einen kleinen Teil des Hinterlands umfassen. In den Kleinstaaten Mizoram und Goa beträgt der Verstädterungsgrad knapp 50%, in den südlichen Flächenstaaten Tamil Nadu und Maharashtra liegen die Werte bei 43,9 % bzw. 42,4 %. Der geringste Verstädterungsgrad wird in Himachal Pradesh mit knapp unter 10 % gemessen, während für den Staat mit dem zweitgeringsten Wert, Bihar, lediglich knapp über 10 % angegeben werden. Sivaramakrishnan/Kundu/Singh (2007) unterscheiden zwei Arten von Bundesstaaten mit hohen Zuwachsraten städtischer Bevölkerung: einerseits ökonomisch rückständige Staaten, deren Verstädterungsrate aufgrund der geringen Bestandsgröße und systematischer staatlicher Investitionen in den Distrikthauptstädten hoch ist, andererseits Staaten mit hoher Wirtschaftskraft, die in den Städten konzentriert ist. In Indien gibt es daher einerseits wirtschaftlich unterentwickelte Bundesstaaten, in denen Push-Faktoren Verstädterung induzieren, da staatlich subventionierten Erwerbsalternativen einer Bevölkerung unter schwieriger wer14
Alle Angaben: Census 2001, zitiert nach Sivaramakrishnan/Kundu/Singh 2007
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denden Bedingungen in der Subsistenzwirtschaft (Realteilung) einen Ausweg bieten. Andererseits sind es in prosperierenden Bundesstaaten Pull-Faktoren in Form eigenständiger Wirtschaftskraft, die zu einem Wachstum insbesondere der Megastädte und der entstehenden Megastädte führt. Zu dieser zweiten Kategorie gehört auch der Bundesstaat Maharashtra und der Großraum Mumbai-Pune. II.2.4 Fragmentierung und Armut in den indischen Metropolen Der globale Trend megaurbaner sozialer Fragmentierung zeigt sich auch in Indiens wachsenden Städten. Während einerseits urbane Eliten direkt oder indirekt von der new economic policy (NEP) (Müller 2006) profitieren, die auch zum Entstehen einer neuen urbanen Mittelschicht führte, bleiben zahlreiche Gruppen marginalisiert. Am Beispiel Bangalores beschreibt Dittrich: „Der städtischen Armutsbevölkerung, zu der ungefähr drei Viertel aller Stadtbewohner angehören, bleiben [...] die Möglichkeiten zur grundlegenden Verbesserung ihrer Lebenschancen meist verwehrt. [...] Zur Unterschicht zählen die meisten Dalit-Gruppen (= Unberührbare), die niederen Schichten der Handwerker und Bauernkasten sowie die Mehrheit der moslemischen Stadtbevölkerung. Zu den ‚Globalisierungsverlierern‘ zählt aber auch ein Teil der ehemaligen ‚Arbeiteraristokratie‘, nämlich jener, der von Entlassungen der Staatsunternehmen und Behörden betroffen ist. [...] Gleichzeitig entsteht aber auch eine neue Mittelschicht, die sich überwiegend aus Angehörigen der Händler- und Kaufleutekasten rekrutiert. [...] Diese neue Mittelschicht orientiert sich zunehmend an westlichen Lebensstilen und Konsummustern und hat in der Regel kein Interesse daran, dass auch die Marginalbevölkerung in die Lage versetzt wird, ihre Situation zu verbessern“ (Dittrich 2003: 44).
Die Fragmentierung indischer Städte und Megastädte hat, wie in obigem Zitat angedeutet, auch historisch-kulturelle Hintergründe. Hierzu gehört die langlebige, religiös verankerte Sozialstruktur, die gemeinhin als Kastenwesen15 angesprochen wird, aber auch die strikte Trennung der Kolonialherren von der indischen Bevölkerung während des British Raj. Diese Disparitäten haben sich, wie beschrieben, auch städtebaulich manifestiert. Die heutige Fragmentierung in Indiens Städten hat jedoch eine neue Qualität erreicht, sowohl in ihrer physischen Manifestation als auch hinsichtlich des Auseinanderdriftens unterschiedlicher Lebenskontexte. Während die urbane Oberschicht zu den Gewinnern der Globalisierung zählt und in einer global orientierten und vernetzten Welt operiert, wird die Position der neu entstandenen Mittelschicht ambivalent beurteilt. Die gut bezahlten Beschäftigten in den business process outsourcing Betrieben, die in der Softwareentwicklung und im Dienstleistungsbereich arbeiten, werden teilweise ebenso wie die Arbeiter an den verlängerten Werkbänken zu den „Scheingewinnern“ (Scholz 2000: 268) der Globalisierung gezählt, da ihre Beschäftigungsverhältnisse meist nicht dauerhaft, sondern häufig auf temporäre, maximale Ausbeutung ihrer Arbeitskraft an15
Die Strukturierung der indischen Gesellschaft auf Grundlage der Kasten (Varna) und vor allem der Sub-Kasten (Jati) kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Eine Einleitung zu diesem Themenkomplex gibt Rothermund (2008) in seinem Übersichtswerk zu Indien, eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Böck/Rao (1995).
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gelegt sind. Zu den Globalisierungsverlierern zählen diejenigen, die entweder keinen Zugang zu diesen neuen Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten, weil ihnen beispielsweise der Zugang zu essentiellen Bildungsmöglichkeiten versagt wird, oder diejenigen, deren Beschäftigungsverhältnisse den neuen Bedingungen der NEP zum Opfer gefallen sind. Gleiches gilt für die hohe Zahl derjenigen, die lediglich im informellen Sektor eine schlecht bezahlte Beschäftigung finden und deren Arbeitskraft systematisch und ohne jede soziale Sicherung ausgebeutet wird. Die Fragmentierung indischer Städte wird heute in einem kleinräumigen Nebeneinander verschiedenster Bebauungsformen offensichtlich. Abgeschottete housing colonies oder housing societies – mehrstöckige Appartmentkomplexe mit Einlasskontrolle – liegen zum Teil in direkter Nachbarschaft von slum pockets. Während die Bewohner beider Stadtfragmente allerdings unterschiedlich in globalisierte Wirtschaftsprozesse eingebunden sind, gibt es zum Teil auch etablierte funktionale Beziehungen zwischen beiden Fragmenten (vgl. Kapitel V.4, sowie Aggarwal/Butsch, im Druck). So entstehen insbesondere in neueren Stadtteilen slum pockets zunächst als „Zeltstädte“ oder Wellblechsiedlungen von Bauarbeitern, die am Bau neuer housing societies mitarbeiten. Im Laufe der Zeit entwickeln sich diese zu Wohnquartieren der Hausangestellten in denselben Appartementblocks. Auch wenn solche funktionalen Beziehungen existieren, z.T. sogar mit erheblicher Persistenz, sind Interaktionen zwischen unterschiedlichen Sozialgruppen vorrangig auf geschäftliche Kontakte beschränkt. Es entstehen strikt getrennte Lebenswirklichkeiten auf engstem Raum, die Nissel für Mumbai zugespitzt wie folgt beschreibt: „In der ‚Möchtegern-Weltstadt‘ vegetieren 700.000 Obdachlose dahin, die noch nicht einmal in einem Slum hausen (dürfen), dafür gibt es gleichzeitig hunderte Diätkliniken, Wellnesstempel und Freizeitzentren“ (Nissel 2006: 31).
Insbesondere in den überlasteten Megastädten haben die städtischen Armutsgruppen kaum Zugang zu grundlegender Infrastruktur, wie sauberem Trinkwasser oder essentiellen Dienstleistungen, etwa einer Basisgesundheitsversorgung oder Bildung und teilweise Schwierigkeiten bei der Nahrungssicherung. Bohle/ Sakdapolrak (2008) konstatieren ebenso wie Selja (2009) einen geringen Erfolg der Armutsbekämpfung im städtischen Kontext. Erstgenannte verweisen auf den einerseits absoluten Anstieg städtischer Armutsbevölkerung von 60 Mio. im Jahr 1974 auf 76 Mio. 1994 und einen relativen Anstieg städtischer Armutsbevölkerung an der gesamtindischen Armutsbevölkerung von 15 % 1960 auf 25 % Mitte der 1990er Jahre. Das indische Ministry of Housing and Urban Poverty Alleviation legte gemeinsam mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) 2009 einen Bericht vor, der sich exklusiv mit städtischer Armut in Indien auseinandersetzt. Die hierin angegebenen Zahlen zeigen einen Anstieg der städtischen Armutsbevölkerung auf 80 Mio. im Jahr 2005. Der relative Anteil der städ-
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tischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (below poverty line16) variiert zwischen den einzelnen Bundesstaaten erheblich. Beträgt er in Assam gerade einmal 3,3 %, wird für Indiens „Armenhaus“ Orissa ein Wert von 44,3 % angegeben. Dabei ist in allen Bundesstaaten seit der ersten Schätzung aus dem Jahr 1974 eine kontinuierliche Abnahme des Anteils städtischer Armutsbevölkerung zu beobachten. Einzige Ausnahmen hiervon sind Rajastan und Orissa, die in der Dekade 1995–2005 einen erneuten Anstieg um 2,5 % bzw. 3 % verzeichneten. Ein besonderes Phänomen sind in dem gesamten Armutskontext die sogenannten working poor. Hierunter sind Lohnbeschäftigte zu verstehen – formell wie informell –, die zu einem Haushalt gehören, der als unterhalb der Armutsgrenze eingestuft wird. Ihre Arbeitskraft reicht also nicht, um für ihren Haushalt eine Grundlebenssicherung zu gewährleisten. Nach Zahlen der National Sample Survey Organisation (NSSO) aus dem Jahr 2000, angegeben von Ministry of Housing and Urban Poverty Alleviation (2009), zählte knapp ein Drittel der berufstätigen Bevölkerung in der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren zu einem Haushalt below poverty line. Bei denjenigen, die einer Beschäftigung als Tagelöhner nachgingen, betrug dieser Anteil bei Männern 52 % und bei Frauen sogar 62 %. Besonders auffällig ist die strukturelle Benachteiligung der scheduled casts (SC) und scheduled tribes (ST). So liegen beispielsweise die Einschulungsraten dieser Bevölkerungsgruppen in allen Städten deutlich unter denen der übrigen Bevölkerung. In Mumbai besuchen 75,5 % aller Kinder eine Grundschule (primary), während es in der Gruppe der SC/ST lediglich 9,8 % sind, in Delhi ist das Verhältnis 65,1 % zu 13,2 %, in Kolkata gar 37,7 % zu 7,8 % (Ministry of Housing and Urban Poverty Alleviation 2009). Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Exklusion, die mit der gesellschaftlichen Fragmentierung einhergeht, teilweise über Generationen fortbesteht. Vor allem der fehlende Zugang zu Bildung verhindert den sozialen Aufstieg und das Überwinden der Armut. Die offensichtlichste physische Manifestation von Armut in den Städten Indiens sind die allgegenwärtigen Slums. Insgesamt leben nach Angaben des indischen Zensus 14,1 % aller städtischen Bewohner in Slumsiedlungen (Zensusjahr 2001, zitiert nach Sivaramakrishnan/Kundu/Singh 2007). Dabei ist das Phänomen in den Megastädten und entstehenden Megastädten besonders ausgeprägt. Nach den gleichen, als relativ konservativ zu bezeichnenden Schätzungen leben etwa in Mumbai 48,9 % der Einwohner in Slums, in Delhi sind es 18,9 %, in Kolkata 32,6 % und in Chennai 25,6 % (Sivaramakrishnan/Kundu/Singh 2007). Besondere Probleme der Slums sind neben der hohen Konzentration an Bevölkerung häufig das Fehlen grundlegender Infrastrukturen und Dienstleistungen, insbesondere dann, wenn es sich um einen unerwünschten oder noch nicht registrierten Slum, ohne entsprechenden Rechtstitel, handelt. Dies verschärft die katastrophalen Lebensbedingungen weiter. Allerdings machen Slums teilweise einen Entwicklungsprozess durch, so dass sie nach mehrstufigen Sanierungen Lebensbedingungen bieten können, die mit denen anderer Quartiere vergleichbar 16
Nach UNDP 2009 betrug der Schwellenwert der Armutsgrenze 2005 in städtischen Bereichen 538 Rupien / Person / Monat, was in etwa zehn Euro entspricht.
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sind (Asthana 1995). Grundvoraussetzung hierfür ist allerdings die rechtliche Anerkennung des Besitzstatus der Slumbewohner. Wird dies verweigert, kann es, je nach lokalpolitischer Aushandlung, zu entschädigungslosen Vertreibungen (Bohle/Sakdapolrak 2008) oder Umsiedlungen kommen. Letztere unterscheidet Stang (2002) in solche, bei denen den Bewohnern site and service areas bereitgestellt werden, auf denen sie siedeln können, und in solche, bei denen den Bewohnern Wohnungen in sozialen Wohnungsbauten zur Verfügung gestellt werden. Problematisch ist bei den Umsiedlungen häufig, dass die neuen Siedlungsflächen weit von den alten entfernt sind, so dass für Beschäftigte der tägliche Weg zur Arbeit zu beschwerlich und vor allem zu teuer wird. Fehlplanungen dieser Art verringern die Akzeptanz der Umsiedlungsprogramme erheblich. Bei der Auswahl der Untersuchungsgebiete für die konkrete Fallstudie (Kapitel VI.2) wurden unterschiedliche Nachbarschaften ausgewählt, die exemplarisch die Spannbreite des sozioökonomischen Status abbilden. Im Vergleich von Slums und Nachbarschaften mit höherem sozioökonomischen Status wird im weiteren Verlauf der Arbeit aufgezeigt, dass Slums wegen der sozialen Benachteiligung, den meist sehr schlechten Umweltbedingungen und der infrastrukturellen Unterversorgung, die sich unter anderem in mangelhaftem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen manifestiert, Brennpunkte hohen Krankheitsrisikos und geringer Lebenserwartung sind. II.3 MENSCHLICHE GESUNDHEIT – URBANE GESUNDHEIT Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen bezeichnet Gesundheit als eine der wichtigsten Einflussgrößen für ein erfülltes Leben: „...health is among the most important conditions of human life and a critical constituent of human capabilities which we have reason to value.“ (Sen 2005: 23).
Gesundheit ist für eine selbstverwirklichte Lebensgestaltung unabdingbar und aus ökonomischer Perspektive eine unverzichtbare Grundvoraussetzung, um einen eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können. Gesundheit ist somit ausschlaggebend für die Lebensqualität und gleichzeitig einer der wichtigsten Posten in der individuellen Ausstattung mit Kapitalien (vgl. Sen 1999, Bohle 2005, Yusuf/Nabeshima/Ha 2007). Bohle (2005) argumentiert, Gesundheit stelle ein verlässliches Spiegelbild des sozialen und ökologischen Zustandes einer Gesellschaft dar und sei damit ein aussagekräftiger und dynamischer Indikator für Umweltwandel und sozioökonomische Transformationen sowie deren Folgen für menschliche Gesellschaften. Gesundheit ist somit eine Grundvoraussetzung für Entwicklung während gleichzeitig der Gesundheitszustand einer Gesellschaft auch als Indikator für deren Entwicklung gesehen werden kann. Den Stellenwert von Gesundheit als Vorbedingung von Entwicklung betonen Yusuf/Nabeshima/Ha (2007). Sie halten fest, dass
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1. der gesellschaftliche Gesundheitszustand die Arbeitskraft einer Volkswirtschaft und somit den nationalen Arbeitsmarkt beeinflusst, 2. hohe Kosten für medizinische Dienstleistungen, insbesondere in Entwicklungsländern, zu einer geringeren Sparquote führen, was sich negativ auf die Investitionsquote auswirkt, 3. ein schlechter Gesundheitszustand das Bildungsniveau der Bevölkerung beeinflusst und 4. der Gesundheitszustand der Bevölkerung eine wichtige Einflussgröße für den Fortschritt einer Gesellschaft in dem Prozess des demographischen Übergangs ist. Den Stellenwert von Gesundheit als Indikator von Entwicklung verdeutlicht der Human Development Index (HDI). Der seit 1990 von den Vereinten Nationen für jedes Land in dem jährlich vorgelegten Human Development Report (HDR) berechnete Wert räumt Gesundheit als einer von drei Teilgrößen großes Gewicht ein. Im HDI wird gesellschaftliche Entwicklung durch folgende Komponenten abgebildet: 1. die Möglichkeit ein langes und gesundes Leben zu führen (Messgröße: Lebenserwartung bei Geburt), 2. das Wissensniveau einer Gesellschaft (Messgrößen: Durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs und die erwartete Dauer des Schulbesuchs), sowie 3. den Lebensstandard (Messgröße: Bruttoinlandsprodukt). In dem assoziierten Multidimensional Poverty Index (MPI), der ebenso für den HDR berechnet wird, wird der Gesundheitsstatus über die Kindersterblichkeit und die Ernährungssituation operationalisiert. Gesundheit hat sowohl auf individueller als auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fundamentale Bedeutung. Gesundheit ist Verhaltensdeterminante, befähigende Grundvoraussetzung für Handeln und gleichzeitig Spiegel vergangenen Handelns sowie externer Einflüsse der jeweiligen Lebensumwelt. Krankheit demgegenüber bedeutet eine Einschränkung von Lebensqualität und Handlungsfreiheit und kann – je nach äußeren Faktoren – Individuen oder Haushalten, ihre (Über-)Lebensgrundlage entziehen. Zugang zu (präventiven wie kurativen) Gesundheitsdienstleistungen – als wichtige Einflussgröße von Gesundheit (und Krankheit) – ist aus dieser Perspektive betrachtet ebenfalls ein Problem von gesamtgesellschaftlicher Tragweite. II.3.1 Kulturelle Bewertung von Gesundheit Das allgemein anerkannt hohe Gut Gesundheit ist schwer zu definieren, was zu einem gewissen Teil auch an der unterschiedlichen kulturellen Interpretation liegt. Nicht nur die Interpretation des Gesundheitsbegriffes, sondern auch die Ausgestaltung aller damit zusammenhängenden Bereiche, etwa das Gesundheitssystem, der Umgang mit Krankheit etc. ist soziokulturell determiniert und einem stetigen Wandel ausgesetzt. Obrist (2003) legt dar, dass Gesundheit in nicht-westlichen Kulturen sprachlich häufig mit Begriffen wie Balance, Ordnung oder Glück in Verbindung gebracht wird. Als Beispiele nennt sie Forschungsarbeiten, die sich
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mit humoralen Medizinsystemen verschiedener Kulturen auseinandergesetzt haben. Nach diesem Verständnis von Gesundheit und Krankheit ist es das Ziel, die Körpersäfte in Balance zu bringen. Humorale Medizinsysteme finden sich in Asien, Afrika und Asien in unterschiedlichsten Kulturen. Deren Verständnis des Körpers sowie der Abläufe innerhalb des Körpers unterscheidet sich insofern grundsätzlich von dem westlich geprägten, biomedizinischen Gesundheits- und Krankheitsverständnis, als dass meist eine ganzheitliche Behandlungsphilosophie im Zentrum steht. Wie sehr das Verständnis von Gesundheit und Krankheit das Gesundheitshandeln bestimmen kann, verdeutlichen Gesler/Kearns mit einem Gedankenexperiment: „What if we set up a biomedical health care system, complete with high-tech diagnostic equipment and excellent geographic accessibility to the population it aimed to serve and nobody came? It is doubtful that this would ever really happen, but the question highlights the possibility that the biomedical health culture and the culture of the population to be served might be so incompatible that people would not use the service. In other words, culture matters: what people believe and practise in the realm of disease and its treatment is very important to the overall health of the population“ (Gesler/Kearns 2002: 30).
Diese Überlegung von Gesler/Kearns (1992) macht deutlich, dass sowohl Gesundheit als auch Gesundheitshandeln kulturelle Konstruktion sind. Für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist einerseits das Erkennen von Krankheit Voraussetzung für die Inanspruchnahme, andererseits wird die Akzeptanz eines Medizinsystems ebenfalls durch den eigenen kulturellen Hintergrund geprägt. Neben dem Gesundheitshandeln unterscheiden sich in verschiedenen Kulturräumen auch individuelle Vorstellungen von Gesundheit grundlegend. Hierzu zählt die subjektive gesundheitsbezogene Risikowahrnehmung und letztendlich auch die Wahrnehmung des eigenen Gesundheitsstatus, die gegebenenfalls handlungsmotivierend wirkt (vgl. z.B. Faltermaier/Kühnlein/Burda-Viering 1998). Teilweise treten bestimmte (psychische) Krankheitstypen oder Symptome nur in einzelnen Kulturkreisen auf und sind stark durch die psycho-soziale Lebensrealität des jeweiligen Kulturkreises geprägt. Mit diesen culture bound syndromes beschäftigt sich seit den 1980er Jahren die psychologische und die psychiatrische Forschung (vgl. z.B. Littlewood/Lipsedge 1987). Aus vorgenannten Überlegungen wird deutlich, dass Gesundheit bzw. Krankheit und Gesundheitshandeln komplexe Konstrukte sind, die kulturell geprägt sind und individuell höchst verschieden wahrgenommen werden, wobei die Wahrnehmung durch zahlreiche soziokulturelle Faktoren beeinflusst wird (ethnische Zugehörigkeit, Kaste, Geschlecht, etc.). Eine allgemeingültige Definition von Gesundheit ist daher nahezu unmöglich. Die wohl am häufigsten verwendete Begriffsbestimmung ist die der Weltgesundheitsorganisation, die bereits 1946 aufgestellt und seitdem nur leicht modifiziert wurde: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“17
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Statut der Weltgesundheitsorganisation, online verfügbar unter:
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Es ist ersichtlich, dass hier eine allgemein akzeptable Wortwahl bemüht wurde, die a priori keinem kulturellen Gesundheitsverständnis den Vorzug gibt, allerdings daher auch nahezu überhaupt nicht operationalisierbar ist. Für die damalige Zeit visionär ist allerdings die Verknüpfung von Gesundheit mit den allgemeinen Lebensumständen, die über die reine Abwesenheit von Gebrechen hinausgeht und soziale Komponenten beinhaltet. Aus dem Postulat des vollständigen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens lässt sich allerdings auch der Gedanke destillieren, dass es sich bei diesem Verständnis der abstrakten Größe „Gesundheit“ um einen diskreten Wert handeln muss, da diese Vollständigkeit im Laufe eines menschlichen Lebens wohl recht selten auftritt. Jedoch ist die Abwesenheit vollständiger Gesundheit nicht immer mit Krankheit gleichzusetzen. Dieses Verständnis formulierte Audy (1971 )wie folgt: „Health is a continuing property that can be measured by the individual’s ability to rally from a wide range and considerable amplitude of insults, the insults being chemical, physical, infectious, psychological, and social“ (zitiert nach Meade/Earickson 2002: 3).
Abb. 5 stellt dieses Kontinuum schematisch für Infektionskrankheiten dar.
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Abbildung 5: Kontinuum von Gesundheit und Krankheit
Abschließend soll an dieser Stelle festgehalten werden, dass Gesundheit ein äußerst komplexes sozial-kulturelles Konstrukt ist. Aufgrund der vielschichtigen Einflüsse, der stark subjektiven Bewertungskomponente und der stetigen Veränderbarkeit lässt sich Gesundheit am ehesten als Kontinuum begreifen. Für das Gesundheitshandeln sind gesellschaftliche und subjektive Gesundheitstheorien sowie die subjektive Selbsteinschätzung des Gesundheitsstatus maßgeblich.
www.who.int/governance/eb/who_constitution_en.pdf (letzter Zugriff: 16.5.2009)
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II.3.2 Urbane Gesundheit – Stadt im Zentrum der Gesundheitsforschung Urban health oder urbane Gesundheit rückt von einer public health-Perspektive aus die städtische Bevölkerung und städtische Umwelt in das Zentrum der Gesundheitsforschung. Betrachtungsgegenstand urbaner Gesundheitsforschung sind nicht der Gesundheitsstatus von Individuen, sondern die Gesundheit städtischer Populationen oder Teilpopulationen sowie die besonderen Einflüsse der städtischen Umwelt und des städtischen Lebens bzw. städtischer Lebensstile auf den Gesundheitsstatus. Die Beschäftigung mit Städten aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive ist dabei durchaus nicht neu, allerdings verweisen Galea/Vlahov (2005a) darauf, dass in diesem Themengebiet zuletzt verstärkt durch interdisziplinäre Beiträge neue Ansätze (z.B. Kombination quantitativer und qualitativer Forschungsansätze) hinzugekommen sind und urbane Gesundheit sich zu einem Forschungsgebiet mit lebhaften Diskussionen entwickelt. Von der Antike bis heute wurden städtische Bevölkerungen häufig von Seuchen heimgesucht, die hier bei hoher Bevölkerungsdichte und oftmals mangelhaften hygienischen Verhältnissen günstige Voraussetzungen zur Ausbreitung fanden, oft auch in Folge kriegerischer Auseinandersetzungen, ökonomischer Krisen oder von Naturereignissen. Eine der ersten ausführlichen Schilderungen einer städtischen Pestepidemie stammt von dem griechischen Historiker Thukydides, der in seiner Beschreibung des Krieges zwischen Sparta und Athen im fünften vorchristlichen Jahrhundert schildert, wie die Pest18 Athen heimsuchte (Sonnabend 2004). Auch aus dem römischen Reich sind mehrere Epidemien historisch verbrieft. Hiervon waren vor allem die Städte besonders betroffen. Gründe hierfür waren die hohe Bevölkerungsdichte, die schlechten hygienischen Bedingungen und die Funktion der Städte als Knotenpunkte im Transportsystem. Stadtgesundheit wurde erstmals zur Zeit der Industrialisierung als eigenständiges Thema wahrgenommen. Das schnelle Stadtwachstum, in Verbindung mit einem Mangel an Planung, unkontrollierter Umweltverschmutzung und die systematische Ausbeutung der Arbeiter führte in den europäischen Städten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu katastrophalen Lebensbedingungen, wie Engels sie 1845 in Manchester und anderen englischen Industriestädten beobachtete: „Die großen Städte sind hauptsächlich von Arbeitern bewohnt, […] diese Arbeiter haben selbst durchaus kein Eigentum und leben von dem Arbeitslohn, der fast immer aus der Hand in den Mund geht; die in lauter Atome aufgelöste Gesellschaft kümmert sich nicht um sie, […]; jeder Arbeiter, auch der beste, ist daher stets der Brotlosigkeit, das heißt dem Hungertode ausgesetzt, und viele erliegen ihm; die Wohnungen der Arbeiter sind durchgehends schlecht gruppiert, schlecht gebaut, in schlechtem Zustande gehalten, schlecht ventiliert, feucht und ungesund;...“ (Engels 1845: 304).
In anderem Zusammenhang (Kapitel II.1) wurde bereits die Choleraepidemie in London erwähnt, deren Ausbruch durch die ungesunden Lebensverhältnisse in 18
unklar ist, ob es sich um die Krankheit handelt, die durch das heute als Pesterreger identifizierten Bakterium Yersinia Pestis ausgelöst wird, also die Pest im engeren Sinne gemeint ist oder generell eine Seuche
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den Städten zur Zeit der Industrialisierung begünstigt wurde. Aber auch in den schnell wachsenden Städten Deutschlands herrschten zur Zeit der Industrialisierung katastrophale, gesundheitsschädigende Zustände, deren Auswirkungen Vögele (1994) anhand des aussagekräftigen Gesundheitsindikators der Kindersterblichkeit rekonstruiert. Er weist dabei nach, dass die Kindersterblichkeitsraten in Berlin wesentlich höher waren als in den ländlichen Gebieten Preußens. Neben der hohen „alltäglichen“ gesundheitlichen Belastung der städtischen Bevölkerung blieben auch deutsche Städte von Seuchen nicht verschont. So wurde beispielsweise Hamburg in den Jahren 1830 bis 1892 mehrfach von Choleraepidemien heimgesucht (Evans 1996). Die hohe Morbidität und Mortalität in Städten und der schlechte Gesundheitszustand der städtischen Bevölkerung zur Zeit der Industrialisierung werden ex post entweder als urban graveyard effect oder aber mit dem gebräuchlicheren Begriff urban penalty umschrieben (Vögele 1998). Erst die nachhaltigen Verbesserungen der sanitären Situation in den Städten führten zum Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Absinken der Kindersterblichkeit und zu einer Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Wichtige Maßnahmen waren dabei die Verbesserung der Wasserversorgung, der Brauchwasserentsorgung, Desinfektionsmaßnahmen, die Einführung von Nahrungsmittelkontrollen und eine systematische, analysegestützte Verbesserung der städtischen Umwelt (Vögele 1994, McMichael 2000, Vlahov et al. 2004). In Deutschland sind diese Neuerungen auf dem Gebiet der Stadtgesundheit eng mit der Person des deutschen Arztes, Hygienikers und public health-Wissenschaftlers Virchow verbunden, der beispielsweise als erster flächendeckende Kanalisation in Städten forderte und damit eine Abkehr von der damals üblichen gesammelten Abfuhr von Fäkalien und deren Weiterverwendung als Düngemittel (Hesse 1921). Aus gesamteuropäischer Perspektive war es ein Zusammenschluss von Ärzten und Ingenieuren unter dem Sammelbegriff „Hygieniker“, die insbesondere die Choleraepidemien Ende des 19. Jahrhunderts zum Anlass nahmen, weitgehende und ganzheitliche Reformen städtischer Gesundheit in Angriff zu nehmen (de Hollander/Staatsen 2003). Der Einfluss des städtischen Lebensraumes auf die menschliche Gesundheit war für public health-Forscher verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen zwar in der Folge weiterhin von Interesse, jedoch wurde dem Themengebiet als solches eine immer geringere Aufmerksamkeit zuteil. Das zuletzt erneut gestiegene Interesse an Gesundheit in städtischen Räumen wird in der Literatur häufig mit dem derzeit stattfindenden globalen Urbanisierungsprozess in Verbindung gebracht. Bedingt durch die urbane Wende werden die spezifischen Einflussfaktoren urbanen Lebens für den überwiegenden Teil der Menschen zu Determinanten des Gesundheitszustandes (Vlahov et al. 2004). Positive und negative Einflüsse stehen teils unabhängig nebeneinander, bilden anderenteils aber auch eng verzahnte und komplexe Wirkungsmechanismen, die den Gesundheitszustand von Bevölkerungen auf vielfältige Weise beeinflussen können (Glouberman et al. 2006). Dies führt dazu, dass die heutigen Städte neben den gesündesten gleichzeitig auch die ungesündesten Bevölkerungsgruppen beherber-
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gen, die Spannbreite der Verortung verschiedener urbaner Gruppen auf dem Gesundheitskontinuum (vgl. Abb. 5) verschiedener Gruppen also am höchsten ist. Die positiven Einflüsse der Städte beziehen sich zum einen auf das umfassende Angebot an Gesundheitsinfrastruktur. Die bestausgestatteten Krankenhäuser finden sich in zentralen Orten mit einer entsprechenden Mantelbevölkerung, ähnliches gilt für Fachärzte oder Einrichtungen, die hochtechnisches medizinisches Gerät vorhalten. Auch Teilsysteme des Gesundheitssystems – etwa Rettungsdienstsysteme, deren Behandlungserfolge aufgrund höherer Ressourcenvorhaltung auf kleinerem Raum und damit verbundener verkürzter Eintreffzeit, die bei bestimmten Notfallindikationen überlebenswichtig ist, funktionieren in Städten mit hoher Bevölkerungs- und Verkehrsinfrastrukturdichte tendenziell besser. Gloubermann et al. (2006) verweisen zusätzlich auf das reichhaltigere kulturelle und soziale Leben, das ebenfalls positive Einflüsse auf den Gesundheitszustand haben kann. Barondess (2008) hebt hervor, dass die Rate der Traumata, Depressionen und Suizide in städtischen Gebieten geringer seien als in ländlichen. Moore/ Gould/Keary (2003) stellen dies in den größeren Zusammenhang menschlicher Entwicklung, die aufgrund der herausragenden Stellung von Städten dort am weitesten fortgeschritten ist, ebenso wie dort das meiste Kapital verortet ist. Sie argumentieren, dass besserer Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen weltweit zu einer insgesamt verminderten Kindersterblichkeit in urbanen Räumen führt, wobei die Kindersterblichkeit einzelner gesellschaftlicher Gruppen weit über dem Durchschnitt liegen kann (s. unten stehendes Zitat von Moore et al.). Ebenso wie Gloubermann et al. (2006) verweisen Moore/Gould/Keary jedoch auf die Notwendigkeit, die Gesundheit urbaner Bevölkerungen differenziert zu betrachten und den Gesundheitszustand der mannigfaltigen Teilgruppen urbaner Gesellschaften zu analysieren: „Based on what is known about current urbanization patterns and urban poverty, cities are not necessarily islands of healthy living as traditionally assumed, and health status within cities is not necessarily evenly distributed. Therefore, disaggregated, i.e., ‚intra-urban’, health data presumably would be most useful for understanding urban health problems and ultimately targeting interventions efficiently“ (Moore/Gould/Keary 2003: 271).
Die negativen Gesundheitseinflüsse von Städten unterscheiden sich deutlich zwischen Industrieländern einerseits und Entwicklungs- und Schwellenländern andererseits, wobei Gesellschaftsstruktur, Einkommensverhältnisse, soziale Sicherungssysteme, Stadtplanungs- und Stadtentwicklungsprozesse etc. als wesentliche Einflussfaktoren zu nennen sind. Zahlreiche Arbeiten haben sich beispielsweise mit innerstädtischen Gesundheitsproblemen in US-amerikanischen Städten befasst. Barondess (2008) hält in seinem zusammenfassenden Übersichtsartikel hierzu fest, dass sich in den Innenstädten mit den ärmsten Bevölkerungsschichten auch Gesundheitsprobleme konzentrieren, wozu überproportional hohe HIVInfektionsraten, Drogenabhängigkeit, psychische Erkrankungen und gesteigerte Inzidenzraten von Asthma zählen. Demgegenüber sind es in den schnell wachsenden Metropolen in Schwellen- und Entwicklungsländern vor allem Erkrankungen, die mit der massiven Degradierung der Umwelt einhergehen (Atemwegserkran-
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kungen, vektorbürtige Krankheiten), Erkrankungen, die auf die Überlastung der physischen Infrastruktur zurückzuführen sind (wasserbürtige Erkrankungen aufgrund mangelnder Wasserversorgung, insbesondere marginalisierter Bevölkerungen, sowie steigende Raten von Traumata aufgrund der Verkehrsüberlastung) und fehlender Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen aufgrund der Überlastung sozialer Infrastruktur, insbesondere der staatlichen Gesundheitssysteme (vgl. Krafft 2007), die vor allem den Gesundheitsstatus ärmerer Bevölkerung negativ beeinflussen. Die Autoren Galea und Vlahov haben in mehreren Publikationen19 zum einen eine Definition des Forschungsgegenstandes urban health und zum anderen eine Forschungsagenda für den Bereich der urban health-Forschung dargelegt. Zentrale Anliegen der Autoren sind die Überwindung der tradierten Betrachtungsperspektive „städtische-“ versus „ländliche Gesundheit“ sowie mittels differenzierter, intraurbaner Analysen Stadtgesundheit zu erfassen und zu erklären. Für die Autoren ist urbane Gesundheit ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das sie wie folgt abzugrenzen versuchen: „We consider urban health research to be the explicit investigation of the relation between the urban context and population distribution of health and disease. Urban health, then, concerns itself with the determinants of health and disease in urban areas and with the urban context itself as the exposure of interest“ (Galea/Vlahov 2005a: 342).
Für die Auseinandersetzung mit urbaner Gesundheit schlagen Galea/Vlahov (2005a) drei Hauptkategorien vor, die Gesundheit und Krankheit in Städten wesentlich determinieren: 1. die physische Umwelt in Städten (Baustrukturen, technische Infrastruktur – hier insbesondere Wasserver- und Abwasserentsorgung, Umweltschädigung, Zugang zu Grünflächen, Stadtklima); 2. die soziale Umwelt (soziale Organisation/Desorganisation, soziale Ressourcen, soziale Diffusionsmechanismen von Ideen, räumliche Segregation, Ungleichheit); 3. Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und sozialen Dienstleistungen (Zugangschancen und –barrieren, Ungleichheit in der Inanspruchnahme verschiedener Gruppen). Vlahov et al. (2004) formulieren drei Schlüsselfragen, die sie als Leitfragen für eine Beschäftigung mit urbaner Gesundheit, im Sinne einer Forschungsagenda verstehen: 1. Welche spezifischen Eigenschaften von Städten sind kausal mit Gesundheit verknüpft? 19
Galea und Vlahov haben mit wechselnden Co-Autoren in den letzten Jahren mehrere Artikel (Vlahov/Galea 2002, Vlahov et al. 2004, Galea/Vlahov 2005a, Freudenberg/Galea/Vlahov 2005, Galea/Freudenberg/Vlahov 2005, Vlahov et al. 2005) und einen Sammelband (Galea/Vlahov 2005b) zu dem Themenbereich urbane Gesundheit vorgelegt.
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2. Inwieweit sind diese Eigenschaften ortsspezifisch bzw. auf andere Städte übertragbar? 3. Inwieweit sind die sich hieraus ergebenden, spezifischen Lebensbedingungen in Städten veränderbar? Die Kombination aus der Definition, den drei Hauptkategorien und den drei Leitfragen umreißt den momentanen Fokus der Stadtgesundheitsforschung. Die hier vorliegende Arbeit fügt sich in diese Konzeption ein und versucht, einen Beitrag zur Beantwortung der grundlegenden Fragen in der Kategorie „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ zu leisten, mit speziellem Fokus auf Städte im Entwicklungskontext. Mit der Fragestellung dieser Arbeit wird die Wechselwirkung zwischen der spezifischen Konstellation von Dienstleistern und der spezifischen sozialräumlichen Konstellationen in dem ausgewählten Fallbeispiel, exemplarisch für aufstrebende Megastädten im Entwicklungskontext, in Bezug auf Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den Blick genommen. II.3.3 Urbane Gesundheit im Entwicklungskontext Gould (1998) weist darauf hin, dass in Schwellen- und Entwicklungsländern, die unter dem Einfluss von Kolonialmächten standen, durch die Kolonialherren – meist im eigenen Interesse – eine umfängliche Gesundheitsinfrastruktur in Städten geschaffen wurde. Indien stellte hiervon keine Ausnahme dar (vgl. Kapitel V.1). Ländliche Gebiete wurden demgegenüber weitestgehend ignoriert, was zu signifikanten Unterschieden des Gesundheitsniveaus ländlicher und städtischer Bevölkerungen führte, so dass hier von einer urban penalty nicht die Rede sein konnte. Traditionell war die Gesundheitspolitik in diesen Ländern daher nach der Unabhängigkeit darauf ausgerichtet, diese Ungleichheiten abzubauen. Im Zuge des massiven Urbanisierungsprozesses, den die Länder Afrikas und Asiens derzeit durchlaufen, besteht ein wachsender Bedarf an Investitionen in städtische Gesundheitsinfrastrukturen, da die vorhandenen Strukturen dem rapiden Bevölkerungswachstum (vgl. Kapitel II.2) nicht mehr gewachsen sind. Dieser Paradigmenwechsel hat aber in den Gesundheitspolitiken der Schwellen- und Entwicklungsländer häufig noch nicht stattgefunden, so dass Gould konstatiert: „Without urgent and substantial commitment to urban improvement – in the public domain and in the domestic domain, and by international donors and agencies as well as by national governments – there really might then be a serious threat of an ‚urban penalty‘...“ (Gould 1998: 179).
Diese new urban penalty ist dabei in gewisser Weise eine Wiederholung dessen, was sich in Europas Städten während der Industrialisierung abspielte, mit dem Unterschied, dass zwar das Wissen um Gegenmaßnahmen, Krankheitsursachen etc. erheblich weiterentwickelt wurde, dieses jedoch nicht zur Anwendung kommt. Die Parallelen zu Engels oben zitierter Beschreibung der englischen Städte zur Zeit der industriellen Revolution sind frappierend. Ebenso wie zur Zeit der
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Industrialisierung in Europa wachsen die Metropolen der Schwellen- und Entwicklungsländer unreguliert, oft forciert von privatwirtschaftlichen Investoren, während der öffentliche Sektor nur mit einer nachholenden Planung reagieren kann. Ebenso ist – ähnlich Engels’ Beschreibung einer „Atomisierung der Gesellschaft“ (s.o.) – eine gesellschaftliche Fragmentierung (vgl. Kapitel II.2) und eine systematische Ausbeutung von Arbeitskräften zu beobachten. Trotz vorhandener Parallelen scheint es aufgrund der unterschiedlichen Genese, des raum-zeitlichen Versatzes, des erweiterten Wissensstandes und der heute höheren Zahl von Betroffenen sinnvoll, diese Unterscheidung zwischen der urban penalty und der new urban penalty zu treffen (Krafft/Wolf/Aggarwal 2003). Insbesondere die Armutsbevölkerung in urbanen Zentren leidet heute unter einer doppelten Krankheitslast, da einerseits aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen alte – vorrangig wasserbürtige – sowie neu auftretende Infektionskrankheiten (wie etwa AIDS oder SARS) hohe Inzidenzen aufweisen, andererseits durch Änderungen des Lebensstils und eine gesteigerte Lebenserwartung eine erhöhte Prävalenz chronischer Erkrankungen zu beobachten ist (vgl. McMichael 2000 sowie Krafft/Wolff/Aggarwal 2003). Die städtischen Armutsgruppen sind der doppelten Krankheitslast deshalb in besonderem Maße ausgesetzt, weil sie teilweise bereits ungesunde Lebens- und Ernährungsweisen übernommen haben (z.B. Fast Food), gleichzeitig aber noch unter der Last hoher Infektionskrankheiten leiden, da in ihrer Lebensumwelt nach wie vor ein Mangel an sanitären Einrichtungen zu beobachten und Zugang zu sauberem Trinkwasser meist nicht gegeben is. Darüber hinaus tragen Faktoren, wie die Überbelegung von Wohnraum, ebenso zu einer Verbreitung von Krankheiten bei, wie die Gestaltung des Wohnraumes. Neben direkten gesundheitlichen Belastungen (z.B. Innenraum-Luftverschmutzung durch Holzfeuer, vgl. Smith 2000) führt dies zu einer permanenten Stressbelastung, mit Folgen für die psychische Gesundheit und das Immunsystem (vgl. Sclar/Garau/Carolini 2005). Campbell/Campbell (2007) betonen ebenfalls die doppelte Krankheitslast städtischer Armutsbevölkerung. Ihrer Ansicht nach sind die bestehenden öffentlichen Gesundheitsprogramme der Städte im Entwicklungskontext zu sehr auf alte Infektionskrankheiten fokussiert. Neuauftretende Erkrankungen, zu denen sie Verletzungen, Übergewicht und Gesundheitsbelastungen durch Traumata in Zusammenhang mit der Siedlungsnahme durch squatter in Risikogebieten (Hangrutschungen, Überschwemmungen, mangelnde Erdbebensicherheit etc.) zählen, seien bisher nur unzureichend berücksichtigt worden. Auch im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel ist mit einer weiteren Zunahme der Krankheitslast durch Hitzewellen, Luftverschmutzung, Meeresspiegelanstieg (in Küstenstädten), veränderte Verbreitungsmuster und das Neuauftreten von Infektionskrankheiten in den Metropolen in Entwicklungsländern zu rechnen (Campbell-Lendrum/ Coravalan 2007). Dies führt einerseits zu einer Zunahme intraurbaner Gesundheitsungerechtigkeit, andererseits zu wachsender Ungerechtigkeit im globalen Kontext. Aufgrund der neuen Dimensionen urbanen Wachstums in aufstrebenden Megastädten in Schwellen- und Entwicklungsländern treten Überlastungserscheinun-
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gen besonders deutlich zu Tage. Bohle (2005) bezeichnet dies als die Megapolisierung von Krankheit. Bereits 1996 befasste sich Horton in einem Artikel im Lancet mit den Gesundheitsfolgen der raschen globalen Urbanisierung, insbesondere dem Phänomen der Metropolisierung. Sein alarmierendes Fazit lautete damals: „Unparalleled interdisciplinary cooperation and long-term governmental perspective are needed if we are to prevent the grand metropolis from becoming a sick and diseased necropolis“ (Horton 1996: 135).
Auch Yusuf/Nabeshima/Ha (2007), die für die World Bank das Thema Stadtgesundheit erörtern, sehen für die Zukunft extreme Herausforderungen für die Entscheidungsträger in den Städten der Schwellen- und Entwicklungsländer. Ihrer Auffassung nach führt die Konzentration von Armut und das Wachstum der Slums zu einem Anwachsen gesundheitlicher Ungerechtigkeiten in Städten in Entwicklungsländern. Einkommensschwache Gruppen leiden hier nach Yusuf/Nabeshima/Ha (2007) von Geburt an bis ins hohe Alter in aller Regel unter einem schlechteren Gesundheitszustand, wobei die Autoren als Hauptgründe einen Wirkungskomplex aus geringem Einkommen, niedrigem Bildungsgrad, räumlicher Segregation und Unterernährung ansehen. Auf Grundlage der antizipierten Entwicklung, der identifizierten Trends und unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer umfangreichen Literaturanalyse entwickeln die Autoren mehrere Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Stadtgesundheit im Entwicklungskontext: Den erfolgversprechendsten Ansatz zur Verbesserung der urbanen Gesundheit sehen die Autoren in einem Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens. Hierdurch würden durch Armut induzierte Erkrankungen bekämpft und gleichzeitig die Lage der öffentlichen Haushalte verbessert, so dass mehr Investitionsspielraum für die öffentliche Hand im Bereich der öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur entstehe. Die Armutsbekämpfung kann aber nur als langfristige Strategie verfolgt werden, weshalb die Autoren, unter Bezugnahme auf die durchgeführte Literaturanalyse vier zentrale Ankerpunkte einer umfassenden, mittelfristigen Strategie zur Reduzierung gesundheitlicher Ungerechtigkeit und zur Verbesserung von Stadtgesundheit entwickeln: 1. 2. 3. 4.
die Verbesserung der Wasserver-/Abwasserentsorgung, die Etablierung einer effizienten Bauleit- und Verkehrsplanung, die Schaffung einer effektiven primären Gesundheitsversorgung, die gesellschaftliche Verankerung gesundheitlicher Aufklärung mit Schwerpunktprogrammen in den Bereichen von Ernährung und lebensstilbezogenen Krankheiten.
Nach Überzeugung der Autoren wäre der mittelbare Effekt dieser Maßnahmen im Vergleich zum Nutzen von gleich hohen Investitionen in technische und pharmazeutische Neuerungen im Bereich kurativer Gesundheitsversorgung ungleich größer.
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Eine ähnliche Problemanalyse legen Sclar/Garau/Carolini (2005) vor, die verschiedene negative Wirkungsketten im Kontext von Armut und städtischer Umweltdegradation im Zusammenwirken mit den Überlastungserscheinungen in den schnell wachsenden Städten in Schwellen- und Entwicklungsländern diskutieren. Sie verweisen auf die massive Zunahme vektorbürtiger Erkrankungen in den letzten Jahren, insbesondere in städtischen Bereichen, verursacht vor allem durch mangelhafte Wasserentsorgung. Weiterhin heben die Autoren die massive Benachteiligung von Frauen in den städtischen Armutsmilieus hervor. Auch sie sehen einen dringenden Handlungsbedarf zur Verbesserung (mega)urbaner Gesundheit im Entwicklungskontext: „If we neglect the environmental and urban causes of the growing health burden on the urban poor, national governments and global society in general will simply accumulate a massive ‚health debt’. This will be far more expensive to pay off, if possible at all, three decades from now through conventional curative methods than it would be to prevent the problems now through housing, water, sanitation, and public health interventions that we know will permit us to avoid them“ (Sclar/Garau/Carolini 2005: 901).
Urbane Gesundheit im Entwicklungskontext stellt Wissenschaftler und Praktiker somit vor zwar nicht ganz neue, jedoch in ihrer Dimension bisher ungekannte Herausforderungen. Vor allem das Übergangsstadium städtischer Armutsbevölkerung im epidemiologischen Wandel (vgl. Omran 1971, Martens 2002) mit der aktuell doppelten Bürde von Infektionserkrankungen und chronischen Erkrankungen stellt eine neue, besondere Situation dar. In dieser Arbeit soll daher ein Konzept vorgestellt werden, mit dem der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, insbesondere in den neuen, megaurbanen Problemräumen differenziert analysiert werden kann. Der Analyserahmen, der in Kapitel IV vorgestellt wird, soll der Generierung von Entscheidungsgrundlagen für differenzierte Handlungsoptionen zur Verbesserung megaurbaner Gesundheit dienen. In dem folgenden Kapitel wird der Stand der Forschung im Bereich Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dargelegt, wobei zunächst etablierte interdisziplinäre Konzepte vorgestellt werden und anschließend auf geographische Ansätze eingegangen wird.
III ENTWICKLUNGEN AUF DEM GEBIET DER ZUGANGSFORSCHUNG Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist ein zentraler Forschungsbereich der interdisziplinären Gesundheitsforschung. Er behandelt Fragen der Organisation und der Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen sowie deren Inanspruchnahme. Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen determiniert auf individueller und gesellschaftlicher Ebene den Gesundheitsstatus grundlegend. Die Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen hat – abgesehen von wenigen Ausnahmen – einen positiven, den Gesundheitszustand verbessernden Einfluss. Dies gilt nicht nur für kurative, sondern auch für präventive und pflegerische Dienstleistungen. Nicht allein die Inanspruchnahme eines Hausarzt, eines Facharztes, ein Krankenhausaufenthalt oder die Intervention von Notfallmedizinern im akuten Krankheitsfall wirken sich positiv auf den Gesundheitszustand aus. Auch präventive Maßnahmen, wie Impfungen, oder pflegerische Maßnahmen, wie die Betreuung Pflegebedürftiger, tragen zu einer Verbesserung des Gesundheitsstatus bei. Die Commisssion on Social Determinants of Health der Weltgesundheitsorganisation stellt in diesem Zusammenhang fest: „Access to and utilization of health care is vital to good and equitable health“ (Commission on Social Determinants of Health (2008: 8)). Insbesondere für die Bevölkerung als Nachfrager stellt der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen eines der wichtigsten Kriterien für die Bewertung von Gesundheitssystemen dar (SVR 2007). Zugangsprobleme sind dabei recht unterschiedlicher Natur. Gulliford/Figueroa-Munoz/Morgan (2003) schreiben, dass in Entwicklungsländern die mangelnde Verfügbarkeit grundlegender Basisinfrastruktur den Zugang limitiert. In den Industrieländern sei dagegen relevant, wie sich das Angebotsspektrum medizinischer Leistung darstellt, wie schnell Leistungen verfügbar seien oder ob es gerechte Zugangsbedingungen gebe. Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen wird häufig in Verbindung mit normativen Debatten in Bezug auf die Ausgestaltung von Gesundheitssystemen thematisiert. Ohne den Anspruch zu erheben, diese Diskussion hier in Gänze und umfassend wiedergeben zu können, sollen einige Grundüberlegungen an dieser Stelle skizziert werden, da Gleichheit bzw. Gerechtigkeit vielfach als zentrales Zielerreichungskriterium von Gesundheitspolitiken angegeben wird. Im nordamerikanischen und angelsächsischen Raum sind für die Diskussion normativer Ziele die Begriffe equity und equality und ihre Operationalisierung wesentlich. Beide Begriffe ließen sich mit „Gleichheit“ ins Deutsche übertragen, jedoch sind die Konnotationen unterschiedlich. Equity meint Gleichheit im Sinne eines gerechten oder fairen Umgangs (normativer Anspruch), während equality eine Gleichheit im Sinne der absoluten Gleichbehandlung und vor allem einer gleichen Zielerreichung meint, die unabhängig von sonstigen Voraussetzungen jedem gleiche Anspruchsrechte einräumt (empirischer Anspruch). Lawrence führt hierzu aus:
Entwicklungen auf dem Gebiet der Zugangsforschung
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„The distinction between equality and equity is important because equality means equal circumstances, treatment, and outcomes for all, whereas equity recognizes social differences and seeks to establish whether these differences are fair and just“ (Lawrence 2002: 489).
Im Folgenden werden als deutsche Übersetzungen der Begriffe die Worte „gerecht“ für equitable bzw. „Gerechtigkeit“ für equity und „gleich“ für equal bzw. „Gleichheit“ für equality genutzt. In der Literatur besteht ein breiter Konsens darüber, dass das Ziel von Gesundheitspolitik nicht Gleichheit sein sollte, sondern das Anstreben von Gerechtigkeit (Le Grand 1987, Cuyler/Wgastaff 1993, Waters 2000, Whitehead 1991). Murray/Frenk definieren Gerechtigkeit in Abgrenzung zu Ungleichheit als übergeordnetes Ziel zur Bewertung von Gesundheitssystemen und damit als Zielgröße, nicht als Messgröße: „The fairness of the distributions of health, responsiveness and financial burden are the key components of the equity of the health system. As with quality, equity of the health system is a subset of overall goal attainment and not a performance measure. Our conception of the equity of the health system is broader than simply health inequalities ...“ (Murray/Frenk 1999: 9).
Whitehead (1991) führt allgemeiner aus, dass gesundheitliche Ungleichheit einerseits aus unveränderlichen Faktoren resultieren kann – so ist etwa der Gesundheitszustand durch das Alter determiniert oder wird durch selbst gewähltes Risikoverhalten negativ beeinflusst – andererseits aus veränderbaren Faktoren – etwa unterschiedlicher Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen. Als ungerecht können ihrer Auffassung nach nur Bedingungen in Dimensionen angesprochen werden, die veränderbar sind. Das Ziel von Gesundheitspolitiken kann nicht sein, über alle Altersklassen einen gleichen Gesundheitszustand im Sinne der Definition der WHO (vgl. Kapitel II.3.1) zu erreichen. Die Verbesserung der Lebensbedingungen im Allgemeinen und der Abbau von Zugangsbarrieren im Gesundheitswesen sind aber Schritte, um einen gerechten Gesundheitszustand zu gewährleisten. Die Definition von Gesundheitsgerechtigkeit, die Whitehead (1991) vorschlägt, beinhaltet drei Aspekte: 1) gleicher Zugang zu verfügbaren Leistungen bei gleichem Bedarf, 2) gleiche Inanspruchnahme bei gleichem Bedarf und 3) gleiche Versorgungsqualität für alle. Gleicher Zugang zu und gleiche Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen sind ihrer Auffassung nach Kriterien für Gerechtigkeit. Diese wird weiter als gleiches Anspruchsrecht auf Behandlung für alle definiert. Grundlage hierfür ist eine faire Verteilung von Leistungserbringern, basierend auf dem Bedarf und unter Berücksichtigung von Reisezeiten sowie die Beseitigung anderer Zugangsbarrieren (Diskriminierung/organisatorische Zugangshemmnisse). Auch andere Autoren sehen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen als zentrales Feld in der Debatte um Gerechtigkeit im Gesundheitswesen an (z.B. Le Grand 1987, Cuyler/Wgastaff 1993, Waters 2000, Gullidford 2003). Die Schaffung gerechten Zugangs ist ein normatives Ziel von Gesundheitspolitiken, nicht nur in Ländern mit mittleren und hohen Einkommen (vgl. Kapitel V.1). Gerechter
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Zugang wird mit der Chance gleichgesetzt, die eigene Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern. Marckmann führt aus: „Ein gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung und eine gerechte Verteilung knapper medizinischer Ressourcen kann […] als Grundbedingung für die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft angesehen werden“ (Marckmann 2008: 889).
Gerechter Zugang wird häufig als Kenngröße zur Bewertung von Gesundheitssystemen gewählt (etwa Ricketts/Goldsmith 2005, Obrist et al. 2007, Härtel 2009). Trotz der Wichtigkeit von Zugang als Determinante von Gesundheit und als Indikator für die Systemevaluation gibt es weder eine einheitliche Definition des Begriffs „Zugang“, noch eine einheitliche Operationalisierung. In der deutschsprachigen Literatur finden sich kaum konzeptionelle Arbeiten, die sich mit Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen befassen. Härtel weist darauf hin, dass für die Erforschung von Ungerechtigkeit in Bezug auf Gesundheit, worunter er auch Zugangsfragen subsumiert, die im englischsprachigen Sprachraum entwickelten Konzepte grundlegend sind: „Selbst wenn die Verhältnisse in den USA oder anderen Ländern Europas nicht auf die BRD zu übertragen sind, sind die analytischen Konzepte zur Systematisierung der Forschung auch für uns hilfreich“ (Härtel 2009: 63).
So wird auch in der deutschsprachigen Literatur im Wesentlichen auf die beiden grundlegenden Arbeiten von Aday/Andersen (1974) und Penchansky/Thomas (1981) verwiesen (etwa Thode et al. 2005). Ein Grund für die relativ geringe eigenständige Beschäftigung mit dem Thema im deutschen Sprachraum mag die – zumindest gefühlte – geringe Relevanz von Zugangsproblemen im deutschen Gesundheitssystem sein, wie folgendes Zitat von Rosenbrock verdeutlicht: „Was den Zugang zur Krankenversorgung angeht, finden wir in Deutschland dank der solidarisch finanzierten Gesetzlichen Krankenversicherung vergleichsweise sehr gute Voraussetzungen. Der undiskriminierte Zugang zur Krankenversorgung ist ein sehr hohes zivilisatorisches Gut und intuitiv stark mit der Vorstellung von Gerechtigkeit im Sinne von Nothilfe (rule of rescue) verbunden. Nur ein paar Handvoll Länder auf der Erde sind dem Ziel so nahe, dass jeder Mensch ohne Rücksicht auf sein Einkommen und seine gesellschaftliche Stellung jederzeit Zugang zu einer vollständigen Krankenversorgung von guter Qualität hat“ (Rosenbrock 2007: 649).
Zugang wird in Deutschland daher häufig unter rein räumlichen Aspekten betrachtet, wobei die Anzahl von Gesundheitsdienstleistern in einem bestimmten Gebiet als ausreichendes Kriterium für Zugang angenommen wird. Kortevoß argumentiert gegen diese vereinfachende Sichtweise: „Die grundsätzliche Herausforderung für die Planung von Gesundheitsinfrastruktur besteht dabei in der Herstellung gleichwertiger Zugangsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen. Schon aufgrund der bestehenden räumlichen Disparitäten (städtisch und zentral vs. ländlich und peripher) ist Inhalt der Infrastrukturplanung auch eine Berücksichtigung regionaler Unterschiede bei der Ausstattung mit Einrichtungen sowie dem Bedarf an entsprechenden Leistungen“ (Kortevoß 2005: 1).
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Die einleitend erwähnte Notwendigkeit der interdisziplinären Betrachtung beruht darauf, dass Zugang durch verschiedenste Faktoren beeinflusst wird. Hierzu gehören einerseits die erwähnten räumlichen Verteilungen als leicht messbare Größe, andererseits aber auch relativ schwer operationalisierbare „weiche“ Faktoren wie beispielsweise „Vertrauen“. Sowohl die Schwierigkeiten der disziplinübergreifenden Kommunikation als auch die Vielzahl der Einflussfaktoren und die komplexe Natur von Zugang stellen dabei eine Herausforderung für die beteiligten Wissenschaften dar. Hierzu führen Khan/Bhardwaj aus: „The perspective of a medical sociologist and a medical geographer, for example, may vary considerably with respect to the access to health care problem, the former emphasizing the social and the latter stressing the spatial dimension of access“ (Khan/Bardwaj 1994: 62).
Hinsichtlich des zweiten Punktes, der Komplexität, haben sich seit den 1970er Jahren zwei Hauptkonzepte von Zugang etabliert. In diesen wird Zugang vollkommen unterschiedlich konzeptionalisiert. Einen Übersichtsartikel über die beiden zentralen Grundkonzeptionen sowie die hierauf aufbauenden Forschungsarbeiten überschreiben Ricketts/Goldsmith (2005) mit The Battle of Frameworks, um das Trennende der beiden Ansätze zu betonen. Die auch heute noch für viele Arbeiten grundlegenden Konzepte wurden von Aday/Andersen (1974) bzw. Penchansky/Thomas (1981) entwickelt. Diese sollen in der Folge kurz vorgestellt werden, ebenso wie zwei neuere Konzepte, die auf diesen beiden ursprünglichen aufbauen. Abschließend wird ein kurzer Überblick über die Beschäftigung mit Zugang aus geographischer bzw. nachbarwissenschaftlicher Perspektive zu geben. Hierauf aufbauend wird in dem nächsten Kapitel eine eigene Konzeptionalisierung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen vorgestellt. III.1 ADAY UND ANDERSENS MODELL: ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN IM SPANNUNGSFELD VON NUTZERN, SYSTEM UND POLITIK In einer Reihe von Aufsätzen20 haben Aday/Andersen ein Konzept vorgestellt, operationalisiert und weiterentwickelt, das einen Analyserahmen für den Zugang zu medizinischen Dienstleistungen bereitstellt. In ihrem ersten gemeinsamen Aufsatz von 1974 nennen die Autoren als Ziel ihrer Arbeit, die abstrakte Größe Zugang mit einer Bedeutung zu belegen und messbar zu machen. Ihre Motivation stammte daher, dass im politischen Diskurs in den USA in den 1970er Jahren Zugang als Zielgröße in einer Reihe von Gesundheitsprogrammen postuliert wurde, ohne diese entsprechend zu operationalisieren: „Thus far, access has been an expressed or at least implicit goal of health policy, but few attempts have been made to provide systematic conceptual or empirical definitions of access 20
grundlegend: Aday/Andersen 1974, weiterführend: Aday/Andersen/Fleming 1980, Andersen et al. 1983, Andersen 1995
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Entwicklungen auf dem Gebiet der Zugangsforschung that would permit policy makers and consumers to actually monitor the effectiveness of various programs in meeting that goal“ (Aday/Andersen 1974: 208).
Im Wesentlichen entwickeln die Autoren einen Analyserahmen (Abb. 6), bei dem der Einfluss der Gesundheitspolitik auf die Bevölkerung und die Gesundheitsdienstleister (Eingangsgrößen) und letztendlich auf die tatsächliche Nutzung und Zufriedenheit der Nutzer (Zielgrößen) untersucht wird. Gesundheitspolitiken sind (dem Grundanliegen der Autoren entsprechend) der Ausgangspunkt der Betrachtung: Über eine Reorganisation von Finanzierungsmechanismen, Personal und Strukturen kann Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen beeinflusst werden. Einzelne Programme bzw. die Gesundheitspolitik in Gänze beeinflussen das System der Leistungserbringer ebenso wie den Gesundheitszustand der Bevölkerung in dem jeweiligen Betrachtungsraum (Risikobevölkerung) als potentielle Nutzer. Im englischen Original wird anstelle des Begriffs health care system (Gesundheitssystem) der Begriff health delivery system (etwa Gesundheitsbereitstellungssystem) verwendet. Hiermit werden explizit die Leistungserbringer in den Blick genommen. Im Folgenden wird dementsprechend die Übersetzung „System von Gesundheitsdienstleistern“ verwendet. Dieses System wird nach Aday/Andersen im Wesentlichen durch zwei Elemente (im Original elements) charakterisiert: Ressourcen und Organisation. Ressourcen beinhalten die Faktoren Arbeit und Kapital, die für die Gesundheitsversorgung und -erziehung eingesetzt werden. Die Anzahl und die räumliche Verteilung von Gesundheitsdienstleistern werden als relevante Komponenten (im Original components) dieses Elements genannt. Die Organisation beschreibt, wie die Ressourcen eingesetzt werden. Als entscheidende Komponenten dieses Elements nennen sie die Inanspruchnahme (und hiermit verbundene Größen Anreisedauer, Wartezeit etc.) und die Strukturen (Patientenströme innerhalb des Systems nach Erstinanspruchnahme) (vgl. Abb. 6). Mögliche Analyseebenen der Eingangsgröße System der Gesundheitsdienstleister wären nach Aday/Andersen entweder das Gesamtsystem oder einzelne Organisationen (etwa einzelne Health Maintainance Organisations), nicht aber individuelle Gesundheitsdienstleister. Als Elemente der Eingangsgröße Risikobevölkerung werden die prädisponierenden Charakteristika, die befähigenden Ressourcen sowie der Bedarf der Bevölkerung nach Gesundheitsdienstleistungen eingeführt. Hierbei wird das Prädisponierende (Alter, Geschlecht, aber auch gesellschaftliche Werte bezüglich Gesundheit und Krankheit) und das Befähigende (Einkommen, Krankenversicherung) jeweils weiter in die Komponenten veränderbar und unveränderbar untergliedert. Unter Bedarf (im Original need) subsumieren die Autoren die Komponenten wahrgenommene und medizinisch evaluierte Erkrankung (vgl. Abb. 6). Diese stellen alternative Betrachtungsgrößen dar: „The need component refers to illness level, which is the most immediate cause of health service use. The need for care may be either that perceived by the individual or that evaluated by the delivery system“ (Aday/Andersen 1974: 213).
Dies stellt eine logische Inkonsistenz dieses Analyserahmens dar, weil bei allen anderen Komponenten die Unterteilung komplementär ist.
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Als Analyseebene für die Risikobevölkerung schlagen die Autoren den Haushalt oder das Individuum vor. Weiterhin legen die Autoren die implizite Annahme zu Grunde, dass der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen nicht nur aufgrund von Merkmalen der Risikobevölkerung, die durch die Gesundheitspolitik nicht veränderbar sind (Alter, Geschlecht, Wohnort), variiert, sondern auch aufgrund veränderbarer Merkmale (etwa Versicherungsschutz), die durch Gesundheitspolitik beeinflussbar sind. Nach Aday/Andersen (1974) ist die tatsächliche Nutzung von Dienstleistungen ein möglicher Ansatz, um Zugang zu messen. Hierdurch wird der Einfluss der Charakteristika der Risikobevölkerung und der Charakteristika des Systems der Gesundheitsdienstleister auf die Inanspruchnahme bzw. nicht erfolgte Inanspruchnahme erfasst. In diesem Zusammenhang ist relevant, welche Arten von Dienstleistern (Apotheken, Hausärzte, Spezialisten, Krankenhäuser etc.), aus welchem Anlass (präventiv, kurativ, pflegerisch), wie häufig und über welchen Zeitraum kontaktiert wurden. Eine zweite Möglichkeit stellt die Messung der Nutzerzufriedenheit dar. Hierdurch ist eine Bewertung der Einstellungen der Risikobevölkerung gegenüber dem System medizinischer Dienstleister möglich. Neben der Messung von Verfügbarkeit, Ausstattung und Verteilung, als statistische Daten, können so tatsächliche Erfahrungen im Zuge vergangener Inanspruchnahmen berücksichtigt werden. Die Autoren schlagen vor, anhand einzelner zurückliegender Krankheitsepisoden zu ermitteln, ob die Behandlung als angemessen und finanziell tragbar empfunden wird, die Behandlung freundlich und koordiniert erfolgt, inwieweit über Krankheitsverlauf und Behandlungsoptionen informiert wird und letztendlich wie die Qualität der Behandlung durch den Laien eingeschätzt wird.
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Das Schema in Abb. 6 zeigt weiterhin zwischen den Elementen bestehende einseitige und wechselseitige Kausalbeziehungen. Als Indikatoren von Zugang schlagen die Autoren sowohl Prozess- als auch Ergebnisindikatoren vor. Die Prozessindikatoren beziehen sich auf die Charakteristika des Systems der Gesundheitsdienstleister und der Risikobevölkerung, wobei vorgeschlagen wird, sich auf kurzfristig veränderbare Faktoren zu konzentrieren, da diese durch Gesundheitspolitiken am besten beeinflussbar seien. In ihrem Aufsatz nennen die Autoren einige Indikatoren, wie z.B. die Anzahl von Allgemeinmedizinern, Fachärzten, Krankenhausbetten etc. in einem definierten Gebiet, die Darstellung der Zugangsmöglichkeit nach Art und Zahl sowie die zeitliche Verfügbarkeit von Einrichtungen bzw. Dienstleistern. Analog werden für die Darstellung der Risikobevölkerung als Datengrundlage neben der demographischen Struktur und der räumlichen Verteilung auch Indikatoren zur Messung von Gesundheitsvorstellungen sowie dem wahrgenommenem bzw. evaluiertem Gesundheitszustand vorgeschlagen. Demgegenüber werden Ergebnisindikatoren genannt, welche die Wirkung von Gesundheitspolitiken auf den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen darstellen sollen. Hierfür werden „objektive“ (das Maß der tatsächlichen Nutzung) und „subjektive“ (das Maß der Nutzerzufriedenheit) Indikatoren genannt. Kennzahlen für die Nutzung sollen erfassen, welche Arten von Dienstleistern aus welchen Anlässen über welchen Zeitraum in Anspruch genommen wurden. Die Zufriedenheit der Nutzer kann nach Aday/Andersen (1974) mit speziellen Befragungen zu den oben genannten Komponenten erfasst werden, wobei sie vorschlagen, auch gezielt nach den Gründen für eine nicht realisierte Inanspruchnahme bei früheren Episoden zu fragen. In der abschließenden Diskussion ihres Analyserahmens halten die Autoren fest, dass dieser entworfen wurde, um den Einfluss von Gesundheitspolitiken auf Leistungserbringer und die Risikobevölkerung bzw. die Zufriedenheit der Nutzer sowie die tatsächliche Nutzung zu messen. Als ein wichtiges Merkmal ihres Ansatzes stellen sie heraus, dass nicht alleine finanzielle, sondern auch organisatorische Aspekte von Zugang in die Bewertung einfließen. Der von den Autoren entwickelte und in dem Aufsatz von 1974 vorgestellte Analyserahmen war in vielerlei Hinsicht bahnbrechend. Dies wird auch dadurch deutlich, dass dieser auch heute noch vielfach zitiert und als konzeptionelle Grundlage von Studien angeführt wird. Nichts desto weniger sollen auch einige Kritikpunkte genannt werden und die Limitierungen für die Übertragbarkeit auf den Untersuchungskontext dieser Studie aufgezeigt werden. Als ein wesentlicher Kritikpunkt ist hervorzuheben, dass die Autoren keine eigene Definition von Zugang entwickeln. Somit ist Zugang zwar Gegenstand des Konzepts, wird aber inhaltlich nicht greifbar, so dass die Autoren ihrem, in dem Eingangszitat wiedergegebenen Anspruch nicht gerecht werden. Während Andersen/Newman (1973) Zugang noch umständlich als "die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um medizinische Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen" (eigene Übersetzung) bzw. die hierfür zu überwindenden Barrieren definieren, ziehen sich Aday/Andersen auf eine noch allgemeinere Definition von Dona-
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bedian (1972, zitiert nach Aday/Andersen) zurück: „The proof of access is use of service, not simply the presence of a facility“ (Aday/Andersen 1974: 219). Allerdings bleibt auch hierbei unklar, was Zugang letztendlich konstituiert, da Zugang vereinfachend mit Inanspruchnahme gleichgesetzt wird, ohne dass die in dem Aufsatz erwähnten Elemente und Komponenten angesprochen werden. Die von den Autoren abschließend zitierte Definition bleibt somit vage. Die Autoren zeigen verschiedene Optionen auf, um Zugang zu messen. Hierbei werden vereinzelt konkrete Indikatoren genannt, jedoch nur zum Teil auf potentielle Methoden verwiesen. Auch wenn durch die Nennung der Indikatoren der Zugangsbegriff zwar weiter umrissen wird, trägt dies nicht zu einer stimmigen Begriffsklärung bei. Auch hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeiten treten Unstimmigkeiten zu Tage. So ist anzumerken, dass die Begrifflichkeiten, mit denen die fünf Elemente der zentralen Abbildung (vgl. Abb. 6) überschrieben sind, ebenso wie die jeweiligen Unterpunkte, weder einheitlich benannt werden, noch dass ein Bezug zu einem übergeordneten Ordnungsschema deutlich wird. Abschließend ist festzuhalten, dass es sich bei dem vorliegenden Analyserahmen in dieser Form und mit den hierin dargestellten Beeinflussungszusammenhängen lediglich um ein Instrument zur Folgeabschätzung von Gesundheitspolitiken handelt. Der Anspruch, allgemein Zugang zu erklären und zu messen, wird hier nicht erfüllt. Insbesondere aufgrund des letztgenannten Punktes ist dieses Konzept als Ganzes für den konkreten Untersuchungszusammenhang ungeeignet. Ein weiterer Grund ist, dass die Autoren implizit von einem relativ regulierten und homogenen Gesundheitssystem (System von Gesundheitsdienstleistern) auszugehen scheinen, was für die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer nicht zutrifft. Auch die Verwendung rein quantitativer Indikatoren macht die Übertragbarkeit auf den konkreten Untersuchungskontext faktisch unmöglich, weil viele der hierfür benötigten Daten nicht verfügbar sind. Zudem sind Einflussfaktoren, die sich nicht im Kontinuum des biomedizinisch-technischen Verständnisses verorten lassen, mit diesem Konzept nicht abbildbar. Gleichwohl beinhaltet das Konzept von Aday/Andersen wichtige Faktoren, die in die Messung von Zugang einzubeziehen sind. Diese können ebenso wie andere Anregungen allgemeiner Natur für eine eigene Konzeption von Zugang übernommen werden. III.2 DER ANSATZ VON KHAN UND BHARDWAJ ALS WEITERENTWICKLUNG DES MODELLS VON ADAY UND ANDERSEN Frühere Arbeiten kritisch als unzureichend bezeichnend, stellen die Geographen Khan/Bhardwaj (1994) ein Konzept von Zugang vor, das einerseits eine Weiterentwicklung des Konzepts von Aday/Andersen (1974) darstellt, andererseits Zugang in mehrere Bedeutungsdimensionen „atomisiert“ (Khan/Bhardwaj 1994: 69). Sie skizzieren in ihrem Aufsatz einen Analyserahmen, der aus zwei Komponenten besteht: erstens einem übergeordneten Erklärungsmodell von Zugang als abhängiger Größe multipler Einflussfaktoren und zweitens einer auf Dichotomien basie-
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renden „Topologie“ (Khan/Bhardwaj 1994: 69), die verschiedene Aspekte von Zugang kombiniert. Khan/Bardwaj (1994) schlagen vor, zu diesen einzelnen Perspektiven der Typologie Indikatoren zu entwickeln, um Zugang zu messen. Die Motivation der Autoren ist dabei, ein einheitliches, umfassendes Konzept von Zugang vorzustellen, das vor allem im Bereich der Planung des Gesundheitswesens und hier insbesondere für die räumliche Planung sinnvoll anwendbar ist. Für ihr Erklärungsmodell, den ersten Teil ihres Konzeptes, greifen die Autoren vor allem auf den Analyserahmen von Aday/Andersen (1974) zurück. Bei der Entwicklung ihrer Typologie, stützen sie sich zudem auf Ansätze von Lewis (1977), Donabedian (1972) und Penchansky (1976). Nach Lewis (1977) ist Zugang eine Funktion verschiedener Barrieren, welche die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen erschweren oder verhindern. Aus den Arbeiten von Donabedian (1972) und Penchansky (1976) übernehmen die Autoren die Unterteilung in potentiellen (potential) und tatsächlichen (realized) Zugang. Ihr Grundverständnis von Zugang formulieren Khan/Bardwaj (1994) wie folgt: „Access is thus conceptualized as the outcome of a process determined by an interplay between the characteristics of the health care service system and the characteristics of the potential users (i.e. the population at risk) in a specified area, and moderated by health care related public policy/ planning efforts...“ (Khan/Bhardwaj 1994: 66).
Während also Gesundheitspolitiken – wie schon in dem Modell von Aday/ Andersen (1974) – die Charakteristika der potentiellen Nutzer und des Systems der Gesundheitsdienstleister beeinflussen, folgen im weiteren Verlauf einige Weiterentwicklungen und Unterschiede. Wesentlich ist die Einführung von Zugangsbarrieren und –anreizen, die durch Charakteristika von System und Nutzern konstituiert werden. Dabei entsteht für jeden einzelnen Nutzer eine eigene, relative Kombination von Barrieren und Anreizen, da diese individuell unterschiedlich stark wirken. Die Autoren nennen als ein Beispiel, dass dieselben Behandlungskosten für einige Nutzer prohibitiv sein können, während sie für andere keinerlei Hindernis darstellen. Grundsätzlich gilt, dass Zugang dann realisiert wird, wenn die Zugangsanreize größer sind als die Zugangsbarrieren. Diese entstehen aus einer Kombination der Charakteristika des Systems und der Charakteristika der Nutzer (vgl. Abb. 7). Betrachtungsrelevant ist nach Auffassung der Autoren der momentane Zugang, der nach Versorgungsgraden (primär, sekundär, tertiär) variiert. Die Analyse momentanen Zugangs bildet idealerweise die Bewertungsgrundlage für die Gestaltung zukünftiger Gesundheitspolitiken und stellt damit die Grundlage für eine Verbesserung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dar. Für die Bewertung momentanen Zugangs und zur Strukturierung des Planungsprozesses, schlagen die Autoren eine Typologie von Zugang vor. Diese basiert auf den beiden Dichotomien potentieller versus realisierter Zugang und räumlicher versus nicht-räumlicher Zugang, die sich in einer 2x2 Matrix darstellen lassen (vgl. Abb. 8). Weiterhin lässt sich jede dieser vier Komponenten hinsichtlich der Kosten einer Inanspruchnahme und der bestehenden Möglichkeiten einer Inanspruchnahme betrachten. Da diese beiden Betrachtungswinkel auf alle
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vier Felder der Matrix angewendet werden, besteht die Typologie von Khan/Bhardwaj schließlich aus acht Dimensionen, für die nach Auffassung der Autoren gezielt Indikatoren entwickelt werden müssen. " !# "#%")
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Abbildung 7: Analyserahmen von Khan/Bhardwaj, eigener Entwurf in Anlehnung an Khan/Bhardwaj (1994)
Abbildung 8: Typologie von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, eigener Entwurf in Anlehnung an Khan/Bhardwaj (1994)
Khan/Bhardwaj (1994) zeigen in ihrem Konzept mehrere neue und interessante Perspektiven auf. Zugang steht als Prozess im Mittelpunkt ihres Analyserahmens und wird in drei bzw. vier verbundenen Komponenten dargestellt: möglicher Zugang (1), der aufgrund von Barrieren/Anreizen (2) nur bedingt in realisierten Zugang (3) umgesetzt werden kann, was übergeordnet als momentaner Zugang (4) angesprochen wird. Die Autoren rücken somit prozessuale Aspekte in den Vordergrund und führen Zugangsbarrieren und –anreize als wichtiges erklärendes Element ein. Im Gegensatz zu Aday/Andersen (1974) bauen Khan/Bhardwaj
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(1994) eine Feedback-Schleife in ihr Modell ein, so dass die Bewertung von Zugang die Grundlage für die Weiterentwicklung von Gesundheitspolitiken als zentrale Steuerungsgröße wird. Die Autoren schaffen so einen Kreislauf der Optimierung von Zugang. Die vorgeschlagene Typologie ist insofern neu und interessant, als sie die Vielzahl von Perspektiven auf das Phänomen Zugang aufzeigt. Allerdings darf die praktische Anwendbarkeit bezweifelt werden, zumal die dreifache Kombination von Dichotomien die Gefahr birgt, dass es im Rahmen einer Analyse lediglich zu einem „Abarbeiten“ der Felder der Matrix kommt. Die Autoren gehen nicht darauf ein, inwieweit diese Typologie zur Erklärung von Barrieren dienen kann, die den Unterschied zwischen potentiellem und realisiertem Zugang bedingen. Wenn das Modell tatsächlich als Planungsinstrument dienen soll, so müsste nicht nur die Verbesserung des potentiellen oder eine Zunahme des realisierten Zugangs angestrebt werden. An verschiedenen Stellen zeigen die Autoren die Wichtigkeit der nichträumlichen Perspektiven auf: „We recognize that potential spatial access opportunity is a necessary, but not sufficient, condition in the realization of access to health care services. Creation of potential aspatial or social access opportunities [...] may be as important, if not more.“ (Khan/Bhardwaj 1994: 74).
Jedoch werden sie weder in ihrer Tiefe weiter beschrieben oder definiert, noch spiegelt sich ihre Wichtigkeit in der Typologie wider, in der sie undifferenziert als „nicht-räumlich“ (aspatial) neben den räumlichen Faktoren stehen. In Bezug auf die Dichotomien ergibt sich hieraus eine logische Inkonsistenz: Während die Kosten für die Inanspruchnahme einmal auf der oberen hierarchischen Ebene zu den „nicht-räumlichen“ Faktoren gezählt werden, tauchen sie zur selben Zeit auf der unteren hierarchischen Ebene der Matrix nochmals in dem Gegensatzpaar Kosten/Möglichkeiten auf. Insgesamt ist festzuhalten, dass die räumliche Dimension in diesem Konzept sehr stark in den Vordergrund gestellt wird. Das Räumliche wird auf einer Ebene gleichwertig mit allen anderen Einflussfaktoren dargestellt. Dabei ist die räumliche Komponente diejenige, die durch Planung und Politiken am schwierigsten zu beeinflussen ist. Dies zeigen beispielsweise die Diskussionen in Deutschland um die Sicherstellungszuschläge im Zuge der Einführung der diagnose related groups (Kortevoß 2005) oder die Debatten über den Mangel an Landärzten im Osten Deutschlands (vgl. Rieser 2004). Räumlichen Mustern der Leistungserbringung kommen hierdurch trotz anderweitiger Beteuerungen der Autoren eine übergroße Bedeutung zu, während andere Faktoren in den Hintergrund treten. Für die Untersuchung des Zugangs in städtischen Räumen im Entwicklungskontext scheint diese Überbetonung unangemessen, da der räumliche Faktor zwar nicht negiert werden kann, aber auch keine übergeordnete Bedeutung hat. Dabei wäre die sozialräumliche Analyse von Zugang – also die räumliche Perspektive zur Analyse der nicht-räumlichen Faktoren – ein notwendiger Schritt, der von den Autoren, die stärker an der Entwicklung von Allokationsmodellen interessiert scheinen, lediglich als Option angedeutet wird. Dieses von Geographen entwickelte Konzept von
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Zugang wird daher den selbstgesetzten Anforderungen der Autoren nicht gerecht. Gleichwohl leisten die Autoren einen wichtigen Beitrag zu der Diskussion um die Konzeptionalisierung des „schwer greifbaren“ („elusive“ Khan/Bhardwaj 1994: 62) Begriffs „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“. Auch wenn einige Kritikpunkte an dem Analyserahmen von Aday/Andersen (1974) durch die Weiterentwicklung von Khan/Bhardwaj (1994) hinfällig sind, ist der Analyserahmen aufgrund der verbleibenden Kritikpunkte für die vorliegende Forschungsfrage nicht verwendbar. III.3 PECHANSKY UND THOMAS’ KONZEPT: ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN IM SPANNUNGSFELD VON FÜNF DIMENSIONEN Ein zweites, ähnlich viel und bis heute zitiertes grundlegendes Konzept in dem Bereich der Zugangsforschung legten 1981 die Autoren Penchansky/Thomas vor. In ihrem Artikel stellen sie eine Definition von Zugang vor, die sie selbst als „taxonomisch“ bezeichnen. An dem Grundlagenartikel von Aday/Andersen (1974) kritisieren Penchansky/Thomas (1981) das Fehlen einer anwendbaren Begriffsbestimmung. Sie entwickeln daher eine eigene Definition von Zugang: „‚Access‘ is defined here as a concept representing the degree of ‚fit’ between the clients and the system. (...) Access is viewed as the general concept which summarizes a set of more specific areas of fit between the patient and the health care system“ (Penchansky/Thomas 1981: 128).
Auf ‚übergeordneter Ebene schlagen die Autoren vor, Zugang über die Anpassung des Gesundheitssystems an die Bedürfnisse der Bevölkerung zu messen. Konkret sehen sie für die Messung folgende fünf Dimensionen vor: Verfügbarkeit (availability), Erreichbarkeit (accessibility), Kompatibilität (accommodation), Erschwinglichkeit (affordability) und Anschauungen (acceptance). Mit diesen fünf Dimensionen versuchen die Autoren explizit sämtliche Aspekte, die in früheren Arbeiten zu dem Thema Zugang behandelt wurden, in einem umfassenden Konzept zu vereinen. Die Dimensionen werden inhaltlich wie folgt umrissen: – – –
Verfügbarkeit stellt das Verhältnis zwischen vorhandenen Angeboten bzw. Ressourcen und dem Bedarf der Patienten (clients) dar, wobei die Bewertungsgrundlage eine quantitativ adäquate Versorgung ist; Erreichbarkeit bildet die Lagebeziehung zwischen Versorgungseinrichtungen und Klienten ab; Kompatibilität bezieht sich auf 1) die Organisation der Leistungserbringung hinsichtlich der Bereitschaft, auf die Bedürfnisse der Patienten einzugehen (z.B. Öffnungszeiten, Terminvergabesysteme etc.), 2) die Möglichkeiten der Patienten, sich auf dieses System einzustellen und 3) die Bewertung der Leistungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit dieses Systems durch die Patienten;
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Erschwinglichkeit ist das Verhältnis von Behandlungskosten bzw. Versicherungskosten zu dem Zahlungsvermögen bzw. Einkommen der Patienten, wobei der Anteil der Versicherten in einer definierten Bevölkerung ebenfalls betrachtungsrelevant ist; die Autoren erachten dabei auch die Zahlungsbereitschaft, die Markttransparenz und die vorhandenen Finanzierungsmöglichkeiten als wichtige Aspekte; Anschauungen sind sozio-kulturell geprägte Einflussfaktoren, welche die Arzt-Patienten-Beziehung beeinflussen; die Autoren versuchen hiermit, die jeweiligen gegenseitigen Einstellungen gegenüber persönlichen Merkmalen von Leistungserbringern und Patienten (Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit etc.) und ihren Einfluss auf Zugang zu erfassen.
Penchansky/Thomas (1981) stellen fest, dass es zwischen den Dimensionen zum Teil starke wechselseitige Einflüsse gibt. So merken sie an, dass beispielsweise Kompatibilität und Anschauungen grundlegend durch die Verfügbarkeit beeinflusst werden. Aufgrund dieser Zusammenhänge räumen sie ein, dass es berechtigte Zweifel daran gibt, dass die Dimensionen im Sinne einer statistischen Unabhängigkeit als individuelle Einflussgrößen messbar sind. Diese statistische Unabhängigkeit ist für sie aber ein grundlegendes Kriterium dafür, die fünf verschiedenen Dimensionen als unterschiedliche Einflussgrößen von Zugang konzeptionell zu verbinden.
Abbildung 9: Penchansky und Thomas' fünf Dimensionen von Zugang (eigener Entwurf)
Zur Darstellung der Operationalisierbarkeit und für die empirische Überprüfung ihres Konzepts greifen Penchansky/Thomas (1981) auf Daten einer früheren Studie zurück. Die Nutzerzufriedenheit ist eine von drei möglichen Bewertungsgrößen von Zugang und wird durch Zugangsbarrieren und –anreize beeinflusst. Weitere potentiell betrachtungsrelevante Größen sind demnach Inanspruchnahme und Leistungserbringung. Die Autoren ordnen insgesamt sechzehn Variablen den fünf
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Dimensionen zu, um die Nutzerzufriedenheit zu messen. Mit einer Korrelationsanalyse und einer Faktoranalyse weisen sie nach, dass sowohl eine unabhängige Konstruktion der einzelnen Dimensionen möglich ist, als auch, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen den Variablen einer Dimension besteht. Mit Hilfe dieses statistischen Nachweises sehen die Autoren ihre Hypothese bestätigt, dass Zugang in den von ihnen vorgeschlagenen fünf Dimensionen messbar ist und ein Zusammenhang der fünf Dimensionen mit der Nutzerzufriedenheit konstatiert werden kann. Als Desiderat für zukünftige Arbeiten stellen sie heraus, dass auch die Inanspruchnahme und die Leistungserbringung hinsichtlich ihrer Messbarkeit in den fünf Dimensionen überprüfbar sind. Der Ansatz, den Penchansky/Thomas (1981) vorstellen, unterscheidet sich von Aday/Andersen (1974) durch eine eigenständige Definition von Zugang als eine mehrdimensionale Größe, die den Zusammenhang zwischen zwei Akteursgruppen beschreibt. Implizit eröffnen sie dadurch auch eine zeitliche Betrachtungsperspektive, die im Gegensatz zu der einseitigen, auf Folgeabschätzung ausgerichteten Betrachtungsperspektive von Aday/Andersen (1974) steht. Allerdings gibt es auch bei diesem Konzept einige kritisch anzumerkende Punkte. Der gravierendste Schwachpunkt des Konzeptes besteht darin, dass der tatsächliche Prozess der Inanspruchnahme durch diese Definition von Zugang ausgeblendet bzw. zur Messgröße degradiert wird. Die Ebene des Individuums, eines Haushalts oder einer Bevölkerungsgruppe ist zunächst ebenso wenig betrachtungsrelevant wie das Zugangsverhalten in einzelnen Episoden. Der prozessuale Aspekt wird somit nur unzureichend erfasst. Weiterhin bleibt unklar, inwieweit und wodurch die einzelnen Dimensionen Zugang letztendlich beeinflussen. In dem empirischen Teil des Ansatzes wird ein rein statistischer Nachweis für die Unabhängigkeit der Dimensionen geführt. Eine schlüssige inhaltliche Begründung für diese Unabhängigkeit wird aber nicht geliefert. Im Hinblick auf den, in dieser Arbeit zu behandelnden Untersuchungszusammenhang ist weiterhin problematisch, dass zwar von Variationen des Zugangs in raum-zeitlicher Perspektive ausgegangen wird, jedoch werden relativ homogene Nutzergruppen vorausgesetzt, denen ein relativ homogenes System von Leistungserbringern gegenübersteht. Dies ist vor dem Hintergrund des indischen Gesundheitssystems (Kapitel V.1) und der Fragmentierung in den Agglomerationen Südasiens (Kapitel II.2.3) eine inoperable Grundannahme. Für die Erarbeitung eines eigenen Konzeptes von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen sind die Überlegungen von Penchansky/Thomas (1981) jedoch grundlegend (vgl. Kapitel IV). III.4 DER ANSATZ VON OBRIST ET AL. ALS WEITERENTWICKLUNG DES MODELLS VON PENCHANSKY UND THOMAS Als zweite, neuere Weiterentwicklung eines der beiden grundlegenden Konzepte soll an dieser Stelle der Analyserahmen von Obrist et al. von 2007 vorgestellt werden, der an die Arbeiten von Penchansky/Thomas (1981) anknüpft und diese für den Entwicklungszusammenhang in das livelihood framework des DFID
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(1999) einbettet. Diese Kombination ist deshalb beachtenswert, weil sie den Brückenschlag zwischen dem, für den amerikanischen Kontext entwickelten Analyserahmen von Zugang und einem aktuellen Konzept der Entwicklungsforschung versucht, um Zugang im Entwicklungskontext zu untersuchen. Mit Hinweis auf die speziellen Gesundheitsprobleme in Entwicklungsländern, die als in besonderem Maße sozioökonomisch determiniert beschrieben werden, stellen die Autoren einen Analyse- und Handlungsrahmen für das Verständnis und die Verbesserung von Zugang in „ressourcenarmen“ (Obrist et al. (2007: 1584) verwenden den Begriff resource-poor countries, wahrscheinlich, um den Begriff Entwicklungsländer zu vermeiden und gleichzeitig Mängel im Gesundheitswesen zu betonen) Ländern vor. Ihrer Einschätzung nach sind Arme verstärkt Gesundheitsrisiken ausgesetzt, zeigen weniger Resistenz gegenüber Krankheiten und haben weniger Zugang zu kurativen und präventiven Gesundheitsdienstleistungen. Die Autoren beschreiben ihren Analyserahmen, der an diese speziellen Gegebenheiten adjustiert ist und der im Rahmen eines Projektes zur Malariabehandlung im ländlichen Tansania getestet wurde, als Kombination dreier bestehender Ansätze zur Messung von Zugang. Die erste Grundlage sind health-seeking studies, welche die Interaktionen von Individuen mit dem Gesundheitssystem analysieren. Um eine Verbesserung von Zugang zu erreichen, wird in diesen Studien der individuelle Patient als Akteur und als treibende Kraft für Veränderung angesehen. Demgegenüber konzentrieren sich health service studies (z.B. Penchasky/Thomas 1981) auf die Isolierung von Einflussfaktoren von Zugang. Dieser wird über tatsächliche Inanspruchnahme operationalisiert und als mehrdimensionales Konzept begriffen. Ein Problem sehen die Autoren darin, dass hierbei die Verbesserung der Versorgung und damit die Leistungserbringerseite überbetont wird. Als dritten relevanten Ansatz nennen sie das sustainable livelihood framework des DFID (1999). Arbeiten aus der jüngeren Vergangenheit, in denen dieser Ansatz verwendet wurde, haben nach Auffassung der Autoren gezeigt, dass es für Haushalte zum Teil schwierig ist, im Krankheitsfall Kapital zu mobilisieren. Daher fehlt die Möglichkeiten auf Krankheiten zu reagieren und die, durch Krankheit entstandene, verschlechterte Situation zu bewältigen. Das health access livelihood framework, das die Autoren als Kombination vorgenannter Ansätze vorstellen, rückt die fünf Dimensionen von Penchansky/Thomas (1981) in das Zentrum der Betrachtung, da diese den Prozess der Inanspruchnahme maßgeblich beeinflussen. Allerdings ist Zugang erst im Fall einer konkreten, durch den Betroffenen wahrgenommenen Erkrankung relevant: „Access becomes an issue once illness is recognized and treatment seeking is initiated“ (Obrist et al. 2007: 1585). Die Handlungsfolge – 1) Suche nach einem Anbieter und 2) Initiierung von Inanspruchnahme – ist das zentrale Element ihres Analyserahmens. Letztere wird durch das Erkennen einer Erkrankung motiviert und mündet in der tatsächlichen Inanspruchnahme von Dienstleistungen unterschiedlicher Qualität, wobei der Prozess der Inanspruchnahme verschiedenen Wechselwirkungen unterliegt. Haupteinflussfaktoren sind angebotsseitig bzw. gesundheitssystemisch die Politik, Institutionen, Organisationen und Prozesse, die das Angebotsspektrum beeinflussen.
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Nutzerseitig sind die Kapitalien, die innerhalb des spezifischen Vulnerablitätskontext mobilisiert werden können, ausschlaggebend. Letztere werden in einer Rückkoppelung durch den Erfolg der Inanspruchnahme – die Verbesserung oder Verschlechterung des Gesundheitsstatus – beeinflusst. Diesen Analyserahmen exemplifizieren die Autoren in der Folge anhand konkreter Forschungsergebnisse. Zusammenfassend halten die Autoren fest, dass im Entwicklungskontext das Hauptproblem in Bezug auf Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen darin besteht, die potentiellen Nutzer mit den notwendigen Kapitalien auszustatten, um ihnen die Realisierung von Zugang zu vorhandenen Dienstleistungen zu ermöglichen. Während der Einfluss des Gesundheitszustandes auf die Kapitalien zur Lebenssicherung bereits ausreichend erforscht ist, wurde dieser spezielle Zusammenhang der „Armuts-Krankheits-Falle“ (illness-poverty trap, Obrist et al. 2007: 1587) bisher meist übersehen. Die Kombination verschiedener Perspektiven ermöglicht neben der Analyse von Zugang unter den jeweils spezifischen Mangelbedingungen weiterhin die Identifizierung von Ansatzpunkten zur Verbesserung von Zugang und zur Armutsbekämpfung auf Grundlage partizipatorischer Ansätze, so die Autoren. ' ' $ (!#( (
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Abbildung 10: Analyserahmen von Obrist et al., eigener Entwurf in Anlehnung an Obrist et al. (2007)
Auch wenn dieser Analyserahmen sicherlich beachtenswert ist, weil er eines der etablierten Zugangskonzepte mit einem aktuellen Ansatz der Entwicklungsfor-
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schung verknüpft, sind hier ebenfalls einige Schwachstellen anzusprechen. Hauptkritikpunkt an dem von Obrist et al. (2007) vorgelegten Analyserahmen ist, dass er rein auf kurative Dienstleistungen ausgelegt ist. Zugang wird als Inanspruchnahme im Falle einer Erkrankung definiert, so dass präventive Gesundheitsdienstleistungen von der Betrachtung ausgeschlossen werden. Dies schmälert nicht nur den Erklärungsanspruch des Analyserahmens, sondern ist auch im Zusammenhang mit dem Gesundheitsstatus vulnerabler Bevölkerung eine Verkürzung der Problemstellung. Der Zugang zu präventiven Gesundheitsdienstleistungen mindert bei gleicher Exposition gegenüber Umwelteinflüssen das Risiko einer Erkrankung signifikant (vgl. Kapitel II.3) bei gleichzeitig geringeren Kosten. Ein insbesondere im Vulnerabilitätskontext äußerst relevanter Aspekt wird somit vollständig ausgeklammert. Dies ist am wahrscheinlichsten damit zu erklären, dass die Entwicklung des Konzeptes im Kontext eines konkreten Forschungsprojektes, das Behandlungsmuster von Malariapatienten untersuchte, entwickelt wurde. Für Malaria gibt es bislang keine dauerhaft anwendbare, präventive medikamentöse Behandlung. Allein Maßnahmen, wie die Bekämpfung des Vektors und die Unterbindung des Kontaktes von Menschen und Vektor, zeigen langfristige Wirkung. Hierbei handelt es sich aber nicht um eine präventiv-medizinische Versorgung im engeren Sinne. Ebenfalls dient der Analyserahmen vorrangig der Untersuchung des Zugangs besonders vulnerabler Gruppen und scheint für eine gesamtgesellschaftliche Bewertung von Zugang daher nur begrenzt verwendbar. Auch wenn dieses Konzept auf dem Zusammenhang von Gesundheit und Vulnerabilität aufbaut, werden Schwachstellen bei der Darstellung von Kausalzusammenhängen offensichtlich. Letztendlich führen die genannten Einschränkungen dazu, dass dieses Konzept als Ganzes für die Bearbeitung der vorliegenden Fragestellung nicht geeignet ist. III.5 GEOGRAPHISCHE UND NACHBARWISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN UND PERSPEKTIVEN In dem folgenden Teilkapitel wird ein kurzer Überblick über geographische und nachbarwissenschaftliche Arbeiten aus dem Bereich der Zugangsforschung gegeben. Dieser erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen relevante Forschungsfragen, mit denen sich Geographen und Wissenschaftler aus Nachbardisziplinen auseinandersetzen, skizziert werden, um den gegenwärtigen Forschungsstand im Bereich der Zugangsforschung zu umreißen. III.5.1 Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen als Thema Geographischer Gesundheitsforschung In zwei aktuellen Übersichtswerken, die sich mit Geographischer Gesundheitsforschung befassen, räumen die jeweiligen Autoren dem Bereich Zugang zu Gesundheitsforschung jeweils ein eigenes Kapitel ein, wobei sie unterschiedliche
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Schwerpunkte setzen. Meade/Earickson (2000) thematisieren in Medical Geography Zugang als mehrdimensionales Konstrukt und stellen ihre Ausführungen in den Zusammenhang mit der Diskussion um Gerechtigkeit im Gesundheitsbereich. Ein zweiter Teil befasst sich ausführlich mit der räumlichen Dimension von Zugang, wobei insgesamt ein Schwerpunkt auf Fallbeispiele aus Nordamerika gelegt wird. Gatrell (2002) nähert sich in seinem Übersichtswerk Geographies of Health dem Themenbereich über die Analyse von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Der Autor erörtert Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen im globalen Maßstab, wobei zahlreiche Dimensionen einzeln genannt werden (räumliche Verteilungen, Einkommen/Versicherungen, Wartezeiten etc.). Dies wird jedoch nicht in einem kohärenten Analyserahmen zusammengeführt. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift Health and Place, die als Forum der neuen Geographie der Gesundheit konzipiert wurde, kommt Powell hinsichtlich der Wirkung geographischer Zugangsforschung zu einem nüchternen Fazit: „...medical geography’s contribution towards the study of accessibility and utilization of health care facilities must be seen as a failure“ (Powell 1995: 42).
Mit einer ausführlichen Literaturanalyse versucht er nachzuweisen, dass die räumliche Komponente von Zugang, den er als räumliches und soziales Konstrukt anspricht, in der interdisziplinären Literatur weitestgehend ignoriert werde. In seinem Fazit plädiert er daher für eine doppelte Berücksichtigung des Raumes: 1) Inwieweit beeinflusst der Wohnort (Sozialraum) Zugang? 2) Inwieweit ist Distanz eine Zugangsbarriere, die gleichwertig mit nicht-räumlichen Zugangsbarrieren zu betrachten ist? In dem interdisziplinär konzipierten Übersichtswerk Access to Healthcare von Guildford/Morgan (2003) versucht der Geograph Haynes einen Überblick über geographische Aspekte von Zugang zu geben. Dieser ist jedoch – wie das gesamte Werk – fast ausschließlich an den Verhältnissen in Großbritannien orientiert. Einen Schwerpunkt stellt bei seinen Ausführungen die Anwendbarkeit Geographischer Informationssysteme (GIS) zur Messung von Distanzen und Fahrzeiten sowie die Beschreibung von distance-decay-Funktionen dar. III.5.2 Geographische und Nachbarwissenschaftliche Kernthemen der Zugangsforschung In geographischen Arbeiten werden teilweise Verfahren der räumliche Statistik eingesetzt, um Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu identifizieren. Rosenberg/Hanlon (1996) und Field/Briggs (2001) operationalisieren beispielsweise Zugang als ein Produkt unterschiedlicher Faktoren. Letztgenannte verwenden beispielsweise die Faktoren Alter, Geschlecht, Beschäftigungsverhältnis, Zugang zu motorisiertem Individualverkehr, die Distanz zum nächsten Gesundheitsdienstleister und die Fahrzeit dorthin. Implizit wird Zugang so als mehrdimensionales Konzept operationalisiert, auch wenn die konzeptionelle Ebene von Field/Briggs und Rosenberg/Hanlon nicht explizit thematisiert wird. Mit Verfah-
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ren der analytischen Statistik bewerten die Autoren die wesentlichen Einflussfaktoren auf den Zugang und stellen über deren räumliche Variabilität Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dar. In beiden Beispielen bleibt allerdings die theoretisch-konzeptionelle Einbettung unklar. Einen ähnlichen Ansatz wählen Levesque et al. (2007), die die Inanspruchnahme stationärer Leistungen analysieren, indem sie „hospitalization pathways“ (Levesque et al. 2007: 802) untersuchen. Sie greifen auf Daten einer landesweiten Haushaltsbefragung in Indien zurück, um zu einem differenzierten Verständnis von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den Städten des Bundesstaates Kerala zu gelangen. Sie weisen nach, dass im Wesentlichen angebotsseitige Faktoren, das heißt die Verfügbarkeit verschiedener Arten von Einrichtungen (öffentliche/private Krankenhäuser, akademische Lehrkrankenhäuser etc.), sowie ökonomische Faktoren wesentliche Determinanten der Inanspruchnahme sind. Die Gerechtigkeit von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen steht bei Waters (2000) und Liu et al. (2002) im Zentrum des Interesses. Beide analysieren die Wirkung verschiedener gesundheitssystemischer Reformen auf die Gerechtigkeit: Waters untersucht in Ecuador die Daten einer landesweit repräsentativen Haushaltsbefragung und kommt zu dem Schluss, dass die Einführung eines zur Verbesserung von Zugang initiierten Instrumentes durch die starke Einschränkung auf einzelne Bevölkerungsgruppen zu größerer Ungleichheit in der Inanspruchnahme führt; Liu et al. (2002) versuchen eine Bewertung der Reform des chinesischen Gesundheitswesens vor dem Hintergrund der Gerechtigkeitsdebatte. Anhand von Zeitreihenvergleichen des Einflusses verschiedener Variablen auf die Inanspruchnahme im Bedarfsfall kommen sie zu dem Schluss, dass es durch die Einführung eines neuen Versicherungsschemas zu einer Zunahme horizontaler Gerechtigkeit im Zugang (gleiche Behandlung bei gleichem Bedarf) kommt, während vertikale Ungleichheiten (umfänglichste Behandlung für den größten Bedarf unter Vernachlässigung primärer Gesundheitsdienstleistungen) unvermindert weiter bestehen. Eine der wenigen Studien, die sich der Analyse von Zugang mit qualitativer Methodik nähert, stellen Wellstood/Wilson/Eyles (2006) vor. Die Autoren führten Leitfadeninterviews in mehreren Nachbarschaften in Hamilton (Kanada) durch, in denen sie die Interviewpartner zu ihrer Wahrnehmung und Bewertung von Zugangsbarrieren befragten. Die Auswertung der Interviews mit einer qualitativen Inhaltsanalyse zeigt, dass zwar unterschiedliche Faktoren als Barrieren genannt werden, einzelne jedoch in beinahe allen Interviews vorkommen. Diese sind stark gesundheitssystemisch geprägt und daher recht spezifisch für den gewählten Untersuchungsraum. Als Ergebnis führen die Autoren folgende potentielle Zugangsbarrieren auf: Wartezeiten, die Lage der Arztpraxen, Öffnungszeiten und allgemein persönliche Faktoren (wie z.B. wechselnde Arbeitszeiten der Gesprächspartner). Bei der Diskussion ihrer Ergebnisse kommen die Autoren zu dem Fazit, dass die rein räumliche Betrachtungsweise des Zugangsproblems ebenso wie eine rein ökonomische Betrachtungsweise zu kurz greift. Ihrer Auffassung nach kann ein umfassendes Bild nur unter Einbeziehung soziokulturell determinierter, gesundheitssystemischer und individueller Faktoren wiedergegeben werden.
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Aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften befassen sich ebenfalls zahlreiche Arbeiten mit dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Eine Übersicht über Arbeiten aus diesem Fachbereich, die sich mit ökonomischen Aspekten im Entwicklungskontext befassen, gibt O’Donnell (2007). Barrieren und Anreize werden hier als Marktmechanismen angesprochen, wobei Zugang als Marktergebnis, das heißt als Produkt von Angebot und Nachfrage, gesehen wird. Für ihn steht die Frage im Vordergrund, warum effektive Gesundheitsversorgung die potentiellen Nutznießer nicht erreicht. Die Ergebnisse mehrerer Studien zusammenfassend kommt er zu dem Ergebnis, dass insbesondere in den einkommensschwächsten Schichten die Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen am geringsten ist. Einen wesentlichen Grund sieht der Autor dabei im Verhalten der Nachfrageseite, wobei er einräumt, dass die teilweise gravierenden angebotsseitigen Defizite nicht ignoriert werden dürfen. Eine Stärkung der Angebotsseite durch eine flächendeckende, teilsubventionierte Gesundheitsversicherung sieht er als zentralen Schlüssel, um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern. Mit ebenfalls volkswirtschaftlichem Hintergrund analysieren Rao/Peters (2007) den Einfluss der Einführung von Nutzergebühren bei gleichzeitigen Qualitätsverbesserungen im öffentlichen Gesundheitssektor des indischen Bundesstaates Uttar Pradesh auf die Nutzung verschiedener Arten von Gesundheitsdienstleistungen. Die Autoren zeigen, dass trotz der Einführung von Gebühren die Nutzerraten aufgrund gleichzeitiger Qualitätsverbesserungen (Anwesenheitszeiten der Ärzte, Verfügbarkeit von Medikamenten etc.) insgesamt steigen. Sie ziehen den Schluss, dass die Einführung von Gebühren, sofern sie mit Qualitätsverbesserungen einhergehen, die Nutzung effektiver Gesundheitsdienstleistungen fördern kann. III.5.3 Geographische Informationssysteme in der Zugangsforschung Seit Ende der 1990er Jahre wurden mehrere Arbeiten veröffentlicht, die sich mit der Analyse von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen aus einer methodischen Perspektive heraus unter Nutzung von GIS auseinandergesetzt haben. Hierbei steht die Verbesserung räumlichen Zugangs im Vordergrund. Für Deutschland haben Braun (2001) und Kortevoß (2005) die Möglichkeiten von GIS zur Planung und Steuerung im Gesundheitswesen ausgelotet. Apparicio et al. (2008) untersuchen verschiedene methodische Aspekte der Analyse räumlichen Zugangs mit GIS. Im Vordergrund steht der Vergleich der Ergebnisse räumlicher Zugangsanalysen bei gleichen Eingangsdaten, aber unterschiedlichen Aggregierungsmethoden. Die Arbeiten illustrieren, wie ausgereift die Methodik im Bereich GIS mittlerweile ist und vor allem, dass bei guter Datenqualität äußerst präzise räumliche Analysen möglich sind. Luo (2004) stellt die Identifizierung potentiellen räumlichen Zugangs (in Anlehnung an Khan/Bahardwaj (1994), vgl. Abb. 7) als wesentlich dar. Seiner Argumentation nach ist dieser bei der Planung von Gesundheitssystemen der einzige beeinflussbare Faktor und damit der einzige für die Analyse relevante. In einem GIS werden mit Hilfe von floating catchments medizinisch unterversorgte Areale
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identifiziert, die als Gebieten mit mangelhaftem potentiellen räumlichen Zugang (vgl. Khan/Bhardwaj 1994) angesprochen werden. In einem weiteren Artikel, gemeinsam mit Wang (Wang/Luo 2005), kombinieren die Autoren die Floating Catchment Methode mit der statistischen Analyse nicht-räumlicher Faktoren (im Khan/Bhardwaj 1994) zur Erklärung tatsächlicher Inanspruchnahme, wobei sie auf US-amerikanische Zensusdaten zurückgreifen. Guagliardo (2004) stellt mehrere Analysemethoden vor, die GIS für die Bewertung räumlichen Zugangs bieten. Neben floating catchments beschreibt er compound gravity models und kernel density methods. Guagliardo (2004) sieht ebenfalls die Analyse des potentiellen räumlichen Zugangs – im Sinne der Typologie Khan/Bhardwajs (1994) – als Anwendungsfeld für diese Methoden. Diese drei Arbeiten verdeutlichen, wie gut der räumliche Zugang bei ausreichender Datenverfügbarkeit inzwischen modellierbar ist, auch wenn das tatsächliche Zugangsverhalten hierbei unberücksichtigt bleibt. Diese Methoden sind daher vor allem im Bereich der Allokation von Gesundheitsinfrastruktur anwendbar. Neben Arbeiten, die sich mit der Anwendung von GIS in Ländern mit hohen Einkommen befassen, gibt es eine wachsende Zahl von Artikeln, in denen die Anwendung von GIS auf Zugangsfragestellungen im Entwicklungskontext beschrieben werden. So befassen sich Perry/Gesler (2000) mit der Bewertung von Zugang in einer Gebirgsregion am Beispiel der Anden Boliviens. Die Autoren befassen sich dabei vorrangig mit dem Problem der Abschätzung von Reisezeiten in einem stark reliefierten Gebiet, in dem die simple Anwendung von bufferFunktionen zu keinem sinnvollen Ergebnis führt. Kumar (2004) demonstriert die Anwendung sogenannter location-allocation-models (LAM) anhand einer Analyse der Veränderung räumlichen Zugangs in einem Zeitvergleich über 15 Jahre in den indischen Distrikten Rohtak und Bhiwani. Ramani et al. (2007) befassen sich mit der Nutzung von GIS zur Planung neuer Gesundheitsinfrastruktur. Sie stellen einen Ansatz zur Optimierung der Ressourchenallokation im öffentlichen Gesundheitssektor in der indischen Stadt Ahmedabad vor. Chapelet/Lefebvre (2005) erörtern am Beispiel eines GIS für Delhi die Möglichkeiten und Limitierungen der räumlichen Analyse von Zugang zu Gesundheitsdienstleisteungen unter den komplexen Bedingungen indischer Megastädte. In den drei letztgenannten Aufsätzen, die sich mit Indien befassen, thematisieren die Autoren mehr oder weniger explizit die intersubjektive Nachprüfbarkeit, welche die Planung mit GIS scheinbar mit sich bringt. Diese wird vor dem Hintergrund größerer Transparenz begrüßt, wie Kumar (2004) in seinem Schlusswort festhält: „... governments in developing countries have to ensure universal geographic access to health services, and access to these services have to be seen through the people’s eyes“ (Kumar 2004: 2065).
Die in diesem Teilkapitel beschriebenen Arbeiten können nur stellvertretend für eine weitaus umfänglichere Literatur stehen. Sie zeigen, dass räumliche Disparitäten in der Gesundheitsversorgung detailliert analysiert werden können. Hierdurch werden Informationen bereitgestellt, die für die Entscheidung über die Allokation von Ressourcen im Gesundheitswesen genutzt werden können. Allerdings blen-
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den die beschriebenen methodischen Ansätze die nicht-räumlichen Komponenten von Zugang weitestgehend aus. Zudem stellt die Datenverfügbarkeit im Entwicklungskontext eine wichtige Limitierung für die Anwendbarkeit von GIS dar. Aus diesen Gründen wurden dieses Werkzeug auch nicht für die vorliegende Untersuchung verwendet. Aufbauend auf einer detaillierten Analyse des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen könnten GIS allerdings mittelfristig zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung genutzt werden. Im konkreten Untersuchungskontext wäre beispielsweise die Optimierung der räumlichen Strukturen im öffentlichen Gesundheitssektor denkbar.
IV ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN: EIN ERWEITERTES KONZEPT Die Ausführungen in dem vorangegangen Kapitel lassen drei wesentliche Schlüsse zu: Erstens ist Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ein relevantes interdisziplinäres Forschungsthema, das einen wesentlichen Beitrag zu einer gerechten Ausgestaltung von Gesundheitssystemen leisten kann; zweitens haben sich auf konzeptioneller Ebene zwei konkurrierende Analyserahmen entwickelt, die ebenso wie die vorgestellten Ansätze zur Weiterentwicklung für die hier zu behandelnde Fragestellung keine vollkommen zufriedenstellende konzeptionelle Grundlage bieten; drittens wird Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den meisten Arbeiten recht eindimensional betrachtet, da die Wissenschaftler stark in ihren jeweiligen fachspezifischen Betrachtungsweisen verhaftet sind (so beschäftigen sich viele geographische Arbeiten alleine mit räumlichen Zugangsproblemen). Weiterhin wurde deutlich, dass eine eindeutige, operationalisierbare Definition von Zugang zu Gesundheitsdienstleistung bisher noch nicht überzeugend erfolgte. Für die Untersuchung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den Städten der Schwellenländer, insbesondere in den neu entstehenden Megastädten sind die bisher entwickelten Konzepte und Analyserahmen nicht ohne Modifikation verwendbar. Aus den dargelegten Gründen scheint eine eigene, konzeptionell-theoretische Beschäftigung mit Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen notwendig, bei der Zugang erstens eindeutig definiert wird, zweitens kohärent konzeptionalisiert wird und drittens ein Analyserahmen entwickelt wird, der die unterschiedlichen Aspekte von Zugang angemessen berücksichtigt. Im Folgenden soll daher ein eigenes Verständnis von Zugang dargelegt werden, das sowohl einen allgemeingültigen Erklärungsanspruch erhebt als auch eine Berücksichtigung der komplexen und multiplen Einflussfaktoren in schnell wachsenden Agglomerationen, speziell in Südasien, erlaubt. Das Konzept und der darauf basierende Analyserahmen müssen so ausgestaltet werden, dass sie einen Beitrag für eine differenzierte Analyse von Zugang in (mega)urbanen Räumen bieten. Hierdurch leistet das Konzept einen Beitrag in den Forschungsgebieten „Urbane Gesundheit“ und „Megastadtforschung“ (vgl. Kapitel II). Mit diesem weiterentwickelten Konzept, das auf der Grundidee von Penchansky/Thomas (1981) aufbaut, wird zudem das Theoriegebäude der Geographischen Gesundheitsforschung erweitert und mit seiner Anwendung die bisherige Fixierung auf den physischen Raum (im Sinne messbare Distanzen bzw. Wegstrecken) im Bereich der Geographischen Zugangsforschung überwunden. Zunächst scheint eine eigene Definition von „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ notwendig, da es sich bei einer Vielzahl früherer Versuche einer Begriffsbestimmungen um unklare Definitionen – häufig ex negativo – handelte. Andere Definitionen setzten Zugang unzulässiger Weise mit Inanspruchnahme
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gleich oder definieren ihn – wie Penchansky/Thomas (1981) – über einen anderen, wieder abstrakten Wert (die Anpassung zwischen Dienstleistern und Nutzern). Folgende Definition liegt den weiteren Ausführungen zu Grunde: Unter „Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“ wird die Möglichkeit verstanden, adäquate präventive, kurative und pflegerische Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen.
Diese Definition beinhaltet drei grundlegende Gedanken: Erstens soll der Begriff „Möglichkeit“ darauf verweisen, dass Zugang weder alleine mit der tatsächlichen Inanspruchnahme noch alleine mit potentiellem Zugang gleichzusetzen ist. Für die Analyse von Zugang muss vielmehr eine realistische Bewertung vorhandener Optionen der Inanspruchnahme vor dem Hintergrund einer Vielzahl handlungsdeterminierender Einflussfaktoren vorgenommen werden. Wichtig ist die Identifizierung realisierter Zugangsoptionen unter Berücksichtigung der Behandlungsqualität und des Behandlungserfolgs. Viele Zugangsoptionen werden hinfällig, wenn, statt einer eindimensionalen, eine komplexe Bewertung stattfindet, die alle potentiellen Faktoren einbezieht. So können konkrete Handlungsansätze zur Verbesserung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen entwickelt werden. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund des mit dem Zugangsbegriff verknüpften Gerechtigkeitsdiskurses von Bedeutung. Zweitens beinhaltet Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen nach obigem Verständnis nicht nur die Möglichkeit, im Krankheitsfalle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und das aktuelle Gesundheitsniveau zu verbessern, sondern auch die Inanspruchnahme von Leistungen zur Sicherstellung eines auch zukünftig hohen Gesundheitsniveaus (Prävention/Pflege). Drittens – und dies scheint vor dem Hintergrund des Untersuchungskontextes besonders relevant – soll die Verwendung des Adjektivs „adäquat“ auf die Notwendigkeit einer Qualitätsbewertung verweisen. Durch medizinische Laien kann ggf. nicht entschieden werden, ob eine Behandlung notwendig ist oder zu einer Verbesserung des Gesundheitszustandes führt. Daher kann die Inanspruchnahme einer nicht-adäquaten Dienstleistung dazu führen, dass die Inanspruchnahme einer adäquaten Dienstleistung unterbleibt und somit Zugang im oben erläuterten Sinne der Verbesserung des aktuellen bzw. zukünftigen Gesundheitsniveaus als nicht gegeben anzusehen ist. Die Bewertung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen beruht auf der Analyse der Nutzerperspektive, der Zugangsoptionen und des tatsächlichen Zugangs als Ergebnis des Zugangshandelns, bei dem Nutzer und System in Kontakt treten. Tatsächlicher Zugang wird gegen die normative Größe adäquater Zugang bewertet. Bei der Analyse von Zugang können unterschiedliche Aggregationsebenen betrachtet werden; sinnvoll scheint die Analyse des Zugangs verschiedener sozialräumlicher Gruppen. Zentral ist die Analyse tatsächlichen Zugangs, da hierüber das Zugangshandeln abgebildet wird, handlungs-determinierenden Einflussfaktoren offen gelegt werden und im Spannungsfeld mit der Bewertungskomponente (adäquater Zugang) die Ansatzpunkte zur Verbesserung des Zugangs zu
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Gesundheitsdienstleistungen deutlich werden. Die beiden relevanten Komponenten werden dabei wie folgt definiert21: Tatsächlicher Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist die Realisierung von Zugangsoptionen und wird durch sechs Dimensionen beeinflusst, nämlich die finanzielle Erschwinglichkeit, Informiertheit im Sinne aktiven Wissens, Verfügbarkeit, räumliche Erreichbarkeit, die Kompatibilität zwischen den organisatorischen Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems und den Bedürfnissen der Nutzer sowie die Anschauungen von Nutzern und Leistungserbringern. Adäquater Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist gegeben, wenn neben kurativen auch präventive und pflegerische Dienstleistungen in Anspruch genommen werden können und die tatsächlich in Anspruch genommene Dienstleistungen einem ausreichenden qualitativen Niveau entsprechen.
Wichtig ist dabei festzuhalten, dass tatsächlicher Zugang über die deskriptive Darstellung von Zugangsoptionen, also potentiell nutzbare Gesundheitsdienstleistungen (adäquat wie inadäquat), hinausgeht und nicht mit der Inanspruchnahme adäquater Dienstleistungen gleichzusetzen ist. Die unten stehende Grafik (Abb. 11) zeigt tatsächlichen Zugang als das durch Barrieren und Anreize in den sechs Einflussdimensionen beeinflusste Ergebnis des Zugangshandelns. Als Barrieren werden dabei Faktoren verstanden, welche die Inanspruchnahme einer bestimmten Dienstleistung durch einen Nutzer unterbindet, während Anreize als positive Stimuli fungieren. Für jeden individuellen Nutzer besteht für jede denkbare Zugangsoption ein spezifisches Bündel aus Barrieren und Anreizen, die den genannten sechs Dimensionen zugeordnet werden können. Dies sind zum einen die fünf Dimensionen, die Penchansky/Thomas (1981) vorschlugen, sowie als weitere, sechste Dimension die Informiertheit. Hierunter wird das aktive Wissens über die eigene Situation bzw. über die anderen relevanten Akteuren und Institutionen verstanden. In jedem sozialräumlich-zeitlichen Kontext sowie für jede ortsspezifische Akteurskonstellation ergeben sich in den sechs Dimensionen jeweils unterschiedliche Barrieren und Anreize. Dies soll hier zunächst theoretisch erörtert werden, um später im empirischen Teil einer Überprüfung anhand des konkreten Fallbeispiels unterzogen zu werden. Kern der Abb. 11 ist die innerhalb des Sechsecks angedeutete Inanspruchnahme, die dem tatsächlichen Zugang entspricht. In einer raum-, sozialraum- und zeitspezifischen Konstellation von Nutzern und Zugangsoptionen werden kurative, präventive oder pflegerische Zugangsoptionen realisiert, wenn die Handlungsanreize größer sind als die Handlungsbarrieren. Der gesamte Handlungsstrang wird durch die sechs Dimensionen und ihre wechselseitigen Beziehungen beeinflusst.
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von den sechs Dimensionen tatsächlichen Zugangs werden fünf in Anlehnung an Penchansky/Thomas (1981) definiert
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Abbildung 11: Erweitertes Konzept von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen (eigener Entwurf)
Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Einflussfaktoren den sechs Dimensionen von Zugang zugeordnet werden: Die Erschwinglichkeit bezieht sich auf die ökonomische Beziehung zwischen Nutzer und Leistungserbringer. Die Inanspruchnahme der Dienste eines bestimmten Leistungserbringers ist für einen Nutzer aufgrund der Preisgestaltung (angebotsseitige Perspektive) bzw. der Kapitalausstattung des potentiellen Nutzers (nutzerseitige Perspektive) entweder möglich, eingeschränkt möglich oder unmöglich (wobei dies nur drei Schwellenwerte eines Kontinuums sind). Eine Zugangsoption kann auch dann nicht realisiert werden, wenn in allen anderen Dimensionen keine Barrieren bestehen, jedoch der Preis eines Leistungserbringers für einen potentiellen Nutzer prohibitiv ist. Im Bedarfsfall muss der potentielle Nutzer also einen anderen Leistungserbringer wählen, was eine kurzfristige, nutzerseitige Reaktion darstellt. Veränderungen, die darauf abzielen, solche absoluten Barrieren in der Dimension Erschwinglichkeit abzubauen, können auf zwei Strategien basieren. Entweder werden Anreize für den Dienstleister gesetzt, den Preis der Leistungserbringung unter den kritischen Schwellenwert zu senken (anbieterseitige Anpassung) oder der potentielle Nutzer wird mit den entsprechenden Kapitalien ausgestattet, um den vormals prohibitiven Preis zu zahlen. Dies könnte beispielsweise durch die Schaffung einer nachbarschaftlich organisierten, solidarischen Krankenversicherung, wie von einigen Nichtregierungsorganisationen (NROs) im Entwicklungskontext praktiziert (vgl. Ranson 2003), gelingen. Analog zu diesem Beispiel verhält es sich mit dem Ein-
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fluss der übrigen Dimensionen, der jeweils in einem Kontinuum zwischen absoluter Barrierefreiheit und absolutem Zugangshemmnis anzusiedeln ist. Die Anschauungen – als zweite Dimension – beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Nutzer und Leistungserbringer und unterliegt starken soziokulturellen Einflüssen. Dies kann durch verschiedene Faktoren positiv oder negativ beeinflusst werden. So kann die Zugehörigkeit zur selben sozialen Gruppe ebenso einen positiven Einflussfaktor darstellen wie die persönliche Bekanntheit zwischen Nutzer und Leistungserbringer oder die Empfehlung eines Leistungserbringers durch Freunde und Bekannte. Andererseits beeinflussen Faktoren wie Vorurteile, etwa gegenüber Leistungserbringern, die einer bestimmten sozialen Gruppe angehören, oder ein hohes Patientenaufkommen, das die Begründung einer vertrauensvollen Beziehung aufgrund zu kurzer Behandlungszeiten nicht zulässt, dieses Verhältnis negativ. In der Dimension Kompatibilität werden Barrieren und Anreize zusammengefasst, die sich auf die organisatorische Ausgestaltung der Inanspruchnahme beziehen. So können die Öffnungszeiten entweder keine Barriere darstellen, wenn der Leistungserbringer 24 Stunden an sieben Tagen der Woche zur Verfügung steht, oder durch ein Terminvergabesystem die Wartezeiten minimiert werden, während stark eingeschränkte Öffnungszeiten oder lange Wartezeiten dazu führen können, dass Leistungen nicht in Anspruch genommen werden. Aber auch andere organisatorische Hürden, die dem Nutzer die Orientierung vor oder während der Inanspruchnahme erschweren, werden dieser Dimension zugeordnet. Hierzu zählen beispielsweise bürokratische Hemmnisse (z.B. Vorgaben von Krankenversicherern), die im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Dienstleistungen stehen können. In der Dimension Erreichbarkeit werden Barrieren und Anreize betrachtet, die mit der Lagebeziehung zwischen Nutzer und Leistungserbringer in Zusammenhang stehen. Dabei ist nicht nur die physische Distanz im Sinne der Wegstrecke von Interesse, sondern auch die Optionen, die dem potentiellen Nutzers zur Distanzüberwindung zur Verfügung stehen. Für die Betrachtung der Barrieren und Anreize wird daher vorgeschlagen, die jeweils Art der Distanzmessung in den Blick zu nehmen, in der die Widerstände zu erwarten sind – ausgedrückt etwa in Kosten für die Distanzüberwindung oder die für die Distanzüberwindung benötigte Zeit. Die Verfügbarkeit bezieht sich im Wesentlichen auf die Darstellung der Angebotsseite. Dabei ist relevant, welche Dienstleistungen angeboten werden und in welchem Umfang diese zur Verfügung stehen. So ist beispielsweise von Interesse, welche Fachrichtungen potentiell genutzt werden können oder welche spezialisierten Behandlungen potentiellen Nutzern als Zugangsoptionen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig ist aber auch wichtig, in welchem Umfang bestimmte Dienstleistungen angeboten werden. Hierfür ist beispielsweise zu erfassen, wie viele Krankenhausbetten für die Versorgung einer bestimmten Risikobevölkerung verfügbar sind und wie sich diese auf verschiedene Fachrichtungen und auf verschiedene Finanzierungsmodelle (in Indien relevant: öffentlicher oder privater Gesundheitssektor) aufteilen.
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In diesem Konzept wird mit der Informiertheit eine sechste Dimension ergänzt. Dies scheint sowohl aufgrund der theoretisch implizierten Annahme unvollständig informierter Akteure, eigener Beobachtungen in der explorativen Phase als auch der speziellen Rahmenbedingungen im Entwicklungskontext (niedriger Bildungsstand in großen Teilen der Bevölkerung, Fehlen einer Gesundheitsberichterstattung) sinnvoll. In der Dimension Informiertheit werden Barrieren und Anreize betrachtet, die sich auf das aktive Wissen beziehen, das bereits in früheren Arbeiten als Einflussgröße auf das Zugangsverhalten angesprochen wurde (vgl. beispielsweise Meade/Earickson 2002). Hierunter wird solches Wissen verstanden, das ständig abrufbar ist und das in das Handlungskalkül einbezogen wird. Wie bei allen anderen Dimensionen treten die Barrieren und Anreize sowohl bei den potentiellen Nutzern als auch bei den Leistungserbringern auf. Der potentielle Nutzer muss sich erstens über seinen Gesundheitszustand und damit seinen Bedarf im Klaren sein. Er muss zweitens wissen, welche Leistungserbringer potentiell zur Verbesserung seines aktuellen bzw. zukünftigen Gesundheitszustandes beitragen können, bevor er überhaupt diese Zugangsoptionen realisieren kann. Drittens bedarf es einer fundierten Gesundheitsberichterstattung und eines Monitoring des Gesundheitszustandes der Risikobevölkerung bzw. von Bevölkerungsgruppen, damit Leistungserbringer gezielt und bedarfsgerecht Leistungen anbieten können. Eine umfassende Gesundheitsberichterstattung ist eine wesentliche Aufgabe des öffentlichen Gesundheitssektors. Hierfür ist allerdings eine verpflichtende Datensammlung und -aufbereitung bei privaten Leistungserbringern unerlässlich, um ein vollständiges Bild des Gesundheitszustandes einer Bevölkerung zu erhalten. Im Gegensatz zu dem Ansatz von Penchansky/Thomas (1981) wird in dem hier vorgeschlagenen Konzept die methodisch motivierte, strikte Isolation der Dimensionen in der Analyse aufgehoben. Vielmehr wird dafür plädiert, die Verknüpfungen zwischen den sechs Dimensionen gezielt in den Blick zu nehmen. Auch wenn Penchansky/Thomas (1981) eine statistische Unabhängigkeit der Dimensionen in ihrem Fallbeispiel empirisch nachweisen, ist von einem starken inneren Zusammenhang zwischen den Dimensionen und einer wechselseitigen Beeinflussung auszugehen. Der Nachweis statistischer Unabhängigkeit ist relevant, um nicht mit zwei Werten den gleichen Sachverhalt zu messen. Tatsächlich scheinen einige der Dimensionen aber nur im Zusammenhang mit anderen einen ausreichend hohen Erklärungsgehalt aufzuweisen, um als eigenständig erfasst zu werden. In der Dimension Verfügbarkeit ergeben sich beispielsweise Barrieren nur im Zusammenhang mit den Dimensionen Erreichbarkeit und Erschwinglichkeit. Potentiell limitierende Faktoren können nur aufgezeigt werden, wenn die Analyse auf eine definierte geographische Einheit beschränkt wird (Problem der Betrachtungsskala) oder nur solche Zugangsoptionen in Betracht gezogen werden, die sinnvoller Weise erreicht werden können und für den potentiellen Nutzer erschwinglich sind. Ein anderes Beispiel für den Zusammenhang zwischen zwei Dimensionen ist die kombinierte Betrachtung der Dimensionen Erschwinglichkeit und Anschauungen. Es ist anzunehmen, dass Patienten mit einer hohen Zahlungsbereitschaft auf geringere Akzeptanzprobleme stoßen werden, während bedürftige Patienten – je nach Ausgestaltung des Gesundheitssystems und des soziokulturel-
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len Umfelds – leichter aufgrund äußerer Merkmale diskriminiert werden. In der Literatur wird hierfür häufig das Beispiel der Hautfarbe genannt, für Indien wäre evtl. der Name, der die Zugehörigkeit zu einer „Kaste“ anzeigt, relevant. Die Unabhängigkeit der Dimensionen, die zwar im statistischen Sinne notwendig ist, um sie in sinnvolle Variablen zu überführen, muss in der Analyse und Interpretation der Ergebnisse einer synoptischen Betrachtung weichen. Da die sechs Dimensionen Ausprägungen desselben Betrachtungsgegenstands sind, kann nur die verknüpfende Interpretation Sinn ergeben, ebenso wie nur die gemeinsame Angabe eines Koordinatenpaares in einer zweidimensionalen Ebene die eindeutige Bestimmung eines Ortes zulässt. Aus der jeweils spezifischen Konstellation von Nutzern und Leistungserbringern ergeben sich durch den verknüpften Einfluss der sechs Dimensionen verschiedene Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen. Für potentielle Nutzer ergibt sich so ein Bündel nutzbarer Zugangsoptionen (adäquat wie inadäquat), das zunächst unabhängig von dem akuten Bedarf besteht. Die Realisierung von Zugangsoptionen erfolgt dann, wenn seitens eines potentiellen Nutzers Bedarf nach präventiven, kurativen oder pflegerischen Gesundheitsdienstleistungen besteht und die erhoffte Verbesserung oder Sicherung des aktuellen oder zukünftigen Gesundheitszustandes durch die Inanspruchnahme den Aufwand des Handelns (zeitlich, monetär etc.) rechtfertigt. Ist diese Voraussetzung erfüllt, werden Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch genommen, wobei diese Handlung erneut innerhalb des Spannungsfeldes der sechs Dimensionen abläuft. Der Nutzer nimmt Leistungen bei demjenigen Dienstleister in Anspruch, bei dem subjektiv das Verhältnis von Anreizen zu Barrieren für ihn am günstigsten ist, wobei insbesondere der Dimension Informiertheit eine limitierende Rolle zukommen kann. Ebenso kann die Dimension Anschauungen, in welcher die Beziehung zwischen Nutzer und Leistungserbringer operationalisiert wird, dominierend werden. Als Anreiz kann beispielsweise eine etablierte Beziehung zwischen Nutzer und Leistungserbringer – im Sinne eines klassischen Hausarztes – fungieren, so dass dieser nicht nur generell erster Kontaktpunkt ist, sondern auch eine Lotsenfunktion für die Inanspruchnahme weiterer Leistungen übernimmt. Prinzipiell kann jede der sechs Dimensionen eine derart dominierende Stellung einnehmen. Die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen erfolgt häufig ohne dass der Nutzer alle relevanten Informationen zu Kosten und Nutzen vorliegen hat, so dass die getroffene Entscheidung auch zu einem suboptimalen Ergebnis führen kann (z.B.: Behandlung ist zu teuer, oder es wird keine Besserung erzielt). Die Nutzer können sowohl adäquate als auch inadäquate Zugangsoptionen realisieren, wobei letztere die Inanspruchnahme adäquater Leistungen verhindern können oder zumindest verzögern. Dies ist für den Nutzer mit negativen Folgen für den aktuellen oder zukünftigen Gesundheitsstatus verbunden. Besondere Barrieren treten in diesem Zusammenhang in der Dimension Informiertheit auf, da potentielle Nutzer als medizinische Laien die Qualität einer Leistung und den Behandlungserfolg ggf. nicht bewerten können. Im Entwicklungskontext kann es z.B. zur Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen bei nicht ausgebildeten Leistungserbringern kommen (vgl. Kapitel VI), wobei Anreize und Barrieren
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hierfür in den Dimensionen Erschwinglichkeit, Erreichbarkeit und Informiertheit zu verorten sind. Der scheinbare Behandlungserfolg, der teilweise durch den Einsatz schwerer Antibiotika, kurzfristig leistungssteigernder Infusionen oder schwerer Schmerzmittel erzielt werden kann, wird dabei einem bestehenden kurativen Bedarf nicht gerecht, sondern verhindert oder verzögert den Besuch eines fachgerecht ausgebildeten Mediziners mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Die Bewertung tatsächlichen Zugangs gegen die Bewertungskomponente adäquater Zugang ist daher integraler Bestandteil einer Analyse von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Tatsächlicher Zugang unterliegt auch dem mittelbaren Einfluss externer Faktoren. Diese sind teilweise auch für die Operationalisierung der normativen Größe adäquater Zugang relevant. Die externen Einflussfaktoren lassen sich in drei große Kategorien untergliedern, die teilweise sehr direkten, z.T. aber auch nur indirekten Einfluss haben: 1. Die Rahmenbedingungen des nationalen Gesundheitssystems stellen den wesentlichen Rahmen für die Ausgestaltung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen dar. 2. Globaler Wandel mit den von Johnston/Taylor/Watts (2002) definierten fünf Einflusssphären beeinflusst den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen auf vielfältige Weise, vorwiegend indirekt: a) Ökonomie als genereller volkswirtschaftlicher Rahmen des Gesundheitssystems und der finanziellen Situation von Nutzern und Leistungserbringern, b) Ökologie als Sammelbegriff für die Umweltfaktoren, die sich auf den Gesundheitszustand auswirken oder physische Zugangsbarrieren darstellen können, c) Kultur, insbesondere die kulturelle Bewertung von Krankheit und Gesundheit, die wesentliche Handlungsmotivationen bei der Initialisierung von Inanspruchnahme begründet, d) Soziale Strukturen, die über den Stellenwert von Institutionen, z.B. Klientelbeziehungen, oder die gesellschaftliche Bewertung von Lebensstilen, das Zugangsverhalten (Rolle des Hausarztes) und den Gesundheitszustand (Lebensstile) beeinflussen, e) Politische Entscheidungen, die Zugang je nach Politikbereich mehr (Gesundheitspolitik) oder weniger (z.B. Verkehrspolitik) direkt prägen. 3. Entwicklung, die neben der Ökonomie auch über Faktoren wie Bildung und Lebenserwartung gemessen wird und in starkem Zusammenhang mit gesellschaftlichem Gesundheitszustand (Nutzer), der Verfügbarkeit gesundheitssystemischer Ressourcen (Leistungserbringer) oder der Dimension Informiertheit steht (vgl. Kapitel II.2), führt zu einer stetigen Veränderung der Rahmenbedingungen von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. In Abb. 11 werden der physische Raum, Sozialraum und Zeit als Ebenen im Hintergrund dargestellt. Hierdurch wird angedeutet, dass der Einfluss der Barrieren
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und Anreize in den sechs Dimensionen von Zugang in diesen drei Ebenen variiert. Eine präzise Messung von Zugang kann nur für eine sozialräumliche Gruppe an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gelten. Die Variation von Zugang im physischen Raum ergibt sich durch ungleiche Verteilungen von potentiellen Nutzern und Leistungserbringern aber auch etwa durch Zugehörigkeit zu unterschiedlichen administrativen Einheiten und damit ggf. verbundenen Einflussfaktoren. Die sozialräumliche Variation, als zweite Betrachtungsebene, befasst sich mit soziodemographischen Mustern, die Phänomene im physischen Raum überlagern. Diese sozialräumlichen Faktoren, wie Bildung, Einkommen etc., bedingen teilweise als Grundursachen Barrieren und Anreize in den sechs Dimensionen und beeinflussen tatsächlichen Zugang zum Teil auf einer sehr kleinräumigen Ebene (physischer Raum) in beträchtlichem Maße. Ohne an dieser Stelle dem Fallbeispiel vorgreifen zu wollen, soll dieser Gedanke kurz exemplifiziert werden: Innerhalb einer Stadt folgt die Bevölkerungsverteilung einem bestimmten Muster, ebenso wie die Verteilung der medizinischen Dienstleister. Für ein bestimmtes Stadtviertel – gehen wir von einer Stadt im Entwicklungs- oder Schwellenlandkontext aus und betrachten ein Quartier mit 5.000 Haushalten – kann davon ausgegangen werden, dass die im physischen Raum messbare Variation in der Dimension Verfügbarkeit äußerst gering ist. Für alle Einwohner dieses Viertels variiert die Distanz zu den vorhandenen Leistungserbringern nur marginal, die gesundheitssystemischen Einflüsse sind ohnehin identisch. Innerhalb dieses fiktiven Viertels kann aufgrund der gesellschaftlichen Fragmentierung, welche die Metropolen im Entwicklungskontext auszeichnet (vgl. Kapitel II.2), der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen erheblich variieren. Dies hängt mit den steilen Gradienten im Gesundheitszustand, der Bildung, dem Einkommen, dem Krankenversicherungsstand etc. auf engstem Raum zusammen, die auftreten können, wenn beispielsweise ein Slum in direkter Nachbarschaft zu einer gated community liegt. Auf dieser Mesoebene variiert der Zugang in sozialräumlicher Perspektive deutlich. Zusätzlich variiert Zugang auch in der zeitlichen Ebene, etwa aufgrund gesundheitspolitischer Veränderungen, einer Änderung des Spektrums der Leistungserbringer, dem medizinischen Fortschritt oder ähnlichem. Gesundheitsreformen können beispielsweise, je nach Intention und Wirkung, zu einer Verbesserung oder Verschlechterung von Zugang führen. Weiterhin kann in schnell wachsenden Agglomerationen, wie etwa in den entstehenden Megastädten Südasiens, eine schleichende Überlastung auftreten, wenn etwa der öffentliche Sektor als Anbieter mit dem Ausbau der Kapazitäten nicht dem wachsenden Bedarf gerecht wird. Das vorgestellte erweiterte Konzept von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen stellt den Versuch dar, diese abstrakte Größe greifbar und operationalisierbar zu machen. Hierfür wurde der Begriff Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zunächst allgemein definiert. Zusätzlich wurde tatsächlicher Zugang als bewertungsrelevante Größe und adäquater Zugang als normative Kontrollgröße als neue Begriffe eingeführt. Zugang zu Gesundheitsdienstleistung unterliegt dem Einfluss von sechs Dimensionen, in denen sich Zugangsanreize oder -barrieren konkretisieren können. Weiterhin unterliegt er äußeren Einflussfaktoren und variiert im
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physischen Raum, sozialräumlich und in der Zeit. Eine Untersuchung von Zugang muss – gleich ob im Entwicklungskontext, in Schwellenländern oder in Ländern mit hohem Einkommen, im ländlichen oder im städtischen Raum – darauf abzielen, die Charakteristika der Nutzer, Zugangsoptionen sowie Zugangsbarrieren und -anreize in den sechs Dimensionen in ihrer sozial-raum-zeitlichen Veränderung zu erfassen. Hierfür ist auch die Betrachtung externer Faktoren unerlässlich. Ziel einer Untersuchung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen muss letztendlich eine Bewertung tatsächlichen Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen gegenüber der Kontrollgröße adäquater Zugang sein. Diese zentralen Elemente eines Forschungsdesigns sind in Abb. 15 dargestellt und werden in Kapitel VI für das ausgewählte Fallbeispiel operationalisiert.
V UNTERSUCHUNGSKONTEXT In diesem Kapitel werden die Rahmenbedingungen der Studie beschrieben. Hierzu gehört erstens eine Darstellung des indischen Gesundheitssystems mit seinen historischen Wurzeln sowie eine kritische Bewertung der heutigen Strukturen. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung zugangsrelevanter Aspekte. Daran anschließend werden gesundheitliche Probleme in Indien angesprochen, wobei die urbane Gesundheit in Indien gesondert betrachtet wird. Danach wird der Untersuchungsraum, die aufstrebende Megastadt Pune, vorgestellt. Dieses Teilkapitel dient vor allem dazu, die Auswahl der Untersuchungsgebiete verständlich zu machen sowie im späteren Verlauf der Arbeit, die Ergebnisse der Erhebung verstehbarer zu machen. Die Darstellung beruht größtenteils auf einer Auswertung vorhandener Literatur, stellt zum Teil aber bereits einen Vorgriff auf Experteninterviews dar, um die Besonderheiten des Untersuchungsraums besser erläutern zu können. V.1 DAS INDISCHE GESUNDHEITSSYSTEM Indiens Gesundheitssystem weist eine duale Struktur auf, die eine Kombination des klassischen Marktmodells und des klassischen staatlichen Modells darstellt (für eine Beschreibung verschiedener gesundheitssystemischer Modelle vgl. Braun 2001). Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil der Anspruch der indischen Regierung nach der Unabhängigkeit lange darin bestand, ein funktionierendes staatliches Modell aufzubauen, bei dem der Staat die Leistungserbringung im Gesundheitssektor übernimmt. Der Plan hierfür geht auf den Bericht des Health Survey and Development Committee aus dem Jahr 1946 zurück. Dieses Komitee, das unter dem Vorsitz von Sir Joseph Bhore noch vor der Unabhängigkeit Indiens durch die Briten im Jahr 1943 eingesetzt wurde, sollte Empfehlungen für die Entwicklung eines Nachkriegs-Gesundheitssystems entwickeln (vgl. Duggal 2005). Das heute meist als Bhore-report angesprochene Dokument war ein Plädoyer für die Schaffung eines klassischen staatlichen Modells, wobei der Einrichtung von Versorgungsstrukturen für die ländliche Bevölkerung besondere Bedeutung beigemessen wurde. Aus der mangelhaften Implementierung dieses Ansatzes resultierte die Entstehung des heute dominierenden privaten Gesundheitssektors.
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V.1.1 Strukturen vor der Unabhängigkeit In präkolonialer Zeit waren die wenigen bestehenden Krankenhäuser karitative Einrichtungen, die durch regionale Herrscher bzw. durch Wohlhabende gefördert wurden (Abraham 2005). Diese meist indische Medizinsysteme wie Ayurveda, Sidha oder Unani praktizierenden Einrichtungen waren in Städten konzentriert, während die ländliche Bevölkerung durch Heiler versorgt wurde. Mit der sukzessiven Übernahme der Herrschaft in Indien durch die Briten wurden die indischen Medizinsysteme ideologisch marginalisiert, obwohl der überwiegende Teil der Gesundheitsinfrastruktur hierauf basierte. Die Kolonialherren sahen in diesen Systemen, die zusammenfassend als Indian systems of medicine (ISM) angesprochen werden, eine kostengünstige, wenngleich minderwertige Versorgungsalternative für die Masse der Bevölkerung. An diese Minderbewertung der ISM konnte auch ihre Akademisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts ändern (Abraham 2005). Neben der westlichen Schulmedizin (Allopathie) verbreiteten die Europäer zudem die Homöopathie in Indien. Hausman (2002) beschreibt die Verbreitung der Homöopathie als einen Prozess, der in Bengalen seinen Ausgangspunkt nahm. In den 1850er Jahren ließen sich europäische Ärzte (aus Frankreich, Österreich, Rumänien, usw.), die durch die neuen Lehren Hahnemanns begeistert waren, in Kalkutta nieder. Von dieser Keimzelle aus setzte eine Verbreitung ein, für die zwei parallel stattfindende Prozesse die Voraussetzung waren: Erstens erfolgte eine „Indisierung“ der Homöopathie, wobei die mystische Komponente der homöopathischen Lehre betont wurde. Hierdurch sowie durch den ganzheitlichen Ansatz, der auch der ayurvedischen Medizin innewohnt, stieg die Akzeptanz der Homöopathie in Indien (Hausman 2002). Zweitens fand eine räumliche Diffusion in Verbindung mit einer stetigen Zunahme der Zahl aktiv praktizierender Ärzte statt (Bhardwaj 1980). Die Kolonialherren selbst begannen mit der Schaffung exklusiver Versorgungsstrukturen für die zivilen Verwaltungsangestellten und die militärischen Einheiten der East India Company. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde mit der Schaffung von Versorgungsstrukturen für die kolonisierte Bevölkerung begonnen, die sich allerdings auf die großen Städte beschränkte. Dies war die Ausgangslage, mit der sich das Bhore-committe konfrontiert sah, als ihm folgender Auftrag erteilt wurde: „A survey of the whole field of public health and medical relief has not hitherto been attempted. The immediate necessity for initiating such a survey has arisen from the fact that the time has come to make plans for post-war development in the health field. The Government of India considers that such plans should be based on a comprehensive review of the health problem. One of the difficulties with which the committee will be confronted is that of finance. […] Plans based on assumption that unlimited funds will be available for recurring expenditure will have little practical value“ (Bhore 1946, zitiert nach Duggal 2005: 23).
Die Kommission bereiste in den Jahren 1943 bis 1945 das British Raj und entwickelte den Plan für ein öffentliches Gesundheitssystem, der auch auf die Entwicklung des primary health care Ansatzes der Weltgesundheitsorganisation Einfluss hatte. Die Empfehlungen des Bhore-committee sahen vor, dass ein steuerfinan-
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ziertes Netzwerk von medizinischen Einrichtungen unterschiedlichen Versorgungsgrades geschaffen werden sollte, das einerseits gleichermaßen die ländliche wie die städtische Bevölkerung mit Gesundheitsdienstleistungen versorgen und andererseits neben kurativen Dienstleistungen auch für die Implementierung von Präventionsmaßnahmen zuständig sein sollte. Hierfür schlugen die Autoren des Berichtes vor, die Zahl des medizinischen Personals signifikant zu erhöhen. Der Bericht hielt fest, dass 1942 auf 100.000 Einwohner lediglich 24 Krankenhausbetten, 15,87 Ärzte und 2,32 Krankenschwestern kamen. Für die Umsetzung des vorgeschlagenen Netzwerks von Versorgungseinrichtungen sahen die Autoren vor, die Zahl der Krankenhausbetten auf 567, die Zahl der Ärzte auf 62,3 und die der Krankenschwestern auf 150,8 (jeweils pro 100.000 Einwohner) zu erhöhen. Diese massive Aufstockung der Dienstleister hätte zur Schaffung eines staatlich finanzierten Gesundheitssystems geführt, das gleichsam organisch präventive und kurative Gesundheitsdienstleistungen verknüpfen und universellen Zugang zu diesen Dienstleistungen sicherstellen sollte. Die Autoren sahen in der Umsetzung des von ihnen vorgeschlagenen Programms, das neben der Einrichtung von Infrastruktur auch die Schaffung eigener akademischer Ausbildungszentren (Allopathie) vorsah, den einzigen Weg zur Verbesserung des katastrophalen Gesundheitszustandes der Bevölkerung (Duggal 2005). Auch wenn die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg keinen aktiven Einfluss mehr auf die Entwicklungen des unabhängigen Indiens nehmen konnten, stellt der Bericht ein bleibendes Erbe des British Raj dar (Park 2005). V.1.2 Entwicklung des Gesundheitssystems im unabhängigen Indien Die Verfassung Indiens, die 1950 in Kraft trat, erwähnt Gesundheit nur am Rande. Hier heißt es zu den Leitlinien der Politik des Bundesstaates in Artikel 39: „that the health and strength of workers, men and women, and the tender age of children are not abused and that citizens are not forced by economic necessity to enter avocations unsuited to their age or strength“
sowie in Artikel 47: „The State shall regard the raising of the level of nutrition and the standard of living of its people and the improvement of public health as among its primary duties and, in particular, the State shall endeavour to bring about prohibition of the consumption except for medicinal purposes of intoxicating drinks and of drugs which are injurious to health...“ (Zitiert nach Park 2005: 21).
In den Verfassungszusätzen werden ergänzend die Kompetenzen der Gesundheitspolitik zwischen der Zentralregierung, den Bundesstaaten und den Kommunen geregelt, wobei teilweise ausschließliche und teilweise konkurrierende gesetzgeberische Kompetenzen festgelegt wurden. Demnach hat die Zentralregierung ausschließliche Gesetzgebungskompetenz in den Bereichen Hafenquarantäne und Arbeitssicherheit (Minen und Ölfelder), die Bundesstaaten in den Bereichen
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öffentliche Gesundheit, Krankenhäuser und Arztpraxen sowie in der Versorgung körperlich Versehrter. Die Liste konkurrierender Aufgabenfelder umfasst den Bereich der Versorgung psychisch Kranker, Arzneimittelkontrolle, Bevölkerungsplanung, Sozialversicherung, alle übrigen Bereiche der Arbeitssicherheit, Ausbildung medizinischen Personals und Gesundheitsberichterstattung (Duggal/ Gangolli 2005). Dieses Konstrukt verdeutlicht zweierlei: Erstens wird Gesundheit in der Verfassung kein zentraler Stellenwert eingeräumt, sondern lediglich der eines untergeordneten Leitprinzips; zweitens wird die Hauptlast der Bereitstellung gesundheitlicher Infrastruktur und der Sicherung der öffentlichen Gesundheit auf die Bundesstaaten übertragen, während gleichzeitig ein sehr großer Teil der gesundheitspolitischen Aufgaben nicht eindeutig einer föderalen Ebene zugeordnet wird. Dies führt dazu, dass große Bereiche nicht geregelt wurden und Indien beispielsweise bis heute nicht über eine belastbare, geschweige denn einheitliche Gesundheitsberichterstattung verfügt. Die Regierung des unabhängigen Indiens setzte die Pläne des Bhorecommittee nicht um, weil der Gesundheitsetat der jungen Republik knapp bemessen war. Amrith (2007) verweist darauf, dass nach der Unabhängigkeit argumentiert wurde, die sofortige Umsetzung der Vorschläge hätte die gesamten Steuereinnahmen der Union und der Länder verschlungen. Zudem sei in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit ein Hauptaugenmerk auf die Aufrüstung gelegt worden, um sich gegen die feindlichen Staaten im Norden (Pakistan, China) wehren zu können. Die knappen finanziellen Ressourcen, die der Gesundheitspolitik zur Verfügung standen, wurden zunächst in Programme investiert, die der gezielten Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dienen sollten. Auch durch externe Geldgeber wurde diese Priorisierung unterstützt. Indiens erster Premierminister Nehru skizzierte gezielt ein Bild, das die internationale Gemeinschaft dazu veranlassen sollte, Indien – als die „globale Wiege von Seuchen“, wie er sich ausdrückte (vgl. Amrith 2007) – bei der Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu unterstützen. Die Einschleppung der Cholera in die Hafenstädte Europas und Amerikas war zu diesem Zeitpunkt noch in guter Erinnerung, was sich Nehru bei dem ersten Treffen der WHO Regionalgruppe 1948 zu Nutze machte, um Geldmittel einzuwerben (vgl. Amrith 2007). Entsprechend wurde ein Schwerpunkt auf die Bekämpfung von Malaria, Lepra, Pocken, Tuberkulose und Cholera gelegt. Die Zentralregierung organisierte vertikal strukturierte Gesundheitsprogramme, die als parallele Struktur zu den bundesstaatlichen Versorgungseinrichtungen etabliert wurden. Insbesondere das Programm zur Ausrottung (das modernistische Paradigma der Beherrschung der Natur kommt hier deutlich zum Ausdruck) von Malaria in den 1950er und 60er Jahren verschlang enorme Summen. Hierfür stellten insbesondere ausländische Organisationen wie USAID und die Rockefeller Foundation die finanziellen Mittel zur Verfügung. Zeitweise waren in dem Programm über 150.000 Mitarbeiter beschäftigt und Indien wurde zum größten Abnehmer des Pestizids DDT auf dem Weltmarkt (Amrith 2007, Duggal 2005). Unbestritten konnte durch diese Programme die Mortalität aufgrund vektorbürtiger Erkrankungen signifikant gesenkt werden (Wadhwa 2010); gleichwohl unterblieb aufgrund
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der einseitigen Ausrichtung die Schaffung einer flächendeckenden staatlichen Gesundheitsinfrastruktur. In der Folge wurden die Leitlinien der Gesundheitspolitik zunächst in den Fünfjahresplänen der planning commission festgelegt (Park 2005). Der Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur verlief nicht nur sehr schleppend, sondern auch in den einzelnen Bundesstaaten recht unterschiedlich, was sich bis heute in den Gesundheitsstatistiken niederschlägt. In den ersten beiden Fünfjahresplänen wurde vor allem die Schaffung von urbanen Gesundheitsinfrastrukturen gefördert. Eine Kommission, die den Erfolg der Gesundheitspolitik der ersten beiden Fünfjahrespläne evaluieren sollte, das Mudaliar-committee, kam 1961 nach zweijähriger Arbeit zu dem Schluss, dass weniger als die Hälfte der Bevölkerung Zugang zu staatlich bereitgestellter primärer Gesundheitsversorgung hatte und die existierenden primary health centres weitestgehend personell unterbesetzt waren. Die unzureichende Versorgung in den ländlichen Gebieten wurde abermals hervorgehoben. Dies beeinflusste die planning commission bei der Erstellung des dritten Fünfjahresplans 1961, in dem erneut ein Schwerpunkt auf den Ausbau der staatlichen Gesundheitsinfrastruktur gelegt wurde. Bis zum sechsten Fünfjahresplan (1980– 1985) blieb es bei dieser Diskrepanz zwischen Planung und Realisierung: Während die Pläne einen Ausbau der Versorgungsinfrastruktur vorsahen und flächendeckenden Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen versprachen, stellten die zur Evaluation eingesetzten Gutachterkommissionen immer wieder fest, dass die Ziele nicht erreicht werden konnten22. Ein Meilenstein in der konzeptionellen Entwicklung des indischen Gesundheitssystems war die Deklaration von Alma-Ata, welche die Mitgliedsstaaten der WHO 1978 in Alma-Ata (dem heutigen Almaty) unterzeichneten. Hierin wurde das Ziel formuliert, Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000 durch den primary health care (PHC) Ansatz zu erreichen. Dieser Ansatz basiert auf mehreren Prinzipien: Gesundheitsdienstleistungen sollen den sozialen, kulturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen angemessen sein. Ein Schwerpunkt der präventiven, kurativen und rehabilitativen Versorgung soll auf die im lokalen Kontext relevantesten Gesundheitsprobleme gelegt werden. Gesundheit wird kontextualisiert, indem auch die Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln etc. als Teil eines gesunden Lebensumfeldes mit in die Betrachtung einbezogen werden und Präventionsmaßnahmen gezielt gefördert werden. Gesundheit wird als Gemeinschaftsaufgabe wahrgenommen und nicht nur als Aufgabe des Gesundheitssektors, so dass die Beteiligung von Bürgern und Interessensgruppen integraler Bestandteil des Konzeptes ist. Primary health care wird als Teil eines größeren, gestaffelten Systems von Gesundheitsdienstleistungen angesehen, wobei Überweisungen sowohl zu höherwertigen als auch zu einfacheren Versorgungseinrichtungen möglich sein müssen. Neben medizinischem Personal werden, wenn notwendig, auch trainierte Laien und traditionelle Heiler mit in die Versorgung einbezogen (Lawn et al. 2008). 22
vgl. Duggal 2005, sowie für eine vollständige Übersicht aller Beratungskommissionen Park 2005
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Der Ansatz basiert auf verschiedenen Entwicklungen, die teilweise lange vor der Konferenz in Alma-Ata 1978 ihren Anfang nahmen und die in der Deklaration in einem kohärenten Konzept zusammengefasst wurden. Neben dem Ansatz des Bhore-committe beeinflusste das chinesische Konzept der "Barfuß-Ärzte" die Diskussionen in Alma-Ata. 1965 startete China diese Kampagne, bei der hunderttausend Laien aus den ländlichen Gegenden Chinas ein rudimentäres medizinisches Training erhielten, um die Versorgung der ländlichen Gebiete mit essentiellen Gesundheitsdienstleistungen sicherzustellen (Rosenthal/Greiner 1982). Trotz der Tatsache, dass die Deklaration von Alma-Ata nichts originär Neues vorschlug, setzte die Bündelung der bestehenden Ansätze – verknüpft mit dem in der Deklaration verfassten Ziel, Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000 erreichen zu wollen – insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländern neue Energien frei, die zu einer Steigerung der Investitionen in Gesundheitsdienstleistungen führten (WHO 2008). In Indien resultierte die Alma-Ata-Deklaration im Jahr 1983 in der Formulierung eines ersten offiziellen Dokumentes zur Gesundheitspolitik, der National Health Policy. Diese umfasste sechs wesentliche Punkte: – – – – –
eine kritische Haltung gegenüber dem westlichen Medizinsystem, die Betonung der Notwendigkeit, neben kurativer auch präventive und rehabilitative primäre Gesundheitsversorgung bereitzustellen, die Forderung nach einer Dezentralisierung des Gesundheitssystems unter stärkerer Einbeziehung von rudimentär ausgebildeten Laien, die Forderung nach einer Stärkung des privaten Gesundheitssektors im Bereich der kurativen Versorgung und die Forderung, epidemiologische Zentren zu schaffen, welche die verschiedenen Gesundheitsprogramme koordinieren (vgl. Duggal 2005).
Gleichzeitig wurden bevölkerungsbasierte Versorgungsrelationen definiert, die als Leitlinie für den Ausbau der Infrastruktur und der personellen Besetzung im öffentlichen Gesundheitssektor bis heute gültig sind. So wurde beispielsweise definiert, dass pro 1.000 Einwohner (Ebene des Dorfes) ein health volunteer, ein Anganwadi worker, ein trained birth attendant und ein accredited social health activist (ASHA) zur Verfügung stehen soll, pro 5.000 Einwohner ein subcentre, pro 30.000 Einwohner ein primary health centre, für 100.000 bis 120.000 Einwohner ein community health centre sowie district hospitals als Häuser der Maximalversorgung (vgl. Lal et al. 2007). In den 1980er Jahren erfolgte auf Basis der AlmaAta-Deklaration und der National Health Policy zunächst ein Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur, der jedoch weit unter dem geplanten Maße zurückbleiben musste, da erneut die notwendigen finanziellen Ressourcen fehlten. Insbesondere nach der Liberalisierung in Folge der Zahlungsbilanzkrise Indiens 1991 sanken die Investitionen der öffentlichen Hand in den Gesundheitssektor signifikant (MoHFW 2002).
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V.1.3 Indiens Gesundheitssystem heute Indiens Gesundheitssystem besteht heute aus zwei nahezu unverbunden nebeneinander stehenden Gesundheitssektoren. Dabei ist der öffentliche Gesundheitssektor zwar theoretisch gut strukturiert, in der Praxis jedoch erweist er sich als wenig leistungsfähig (s.u.). Insbesondere gelingt es nicht, die vorrangige Zielbevölkerung, nämlich diejenigen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, adäquat zu versorgen. Die hierdurch entstehende Versorgungslücke wird durch den privaten Sektor ausgefüllt, der jedoch aufgrund fehlender Regulierung und Qualitätskontrolle eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Leistungserbringer aufweist – vom Heiler ohne formelle Ausbildung bis hin zum transnational agierenden „FünfSterne-Krankenhaus“. Abb. 12 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Leistungserbringer in beiden Sektoren. (!,*( )+% !*))"*&(
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Abbildung 12: Die duale Struktur des indischen Gesundheitssystems: öffentlicher und privater Sektor, eigene Darstellung auf Grundlage von Abraham 2005, Park 2005, Lal/Adarsh/Pankaj 2007, Betz 2002, Sengupta/Nundy 2005, World Bank 2001 und eigenen Experteninterviews
Bei dem öffentlichen Gesundheitssektor handelt es sich um ein klar gegliedertes, hierarchisches System von Versorgungseinrichtungen mit festen Überweisungsbeziehungen, entsprechend dem PHC-Ansatz. Parallel dazu existieren die nationalen Gesundheitsprogramme. Im Bundesstaat Maharashtra verteilen sich die Kompetenzen dabei folgendermaßen: Die primäre und sekundäre Gesundheitsversorgung wird durch den district, bzw. in den Großstädten durch die municipal corporation, bereitgestellt, eine zentrale Planung erfolgt über das Directorate of Health Services. Die Tertiärversorgung erfolgt im Wesentlichen durch Universitätskrankenhäuser. Diese sind als akademische Lehrkrankenhäuser dem Directorate of Medical Education and Research unterstellt. Die nationalen Gesundheitspro-
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gramme werden teilweise in eigenen Implementierungsstrukturen umgesetzt, die zwar auch im Directorate of Health Services koordiniert werden, allerdings in einer gesonderten Abteilung. Zusätzlich gibt es noch weitere gesundheitsrelevante öffentliche Dienstleistungen. So wird beispielsweise der Krankentransport durch die lokalen Behörden organisiert. Das Programm integrated child development services (ICDS), das hauptsächlich über Anganwadis implementiert wird, fällt beispielsweise in die Zuständigkeit des Sozialministeriums der Unionsregierung. Ziel dieses Programms ist es, werdende Mütter zu begleiten, Kindern im Vorschulalter eine rudimentäre Gesundheitserziehung zukommen zu lassen und durch eine tägliche kostenlose Mahlzeit zu einer Verbesserung der Ernährungssituation beizutragen. Zusätzlich wird der Gesundheitsstatus der Kinder kontrolliert und auf die Einhaltung der Impfabstände geachtet. Das Programm ist dabei auf eine maximale Erreichbarkeit der Bevölkerung ausgelegt. In Pune war in jedem der untersuchten Slums, mit Ausnahme der temporären Arbeitersiedlungen, ein Anganwadi vorhanden, das täglich geöffnet war. Das Programm scheint eine hohe Akzeptanz und vor allem eine hohe Erreichbarkeit zu haben (Quelle: eigene Interviews, vgl. Kapitel VII). Die unterschiedlichen Kompetenzen und Parallelstrukturen führen dazu, dass Synergien nicht genutzt werden und die Verantwortung für Missstände oft abgeschoben wird. Dies wurde in verschiedenen Gesprächen mit Experten aus dem öffentlichen Gesundheitssektor deutlich. So sagten mehrere Interviewpartner in einem staatlichen Krankenhaus der Tertiärversorgung in Pune (das dem Directorate of Medical Education zugeordnet ist), dass die Überlastung ihrer Einrichtung und die damit verbundene schlechtere Qualität der Leistungserbringung vor allem damit zusammenhänge, dass die municipal corporation nicht in ausreichendem Maße Einrichtungen der primären und sekundären Versorgung bereitstelle. Trotz dieser internen Reibungsverluste weist der öffentliche Gesundheitssektor verhältnismäßig klare Strukturen auf. Demgegenüber stellt sich der private Gesundheitssektor als unübersichtlicher „Flickenteppich“ dar. Zum einen praktizieren private Ärzte verschiedene Medizinsysteme, zum anderen gibt es eine Vielzahl verschiedener Formen der Leistungserbringung. Dabei reicht die Bandbreite von Heilern ohne formelle Ausbildung (bonesetter), die ihre Dienstleistungen am Straßenrand in einem Zelt anbieten, bis hin zu Krankenhäusern, die deutlich über internationalem Standard Dienstleistungen für Wohlhabende im Inland und Gesundheitstouristen anbieten. Die Strukturierung des privaten Gesundheitssektors ist auch deshalb schwierig, weil es eine Vielzahl von Ausbildungen gibt, die formell zur Ausübung eines Heilberufes befähigen. Allerdings weisen verschiedene Autoren darauf hin, dass Ärzte, mit einer Ausbildung in einem indischen Medizinsystem, häufig hauptsächlich westliche Medizin praktizieren (Kamat 1995, World Bank 2001, Betz 2002), was auch in den Gesprächen mit Experten des lokalen Gesundheitssystems thematisiert wurde. Dabei handelt es sich überwiegend um Ärzte, welche die ärmeren Bevölkerungsschichten versorgen. Diejenigen, die einen Abschluss in einem der ISM oder in Homöopathie haben und dies ausschließlich praktizieren, versorgen meist nur Patienten mit höherem sozioökonomischen Status.
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Bezüglich der Größe und des Spezialisierungsgrades kann zwischen nicht ausreichend qualifizierten Anbietern medizinischer Dienstleistungen (hierzu sind auch teilweise Apotheken zu zählen, wenn diese ohne ärztliche Verordnung verschreibungspflichtige Medikamente abgeben), der Primärversorgung (niedergelassene Allgemeinmediziner), der Sekundärversorgung (Fachärzte, die teilweise auch kleinere Operationen durchführen, kleinere Krankenhäuser, die im lokalen Kontext als nursing home angesprochen werden) und der Tertiärversorgung unterschieden werden. Die Expertengespräche im Untersuchungsgebiet ergaben, dass die unterschiedlichen Typen von Leistungserbringern dabei sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen ansprechen und bedienen (vgl. Kapitel VII). Abb. 13 zeigt die eingangs erwähnte duale Struktur des heutigen indischen Gesundheitssystems. In zeitlicher Hinsicht ist eine zunehmende Verlagerung vom staatlichen Modell zum Marktmodell zu beobachten, wobei sich die Zugangsanreize und -barrieren zwischen öffentlichem und privaten Gesundheitssektor grundlegend unterscheiden. Besondere Relevanz besitzen in dieser Konstellation Krankenversicherungen, die in einem reinen Marktmodell für die Absicherung der Bürger notwendig sind. Allerdings verfügt nur ein äußerst geringer Teil der indischen Bevölkerung über eine Krankenversicherung. So hält der Abschlussbericht zur National Family Health Survey aus dem Jahr 2006 fest, dass in lediglich 5 % der 120.000 der befragten Haushalte mindestens eine Person krankenversichert ist (International Institute for Population Sciences und Macro International 2007).
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Abbildung 13: Das indische Gesundheitssystem als Hybrid zwischen Marktmodell und staatlichem Modell (eigene Darstellung)
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Grundsätzlich ist zwischen zwei verschiedenen Versicherungsmodellen zu unterscheiden. Für Staatsbedienstete und Angehörige des Militärs gibt es steuerfinanzierte Versicherungsmodelle (ESIS: employees state insurance scheme, CGHS: central government health scheme, vgl. Lal/Adarsh/Pankkaj 2007). Diese tragen einen großen Teil der Kosten für stationäre Behandlungen im privaten Gesundheitssektor, lediglich Einzelzimmerzuschläge und ähnliches müssen ggf. privat bezahlt werden. Ambulante Behandlungen sind von den Leistungen, wie auch bei allen anderen Krankenversicherungen, ausgeschlossen. Diese Krankenversicherung wird als Teil des Entgelts angesehen und ist daher kostenfrei. Die Militärangehörigen sowie ihre engsten Verwandten können während der aktiven Dienstzeit die Versorgungsstrukturen des Militärs (eigene Krankenhäuser und Arztpraxen) in Anspruch nehmen. Im Anschluss daran können auch sie eine Krankenversicherung abschließen (gegen Zahlung einer geringen einmaligen Gebühr), die ihnen und ihren Angehörigen lebenslang die kostenfreie Inanspruchnahme der militärischen Versorgungseinrichtungen sowie ausgewählter privater Einrichtungen sichert (Quelle: eigene Experteninterviews). Daneben entsteht auch ein privater Krankenversicherungsmarkt. Dieser ist frei zugänglich, der Beitrag wird risikoabhängig und personenbezogen ermittelt. Insbesondere die Wohlhabenden haben in letzter Zeit vermehrt begonnen, diese Option der privaten Absicherung zu nutzen. In den Gesprächen mit leitenden Angestellten verschiedener Krankenhäusern schilderten diese, dass der Anteil der Versicherten zuletzt stark gestiegen sei. Einer der Gesprächspartner schätzte, dass der Anteil der Versicherten in seinem Haus in den letzten zehn Jahren von 2 % auf nunmehr annähernd 20 % gestiegen sei. In den Laieninterviews gaben jedoch insbesondere Probanden in ärmeren Haushalten an, die Kosten für eine Krankenversicherung sei zu hoch (ein Proband nannte den Betrag von 7 INR23 pro Tag und Person für seinen Haushalt). Zudem besteht eine gewisse Skepsis gegenüber den Versicherungsgesellschaften. Viele der Gesprächspartner gaben, an zu befürchten, dass diese die Kosten der Behandlung im Bedarfsfalle mit dem Hinweis auf unverständliche Vertragsklauseln nicht erstatten. V.1.4 Bilanz und Reformbedarf Im Jahr 2001 legte die Weltbank einen ausführlichen Bericht zum Zustand des indischen Gesundheitssystems vor (World Bank 2001). Der Bericht stellt erstmals ausführlich dar, dass der private Gesundheitssektor in vielen Bereichen mittlerweile den weit überwiegenden Teil der Gesundheitsdienstleistungen erbringt. Aufgrund fehlender Regulierung und Aufsicht seien dessen Leistungen häufig von zweifelhafter Qualität bzw. inadäquat, so die Autoren. Ein häufig zitierter Indikator hierfür ist die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Zahl der Geburten per Kaiserschnitt in Indiens Privatkrankenhäusern, was mit dem höheren Gewinn bei dieser Art der Entbindung erklärt wird (Betz 2002). Das Profitstreben 23
ca. 12 Eurocent
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Untersuchungskontext
wird in diesen Fällen über das Wohl des Patienten gestellt, anerkannte Behandlungsrichtlinien werden ignoriert. Insbesondere die Bezahlung privater Leistungserbringer stellt ein Problem dar, wobei zu Beginn des Jahrtausends nahezu 80 % aller Gesundheitsausgaben in Indien auf den privaten Gesundheitssektor entfielen (World Bank 2001). Gleichzeitig hält der Bericht fest, dass lediglich 10 % der Bevölkerung über eine Krankenversicherung verfügen. Der überwältigende Anteil der Ausgaben im Gesundheitssektor wird daher out of pocket, das heißt von den Patienten direkt von ihrem Haushaltseinkommen gezahlt. Der öffentliche Gesundheitssektor, dem eine durchweg schlechte Zielerreichung attestiert wird, ist heute faktisch nur noch für die unteren Einkommensschichten von Bedeutung. Und auch sie nehmen im Falle einer ambulanten Behandlung in 79 % der Fälle die Dienste privater Leistungserbringer in Anspruch, die allerdings häufig schlecht ausgebildet sind und Leistungen fernab jeglicher Standards erbringen (World Bank 2001). Der hohe Anteil der direkt von den Haushalten zu zahlenden Behandlungskosten im privaten Sektor bei gleichzeitigem Versagen des öffentlichen Gesundheitssektors bedeutet, dass die stationäre Behandlung eines Haushaltsmitglieds in nahezu einem Viertel der Fälle zu einer Verelendung des Haushaltes führt. Gleichzeitig stellt der Bericht aber auch fest, dass es hinsichtlich der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitssektors ebenso wie hinsichtlich der Position innerhalb des Gesundheitsübergangs (vgl. Kapitel V.2) große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesstaaten gibt. Der Bericht benennt vier große Aufgabenfelder, die bei der Reform des indischen Gesundheitssystems Vorrang haben sollten: 1. Die Bedürfnisse der Armen sollen verstärkt in den Blick genommen werden und die gesundheitliche Versorgung benachteiligter Gruppen sollte verbessert werden. 2. Der sich vollziehende Gesundheitsübergang und die sich verändernden Krankheitslasten müssen eine Veränderung des Angebots nach sich ziehen. 3. Der bisher weitestgehend vernachlässigte private Gesundheitssektor bedarf der Regulierung und sollte, soweit möglich, im Rahmen von public-privatepartnerships in die Leistungserbringung für die gesamte Bevölkerung einbezogen werden. 4. Die Steigerung von Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung im öffentlichen wie im privaten Gesundheitssektor sollte im Fokus aller Reformbemühungen stehen (World Bank 2001). Auf Grundlage dieser substantiellen Kritik legte das indische Gesundheitsministerium ein neues Leitdokument für die Gesundheitspolitik vor, die National Health Policy 2002 (kurz NHP 2002, MoHFW 2002). Hierin findet eine selbstkritische und schonungslose Analyse der Missstände und der Fehlentwicklungen im Gesundheitssystem statt. Zum Status des öffentlichen Gesundheitssektors heißt es in der NHP 2002:
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Untersuchungskontext
„… the existing public health infrastructure is far from satisfactory. For the outdoor medical facilities in existence, funding is generally insufficient; the presence of medical and paramedical personnel is often much less than that required by prescribed norms; the availability of consumables is frequently negligible; the equipment in many public hospitals is often obsolescent and unusable; and, the buildings are in a dilapidated state. In the indoor treatment facilities, again, the equipment is often obsolescent; the availability of essential drugs is minimal; the capacity of the facilities is grossly inadequate, which leads to over-crowding, and consequentially to a steep deterioration in the quality of the services.“(MoHFW 2002, ohne Seitenangabe)
Das Fazit der NHP 2002 lautet, dass der Gesundheitszustand der indischen Bevölkerung insgesamt inakzeptabel und dass das Ziel health for all by 2000 bis dato unerreicht sei. Als wesentlichen Grund führen die Autoren an, dass in der ersten NHP (1983) die zur Verfügung stehenden Ressourcen zu optimistisch eingeschätzt wurden. In den 1990 Jahren sanken die Ausgaben der öffentlichen Hand im Gesundheitssektor von 1,3 % auf 0,9 % des Bruttoinlandprodukts (BIP). Von den aggregierten Ausgaben für Gesundheit entfallen lediglich 17% auf die öffentliche Hand, die verbleibenden 83 % werden direkt durch die Bürger getragen. Die Ausgaben der Zentralregierung stagnierten in den 1990 Jahren bei 1,3% des Haushaltes, in den Bundesstaaten gingen sie im Schnitt von 7 % auf 5,5 % zurück. 04/
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Dabei unterscheiden sich die einzelnen Bundesstaaten in der Zielerreichung signifikant, wie in der NHP 2002 anhand verschiedener Indikatoren verdeutlicht, von denen zwei der wichtigsten, die Säuglingssterblichkeit (Tod vor Vollendung des ersten Lebensjahres) und die Kindersterblichkeit (Tod vor Vollendung des fünften Lebensjahres), in Diagramm 1 dargestellt sind. In der NHP 2002 wird zwischen better performing states (Kerala, Maharashtra und Tamil Nadu) und low performing states (Orissa, Bihar, Rajasthan, Uttar Pradesh und Madhya Pradesh) differenziert. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Investitionen und der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitssektors sowie hinsichtlich ihrer Position im Gesundheitsübergang (vgl. MoHFW 2002 und World Bank 2001). Die Entwicklung des privaten Gesundheitssektors kommentiert die NHP 2002 wie folgt: „Currently, the contribution of private health care is principally through independent practitioners. Also, the private sector contributes significantly to secondary-level care and some tertiary care. It is a widespread perception that private health services are very uneven in quality, sometimes even sub-standard. Private health services are also perceived to be financially exploitative, and the observance of professional ethics is noted only as an exception.“ (MoHFW 2002, ohne Seitenangabe)
Die Entwicklung des privaten Gesundheitssektors ist auch aufgrund der mangelhaften Gesundheitsberichterstattung in zeitlicher Hinsicht nur anhand grober Anhaltspunkte nachvollziehbar. Heute liegen lediglich Schätzungen über die Anzahl der privaten Leistungserbringer vor, da es nur in wenigen Bundesstaaten Vorgaben zur Registrierung medizinischer Einrichtungen gibt und dies zudem unzureichend kontrolliert wird (Betz 2002). Eine Übersicht über private Leistungserbringer gibt es nur dort, wo im Rahmen von Projekten eine punktuelle Erhebung stattfindet (für Delhi vgl. Chapelet/Lefebvre 2005). Sengupta/Nundy (2005) schätzen, dass im Jahr der Unabhängigkeit Indiens (1947) ca. 5–10 % aller Behandlungen durch Ärzte des privaten Sektors durchgeführt wurden, während sie die Werte heute auf 82 % in der ambulanten Versorgung bzw. 58 % in der stationären Versorgung estimieren. Weiterhin gehen sie davon aus, dass 40 % aller Patienten, die stationär behandelt werden müssen, sich entweder Geld leihen oder Wertgegenstände verkaufen müssen. Die Autorinnen weisen zudem darauf hin, dass seit der Liberalisierung zu Beginn der 1990er Jahre eine grundlegende Veränderung im privaten Gesundheitssektor einsetzte. Während vorher die meisten nicht staatlichen Krankenhäuser von Wohltätigkeitsorganisationen betrieben wurden und nicht profitorientiert agierten, setzte vor 20 Jahren ein Wandel ein, der zu einer Ökonomisierung des privaten Gesundheitssektors führte. Dies ist insbesondere in dem oberen Marktsegment offensichtlich, das mittlerweile von national operierenden Krankenhausgesellschaften bedient wird, die über ein straffes Management verfügen und neben der wohlhabenden lokalen Bevölkerung auch gezielt Medizintouristen als Klientel ansprechen (Sengupta/Nundy 2005, Sarngadharan/Sunanda 2009). Diese allgemeine Einschätzung spiegelte sich auch in eigenen Experteninterviews wider. Die befragten Akteure des lokalen Gesundheitssystems nannten die Ökonomisierung eine der grundlegendsten Änderungen des privaten Gesund-
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heitssektors in Pune in den letzten Jahren. Die leitenden Angestellten dreier großer Krankenhäuser gaben an, aktiv Gesundheitstouristen anzusprechen. Sie nannten als hauptsächliche Herkunftsländer der Medizintouristen die Golfstaaten, afrikanische Staaten sowie die USA und Großbritannien, wobei in den beiden letztgenannten vor allem nonresidential Indians angesprochen werden. Für den lokalen Kontext wiesen die Experten darauf hin, dass die Kapazität des privaten Gesundheitssektors sehr stark angestiegen sei, während gleichzeitig die Kapazitäten des öffentlichen Gesundheitssektors nicht oder nur unmerklich ausgeweitet wurden. Der private Gesundheitssektor schließt so faktisch die Versorgungslücke, die durch den enormen Bevölkerungszuwachs im Zuge der Megaurbanisierung entstand. V.2 INDIEN IM GESUNDHEITSÜBERGANG – NEUE HERAUSFORDERUNGEN In ihrem Bericht aus dem Jahre 2001 stellt die World Bank fest, dass Indien ein Land inmitten eines gesundheitlichen Übergangs ist (vgl. Diagramm 1). Das Modell des Gesundheitsübergangs (Martens 2002) stellt eine Weiterentwicklung des Modells des epidemiologischen Übergangs (Omran 1971) dar. Hierin werden Geburten-, Sterbe- und Morbiditätsraten synoptisch betrachtet und ihre Veränderung in einem mehrphasigen Modell zusammenhängend dargestellt. In seiner Grundform weist dieses Modell drei Phasen auf, in deren Verlauf die Lebenserwartung einer Bevölkerung stetig steigt. In Abb. 14 ist dies durch die Kurve der sog. entwickelten Länder dargestellt. Diese haben dabei die Phasen der Seuchen und Hungersnöte sowie die Phase der abnehmenden Infektionskrankheiten durchlaufen und nunmehr die Phase der chronischen Krankheiten erreicht. Im Verlauf dieses Wandels haben sich die Lebenserwartung erhöht und das epidemiologische Profil verändert. Haupttodesursachen sind chronische Erkrankungen, Erkrankungen des Herz-Kreislaufssystems, Karzinome etc., während Infektionskrankheiten nur noch einen geringen Anteil an der Sterblichkeit haben. Die am wenigsten entwickelten Länder, insbesondere die sog. fragile states (vgl. WHO 2008), haben diesen Wandel noch nicht durchlaufen; hier sind Hungersnöte und Infektionserkrankungen immer noch die dominanten Todesursachen. Für diese Ländergruppe stellt die WHO fest, dass sich die Lebenserwartung in den letzten 30 Jahren nicht erhöht hat (WHO 2008). Demgegenüber ist in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern ein Phänomen zu beobachten, das als epidemiologische Fragmentierung angesprochen wird (vgl. Butsch/Sakdapolrak 2010). Die Gesellschaften dieser Länder, zu denen auch Indien zählt, leiden unter der double burden of disease (Stephens 1996) und großen Disparitäten hinsichtlich des Gesundheitszustandes unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Die double burden of disease bezeichnet dabei einen Zustand, bei dem insbesondere die städtischen Armutsbevölkerungen noch unter einer hohen Krankheitslast aufgrund von Infektionskrankheiten leiden, gleichzeitig aber aufgrund geänderter Umweltbedingungen (vgl. Glouberman et al. 2006) eine mas-
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Lebenserwartung
sive Last chronischer Erkrankungen zu tragen haben. Der Gesundheitszustand in der Gesellschaft ist höchst ungleich verteilt, was einerseits mit unterschiedlichen Lebensumwelten und Gesundheitsdeterminanten, andererseits mit unterschiedlichem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu erklären ist (Kroll/Butsch/Kraas im Druck). Eine epidemiologische Fragmentierung ist in Indien auf verschiedensten Maßstabsebenen zu beobachten. Zum einen sind große Unterschiede zwischen den Bundesstaaten festzustellen (World Bank 2001, MoHFW 2002), zum anderen sind große Gesundheitsunterschiede zwischen städtischen und ländlichen Bevölkerungen zu beobachten. Drittens gibt es innerhalb dieser unterschiedlichen räumlichen Aggregationsebenen verschiedene Bevölkerungsgruppen mit äußerst heterogenem Gesundheitszustand. Diese Ungleichheiten sind in städtischen Räumen am größten. Hier finden sich sowohl die gesündesten als auch die gesundheitlich am stärksten belasteten Bevölkerungen (vgl. Gupta/Mitra 2002 oder Pardeshi/ Kakrani 2006).
Zeitalter chronischer Krankheiten
Zeitalter abnehmender Infektionskrankheiten Doppelte Bürde Epidemiologische Fragmentierung
Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte
Zeit
Länder mit hohem Einkommen
Länder mit niedrigem Einkommen
Länder mit mittlerem Einkommen
Fragile Staaten
Quelle: Butsch & Sakdapolrak nach Omran (1971), Martens (2002), WHO (2008)
Abbildung 14: Modell des Gesundheitsübergangs
Der öffentliche Diskurs innerhalb Indiens konzentriert sich stark auf die vermeintlich bessere Gesundheitsversorgung bzw. den besseren Gesundheitszustand in städtischen gegenüber ländlichen Räumen. Dabei ist die Problemlage in ländlichen und städtischen Räumen grundverschieden. Die ländliche Bevölkerung ist in deutlich höherem Maße noch von Infektionskrankheiten betroffen, und mangelhafter Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen ist im Wesentlichen durch das Feh-
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len von Einrichtungen zu erklären. Gründe hierfür sind die Fokussierung der privaten Leistungserbringer auf städtische Räume und die fehlenden Investitionen des öffentlichen Gesundheitssektors (World Bank 2001). Die Probleme der Bevölkerung im ländlichen Indien werden dabei sowohl von der World Bank als auch von dem indischen Gesundheitsministerium (World Bank 2001, MoHFW 2002) als eine nicht abgeschlossene Agenda bezeichnet (Betz 2002). Die Anstrengungen von offizieller Seite konzentrieren sich daher im Wesentlichen auf den ländlichen Raum. Diese wurden im Jahr 2005 in der sogenannten National Rural Health Mission (NRHM) gebündelt, was zur Folge hat, dass neu entstehende Gesundheitsprobleme in städtischen Räumen auf längere Sicht nachrangig behandelt werden (vgl. Agarwal/Sangar 2005). Zwar wurde in der Presse24 im Jahr 2008 häufiger gemeldet, die Zentralregierung plane auch den Start einer National Urban Health Mission. Offiziell wurde dieses Programm aber bisher nicht in Kraft gesetzt und seit Anfang 2009 gab es auch keine neuen Presseberichte hierzu. Daher ist zu vermuten, dass dieser Plan zunächst nicht weiter verfolgt wird. Auf große Unterschiede im Gesundheitszustand städtischer und ländlicher Bevölkerungen deuten auch die Ergebnisse der National Family Health Survey von 2005/2006 hin (International Institute for Population Sciences und Macro International 2007). Die National Family Health Survey (NFHS) stellt eine der wichtigsten Quellen gesundheitsbezogener Daten für Indien dar. Die Inzidenzraten für Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes oder Schilddrüsenerkrankungen sind für städtische Bevölkerungen signifikant höher als für ländliche (Diabetes: Frauen städtisch: 1.374/100.000 EW, Frauen ländlich: 641/100.000 EW, Männer städtisch: 1.383/100.000 EW, Männer ländlich: 860/100.000 EW; Schilddrüsenfehlfunktionen: Frauen städtisch: 1.339/100.000 EW, Frauen ländlich: 758/100.000 EW, Männer städtisch: 369/100.000 EW, Männer ländlich: 392/100.000 EW). Insbesondere Diabetes ist als lebensstilassoziierte Erkrankungen anzusprechen: Bewegungsmangel, stark belastete Umwelten und andere Ernährungsgewohnheiten führen zu einer erhöhten Prävalenz in städtischen Räumen (Harpham/Molyneux 2001). Diese unterschiedlichen epidemiologischen Profile zwischen Stadt und Land bedeuten gleichzeitig auch geänderte Anforderungen an die Gesundheitsversorgung. Reddy et al. (2005) halten jedoch fest, dass der öffentliche Gesundheitssektor weder darauf ausgelegt ist, die steigende Zahl chronischer Erkrankungen zu behandeln (Mangel an Spezialisten, Medikamenten, Behandlungseinrichtungen), noch die finanziellen Mittel für kostenintensive, langfristige Behandlungen zur Verfügung stehen. Auch Peters/Rao/Fryatt (2003) stellen fest, dass Indiens öffentlicher Gesundheitssektor, der in einer anderen Zeit und unter anderen Voraussetzungen ins Leben gerufen wurde, den Herausforderungen des epidemiologischen Wandels nicht gewachsen ist. Auf der Nutzerseite ist somit ein komplexer Bedarf zu festzustellen, dem auf der Angebotsseite ein Gesundheitssystem gegenüber24
etwa The Hindu vom 23. Dezember 2008: Urban Health Mission in three months: Anbumani. Focus on slum dwellers; government to pay insurance premium (Anbumani war zu diesem Zeitpunkt der Gesundheitsminister der Bundesregierung)
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steht, das strukturell nicht in der Lage ist, den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Dieses Ungleichgewicht bedingt die Entstehung gesundheitlicher Ungerechtigkeit (Kroll/Butsch/Kraas im Druck). V.3 URBANE GESUNDHEIT IN INDIEN Die in Kapitel II.3.3 beschriebenen Problemlagen der Stadtgesundheit in Schwellen- und Entwicklungsländern lassen sich auch in den Städten Indiens beobachten. Allerdings sind gewisse Besonderheiten zu beachten, die im Zusammenhang mit der Ausprägung des Urbanisierungsprozesses im nationalen Kontext (vgl. Kapitel II.2.3), den nationalen und bundesstaatlichen Gesundheitspolitiken (vgl. Kapitel V.1), sowie Indiens Status als Schwellenland stehen. Hierauf soll im Folgenden kurz eingegangen werden. Die Kombination aus einem starkem ökonomischen Wachstum, insbesondere seit Beginn der 1990 Jahre, einer stetig steigenden Lebenserwartung sowie einer Verwestlichung von Lebensstilen, vorrangig der Ernährungsgewohnheiten, führt zu einer spezifischen Ausprägung des epidemiologischen Wandels. Die Verbesserung der Ernährungssituation in der Folge der Grünen Revolution sowie eine erfolgreiche Strategie zur Bekämpfung klassischer Infektionskrankheiten, wie Polio, Lepra, Pocken etc., sind in diesem Kontext als Fortschritte anzusprechen. Andererseits ist das Auftreten neuer Infektionskrankheiten, wie HIV/AIDS, bei gleichzeitigem Wiederauftreten vektorbürtiger Krankheiten, wie etwa Chikungunya, Malaria und Dengue, insbesondere im urbanen Kontext, als Belastung vorrangig städtischer Armutsbevölkerung anzusprechen. Die bereits erfolgreich bekämpft geglaubte Tuberkulose erlebt derzeit eine – traurige – Renaissance, auch als Sekundärerkrankung im Zusammenhang mit der HIV/AIDS-Pandemie, für die es in Indien allerdings keine gesicherten Zahlen gibt (Pandey et al. 2009). Bezüglich der sogenannten Lebensstilkrankheiten führen Reddy et al. (2005) aus, dass die Prävalenzraten verschiedener chronischer Erkrankungen in den Städten Indiens die der ländlichen Bevölkerung meist signifikant übersteigen. So liegt die Diabetesprävalenz Erwachsener in städtischen Bereichen Indiens bei 11,8 %, während sie in ländlichen 3,8 % beträgt. Auch ein Vergleich der Bluthochdruckprävalenz zeigt gravierende Unterschiede zwischen städtischen (20–40 %) und ländlichen (12–17 %) Gebieten. Als wesentliche Gründe nennen die Autoren geänderte Lebensstile in den urbanen Agglomerationen Indiens, aber auch eine generell gestiegene Lebenserwartung. Mittlerweile machen in Indien chronische Erkrankungen bereits 44 % der disability adjusted lifeyears aus (Reddy et al. 2005). Allerdings sind viele der vorliegenden Daten lediglich Schätzungen, die auf einzelnen Studien beruhen, da es eine zuverlässige und flächendeckende Gesundheitsberichterstattung in Indien nicht gibt. Die Ergebnisse der zweiten National Family Health Survey wurden 2004 in einer Sonderausgabe der Economic and Political Weekly ausführlich diskutiert. In ihrem einleitenden Artikel kommen Rajan/James (2004) zu dem Fazit, dass die Daten der NFHS 1998/99 im Vergleich zu der vorhergehenden Studie den Schluss
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nahe legen, dass die gravierenden Unterschiede zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen eine erstaunliche Persistenz aufweisen. Roy/Kulkarni/Vaidehi (2004) und Srinivasan/Mohanty (2004) kommen zu dem Ergebnis, dass einerseits die Kastenzugehörigkeit, andererseits der sozioökonomische Status in starker Korrelation zum Gesundheitsstatus stehen. Mishra/Mishra (2004) diskutieren ausführlich den Einflussfaktor Bildung, wobei sie seine Wichtigkeit für die Gesundheit von Frauen und Kindern unterstreichen. Zusätzlich zu diesen Problemen stellt der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen im urbanen Indien ein massives Problem dar. Neben der allgemeinen Reformbedürftigkeit (vgl. Kapitel V.1.4) trifft dies für urbane Gesundheitssysteme in besonderer Weise zu. Ein wesentlicher Grund für die besondere Problemlage des öffentlichen Gesundheitssektors im städtischen Raum ist die angesprochene starke Fokussierung von Investitionen der öffentlichen Hand auf den ländlichen Raum. Agarwal/Sangar (2005) mahnen in einem kritischen Artikel zu der NRHM an, dass die Verbesserung des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen in Städten derzeit nicht auf der politischen Agenda stehe, wohl aber eines der dringendsten Probleme des Gesundheitssektors darstelle. Insbesondere mit Hinblick auf die zu erwartende demographische Entwicklung des Landes, die sie als „2–3–4–5Syndrom“ ansprechen (2 % Bevölkerungswachstum/Jahr, 3 % Wachstum der städtischen Bevölkerung/Jahr, 4 % jährliches Wachstum der Bevölkerung in Megastädten und 5 %ige jährliche Zunahme der städtischen Marginalbevölkerung), sind verstärkte Investitionen in urbane Gesundheitssysteme mittelfristig notwendig, um eine „Nekropolisierung“ von Indiens Städten im Sinne Hortons (1996, vgl. Kapitel II.3.3) zu verhindern. V.4 PUNE: MEGASTADT VON MORGEN Pune (ehemals Poona), 2001 mit knapp 3,7 Mio. Einwohnern die achtgrößte Stadt Indiens25, liegt am östlichen Ende eines Verdichtungskorridors, der bis zum ca. 160 km entfernt liegenden Mumbai (ehemals Bombay) reicht (Karte 1). Diese Region, die sich über die Distrikte Pune, Raigad, Thane und Mumbai (von Ost nach West) erstreckt, ist das ökonomische Zentrum des indischen Bundesstaates Maharashtra. Die Berechnung des Human Development Index weist für diese Distrikte die höchsten Werte innerhalb Maharashtras aus (Government of Maharashtra 2002). Shaw (1999) spricht den Mumbai-Pune-Korridor als Teil eines größeren, zusammenhängenden Urbanisierungs- und Industrialisierungsbandes an, das sich an der Nordwestküste Indiens von Ahmedabad über Mumbai nach Pune erstreckt. Dieses ist durch die Industriesuburbanisierung entstanden, die in den 1980er Jahren einsetzte. Insbesondere durch die Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen nach der Liberalisierung der Wirtschaft 1991 nahm die Zahl der 25
Angabe für die Pune Urban Agglomeration, auf Grundlage der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2001, Quelle: http://censusindia.gov.in/Census_And_You/area_and_population.aspx (letzter Zugriff: 2.2.2010)
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Industriestandorte außerhalb der Kernstädte zu (Shaw 1999). Punes derzeitige wirtschaftliche und demographische Stellung im nationalen Kontext ist das Resultat einer relativ jungen, dafür aber umso rasanteren Entwicklung. Der Zensus 1941 weist für Pune 275.000 Einwohner aus. Nach der Unabhängigkeit Indiens und der Teilung der ehemaligen britischen Kolonie kam es zunächst zu einem Zustrom von Flüchtlingen. Das kontinuierliche, rapide Wachstum der Stadt setzte jedoch erst 1960 ein, als Pune gezielt zu einem Industriestandort entwickelt wurde. #)&&
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Karte 1: Lage des Mumbai-Pune-Korridors in Indien (verändert nach Kraas et al. 2009)
V.4.1 Eine Stadt – drei Siedlungen Bis heute sind in Pune verschiedene Stadtteile aufgrund der Persistenz historischer Strukturen deutlich zu unterscheiden (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Dies ist unter anderem auf die parallele Existenz unterschiedlicher administrativer Strukturen und Bauvorschriften innerhalb der Agglomeration zurückzuführen. Karte 2 zeigt das Wachstum Punes in verschiedenen Phasen der historischen Entwicklung. Die grünen Einfärbungen markieren die Ausdehnung der geschlossenen Siedlungsfläche zu verschiedenen Zeitpunkten. Die Entwicklung Punes lässt sich im Wesentlichen im Kontext der allgemeinen Entwicklung der indischen Stadt sehen (vgl. Kapitel II.2.3, Ramachandran 1989, Bronger 1995). Die Planungsphilosophie wechselte zweimal grundlegend: zum ersten Mal mit der Eroberung Punes durch die Briten, zum zweiten Mal nach der Unabhängigkeit Indiens. Diese Dis-
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kontinuität hat sich im Stadtbild insofern manifestiert, als dass bis heute klar der prä-britische, historische Stadtkern, die Kolonialstadt und die nach der Unabhängigkeit entwickelten Gebiete deutliche Unterschiede in der Bebauungsdichte, den Straßengrundrissen und der Gebäudephysiognomie aufweisen. Bapat (1981) unterscheidet zwischen der pre-colonial capital, dem colonial centre after 1817 und dem urban industrial centre (vgl. Bapat 1981: 162–165). Darüber hinaus leben in den einzelnen Vierteln auch Bevölkerungen mit unterschiedlicher traditioneller Verwurzelung in der Stadt (Bapat 1981). So leben beispielsweise in der Altstadt (pre-colonial capital) vorwiegend Haushalte, die seit mehreren Generationen in Pune ansässig sind, während in den neuen Gebieten am Stadtrand teilweise Zugezogene leben, teilweise junge Familien, deren Elterngeneration in der Altstadt lebt. Diese Unterschiede spiegeln sich auch in den soziodemographischen Merkmalen der gewählten Untersuchungsgebiete (Kapitel VII) wider. Legende: "("% %! "! "$ % "
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Umgehungsstraße Hauptstraße Siedlungsfläche
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Karte 2: Stadtentwicklung Punes und gewählte Untersuchungsgebiete, eigene Darstellung auf Grundlage verschiedener Quellen
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Der älteste Beleg für eine Siedlung an der Stelle des heutigen Pune ist eine urkundliche Erwähnung aus dem achten Jahrhundert (Diddee/Gupta 2003). Ab dem 13. Jahrhundert war Pune Sitz der regionalen Verwaltung eines tributpflichtigen Staates des Sultanats von Delhi. Im frühen 17. Jahrhundert stieg Pune zur Hauptstadt eines lokalen Hindureichs auf, das nach dem faktischen Zusammenbruch des Moghulreichs zeitweilig einer Allianz von Hindureichen gegen den sich ausweitenden Einfluss der Briten vorstand. Die Dynastie der Peshwas, die ihr Reich von Pune aus lenkten, bescherten der Stadt eine rund 90 Jahre währende Blütezeit. Während ihrer Herrschaft wurde die Stadt erweitert, indem die Herrscher verdienten Edelleuten (shete) das Recht gaben, ein bestimmtes Gebiet (peth) für die Stadterweiterung zu entwickeln (Didee/Gupta 2003). Kleinschrittig wurde die Stadt so im 18. Jahrhundert signifikant vergrößert. Die Namen der Peths werden auch heute noch im Bereich der Altstadt verwendet. 1817 fiel Pune nach einer Schlacht bei Khadki, vor den Toren der Stadt, in die Hände der Briten. 1818 wurde das gesamte Deccan der Bombay Presidency einverleibt (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Die existierenden Stadtstrukturen wurden von den Briten zunächst nicht verändert, auch die lokale Administration blieb im Amt. Mit dem Bau von festen Kasernen wurde in Pune ab 1842 begonnen. Östlich der Altstadt entstanden Baracken und die civil lines (Poona camp), die zusammen das Poona cantonment bilden; im Nordwesten, jenseits des Mula entstand Kirkee cantonment, als zweiter Standort (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Die britischen Strukturen stellen, wie in den meisten indischen Städten, bis heute eine Parallelstruktur dar. In Pune sind nach wie vor die administrativen Strukturen getrennt (Bapat 1981, PMC 2006). Die Anlage der britischen Stadtteile erfolgte bewusst unverbunden mit dem Rest der Stadt: „There were two Poonas almost as far removed from each other as the North and the South Poles.“ (Reverend Elvin, der 30 Jahre im Pune der Kolonialzeit lebte, zitiert nach Didee/ Gupta 2003: 139). “
Neben der engen, dicht besiedelten Altstadt wirkten die cantonments weitläufig und strukturiert, da es strikte Bauvorschriften gab, die geringe Gebäudehöhen bei flächenextensiver Nutzung und guter infrastruktureller Erschließung vorsahen (Bapat 1981). Drei verschiedene Landnutzungsarten waren im britischen cantonment streng voneinander abgegrenzt: die Wohnbereiche der Offiziere und der britischen Verwaltungsangestellten, die Flächen rein militärischer Nutzung sowie eine city, in der Handel und Administration angesiedelt waren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich ein reges soziales Leben im Poona camp: Es wurden Kirchen für verschiedene Konfessionen und eine Synagoge errichtet, mehrere clubs wurden zum Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Die Pferderennbahn mit ihrem turf club ist bis heute ein wichtiger Treffpunkt. Immer noch werden die beiden cantonments Pune cantonment und Khadki cantonment militärisch genutzt und unterstehen den administrativen Strukturen des Militärs. Hierdurch wurde der Status quo erhalten, so dass sich auch heute noch zahlreiche Bungalows auf weitläufigen Grundstücken finden und das Gebiet viele Freiflächen aufweist, was diesen Teil der Stadt auch für Wohlhabende attraktiv macht (Bapat 1981).
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Eine dritte, wiederum vollkommen unterschiedliche städtebauliche Struktur bilden die nach der Unabhängigkeit entwickelten Stadtgebiete. 1950 wurde Pune in den Rang einer municipal corporation erhoben. Ein erster Stadtentwicklungsplan für den Großraum Pune wurde 1952 vorgelegt, 1967 wurde die Pune Metropolitan Region als administrative Ebene der übergeordneten Regionalplanung der verschiedenen Gebietskörperschaften26 gegründet, ein erster Regionalplan wurde schließlich 1970 vorgelegt (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Während es gelang, die Ansiedlung von Industriebetrieben relativ gezielt zu steuern, kann im Bereich der Wohnbebauung eine weitestgehend unregulierte Entwicklung beobachtet werden. Auch aufgrund der Verzögerungen bei der Entwicklung und Implementierung von Regional- und Bebauungsplänen fand seitens der Behörden eine überwiegend reaktive Planung statt, bei der Infrastruktur für entstandene Siedlungserweiterungen erst ex post bereitgestellt wurde. Insbesondere nach der Überflutung großer Teile der Altstadt in Folge eines Dammbruchs stromaufwärts 1961 setzte eine rege aber unkontrollierte Bautätigkeit im Süden und im Westen Punes ein (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Die neu entstandenen Wohngebiete bestehen aus mehrgeschossigen Mehrfamilienhäusern, die in relativ einfacher Bauweise mit einem Betonskelett und gemauerten Wänden kostengünstig erstellt werden konnten. Insbesondere in neuer Zeit übernehmen Bauunternehmen zunehmend die Entwicklung geschlossener societies (Bapat 1981, Didee/Gupta 2003). Dies sind Appartementblocks ähnlicher Architektur, die innerhalb kürzester Zeit gebaut werden und über eine genossenschaftliche Verwaltung der Gemeinschaftseinrichtungen verfügen. Neuere Projekte, wie etwa die im Osten Punes entstandene Magarpatta City27, eine Wohnanlage mit freistehenden Einfamilienhäusern, Appartementkomplexen, einem ITPark, einem eigenen Krankenhaus, eigenen sozialen Einrichtungen etc., haben zunehmend den Charakter von gated communities. Gleiches gilt aber auch für die bereits in den 1980er Jahren in dem südlichen Stadtteil Kondhwa errichtete Siedlung Salunke Vihar. V.4.2 Soziale Segregation in Pune Der massive Ausbau der Industrie und des Dienstleistungssektors veränderte Pune, das bis in die 1980er Jahre noch den Eindruck einer beschaulichen Rentner– und Universitätsstadt vermittelte (Didee/Gupta 2003). Nach Schätzungen der municipal corporation hatte Pune im Jahr 2005 2,9 Millionen Einwohner (ohne die cantonments und ohne Pimpri-Chinchwad). Innerhalb von 64 Jahren hat Pune seine Einwohnerzahl somit verzehnfacht. Das Wachstum der Gesamtagglomeration auf 3,7 Mio. Einwohner (2001) übersteigt diesen Wert sogar noch (PMC 2006a, PMC 2006b, PMC 2007). Dieses ist weniger auf einen Geburtenüber26 27
Pune Municipal Corporation, die Cantonments, Pimpri-Chinchwad sowie 127 Dörfer; insgesamt eine Fläche von 1600 km2 www.magarpattacity.com (Letzter Zugriff: 7.11.2010)
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schuss als vielmehr durch Wanderungsgewinne zu erklären. Mit dem Wachstum der Bevölkerung insgesamt setzte auch ein Wachstum der Slums ein, die sich einerseits auf Freiflächen in der bestehenden Struktur, andererseits in der direkten Nachbarschaft zu Neubausiedlungen entwickelten. Interessant dabei ist, dass häufig eine sich verändernde, funktionale Beziehung zwischen den Slums und den Neubausiedlungen der Mittelschicht existiert. Leben in der Anfangsphase dieser Beziehung zunächst die Bauarbeiter in provisorischen Hütten in direkter Nachbarschaft zu „ihren“ Baustellen, lebt dort später in den sich nach und nach konsolidierenden Slums das Dienstpersonal für die benachbarten einkommensstärkeren Familien. Khairkar (2008) legt dar, welche verschiedenen Gruppen von Migranten seit der Unabhängigkeit nach Pune kamen. Ihre Untersuchung zeigt, dass Migranten verschiedener Herkunft aus unterschiedlichen Motivationsgründen in die Stadt kamen. In den einzelnen Gruppen zeigt sich ein jeweils charakteristisches Ausbildungsniveau, und die meisten Gruppen siedelten sich in sich in unterschiedlichen Vierteln an. Insbesondere Migranten aus dem ländlichen Raum Maharashtras sowie den Bundesstaaten Karnataka und Adhra Pradesh kamen als ungelernte Arbeiter für die Industrie und die Bauwirtschaft nach Pune und siedelten in Slums, die größtenteils hinsichtlich der regionalen Herkunft der Bewohner homogen sind. Punes Slums sind meist kleinere slum pockets, in denen die Bevölkerung auf engstem Raum unter häufig sehr schlechten hygienischen Bedingungen lebt. Diese sind über die gesamte Stadt verteilt und bilden eigene Fragmente, die in der Stadtstruktur gleichsam wie Einsprengsel verteilt sind. Dabei weist Bapat (1981) darauf hin, dass in Pune bereits in der präkolonialen Zeit die Armutsbevölkerung systematisch von der übrigen Bevölkerung getrennt war und in eigenen Vierteln am Stadtrand lebte. Auch Didee/Gupta (2003) beschreiben die randliche Lage von Vierteln der Armutsbevölkerung in Pune zur Zeit der Peshwars. Allerdings hat der Anteil der Armutsbevölkerung, der in von der Stadtverwaltung nicht anerkannten Slums lebt, seit der Unabhängigkeit stark zugenommen. Neue Slums entstanden im Laufe der Stadtgeschichte in unterschiedlichen Teilen der Stadt: Seit den 1930er Jahren wurden Hüttensiedlungen an den offenen Kanälen im Altstadtbereich gebaut, in den 1940er Jahren entstanden neue Marginalsiedlungen um die Poona Railway Station; im Süden der Altstadt wurden neue Slums in den frühen 1960er Jahren errichtet, die Slums an den Hängen des Parvati Hill, noch weiter südlich, wuchsen ab Mitte der 1960er Jahre (Bapat 1981). Für den Zeitraum zwischen 1951 und 1976 gibt Bapat (1981) auf Grundlage zweier Zählungen der Stadtverwaltung Punes eine Zunahme der Bewohner in illegalen Slums um 646 % an. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre nahm die Zahl der Armutsbevölkerung rapide zu, nachdem sich aufgrund von Dürren in den Jahren 1966/67 und 1972/73 viele Bauern gezwungen sahen, ihre dörfliche Heimat zu verlassen und einem außerlandwirtschaftlichen Erwerb nachzugehen. 1976 existierten 327 illegale Hüttensiedlungen in Pune, mit jeweils durchschnittlich ca. 850 Einwohnern (Bapat 1981). Heute leben über 40 % der Bevölkerung Punes in formellen wie informellen Slums (Sen/Hobson/Joshi 2003, PMC 2006 sowie PMC 2007). Hobson (2000) schätzt, dass in Pune knapp die Hälfte der Bevölke-
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rung in über 500 informellen Siedlungen lebt, die in ihrer Größe zwischen 50 bis zu mehreren tausend Hütten variieren und deren Bewohner aufgrund der Lebensbedingungen vielfältigen Gesundheitsbelastungen ausgesetzt sind. Unter stadtgenetischen Aspekten lassen sich somit drei Phasen der Stadtentwicklungsgeschichte klar voneinander abgrenzen, in denen unterschiedliche Planungsphilosophien die strukturelle Entwicklung leiteten. Diese unterschiedlichen Strukturen sind aufgrund einer hohen Persistenz bis heute gut erhalten. Ebenso unterscheiden sich die Bevölkerungsgruppen, die in den unterschiedlichen Stadtvierteln leben, voneinander. Während im Bereich der Altstadt eine eher traditionsverwurzelte, alteingesessene Bevölkerung anzutreffen ist, leben im Bereich des ehemaligen britischen cantonment vorrangig wohlhabende Familien mit lokaler Verwurzelung, die nach der Unabhängigkeit die aufgegebenen britischen Bungalows übernahmen und teilweise später durch Neubauten ersetzten. In den Neubaugebieten finden sich einerseits traditionell verwurzelte Familien, die durch den Umzug ihre Wohnfläche ausweiten, andererseits von außerhalb zugezogene Familien. Einen großen Teil dieser Gruppe machen Militärveteranen aus, die in Pune als dem Hauptquartier der südlichen Streitkräfte ihren Dienst geleistet haben und hier in ein intaktes soziales Netzwerk ehemaliger Offiziere integriert werden können (eigene Interviews). Eine weitere große Gruppe stellen die Zugezogenen dar, die durch die neuen Verdienstmöglichkeiten, z.B. im IT-Sektor, angezogen wurden. Die Auswahl der Untersuchungsgebiete, die in Kapitel VI beschrieben wird, spiegelt diese unterschiedlichen stadtstrukturellen und sozioökonomischen Gegebenheiten wider. V.4.3 Pune als Wirtschaftsstandort Seit den 1960 Jahren ist Pune zu einem Wirtschaftsstandort von nationaler Bedeutung herangewachsen. Während diese Entwicklung anfangs noch endogen getragen war, hat zuletzt die Bedeutung ausländischen Kapitals zugenommen. Im nationalen Vergleich schneidet Pune im Wettbewerb um ausländische Investoren dabei verhältnismäßig gut ab: Auf Mumbai, das nationale Finanzzentrum Indiens, entfielen im Zeitraum 1991–2003 insgesamt 42,1 % des Aktienkapitals bei ausländischen Direktinvestitionen (foreign direct investments – FDI) in ganz Indien (Morris 2004). Den zweiten Platz belegt Jamnagar, ein Raffinerie-Standort (13,46 %), gefolgt von der Hauptstadt Delhi mit lediglich 9,5 % des Aktienkapitals bei FDI. Pune belegt mit 2,2 % den sechsten Platz nach Bangalore und Chennai und liegt damit noch vor der vierten indischen Megastadt Kolkata (alle Angaben nach Morris 2004). Dies belegt sowohl die Bedeutung Punes als auch die herausragende Stellung des Verdichtungsraums Mumbai-Pune (vgl. Karte 1). Die Entwicklung Punes zu einem bedeutenden nationalen Wirtschaftsstandort ist eng mit den in den 1960 Jahren verabschiedeten Leitlinien der Wirtschaftspolitik verflochten. Diese sahen eine Konzentration der bescheidenen Industrieressourcen des Landes an einigen wenigen Standorten vor (Khairkar 2008). Die räumliche Diversifizierung der Wirtschaft war Teil einer Gesamtstrategie, um
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nach der Unabhängigkeit die Bevölkerung auch außerhalb der vier großen Metropolen Indiens an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen. Pune selbst war bis zu diesem Zeitpunkt lediglich im Bereich der Fahrradproduktion ein Standort von nationaler Bedeutung (Sinha 1972). Die Maharashtra Industrial Development Corporation richtete einen Gewerbepark ein, in dem die Ansiedlung neuer Großbetriebe gezielt gefördert wurde (Bapat 1981). Die Entscheidung für den Standort Pune diente vor allem der Entlastung der Industriemetropole Bombay/Mumbai. Hier traten aufgrund der räumlich beengten Lage auf einer Halbinsel massive Agglomerationsnachteile zu Tage (Didee/Gupta 2003). Unmittelbar nördlich von Pune wurde die Ansiedlung neuer Industriebetriebe gezielt gefördert. Auf dem Gebiet der beiden Dörfer Pimpri und Chinchwad, die 1970 zu der Municipal Corporation Pimpri-Chinchwad als neuer Verwaltungseinheit verschmolzen wurden, eröffnete 1953 die staatliche Hindustan Antibiotics ein erstes Werk. In Khadki, ebenfalls nördlich der damaligen Stadtgrenze, wurde die Kirloskar Oil Engines Fabrik errichtet. Ab 1961 ließen sich zahlreiche Betriebe aus dem Bereich Maschinenbau und Automobilproduktion in der neu entstandenen Industrieagglomeration nieder, darunter neben rein indischen Produzenten auch zahlreiche joint-ventures. Ein wichtiger Standortvorteil war dabei die hohe Anzahl qualifizierter Hochschulabsolventen in Pune, das seit der britischen Zeit auch als „Oxford des Ostens“ bekannt war (PMC 2006). Insgesamt gibt es in Pune heute sechs Universitäten, von denen die Pune University als die älteste auf eine über zweihundertjährige Tradition zurückblicken kann. Zudem sind in der Stadt über 600 colleges angesiedelt (PMC 2007). Die größten Firmen in Pune-Pimpri-Chinchwad sind heute Bajaj Auto (der führende Fabrikant von Rickshaws und motorisierten Zweirädern), Tata Motors, Mahindra und Kinetik Engineering (Didee und Gupta 2003). 1994 ließ sich Mercedes Benz ebenfalls in Pimpri-Chinchwad nieder und fertigt dort seitdem eigene PKW. Bereits von 1954–1969 produzierte Mercedes mit Tata an diesem Standort im Rahmen eines joint-ventures LKW (Tata 2010). 2009 eröffnete die Volkswagen AG ein Werk in Pune, in dem zukünftig jährlich über 100.000 PKW produziert werden sollen28. Karte 3 zeigt die Lage der größten Industriebetriebe innerhalb des Verdichtungsraums Pune-Pimpri-Chinchwad. Deutlich sind verschiedene Ballungen identifizierbar: In Pimpri-Chinchwad sind die Automobilindustrie sowie Standorte der Nahrungsmittelindustrie zu finden , im Norden Punes mehrere IT Unternehmen, im Westen, Südwesten und im Norden Punes Unternehmen der pharmazeutischen und der chemischen Industrie. Insbesondere die Ansiedlung der IT-Unternehmen ist eine neue Entwicklung, die im Zusammenhang mit Indiens Politik nach 1991 zu sehen ist. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde die Ansiedlung von Softwareunternehmen gezielt mit dem Förderplan software technology parks of India (STPI) begünstigt (Athreye 2005). Der Standort Pune wird als Teil des knowledge corridor durch die Regierung Maharashtras infrastrukturell gefördert 28
http://www.volkswagenag.com/vwag/vwcorp/info_center/de/news/2009/03/Pune.html letzter Zugriff 15.12.2010
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(IBEF 2005) und ist aufgrund des hohen Angebots an qualifizierten Arbeitskräften (Universitätsstandort) attraktiv (PMC 2006 sowie Didee/Gupta 2003). Diese Softwarefirmen siedelten sich ebenso wie sämtliche ausländische Firmen erst in den letzten Jahren in Pune an. Hierdurch ergibt sich seit den 1990 Jahren eine erneute Beschleunigung des Stadtwachstums.
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Karte 3: Industrie-Cluster in Pune und Pimpri-Chinchwad (verändert nach Kraas et al. 2009)
Für die Untersuchung des Zugangs zu Gesundheitsdienstleistungen ergeben sich aus den Besonderheiten des Untersuchungsgebiets und der Stadtgenese einige Besonderheiten. Erstens wurden die Untersuchungsgebiete so gewählt, dass alle drei unterschiedlichen historisch-genetischen Stadtteile berücksichtigt wurden, ebenso wurde versucht durch die Auswahl unterschiedliche soziale Gruppen zu erreichen, um die soziale Polarisation abbilden zu können (Kapitel VI.2). Zweitens beeinflusst das Wachstum der Stadt auch die Gesundheitsversorgung in star-
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kem Maße. Durch das Bevölkerungswachstum steigt die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen, worauf die Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen im öffentlichen und privaten Sektor unterschiedlich reagieren und es zu Verschiebungen in der Anbieterstruktur kommt. Drittens wird es durch die steigende Nachfrage möglich, Leistungen anzubieten, für die zuvor die Nachfrage nicht ausreichte. Viertens ergeben sich durch die Megapolisierung zahlreiche weitere indirekte Faktoren, die sich auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen auswirken. Ein Beispiel hierfür sind die gestiegenen Distanzen, vor allem aber die aufgrund der Verkehrsproblematik steigenden Fahrzeiten, die sich auf die Erreichbarkeit von Gesundheitsdienstleistern auswirken. Diese Besonderheiten des Untersuchungsgebiets wurden im Untersuchungsaufbau, der im folgenden Kapitel beschrieben wird, beachtet.
VI. METHODIK UND AUSWAHL DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE In diesem Kapitel wird zunächst die methodische Vorgehensweise dargestellt. Basierend auf dem dargestellten Konzept werden ein Analyserahmen und die ausgewählten Methoden vorgestellt, um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in dem ausgewählten Fallbeispiel zu erfassen. Anschließend wird die Auswahl der Untersuchungsgebiete erläutert. VI.1 METHODISCHER ZUGANG Das Konzept von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen wurde für die empirische Erhebung unter Berücksichtigung der spezifischen Rahmenbedingungen des gewählten Untersuchungsraumes operationalisiert (Kapitel V.4). In einem ersten Schritt wurde das erweiterte Konzept in einen Analyserahmen mit drei Komponenten überführt. Im Zentrum des Analyserahmens stehen tatsächlicher Zugang sowie die Barrieren und Anreize in den sechs Dimensionen (Hauptkomponente). Weiterhin wird die Analyse in eine Bewertungskomponente – adäquater Zugang – und die Komponente externe Einflüsse untergliedert. Für die methodische Umsetzung des Analyserahmens wurde ein Methodenmix gewählt. Der Rückgriff auf unterschiedliche Methoden der quantitativen und qualitativen Sozialforschung sowie die Kartierung waren notwendig, weil sich der Forschungsgegenstand einem eindimensionalen Verständnis entzieht. So sprachen das geringe Vorwissen, das Fehlen von Sekundärdaten sowie der Anspruch der theoretischen Weiterentwicklung für die Nutzung qualitativer Methoden. Gleichzeitig war ein Argument für die Verwendung quantitativer Verfahren, dass hiermit das Zugangsverhalten größerer Bevölkerungsgruppen besser abbildbar wird. Die unterschiedlichen Methoden wurden bewusst überschneidend eingesetzt, um durch Triangulation (vgl. Jick 1979, Mayring 2002) nicht nur mehrere Blickwinkel auf die einzelnen Komponenten zu eröffnen, sondern auch, um gezielt Schwächen einzelner Methoden auszugleichen und einen höheren Grad an Validität zu erlangen. Die auf Grundlage dieser Überlegung und der Felderfahrungen während der explorativen Phase ausgewählten Methoden zur Erschließung unterschiedlicher Perspektiven sind: Experteninterviews (Anbieterperspektive), problemzentrierte Interviews mit medizinischen Laien und standardisierte Interviews (Nutzerperspektive) sowie explorative Feldbegehungen und Kartierungen. Die Anbieter- und die Nutzerperspektive sind in dem Forschungsdesign als komplementäre Sichtweisen zu sehen. Beide haben unterschiedliche Sichtweisen auf Zugangsbarrieren und -anreize und nur die Berücksichtigung beider Perspektiven ermöglicht das Verstehen der Einflussfaktoren, die den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in den sechs Dimensionen beeinflussen. Dabei tragen die
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Experten dazu bei, Faktoren zu identifizieren, die sich aus der Organisation der Leistungserbringung ergeben, während die Nutzer die konkrete Wirkung von Barrieren und Anreizen für ihr eigenes Handeln beschreiben. Aufgrund des unterschiedlichen Vorwissens und der unterschiedlichen Stellung ist zudem auszugehen, dass Experten und medizinische Laien verschiedene Sichtweisen auf die Komponenten von Zugang haben, teilweise jedoch nur über eingeschränkte Informationen verfügen. So ist die Bewertung adäquaten Zugangs (vgl. Kapitel IV) für medizinische Laien kaum möglich. Medizinische Experten können andererseits nur begrenzt Auskunft über die Nutzerperspektive geben. Letztere wurde durch die Haushaltsbefragung für sechs Untersuchungsgebiete abgebildet. Diese sind aufgrund der gewählten sampling-Methode, der response-Rate und dem Stichprobenumfang nicht für die Stadt Pune repräsentativ. Problemzentrierte Interviews mit Teilnehmern aus der Befragung ergänzen die standardisierte Erhebung, indem typische und extreme Fälle für eine weitergehende, semistandardisierte Befragung ausgewählt wurden. Diese Methode gestattet die Behandlung von Aspekten, die im Rahmen der standardisierten Erhebung nicht erfasst wurden, weil sie mit dieser Methode schwer fassbar sind, auf Grundlage des Literaturstudiums und der Erfahrungen im Rahmen der explorativen Aufenthalte nicht bekannt waren oder in der Vorbereitung als nicht relevant eingestuft wurden. Durch dieses explorative Vorgehen wurde dem vorläufigen Charakter der zu Grunde gelegten Theorie und dem Anspruch der theoretischen Weiterentwicklung in einem zirkulären Forschungsprozess Rechnung getragen (Flick 2005). Zudem können in der Analyse Begründungszusammenhänge aufgedeckt werden, die in der Folge auch zur Interpretation der Ergebnisse der standardisierten Befragung herangezogen werden. Hierdurch ergänzen sich die verschiedenen Datenquellen in der Analysephase durch die Triangulation gegenseitig. Um die räumliche Verteilung von Gesundheitsdienstleistungen zu erfassen, wurde eine standardisierte Kartierung mit a priori definierten Kriterien durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Methode geben Auskunft über die Zugangsoptionen in den einzelnen Untersuchungsgebieten. Dies erlaubt darüber hinaus in der Analyse räumliches Handeln (standardisierte Erhebung) und die Raumperzeption (problemzentrierte Interviews) besser nachzuvollziehen. Die Entwicklung der Erhebungsinstrumente für die vier Methoden erfolgte in einem iterativen Prozess während zweier vorbereitender Feldaufenthalte. In einem dritten, längeren Feldaufenthalt wurde der hauptsächliche Teil der Erhebung durchgeführt, bei der alle vier Methoden parallel eingesetzt wurden. Abb. 15 zeigt die Zuordnung der Methoden zu den drei Komponenten des Analyserahmens sowie für die Hauptkomponente die Zuordnung der Methoden zu den Teilkomponenten. Die Erhebungsinstrumente für die einzelnen Methoden sollen in der Folge in einer kurzen Übersicht dargestellt werden.
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Abbildung 15: Operationalisierung des Analyserahmens (eigene Darstellung)
VI.1.1 Ablauf der Erhebung Grundlage für die Entwicklung des Analyserahmens und die Auswahl der Erhebungsmethodik war die intensive Auseinandersetzung mit der Literatur im Bereich der Zugangsforschung vor dem Hintergrund der Übertragbarkeit auf den gewählten Untersuchungskontext. In einem ersten Feldaufenthalt in Pune im September und Oktober 2006 wurden mit einer Erkundung möglicher Untersuchungsgebiete begonnen und erste Kontakte zu Experten im lokalen Gesundheitssystem geknüpft. Gleichzeitig wurden in einem Feldpraktikum mit Studierenden des Bharati Vidyapeeth Institute for Environment Education and Research und der Universität zu Köln einzelne Module des Fragebogens im Rahmen einer umfangreicheren Untersuchung getestet (vgl. Butsch 2008). Insgesamt befragten die Studierenden über 500 Haushalte in Pune. Im Rahmen eines zweiten explorativen Feldaufenthaltes von Januar bis März 2007 wurden mehrere Experteninterviews geführt, eine erste Kartierung von potentiellen Untersuchungsgebieten vorgenommen sowie eine deutlich weiterentwickelte Version des Fragebogens für die standardisierten Interviews einem pretest unterzogen. Parallel wurde eine erste Version des Kartierungsbogens für die Gesundheitsinfrastruktur getestet. Grundlage für den inhaltlichen Zugang während dieser ersten beiden Aufenthalte war das Konzept von Penchansky/Thomas
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(1981). Auf dieser Grundlage sollten Anspruch und Wirklichkeit der indischen Gesundheitspolitik einander gegenüber gestellt werden. Nach ausführlicher Auswertung der gewonnen Informationen erwies sich eine konzeptionelle Weiterentwicklung als unerlässlich, wobei die entwickelten Erhebungsinstrumente mit leichten Modifikationen auch für die präzisierte Fragestellung übernommen werden konnten. Diese Instrumente kamen im Rahmen des dritten Feldaufenthaltes von September 2008 bis Januar 2009 in den bereits während der vorherigen Feldaufenthalte ausgewählten Untersuchungsgebieten und unter Rückgriff auf die bereits zu verschiedenen Experten geknüpften Kontakte zum Einsatz. In der abschließende Datenauswertung wurden die Experteninterviews aller Feldphasen berücksichtigt, während bei den übrigen Methoden nur die Daten genutzt wurden, die während des abschließenden Feldaufenthaltes gewonnen wurden. Um Synergie-Effekte zu nutzen, wurde die standardisierte Befragung gemeinsam mit Mareike Kroll29 während des dritten Feldaufenthaltes durchgeführt. Hierfür wurde der Fragebogen durch sie um drei Fragen (16 Variablen) ergänzt. Der Fragebogen wurde abschließend gemeinsam in seiner Gestaltung angepasst und überarbeitet. Die finale Version des Fragebogens, auf der die Auswertungen in dieser Arbeit beruhen, wurde durch einen Übersetzer in Marathi übertragen, so dass die Befragung je nach bevorzugter Sprache der Interviewpartner durchgeführt werden konnte. Während der Feldarbeit wurde vor allem für die standardisierten Interviews, zum Teil auch für einige problemzentrierte Interviews (solche, die nicht in englischer Sprache geführt werden konnten), mit drei Feldforschungsassistenten zusammengearbeitet. Diese wurden im Umgang mit den Erhebungsinstrumenten sowie hinsichtlich der Interviewtechnik ausführlich geschult. Zudem wurde der Fragebogen im Rahmen eines abschließenden pretest mit den Assistenten im Englischen, wie in der Lokalsprache Marathi hinsichtlich der Qualität der Übersetzung und der Konsistenz der Variablen ausführlich geprüft. Vor Beginn der Erhebung fand in jedem Untersuchungsgebiet gemeinsam mit den Assistenten eine Haushaltszählung statt, im Rahmen derer auch offene, unstrukturierte Interviews (informal interviewing, vgl. Bernard 2006) mit einzelnen Anwohnern geführt wurden. Durch diese Erkundung der Untersuchungsgebiete konnten einerseits Hintergründe über die sozioökonomischen Strukturen und die Genese des jeweiligen Untersuchungsgebietes in Erfahrung gebracht werden, andererseits die notwendigen Informationen für ein random-walk-sampling (vgl. Diekmann 2003) für die standardisierte Befragung generiert werden. Die Konzeption der einzelnen Erhebungsinstrumente soll in der Folge beschrieben werden. Die Ergebnisse der Erhebungen werden in Kapitel VII dargestellt und anschließend diskutiert. Das methodische Vorgehen und die Erhebungsinstrumente wurden dokumentiert (s. Anhang30), um intersubjektive Nachvollziehbarkeit (Flick 2005) zu ermöglichen. 29 30
Mareike Kroll arbeitet derzeit an ihrem Dissertationsprojekt ebenfalls zu Gesundheitsfragen in Pune. Der Anhang ist unter www.geographie.uni-koeln.de/Butsch/Butsch_Zugang_Pune_Anhang.pdf abrufbar
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VI.1.2 Kartierung von Gesundheitsdienstleistern: Zugangsoptionen, -barrieren und Anreize Wie in Abb. 15 dargestellt, wurden mit der Kartierung von Gesundheitseinrichtungen Informationen über mehrere Teilkomponenten von Zugang erhoben. Diese Methode ist insbesondere für die Erfassung von Zugangsoptionen, Zugangsbarrieren und -Anreize relevant. Mit der Kartierung der Gesundheitsinfrastruktur in den Untersuchungsgebieten sowie in deren näherer Umgebung (etwa zehn Gehminuten) wurde die Verfügbarkeit und die räumliche Verteilung unterschiedlicher Typen von Gesundheitsdienstleistern erfasst. Dies ermöglicht eine Bewertung von Barrieren und Anreizen in den Dimensionen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit. Die Erfassung des Angebots im Wohnumfeld ist insbesondere für die Bewertung der Zugangsoptionen auf der Ebene der primären, zum Teil auch der sekundären Gesundheitsversorgung relevant. Im Gegensatz dazu ist anzunehmen, dass die Verfügbarkeit tertiärer Gesundheitsdienstleistungen in unmittelbarer Umgebung weniger ausschlaggebend für eine ausreichende Versorgung ist. Daher wurden auf Grundlage der Experten- und der Laieninterviews als relevant identifizierte Einrichtungen der tertiären Versorgung in einer gesonderten Karte, die das gesamte Stadtgebiet abbildet, erfasst (s. Anhang). Teilweise wurden die Ergebnisse auch für die Interpretation der leitfadengestützten Interviews mit Laien benötigt. In diesen Interviews wurden die Probanden gebeten, eine Kartenskizze der medizinischen Infrastruktur ihres unmittelbaren Wohnumfelds sowie der von ihnen darüber hinaus genutzten Dienstleister anzufertigen. Diese Kartierung lieferte die Grundlage für gezielte Nachfragen zur individuellen Inanspruchnahme und für eine Beurteilung des Wissensstandes der Probanden. Das Fehlen wichtiger Einrichtungen in den Kartenskizzen kann dabei als Indiz für einen Mangel an Wissen über bzw. für die Bewertung von Institutionen des Gesundheitssektors gewertet werden. Insofern ist die Kartierung für die Identifizierung von Barrieren in den Dimensionen Informiertheit und Anschauungen höchst relevant. Für die Kartierung wurde ein Erhebungsbogen entwickelt, der im Rahmen eines explorativen Feldaufenthaltes einem ersten pretest unterzogen und anschließend gemeinsam mit Patrick Sakdapolrak31 weiterentwickelt wurde. Der Erhebungsbogen (s. Anhang) ist modular aufgebaut, so dass er für die Erfassung von Metadaten über Einrichtungen der primären, der sekundären und der tertiären Versorgung genutzt werden kann. Darüber hinaus können Informationen in unterschiedlicher Detailtiefe erhoben werden, so dass eine oberflächliche Kartierung ebenso möglich ist wie eine detaillierte Datenaufnahme. Ein hoher Detaillierungsgrad der erhobenen Informationen ist dabei insbesondere dann sinnvoll, wenn spezifische Aspekte von Zugang untersucht werden sollen.
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Patrick Sakdapolrak arbeitet derzeit am Geographischen Institut der Universität Bonn zu Gesundheitswahrnehmung und Gesundheitsvulnerabilität von Slumbewohnern in Chennai, Indien.
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Der Erhebungsbogen besteht aus einem ersten Modul, in dem Variablen zur Georeferenzierung sowie Daten über die Umstände der Datenerhebung erfasst werden können. In einem zweiten Modul wird eine grobe Kategorisierung der Einrichtung nach der Versorgungsstufe (Krankenhaus, niedergelassener Arzt, traditioneller Heiler etc.), dem praktizierten Medizinsystem (Allopathie, Ayurveda etc.) und der Fachrichtung vorgenommen sowie – bei niedergelassenen Ärzten – der akademische Grad erfasst. In dem dritten Modul werden als wichtige Information über Barrieren in der Dimension Anpassung die Öffnungszeiten der Behandlungseinrichtung festgehalten. Das vierte Modul dient der detaillierten Erfassung tertiärer Einrichtungen. Die Module eins bis drei wurden so konzipiert, dass sie im indischen Kontext auch ohne ein persönliches Gespräch, allein aufgrund der üblichen Beschilderung medizinischer Einrichtungen erfassbar sind. Da im Rahmen dieser Erhebung ein breiter Ansatz gewählt wurde, erwies sich eine Kartierung in geringer Detailtiefe als vorteilhafter. Als Kartengrundlage diente eine Straßenkarte Punes (Rushabh City Map Geo Pune, 2. Auflage 2005). Für die Kartierung wurde das eigentliche Untersuchungsgebiet um eine Zone von ca. zehn Gehminuten erweitert. Das auf diese Weise a priori definierte Gebiet wurde systematisch gemeinsam mit jeweils zwei Feldforschungsassistenten zur Erfassung der genauen Positionen aller Gesundheitsdienstleister abgeschritten, die Position der Gesundheitsdienstleister wurde auf der Kartengrundlage vermerkt. Ergänzend wurde für jede Einrichtung ein eigener Kartierungsbogen ausgefüllt. Die erhobenen Daten wurden anschließend mit der Software Epidata32 in eine Datenbank eingestellt und die Positionsbestimmungen von den einzelnen Kartierungsblättern in eine digitale Kartengrundlage übertragen. In einem Zwischenschritt konnte eine Datenbank mit zugehörigen digitalen Referenzkarten für jedes Untersuchungsgebiet generiert werden, die im Anschluss an den Feldaufenthalt als Grundlage für die Gestaltung thematischer Karten genutzt wurde. Insgesamt wurden die räumliche Lage und Metadaten zu 395 Gesundheitseinrichtungen in den sechs Untersuchungsgebieten erfasst. VI.1.3 Experteninterviews: Zugangsoptionen und -barrieren, Qualität und externe Einflussfaktoren In Anlehnung an Meuser/Nagel (2002) wird in der vorliegenden Arbeit zwischen Experten- und Nutzerinterviews unterschieden. Unter Experteninterviews werden leitfadengestützte, offene Interviews verstanden, die mit Experten aus dem lokalen Gesundheitssystem geführt wurden. Sie wurden in der Untersuchung ange32
Epidata ist eine frei verfügbare Software, die von der Homepage www.epidata.dk heruntergeladen werden kann. Die Software wurde sowohl für die Erfassung der Kartierungsbögen als auch für die Erfassung der Fragebögen genutzt. Sie unterstützt die Erstellung von Eingabemasken, mit Plausibilitätskontrolle der Eingabedaten eines Erhebungsinstrumentes (Kartierungsbogen/Fragebogen). Die so erstellte Datenbank kann anschließend in verschiedene Dateiformate exportiert werden.
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wendet, um Informationen über Zugangsoptionen, -barrieren und -anreize sowie die Bewertungskomponente adäquater Zugang und externe Einflussfaktoren zu gewinnen. Im Forschungsdesign dienen die Experteninterviews sowohl der Generierung von Kontextwissen wie auch der Generierung von Betriebswissen (Meuser/Nagel 2002). Letzteres bezieht sich auf die eigenen Erfahrungen der Gesundheitsdienstleister, vorgenanntes auf die Rahmenbedingungen, die Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für die Nutzer beeinflussen. Als Interviewform wurde das „problemzentrierte Interview“ (Mayring 2002, Reuber/Pfaffenbach 2005) gewählt. Während des Forschungsprozesses kamen zwei unterschiedliche Leitfäden zum Einsatz. Im Rahmen eines ersten, explorativen Feldaufenthaltes wurde ein Leitfaden (s. Anhang) genutzt, der im Wesentlichen auf der vorhergehenden Literaturanalyse beruhte und einige Aspekte des später weiterentwickelten Analyserahmens noch nicht bediente. Der Leitfaden für die ersten Befragungen beginnt mit einem einleitenden Statement zum Anliegen des Forschungsprojektes. In einem ersten inhaltlichen Abschnitt werden Fragen zum Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen gestellt, wobei explizit die innerstädtische Differenzierung angesprochen wird. Daran schließen sich zwei thematische Abschnitte an, die sich mit dem Spannungsfeld öffentlicher-privater Gesundheitssektor befassen. In beiden Fällen wird sowohl nach dem Stellenwert für verschiedene sozioökonomische Gruppen als auch nach potentiellen Barrieren und Anreizen gefragt. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Veränderung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und des lokalen Gesundheitssystems in zeitlicher Hinsicht. In einem letzten Abschnitt wird der Einfluss verschiedener politischer Programme (z.B. National Health Policy 2002, Alma-Ata-Deklaration) auf den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune zur Diskussion gestellt. Der Leitfaden schließt mit der offenen Frage nach essentiell notwendigen strukturellen Veränderungen zur Verbesserung von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune. Der zweite Leitfaden (s. Anhang) beginnt ebenfalls mit einem einleitenden Statement zum Forschungsanliegen. Im ersten Block werden die Experten gebeten, eine generelle Einschätzung zu Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen abzugeben und Zugangsbarrieren und -anreize zu benennen. Der zweite Block befasst sich mit der konkreten Gesundheitseinrichtung, in der der Experte praktiziert/arbeitet. Hierzu gehören auch die Fragen nach dem praktizierten medizinischen Systemen. Weiterhin wird auch das Patientenprofil und dessen räumliches (Einzugsbereich) und soziökonomisches Profil thematisiert. In dem anschließenden Gesprächsteil werden den Interviewpartnern Karten mit den fünf Dimensionen von Zugang (Penchansky/Thomas 1981) überreicht. Die Probanden werden gebeten, diese gegebenenfalls zu ergänzen und eine Rangliste (Bernard 2006) zu erstellen. Die Gründe für die Wahl dieser Reihenfolge werden anschließend diskutiert. Im dritten Gesprächsabschnitt werden die Experten gebeten, Veränderungen im Gesundheitssystem Punes zu beschreiben, die für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen relevant waren. Der Leitfaden endet mit der offenen Frage nach notwendigen Maßnahmen, um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen weiter zu verbessern.
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Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte auf Grundlage eines theoretischen sampling (Flick 2005). Demnach wurde die Auswahl der Interviewpartner schrittweise im Datenerhebungsprozess getroffen, um mit jedem Gespräch einen möglichst hohen Gehalt an Neuem für die Theoriebildung zu erschließen. Im Rahmen des ersten explorativen Aufenthaltes wurden daher vorrangig Experten befragt, die aufgrund ihrer Stellung in der Administration des privaten oder öffentlichen Gesundheitssektors, als Vertreter von Nichtregierungsorganisationen oder Forscher über ein hohes Kontextwissen verfügen. Das Verstehen der Dichotomie zwischen öffentlichem und privatem Gesundheitssektor und das Erlangen von Kenntnis über unterschiedliche Zugangshemmnisse stand dabei im Vordergrund. In der Hauptfeldarbeitsphase wurde ein modifizierter Leitfaden genutzt. Kontext- und Betriebswissen haben hier einen gleichen Stellenwert. Die Gruppe der Interviewpartner wurde um Gesundheitsdienstleister auf der Ebene der primären und der sekundären Gesundheitsversorgung in den sechs Untersuchungsgebieten erweitert. Diese Expertengruppe verfügt über ein hohes Maß an relevantem Betriebswissen und hat wesentlichen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung von Zugang in den jeweiligen Untersuchungsgebieten. Gleichzeitig wurde der weiterentwickelte theoretische Ansatz auch mit solchen Experten diskutiert, die über ein hohes Maß an Kontextwissen verfügen. In der explorativen Phase wurden insgesamt zwölf Experten befragt: drei aus dem akademischen Kontext, drei Ärzte in leitender Position in Privatkrankenhäusern, die Leiterin eines Gesundheitsdezernats auf Stadtteilebene (öffentlicher Gesundheitssektor), ein mittlerweile im Ruhestand befindlicher, hoher Beamter im öffentlichen Gesundheitssektor auf bundesstaatlicher Ebene, der zeitweilig zur WHO abgeordnet war, zwei NRO Vertreter, die Leiterin eines NROKrankenhauses sowie der ärztliche Direktor des district hospital (staatliches Krankenhaus der Maximalversorgungsstufe) in Pune. Während der Hauptfeldphase wurden neun niedergelassene Ärzte in den sechs Untersuchungsgebieten befragt, sowie zwei Leiter kleinerer Krankenhäuser mit weniger als 50 Betten, drei leitende Ärzte in privaten Krankenhäusern, der medizinische Direktor des district hospital (der zwischen dem ersten und dem zweiten Aufenthalt gewechselt hat, so dass nicht der gleiche Interviewpartner zweimal befragt wurde), sein Stellvertreter, zwei Vertreter von NROs, der Leiter eines NRO-Krankenhauses und die Leiterin eines Anganwadi. Eine tabellarische Übersicht aller Experteninterviews befindet sich im Anhang, die Lage der Interviewstandorte ist ebenso wie die räumliche Lage der Laieninterviews im Anhang kartographisch dargestellt. Die räumliche Verteilung der Interviewten zeigt neben den Schwerpunkten in den Untersuchungsgebieten einen im Stadtzentrum, wo sich ein Cluster tertiärer Versorgungseinrichtungen befindet. Die Interviews wurden mit einer Ausnahme (Sprachbarriere) alle durch den Verfasser selbst geführt und mit wiederum einer Ausnahme, in der die Erlaubnis zur Aufzeichnung des Gesprächs verweigert wurde, mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Teilweise wurden während der Gespräche zusätzliche Medien verwendet, um den Gesprächsfluss anzuregen. Die aufgezeichneten englischen Experten-
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interviews wurden allesamt vollständig durch den Autor in englischer Sprache transkribiert. Die Experteninterviews dauerten zwischen dreißig und neunzig Minuten. Sie wurden ausnahmslos im Arbeitsumfeld der Gesprächspartner geführt. Da es sich bei allen Experten um Akademiker handelte, war die Verwendung der englischen Sprache kein Problem. Zudem ist es in der oberen Mittelschicht, zu der die Experten zu zählen sind, üblich, dass das Englische auch im privaten Umfeld die normale Kommunikationssprache ist. Trotzdem führt die Verwendung einer Lingua Franca ebenso wie der unterschiedliche kulturelle Kontext dazu, dass Interpretationen des Gesagten notwendig werden. Diese Interpretation beinhaltet immer die Gefahr eines Falschverstehens durch eine subjektive Zuschreibung von Sinn, dieses Dilemma ist aber bei Untersuchungen im fremdsprachigen Kontext nicht aufzulösen (Reuber/Pfaffenbach 2005). Die Transkription stellte den ersten Schritt des vierphasigen Auswerteprozesses dar. Die zweite Phase war die Einzelanalyse der Interviews, die dritte die generalisierende Analyse, die vierte die Kontrollphase (Lamnek 2005). In der Einzelanalyse wurden die Interviews thematisch kodiert, hierfür wurde die Software „MaxQDA“ verwendet. Dabei wurde ein halboffenes Verfahren angewandt, bei dem – im Gegensatz zum offenen Kodieren – bestimmte Kategorien aufgrund des theoretischen Vorwissens vorgegeben wurden (Deduktion), während verschiedene Perspektiven innerhalb dieser Kategorien aus den Transkripten emergierten (Induktion), so dass die Kodestruktur im Rahmen des Kodierungsprozesses fortlaufend weiterentwickelt wurde. Auf einer ersten Ebene wurden vor Beginn der Kodierung zunächst folgende Kodes vorgesehen: Erschwinglichkeit, Informiertheit, Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Kompatibilität, Anschauungen, adäquater Zugang, externe Einflussfaktoren, Zeit. Im Prozess des halboffenen Kodierens wurden auf untergeordneten Hierarchieebenen verschiedene Sub-Kodes hinzugefügt. So wurden beispielsweise für den Kode Erschwinglichkeit während der Kodierung folgende Sub-Kodes erstellt, die unterschiedliche Perspektiven auf Barrieren und Anreize in der Dimension Erschwinglichkeit widerspiegeln bzw. verschiedene Aspekte zusammenfassen: Kosten determinieren Leistungserbringer, Versicherungen, Unterstützung/Geld leihen, Finanzen limitieren Inanspruchnahme nicht, Verschuldung, verhinderte Inanspruchnahme. Auf der ersten Ebene wurden während der Kodierung als weitere Kodes Inanspruchnahme (Passagen, in denen Gesprächspartner über konkrete Episoden berichteten), Gesundheitswissen und temporäre Migranten hinzugefügt. Zum Abschluss der Kodierung wurden alle Transkripte nochmals einer Überprüfung unterzogen, um sicherzustellen, dass auch bei den zu Beginn kodierten Interviews die neu hinzugefügten Kodes entsprechend konsistent verwendet wurden. Zusätzlich wurden sämtliche kodierten Textpassagen paraphrasiert. Der nächste Schritt der Auswertung bestand darin, die kodierten Textpassagen systematisch auszugeben (Retrieval) und durch eine generalisierende Analyse der Textpassagen verschiedene Perspektiven auf die einzelnen Komponenten bzw. Teilkomponenten des Analyserahmens zu verstehen. Hierfür wurden die Paraphrasen auf einzelne Stichworte reduziert, die dann in einer mind-map angeordnet wurden, um auch Beziehungen zwischen Argumenten bzw. Standpunkten oder
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Blickwinkeln sichtbar zu machen. Eine solche mind-map wurde für jede der sechs Dimensionen, die Bewertungsdimension und externe Einflussfaktoren erstellt. Hierauf basiert die Ergebnisdarstellung in Kapitel VII.3.6. VI.1.4 Interviews mit Nutzern: Zugangsoptionen, -barrieren und realisierter Zugang Interviews mit Nutzern wurden geführt, um Informationen über die Teilkomponenten Zugangsoptionen, Barrieren und Anreize sowie realisierten Zugang zu gewinnen, wobei der verwendete Leitfaden das zu Grunde liegende theoretische Konzept widerspiegelt (Reuber/Pfaffenbach 2005). Wichtig war es dabei, auch narrative Sequenzen bewusst zu stimulieren, um neue Sichtweisen offenzulegen und das Verhalten der Nutzer medizinischer Dienstleistungen zu verstehen. Gemäß dem Forschungsdesign sollen Interviews mit Laien die Ergebnisse der standardisierten Haushaltsbefragung verstehbarer machen, indem die Komplexität der Ergebnisse weiter angereichert bzw. diese plausibilisert werden. Für die Interviews wurden nur Personen ausgewählt, die zuvor an der standardisierten Befragung teilgenommen hatten. Auswahlkriterien für eine zweite, offene Befragung waren vor allem die während des ersten, standardisierten Interviews gegebenen zusätzlichen Informationen. Es wurden gezielt typische und extreme Fälle ausgewählt, um das untersuchte Feld sowohl von den Rändern als auch vom Zentrum aus zu erschließen (vgl. Flick 2005). Das heißt, es wurden solche Informanten gebeten, ein zweites Interview zu geben, die entweder im Umfeld des ersten Interviews ausführlich über einzelne, von ihnen als extrem empfundene Krankheitsepisoden berichteten oder solche, deren Verhalten nach Einschätzung des Autors dem Durchschnitt der Befragten in dem jeweiligen Untersuchungsgebiet entsprach. Der eingesetzte Leitfaden (s. Anhang) beginnt mit einem Eingangsstatement des Interviewers, in dem der Sinn dieses zweiten Interviews erläutert wird. Die Einstiegsfrage knüpft an die standardisierte Erhebung an: Die Interviewpartner wurden gebeten, die Versorgungslage in ihrer Nachbarschaft zu bewerten. Um im weiteren Verlauf das Gespräch anzuregen und zu strukturieren, wurden die Befragten gebeten, entweder eine Kartenskizze mit Gesundheitseinrichtungen in der Umgebung Ihres Wohnortes zu zeichnen oder – wenn die Befragten des Schreibens und Lesens nicht kundig waren – mit Hilfe von Karten ein Diagramm zu legen, das alle bekannten Gesundheitsdienstleister zeigt. Anschließend wurden die Befragten aufgefordert, die Dienstleister zu kennzeichnen, die durch ein Mitglied ihres Haushaltes in der Vergangenheit genutzt wurden. Auf dieser Grundlage wurde diskutiert, welche Faktoren die Inanspruchnahme in der Vergangenheit beeinflussten. Dies ermöglicht es, ein Verständnis für die Wirkung wahrgenommener Barrieren und Anreize aus der Perspektive der Nutzer zu entwickeln. Im nächsten Gesprächsteil wird die Zufriedenheit mit der verfügbaren Gesundheitsversorgung thematisiert und erfragt, welche konkreten Probleme bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen aufgetreten sind. In einem dritten
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Gesprächsabschnitt werden den Interviewpartnern Karten mit den fünf Dimensionen von Zugang (Penchansky/Thomas 1981) überreicht. Die Probanden wurden gebeten, eine Rangliste (Bernard 2006) zu erstellen. Hierdurch ergeben sich wichtige Erkenntnisse über die Wahrnehmung von Barrieren und Anreizen in diesen Dimensionen. Die Erörterung dieser abstrakten Größen war je nach Bildungsgrad teilweise schwierig und in wenigen Fällen unmöglich. In einem vierten Gesprächsabschnitt werden gezielt Barrieren angesprochen, die aufgrund der Beobachtung während der explorativen Feldphase als besonders limitierend empfunden wurden. Hierzu gehören die Behandlungskosten (Erschwinglichkeit), Distanzüberwindungskosten (Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, Erschwinglichkeit) sowie die Öffnungszeiten der Behandlungseinrichtungen (Entgegenkommen). Abschließend wird der Stellenwert des öffentlichen Gesundheitswesens und die Finanzierung von Gesundheitsdienstleistungen thematisiert. Der Leitfaden endet mit der offenen Frage, was die Probanden im Bereich der Gesundheitsversorgung ändern würden, wenn sie die Möglichkeit hätten. Dieser Leitfaden wurde in allen Untersuchungsgebieten außer in Untersuchungsgebiet 4 zur Gesprächsstrukturierung genutzt. Da die Arbeiter in den temporären Siedlungen nur über einen begrenzten Zeitraum leben und in aller Regel nicht aus Pune und größtenteils auch nicht aus Maharashtra stammen, stellt sich die persönliche Situation der Probanden gänzlich anders dar als die in den übrigen Untersuchungsgebieten. Entsprechend wurde der Leitfaden modifiziert, auch um weiteres Hintergrundwissen über die spezifischen Lebensumstände der temporären Migranten zu gewinnen (s. Anhang). Diese Variante des Leitfadens beschäftigt sich zunächst mit dem Aufenthalt der Probanden in Pune. Die Probanden werden gebeten, zu erzählen, seit wann sie bereits in Pune leben und in welchem Beschäftigungsverhältnis sie stehen. Daran schließen sich einfache Fragen über das Gesundheitshandeln im Krankheitsfall an. Die Befragten werden gebeten, exemplarisch für eine Erkältung (leichte Erkrankung) und für ein Krebsleiden (schwere Erkrankung) zu schildern, was sie tun würden. Weiterhin wird erfragt, ob die Gesprächspartner im Krankheitsfall mit einer Unterstützung durch ihren Arbeitgeber rechnen. Der restliche Leitfaden entspricht dem bereits vorgestellten und ist ebenfalls im Anhang vollständig dargestellt. Nur in den Untersuchungsgebieten, die der Mittelschicht zugeordnet werden, konnten die Gespräche in Englisch geführt werden. Insgesamt wurden 22 Interviews mit Laien geführt, 15 davon auf Marathi durch die Feldforschungsassistenten. Diese wurden anschließend übersetzt. Da die Feldforschungsassistenten vor Beginn der Zusammenarbeit nicht mit qualitativen Verfahren vertraut waren, wurden sie in einem mehrstufigen Prozess an die Technik herangeführt. Der Interviewleitfaden wurde gemeinsam kritisch erörtert und von den Assistenten übersetzt. Die Feldarbeit wurde in einem Untersuchungsgebiet begonnen, in dem die Interviews in Englisch geführt werden konnten, um die Umsetzung der Methode im Feld zu demonstrieren bzw. einzuüben. Bei den Marathi-Interviews führte jeweils ein Felsforschungsassistenten das Gespräch, während ein zweiter die wesentlichen Informationen übersetzte. Hierdurch konnte der Autor dem Gesprächsverlauf folgen und gezielte Nachfragen anbringen. Insbesondere bei den Inter-
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views in den Marginalsiedlungen stieß die Methode auf breites Interesse, die Ansammlung größerer Gruppen war unvermeidbar. Ein zentriertes Interview mit nur einem Probanden war in diesen Fällen dann nicht möglich (third-party-presenteffect, vgl. Bernard 2006), häufig wurden die Interviews von weiteren anwesenden Personen kommentiert. Diese spontane Bildung von Diskussionsgruppen regte den Gesprächsverlauf an, gleichwohl gelang es den Interviewern immer wieder, das Gespräch auf den Hauptgesprächspartner zurückzulenken. Insgesamt dauerten die Interviews zwischen 20 und 60 Minuten; die Interviews wurden mit zwei Ausnahmen im Wohnumfeld der Probanden geführt. In zwei Fällen hatten die Probanden darum gebeten, das Interview in einem Restaurant durchzuführen, um eine Kopplung mit ihrem Tagesablauf zu ermöglichen. Alle Interviews wurden mit einem Diktiergerät aufgezeichnet und anschließend verschriftlicht. Die englischen Interviews wurden allesamt in voller Länge durch den Autor transkribiert; die Interviews, die in Marathi geführt wurden, wurden zunächst durch die Interviewer handschriftlich transkribiert. Diese Abschrift wurde anschließend zusammen mit einer Kopie der Aufnahme an einen Übersetzer gegeben, der den Text ins Englische übertrug, so dass zum Ende der Feldforschungsphase sämtliche Interviews in einer verschriftlichten, englischen Fassung vorlagen. In stärkerem Maße als für die Experteninterviews gilt daher, dass es aufgrund der Sprachbarriere zu einer Interpretation von Gesagten kommen muss, teilweise sogar zu einer mehrfachen Interpretation, etwa wenn der Interviewer ein Interview in Marathi führt, mit einem Leitfaden, der ihm durch einen Deutschsprachigen in Englisch vorgelegt wurde. Die gleichen Interpretationen durchläuft das empirisch erhobene Material bei der Datenaufbereitung und Interpretation. Die hierdurch entstehenden Ungenauigkeiten sind aber nicht zu umgehen, stellen jedoch bei der Interpretation der Ergebnisse eine besondere Herausforderung dar. Eine Übersicht aller Interviews ist im Anhang in tabellarischer Form zu finden, wobei für jedes Interview auch angegeben wird, in welcher Sprache das Gespräch geführt wurde und in welcher Phase das Interview geführt wurde. Aus der Tabelle geht weiterhin hervor, in welchem Untersuchungsgebiet die jeweiligen Nutzerinterviews geführt wurden. Die aufbereiteten Interviews wurden anschließend einem vierstufigen Auswerteprozess unterzogen, wobei das gleiche Vorgehen gewählt wurde wie bei der Auswertung der Experteninterviews. Die halboffene Kodierung der Laieninterviews erfolgte nach der Kodierung der Experteninterviews, so dass bereits eine differenzierte Kodestruktur angewendet werden konnte. Dennoch wurden neue Subkodes in das Kodiersystem eingefügt, die abschließend auch noch einmal an die Experteninterviews angelegt wurden (Kontrollphase). Ebenso wie bei den Experteninterviews liegt den textlichen Ausführungen in den folgenden Kapiteln eine generalisierende Analyse zu Grunde, für die aus den Text-Retrievals mindmaps erstellt wurden.
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VI.1.5 Standardisierte Interviews: Zugangsoptionen, -barrieren und -anreize sowie realisierter Zugang Standardisierte Interviews wurden in dem angewandten Methodenmix eingesetzt, um Informationen über tatsächlichen Zugang zu erheben. Mit dem in einem mehrstufigen Prozess entwickelten Fragebogen wurden Informationen über Zugangsoptionen, Zugangsbarrieren und Zugangsanreize sowie das konkrete Zugangshandeln erfasst. Im Forschungsdesign dient diese Methode dazu, das Zugangsverhalten der Bevölkerung als Produkt menschlichen Handelns in einer komplexen sozialen Realität zu quantifizieren. Dabei geht es darum, neue inhaltliche Aspekte des Zugangsverhaltens auszuloten und die Handlungskonstruktionen und subjektiven Einstellungen der Probanden zu erfassen (Reuber/Pfaffenbach 2005). Im Detail wurden mit dem Fragebogen (s. Anhang) Informationen zu folgenden Bereichen erhoben: – – – – – – – –
Metainformationen (Interviewer, Datum, Adresse, Referenznummer Karte) Haushaltsstruktur (Haushaltsmitglieder, Alter, Beziehung zum Haushaltsvorstand etc.) Generelle Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen (wichtigster Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen für Haushaltsmitglieder) Kenntnis verschiedener Gesundheitsprogramme (Gesundheitswissen) Hypothetische Inanspruchnahme im Krankheitsfalle (Gesundheitswissen: welcher konkrete Leistungserbringer, Art des Leistungserbringers, Ort) Zufriedenheit mit Zugang (Hierbei wurden die Fragen in Anlehnung an die von Penchansky/Thomas 1981 genutzte Befragung gestaltet.) Tatsächliches historisches Gesundheitshandeln (Schilderung konkreter Krankheitsepisoden in den letzten zwölf Monaten und das Gesundheitshandeln während dieser Episoden) Soziodemographische Variablen (Informationen zum Bildungsstand, Beschäftigungsverhältnis, Einkommen etc.)
Der Fragebogen besteht aus einem ersten Modul mit Metainformationen, in dem unter anderem die Lage des Haushaltes erfasst wird. Das eigentliche Interview beginnt mit einem Einleitungsstatement des Interviewers. Hierin wird das Forschungsprojekt erklärt und die Verwendung der Daten erläutert, der Zeitrahmen genannt und abschließend um die Zustimmung zur Teilnahme gebeten. Modul zwei dient der Erfassung der Haushaltsmitglieder mit Alter, Geschlecht, Familienstand und Beziehung zum Haushaltsvorstand. Diese Daten wurden so erfasst, dass sie in der Analyse mit den Krankheitsepisoden, die im weiteren Gesprächsverlauf erfasst werden, verknüpft werden können. In dem anschließenden Frageblock folgt der Einstieg in das eigentliche Thema mit allgemeinen Fragen zum Gesundheitshandeln bzw. der Bekanntheit bestimmter Gesundheitsprogramme. Anschließend wird das hypothetische Gesundheitshandeln für verschiedene Krankheitstypen (akut, akut lebensbedrohlich, chronisch) abgefragt. Hierdurch sollte erfasst werden, ob die Probanden über ein differenziertes Gesundheitswissen verfügen. In
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einem nächsten Modul werden die Befragten gebeten, für verschiedene Gesundheitseinrichtungen die Distanz zur jeweils nächstgelegenen Einrichtungen dieser Art zu schätzen. Hierbei wurde eine Karte zur Visualisierung der verwendeten Skala eingesetzt. Eine ähnliche Karte wurde auch für den nächsten Fragenblock genutzt, der sich mit der Zufriedenheit im Bereich Zugang befasst. In dem anschließenden Modul wurde das konkrete Gesundheitshandeln des Haushalts für verschiedene Krankheitsepisoden in den zurückliegenden zwölf Monaten thematisiert. Für jede Episode wurde erfasst, welches Haushaltsmitglied betroffen war, welche Symptome auftraten, welche Einrichtung aufgesucht wurde, wie der Interviewpartner den Behandlungserfolg bewertet und welche Kosten entstanden. Auch wenn die Erhebung des Gesundheitshandeln für einen so langen Zeitraum ex post schwierig ist und mit Verzerrungseffekten zu rechnen ist, schien dieses Vorgehen unter den gegebenen Umständen alternativlos, um zu einer ausreichenden Datenbasis zu gelangen. Das nächste Modul des Fragebogens wurde von Mareike Kroll entworfen und behandelt die Wahrnehmung der Krankheitslast und von gesundheitsdeterminierenden Umwelteinflüssen. Der letzte Abschnitt des Fragebogens dient der Erfassung des sozioökonomischen Status. Bei dem überwiegenden Teil der Fragen handelt es sich um geschlossene und teiloffene Fragen, in wenigen Fällen wurden offene Fragen verwendet. Vor Beginn der Befragung wurden die Feldforschungsassistenten intensiv im Umgang mit dem Fragebogen und dem Einsatz zusätzlicher Medien geschult. Aufgrund forschungsökonomischer Überlegungen wurde entschieden, bei der Stichprobenziehung ein zweistufiges Verfahren anzuwenden. Zunächst wurden sechs Untersuchungsgebiete ausgewählt, die aufgrund der Stadtgenese als typische Fälle gelten (nach Reuber/Pfaffenbach 2005, vgl. auch VII.1). Innerhalb dieser sechs Gebiete wurden jeweils 75 Interviewpartner mit der random-walk Methode (vgl. Diekmann 2003: „random-route“ S. 332) ausgewählt (insgesamt 450 Interviews). Das heißt, dass den Interviewern in jedem Untersuchungsgebiet eine Route vorgegeben wurde mit Anweisungen zur Auswahl der Interviewpartner (z.B. vom Start ein Haushalt im vierten Haus auf der linken Seite, dann im vierten Haus auf der rechten Seite usw.). Hierfür wurde vor Beginn der Befragung in jedem der Untersuchungsgebiete die Zahl der Haushalte ermittelt und das Wegenetz kartiert. Diese Art der Stichprobenziehung erschien unter den gegebenen Rahmenbedingungen die praktikabelste zu sein, um für die ausgewählten Untersuchungsgebiete zu repräsentativen Ergebnissen zu gelangen. Die Durchführung des random-walk war in vier Untersuchungsgebieten problemlos möglich, in den Untersuchungsgebieten 3 und 6 – in denen fast ausschließlich abgeschlossene und bewachte Wohnanlagen zu finden sind – war die Stichprobenziehung auf diesem Wege nicht ohne weiteres durchführbar. Die Auswahl der Befragten musste sich hier auch an dem Kriterium der Zugänglichkeit orientieren, wodurch nicht alle Haushalte mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe gelangen konnten. Die Lage sämtlicher befragter Haushalte wurde auf einer Kartenskizze verortet (vgl. Karten A6 bis A 13 im Anhang). Die Gespräche wurden größtenteils von den drei Feldforschungsassistenten, teilweise durch einen der beiden Doktoranden (Mareike Kroll/Carsten Butsch), geführt. Zu
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jedem Zeitpunkt war sichergestellt, dass einer der beiden die Assistenten begleitete. Jedes Interview wurde nachbereitet und die Eintragungen zeitnah durch einen der beiden Koordinatoren hinsichtlich ihrer logischen Konsistenz überprüft. Die Durchführung der einzelnen Interviews dauerte zwischen 20 und 35 Minuten. Nach Beendigung der Erhebung in einzelnen Untersuchungsgebieten wurden die Fragebögen mit Epidata in eine Datenbank überführt. Die Eingabe erfolgte dabei durch den jeweiligen Interviewer. Für die Eingabe wurde jede Antwortmöglichkeit bereits bei der Gestaltung des Fragebogens mit einer Ziffer versehen, so dass nur noch diese Nummern einzugeben waren. Die Daten wurden bereits während der Eingabe auf Plausibilität geprüft. Parallel dazu wurde jeder einzelne Fragebogen abfotografiert, um gegebenenfalls später auf die Originalquelle zurückgreifen zu können. Die Datenbank wurde zum Ende der Feldarbeitskampagne nochmals durch die Interviewer intensiv auf Fehler untersucht. Hierfür wurde jeder einzelne Fragebogen nochmals aufgerufen und jede Eintragung überprüft, wobei diese Kontrolle jeweils durch einen anderen Feldforschungsassistenten erfolgte. Auch wenn es sich bei diesem Verfahren nicht um einen tatsächlichen double entry (vgl. Diekmann 2003) handelt, so ergab die Kontrolle einer willkürlich gezogenen Stichprobe von 25 Fragebögen (5,5 %) keine Fehler mehr, so dass von einer hohen Datenkonsistenz ausgegangen werden kann. Für die weitere Datenauswertung wurde der Datensatz in PASW (ehemals SPSS) und Excel exportiert. Die Auswertung erfolgte teilweise mit PASW, teilweise mit Excel. Ein Vorteil der Software Epidata ist, dass sich bereits bei der Eingabe Variablenlabel generieren lassen, die in PASW weiterverwendet werden können. Der Prozess der Datenauswertung wurde in folgende Schritte unterteilt: 1. Logische Überprüfung der Daten und Umkodierung, 2. Neuberechnung von Variablen, 3. Erstellung von verknüpften Unterdatenbanken 4. Datenexploration und -auswertung, 5. Visualisierung. Die Auswertung der Daten des standardisierten Fragebogens beschränkt sich auf Verfahren der deskriptiven Statistik. Die Anwendung analytischer Statistik schien vor dem Hintergrund der beschriebenen Einschränkungen bei der Stichprobenziehung sowie aufgrund der geringen Stichprobengröße nicht sinnvoll. Die einzelnen Schritte der Datenauswertung sollen im Folgenden kurz skizziert werden. Die logische Überprüfung des Datensatzes erfolgte mit dem Programm Excel. Hierbei wurde der Datensatz systematisch auf fehlerhafte Eintragungen überprüft und fehlerhafte oder fehlende Eintragungen entsprechend kodiert. Teilweise war es auch notwendig, bestimmte Variablen umzukodieren. So wurde beispielsweise die Frage nach der beruflichen Tätigkeit des Haushaltsvorstandes als offene Frage formuliert, was ex post eine Klassifizierung der Nennungen notwendig machte. Die Neuberechnung und Neuverknüpfung von Variablen im zweiten Schritt war teilweise notwendig, um die erhobenen Daten sinnvoll zu kombinieren. So wurden beispielsweise die Informationen über die einzelnen Haushaltsmitglieder mit den Krankheitsepisoden verknüpft, die Belegrate der Wohneinheiten berechnet oder die Gesamtkosten für akute und chronische Erkrankungen berechnet. Zudem wurde aus den Informationen über den Besitz bestimmter Gegenstände ein Wohlstandsindex berechnet. Der Wohlstandsindex stellt ein alternatives Maß für
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den ökonomischen Status des Haushalts, da die Angaben zum Einkommen häufig ungenau sind. Im Rahmen der Erhebung wurde für insgesamt 22 unterschiedliche Gegenstände abgefragt, ob diese in dem Haushalt vorhanden sind. Diese sind deckungsgleich mit denjenigen, die im Rahmen der National Family Health Survey (vgl. International Institute for Population Sciences und Macro International 2007) erfasst werden, so dass theoretisch eine Vergleichbarkeit mit diesen landesweit verfügbaren Daten gegeben ist. Diese wurden in vier unterschiedliche Kategorien unterteilt, nämlich Grundausstattung, mittlere Ausstattung, gehobene Ausstattung und hochwertige Ausstattung. Die jeweiligen Güter wurden entsprechend dieser Zuordnung mit einem Wert versehen, wobei die Güter der Grundausstattung den Wert 1 erhielten, Güter der mittleren Ausstattung den Wert 2, Güter der gehobenen Ausstattung den Wert 3 und hochwertige Güter den Wert 4 (Tabelle 1). Auf dieser Grundlage wurde für jeden Haushalt der Wohlstandsindex berechnet, indem die gewichteten Werte für alle 22 Güter addiert wurden, wobei für nicht vorhandene Werte der Wert 0 in die Berechnung einging. Um den Wohlstandsindex für die graphische Darstellung nutzbar zu machen, wurden Klassen gebildet, in denen sich jeweils 20 % aller Haushalte befinden (Quintile). Die Quintilzugehörigkeit jedes Haushaltes wurde als eigene Variable für jeden befragten Haushalt in den Datensatz eingefügt. Auch wenn dieser Index alleine den ökonomischen Wohlstand misst und andere Aspekte, wie z.B. das Humankapital außer Acht lässt, wurde er verwendet, um ein im indischen Kontext erprobtes Instrument verwenden zu können, das eine Bewertung des ökonomischen Status der untersuchten Haushalte – und damit der Handlungsspielräume – zulässt (vgl. Anand/Sen 2000). '&
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* 308 3/7 282 28/ 246 226 213 172 147 18 246 24/ 128 011 131 084 062 041 43 02 01/ 3
' 20 31 46 5/ 82 002 015 056 081 310 82 88 100 216 1/7 144 166 187 285 326 22/ 335
Tabelle 1: Berechnungsgrundlage Wohlstandsindex (eigene Darstellung, Datengrundlage: eigene Erhebung 2008/2009)
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Im dritten Schritt wurden aus dem Gesamtdatensatz für einige Auswertungen Unterdatenbanken erstellt. So wurde beispielsweise eine Datenbank erstellt in der alle chronischen und akuten Episoden als Einzeldatensätze vorliegen, um gezielt Auswertungen zur tatsächlichen Inanspruchnahme im Bedarfsfall vornehmen zu können. Eine weitere Unterdatenbank wurde angelegt, um die demographischen Daten für die unterschiedlichen Untersuchungsgebiete zusammenzuführen. Auch hierfür war eine Umstrukturierung der Daten notwendig, die es aber beispielsweise ermöglichte Bevölkerungspyramiden für jedes Untersuchungsgebiet zu erstellen. Der vierte Schritt bestand aus der Datenexploration und -auswertung. Hierfür wurde zunächst eine Explorative Datenanalyse (EDA) mit dem Ziel durchgeführt, Muster in der Bevölkerungs- und Haushaltsstruktur, dem Zugangsverhalten und den Erkrankungsmustern aufzuspüren. Sachs beschreibt dieses Vorgehen folgendermaßen: „Der erste Schritt einer wissenschaftlichen Studie kann dann, wenn Daten(sammlungen) vorliegen, im Sinne der erkundenden oder Explorativen Datenanalyse [...] darin bestehen, zu versuchen, Näheres über die Struktur von Daten zu erfahren. [...] Die EDA bemüht sich darum Untergruppen zu identifizieren und zu vergleichen...“ (Sachs 2002: 31).
Wie bereits angedeutet, wurden im Rahmen der Auswertung nur Verfahren der deskriptiven Statistik verwendet, wobei Häufigkeits- und Kreuztabellen teils mit PASW teils mit Excel erstellt wurden. Insbesondere wegen der Bearbeitbarkeit der Diagramme wurde für den abschließenden Schritt der Datenvisualisierung vor allem mit Adobe Illustrator gearbeitet. Die Auswertungen der standardisierten Erhebung werden, wie auch die Ergebnisse der übrigen Methoden, in Kapitel VII dargestellt, wobei ein Bezug zu den sechs Dimensionen von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen hergestellt wird. VI.2 AUSWAHL DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE Für die Feldarbeit wurden sechs Untersuchungsgebiete innerhalb der Grenzen der Pune municipal corporation ausgewählt. Die Kriterien, die dieser Auswahl zugrunde lagen, sind zum einen, dass die Gebiete in unterschiedlichen historischgenetischen Teilen der Stadt liegen sollten. In direktem Zusammenhang mit dem Alter der Stadtstrukturen steht – so die Hypothese bei der Auswahl der Gebiete – auch die Migrationshistorie der Haushalte. Ziel war es, Gebieten mit einer relativ konstanten Bevölkerung solche mit dynamischen Bevölkerungen entgegenzustellen. Zum anderen sollten durch die Auswahl unterschiedliche sozioökonomische Schichten erfasst werden, weshalb sowohl Slums als auch solche Gebiete ausgewählt wurden, in denen aufgrund der Gebäudestrukturen zu vermuten ist, dass die dort lebende Bevölkerung der (gehobenen) Mittelklasse zuzurechnen ist. Dabei wurde versucht, jeweils zwei Gebiete unterschiedlichen sozioökonomischen Status in zumindest mittelbarer Nachbarschaft mit vergleichbaren Zugangsoptionen auszuwählen. Hierdurch wird ein Vergleich des Einflusses der räumlichen Lage
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gegenüber anderen Dimensionen möglich. So liegen die Untersuchungsgebiete 1 „Peths Slum Area“ und 2 „Peths Middle Class Area“ relativ nah beieinander und sind nur durch den Flussverlauf getrennt. Beide Gebiete liegen in fußläufiger Distanz zueinander, so dass davon auszugehen ist, dass sich die Zugangsoptionen nicht wesentlich unterscheiden. Gleiches gilt für die Untersuchungsgebiete 3 „Koregaon Park Upper Middle Class“ und 4 „Koregaon Park Construction Worker Slums“, wobei aufgrund der geringen Größe der Slumsiedlungen in diesem Stadtteil drei slumpockets in unmittelbarer Nachbarschaft ausgewählt wurden. Die geringe Größe der Siedlungen war ebenfalls der Grund dafür, in dem Neubaugebiet Kondhwa drei slumpockets auszuwählen. Die Untersuchungsgebiete 5a, 5b und 5c „Kondhwa Slum Areas“ grenzen dabei direkt westlich, nördlich und östlich an das Untersuchungsgebiet 6 „Kondhwa Middle Class Area“. Die Auswahl der Untersuchungsgebiete erfolgte in einem mehrstufigen Prozess, der erst während der letzten Feldphase abgeschlossen werden konnte. Während des ersten explorativen Feldaufenthaltes wurde mit der bereits erwähnten standardisierten Befragung indischer und deutscher Studierenden unter anderem der soziodemographische Status der Bevölkerung in verschiedenen Stadtteilen Punes erhoben (Butsch 2008). Bei einem zweiten Aufenthalt, Anfang 2007, wurden auf dieser Grundlage ausgewählte potentielle Untersuchungsgebiete erneut aufgesucht. Bei diesen explorativen Besuchen wurden erste, nicht standardisierte Gespräche mit Bewohnern geführt, unstrukturierte Beobachtungen und erste Kartierungen durchgeführt. Vor dem Hintergrund der konkreten Fragestellung wurde die erste Auswahl von Untersuchungsgebieten zudem mit lokalen Forschungspartnern, Vertretern der Stadtverwaltung und Vertretern von Nichtregierungsorganisationen diskutiert. Die Entscheidung sechs Untersuchungsgebiete auszuwählen, stellt einen Kompromiss zwischen dem Anspruch nach einer möglichst breiten Repräsentativität und den forschungsökonomischen Rahmenbedingungen dar. Während des letzten Feldaufenthaltes wurde zudem eine letzte Anpassung notwendig, weil die Arbeit in einem zuvor ausgewählten Untersuchungsgebiet nicht möglich war33. Stattdessen wurde das Untersuchungsgebiet 4 als sechstes und letztes Untersuchungsgebiet aufgenommen, das die Auswahl zwar in anderer Hinsicht, jedoch mindestens gleichwertig, abrundet. In diesem Untersuchungsgebiet konnten temporäre Arbeitskräfte zu ihrem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen befragt werden, der sich aufgrund ihres besonderen Status als nur zeitweise Geduldete ebenfalls von dem anderer Gruppen deutlich unterscheidet, wie noch zu zeigen sein wird. Gleichwohl sind die temporär siedelnden Arbeitskräfte aufgrund des raschen Stadtwachstums eine schwer zu quantifizierende, jedoch mengenmäßig nicht zu unterschätzende Bevölkerungsgruppe. 33
Ursprünglich war geplant, als sechstes Untersuchungsgebiet eine gated community mit in die Betrachtung einzubeziehen. Dies hätte es ermöglicht, den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in einer relativ jungen Stadtstruktur zu untersuchen, deren Planungskonzept darauf ausgelegt ist, dass die Versorgung nahezu ausschließlich im näheren Wohnumfeld stattfindet. Aufgrund der verschärften Sicherheitsvorkehrungen in Folge der Terroranschläge in Mumbai Ende 2008 wurde seitens der Verwaltung dieser gated community der Zugang jedoch verwehrt.
VII EMPIRISCHE BEWERTUNG: ZUGANG ZU GESUNDHEITSDIENSTLEISTUNGEN IN PUNE In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der eigenen Erhebungen in Pune dargestellt. In dem ersten Teilkapitel erfolgt unter Rückgriff auf die Ergebnisse der Feldarbeiten eine Vorstellung der einzelnen Untersuchungsgebiete. In dem Kapitel VII.2 wird das Zugangsverhalten der befragten Haushalte, auf Grundlage der standardisierten Befragung, allgemein dargestellt. In Kapitel VII.3 wird eine Analyse der Zugangsbarrieren und –anreize in den sechs Dimensionen vorgenommen, die das Zugangsverhalten der potentiellen Nutzer in dem Untersuchungskontext erklären. Abschließend (Kapitel VII.4) wird gezeigt, wie Laien und Experten die Adäquatheit des tatsächlichen Zugang von Experten und Laien bewerten und wie der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen im Raum, in der Zeit und im Sozialraum variiert. VII.1 BESCHREIBUNG UND ANALYSE DER UNTERSUCHUNGSGEBIETE Die nachfolgende Beschreibung der sechs Untersuchungsgebiete beruht auf eigenen Erhebungen. In jedem der Gebiete wurden zunächst Gespräche mit einzelnen Bewohnern geführt, um Hintergründe über die Genese der Quartiere in Erfahrung zu bringen. Eine weitere Informationsquelle stellten neben den lokalen Forschungspartnern von dem Bharati Vidyapeeth Institute for Environment Education and Research auch Ansprechpartner in der Municipal Corporation dar. Diese Hintergrundinformationen bilden gemeinsam mit den Ergebnissen der standardisierten Erhebung und der fotographischen Dokumentation während der Feldarbeiten die Grundlage der Charakterisierungen. VII.1.1 Untersuchungsgebiet 1 „Peths Slum Area“ Dieses Untersuchungsgebiet liegt unmittelbar am westlichen Ufer des Mutha River in relativer Nähe zu dem ältesten Siedlungskern Punes (Karte 3). Die lang gestreckte Hüttensiedlung liegt zwischen einem Lagerhauskomplex der Stadtverwaltung und dem Fluss, größtenteils im Hochwassergebiet, so dass es zu wiederkehrenden Überschwemmungen während der Monsunzeit kommt. Das Gebiet gehört zu den älteren Slumsiedlungen Punes und wurde durch die Stadtverwaltung teilweise legalisiert. Dies bedeutet, dass bestimmte Infrastruktureinrichtungen, wie etwa öffentliche Toiletten, mehrere Anganwadis aber auch Wasser und Elektrizitätsversorgung, von der Stadtverwaltung bereitgestellt werden. Ein rudimentärer Schutz vor Überschwemmungen wurde 2007 in Form einer Betonmauer errichtet. Die verwendeten Baumaterialien (Tabelle 2) weisen auf gewisse Aufwer-
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Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
tungsprozesse hin. Die Behausungen haben zu einem großen Teil feste Außenwände, weshalb sie als Häuser und nicht als Hütten angesprochen werden. Der Grad der Aufwertung variiert innerhalb des Untersuchungsgebietes deutlich: Im nördlichen Teil sind stehen teilweise bereits kleine Häuser mit zwei Stockwerken und Fenstern (Foto 1, wie auch alle weiteren Fotos: im Anhang); bei den Hütten in unmittelbarer Nähe des Flusses handelt es sich demgegenüber um einfache Wellblechhütten (Foto 2). Die Bevölkerung in dem Untersuchungsgebiet lebt größtenteils seit mehreren Generationen in diesem Gebiet. Der Anteil der in den letzten zehn Jahren Zugezogenen ist mit 25 % (Tabelle 2) geringer als in den anderen Untersuchungsgebieten. Zwei Drittel der Hinzugezogenen gaben zudem an, dass sie aus einem anderen Stadtteil Punes stammen (Diagramm 2). Insgesamt scheint es wenig Fluktuation unter den Bewohnern zu geben und auch die neuen Bewohner sind mit dem lokalen Kontext vertraut. Für den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen bedeutet dies, dass davon auszugehen ist, dass die Bevölkerung relativ gut über die bestehenden Zugangsoptionen informiert ist und etablierte Beziehungen zu einzelnen Gesundheitsdienstleistern bestehen. In Bezug auf die Bevölkerungsstruktur weist dieses Gebiet einige Besonderheiten auf. So sind die Haushalte mit durchschnittlich 4,96 Mitgliedern, was den zweithöchsten Wert aller Untersuchungsgebiete darstellt, recht groß. Zudem fällt auf, dass die Bevölkerung mit einem Durchschnittsalter von 25,7 Jahren (Männer: 24,5 Jahre Frauen: 25,7 Jahre) im Vergleich zu den anderen Gebieten relativ jung ist. Entsprechend stellt sich die Bevölkerungsstruktur dar (Abb. 16): während knapp ein Drittel der Bevölkerung jünger als 15 Jahre ist, sind knapp zwei Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Auf die Jahrgänge über 65 Jahre entfällt ein Anteil von 4,7 % der männlichen Bevölkerung bzw. 3,3 % der weiblichen Bevölkerung. Dies kann als Hinweis auf eine insgesamt geringe Lebenserwartung gewertet werden. Das Verhältnis der Geschlechter ist nahezu ausgewogen, mit einem leichten Überhang der weiblichen Bevölkerung in den jungen Jahrgängen. Nur 13 % der Haushalte verfügen über mehr als ein Zimmer (Tabelle 2). Eine entsprechende Enge – durchschnittlich teilen sich über vier Personen ein Zimmer zum Schlafen – hat auch Folgen für den Gesundheitsstatus, da einerseits die Übertragung von Infektionskrankheiten viel leichter erfolgen kann, andererseits aber auch die psychische Gesundheit durch das enge Zusammenleben beeinflusst wird. Der überwiegende Anteil der Haupterwerbspersonen ist als Arbeiter beschäftigt (Tabelle 2). Hinsichtlich der Einkommensverteilung ist dieses Gebiet das ärmste aller Untersuchungsgebiete. 80 % der Haushalte müssen mit einem Einkommen zwischen 1.500 und 5.000 indischen Rupien34 (INR) monatlich ihren Lebensunterhalt bestreiten (Tabelle 2). Viele dieser Haushalte liegen damit unterhalb der von der Planning Commission der indischen Regierung 2007 festgelegten Ar 34
entspricht zwischen 25 und 80 Euro
133
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
mutsgrenze von 665,90 INR35 pro Person und Tag für das städtische Maharashtra. Entsprechend schneidet das Untersuchungsgebiet auch bei dem Wohlstandsindex (vgl. Kapitel VI.1.5) ab: Über die Hälfte der Haushalte wird dem ärmsten Quintil zugeordnet, knapp ein Drittel dem zweitärmsten Quintil (Tabelle 2). Haustyp Haus
Hütte
55
Zelt 20
0
Boden natürliche Materialien 6
veredelte Materialien 69
rudimentäre Bedachung
solide Dachkonstruktion
Dach 75
0
rudimentäre Außenmauern
solide Außenmauern
Außenmauern 32
43
Keine Fenster
Glas
Geflecht
Läden
44
5
19
5
Fenster offene Fenster
2
Zimmer pro Haushalt 1 Zimmer
2-3 Zimmer
4-5 Zimmer
65
10
0
>5 Zimmer
0
Haushaltseinkommen/Monat Kategorie
100.000 INR
Keine Angabe
Anzahl HH
3
61
8
2
0
0
1
Wohlstandsindex Kategorie
Ärmstes Quintil
zweitärmstes Quintil
mittleres Quintil
zweitreichstes Quintil
reichstes Quintil
Anzahl HH
40
24
8
3
0
Beruf des Haushaltsvorstands Kategorie
Angestellter
Arbeiter
Freiberufler
Hausangestellter
Anzahl HH
12
33
1
7
Verwaltungsangestellter
Sonstiger
6
8
3
5
Rickshawfahrer Selbstständiger
Wohndauer Kategorie
Über 50 Jahre
25 - 50 Jahre
15 - 24 Jahre
10 - 14 Jahre
5 - 9 Jahre
2 bis 4 Jahre
Unter 2 Jahren
Anzahl HH
13
41
9
4
3
3
2
Tabelle 2: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 1
35
http://planningcommission.gov.in/news/prmar07.pdf letzter Zugriff 7.12.2010
134
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 1 „Peths Slum Area“ 9%
Ländlicher Raum 16% Andere Stadt Aus Pune 75% Keine Angabe Umzug/Migration länger als 10 Jahre zurückliegend
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=75
Diagramm 2: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 1
Bevölkerungsstruktur in den befragten Haushalten in Untersuchungsgebiet 1 „Peths Slum Area“ 80 Jahre 75 - 79 Jahre
Männlich
70 - 74 Jahre
Weiblich
65 - 69 Jahre 60 - 64 Jahre 55 - 59 Jahre 50 - 54 Jahre 45 - 49 Jahre 40 - 44 Jahre 35 - 39 Jahre 30 - 34 Jahre 25 - 29 Jahre 20 - 24 Jahre 15 - 19 Jahre 10 - 14 Jahre 5 - 9 Jahre 0 - 4 Jahre 40
20
0
20
40
Personen Quelle:Eigene Erhebung 2008/2009; N=75 Haushalte; ∑=372 Personen (192 m, 180w)
Abbildung 16: Bevölkerungsstruktur in Untersuchungsgebiet 1
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
135
VII.1.2 Untersuchungsgebiet 2 „Peths Middle Class Area“ Das zweite Untersuchungsgebiet liegt im Bereich der Altstadt Punes, dem Gebiet der sogenannten Peths, in Pune auch oft einfach als City bezeichnet, östlich des Mutha River und südöstlich des Zusammenflusses von Mulha und Mutha. Trotz der teilweise großen Zerstörung während der Flutkatastrophe von 1960 sind nicht nur die historischen Grundstückzuschnitte, sondern auch z.T. noch die alte Bausubstanz erhalten. Hier ist teilweise noch die Bauform der wadas zu finden (Foto 3). Hierbei handelt es sich um meist zwei- oder dreistöckige Gebäude, in denen Großfamilien in mehreren Wohnungen, die um abgeschlossene Innenhöfe gruppiert sind (Foto 4), zusammenleben. Dieser Stadtteil durchläuft derzeit einen tiefgreifenden Veränderungsprozess: Die alten Gebäude werden teilweise systematisch dem Verfall preisgegeben, um die Genehmigung für einen – an sich aus Gründen des Denkmalschutzes nicht zulässigen – Abriss zu erhalten. Auf den frei werdenden Parzellen werden dann sukzessive „moderne“, mehrgeschossige Betonskelett-Wohnhäuser errichtet (Foto 5). Tabelle 3 zeigt, dass es sich bei der Bebauung mit Ausnahme einiger Häuser traditioneller Bauweise (Lehmwände) um solide Gebäudestrukturen handelt. In Bezug auf die Bevölkerungsdynamik ist festzuhalten, dass der Anteil der von außerhalb Punes Zugezogenen mit 4 % im Vergleich zu den anderen Untersuchungsgebieten am geringsten ist. Dennoch wohnt lediglich die Hälfte der Bevölkerung länger als 10 Jahre kontinuierlich im gleichen Haus. Ein knappes Fünftel jedoch gab an, die Familie lebe seit über 50 Jahren im gleichen Haus, was den höchsten Wert aller Untersuchungsgebiete darstellt (Tabelle 3). Die Bevölkerung in diesem Untersuchungsgebiet weist mit 34,1 Jahren ein relativ hohes Durchschnittsalter auf (Frauen: 34,8 Jahre; Männer: 33,5 Jahre). Drei Viertel der Bevölkerung sind den Altersklassen zwischen 15 und 65, dem erwerbsfähigen Alter, zugeordnet (Abb. 17). Die Kinder und Jugendlichen (< 15 Jahre) haben einen Bevölkerungsanteil von 17,2 % bei der männlichen bzw. 17,8 % bei der weiblichen Bevölkerung. Der Anteil der über 65- jährigen liegt mit 8 % bei den Männern leicht über dem der Frauen (6,4 %). In nahezu allen Altersklassen wird ein leichter Männerüberschuss beobachtet, so dass auf insgesamt 174 Männer lediglich 157 Frauen kommen. Aufgrund der Mehrgenerationenhaushalte ist die Zahl der erfassten Personen im Vergleich zu anderen Untersuchungsgebieten relativ hoch. Mit 331 gezählten Personen in den 75 Haushalten (durchschnittlich 4,4 Personen pro Haushalt) sind diese Haushalte kleiner als die in den Slumgebieten, jedoch größer als die in den beiden anderen Middle Class-Gebieten. 40 % der Haushalte verfügen über zwei bis drei Zimmer, 12 % der Befragten haben vier oder mehr Zimmer zur Verfügung (Tabelle 3), 48 % haben nur ein Zimmer. Die meisten Haupterwerbspersonen arbeiten als Angestellte, kaum weniger Befragte gehen einer Beschäftigung als Arbeiter nach oder bezeichnen sich als selbstständig – meist handelt es sich um Ladenbesitzer. Teilweise verdienen die Bewohner ihren Lebensunterhalt aber auch als Rickshawfahrer und oder im Dienstleistungsgewerbe (Tabelle 3). Ein entsprechendes Bild zeigt sich bei der Verteilung der Einkommen und der Zuord-
136
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
nung zu den Einkommensquintilen. Insgesamt sind die Bewohner dieses Untersuchungsgebiet der unteren Mittelschicht zuzuordnen. 0.
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Tabelle 3: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 2
Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 2 „Peths Middle Class Area“ 4%
Ländlicher Raum Andere Stadt
47%
49%
Aus Pune Keine Angabe Migration/Umzug länger als 10 Jahre zurückliegend
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=75
Diagramm 3 Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 2
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
137
Bevölkerungsstruktur in den befragten Haushalten in Untersuchungsgebiet 2 „Peths Middle Class Area“ 80 Jahre Männlich
75 - 79 Jahre
Weiblich
70 - 74 Jahre 65 - 69 Jahre 60 - 64 Jahre 55 - 59 Jahre 50 - 54 Jahre 45 - 49 Jahre 40 - 44 Jahre 35 - 39 Jahre 30 - 34 Jahre 25 - 29 Jahre 20 - 24 Jahre 15 - 19 Jahre 10 - 14 Jahre 5 - 9 Jahre 0 - 4 Jahre 40
20
0
Personen
20
40
Quelle:Eigene Erhebung 2008/2009; N=75 Haushalte; ∑=331 Personen (174 m, 157w)
Abbildung 17: Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 2
VII.1.3 Untersuchungsgebiet 3 „Koregaon Park upper Middle Class Area“ Das Untersuchungsgebiet 3 liegt südlich des Mula-Mutha-River, nördlich der Haupt-Eisenbahnlinie und des cantonment. Stadtgenetisch gehört dieses Gebiet zu dem Bereich der britischen Stadterweiterung. In dem Gebiet sind noch einige Bungalows britischer Bauart, mit ausladender Veranda und Nebengebäuden, zu finden. Zahlreiche Neubauten in diesem Stadtteil nehmen an diesem kolonialen Architekturstil Anleihe. Im Zuge einer massiven Nachverdichtung entstehen derzeit hochwertige Appartementkomplexe (Foto 8) und abgeschlossene Neubausiedlungen, die an gated communities erinnern. Auch die Appartementkomplexe – meist handelt es sich um mehrere Gebäude mit einer gemeinsamen Verwaltung – sind gegen unerwünschten Zutritt durch Wachpersonal und Mauern gesichert. Insgesamt ist dies einer der am stärksten begrünten Stadtteile Punes, da sowohl die südlich verlaufende Hauptstraße als auch die Verbindungen zwischen dieser und der nördlich verlaufenden Hauptstraße (Foto 6) als Alleen mit dichtem Baumbestand (Foto 7) angelegt wurden. Inmitten des Untersuchungsgebietes liegt
138
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
ein Park, der zu dem Osho International Resort gehört und zu bestimmten Tageszeiten der Öffentlichkeit zugänglich ist. Der Ashram Osho International ist eine Touristendestination mit überregionalem Bekanntheitsgrad. Touristen, vor allem aus Europa und den USA, teilweise aber auch aus Fernost frequentieren den Ashram, insbesondere in den Wintermonaten. Um den Ashram hat sich eine Dienstleistungsinfrastruktur mit Gästehäusern und Restaurants36 entwickelt. Tabelle 4 zeigt, dass es sich bei den Wohngebäuden um Häuser mit hochwertigen Materialien handelt. Nahezu 80 % der befragten Haushalte gaben an, erst in den letzten Jahren an ihren derzeitigen Wohnort gezogen zu sein (Tabelle 4). Ein Grund für diese Mobilität ist die angesprochene Nachverdichtung. Zwei Drittel der Zugezogenen stammen aus Pune, ein knappes Viertel ist aus anderen Städten zugezogen, vor allem aus Mumbai (Tabelle 4 und Diagramm 4). Die Bevölkerung weist mit 38,5 Jahren ein sehr hohes Durchschnittsalter auf (Männer: 39,4 Jahre, Frauen: 37,7). Nahezu drei Viertel der Bevölkerung ist den Altersklassen zwischen 15 und 65 Jahren zuzuordnen (Abb. 18). Der Anteil der Jugendlichen ist relativ gering, der Anteil der über 65jährigen ist demgegenüber mit 15 % (männlich) bzw. 12 % (weiblich) höher als in allen anderen Untersuchungsgebieten. Dies ist sicherlich auch mit Punes Status als „Rentnerparadies“ und damit als Ziel von Ruhestandswanderern zu erklären. Die durchschnittliche Haushaltsgröße ist mit 3,9 Personen die zweitgeringste aller Untersuchungsgebiete. Gleichzeitig steht den Haushalten hier der meiste Wohnraum zur Verfügung (Tabelle 4); über die Hälfte nutzt vier und mehr Zimmer. Die überwiegende Mehrheit der Haushaltsvorstände arbeitet als Selbstständige oder leitende Angestellte (Tabelle 4), entsprechend hoch sind die jeweiligen Haushaltseinkommen. Dies spiegelt sich auch in dem Wohlstandsindex wieder, in dem dieses Untersuchungsgebiet den zweiten Platz erreicht. Weit über die Hälfte der Befragten ist dem reichsten Quintil zuzuordnen, ein weiteres Drittel dem zweitreichsten Quintil. Die in dem Sample vertretenen Haushalte des mittleren und zweitärmsten Quintils leben in kleinen Siedlungen, die teilweise Staatsbediensteten zur Verfügung gestellt werden und als Einsprengsel in dem Gebiet verteilt sind.
36
Hierzu gehörte auch die German Bakery, die bei einem Terroranschlag Anfang 2010 vollständig zerstört wurde. http://www.sueddeutsche.de/politik/indien-anschlag-in-punedeutsche-unter-verletzten-1.62013 (letzter Zugriff: 7.12.2010)
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Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Diagramm 4: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 3
140
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Abbildung 18: Bevölkerungsstruktur Untersuchungsgebiet 3
VII.1.4 Untersuchungsgebiet 4 „Koregaon Park Construction Worker Slums“ Das vierte Untersuchungsgebiet ist eine Gruppe von drei benachbarten slum pockets. Die Gebiete liegen in fußläufiger Distanz östlich des dritten Untersuchungsgebiets. Der erste Slum ist eine durch einen Bauunternehmer angelegte Siedlung mit ca. 150 Wellblechhütten (Foto 10). Hier wohnen die Bauarbeiter, die auf einer benachbarten Baustelle arbeiten. Mehrere Arbeiter – die meisten kommen aus anderen Bundesstaaten, wie z.B. Bihar – teilen sich eine Hütte. Wenige sind mit ihren Familien hier hergekommen. Die Wellblechhütten sind entlang schmaler Gassen aufgestellt, Wasser gibt es aus einem zentralen Tank; wenige Toiletten, von denen einige nicht funktionieren, sind am Rande der Siedlung errichtet worden. Dieser Slum wurde gezielt angelegt, um den angeworben Bauarbeitern für die Dauer ihrer Beschäftigung eine Bleibe zu geben. Eine zweite slum pocket liegt an der Brücke, die den Mula-Mutha-River quert. Hier leben einerseits
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
141
Arbeiter, die im Straßenbau tätig sind, teilweise in Wellblechhütten, teilweise in Zelten. Der Slum ist nicht nur Wohngebiet der Arbeiter sondern gleichzeitig auch Materiallager und „Werkstatt“. Andererseits leben in dem Gebiet jeweils mehrere Familien in Hütten, die in Karrees angeordnet sind (Foto 9). Teilweise werden diese Hütten auch als Lager genutzt. Eine dritte slum pocket liegt, nur durch eine Straße getrennt, in unmittelbarer Nachbarschaft, zwischen einer Kläranlage und einem offenen Abwasserkanal. Die Hütten bestehen zu einem großen Teil aus einfachsten Materialien wie Wellblech und Plastikplanen (Foto 11, Tabelle 5). Die Bewohner dieses Gebiets sagten, dass ihre Siedlung nahezu jährlich durch die Stadtverwaltung niedergerissen werde, da sie hier nicht erwünscht seien. Alle drei slum pockets sind nicht durch die Municipal Corporation legalisiert. Dementsprechend gibt es keine Versorgung mit Strom und Wasser durch die Stadtverwaltung, sanitäre Einrichtungen fehlen. Die Bewohner zapfen teilweise illegal die Wasserund Stromleitungen an. Tabelle 5 zeigt, dass der überwiegende Teil der Behausungen aus einfachen Hütten besteht. Randlich finden sich sogar Zelte aus Plastikfolien und Astwerk, wodurch die Slums einen temporären Charakter besitzen. Hinsichtlich der Migrationsgenese unterscheiden sich die drei Gebiete zwar voneinander, weil die Arbeiter in einem der Gebiete gezielt durch die Bauunternehmer angeworben wurden. Jedoch handelt es sich bei allen dreien um junge Marginalsiedlunge,n in denen zu einem hohen Anteil Migranten aus ländlichen Gebieten leben (Diagramm 5). Entsprechend ist dieses Untersuchungsgebiet dasjenige mit den meisten Bewohnern ohne lokalen Hintergrund. Insgesamt 68 % der Männer und 74 % der Frauen sind im erwerbsfähigen Alter und obwohl in der angelegte Bauarbeitersiedlung der Männeranteil deutlich höher liegt, ist der durchschnittliche Frauenanteil mit 55 % erstaunlich hoch. Die Bevölkerung über 65 Jahren stellt einen zu vernachlässigenden Anteil an der Bevölkerung in dem Untersuchungsgebiet dar, was zum überwiegenden Teil mit der selektiven Migration zu erklären ist. Daher liegt auch das Durchschnittsalter in dem Untersuchungsgebiet bei 22,2 Jahren (Frauen: 22,5 Jahre, Männer: 21,9 Jahre). 97 % der Haushalte verfügen über lediglich ein Zimmer (Tabelle 5), in der Bauarbeitersiedlung sind die Hütten dicht belegt, im Schnitt teilen sich 3,9 Personen einen Raum zum Schlafen. Die Mehrheit der Haupterwerbspersonen geht einer Beschäftigung als Arbeiter nach. Die meisten erhalten für die harte körperliche Arbeit mit geringen Sicherheitsstandards einen Lohn zwischen 1.500 und 5.000 INR37. Der Wohlstandsindex (Tabelle 5) zeigt eine sehr breite Streuung, weil die Arbeiter teilweise auch Kapitalien angaben, über die sie an ihrem Heimatort verfügen (landwirtschaftliche Maschinen). Trotz dieser Verzerrung, zählt der überwiegende Teil der Bewohner zum ärmsten bzw. zweitärmsten Quintil.
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ca. zwischen 25 und 80 Euro
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Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Diagramm 5: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 4
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
143
Bevölkerungsstruktur in den befragten Haushalten in Untersuchungsgebiet 4 „Koregaon Park Construction Worker Camps“ 80 Jahre 75 - 79 Jahre
Männlich
70 - 74 Jahre
Weiblich
65 - 69 Jahre 60 - 64 Jahre 55 - 59 Jahre 50 - 54 Jahre 45 - 49 Jahre 40 - 44 Jahre 35 - 39 Jahre 30 - 34 Jahre 25 - 29 Jahre 20 - 24 Jahre 15 - 19 Jahre 10 - 14 Jahre 5 - 9 Jahre 0 - 4 Jahre 40
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Personen
20
40
Quelle:Eigene Erhebung 2008/2009; N=75 Haushalte; ∑=290 Personen (127 m, 160 w)
Abbildung 19: Bevölkerungsstruktur in Untersuchungsgebiet 4
VII.1.5 Untersuchungsgebiet 5 „Kondhwa Slum Area“ Das Untersuchungsgebiet besteht aus drei slum pockets und liegt im Südosten Punes, in einem jungen Stadtgebiet, in direkter Nachbarschaft zum cantonment. Seit ca. 25 Jahren wird dieses Gebiet als Stadterweiterung entwickelt, vorher wurde es landwirtschaftlich genutzt. Inmitten des Gebietes liegt ein städtischer Schlachthof, der nach Angaben von Anwohnern seit den 1930 Jahren an diesem Ort betrieben wird. Dieser führte bereits früh zum Entstehen einer Slumsiedlung, da die Arbeiter aufgrund von Kastenbeziehungen (Schlachten ist eine rituell unreine Tätigkeit) sozial isoliert waren und zum Teil bis heute sind. Ein deutliches Zeichen sind die zahlreichen Hinweise auf die Bewegung der Unberührbaren, die nach der Unabhängigkeit durch den Politiker Ambedkar initiiert wurde (blaue Hausanstriche, Bilder von Ambedkar). Die Bewohner arbeiten entweder direkt in dem Schlachthof oder verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Verarbeitung von
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Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
Schlachtabfällen (Foto 12). Teile des Slums sind durch die Stadtverwaltung legalisiert und mit Basisinfrastruktur versorgt. Der abseits der Straße gelegene Teil der Siedlung (Foto 13) liegt allerdings auf Spekulationsland, die Bewohner sind hier nach eigener Aussage nur kurzfristig geduldet. Das zweitälteste Slumgebiet, südöstlich gelegen, wurde in den 1980 Jahren als temporäre Bauarbeitersiedlung für die benachbarte gated community „Salunke Vihar“ angelegt. Die slum pocket liegt abseits der Straße, umgeben von Appartementkomplexen. Vor einigen Jahren konnten die Bewohner durchsetzen, dass ihre Siedlung legalisiert wurde. Damit ging eine Neuparzellierung der Grundstücke einher, so dass eine übersichtliche Blockstruktur mit rechtwinkligem Wegegrundriss entstand. Die meisten Häuschen sind mittlerweile aus Ziegelsteinen aufgemauert (Foto 14), nur einige wenige, randlich gelegene Hütten bestehen aus rudimentären Materialien. Vielfach arbeiten die weiblichen Haushaltsmitglieder als Hausangestellte in den umliegenden Wohnhäusern der Mittelschicht. Das dritte und jüngste Slumgebiet liegt westlich auf einer abschüssigen Parzelle zwischen zwei Appartementkomplexen an einem offenen Abwasserkanal. Bei einer ersten Begehung 2007 war diese Siedlung noch nicht formal anerkannt, was einer der Gründe für die Auswahl war. Bis zur Hauptfeldarbeitsphase 2008 wurde das Slumgebiet jedoch durch die Municipal Corporation legalisiert, womit deutliche Verbesserungen in der Erschließung einhergingen. Die Anlage des Untersuchungsgebietes ist insgesamt chaotisch und schwer durchschaubar, die meisten Behausungen bestehen aus Wellblechhütten, die teilweise zuletzt aufgestockt wurden. Zu den wenigen festen Häusern gehören ein Anganwadi und eine kleine Getreidemühle. Insgesamt zeigt die Erhebung der Gebäudestruktur, dass sich die drei Slums in einem Aufwertungsprozess befinden (Tabelle 6). Insgesamt scheinen die Gebiete über eine recht konstante Bevölkerung zu verfügen: 54 % der Befragten gaben an, dass ihr Zuzug bereits über zehn Jahre zurückliegt, von den Zugezogenen stammt ein großer Teil aus Pune selbst. Die Haushalte sind im Durchschnitt mit 5,7 Personen sehr groß. Knapp zwei Drittel der männlichen und annähernd drei Viertel der weiblichen Bevölkerung ist der erwerbsfähigen Bevölkerung zuzuordnen (Abbildung 20). Der geringe Anteil von Senioren und das geringe Durchschnittsalter (25,1 Jahre), deutet evtl. auf eine geringe Lebenserwartung hin. Die meisten Haupterwerbspersonen gehen einer Beschäftigung als Arbeiter nach, weibliche Haupterwerbspersonen arbeiten z.T. auch als Hausangestellte. Die Einkommen sind höher als in den anderen Slumgebieten, was sich auch in dem Wohlstandsindex widerspiegelt. Lediglich 13 % der Haushalte werden dem ärmsten Quintil zugeordnet, aber auch 9 % dem zweitreichsten Quintil (Tabelle 6).
145
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Tabelle 6:Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 5
Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 5 „Kondhwa Slum Area“
22% ländlicher Raum Andere Stadt 4%
55%
Aus Pune Keine Angabe
19%
Umzug/Migration länger als 10 Jahre zurückliegend
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=75
Diagramm 6: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 5
146
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Abbildung 20: Bevölkerungsstruktur in Untersuchungsgebiet 5
VII.1.6 Untersuchungsgebiet 6 „Kondhwa Middle Class Area“ Dieses Mittelschicht-Wohngebiet erstreckt sich über einen recht großen Straßenblock (Foto 17), der unmittelbar an der Siedlungsgrenze Punes liegt und sich südwestlich an das cantonment anschließt. Diese Nähe zum cantonment ist ein Grund für die Ansiedlung relativ vieler ehemaliger Angehöriger des Militärs. Das gesamte Gebiet war vor zehn Jahren noch im Wesentlichen unerschlossenes Ödland. Die Straße zum National Institute of Bank Management (NIBM), einem think tank des indischen Finanzsektors, war bis vor ca. 10 Jahren noch eine Schotterpiste. Bis heute sind einige der Appartementkomplexe nur über unbefestigte Wege zu erreichen. Die neuen Wohnhäuser in diesem Gebiet gehören nahezu ausschließlich zu societies (Fotos 15 und 16). Eine Society besteht aus mehreren mehrgeschossigen (vier bis zehn Etagen) Häusern, mit unterschiedlich großen Gemeinschaftsflächen. So umfasst beispielsweise die society „Nivedita Gardens“
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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neun Mehrfamilienhäuser mit jeweils ca. 20 Wohnungen und ist von der Außenwelt durch eine Mauer abgeschirmt, der Zugang wird durch private Wachleute kontrolliert. Diese societies wurden jeweils von einem Bauträger errichtet, wodurch sich die einzelnen Komplexe recht homogen darstellen. In den societies gibt es einen Rat der Bewohner, der für die Selbstverwaltung zuständig ist und einen Manager, der das operative Geschäft leitet und beispielsweise den An- und Verkauf von Wohnungen regelt. Eine der ersten societies, die nach diesem Prinzip gebaut wurde, ist die „Salunke Vihar“, die sich östlich an das Untersuchungsgebiet anschließt. Bei den Gebäuden handelt es sich in allen Fällen um mehrgeschossige Häuser, die aus einem Betonskelett mit aufgemauerten Wänden aus Ziegelstein bestehen (Tabelle 7). Die einzelnen Wohnungen sind mit hochwertigen Materialien ausgestattet, die Gemeinschaftsflächen sind meist gepflegt und erscheinen zum Teil parkähnlich. Das junge Datum der Siedlungsentwicklung spiegelt sich auch im Migrationsstatus der Bevölkerung wider. Lediglich 3 % der befragten Haushalte gaben an, länger als zehn Jahre hier zu wohnen (Tabelle 7). Der überwiegende Teil der Zugezogenen stammt indes aus Pune selbst (Diagramm 7). Die Bevölkerungsstruktur weist einen relativ geringen Anteil an Kindern und Jugendlichen auf, knapp drei Viertel der Bewohner ist den erwerbsfähigen Jahrgängen zuzuordnen (Abb. 21). Der Anteil der über 65jährigen ist wie auch in Koregaon Park relativ hoch, der Altersdurchschnitt liegt bei 34,8 Jahren. In den jungen und den alten Jahrgängen ist die Geschlechterrelation ausgeglichen, während in den Jahrgängen zwischen 15 und 65 Jahren ein leichter Männerüberschuss zu beobachten ist (126 Männer auf 107 Frauen). Der Wohnraum ist in diesem Untersuchungsgebiet großzügig bemessen: Drei Viertel der Haushalte verfügen über zwei bis drei Zimmer, ein knappes Viertel über vier und mehr Zimmer (Tabelle 7). Ungefähr die Hälfte der Haupterwerbspersonen arbeiten als Angestellte (Tabelle 7). Hinsichtlich des durchschnittlichen Einkommens werden in diesem Untersuchungsgebiet die zweithöchsten Werte beobachtet, nur in der Middle Class in Koregaon Park verdienen die Haushalte mehr. 80 % der Befragten gaben ein monatliches Einkommen zwischen 10.000 INR und 50.000 INR38 an. Demgegenüber nimmt dieses Untersuchungsgebiet hinsichtlich des Wohlstandsindex knapp den ersten Platz vor Koregaon Park ein (Tabelle 7). Das Gebiet ist hinsichtlich der Einkommens- und der Besitzverhältnisse zwischen der Middle Class in der Altstadt und der Middle Class in Koregaon Park einzuordnen.
38
ca. zwischen 170 und 840 Euro
148
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Tabelle 7: Gebäudestrukturen und soziodemographische Kennziffern in Untersuchungsgebiet 6
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Diagramm 7: Herkunft der Bewohner in Untersuchungsgebiet 6
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
Bevölkerungsstruktur in den befragten Haushalten in Untersuchungsgebiet 6 „Kondhwa Middle Class Area Area“ 80 Jahre 75 - 79 Jahre
Männlich
70 - 74 Jahre Weiblich 65 - 69 Jahre 60 - 64 Jahre 55 - 59 Jahre 50 - 54 Jahre 45 - 49 Jahre 40 - 44 Jahre 35 - 39 Jahre 30 - 34 Jahre 25 - 29 Jahre 20 - 24 Jahre 15 - 19 Jahre 10 - 14 Jahre 5 - 9 Jahre 0 - 4 Jahre 40
20
0
20
40
Personen Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; N=75 Haushalte; ∑=311 Personen (164 m, 147 w)
Abbildung 21: Bevölkerungsstruktur in Untersuchungsgebiet 6
149
VII.2 DARSTELLUNG DES ZUGANGSVERHALTENS IN DEN SECHS UNTERSUCHUNGSGEBIETEN Vor der Darstellung der Barrieren und Anreizen in den sechs Dimensionen von Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen wird zunächst das tatsächliche Zugangshandeln der Bevölkerung in den sechs Untersuchungsgebieten beschrieben. Dieses Kapitel ist stark deskriptiv konzipiert, während im folgenden Teilkapitel eine vertiefte Analyse der Einflussfaktoren in den sechs Dimensionen erfolgt. Die Übersicht beruht auf der Auswertung der standardisierten Haushaltsbefragung. Die Ergebnisdarstellung erfolgt teils nach Untersuchungsgebieten, teils untersuchungsgebietübergreifend nach Quintilen des Wohlstandsindex: Zwischen den Untersuchungsgebieten variiert das Angebot an Gesundheitsdienstleistungen quantitativ und qualitativ (vgl. Kapitel VII.3.1). Zudem ist davon auszugehen, dass das soziale Umfeld in den Nachbarschaften das Gesundheitshandeln maßgeblich beeinflusst, so dass sich in den Untersuchungsgebieten jeweils spezifische Verhaltensmuster etabliert haben. Gleichzeitig wurden im vorhergehenden Kapitel weitere Unterschiede zwischen den einzelnen Untersuchungsgebieten beschrieben, die den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen beeinflussen können: die unterschiedliche lokale Verwurzelung, der unterschiedliche Migrationsstatus, der unterschiedliche rechtliche Status und Unterschiede im sozioökonomischen Profil. Demgegenüber erlaubt es die Betrachtung nach Quintilen des Wohlstandsindex, neben der räumlichen Perspektive einen zweiten Betrachtungswinkel einzunehmen. Dies ermöglicht einen Vergleich von Haushalten mit ähnlichem sozioökonomischen Hintergrund in unterschiedlichen Stadtteilen. Erste Kontaktpunkte im Gesundheitssystem Am Beginn der standardisierten Erhebung stand die Frage nach der wichtigsten Behandlungseinrichtung des Haushalts, die Hinweise auf das Zugangsverhalten und die Wichtigkeit unterschiedlicher Gesundheitsdienstleister gibt. Der Vergleich der Nennungen der wichtigsten Behandlungseinrichtung in den sechs Untersuchungsgebieten (Diagramm 8) verdeutlicht zweierlei: Erstens nennt in allen Untersuchungsgebieten die Mehrheit der Befragten niedergelassene, privat praktizierende Ärzte als wichtigsten Kontaktpunkt im Gesundheitssystem – zwischen 51 % in der gehobenen Mittelklasse in Koregaon Park bis hin zu 83 % in der Mittelklasse im Altstadtbereich (Peths Middle Class Area). Gleichzeitig variieren die zweit- und dritthäufigsten Nennungen zwischen den Untersuchungsgebieten deutlich. Dabei fällt auf, dass der öffentliche Gesundheitssektor selten genannt wird und nur in dem innerstädtischen Slumgebiet einen Anteil von über einem Drittel der Nennungen erreicht. Auch wenn in zahlreichen Quellen belegt ist, dass die Akzeptanz des öffentlichen Gesundheitssektors relativ gering ist (vgl. Kapitel V) und der Anspruch, eine umfassende Gesundheitsversorgung für die gesamte Be-
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
151
völkerung zu bieten, nicht erfüllt wird, fallen die Ergebnisse der Haushaltsbefragung deutlicher aus, als erwartet. Sie illustrieren, dass der öffentliche Gesundheitssektor, der zumindest theoretisch für die ärmste Bevölkerung die wichtigste Anlaufstation sein soll, weit hinter den offiziell formulierten Ansprüchen zurückbleibt und seine Zielbevölkerung kaum erreicht. Zweitens fällt auf, dass sich ein relativ hoher Anteil der Nennungen auf Einrichtungen der Tertiärversorgung bezieht. Während aus gesundheitssystemischer Perspektive davon ausgegangen wird, dass die Hauptlast des Gesundheitssystems aus leichten Erkrankungen besteht und mithin in Einrichtungen der Primärversorgung behandelt werden kann, zeigen die Befragungsergebnisse, dass sich sehr viele Haushalte unter Umgehung der Primärversorgung direkt an Einrichtungen der Tertiärversorgung wenden. Wichtigste Behandlungseinrichtung: Nennungen in den sechs Untersuchungsgebieten Peths Slum Area Peths Middle Class Area Koregaon Park Upper Middle Class Kondhwa Slum Area Kondhwa Middle Class Koregaon Park Construction Worker Camps 0%
20%
40%
60%
80%
Niedergelassener Arzt
Öffentliches Krankenhaus
Privates Krankenhaus
Öffentliches PHC
100%
Andere Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; N= 6 x 75 (450)
Diagramm 8:Nennungen wichtigste Behandlungseinrichtung nach Untersuchungsgebieten
In dem Untersuchungsgebiet Peths Slum Area scheint der öffentliche Gesundheitssektor die höchste Relevanz in allen Untersuchungsgebieten zu besitzen. Ein nachfrageseitiger Erklärungsansatz hierfür ist, dass in diesem Untersuchungsgebiet die ärmste Bevölkerung anzutreffen ist. Angebotsseitig begünstigt zudem sicherlich die räumliche Nähe zu mehreren Einrichtungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung die häufige Nennung. Auffällig ist, dass deutlich mehr Gesprächspartner das öffentliche Krankenhaus als ein PHC nennen. In dem benachbarten Gebiet der Middle Class gibt die überwältigende Mehrheit der Befragten Hausarztpraxen als wichtigste Behandlungseinrichtung an. Im Vergleich zu anderen Untersuchungsgebieten verfügt das Gebiet über eine relativ hohe Dichte an privaten Leistungserbringern. Da ein hoher Anteil der Befragten bereits recht lange in dem Untersuchungsgebiet wohnt, ist davon auszugehen, dass viele Haushalte eine etablierte Beziehung zu einem family physician haben. Dennoch nehmen
152
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
mit 9 % nahmen mehr Haushalte öffentliche Einrichtungen in Anspruch als in den beiden anderen Untersuchungsgebieten der Middle Class. Mögliche Gründe hierfür sind einerseits das relative geringere Einkommen, andererseits aber auch die räumliche Nähe. In der gehobenen Mittelklasse in Koregaon Park nennen zahlreiche Interviewpartner private Krankenhäuser als wichtigste Behandlungseinrichtung. Neben stationärer Behandlung bieten diese auch ambulante Behandlung in Out Patient Departments (OPD) an. Ein wichtiger Einflussfaktor dürfte dabei auch die räumliche Nähe zu den beiden höchstangesehenen Häusern Jehangir Hospital und Ruby Hall Clinic sein (vgl. Kapitel VII.3.3). Der öffentliche Gesundheitssektor spielt in diesem Untersuchungsgebiet erwartungsgemäß die geringste Rolle: obwohl inmitten des Untersuchungsgebietes ein PHC liegt, gibt lediglich ein Haushalt an, dass dieses die wichtigste Behandlungseinrichtung sei. In den Slums in Koregaon Park nennt ein sehr hoher Anteil der Befragten private Ärzte als wichtigste Behandlungseinrichtungen. Ein wahrscheinlicher Grund hierfür ist, dass in fußläufiger Distanz kaum andere Gesundheitsdienstleister verfügbar sind (vgl. Kapitel VII.3.1). Im weiteren Verlauf Befragung geben die meisten Interviewpartner an, dass sie privat praktizierende Ärzte in dem Stadtteil Mundhwa – südlich des Untersuchungsgebiets – aufsuchen, der entsprechend auch in die Kartierung der Gesundheitsinfrastruktur mit aufgenommen wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Ärzte hier ein niedrigeres Preisniveau haben als beispielsweise die in Koregaon Park praktizierenden Ärzte. Allerdings wird auch das PHC als wichtiger Kontaktpunkt genannt. In der Mittelschicht in Kondhwa nennen 89 % der Befragten Einrichtungen des privaten Gesundheitssektors als wichtigste Behandlungseinrichtungen. Im Gegensatz zu der gehobenen Mittelschicht Koregaon Park bezieht sich dies aber im Wesentlichen auf niedergelassene Ärzte. Ein Grund für diese unterschiedliche Priorisierung im Vergleich zu der Befragung in Koregaon Park könnte in der Erreichbarkeit liegen, da die angesehenen privaten Krankenhäuser mit OPD eher im Stadtzentrum liegen. Zudem ist die Verfügbarkeit von niedergelassenen Ärzten innerhalb des Untersuchungsgebietes recht hoch. Immerhin 8 % der Befragten nennen ein öffentliches Krankenhaus als wichtigste Behandlungseinrichtung, was eventuell damit zu begründen ist, dass in unmittelbarer Nähe ein kleines städtisches Krankenhaus liegt. In den benachbarten Slums nennen drei Viertel der Befragten einen privaten niedergelassenen Arzt als wichtigste Behandlungseinrichtung. Der öffentliche Gesundheitssektor spielt in diesen – relativ wohlhabenden Slums – anscheinend nur eine untergeordnete Rolle. Diagramm 9 zeigt die Nennungen der wichtigsten Behandlungseinrichtung für alle Befragten in allen Untersuchungsgebieten. In dieser Gesamtschau wird nochmals deutlich, dass einerseits der private Gesundheitssektor für die Haushalte insgesamt wichtiger ist als der öffentliche Gesundheitssektor. Andererseits sind innerhalb des öffentlichen Gesundheitssektors die Einrichtungen der tertiären Versorgung für die Befragten wichtiger als PHCs, was die hierarchische Organisationsstruktur des öffentlichen Gesundheitssektors konterkariert.
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
153
Wichtigste Behandlungseinrichtung: Alle Befragten 4%
1%
12% Andere Öffentliches PHC
13%
Öffentliches Krankenhaus Privates Krankenhaus Niedergelassener Arzt 70%
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=450
Diagramm 9: Wichtigste Behandlungseinrichtung: alle Befragten
Wichtigste Behandlungseinrichtung: Nennungen nach Quintilen des Wohlstandsindex Ärmstes Quintil
Zweitärmstes Quintil
Mittleres Quintil
Zweitreichstes Quintil
Reichstes Quintil 0%
20%
40%
60%
80%
Niedergelassener Arzt
Öffentliches Krankenhaus
Privates Krankenhaus
Öffentliches PHC
100%
Andere Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n= 450
Diagramm 10: Wichtigste Behandlungseinrichtung nach Wohlstandsindex
Der Anteil derjenigen, die vorrangig private Gesundheitsdienstleister in Anspruch nehmen, liegt sowohl im ärmsten als auch im reichsten Quintil bei zwei Dritteln, in den übrigen Quintilen sogar darüber (Diagramm 10). Erwartungsgemäß nimmt der Anteil derjenigen, die Behandlungseinrichtungen des öffentlichen Gesundheitssektors nennen, mit steigendem Wert des Wohlstandsindex ab und es steigt der Anteil derjenigen, für die private Krankenhäuser die wichtigste Einrichtung
154
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
darstellen. Im Vergleich zu der Auswertung nach Untersuchungsgebieten ist erkennbar, dass nicht nur der soziodemographische Hintergrund sondern darüber hinaus weitere Faktoren das Zugangsverhalten beeinflussen. So ist etwa der hohe Teil der Nennungen von Krankenhäusern als wichtigste Versorgungseinrichtungen in dem Untersuchungsgebiet Koregaon Park als Besonderheit zu kennzeichnen, die nicht allein mit dem sozioökonomischen Profil erklärbar ist (vgl. Kapitel VII.3). Gründe für die Bevorzugung privater Gesundheitsdienstleister Insgesamt nennen 372 der 450 Befragten private Dienstleister als wichtigste Behandlungseinrichtung. In einer Anschlussfrage wurden diese Interviewpartner nach den Gründe hierfür gefragt. Da Mehrfachnennungen möglich waren, wurden insgesamt 473 Nennungen erfasst (Diagramm 11). Viele nennen die Distanz zur nächsten Einrichtung als Argument, wobei sich dies nur auf die relativ größere Nähe privater Anbieter beziehen kann. Aus jedem Untersuchungsgebiet ist eine Einrichtung des öffentlichen Gesundheitssektors fußläufig erreichbar, so dass die hohe Zahl von Nennungen in dieser Kategorie auch als Hinweis auf fehlendes Wissen über den öffentlichen Gesundheitssektor verstanden werden kann. Das am zweithäufigsten genannte Argument ist die schlechte Qualität der Leistungen, ein Hinweis darauf, dass die Befragten die Leistungen des öffentlichen Sektors als inadäquat empfinden. Die Nennungen in den Kategorien „zu lange Wartezeiten“ und „unpassende Öffnungszeiten“ machen knapp ein Viertel aus und stellen Hinweise auf Barrieren in der Dimension „Kompatibilität“ dar. Gründe öffentliche Gesundheitseinrichtungen zu meiden: alle Befragte Aufschlüsselung „Andere Gründe“ 14%
5%
26%
29%
36% 9%
Andere Gründe Personal häufig abwesend 15% Unpassende Öffnungszeiten 21%
generelle Ablehnung genutzt, nicht erste Priorität Hausarzt
Misstrauen
2% Zu lange Wartezeiten
7%
Schlechte Versorgungsqualität Keine Begründung sonstige
20% 16%
Keine Einrichtung in der Nähe
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=450, Mehrfachnennungen möglich, insgesamt 473 Nennungen von 372 Personen
Diagramm 11: Gründe für die Meidung öffentlicher Gesundheitsdienstleister
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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Eine überraschend hohe Anzahl der Antworten bezieht sich auf „andere Gründe“, die im Verlauf der Befragung als Stichworte erfasst und ex post kategorisiert wurden. Von diesen insgesamt 125 Nennungen entfällt der größte Teil auf das Argument, dass der Haushalt einen festen Hausarzt hat. Die etablierte Beziehung zwischen Arzt und Patient wirkt hier als Anreiz für die Inanspruchnahme privater Dienstleister (vgl. Kapitel VII.3.3). 34 Befragte sagen, dass sie den öffentlichen Gesundheitssektor zwar nutzen, andere Behandlungseinrichtungen für den Haushalt aber wichtiger sind. In der Kategorie „generelle Ablehnung“ werden Antworten subsumiert, die sich darauf beziehen, dass die Befragten den öffentlichen Gesundheitssektor noch nie in Anspruch genommen haben und die Nutzung ausschließen, weil sie sich dabei unwohl fühlen und ihnen das notwendige Wissen fehlt. Andere Befragte bringen dem öffentlichen Gesundheitssektor ein nicht weiter begründetes Misstrauen entgegen und nutzen ihn deshalb nicht. Tatsächliche Inanspruchnahme in den Bereichen Obstetrik und Pädiatrie Mehrere Fragen der standardisierten Interviews beinhalten die Bereiche Mütterund Kindergesundheit. Dies ist im Entwicklungskontext wegen der hohen Zahl der vermeidbaren Todesfälle in diesem Bereich relevant. Weil in den Bereichen Geburtsvorsorge und Pädiatrie ein großer Teil der präventiven Gesundheitsdienstleistungen erbracht wird, ist davon auszugehen, dass so Rückschlüsse auf das allgemeine präventive Gesundheitshandeln gezogen werden können. Inanspruchnahme pränatale Vorsorgebehandlung (Geburt in den vorangangenen 24 Monate)
Aufgesuchte Behandlungseinrichtungen
1% 1%
9%
2%
22% Keine Angabe
39%
Keine Geburtsvorbereitung in Anspruch genommen Geburtsvorbereitung in Anspruch genommen
15% 37% Anganwadi Öff. PHC Öffentliches Krankenhaus
Privatkrankenhaus Niedergelassener Arzt
89%
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n=88
Diagramm 12: Inanspruchnahme pränatale Versorgung
Diagramm 12 zeigt den Anteil derjenigen, die in den letzten 24 Monaten ein Kind zur Welt gebracht haben (insgesamt 88 Nennungen) und eine pränatale medizinische Betreuung erhielten. Der Anteil von 89 % der Frauen, die vor der Geburt
156
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
medizinisch betreut wurden, ist im Vergleich zu anderen Studien relativ hoch. Die Vereinten Nationen geben für die WHO-Region Südasien an, dass lediglich 40 % der Geburten durch ausgebildetes Personal begleitet werden (United Nations 2008). Der in dieser Befragung ermittelte hohe Wert kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für weite Teile der Bevölkerung gegeben ist und vor allem die Ausgestaltung tatsächlichen Zugangs von Interesse ist. Für die pränatale Versorgung sind vor allem private und öffentliche Krankenhäuser relevant (Diagramm 12). PHCs und Anganwadis wurden kaum genutzt, was insofern interessant ist, als dass insbesondere in den PHCs ein flächendeckendes Angebot im Bereich der Geburtsvorsorge bereitgestellt werden soll und jedes PHC über mindestens eine ausgebildete Hebamme verfügen sollte. Bei den durch das Ministerium für Soziales finanzierten Anganwadis stellt, neben der Kindererziehung, auch die Kindergesundheit einen Schwerpunkt dar. Durch regelmäßige Nahrungsverteilung, Vorschulerziehung und Gesundheitserziehung sollen Gesundheitsstatus und Bildungschancen von Kindern unterhalb der Armutsgrenze erhöht werden. Anganwadis fungieren aber auch als dezentrale Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, in denen Familienplanung und die Beratung Schwangerer stattfinden soll. Da die Anganwadi Worker jedoch nur eine rudimentäre Ausbildung im Bereich Gesundheit haben, ist fraglich, ob hier eine kompetente Schwangerschaftsbegleitung stattfinden kann. Im Bereich Kindergesundheit erfüllen die Anganwadis aber zwei wichtige Aufgaben: Sie stellen einerseits sicher, dass Kinder zumindest eine warme Mahlzeit am Tag kostenlos erhalten, andererseits wird der Gesundheitszustand der Kinder überwacht. So werden beispielsweise Gewicht und Größe der Kinder regelmäßig erfasst. Zudem achten die Anganwadi Worker darauf, dass die Kinder die Impftermine wahrnehmen und sind z.T. an der Organisation und Durchführung der landesweiten Impfkampagnen beteiligt. In den innerstädtischen und den randstädtischen Slumgebieten sind Anganwadis jeweils in den Untersuchungsgebieten selbst vorhanden. Diagramm 13 zeigt die Inanspruchnahme dieser Einrichtung und verdeutlicht, dass die Institution in den legalisierten und etablierten Slums mit diesen Angeboten einen recht hohen Anteil der Bevölkerung erreicht. Im Unterschied dazu werden Anganwadis in den Slumgebieten in Koregaon Park wenig genutzt. Ein unerwartetes Ergebnis ist, dass auch in der Mittelschicht in der Altstadt 13 % der Befragten angeben, dass Mitglieder ihres Haushaltes Anganwadis genutzt haben oder nutzen. Dies kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die Bevölkerung hier den Angeboten des öffentlichen Sektors gegenüber aufgeschlossener ist als die in den anderen Middle Class-Gebieten. In der gehobenen Middle Class in Koregaon Park ist keine Nutzung dokumentiert, teilweise ist das Programm sogar unbekannt. Da in den Slumgebieten alle Befragten diese Einrichtungen kennen, scheint das Programm die definierte Zielgruppe zu erreichen. Eine genauere Analyse der Erfolgsfaktoren des Programms könnte auch für eine Verbesserung der Akzeptanz der öffentlichen Gesundheitsversorgung wichtige Ansatzpunkte liefern.
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
157
Inanspruchnahme von Anganwandis: Anteil Nennungen in den sechs Untersuchungsgebieten und gesamt Gesamt Peths Slum Area Kondhwa Slum Area Koregaon Park Construction Worker Slums Peths Middle Class Area Ja
Kondhwa Middle Class
Nein Koregaon Park Upper Middle Class
Weiß ich nicht
0%
20%
40%
60%
80%
100%
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n= 6 x 75 (450)
Diagramm 13: Inanspruchnahme Anganwadis
Impfungen bei Kindern unter 14 Jahren: Leistungserbringer nach Quintilen des Wohlstandsindex Gesamt Ärmstes Quintil Zweitärmstes Quintil Mittleres Quintil Zweitreichstes Quintil Reichstes Quintil 0%
20%
40%
60%
80%
100%
Öffentliches Krankenhaus
Anganwadi
Niedergelassener Arzt (allop.)
Öffentliches Gesundheitszentrum
Öffentliches PHC
Mobile Klinik (staatl.)
Privates Krankenhaus
Apotheke
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n= 240
Diagramm 14: Inanspruchnahme Impfungen
Im Bereich der präventiven Gesundheitsversorgung von Kindern scheint der öffentliche Gesundheitssektor eine wichtigere Rolle zu spielen als in der kurativen oder in der Geburtsvorbereitung. Als Hinweis hierauf wird das Impfverhalten gewertet. Diagramm 14 zeigt für alle Haushalte getrennt nach Quintilen des Wohlstandsindex, in welchen Einrichtungen die Kinder geimpft wurden. Während nur 39 % der Impfungen durch private Dienstleister durchgeführt werden, entfallen
158
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
auf den öffentlichen Gesundheitssektor 61 %. Im Vergleich zur Nennung der wichtigsten Behandlungseinrichtung stellt dies beinahe eine Umkehr der Verhältnisse dar. Auch beim Impfverhalten fällt auf, dass mit zunehmendem Wohlstandsindex der Anteil der Nutzer des öffentlichen Gesundheitssektors abnimmt. Im Vergleich zu Diagramm 10 wird allerdings deutlich, dass für präventive Gesundheitsdienstleistungen der Anteil der Nutzer in allen Quintilen höher ist, als dies für kurative der Fall ist. Die relevanten Einrichtungen für die Immunisierung sind private Leistungserbringer, PHCs, öffentliche und private Krankenhäuser. Vor allem im zweitreichsten und reichsten Quintil sind privater Dienstleister dabei dominierend. Jedoch ist der insgesamt hohe Anteil der Inanspruchnahme öffentlicher Einrichtungen bei der Prävention ein auffälliger Kontrast, der als Ansatzpunkt für eine generelle Verbesserung der Akzeptanz des öffentlichen Gesundheitssektors genutzt werden könnte, so dies Ziel der Gesundheitspolitik werden sollte. Tatsächliche Inanspruchnahme: akute Erkrankungen Um das tatsächliche Zugangsverhalten der Bevölkerung besser verstehen zu können, wurde das Gesundheitshandeln im Falle akuter Erkrankungen für die letzten zwölf Monate vor der Befragung erfasst. Für jede Krankheitsepisode wurde festgehalten, um welchen Haushaltsangehörigen es sich handelte und ob eine Behandlung stattgefunden hat. Im Falle einer Behandlung wurden die Art der Behandlungseinrichtung, Transportmodus und Behandlungskosten erfasst, andernfalls die Gründe für die Nichtbehandlung. Die Auswertungen zu diesem Fragenblock werden im Folgenden dargestellt. In den insgesamt 450 befragten Haushalten nennen die Interviewpartner insgesamt 784 akuten Episoden. Dies entspricht 1,7 akuten Episoden pro Haushalt und Jahr, bzw. – bezogen auf die 2020 erfassten Personen in den 450 Haushalten – 0,4 akute Episoden pro Person und Jahr. Diese verteilen sich wie in Diagramm 15 dargestellt auf verschiedene Typen von Erkrankungen bzw. Symptomen. Die mit Abstand höchste Nennung bezieht sich auf die Symptome Grippe/grippaler Infekt/Fieber. Mit 425 der 784 Nennungen fallen weit mehr als die Hälfte in diese relativ unspezifische Kategorie. Dass die Kategorie so breit angelegt wurde – unter Verzicht auf eine eindeutige Klassifizierung der Erkrankungen etwa nach der International Classification of Diseases (ICD) der WHO – ist der Realität im Feld geschuldet. Die überwiegende Zahl der Befragten sind als medizinische Laien nur selten in der Lage, zwischen verschiedenen Krankheitsbildern zu differenzieren. Somit ist davon auszugehen, dass auch Fälle von Tropenkrankheiten, wie etwa Malaria, Dengue, Chickungunya oder Typhus, die nicht entsprechend diagnostiziert wurden, einen Teil der Nennungen in dieser Kategorie ausmachen. Die zweit- und dritthäufigste Nennung beziehen sich auf die Symptome schwerer Husten und Schmerzen im Abdomen, wobei letztere als Hinweis auf eine potentielle Erkrankung der inneren Organe gelten. Ein Vergleich mit Statisti-
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
159
ken der Weltgesundheitsorganisation39 zeigt, dass die angegebenen Inzidenzraten in dem vorliegenden Sample, beispielsweise für Malaria (9,4/1.000 Einwohner) oder Typhus (1,5/1.000 Einwohner) jeweils unter den offiziellen Schätzungen für die WHO-Region Südostasien liegen (Malaria: 13,9, Typhus: 1,7). Dies kann als Hinweis auf eine systematische Unterschätzung der tatsächlichen Inzidenz aufgrund der Erhebungsmethode gewertet werden. Anzahl akuter Erkrankungen nach Symptom-/Krankheitsgruppen und prozentualer Anteil der Nennungen in der jeweiligen Gruppe Influenza/Fieber
425 (54 %)
Schwerer Husten
65 (8 %)
Schmerz im Abdomen
62 (8 %)
Verletzung
41 (5 %)
Gastroenteritis
38 (5 %)
Malaria
19 (2 %)
Kopfschmerzen
19 (2 %)
Hautkrankheit
18 2 %)
Schmerzen im Brustkorb
14 (2 %)
Hepatitis
11 (1 %)
Herzerkrankung
9 (1 %)
Gallen-/Nierensteine
8 (1 %)
Lungenentzündung
6 (1 %)
Typhus 5 (1 %) Sonstige
44 (6 %)
0
100
200 300 Anzahl Nennungen
400
500
Quelle: Eigene Erhebung 2008/2009; n= 450 Haushalte / 2020 Personen / 784 Nennungen
Diagramm 15: Anzahl akuter Erkrankungen in der gesamten Stichprobe
Tabelle 8 zeigt die Anzahl der Nennungen akuter Erkrankungen nach Untersuchungsgebieten für die fünf häufigsten Kategorien. Für eine vergleichende Betrachtung wurde eine Standardisierung anhand der Größe der Risikobevölkerung durchgeführt. Die in Tabelle 8 dargestellten Inzidenzraten stellen eine Normierung der Nennungen auf jeweils 1.000 Personen dar, wobei eine Bereinigung nach Alter und Geschlecht unterblieb, da es sich hier nicht um eine epidemiologische Studie handelt. Zwei zentrale Schlüsse lassen sich aus der Häufigkeit der Nennungen ziehen: Erstens ist Influenza/Fieber in allen Untersuchungsgebieten die am häufigsten genannte Kategorie, zweitens entfällt in den Untersuchungsgebieten Korgaon Park Upper Middle Class und Peths Middle Class jeweils die zweithäufigste Anzahl der Nennungen auf die Kategorie „Sonstige“, also Erkrankungen, die nicht zu den fünf häufigsten in der Gesamtstichprobe zählen. Dies kann auf eine unter
39
Angaben nach WHO Internetauftritt: http://www.who.int/entity/healthinfo/global_burden_disease/INC6%202004.xls (letzter Zugriff: 13.2.2010)
160
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
schiedliche Krankheitslast hinweisen, was auch die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen beeinflusst. %#$&& $%
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Tabelle 8: Krankheitsepisoden und Inzidenzraten (akut) nach Untersuchungsgebieten und Quintilen des Wohlstandsindex
Ähnliche Unterschiede treten zwischen den Quintilen des Wohlstandsindex auf (Tabelle 8). In der Kategorie Influenza/Fieber weichen die Nennungen im zweitärmsten Quintil vom Durchschnitt nach unten ab, während in der Kategorie schwerer Husten eine Abweichung nach oben zu beobachten ist. Die geringen Unterschiede in der Anzahl der Nennungen zwischen den Quintilen entsprechen nicht unbedingt den Erwartungen. Tabelle 8 legt den Schluss nahe, dass die Gesamtinzidenzrate mit dem Einkommen steigt. Dies ist sicherlich auch Ausdruck einer veränderten Gesundheitswahrnehmung mit steigender Bildung und steigendem Wohlstand. Da anzunehmen ist, dass vor allem bei länger zurückliegenden Episoden nur solche genannt werden, bei denen eine ärztliche Behandlung stattfand, ist eine mögliche Interpretation dieser Ergebnisse, dass die tatsächliche Inanspruchnahme mit dem sozioökonomischem Status steigt. Die Inzidenzrate ist in dem Untersuchungsgebiet in der randstädtischen Mittelklasse und in dem Slumgebiet in der Altstadt vergleichsweise gering, die höchste Inzidenzrate für akute Erkrankungen wird in dem Gebiet der gehobenen Mittelklasse in Koregaon Park gemessen, wobei der hohe Anteil der Kategorie Influenza/Fieber ebenso auffällt ist wie der hohe Anteil sonstiger Erkrankungen. Die hohe Zahl der Nennungen für Gastroentritis in diesem Untersuchungsgebiet entspricht nicht den Erwartungen, da dies häufig mit einer schlechten Wasserqualität assoziiert wird. Da beinahe alle Haushalte über Wasserfilter verfügen, könnte dies als Hinweis auf eine andere Wahrnehmung von Beschwerden hindeuten, da davon
Empirische Bewertung: Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen in Pune
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auszugehen ist, dass die tatsächliche Krankheitslast in dieser Kategorie in den Slums höher ist. Ein ähnliches Bild ergibt sich in dem Untersuchungsgebiet Peths Middle Class Area. Im Vergleich der drei Slumgebiete sind die Inzidenzraten für fast alle Erkrankungen erwartungsgemäß in den temporären Arbeitersiedlungen am höchsten. Die Lebensumstände (Hygiene/Enge) sind – auch wegen des temporären Charakters – deutlich schlechter als in allen anderen Untersuchungsgebieten. So ist beispielsweise die Inzidenz von gastroenteritischen Erkrankungen recht hoch, was mit dem fehlenden Anschluss an die reguläre Wasserversorgung erklärt werden kann. In diesem Untersuchungsgebiet ist zudem die höchste Inzidenz im Bereich Verletzungen zu beobachten. Dies ist wahrscheinlich mit den häufig schlechten Arbeitsbedingungen und der Art der Tätigkeit der Bevölkerung zu erklären. Der Vergleich der Inzidenzraten für die verschiedenen Quintile des Wohlstandsindex (Tabelle 8) zeigt keine signifikanten Trends oder Auffälligkeiten. Interessant ist, dass im ärmsten Quintil, außer für Gastroenteritis, für keine Kategorie die höchsten Werte berechnet wurden. Die beobachteten Inzidenzraten für Verletzungen, mit leicht höheren Werten in den Haushalten mit geringerem sozioökonomischen Status könnte damit erklärt werden, dass Arme häufig schwerer körperlicher Arbeit nachgehen, die häufig mit einem hohen Verletzungsrisiko verbunden ist. Für Gastroenteritis gehen sinkende Inzidenzraten mit steigendem sozioökonomischem Status einher, was mit einer besseren Wasserversorgung bzw. der Nutzung von Filtersystemen in den Haushalten zu erklären sein dürfte. Von den erfassten 784 Krankheitsepisoden blieben insgesamt nur 31 und damit 4 % unbehandelt. Dies deutet darauf hin, dass Episoden, in denen keine ärztliche Versorgung stattfanden, kaum erfasst wurden. Die Gründe hierfür sind wohl methodischer Natur: Zum einen ist es wahrscheinlich, dass aufgrund des langen Zeitraums nur schwerere behandlungsbedürftige Erkrankungen in Erinnerung bleiben; zum anderen wurde pro Haushalt nur ein Repräsentant befragt. Insofern sind die vorliegenden Daten nicht für eine Bewertung der tatsächlichen Inzidenz nutzbar, sondern können allenfalls Trends widerspiegeln. In Bezug auf das Zugangsverhalten sind dennoch belastbare Ergebnisse zu erwarten. Auf die Frage nach den Gründen für eine unterlassene Inanspruchnahme nennen 70 %, die Erkrankung sei als nicht schwerwiegend eingestuft worden, 12 % geben an, finanzielle Schwierigkeiten hätten die Inanspruchnahme verhindert, 18 % geben „andere Gründe“ an. Tabelle 9 zeigt, für welche Erkrankungen welche Gesundheitsdienstleister in Anspruch genommen werden. Private Ärzte stellen mit 69,5 % der behandelten Krankheitsepisoden die am häufigsten aufgesuchten Dienstleister dar. Es folgen private Krankenhäuser, auf die 12,8 % der Nennungen entfallen. Im öffentlichen Gesundheitssektor wurden 12,9 % der Episoden behandelt, wobei die Mehrzahl in Krankenhäusern behandelt wurde. Die Angaben zur tatsächlichen Inanspruchnahme im Falle akuter Erkrankungen entsprechen somit in etwa denen zur wichtigsten Behandlungseinrichtung (Diagramm 9). In 2,2 % der Fälle fand zudem eine Selbstbehandlung mit Hausmitteln statt, in 2,6% wurden andere private Einrichtungen genutzt, beispielsweise Ärzte die ISMH praktizieren. Allerdings ist
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anzunehmen, dass diese Relation zwischen Allopathen und ISMH Ärzten bei den privaten niedergelassenen Ärzten die Realität nur bedingt abbildet. Zudem ist davon auszugehen, dass der Anteil der Behandlungen durch Ärzte mit einer Ausbildung in Allopathie geringer ist, als hier dargestellt, da auch Ärzte mit einer Ausbildung in ISMH häufig Allopathie praktizieren, was von den Patienten teilweise nicht differenziert wird (vgl. Kapitel VII.3.6 und Kapitel VII.4).
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