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German Pages 346 Year 2019
Theresia Degener, Marc von Miquel (Hg.) Aufbrüche und Barrieren
Disability Studies. Körper – Macht – Differenz | Band 13
Editorial Die wissenschaftliche Buchreihe Disability Studies: Körper – Macht – Differenz untersucht »Behinderung« als eine historische, soziale und kulturelle Konstruktion; sie befasst sich mit dem Wechselspiel zwischen Machtverhältnissen und symbolischen Bedeutungen. Die Reihe will neue Perspektiven eröffnen, die auch den medizinischen, pädagogischen und rehabilitationswissenschaftlichen Umgang mit »Behinderung« korrigieren und erweitern. Sie geht aus von Phänomenen verkörperter Differenz. Fundamentale Ordnungskonzepte, wie sie sich in Begriffen von Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit, körperlicher Unversehrtheit und subjektiver Identität manifestieren, werden dabei kritisch reflektiert. Im Horizont gesellschaftlicher Entwicklungen will die Buchreihe Disability Studies zur Erforschung zentraler Themen der Moderne beitragen: Vernunft, Menschenwürde, Gleichheit, Autonomie und Solidarität. Die Reihe wird herausgegeben von Anne Waldschmidt (Internationale Forschungsstelle Disability Studies, Universität zu Köln), in Zusammenarbeit mit Thomas Macho (Institut für Kultur- und Kunstwissenschaften, HumboldtUniversität Berlin), Werner Schneider (Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Augsburg), Anja Tervooren (Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen) und Heike Zirden (Berlin).
Theresia Degener, Marc von Miquel (Hg.)
Aufbrüche und Barrieren Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er Jahren
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Inhalt
Aufbrüche und Barrieren in den Disability Studies, in Recht und Politik Eine Einführung
Theresia Degener/Marc von Miquel | 7 Zwischen unteilbaren Menschenrechten und gegliedertem Sozialsystem Behindertenpolitik erster und zweiter Ordnung von 1990 bis 2016
Felix Welti | 15 Disability Policy in the United Nations The Road to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities
Theresia Degener/Andrew Begg | 43 Behindertenpolitik (in) der Europäischen Union Geschichte und aktueller Stand
Anne Waldschmidt | 79 Die Eingliederungshilfe Lückenbüßer, Kernbestand, Auslaufmodell der Hilfen für Menschen mit Behinderungen?
Wilfried Rudloff | 107 »Heimwelten« Wandel und Kontinuität von den 1970er bis 1990er Jahren
Ulrike Winkler | 141 Das Internationale Jahr der Behinderten 1981 in historischer Perspektive
Monika Baár/Anna Derksen | 161 »Eine Aufgabe der gesamten Bevölkerung«. Behinderung im schwedischen Wohlfahrtsstaat der 1970er und 1980er Jahre
Anna Derksen | 185
Umstrittene Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen Zur Geschichte von Kriegsopferverbänden, Elterninitiativen, Clubs, VHS-Kursen und Krüppelgruppen
Jonas Fischer | 213 Diskriminierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen gestern, heute und morgen
Peter Lehmann | 243 Missbrauch behinderter Heimkinder Diskurs und Entschädigung
Volker van der Locht | 275 Trotz alledem: Behinderte Menschen verändern die Republik. Behindertenbewegung und Behindertenpolitik in den 1990er und 2000er Jahren
H.-Günter Heiden | 293 Behinderte Frauen: Sehr kämpferisch, sehr erfolgreich und sehr arm
Sigrid Arnade | 321
Autorinnen und Autoren | 339
Aufbrüche und Barrieren in den Disability Studies, in Recht und Politik Eine Einführung1 Theresia Degener/Marc von Miquel
Will man den gegenwärtigen Stand der deutschsprachigen Disability Studies verorten, bedarf es eines kurzen Blicks zurück. In Deutschland, in Österreich und in der Schweiz bestehen Organisationen der Disability Studies. In Deutschland ist dies seit 2002 die Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland, in Österreich seit 2007 die Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Austria, in der Schweiz gab es von 2005 bis 2011 die Schweizerische Gesellschaft für Disability Studies. Die deutschsprachigen Organisationen der Disability Studies sind aus der Behindertenbewegung hervorgegangen, deren Anfänge in allen drei Ländern in die 1970er Jahre zurückreichen. Die enge Verbindung mit der Selbstbestimmt Leben Bewegung lässt sich ebenfalls in allen drei Ländern nachweisen. In Deutschland und in der Schweiz wurden zudem 2003 und 2006 universitäre Summer Schools ausgerichtet. Allerdings haben wir bislang nur in Deutschland einige wenige Professuren, die Disability Studies in der Denomination tragen und lediglich drei wissenschaftliche Institute der Disability Studies: die iDiS – Internationale Forschungsstelle Disability Studies an der Universität zu Köln, gegründet 2004 von Anne Waldschmidt; das ZeDiS – Zentrum für Disability Studies, gegründet 2006 zunächst an der Universität Hamburg von Gerlinde Renzelberg u.a. mit Lars Bruhn, Jürgen Homann und Gudrun Kellermann; und seit 2015 das BODYS – Bochumer Zentrum für Disability Studies, gegrün-
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Überarbeitete und erweiterte Fassung des Abschlussvortrags der Disability Studies Konferenz Berlin 2018 von Theresia Degener mit dem Titel »Emanzipation ohne Vereinnahmung: Quo vadis deutschsprachige Disability Studies?«, 21.10.2018.
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det von Theresia Degener u.a. mit Sigrid Graumann, Kathrin Römisch und Kerstin Walther an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Wie den inzwischen zahlreichen Veröffentlichungen zu entnehmen ist, handelt es sich auch bei den deutschsprachigen Disability Studies um ein etabliertes inter-, multi- und transdisziplinäres wissenschaftliches Feld. Hierfür steht auch das Programm der ersten internationalen deutschsprachigen Disability Studies Konferenz mit dem Titel »Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung«, die vom 19.-21. Oktober 2018 in Berlin stattfand. Zu erkennen ist, dass sich die Forschungsfragen ausdifferenziert haben und das Themenspektrum breiter geworden ist: Inzwischen liegen deutschsprachige Veröffentlichungen vor zu den Teildisziplinen Critical Disability Studies, Cultural Disability Studies, Deaf Studies, Mad Studies, Disability History, Queer Disability Studies, Disability Studies in Education und Legal Disability Studies. Es blühen also viele Disability-StudiesBlumen, jedoch gilt auch, was Lisa Pfahl und Justin Powell bereits 2014 in ihrer Publikation in der Zeitschrift Disability Studies Quaterly festhielten: Disability Studies im deutschsprachigen Raum haben einen subversiven Status. 2 Damit ist gemeint, dass diese Denkschule im wissenschaftlichen Mainstream weder angekommen ist, noch im Wissenschaftsbetrieb geschätzt wird. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Skepsis und Vorurteile gegenüber behinderten Wissenschaftlerinnen, die Kritik der Disability Studies an den traditionellen Sonderwissenschaften oder schlicht die Konkurrenz im neoliberalen wissenschaftlichen Betrieb. All das und mehr haben dazu geführt, dass die Disability Studies sich im deutschsprachigen Raum bislang nur als zarte Pflänzchen entwickeln konnten. Es gibt bislang weder eine deutschsprachige wissenschaftliche Fachzeitschrift zu Disability Studies noch akademische Abschlüsse oder Forschungslinien, die Disability Studies im Titel tragen. Diesem Befund zum Trotz halten die Disability Studies an ihrem Anspruch fest, mit theoretischen und empirischen Studien zur Emanzipation von behinderten Menschen beizutragen, gerade auch im Bereich des Rechts.
DISABILITY STUDIES UND UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION Dieses Jahr jährt sich das internationale Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zum zehnten Mal und wir feierten im August auch
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Lisa Pfahl/Justin J.W. Powell: Subversive Status: Disability Studies in Germany, Austria, and Switzerland, in: Disability Studies Quarterly 34/2 (2014), Link: http://dsqsds.org/article/view/4256/3596 (12.12.2018).
Einführung | 9
das zehnjährige Bestehen des Fachausschusses in Genf. Diese neue Menschenrechtskonvention ist inzwischen weltweit bekannt und hat auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz schon vieles bewirkt. Allerdings lassen sich gerade in Bezug auf die UN-BRK viele Vereinnahmungen ausmachen. Inklusion und Selbstbestimmung werden gerne als Etikett verwendet, aber der Inhalt ist oft weder menschenrechtsorientiert noch inklusiv oder selbstbestimmt. Im Bochumer Zentrum für Disability Studies BODYS werden die Disability Studies als theoretische Grundlage der UN-BRK verstanden. Dafür gibt es gute Gründe: Die UN-BRK wurde von der internationalen Behindertenbewegung erkämpft und geschrieben. Es existiert keine andere Menschenrechtskonvention, bei der der Einfluss der Zivilgesellschaft so stark war. Ihr Text übernimmt an verschiedenen Stellen Begrifflichkeiten der Behindertenbewegung, wie z.B. Selbstbestimmt Leben in Art. 19. Darüber hinaus sind auch die Wächter der Konvention Personen aus der Behindertenbewegung. Der Genfer Fachausschuss ist bislang noch mehrheitlich mit behinderten Experten besetzt, die aus den Behindertenbewegungen der Mitgliedsländer kommen. Und mit der Entwicklung des Menschenrechtsmodells von Behinderung, der Theorie der inklusiven Gleichheit, der menschenrechtsbasierten Theorie von Selbstbestimmung und Partizipation, die der Fachausschuss in seinen verschiedenen Allgemeinen Bemerkungen in den letzten Jahren verabschiedet hat, liefert die UN-BRK Stoff für eine Rechtstheorie der Disability Studies.3 Welchen Beitrag aber können Legal Disability Studies zur Emanzipation von Behinderten leisten? Die UN-Behindertenrechtskonvention ist bekanntlich nicht das gesamte Recht, sollte aber der normative Ausgangspunkt für Legal Disability Studies sein, denn Gesetze, die nicht mit ihr konform gehen, können behinderte Menschen diskriminieren und unterdrücken. Die UN-BRK zielt auf die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit aller behinderten Menschen und das sind die Grundpfeiler jeder Emanzipation. Es ist auch kein Zufall, dass sich der Vorläufer des menschenrechtlichen Modells von Behinderung, das soziale Modell von Behinderung, auf das Recht als Basis für Emanzipationsprozesse bezog. Wie eine der ersten Vertreterinnen der Legal Disability Studies, Caroline Gooding, bereits 1994 schrieb, ist es die Allianz aus Recht und kollektiver politischer Aktion, die die wesentlichen Bedingungen für eine erfolgreiche soziale Bewegung ausmachen.4 Caroline Gooding beschrieb damals für die britische Behindertenbewe-
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Der Stand der UN-BRK General Comments Nr. 1 bis Nr. 7 wird dokumentiert unter dem Link: https://www.ohchr.org/en/hrbodies/crpd/pages/gc.aspx (12.12.2018).
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Caroline Gooding: Disabling Laws, Enabling Acts: Disability Rights in Britain and America, London 1994.
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gung sehr genau, welches Potenzial das Recht als Medium für kollektive Selbstorganisation und für sozialen Wandel bietet. Die Entstehungsgeschichte der UNBRK während der vier Jahre, in denen sie in New York verhandelt wurde, ist ein guter Beleg für einen solchen Prozess der Selbstdefinition behinderter Personen als Menschenrechtssubjekte und als Gruppe mit kollektiver Identität. Behinderte Personen aus allen Regionen dieser Welt waren maßgeblich beteiligt an den Verhandlungen zwischen 2002 und 2006. Mit der Forderung nach einer eigenen Menschenrechtskonvention absolvierte jede einzelne behinderte Beteiligte, was Caroline Gooding die Bestätigung des eigenen moralischen Selbstwertes nannte. Und gleichzeitig entwickelte sich die internationale Behindertenbewegung zu einer neuen Menschenrechtsbewegung. Vor der UN-BRK bestand die internationale Behindertenbewegung als fragmentierte soziale Bewegung, vereint, aber auch getrennt durch Beeinträchtigungsart, Kultur, Nationalität und durch andere Differenzen. Aber während dieser vier Jahre in New York entwickelte sich eine neue kollektive Identität, die diese Barrieren durch den menschenrechtsbasierten Diskurs überwinden konnte. Debatten darüber, ob Gehörlose sich als Behinderte oder als Mitglieder einer linguistischen Minderheit definieren, verschwanden hinter dieser neuen kollektiven Identität als Menschenrechtssubjekte. Bislang unterrepräsentierte Gruppen, wie Menschen mit anderen Lernbedingungen oder Leute mit psycho-sozialer Beeinträchtigung waren gleichberechtigt beteiligt. Während der ersten Dekade ihrer Existenz diente die UN-BRK als Dreh- und Angelpunkt für diese neue Menschenrechtsbewegung. Allerdings gab es in Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention auch schon viele Enttäuschungen, nicht nur aus der Behindertenbewegung; Kritiker melden sich von allen Seiten. Wenn wir einmal die Kritik an der Utopie der UNBRK beiseitelassen und uns auf die Vereinnahmungen konzentrieren, dann lassen sich aus unserer Sicht drei Strömungen ausmachen: Eine Strömung ist in der Behindertenbewegung verortet, die die UN-BRK als Täuschung und als Ablenkungsmanöver wahrnimmt, weil deren Versprechungen nicht realisiert werden. Eine zweite Strömung kommt aus den traditionellen Sonderwissenschaften und aus den Reihen der großen Leistungsanbieter, die sich auf die UN-BRK beziehen, um segregierende Disziplinen und Einrichtungen zu erhalten. Eine dritte Strömung schließlich rekurriert sich aus Vertretern des Mainstreams, die immer schon wussten, dass der Platz für Behinderte nicht in der Mitte der Gesellschaft sein kann. Aus der Perspektive der Disability Studies wiegt die Kritik aus der Behindertenbewegung, von desillusionierten behinderten Mitstreiterinnen und Mitstreitern, besonders schwer. Gleichwohl gilt auch im Hinblick auf die Behinderten-
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rechtskonvention: Recht haben und Recht bekommen waren immer schon zwei verschiedene Paar Schuhe. Die UN-BRK zu erringen war ein Erfolg, der sich nicht unmittelbar in dem Leben jeder einzelnen behinderten Person auswirkt. Recht ist ein sozialer Prozess, kein Status. Und damit sich der Prozess der UNBRK im Leben einzelner behinderter Menschen realisieren kann, braucht es eine starke soziale Bewegung und ohne Zweifel auch starke Theorien der Disability Studies. In Bezug auf die anderen Strömungen ist zu sagen: Mit ihnen musste sich die Behindertenbewegung immer schon auseinandersetzen, ob mit oder ohne UN-BRK. Es ist aber interessant zu beobachten, wie viel ernster die Forderungen der Behindertenbewegung nach Inklusion, Selbstbestimmung und Partizipation seither genommen werden.
EMANZIPATION IN HISTORISCHER PERSPEKTIVE Wie es um Inklusion, Selbstbestimmung und Partizipation von Menschen mit Behinderungen in historischer Perspektive bestellt ist, kann auch als Leitfrage der in diesem Band versammelten Aufsätze gelten. Die Texte gehen zurück auf eine im März 2017 veranstaltete Tagung, die die Herausgeber in Kooperation mit Wilfried Rudloff, Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, Felix Welti, Lehrstuhl für Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung an der Universität Kassel, und mit Markus Leniger, Katholische Akademie Schwerte, veranstalteten. Der Tagungsband setzt sich zum Ziel, das Feld der Behindertenpolitik und des Behindertenrechts seit den 1970er Jahren genauer zu beleuchten. Der Blick richtet sich dabei auf den Wandel von Rechtsnormen im nationalen, europäischen und internationalen Kontext, auf die Wechselwirkungen zwischen Politik, Recht, Institutionen und sozialen Bewegungen sowie auf zentrale gesellschaftspolitische Konstellationen und Konflikte. Im Sinne der Disability Studies wählt dieser Tagungsband eine interdisziplinäre Perspektive, um die jüngere Vergangenheit und Gegenwart zu erschließen. So sind die Autorinnen des Bandes in den Rechts-, Sozial-, Geschichts- und Erziehungswissenschaften verortet, in Deutschland, im europäischen Ausland und in Neuseeland berufstätig, einige davon sind profilierte Vertreter der Behindertenbewegung. Den Auftakt macht Felix Welti mit einer Standortbestimmung über die Behindertenpolitik seit der deutschen Einigung. Indem er die sozialwissenschaftliche Denkfigur einer Sozialpolitik erster und zweiter Ordnung aufgreift, vermag Welti zu zeigen, im welchem hohen Maße die einzelnen Politikfelder von widersprüchlichen Rationalitäten gekennzeichnet sind. Statt einer Hauptrichtung der
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Behindertenpolitik ist von vielen gegenläufigen Strömungen auszugehen, zu deren wichtigsten eine zunehmende Vermarktlichung in den Arenen des Sozialstaats und eine wachsende Menschenrechtsorientierung zählen. Letzterer widmen sich Theresia Degener und Andrew Begg in Bezug auf die Entstehung einer internationalen Behindertenbewegung und die Schritte bis zur Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention. Die an den Quellen und Erfahrungen orientierte Entstehungsgeschichte dient dabei mehreren Zielsetzungen. Degener und Begg geht es in ihrer Analyse um ein genaueres Verständnis des politischen Prozesses, zudem um einen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis der internationalen Behindertenbewegung und nicht zuletzt um die völkerrechtliche Fortentwicklung der in der UN-BRK formulierten Rechtsnormen. Denn die sogenannten »Travaux Préparatoires«, vor allem die für die Entstehung der UN-BRK maßgeblichen Dokumente der Behindertenorganisationen, sind elementare Hilfsmittel für die künftige Interpretation der Rechtsnormen im politischen Raum, in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Anne Waldschmidt untersucht mit der Europäischen Union eine zentrale und im deutschsprachigen Raum bislang nur unzureichend erforschte politische Arena der Behindertenpolitik. Im Ergebnis mündeten die politischen Steuerungsziele der Antidiskriminierung, Ausweitung der Erwerbsarbeit und Vermarktlichung der sozialen Infrastruktur in teils stagnierende, teils dynamische Prozesse. Insofern spiegelt auch dieses Politikfeld die Entwicklung des demokratischen Kapitalismus in Europa, der sich maßgeblich in Kategorien wirtschaftlicher Konkurrenz zu anderen supranationalen Akteuren definiert. Im Anschluss an diese Überblicksaufsätze folgen geschichtswissenschaftliche Studien zu Einzelthemen. Wilfried Rudloff erweitert sein Forschungsprogramm zum gesamten Spektrum der Behindertenpolitik und der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen um eine Analyse der Eingliederungshilfe. Spätestens seit der Debatte um das 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz zählt die Eingliederungshilfe zu den ebenso prominenten wie umstrittenen sozialrechtlichen Leistungsbereichen für Menschen mit Behinderungen. Dabei war und ist sie eng verbunden mit dem Reformansprüchen der Sozialhilfe, mit deren Ausweitung wie mit den Diskriminierungen einer im Kern als Fürsorge verfassten Leistung. Wie es um die »Heimwelten« von behinderten Menschen von den 1970er bis 1990er Jahren bestellt war, stellt Ulrike Winkler vor. Auf der Basis ihrer bereits vorgelegten Institutionenstudien kann sie zeigen, dass die Geschichte des Wohnens, der Arbeit und der sozialen Beziehungen nur dann adäquat beschrieben und begriffen werden kann, wenn die Perspektive der Betroffenen rekonstruiert und in die Analyse einbezogen wird, sei es als Teil einer historischen Gesamtdeutung, sei es als »Eigensinn« von behinderten Menschen. Monika Baár
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und Anna Derksen richten den Fokus auf das Internationale Jahr der behinderten Menschen 1981. Im Rückblick erweist sich diese Kampagne der Vereinten Nationen als Zäsur in einer Globalgeschichte von Menschen mit Behinderungen. Ihre Fragestellungen, Argumentationen und Fallbeispiele verweisen darauf, dass sich es hier um ein in seiner Bedeutung nur unzureichend erkanntes Themenfeld handelt, das neue trans- und internationale Perspektiven für eine zeitgeschichtlich orientierte Disability History bietet. Gleichsam als Einzelstudie für diese Forschungsagenda schildert Anna Derksen die Geschichte der Behindertenbewegung und Behindertenpolitik in Schweden seit den 1970er Jahren. So kann die schwedische Behindertenbewegung für sich in Anspruch nehmen, mit dem Konzept des »Anti-Handikapp« international Vorreiter für das soziale Modell von Behinderung gewesen zu sein und mit dem Handlungsprogramm »Gesellschaft für alle« politische Perspektiven für die Reform nationaler Behindertenpolitiken aufgezeigt zu haben. Die Formierung der Behindertenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland ist Thema des Aufsatzes von Jonas Fischer. Unter Verwendung neu erschlossener Nachlässe und Materialien aus der Bewegung geht er der Frage nach, unter welchen Bedingungen diese soziale Bewegung sich konstituierte, wie neue Jugendmilieus und Lebensentwürfe von behinderten Menschen zu kollektivem Handeln und zu radikalen Forderungen nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung führten. Während in der Behindertenbewegung vorrangig Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen vertreten waren, nahm die Geschichte der AntipsychiatrieBewegung einen anderen Verlauf. Als Vertreter der humanistischen Antipsychiatrie schildert Peter Lehmann die Diskriminierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen. Seinen Schwerpunkt legt er dabei vor allem auf Formen der Freiheitsberaubung und Körperverletzung in der medizinischen Versorgung, weist dieser Bereich doch die eklatantesten Verletzungen internationaler Rechtsnormen in Deutschland auf, auch laut dem Bericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention 2013.5 Eine systematische Diskriminierung im Feld der Entschädigungspolitik stellt Volker van der Locht vor. Die Entschädigung behinderter Heimkinder, die von Verletzungen der Fürsorgepflicht, sexualisierter Gewalt und Medikamentenversuchen betroffen waren, erweist sich als ein Konflikt mit vielen Dimensionen. Die Deutung des Geschehens und Fragen strafrechtlicher, institutioneller und finanziellen Verantwortung wurden zumeist gegen die Ansprüche der Opfer verhandelt – mit einem Ergeb-
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BRK-Allianz: Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! Erster Bericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, Berlin 2013, S. 27 ff.
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nis, das die Öffentlichkeit und Politik sicherlich auch in Zukunft beschäftigen wird. Wie die jüngeren Entwicklungen in der Behindertenpolitik aus der Perspektive der Behindertenbewegung gesehen und gedeutet werden, präsentiert H.Günter Heiden. Als gleichsam nachholende Menschenrechtsbewegung hat die Behindertenbewegung einen erheblichen Schub in Sachen Professionalisierung vollzogen, der mit einem Generationenwechsel einherging. Seine Analyse zeigt, wie vielfältig die Handlungsfelder und -strategien der Bewegung geworden und wie widersprüchlich die Ergebnisse zu bewerten sind. Ausgesprochen nüchtern fällt die Bilanz von Sigrid Arnade aus, die die Lebenslagen und sozialen Kämpfe behinderter Frauen beleuchtet. Als Aktivistin, deren Schwerpunkt der Einsatz für frauenspezifische Belange in der Behindertenpolitik darstellt, unterscheidet sie zwischen politischen Teilerfolgen und einer doppelten Diskriminierung von behinderten Frauen im Bereich der Erwerbstätigkeit. Angesichts einer verfestigten sozialen Ungleichheit in Deutschland stehen der Behindertenbewegung noch zahlreiche Aufbrüche bevor. Inspirationen, wie es geht, bietet der vorliegende Band.
Zwischen unteilbaren Menschenrechten und gegliedertem Sozialsystem Behindertenpolitik erster und zweiter Ordnung von 1990 bis 2016 Felix Welti1
EINFÜHRUNG: PERIODISIERUNGEN VON BEHINDERTENRECHT UND BEHINDERTENPOLITIK Recht und Politik lassen sich in verschiedene Zyklen fassen. Die Wahlperiode des Bundestags von vier Jahren ist eine Grundeinheit, der Abstand zwischen bedeutenden Reformen eine andere, die für das Behindertenrecht ungefähr 16 Jahre beträgt. Die erste Hälfte davon ist Implementation, im zweiten Teil wird Neues vorbereitet. So können wir mit 4 – 8 – 16-Schritten vorgehen. Kabbalistik oder Empirie? Dem historischen Bewusstsein scheint Periodisierung zu helfen. Da die große Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland noch fehlt, folge ich der Periodisierung von Wilfried Rudloff aus dem Jahr 2003.2 In der ersten Phase – elf bis 16 Jahre nach Kriegsende 1945 – wurde die Behindertenpolitik von Entschädigung und Wiedereingliederung der Kriegsbeschä-
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Für Vorarbeiten und Unterstützung danke ich Dr. Diana Ramm, für Korrekturen Christina Janßen, BA und Martin Kilimann, BA.
2
Wilfried Rudloff: Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, Zeitschrift für Sozialreform 2003, Heft 6, S. 863-886; Vgl. auch die Periodisierungen in: Felix Welti, Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005, S. 183-266 und bei Fabian Walling: Das Prinzip der Individualisierung von Leistungen zur Teilhabe in der gesetzlichen Rentenversicherung, Kassel 2015, S. 34-205.
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digten geprägt. Wichtigste Gesetze dieser Phase waren Bundesversorgungsgesetz3 (BVG) und Schwerbeschädigtengesetz 4 (SchwBG), besondere Akteure namentlich der Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK) und der Reichsbund der Kriegsbeschädigten und Kriegsteilnehmer. In der zweiten Phase ging es um Wiedereingliederung ins Arbeitsleben, gesellschaftliche Integration und soziale Sicherung einer breiteren Gruppe Behinderter. 1957 betraf die Rentenreform auch Erwerbsunfähigkeitsrenten und die Rehabilitation. Zugleich wurde die berufliche Rehabilitation der Bundesanstalt für Arbeit im Zeichen des Arbeitskräftemangels ausgebaut. Hier engagierten sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Insbesondere auf Kinder und geistig Behinderte zielte die 1961 in Kraft tretende Eingliederungshilfe im Bundessozialhilfegesetz 5 (BSHG) und der Ausbau der Sonderschulen in den Ländern ab. Die Lebenshilfe, zunächst als Elternverband organisiert, trat als neuer Akteur auf den Plan. Eine dritte Phase kündigte sich während der großen Koalition von CDU/CSU und SPD 1966 bis 1969 an. Berufliche Rehabilitation wurde im Arbeitsförderungsgesetz6 (AFG) normativ und infrastrukturell weiter ausgebaut. 1969 gründeten der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und Sozialversicherungsträger die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), auch um die von der SozialEnquête7 1966 geforderte Schaffung eines einheitlichen Rehabilitationsträgers abzuwenden. Gesetzgeberisches Schlüsseljahr dieser Phase ist 1974. Das neue Schwerbehindertengesetz8 (SchwbG) markierte den Abschied vom Primat der Kriegsfolgenbewältigung. Das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter9 öffnete durch die Sozialversicherungspflicht von Werkstattbeschäftigten die bislang getrennten Welten von Fürsorge und Sozialversicherung. Das Rehabilitations-
3
20.12.1950; BGBl. I Nr. 53 S. 791.
4
16.6.1953; BGBl. I Nr. 28 S. 389.
5
30.6.1961; BGBl. I Nr. 46 S. 815.
6
25.6.1969; BGBl. I Nr. 51 S. 582.
7
Aufgrund des Beschlusses der Bundesregierung über die Durchführung einer SozialEnquete vom 29.04.1964. Der Bericht wurde 1966 vorgelegt; vgl. Walter Bogs u. a. (Hg.), Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Bericht der Sozialenquête-Kommission, Stuttgart 1966.
8
29.4.1974; BGBl. I Nr. 46 S. 1005.
9
7.5.1975; BGBl. I Nr. 52 S. 1061.
Zwischen unteilbaren Menschenrechten und gegliedertem Sozialsystem | 17
Angleichungsgesetz10 (RehaAnglG) zeigte die Notwendigkeit einer Ordnung im gegliederten System, wobei hier die Fürsorge noch außen vor war. Das Heimgesetz11 (HeimG) stärkte die Rechte der Menschen in stationären Einrichtungen. In den folgenden sechzehn Jahren bis 1990 12 gerieten auch Rehabilitation und Behindertenpolitik in den Fokus der Spar- und Konsolidierungsgesetze13. Die starke Ausweitung Anspruchsberechtigter durch das Schwerbehindertengesetz wurde thematisiert. Neue Aufmerksamkeit erhielten die seelisch Behinderten, vor allem durch die Psychiatrie-Enqûete14 und die gewachsene Institutionenkritik. Neue Gruppen der Behindertenbewegung formierten sich, traten mit dem Krüppeltribunal 1981 und mit ersten Vorschlägen zur Antidiskriminierungsgesetzgebung in die Öffentlichkeit.15 Das Betreuungsgesetz16 von 1990 zeigte Impulse für mehr Selbstbestimmung17. Insgesamt zeigt sich ein wachsendes Gewicht der Sozialpolitik zweiter Ordnung, wie sie Franz-Xaver Kaufmann definiert hat: Während Sozialpolitik erster
10 7.8.1974; BGBl. I Nr. 92 S. 1881; zur Vorgeschichte: Maximilian Wallerath: Zur Harmonisierung der Rechtsgrundlagen in der Rehabilitation, in: Zeitschrift für Sozialreform 1971, S. 577-590. 11 7.8.1974, BGBl. I Nr. 91 S. 1873; vgl. Gerhard Igl, Entwicklungen und Probleme auf dem Gebiet des Heimgesetzes, in: Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen 3 (1988), S. 1-26. 12 Zur Systematisierung in dieser Phase: Hans F. Zacher: Die Lage der Behinderten – eine Aufgabe des Sozialrechts, in: Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung 1981, S. 257-262. 13 Vgl.
Ferdinand
Schliehe:
Rehabilitation
und
Hilfen
für
Behinderte,
in:
BMGS/Bundesarchiv/Manfred G. Schmidt (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7 1982-1989 Bundesrepublik Deutschland – Finanzielle Konsolidierung und institutionelle Reform, S. 459-478. 14 Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland; BT-Drs. 7/4200; dazu: Wilfried Rudloff: Expertenkommissionen, Masterpläne und Modellprogramme – Die bundesdeutsche Psychiatriereform als Paradefall ›verwissenschaftlichter‹ Politik?, in: Archiv für Sozialgeschichte 2010, S. 169-216. 15 Vgl. Susanne von Daniels u. a. (Hg.), Krüppel-Tribunal: Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat, Köln 1983. 16 12.9.1990, BGBl. I Nr. 48 S. 2002; vgl. Bernd Schulte: »20 Jahre Betreuungsgesetz« – 20 Jahre Rechtsfürsorge für Menschen mit Behinderungen, in: Behindertenrecht 2013, S. 169-178. 17 Klaus Lachwitz: 40 Jahre Grundgesetz und die Verfassungswirklichkeit für Menschen mit geistiger Behinderung, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1989, S. 228-238.
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Ordnung unmittelbar auf soziale Probleme und politische Forderungen reagiert, befasst sich die zweite Ordnung mit den Institutionen, ihrer Effektivität, ihrem Modernisierungs- und Abstimmungsbedarf.18 Das RehaAnglG stand, zusammen mit dem Sozialgesetzbuch (SGB) I 19, am Anfang einer Gesetzgebung, die mit dem Sozialgesetzbuch, ausgehend von Hans F. Zachers Diktum der Kodifikation bei begrenzter Sachreform 20, nachvollziehbare Systematik in die Sozialgesetzgebung bringen sollte. Schon in den 1980er Jahren wurde dabei ein SGB IX für die Rehabilitation gefordert, da sich das RehaAnglG als wenig wirkungsvoll erwies. 1990 war genügend Reformdruck in der Behindertenpolitik vorhanden. Doch brachte die Vereinigung mit der DDR politische Pläne und historische Periodisierungen durcheinander. Man könnte sagen, dass sich der 1974 begonnene Zyklus noch einmal verlängerte, weil die Vereinigung politische Kräfte absorbierte21. Zunächst wurde das System der Bundesrepublik Deutschland einschließlich seiner Institutionen und Akteure auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen, fast ohne die Wünsche von Ost- wie Westdeutschen nach einer Revision von Bestehendem aufzugreifen22. Erst nach mehreren Anläufen seit 1990 wurde das SGB IX dann schließlich in der 14. Wahlperiode beschlossen23. Politik24, Ver-
18 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Sozialpolitik und Sozialstaat: Soziologische Analysen, Wiesbaden 2005. 19 11.12.1975; BGBl. I Nr. 140 S. 3015. 20 Vgl. Hans F. Zacher: Die Kodifikation des deutschen Sozialrechts in historischer und rechtsvergleichender Sicht, in: Lorenz Geis (Hg.), Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer, München 2001, S. 1229-1242. 21 Vgl. Ferdinand Schliehe/Pia Zollmann: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: BMAS/Bundesarchiv/Gerhard A. Ritter (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11, 1989-1994: Bundesrepublik Deutschland – Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Baden-Baden 2007, S. 741-763. 22 Vgl. Diana Ramm: Die Rehabilitation und das Schwerbeschädigtenrecht der DDR im Übergang zur Bundesrepublik Deutschland – Strukturen und Akteure, Kassel 2017. 23 Vgl. Ulrich Gerke/Günter Schäfer: Weiterentwicklung des Rechts zur Eingliederung Behinderter – Vorschläge der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation zu einem SGB IX, in: Die Rehabilitation 1992, S. 211-216; Volker Neumann u. a.: Reform des Rehabilitationsrechts (Sozialgesetzbuch Band IX) – Anforderungen aus Sicht geistig behinderter Menschen, Freiburg im Breisgau 1992; Fritz Riege: Umrisse eines Sozialgesetzbuchs für Behinderte, in: Sozialer Fortschritt 1993, S. 95-99; Franz Ruland: Anforderungen an ein Buch »Rehabilitationsrecht« aus der Sicht der medizinischen Rehabilitation, in: Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbands (SDSRV) 37
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waltung25, Rechtsprechung26 und Wissenschaften27 haben sich in den 16 Jahren danach mit sichtbarer Mühe an seiner Umsetzung abgearbeitet. Doch hat die Vereinigung auch den Impuls für die letzten 20 Jahre vorbereitet: 1994 wurde das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz 28 (GG) verankert. Diese Konstitutionalisierung, dann unter Einbezug des EU-Rechts und der völ-
(1993), S. 105-125; Karl Jung: 20 Jahre Reha-Angleichungsgesetz – Vorstufe zum SGB IX oder Endstation der Bemühungen um ein einheitliches Recht für die Behinderten?, in: Die Krankenversicherung 1994, S. 235-245; Hartmut Haines: Die Schwierigkeiten auf dem Weg zum SGB IX, in: Zeitschrift für Sozialreform 1997, S. 463476; Felix Welti: Das SGB IX in der Entwicklung des Sozialrechts, in: Die Rehabilitation 2002, S. 268-273. 24 Hartmut Haines: Rehabilitationsrecht und Rehabilitationspolitik, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 171-176. 25 Harry Fuchs: Rehabilitationsrecht und Verwaltungspraxis, in: Wolfgang Blumenthal/ Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 177-182. 26 Vgl. Pablo Coseriu: Behinderung aus richterlicher Sicht des BSG: Zur Bedeutung der Sozialstaatsforschung, in: Peter Masuch u. a. (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats – Bundessozialgericht und Sozialstaatsforschung, Berlin 2015, S. 687-710; Peter Masuch: Das Rehabilitationsrecht in der Rechtsprechung, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 183-188. 27 Vgl. Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation aus rechtswissenschaftlicher Sicht: Vom Fehlen eines systematischen und effektiven Gesamtzugangs, in: Peter Masuch u. a. (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats – Bundessozialgericht und Sozialstaatsforschung, Berlin 2015, S. 621-645; Gerhard Igl: Das SGB IX im System des Sozialrechts, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 141-148; Bernard Braun: Die Rehabilitation im System des Sozialleistungsrechts aus sozialpolitischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung der Probleme der trägerübergreifenden Kooperation und Koordination, in: Felix Welti (Hg.), Das Rehabilitationsrecht in der Praxis der Sozialleistungsträger, Berlin 2009, S. 33-45. 28 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes. 27.10.1994; BGBl. I Nr. 75 S. 3146.
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kerrechtlichen UN-Behindertenrechtskonvention29 (UN-BRK), hat die Phase geprägt, deren Abschluss man vielleicht später im Bundesteilhabegesetz 30 (BTHG) sehen wird, das gestaffelt 2018 und 2020 in Kraft getreten ist bzw. in Kraft treten wird.
GRUNDRECHTE, GRUNDFREIHEITEN UND MENSCHENRECHTE 1. Benachteiligungsverbot im Grundgesetz Obwohl Behinderung in das Benachteiligungsverbot in Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz gepasst hätte, das von der nationalsozialistischen Unrechtserfahrung geprägt war, war dies im Parlamentarischen Rat und über Jahrzehnte danach kein Thema gewesen. Im Entwurf für eine neue Verfassung der DDR der Arbeitsgruppe des Runden Tisches tauchten im März 1990 ein Benachteiligungsverbot und ein Schutzgebot wegen Behinderung auf.31 Über eine neue DDR-Verfassung war die Geschichte nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 schon hinweggegangen. Woher der Gedanke kam, ist nicht rekonstruiert. Es mag sein, dass viele der kirchlich geprägten Aktiven der Wende mit der prekären Situation in stationären Behinderteneinrichtungen der DDR zu tun hatten. Auch konnte es schon konkrete Sorgen um die künftige Arbeitsmarktsituation und den Erhalt der geschützten Betriebsabteilungen geben. Schließlich waren wissenschaftliche Berater aus Westdeutschland beteiligt. Jedenfalls fanden, besonders stark in Brandenburg32,
29 Inkrafttreten: 26.03.2009. 30 23.12.2016; BGBl. I Nr. 66 S. 3234; Rolf Schmachtenberg: Das Bundesteilhabegesetz – Vom Koalitionsvertrag zum Gesetz, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZS) 2018, S. 337-350; Jutta Hittmeyer/Franz Dillmann: »The long goodbye« – Endgültiger Abschied vom Fürsorgerecht durch das neue Bundesteilhabegesetz?, in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch (ZFSH/SGB) 2018, S. 313-324; Steffen Luik: Das neue Bundesteilhabegesetz – ein Überblick, in: Juris – Die Monatszeitschrift 2017, S. 195-202. 31 Vgl. Art. 1 Abs. 2, 23 des Verfassungsentwurfs; im Weiteren Art. 25, 27, 50 des Verfassungsentwurfs. Vgl. auch Helmut Herles/Ewald Rose: Vom Runden Tisch zum Parlament, Bonn 1990. 32 Art. 12 Abs. 2 BrBVerf.
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Inhalte aus diesem Entwurf ihren Weg in die Verfassungen der neuen Länder 33 und in die Diskussion der durch den Einigungsvertrag eingesetzten Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) von Bund und Ländern. Diese schlug 1994 kurz vor Ende der Wahlperiode begrenzte Änderungen vor. Das von der SPD vorgeschlagene Benachteiligungsverbot fand zuerst keine Mehrheit.34 Erst nach Interventionen der Behindertenverbände und namentlich einem Besuch von Helmut Kohl beim VdK-Verbandstag im Mai 1994 änderte die Union ihre Meinung. »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« wurde Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Das neue Benachteiligungsverbot wurde in der Rechtswissenschaft kontrovers darauf diskutiert, ob es über formelle Gleichheit hinaus auch materielle Gleichstellung verlangt, wie es jedenfalls die Verbände intendiert hatten. 35 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wurde 1997 zum ersten Mal durch die Verfassungsbeschwerde eines behinderten Mädchens aus Niedersachsen, dessen Eltern den Regelschulbesuch einklagen wollten, damit befasst 36. Die Verfassungsbeschwerde war erfolglos. In der Enttäuschung wurde zum Teil übersehen, dass das Gericht einen unfreiwilligen Sonderschulbesuch überhaupt als mögliche Benachteiligung anerkannt hatte und von der Schulbehörde die Prüfung einer Kompensation verlangte. Heute würde man von angemessenen Vorkehrungen 37
33 In den Verfassungen zu ihrer Entstehungszeit: Art. 17 Abs. 2 VerfM-V, Art. 7 Abs. 2 SächsVerf, Art. 38 VerfST, Art. 2 Abs. 4 ThürVerf. 34 5.11.1993; BT-Drs. 12/6000, S. 52; Vgl. auch Kommissionsdrucksache Nr. 67. 35 Eher traditionell: Michael Sachs: Das Grundrecht der Behinderten aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, Recht der Jugend und des Bildungswesens 1996, S. 154-174; weiter gehend z.B. Andreas Jürgens: Der Diskriminierungsschutz im Grundgesetz, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1997, S. 410-415; Theresia Degener: Verfassungsrechtliche Probleme mit der Behindertendiskriminierung in Deutschland, in: Kritische Justiz 2000, S. 425-433; zusammenfassend: Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat, Tübingen 2005, S. 401-488; Felix Welti: Behinderung und Rehabilitation – Ist das Besondere von allgemeinem Interesse für Recht und Politik?, in: Kritische Justiz 2012, S. 366-378. 36 Beschluss vom 8.10.1997; Az. 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288; kritisch: Hans-Peter Füssel: »Integrative Beschulung (ist die) verstärkt realisierungswürdige Alternative zur Sonderschule«, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1998, S. 250-255. 37 Art. 2, 5 Abs. 3 UN-BRK; vgl grundlegend: Anna-Miria Fuerst: Behinderung zwischen Diskriminierungsschutz und Rehabilitationsrecht – Ein Vergleich zwischen Deutschland und den USA, Baden-Baden 2009; auch: Felix Welti: Barrierefreiheit und angemessene Vorkehrungen, in: Sozialer Fortschritt 2015, S. 267-273.
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sprechen. Allerdings nahm das Gericht, wenig überraschend, auch einen Ressourcenvorbehalt an. Das Benachteiligungsverbot wurde dann aber in der 14. Wahlperiode mit der Gesetzgebungsmehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine wesentliche Begründung des SGB IX38. Unterschiedliche Leistungen bei gleicher Behinderung gerieten unter Rechtfertigungsdruck, »gleichberechtigte Teilhabe« wurde zum Schlüsselbegriff des Sozialrechts. Beginnend mit Sachsen-Anhalt und Berlin, gefolgt vom Bund und allen anderen Ländern, wurden von 1999 bis 2008 17 Behindertengleichstellungsgesetze39 beschlossen, die Verpflichtungen zur Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor
38 BT-Drs. 14/5074. 39 Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) vom 27.4.2002 (BGBl. 2002 I S. 1467, 1468); BadenWürttembergisches Landesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Landes-Behindertengleichstellungsgesetz – L-BGG) vom 17.12.2014 (GVBl. S. 819), Bayerisches Gesetz zur Gleichstellung, Integration und Teilhabe von Menschen mit Behinderung (Bayerisches Behindertengleichstellungsgesetz – BayBGG) vom 9.7.2003 (GVBl. S. 419, BayRS 805-9-A); Berliner Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung (Landesgleichberechtigungsgesetz – LGBG) in der Fassung vom 28.9.2006 (GVBl. S. 958); Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen des Landes Brandenburg (Brandenburgisches Behindertengleichstellungsgesetz – BbgBGG) vom 20.3.2003 (GVBl. S. 42); Bremisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Bremisches Behindertengleichstellungsgesetz – BremBGG) vom 18.12.2003 (Brem.GBl. S. 413, 414); Hamburgisches Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (HmbGGbM) vom 21.3.2005 (HmbGVBl. 2005, S. 75); Hessisches Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Hessisches Behinderten-Gleichstellungsgesetz – HessBGG) vom 20.12.2004 (GVBl. I S. 482); Gesetz zur Gleichstellung, gleichberechtigten Teilhabe und Integration von Menschen mit Behinderungen Mecklenburg-Vorpommern (Landesbehindertengleichstellungsgesetz – LBGG M-V) vom 10.7.2006 (GVOBl. M-V S. 539); Niedersächsisches Behindertengleichstellungsgesetz (NBGG) vom 25.11.2007 (Nds. GVBl. S. 661); Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen – BGG NRW) vom 16.12.2003 (GV. NRW., S. 766); Rheinland-Pfälzisches Landesgesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (LGGBehM) vom 16.12.2002 (GVBl. S. 481); Gesetz Nr. 1541 zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Saarland (Saarländisches Behindertengleichstellungsgesetz – SBGG) vom 26.11.2003 (Amtsblatt, S. 2987); Gesetz zur Verbesserung der Integration von Menschen mit Be-
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und die Anerkennung der Gebärdensprache regelten. Enttäuschung folgte vor allem im Bund daraus, dass, anders als es das Forum behinderter Juristinnen und Juristen vorgeschlagen hatte40, nur die Gleichstellung im öffentlichen Recht geregelt wurde. Für das Zivilrecht waren nur freiwillige Zielvereinbarungen41 vorgesehen, ein Instrument, das erwartbar nichts ausgetragen hat42. 2. Diskriminierungsverbot im EU-Recht Bürgerliche Rechtsbeziehungen wurden erst über das EU-Recht in das neue Behindertenrecht einbezogen. Der Amsterdamer Vertrag 43 ermächtigte die Europäische Union (EU) 1997, innerhalb ihrer Zuständigkeit Diskriminierungen wegen einer Behinderung und anderen Merkmalen zu verbieten. Ein Binnenmarkt aus heterogenen nationalen Märkten wird durch Diskriminierungsverbote größer. Die Ausweitung der Erwerbsquote von Frauen, Migranten und gesundheitlich eingeschränkten Personen erschien erstmals auf der Agenda der europäischen
hinderungen im Freistaat Sachsen (Sächsisches Integrationsgesetz – SächsIntegrG) vom 28.5.2004 (SächsGVBl. S. 196, 197); Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz Sachsen-Anhalt – BGG LSA) vom 16.12.2010 (GVBl. LSA S. 584); Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein (Landesbehindertengleichstellungsgesetz – LBGG) vom 16.12.2002 (GVOBl. S. 264); Thüringer Gesetz zur Gleichstellung und Verbesserung der Integration von Menschen mit Behinderungen (ThürGIG) vom 16.12.2005 (GVBl. S. 383). Zusammengestellt und erläutert in: Horst Frehe/Felix Welti (Hg.), Behindertengleichstellungsrecht – Textsammlung mit Einführungen, 3. Aufl. Baden-Baden 2018. 40 Forum behinderter Juristinnen und Juristen: Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes für Behinderte (BehGleichstG), 2000, Link: http://www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/ uebersi.html (27.7.2018); Vgl. Bettina Theben: Die Diskussion um ein Gleichstellungsgesetz – Zur Interdependenz von Rechtsetzung und Rechtswirklichkeit, in: Gerhard Igl/Felix Welti (Hg.), Die Verantwortung des sozialen Rechtsstaats für Personen mit Behinderung und für die Rehabilitation, Wiesbaden 2001, S. 33-63. 41 § 5 BGG. 42 Felix Welti u. a.: Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes, Bonn 2014. 43 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte; beschlossen am 18.6.1997, Unterzeichnung am 2.10.1997, Inkrafttreten am 1.5.1999.
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Sozialpolitik. Antidiskriminierung war insoweit das marktkonforme Signal, dass es der EU auch um Soziales ging. Mit der Gleichstellungsrahmenrichtlinie 78/2000/EG44 wurde das Diskriminierungsverbot in Beschäftigung und Beruf geregelt. Sie enthält ein Gebot angemessener Vorkehrungen für Arbeitgeber. Erst nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs45 wurde diese Richtlinie in Deutschland 2006 mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz46 (AGG) umgesetzt. 3. UN-Behindertenrechtskonvention Schließlich beschloss die UN-Generalversammlung 2006 die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die internationale Behindertenbewegung war daran prominent beteiligt, aus Deutschland namentlich durch Theresia Degener und Klaus Lachwitz. Bereits Ende 2008 ratifizierte die Bundesrepublik die UN-BRK, 2010 auch die Europäische Union. Die Konvention erfasst inhaltlich alle Rechts- und Politikbereiche und zeigt, dass Behindertenpolitik und Behindertenrecht nicht auf Sozialrecht beschränkt sind. Zugleich zeigt sie aber – etwa mit Artikel 19, dem Recht auf selbstbestimmtes Leben – Handlungsbedarf auch dort auf. Seitdem hat es Aktionspläne in Bund47, Ländern48, Gemeinden49 und bei Sozialversicherungsträgern gegeben, eine wissenschaftlich anspruchsvollere Teil-
44 27.11.2000. 45 EuGH, Urt. v. 23.02.2006, C-43/05. 46 14.08.2006; BGBl. I Nr. 39 S. 1897. 47 2011: Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft, Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention; 2016: Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft, Nationaler Aktionsplan 2.0 der Bundesregierung zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). 48 Z. B. Saarland: Aktionsplan der Landesregierung zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention. Saarland inklusiv – Unser Land für alle, 2012, Link: http://www.saarland.de/73526.htm (27.7.2018), Bremen: Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Land Bremen, 2014, Link: http:// www.behindertenbeauftragter.bremen.de/themen/un_behindertenrechtskonvention/akt ionsplan_zur_un_brk_im_land_bremen-9914 (27.7.2018), Hessen: Hessischer Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, 2012, Link: http://www.brk.hessen.de/aw/home/~bar/Aktionsplan-der-Landesregierung
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18), Mecklenburg-Vorpommern: Maßnahmeplan der Landesregierung MecklenburgVorpommern zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die
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habeberichterstattung, eine intensive Diskussion über das Recht auf inklusive Bildung in den Ländern, begleitet von Reformen des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes, des SGB IX und des Sozialhilferechts durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) in der 18. Wahlperiode. Zwar steht eine »große« Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch aus, doch wird die Konvention zumindest bei den Arbeits- und Sozialgerichten mehr erwähnt als jede andere internationale Menschenrechtskonvention 50. Das BVerfG hat die Konvention schon mehrfach in Entscheidungen herangezogen, insbesondere um den Inhalt des Benachteiligungsverbots aus dem Grundgesetz zu interpretieren.
BEHINDERTENPOLITIK ZWISCHEN DEN POLITIKFELDERN Ist die Orientierung von Behindertenpolitik und -recht an Grund- und Menschenrechten ein Kennzeichen der letzten 25 Jahre, so hat dies zugleich scharf verdeutlicht, dass ihre Themen in unterschiedlichen Arenen und vielfach gegliederten Institutionen verhandelt werden. Der Hauptstrom dieser Politikfelder fließt oft in eine andere Richtung und die Notwendigkeit einer Behindertenpolitik zweiter Ordnung ist noch gewachsen.
Rechte von Menschen mit Behinderungen. »Mecklenburg-Vorpommern auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft«, 2013, Link: http://service.mvnet.de/_php/ download.php?datei_id=98600 (27.7.2018). 49 Z. B. Landkreis Unterallgäu: Kommunaler Aktionsplan zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention, 2014, Link: https://www.landratsamt-unterallgaeu.de /fileadmin/eigene_dateien/landratsamt/buergerservice/behinderung/inklusion/dokume nte/lokaler_aktionsplan.pdf (27.7.2018). 50 Zur Rezeption in der Rechtsprechung: Joachim Nieding: Die Rechtsprechung zur Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, in: SDSRV 66 (2016), S. 77-92; Felix Welti: Potenzial und Grenzen der menschenrechtskonformen Auslegung des Sozialrechts am Beispiel der UN-BRK, in: Ulrich Faberu. a. (Hg.), Gesellschaftliche Bewegungen – Recht unter Beobachtung und in Aktion – Festschrift für Wolfhard Kohte, Baden-Baden 2016, S. 635-658.
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1. Gesundheits- und Pflegepolitik In den 1990er Jahren wurden zuerst die Krankenversicherung (GKV) und dann die neue Pflegeversicherung51 aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) in das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verlagert. Inhaltlich korrelierte dies mit mehr Kassenwettbewerb in der Krankenversicherung und mit der eigenständigen Pflegeversicherung. Es bildete sich eine eigenständige Politikarena, deren Akteure sich von der Sozialpolitik zu emanzipieren suchten. Private Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen wurden bedeutender und Gesundheitswirtschaft ein neuer Leitbegriff. Die Pflegeversicherung führte zu neuen Abgrenzungsproblemen und für manche behinderte Menschen zu Leistungsverschlechterungen, weil im stationären Bereich stärker zwischen Eingliederungshilfe und Pflege unterschieden wurde und im ambulanten Sektor die Arbeitgeber-Modelle für Assistenz nicht in die neue Logik passten. Die medizinische Rehabilitation wurde in der gesetzlichen Krankenversicherung noch stärker als Anhang der Akutversorgung betrachtet52, Anreize für Rehabilitation vor Pflege53 gab es nicht. Als die Zuständigkeiten in der 14. Wahlperiode noch einmal in einem Ministerium zusammenkamen, wurde zwar mit dem GKV-Reformgesetz 2000 und mit dem SGB IX auch für die Krankenversicherung eigenständigeres Rehabilitationsrecht geschaffen. Die Pflegeversicherung aber wurde in das SGB IX nicht einbezogen. Die Umsetzung des SGB IX durch die Krankenkassen blieb problematisch54. Pflege, Rehabilitation und Teilhabe stehen sich trotz mehrerer Pflegereformen als unterschiedliche Logiken, Finanztöpfe, Professionen und Institutionen gegenüber55. Der zuletzt mit den Pflegestärkungsgesetzen56 eingeführte neue
51 SGB XI; 26.5.1994; BGBl. I Nr. 30 S. 1014, 1015. 52 Vgl. Harry Fuchs: Abgrenzung oder Kooperation – Zwischen Akutmedizin und medizinischer Rehabilitation, in: Soziale Sicherheit 1994, S. 172-179. 53 Heute § 31 SGB XI. 54 Harry Fuchs: Vernetzung und Integration im Gesundheitswesen am Beispiel der medizinischen Rehabilitation, St. Augustin 2008. 55 Wolfgang Heine: Rehabilitation und Teilhabe in Medizin und Pflege, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 155-164. 56 Pflegestärkungsgesetze (PSG I–III); I: 17.12.2014; BGBl. I N. 61 S. 2222; II: 21.12.2015; BGBl. I Nr. 54 S. 2424; III: 23.12.2016; BGBl. I Nr. 65 S. 3191.
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Pflegebedürftigkeitsbegriff57 ist zwar etwas weniger auf körperliche Funktionsstörungen und das unmittelbare Wohnumfeld zentriert als der bisherige. Aber auch beim BTHG blieb die Schnittstelle umstritten. 2. Rehabilitation und Rente Ende der 1980er Jahre hatte eine Diskussion begonnen, ob die medizinische Rehabilitation entweder allein der Renten- oder der Krankenversicherung zuzuordnen sei, zugleich wurde – mit unterschiedlichen Maßstäben – die Effektivität der Leistungen thematisiert. Insbesondere getrieben von gewerkschaftlicher Seite wurden in der Rentenversicherung nacheinander drei Kommissionen 58 eingesetzt, die sich unter Beteiligung der Selbstverwaltung von Versicherten und Arbeitgebern mit Rehabilitation befassten59. Zu nennen sind hier Alfred Schmidt, Abteilungsleiter des DGB für Sozialpolitik in den 1980er Jahren 60, der die Dis-
57 § 14 SGB XI. 58 Kommission zur Weiterentwicklung der Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung. 59 Hierzu wurden in dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt »Der Beitrag der sozialen Selbstverwaltung zur Entwicklung des Rehabilitationsrechts vom Reha-Angleichungsgesetz zum SGB IX 1989 bis 2001« unter Leitung des Verfassers von Diana Ramm Interviews mit den Zeitzeugen Rolf Buschmann-Steinhage, Harry Fuchs, Karl Hermann Haack, Hartmut Haines, Volker Hansen, Wolfgang Heine, Peter Hüttenmeister, Friedrich Mehrhoff, Hubert Seiter und Hartmut Weber-Falkensammer geführt, die demnächst im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-EbertStiftung zugänglich sein werden. 60 Alfred Schmidt (1939-1990); Alfred Schmidt: Rehabilitation in der Rentenversicherung – was kann verbessert werden?, in: Deutsche Rentenversicherung (DRV) 1987, S. 537-567; Alfred Schmidt: Die Rehabilitation in der Rentenversicherung – Gedanken zur Weiterentwicklung -, in: DRV 1988, S. 519-563; Alfred Schmidt: Rehabilitation in der Rentenversicherung – Die Selbstverwaltung vor einer wichtigen Bewährungsprobe, in: Die Angestelltenversicherung 1989, S. 437-452; Alfred Schmidt: Die Behandlung chronisch Kranker – Gibt es ein Konzept der Sozialversicherung?, in: Die Betriebskrankenkasse 1989, S. 402-411; Alfred Schmidt: Krankenversicherung Rehabilitation – Trotz vieler Verbesserungen ein »immer noch unbewältigtes Verhältnis«?, in: Die Krankenversicherung 1990, S. 233-240. Zahlreiche Beiträge zur Rehabilitationspolitik sind zu finden in: Rainer Müller/Michael F. Schuntermann (Hg.), Sozialpolitik als Gestaltungsauftrag – Zum Gedenken an Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1992.
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kussion mit großen Aufsätzen eröffnet hat, Harry Fuchs61 und Peter Hüttenmeister62 als Versichertenvertreter sowie Volker Hansen als Arbeitgebervertreter63. Zu ihren Ergebnissen gehörten die Erweiterung ambulanter Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation64, ein großes Förderprogramm für Rehabilitationsforschung65, die sich in und neben der Medizin etablierte, und eine Öffnung der Sozialmedizin für die Debatten rund um die gerade entstehende International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) 66. In der 13. Wahlperiode geriet auch die Rehabilitation in die Spargesetze. Die Reform der Erwerbsminderungsrente in der 14. Wahlperiode grenzte diese restriktiv von den Arbeitsmarktleistungen ab und begründete ein Rentenniveau am Rande des Existenzminimums, was erst in der 18. und 19. Wahlperiode durch die Koalitionen von CDU/CSU und SPD korrigiert wurde. Doch die Rentenversicherung konnte sich als Rehabilitationsträger stabilisieren. Zwar wirkte ihr Apparat, vor allem derjenige der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) und später der Deutschen Rentenversicherung (DRV)
61 Harry Fuchs: Aufgaben der Krankenkassen in der Rehabilitation, Soziale Sicherheit 1989, S. 328-330; Harry Fuchs: Entwicklungsperspektiven für die Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Soziale Sicherheit 1990, S. 103-110. 62 Peter Hüttenmeister: Die Weiterentwicklung der Rehabilitation – Bericht über Ergebnisse der Kommission zur Weiterentwicklung der medizinischen Rehabilitation in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: DRV 1991, S. 766-774; Peter Hüttenmeister: Die Arbeit und Arbeitsergebnisse der Reha-Kommission Berufsförderung des VDR, in: DRV 1997, S. 656-661; Peter Hüttenmeister: Die Rehabilitation und ihre Kommissionen. Was ist erreicht? Was ist zu tun?, in: RVaktuell 2011, S. 233-237. 63 Gabriele Brock/Volker Hansen: Anforderungen an ein modernes Rehabilitationssystem – Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit dauerhaft sichern -, in: Die Krankenversicherung 1994, S. 246-249. 64 Heiner Vogel/Pia Zollmann: Perspektiven ambulanter und teilstationärer Rehabilitation – Empfehlungen der Reha-Kommission, DRV 1994, S. 180-190. 65 Zur Frühphase: Uwe Koch/Michael Barth: Rehabilitationsforschung in der Rentenversicherung – Rahmenbedingungen, Interessen und Perspektiven, in: Rainer Müller/Michael F. Schuntermann (Hg.), Sozialpolitik als Gestaltungsauftrag – Zum Gedenken an Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1992, S. 75-89. 66 Hans-Martin Schian: ICF – Nationale, europäische und internationale Auswirkungen auf Politik und Recht, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 133-140.
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Bund, weiter eher bremsend auf Gesetzgebung und Umsetzung des SGB IX 67, doch war ihre Rolle verglichen mit den Krankenkassen konstruktiver. 3. Arbeitsmarktpolitik In der 15. Wahlperiode, der zweiten Mehrheit von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wurde die Arbeitsmarktpolitik aus dem BMAS verlegt und die HartzReformen ordneten sie neu. Auch hier wurden die Überschneidungen zur beruflichen Rehabilitation im Konflikt bearbeitet. Die Logik der schnellen Arbeitsvermittlung, auch um den Preis von Einkommens- und Qualifikationsverlusten, traf behinderte Menschen und machte sie zu nachrangigen »Betreuungskunden«68. Die Bundesagentur bietet seitdem viele kurz laufende Leistungen an, deren Anbieter durch Ausschreibungen ermittelt werden. Die Infrastruktur gerade der Berufsförderungswerke hat darunter gelitten. Die Jobcenter halten meist keine spezielle Kompetenz vor, sie sind selbst keine Rehabilitationsträger. Erst das BTHG hat sie punktuell in die Koordination der Rehabilitationsträger einbezogen. In der Grundsicherung ist die Erwerbsfähigkeit, definiert als drei Stunden Arbeitsfähigkeit am Tag69, zur Schnittstelle zwischen Jobcenter und Sozialhilfe geworden. Das ist eine der möglichen Ursachen für einen erheblichen Zuwachs in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Eingliederungshilfe. Es fehlt an Unterstützung für die Personen in diesem Grenzbereich. Sehr unterschiedlich agieren dabei in den Ländern die Integrationsämter als weiterer Akteur. Wie weit die von einigen Ländern und jetzt im BTHG konzipierten Angebote des Budgets für Arbeit70 reichen, bleibt abzuwarten. 4. Arbeit In den Betrieben selbst gibt es weiterhin Leistungsverdichtung und damit Druck auf gesundheitlich beeinträchtigte Beschäftigte. Zugleich haben die demografische Entwicklung und partieller Fachkräftemangel begünstigt, dass Gesundheits-
67 Vgl. Fabian Walling: Das Prinzip der Individualisierung von Leistungen zur Teilhabe in der gesetzlichen Rentenversicherung, Kassel 2015, S. 98 ff. 68 Vgl. Felix Welti, Leistungen zur Teilhabe als Elemente aktivierender Intervention, in: SDSRV 52 (2004), S. 85-114. 69 § 8 Abs. 1 SGB II. 70 Ab 1.1.2018: § 61 SGB IX.
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förderung, Betriebliches Eingliederungsmanagement71 und Diskriminierungsschutz bei Behinderung Themen tariflicher und betrieblicher Regulierung geworden sind, die stärkere Aufmerksamkeit bei den Akteuren des Arbeitsrechts finden. Auch die Schwerbehindertenvertretungen sind im Zuge dieser Entwicklung gestärkt worden und die Gewerkschaften definieren Behinderung zunehmend nicht nur als sozialpolitisches, sondern als betriebspolitisches Thema. Sie verstehen sich selbst zunehmend als Verbände, die Interessen von Menschen mit Behinderungen wahrnehmen. 5. Bildungspolitik Mit der Salamanca-Erklärung der UNESCO 1994, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1997 (siehe oben) und der UN-BRK ist Inklusion behinderter Kinder in Regelschulen zu einem zentralen Thema von Bildungspolitik und Bildungsrecht in der Landespolitik, bei Schulverwaltungen und in der Erziehungswissenschaft geworden. Für die Finanzierung und Organisation von Schulassistenz hat dies eine neue Schnittstelle zwischen Schule, Jugendhilfe und Eingliederungshilfe geschaffen, die trotz allseitiger Inklusions-Rhetorik hart umkämpft ist72. Die Institution Schule zeigt sich dabei bislang weniger zugänglich für eine Logik individueller Rechte als die Sozialleistungsträger. 6. Bürgerrechte, Antidiskriminierung und Diversity Mit der wachsenden Bedeutung der Grund- und Menschenrechte sollte das Thema Behinderung auch in der Justiz- und Bürgerrechtspolitik heimisch geworden sein. Dies ist jedoch nur sehr begrenzt zu beobachten. So ist die Antidiskriminierungsstelle des Bundes beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) angesiedelt worden – und befasste sich bislang nur nachrangig mit Behinderungsfragen. Auch sonst werden neue Institutionen unter den Flaggen Antidiskriminierung und Diversity zwar mit vielen Fällen und Proble-
71 § 84 Abs. 2 SGB IX; ab 1.1.2018: § 167 Abs. 2 SGB IX. 72 Vgl. Johannes Reimann: Kernbereich – Randbereich – nichtpädagogischer Bereich, Zur Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Eingliederungshilfe und Schule bei der Gestaltung persönlicher Assistenz für behinderte Schüler, in: Felix Welti u. a. (Hg.), Gesundheit, Alter, Pflege, Rehabilitation – Recht und Praxis im interdisziplinären Dialog – Festschrift für Gerhard Igl, Baden-Baden 2017, S. 376-391.
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men behinderter Menschen befasst, im politischen Raum aber, wenn überhaupt, zu anderen Fragen gehört.
ALTE UND NEUE AKTEURE Wer sind nun die Akteure der Behindertenpolitik? 1. Die Bundesregierung und das Parlament Eine zentrale Rolle hat nach wie vor das BMAS. Es ist für das SGB IX verantwortlich, für das Recht der Eingliederungshilfe, Renten- und Unfallversicherung, Bundesagentur sowie der Versorgungs- und Integrationsämter. Auch das Behindertengleichstellungsrecht, der Focal Point für die UN-BRK und die oder der Beauftragte der Bundesregierung sind dort angesiedelt. Ein übergreifender Gestaltungsanspruch wird jedoch dadurch gebremst, dass für Kranken- und Pflegeversicherung das BMG, für Kinder- und Jugendhilfe das BMFSFJ und für das AGG das Justizministerium verantwortlich sind. Fragen der Barrierefreiheit und zum Beispiel des Berufszugangs verteilen sich auf weitere Ministerien. Damit hängen Realisierungschancen von Kräfteverhältnissen und Aushandlungen ab, solange Behindertenpolitik kein prominentes Thema in der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien ist. 2. Die Sozialversicherungsträger und die BAR Nicht zu unterschätzen ist, vor allem für die Umsetzung von Reformen und die Politik der zweiten Ordnung, die Rolle der Sozialversicherungsträger. Obwohl es nach Strukturreformen weniger von ihnen gibt und sie zentralisierter sind, bleiben ihre Zweige und einzelnen Träger oft je eigenen Logiken und partikularen Interessen verhaftet, die etwa das SGB IX stark ausgebremst haben. Politisch und gesellschaftlich sollte dem die Selbstverwaltung vor allem durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände entgegenwirken. Artikulieren sich diese gemeinsam, können sie der Eigenlogik der hauptamtlichen Verwaltung entgegenwirken, etwa in den 1990er Jahren bei den Reha-Kommissionen oder wenn es um Unterstützung für betriebliche Eingliederung geht. Es scheint jedoch, dass zusätzlich eine eigene Stimme der Behindertenverbände in der Selbstverwaltung nötig ist, wie sie etwa im Gemeinsamen Bundesausschuss der Krankenversicherung seit etwa 15 Jahren als Patientenbeteiligung besteht.
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Als koordinierendes Zentrum für die Rehabilitationspolitik sollte die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation dienen. Die ihr durch das SGB IX zugedachten Funktionen hat sie jedoch mangels Entscheidungsdruck und Durchgriffsmöglichkeit oft nicht erfüllen können. Das BTHG sieht nun ab 2018 eine explizite Fachaufsicht des BMAS über die BAR, ihre zentrale Rolle bei einem Teilhabeverfahrensbericht und eine Einbeziehung der Behindertenverbände vor.73 Es wird zu beobachten sein, ob dies für die intendierte Stärkung der BAR ausreicht. 3. Die unterschätzte Landes- und Kommunalebene Wie in anderen Politikfeldern wird auch in der Behindertenpolitik die Rolle der Länder und Kommunen unterschätzt. So hat die Föderalismus-Reform 2006 auch Weichen dafür gestellt, dass und wie die Länder bei der Reform des BTHG eine verfassungsrechtlich begründete starke Position innehatten74. Sie haben hier über den Bundesrat, und wiederum in ihnen die Kommunen über die Drohung mit Konnexitäts-Klagen bei den Landesverfassungsgerichten jedenfalls für die Eingliederungshilfe, oft eine Veto-Position, wie in der BTHG-Diskussion deutlich geworden ist.75 Hier hatten die Arbeits- und Sozialministerkonferenz und die kommunalen Spitzenverbände in den letzten 15 Jahren beharrlich ihre Forderungen nach Kostenentlastung vertreten und versucht, dazu semantische und inhaltliche Koalitionen mit den Behindertenverbänden zu bilden, etwa mit der Forderung nach einem bundesfinanzierten Teilhabegeld. Am Ende blieb die Frage nach dem Ob und Wie einer Einkommens- und Vermögensabhängigkeit der Eingliederungshilfe ein zentraler Streitpunkt in der Diskussion um das BTHG 76.
73 Ab 1.1.2018: §§ 39 ff. SGB IX. 74 Vgl. Felix Welti/Reza F. Shafaei: Auswirkungen der Reform der bundesstaatlichen Ordnung auf das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, insbesondere auf die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, in: Föderalismusreform und Behindertenhilfe, Berlin 2008, S. 79-141. 75 Vgl. Stellungnahme des Bundesrates; BR-Drs. 428/16; kritisch: Harry Fuchs: Rechtsetzung, Rechtsimplementierung und Glaubwürdigkeit am Beispiel des Teilhaberechts, in: Felix Welti u. a. (Hg.), Gesundheit, Alter, Pflege, Rehabilitation – Recht und Praxis im interdisziplinären Dialog – Festschrift für Gerhard Igl, Baden-Baden 2017, S. 351-363. 76 Vgl. Oliver Tolmein: Heranziehung von Einkommen und Vermögen für Teilhabeleistungen – Diskriminierung wegen der Behinderung oder bloß eine Maßnahme steuerungsorientierter Sozialpolitik?, in: Ebd., S. 392-404.
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Länder, höhere Kommunalverbände, Kreise und kreisfreie Städte sind auch als Träger der Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege, Kinder- und Jugendhilfe, Versorgungsämter und Integrationsämter sowie als Aufsicht mancher Sozialversicherungsträger notwendig für die Implementation des SGB IX und anderer Gesetze. Die Länder sind auch Gesetzgeber (seit der Föderalismusreform 2006) und Träger des Heimordnungsrechts. Nur sie können Koordination und Kooperation vor Ort herstellen, die Infrastruktur der Dienste, Einrichtungen und Beratungsstellen sichern und Sozial- und Bildungspolitik aufeinander abstimmen. Die je eigenen Politiken in den Ländern sind kaum erforscht. Zum SGB IX kann aber wohl festgehalten werden, dass sie sich dessen Umsetzung nicht zum eigenen Anliegen gemacht hatten. Für das BTHG wäre es interessant, dies von vornherein zu beobachten. Die Länder sind schließlich auch für die Barrierefreiheit von Verwaltung und Infrastruktur weit bedeutender als der Bund. Sie gebieten im Regelfall über die Verwaltung und öffentliche Einrichtungen, sie sind mit dem Bauordnungs-, Straßen- und Nahverkehrsrecht für den öffentlichen Raum verantwortlich und könnten, weit mehr als praktiziert, auch Private zur Barrierefreiheit verpflichten. Auch insofern besteht eine Evaluations- und Forschungslücke. 4. Beauftragte Neu auf das Feld gekommen sind in den letzten Jahrzehnten die Beauftragten in Bund, Ländern und Gemeinden. Karl Hermann Haack war in der 14. Wahlperiode eine treibende Kraft für SGB IX und BGG und hat erreicht, dass das Amt gesetzlich gesichert wurde. In den Ländern sind Anbindung und Ausstattung der Beauftragten sehr unterschiedlich. Auch insoweit würde sich vergleichende Forschung lohnen. Die meisten Beauftragten sind heute selbst Menschen mit Behinderungen und können politische Stärke durch eine Mittlerposition zwischen Regierung und Verbänden gewinnen. Verena Bentele hat insoweit in der 18. Wahlperiode neue Maßstäbe setzen können. 5. Verbände von Menschen mit Behinderungen Die Verbände behinderter Menschen selbst sind durch das Beteiligungsgebot in Art. 4 Abs. 3 der UN-BRK aufgewertet worden. Durch SGB IX, BGG und nun BTHG haben sie mehr und mehr Anhörungs-, Beteiligungs- und Klagerechte be-
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kommen. Zwischen ihnen bestehen große Unterschiede 77: Die Sozialverbände Sozialverband Deutschland (SoVD) und VdK sind mitgliederstark, aktiv im Rechtsschutz, regional verankert, organisieren Behinderte und Nichtbehinderte. Wohlfahrtsverbände wie die Lebenshilfe organisieren Betroffene und Angehörige und sind zugleich Träger von Diensten und Einrichtungen. Selbsthilfeverbände wie die Rheuma-Liga, der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK) oder der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) haben sich entlang der Beeinträchtigungen gebildet und wirken insbesondere ins medizinische System78. Verbände der neuen Behindertenbewegung wie die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) sind übergreifend auf Menschenrechte ausgerichtet. Sie sind moderner, haben aber wenige Mitglieder. Auch die Verbände sind ein stark gegliedertes System, ihre Vernetzung im Deutschen Behindertenrat ist eher schwach. In ihrer Politisierung und Professionalisierung, insbesondere auf der Landes- und Kommunalebene, haben sie durchaus Probleme, mit ihren wachsenden Aufgaben und Rechten Schritt zu halten. Die Leistungserbringer sind in der Behindertenpolitik nicht so starke Akteure wie in der Gesundheits- und Pflegepolitik. Auch sie sind stark gegliedert, nach medizinischer und beruflicher Rehabilitation und sozialer Teilhabe, nach ambulant und stationär, nach öffentlich, frei-gemeinnützig und privat. Als vernehmbar haben sich, auch im Ringen um das BTHG, vor allem die Träger der freien Wohlfahrtspflege erwiesen, die spezifisch mit Politik und Betroffenen vernetzt sind und als Anbieter und Arbeitgeber schwer ersetzbar scheinen. Nicht zu vernachlässigen – auch wenn die Forschung dies bislang tut – sind schließlich die Foren, in denen sich Behindertenverbände, Leistungserbringer und Verwaltung fachlich vernetzen, namentlich die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR)79 und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge.
77 Für eine Typisierung vgl. Wilfried Rudloff: Akteurssysteme, organisierte Betroffeneninteresse und sozialpolitische Innovationspfade – Modelle aus der Behindertenpolitik, in: Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde (Hg.), Sozialstaat Deutschland – Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 141-159. 78 Ursula Faubel/Hans-Jürgen Leutloff: Sozialverbände und Selbsthilfe, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation – 100 Jahre Zusammenwirken in der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V., Heidelberg 2009, S. 297-302. 79 Vgl. Yvonne Hendrich: Die Rolle der DVfR in der Entwicklung der Rehabilitation, in: Wolfgang Blumenthal/Ferdinand Schliehe (Hg.), Teilhabe als Ziel der Rehabilitation
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SCHLUSS Behindertenpolitik und Behindertenrecht von 1990 bis 2018 sind geprägt worden von der neuen Bedeutung übergeordneten Rechts im Grundgesetz, den Europäischen Verträgen und der UN-BRK. Die Orientierung an den Grund- und Menschenrechten hat ihr politisches und rechtliches Feld erweitert. Die Sozialpolitik und ihre Institutionen sind aber noch immer das Standbein, ohne das die neuen Felder nicht bespielt werden können. Weiterführenden Reformen wie dem SGB IX, den Behindertengleichstellungsgesetzen, AGG, Schulgesetzen und, trotz aller Kritik, auch BTHG stehen Rückschläge und Herausforderungen durch konkurrierende Logiken anderer Politikfelder gegenüber. Einem großen Allgemeinen wie der Menschenrechtsorientierung entspricht kein großer mächtiger Akteur. Die etablierten Institutionen folgen ihren Logiken. Für sie besteht Handlungsdruck eher in der Sozial- und Behindertenpolitik zweiter Ordnung, die mit Chiffren wie Koordination und Kooperation, Entlastung der Kommunen oder Abbau versicherungsfremder Leistungen geführt wird. Größere Reformen, wie SGB IX und BTHG, scheinen in dieser Lage durchsetzbar, wenn sich Reformschritte erster und zweiter Ordnung verbal und systematisch verknüpfen lassen, so dass mehr Koordination und Kooperation der Rehabilitationsträger als Schritt zu mehr Gleichheit erscheint oder die Entlastung von Kommunen durch Bundesmittel zugleich einen Abbau der Einkommensund Vermögensanrechnung für Menschen mit Behinderungen bewirkt. Was wird die nächste Periode bringen? Die Eule der Minerva wird es in 16 Jahren erkennen können. Aber es scheint absehbar, dass manche Fortschritte der letzten Jahre, die uns heute bescheiden vorkommen, in den nächsten Jahren bedroht sein werden. Die Dialektik von Inklusion und Exklusion wird zeigen, wie die Menschenrechte auf einer neuen Stufe aufgehoben sein werden.
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Disability Policy in the United Nations The Road to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities Theresia Degener/Andrew Begg
The adoption of the Convention on the Rights of Persons with Disabilities was a major achievement. But it took decades before disability was recognised as a human rights issue at the United Nations. In retrospect, four phases can be distinguished. The first phase, dating from 1945 to 1970, marks a time when disabled persons were invisible in United Nations policy. This changed in the second phase, from 1970 to 1980, when disabled persons became recognised as subjects of rehabilitation. The third phase comprised the two decades from 1980 to 2000, and during this time persons with disabilities became objects of human rights. Only in the new millennium, during the fourth phase, disabled persons became subjects of human rights.1
DISABLED PERSONS AS INVISIBLE CITIZENS, 1945–1970 Neither in the UN Charter of 1945, nor in the Universal Declaration of Human Rights of 1948, were people with disabilities mentioned. The Universal Declaration refers to disability only as an event or a condition, like unemployment and sickness,2 to which social security should apply to ensure the right to an adequate standard of living. This lack of recognition of disabled people is surprising given 1 2
The following text is an abbreviated and altered version of: Degener, Bregg (2017). Universal Declaration on Human Rights, December 10 1948, Resolution A/RES/ 3/217A, Art. 25.
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that at least two of the nine members of the drafting committee of the Declaration had direct experience with disability. The Chair of the drafting committee was Eleanor Roosevelt, the wife of US President Franklin D. Roosevelt, who had to use a wheelchair for the last two decades of his life. And John P. Humphrey, the Canadian member of the drafting committee, had lost his arm at the age of six.3 It cannot be claimed that no person with experience of disability was present during the drafting. The first three of the core international human rights treaties were adopted during this phase: the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination in 1965, and the International Covenants on Civil and Political Rights, and on Economic, Social and Cultural Rights, both in 1966. None of these treaties contain explicit references to persons with disabilities. While the General Assembly and other human rights bodies emphasised many times subsequently that disabled persons are covered by these laws, it is reasonable to say that this group was not on the radar when they were being drafted. Disabled persons were more or less invisible citizens during this first two and a half decades of the United Nations. The UN Yearbooks from 1946 to 1970 mention persons with disabilities only in three contexts: Firstly, as a specific group among refugees; secondly, as objects of rehabilitation and welfare; and thirdly, in the context of social security funds. Just how limited this discourse on disability was can be illustrated with a few examples. Firstly, in 1950 the Secretary General submitted a report to the Social Commission on »Social Rehabilitation of the Physically Handicapped«. The report summarizes the findings of an international expert meeting, the sole subject being an international programme of rehabilitation, and it covered medical, occupational and physical therapy, manufacture and fitting of prostheses, and similar services.4 Following this report The Economic and Social Council adopted Resolution 309 (XI), in which the Council requested the Secretary General »to plan jointly with the specialised agencies and in consultation with the interested non-governmental organisations a well co-ordinated international programme for rehabilitation of physically handicapped persons«. Similar recommendations were directed to member states.5
3 4
Scott (2011). Social Rehabilitation of the Physically Handicapped, Report of the Secretary General to the Social Commission, E/CN.5/197, March 22 1950.
5
Social Rehabilitation of the Physically Handicapped, Resolution E/RES/309E (XI), July 13 1950.
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The focus in these documents, however, was on the rehabilitation experts, not on the individuals with disabilities. Despite the fact that during this period Helen Keller, a famous person with disability, addressed the United Nations,6 disabled persons in general were regarded as objects of rehabilitation, while as citizens and rights holders, they remained invisible.
DISABLED PERSONS AS SUBJECTS OF REHABILITATION, 1970–1980 The second phase started with two important non-binding declarations adopted by the General Assembly. In 1971 the Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons was adopted,7 followed in 1975 by the Declaration on the Rights of Disabled Persons.8 The 1971 Declaration had been drafted by an international NGO, the International League of the Societies for the Mentally Handicapped, some years earlier at their world congress in Jerusalem. 9 This short declaration consisted of only seven paragraphs and a preamble. While it appeared to be a rights-based document according to its title and preamble, which referenced the Universal Declaration and the International Covenants,10 it was actually a document that adhered firmly to the medical model of disability. Persons with cognitive impairments were guaranteed the same rights as other human beings, but only to the maximum degree of feasibility.«11 It saw impairment, therefore, as a potential barrier to holding and exercising rights. This is clear in the last paragraph of the Declaration. Its purpose was to guarantee due process of the law and other legal safeguards to persons with intellectual impairments, but in fact it failed to outlaw serious human rights infringements on the basis of impairment: 7. Whenever mentally retarded persons are unable, because of the severity of their handicap, to exercise all their rights in a meaningful way or it should become necessary to re-
6
http://www.afb.org/blog/afb-blog/helen-keller-at-the-united-nations/12.
Accessed
March 20 2015. 7
Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons, December 20 1971, Resolution A/RES/26/2856 (XXVI).
8
Declaration on the Rights of Disabled Persons , December 9 1975, Resolution A/RES/30/3447 (XXX).
9
Mittler (2003), p. 37; Herr (2003).
10 A/RES/26/2856 (XXVI), Preamble. 11 A/RES/26/2856 (XXVI), Para. 1.
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strict or deny some or all of these rights, the procedure used for this restriction or denial of rights must contain proper legal safeguards against every form of abuse. This procedure must be based on an evaluation of the social capabilities of the mentally retarded person by qualified experts and must be subject to periodic review and to the right of appeal to higher authorities.
In other words, the denial and restriction of human rights to persons with cognitive impairments was not seen as a human rights violation, as long as it was done with proper legal safeguards to prevent abuse. Guardianship is called for as a measure of legal protection in this document.12 Another feature of the medical model of disability can be seen in the fact that the Declaration does not proclaim the whole catalogue of human rights, but emphasises only economic and social rights, such as »economic security and a decent standard of living.«13 In contrast, civil and political rights are only referred to with respect to legal standards for restricting freedoms, such as prosecution and guardianship. The most operational part of the declaration calls for »proper medical care and physical therapy and…rehabilitation…as will enable [the person with intellectual impairment] to develop his ability and maximum potential.« For this reason, it is fair to qualify it as a soft law instrument according to which disabled persons are seen as subjects of rehabilitation. The 1975 Declaration on the Rights of Disabled Persons similarly demanded that persons with disabilities were to be granted all the human rights nondisabled persons enjoy. It stated that »Disabled persons have the inherent right to respect for their human dignity.«14 It further stipulated that »Disabled persons have the same civil and political rights as other human beings.«15 The Declaration also called for the right of disabled persons »to enjoy a decent life, as normal and as full as possible,«16 which is described as »the right to live with their families or with foster parents and to participate in all social, creative or recreational activities.«17 But these equality promises were subject to caveats. First, equality rights were limited for persons with intellectual impairments by referring to the Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons, and in particular its re-
12 A/RES/26/2856 (XXVI), Para. 5. 13 A/RES/26/2856 (XXVI), Para. 3. 14 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 3. 15 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 4. 16 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 3. 17 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 9.
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striction clause in paragraph 7.18 This restriction is referred to despite the proclamation that »Disabled persons, whatever the origin, nature and seriousness of their handicaps and disabilities, have the same fundamental rights as their fellow citizens of the same age.«19 Secondly, for some situations, institutionalisation of persons with disabilities was deemed as »indispensable«.20 For these cases the declaration pronounced a ›normalisation‹ principle: »The environment and living conditions therein shall be as close as possible to those of the normal life of a person of his or her age.«21 While the reference to the normalisation principle was clearly a step towards a human rights approach, the underlying philosophy of this declaration was still determined by the medical model of disability. Prevention of disability is referenced twice as a necessary measure,22 integration is demanded »as far as possible«,23 and disability is defined not as a result of environmental and individual factors. Instead, a disabled person is defined as »any person unable to ensure by himself or herself, wholly or partly, the necessities of a normal individual and/or social life, as a result of deficiency, either congenital or not, in his or her physical or mental capacities.«24 Despite these shortcomings the Declaration was one of the first documents of the United Nations that acknowledge the importance of consultations with organisations of disabled persons.25 The second phase ended in 1976 with the General Assembly proclaiming that 1981 would be the International Year of Disabled Persons, and calling for a Plan of Action that would emphasise »Full participation and Equal Opportunities.«26 Disabled persons in this second phase were increasingly seen as agents in their own affairs. But these affairs were mainly rehabilitation affairs, with the focus on fixing the impaired individual.
18 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 4: »Paragraph 7 of the Declaration of the Mentally Retarded Persons applies to any possible limitation ore suppression of those rights for mentally retarded persons.« 19 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 3. 20 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 9. 21 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 9. 22 A/RES/30/3447 (XXX), Preamble. 23 A/RES/30/3447 (XXX), Preamble. 24 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 1. 25 A/RES/30/3447 (XXX), Para. 12. 26 International Year for Disabled Persons, December 16 1976, Resolution A/RES/31/123.
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DISABLED PERSONS AS OBJECTS OF HUMAN RIGHTS, 1980–2000 The third phase spanned two decades from 1980 to 2000, and was kicked off by the International Year of Disabled Persons in 1981. While the International Year did bring attention to disability as a policy issue, at the UN, a year is not enough time to achieve very much. It was the beginning, however, of a much more active period. The main outcome of the International Year of Disabled Persons was the adoption of a detailed action plan: The World Programme of Action Concerning Disabled Persons27 remained the main UN strategy to enhance disability prevention, rehabilitation and equalisation of opportunities well into the new millennium.28 The Programme of Action is a lengthy document of more than 200 paragraphs. While still based on the traditional three tier approach to disability (definition, prevention, and rehabilitation of disability), it added a new dimension by calling for equalisation of opportunities. It contains a long list of recommendations for national actions in order to achieve equalisation of opportunities for disabled persons. These actions pertain to issues such as legislation, physical environment, income maintenance and social security, education, employment, recreation, culture, religion and sports.29 In addition, the Programme of Action has a small chapter on human rights, which calls upon United Nations organisations, governments and other stake holders to pay due attention to the human rights of disabled persons.30 In adopting the Programme of Action, the General Assembly clearly recognised that it was an ambitious document, and to ensure continued focus on its implementation, the General Assembly proclaimed at the same time the International Decade of Disabled Persons (1983–1992).31 During that Decade a number of other instruments dealing with disability emerged from the United Nations.
27 World Programme of Action Concerning Disabled Persons, December 3 1982, Resolution A/RES/37/52. 28 Keeping the promise: Realizing the Millennium Development Goals for persons with disabilities towards 2015 and beyond, Report of the Secretary General to the General Assembly, July 26 2010, A/65/173. 29 A/RES/37/52, para. 108–137. 30 A/RES/37/52, para. 162–169. 31 Implementation of the World Programme of Action Concerning Disabled Persons, December 3 1982, Resolution A/RES/37/53, para 11.
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First off the block was the adoption in 1983 of the International Labour Organization Convention 159 on the Vocational Rehabilitation and Employment of Disabled Persons. ILO Convention 159 was the first legally binding human rights treaty to mention persons with disabilities – all the previous documents were non-binding. It was also the first UN instrument to specifically mention women with disabilities, providing that »Equality of opportunity and treatment for disabled men and women workers shall be respected.«32 While the Convention is significant in that it introduced the principle of equality of opportunity in the workplace for persons with disabilities, its narrow scope meant its impact was limited. Its main purpose was to create an obligation on States Parties to implement vocational rehabilitation policies for persons with disabilities to promote their employment opportunities in the open labour market.33 But it did build on the 1975 Declaration’s recognition of the importance of consultation with organisations of persons with disabilities. Clearly forecasting the way forward, it included a legally binding obligation that in implementing vocational rehabilitation policies, »representative organisations of and for disabled persons shall also be consulted.«34 The United Nations Commission on Human Rights issued two important reports on disability related human rights issues during the International Decade. The first was a study by Erica-Irene A. Daes, a Special Rapporteur of the Sub-Commission on the Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, on the situation of persons with psycho-social impairments. This study was initiated more with a view to draw attention to political prisoners detained on grounds of mental illness (particularly behind the »iron curtain«), but it did also take a closer look at the situation of persons with disabilities in psychiatric institutions. The study proposed a set of »Principles, Guidelines and Guarantees for
32 Convention (No. 159) concerning vocational rehabilitation and employment (disabled persons), entered into force June 20 1985, UN Treaty Series, Volume 1401, 23439, Article 4. 33 Convention (No. 159) concerning vocational rehabilitation and employment (disabled persons), entered into force June 20 1985, UN Treaty Series, Volume 1401, 23439, Articles 2 and 3. 34 Convention (No. 159) concerning vocational rehabilitation and employment (disabled persons), entered into force June 20 1985, UN Treaty Series, Volume 1401, 23439, Article 5.
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the Protection of Persons Detained on Grounds of Mental–Ill Health or Suffering from Mental Disorder.«35 The report was one of the first to consider medical professionals as potential human rights violators, a groundbreaking normative gain. 36 However, the draft Principles left ample discretion to medical personnel on forced treatment and detention. For this reason, they soon attracted criticism from legal commentators and organisations of disabled persons.37 (This is the reason why the Principles are not referenced in the preamble of the Convention on the Rights of Persons with Disabilities). Nevertheless, the Daes report needs to be recognised as a first step of the Commission on Human Rights and its Sub-Commission to put disability on its agenda. The second study commissioned by the Sub-Commission was undertaken by Special Rapporteur Leandro Despouy between 1984 and 1991, and covered all persons with disabilities. His report, published in 1993, on »Human Rights and Disabled Persons«38 gave evidence of widespread human rights abuses against persons with disabilities all over the world. The report, which was tabled before the Commission on Human Rights and the General Assembly, has been instrumental in placing disability on the agenda of several human rights bodies of the United Nations. During the preparation of the study, two attempts were undertaken to adopt a human rights treaty for disabled persons. Following a 1987 Global Meeting of Experts to Review the Implementation of the World Programme of Action in Stockholm, Italy presented a draft outline for a text at the forty-second session of the General Assembly, and another endeavour was made by Sweden during the forty-fourth session of the General Assembly. 39 Both attempts failed to get off the ground. The Despouy report comments on this lost opportunity:
35 Principles, Guidelines and Guarantees for the Protection of Persons Detained on Grounds of Mental–Ill Health or Suffering from Mental Disorder, Report of the Special Rapporteur of the Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, 1986, E/CN.4/Sub.2/1983/17/Rev.1, Annex II. 36 E.g. Principle 11 (Consent to treatment) para 12 reads: »Sterilization shall never be carried out as a treatment for mental illness.” 37 Minkowitz, Lord (2009), p. 87. 38 UN publications, Sales No. E.92.XIV.4. 39 Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities, December 20 1993, Resolution A/RES/48/96, Annex, Para. 9. Interestingly, Italy was represented by Maria Saulle according to Nagase (1995), pp. 36–40.
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»It must be said that at the end of the period (since the adoption of the World Programme of Action) persons with disabilities are going to find themselves in a legal disadvantage in relation to other disadvantaged groups such as refugees, women, migrant workers, etc. The latter have the protection of a single body of binding norms. […] However there is no specific body in charge of monitoring respect for the human rights of disabled persons and acting, whether confidentially or publicly, when particular violations occur. It can be said that persons with disabilities are equally as protected as protected as others by general norms, international covenants, regional conventions, etc. But although this is true, it is also true that unlike the other vulnerable groups, they do not have an international control body to provide them with particular and specific protection.«40
The International Decade of Disabled Persons instead ended with the adoption of a non-binding instrument, the 1993 Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities.41 The Standard Rules consists of four sections with twenty-two rules. Section I deals with the preconditions of equal participation: awareness-raising (Rule 1), medical care (Rule 2), rehabilitation (Rule 3) and support services (Rule 4). Section II identifies target areas for equal participation, such as accessibility (Rule 5), education (Rule 6) or employment (Rule 7). Section III deals with implementation measures, focusing on actions like information and research (Rule 13), policy making and planning (Rule 12) or legislation (Rule 13). Section IV addresses issues of monitoring. The Standard Rules were drafted against the backdrop of the World Programme of Action, but the spirit and language was more based on a rights-based approach to disability, and included some terminology of the emerging international disability rights movement such »independence« or »personal assistant services.«42 Another important feature was its focus on non-discrimination and equality. While commentators criticised short comings with respect to civil and political rights, legislative demands,43 and its legal character,44 the Standard Rules remained the main human rights instrument for the next decade to come.
40 Despouy (1993), paras. 280, 281. 41 Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities, December 20 1993, Resolution A/RES/48/96. 42 A/RES/48/96, Rule 4; for a more detailed analysis in this regard Degener (1995), pp. 14/15. 43 Degener (1995), p. 15; Quinn, Degener (2002), p. 23. 44 Michailakis (1999), p. 122.
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They had a significant impact on the emergence of disability-based antidiscrimination legislation in many countries around the globe.45 One feature that distinguishes the Standard Rules from the Programme of Action is a group of provisions for its monitoring. The Rules were monitored until 2014 by a Special Rapporteur who was advised by a panel of experts. The first Special Rapporteur was Bengt Lindqvist, a blind former minister of Sweden and a member of the international disability movement. He served from 1992– 2002. He was followed by Sheikha Hessa Al-Thani of Qatar (2003–2005). As the third Special Rapporteur on Disability, Shuaib Chalklen (2009–2014) served as a prominent disability rights leader and wheelchair user from South Africa. The panel of experts consisted of representatives of six international organisations from the disability field.46 They advised the Special Rapporteur on his monitoring mandate. Thus, with the Standard Rules and its monitoring mechanisms, persons with disabilities became experts at the United Nations and agents of their own cause.
THE EMERGENCE OF THE DISABILITY RIGHTS MOVEMENT The creation of a UN panel of experts made up of disabled persons organisations was possible because of the emergence of disability rights movements internationally during the International Year and the International Decade. Persons with disabilities around the world, inspired by other social movements such as the civil rights movement and the women’s movement, became politicised and started to speak up for themselves. As a result, the traditional welfare and rehabilitation oriented organisations were criticised for being made up by a majority of delegates who were nondisabled »experts«, or parents of the disabled. Disabled Peoples’ International was founded in 1980 as an alternative to Rehabilitation International for this very reason.47 Yet, it took some time before these young organisations became professional players in the human rights machinery of the United Nations.
45 Degener, Quinn (2002); Soledad Cisternas Reyes (2011). 46 Disabled Peoples’ International, Rehabilitation International, the World Federation of the Deaf, the World Blind Union, and Inclusion International, cf. Michailakis (1999), fn. 4. 47 Driedger (1989); Groce (2002).
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While Disabled Peoples’ International and other organisations of (rather than for) disabled persons were involved in the drafting of the World Programme of Action and the Standard Rules,48 they were outnumbered by experts without life experience of disability. The first draft of the Programme of Action, for example, was produced by Rehabilitation International.49 While the medical model of disability had been replaced by the social model of disability, persons with disabilities were still objects, rather than subjects, of human rights. In addition to non-disabled experts taking the lead in policy and law making, persons with disabilities were still not mainstreamed in the United Nations human rights machinery. Discussion at the Commission on Human Rights was still limited, and for the most part persons with disabilities were segregated as a social policy question, apart from any rights based discussion. The Special Rapporteur, for example, reported to the Commission for Social Development in New York, and not to the Commission on Human Rights in Geneva. While in theory the two commissions had equal status, the Commission on Social Development was in reality a very poor relative. Its annual meeting each year was one and a half weeks, while the Commission on Human Rights met for six. Human Rights experts and NGOs from capitals all over the globe descended on Geneva each year for the Commission on Human Rights, where meetings were crowded and often standing room only. The Commission on Social Development, on the other hand, barely attracted attention in capitals, was attended mainly by junior delegates from New York Missions, and the numerous empty seats signified that many delegations simply didn’t bother to turn up. Likewise, Secretariat support to the Special Rapporteur came from the Department for Policy Coordination and Sustainable Development in New York, whereas all the human rights bodies and their associated resources, experts, and energy, were located in Geneva. During this third phase, however, the disability rights movement was gaining strength and experience in political advocacy, and by the dawn of the new millennium, disabled persons organisation had become articulate policy advocates, no longer prepared to allow others to speak on their behalf.
48 Driedger (1989). 49 Groce (2002), p. 75.
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DISABLED PERSONS AS AGENTS OF HUMAN RIGHTS IN THE NEW MILLENNIUM The fourth phase started with the new millennium, which marks the time when disabled persons and their organisations became agents of human rights on a broader scale. By now organisations ›of‹ persons with disabilities took the lead in political trend setting and organisations ›for‹ persons with disabilities were relegated to take a secondary role in international disability policy. After much internal debate some of these organisations for disabled persons also elected persons with disabilities as their presidents or representatives to international conferences.50 Others changed their names to indicate a new policy era. 51 The main characteristic of this phase is that international disability policy became a rights-based policy. By claiming access, equality, freedom, solidarity and participation as rights, disability advocates made normative claims against long felt disadvantages. This rights-based approach put disabled persons on the agenda as citizens with equal rights and as persons to be recognised before the law. It was associated with a new understanding of disability with respect to rights status. Impairment, according to this new notion of disability, cannot serve as the basis of denial or restriction of rights. To deny or restrict rights on the basis of impairment is a form of disability-based discrimination. It was a rather logical step that at the dawn of the new millennium disabled persons organisation realised that in order to be fully mainstreamed into the United Nations human rights machinery, a convention on human rights of disabled persons needed to be adopted. One of the major players in this regard was the International Disability Alliance, which was founded in 1999 by seven international disability organisations52 that had learned to work together on the Panel of Experts to the Special Rapporteur on Disability. During a World Summit on Disability taking place in March 2000 in Beijing, the Declaration on the Rights of People with Disabilities in the New Century was adopted, which called for a legally binding convention and urged disability organisations to strive for it. It stated:
50 E.g. Rehabilitation International, see Groce (2002), 66 et seq. 51 Inclusion International, for example, changed its name from the International League of Societies for Persons with Mental Handicap. 52 Disabled Peoples’ International, Rehabilitation International, the World Federation of the Deaf, the World Blind Union, Inclusion International, the World Federation of the Deafblind, and the European Disability Forum.
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»5. We share the conviction that the full inclusion of people with disabilities in society requires our solidarity in working towards an international convention that legally binds nations… 6. We believe that the inception of the new century is an opportune time for people with diverse disabilities and their organizations…members of the United Nations system…to collaborate closely in an inclusive and wide consultative process aimed at the development and adoption of an international convention… 7. We therefore urge all heads of state and government … to immediately initiate the process for an international convention … 9. We hereby send out a call to action … to ensure the adoption of an international convention on the rights of all people with disabilities. 10. We commit our respective organizations to strive for a legally binding international convention ….«53
Within in a year, disabled persons organisations had mobilised, and at the World Conference against Racism in Durban, in September 2001, they succeeded in lobbying for the inclusion of a call for a disability convention in the outcome document. The Programme of Action: »Invites the United Nations General Assembly to consider elaborating an integral and comprehensive international convention to protect and promote the rights and dignity of disabled people, including, especially, provisions that address the discriminatory practices and treatment affecting them.«54
At the same time some governments seemed to be ready for a third attempt to initiate a process for a disability focused human rights treaty. While an Irish effort to table a respective resolution to the Commission on Human Rights in early 2000 had failed,55 Mexico successfully introduced a resolution to the General Assembly calling for a discussion on the possibility of drafting an international convention. The Mexicans successfully pushed other delegations, ready or not, into adopting a resolution creating an Ad Hoc Committee of the General Assem-
53 Quinn, Degener (2002), p. 181 54 Report of the World Conference against Racism, Racial Discrimination, Xenophobia and Related Intolerance, December 8 2001, A/CONF.189/12, Programme of Action, para. 180. 55 Quinn (2009), p. 96.
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bly to »consider proposals for a comprehensive and integral convention to promote and protect the rights and dignity of persons with disabilities.« 56 Three months later a further milestone on the path to the Convention was published. In February 2002 the Office of High Commissioner for Human Rights published a study on the use and future potential of human rights instruments in the context of disability. 57 It was financed by the Irish government and carried out by disability rights scholars who had long been involved in the international disability rights movement. The study presented a comprehensive review of the then six core human rights conventions and their application with respect to persons with disabilities. Not surprisingly, it found that while persons with disabilities were not invisible anymore, the medical model of disability still prevailed in most countries. The study also made several practical recommendations to improve the visibility of disability within the United Nations and among states parties. It also provided arguments in favour of drafting a new human rights convention with relation to persons with disabilities. From that point, things moved very quickly. While disabled persons’ organisations were turning themselves into human rights organisations, the mainstream human rights community was also taking some first small steps to look at disability as a wider human rights issue, beyond the narrow scope of individual issues such detention on the grounds of mental health. The seeds for this were planted much earlier, including an important step at the 1993 Vienna Conference on Human Rights. That Conference recognised explicitly the universality, interdependence, interrelation and indivisibility of all human rights, a principle that eventually underpinned the comprehensive approach to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities. The Conference also included specific references to people with disabilities in the outcome document, the Vienna Declaration and Programme of Action. Disabled persons were specifically mentioned as a focus group, next to migrant workers, children and women. It read: »The World Conference on Human Rights reaffirms that all human rights and fundamental freedoms are universal and thus unreservedly include persons with disabilities. Every person is born equal and has the same rights to life and welfare, education and work, living independently and active participation in all aspects of society. Any direct discrimina-
56 Comprehensive and integral international convention to promote and protect the rights and dignity of persons with disabilities, December 19 2001, Resolution A/RES/56/ 168, para 1. 57 Quinn, Degener (2002).
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tion or other negative discriminatory treatment of a disabled person is therefore a violation of his or her rights. The World Conference on Human Rights calls on Governments, where necessary, to adopt or adjust legislation to assure access to these and other rights for disabled persons. The place of disabled persons is everywhere. Persons with disabilities should be guaranteed equal opportunity through the elimination of all socially determined barriers, be they physical, financial, social or psychological, which exclude or restrict full participation in society.«58
The Vienna Conference also greatly strengthened national and international human rights machinery. It created the Office of the High Commissioner for Human Rights, and was the catalyst for the creation of National Human Rights Institutions in many countries, and consequently more human rights dialogue at national levels. Together with the emergence of the internet, new opportunities for a global international human rights advocacy appeared, which eventually led to a »new diplomacy« in the international arena.59 Other important factors that enabled disabled persons organisation to take a lead and demand that disability become mainstreamed in the human rights regime were expert meetings that helped to create networks between human rights scholars and disability rights advocates. Two such seminars were organised by the United Nations in 1998 at the University of California, Berkeley, and in 1999 at the University of Hong Kong.60 Both meetings focused on international norms and standards related to disability, and resulted in elaborated recommendations for a new thematic convention and reforms within UN system organisations. Another important meeting in this regard took place outside the United Nations in April 2002. Mainstream human rights organisations met with disability rights activists in order to address the long-standing disregard of disabled persons’ rights in the mainstream human rights movement. According to a legal commentator, this meeting helped the disability community to get the support of the major human rights organisations, such as Amnesty International and Human Rights Watch.61 Those traditional human rights organisations, however, remained at arm’s length during the Convention negotiating process, and Amnesty International and Human Rights Watch only ever gave the Ad Hoc Committee cursory attention.
58 Vienna Declaration and Programme of Action, June 25 1993, A/CONF.157/23, para. 63–64. 59 Sabatello (2014). 60 Degener (1999). 61 Lord (2009), p. 90.
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These factors at the dawn of the new millennium empowered persons with disabilities to become subjects of human rights. But as negotiations to draft a Convention were about to begin, the old medical model of disability was proving persistent, and disabled persons organisations had their work cut out for them to change attitudes. In May 2001, for example, the World Health Assembly, the governing body of the World Health Organization, approved the International Classification of Functioning, Disability, and Health. 62 This document was intended as an international standard to describe and measure health and disability. While disabled peoples organisations were involved in its drafting, and the Classification focuses on all aspects of life and not just the medical diagnosis, it still very much approaches disability from a medical perspective. (Like the 1991 Principles for the Protection of Persons Detained on the Grounds of Mental Disorder, the WHO Classification was deliberately left out of the preamble of the CRPD.) The disability movement greeted the new Classification with skepticism, and focused on their goal of overcoming the medical model of disability by all means.
ASSERTING RIGHTS: DRAFTING THE CONVENTION ON THE RIGHTS OF PERSONS WITH DISABILITIES After years of lobbying for a convention by the disability community, the Ad Hoc Committee tasked with examining proposals for the Convention was scheduled to have its first meeting in July 2002. It was open to all Member States of the United Nations, and Ecuador’s Ambassador, Luis Gallegos, was elected Chair,63 with Vice Chairs from South Africa, the Philippines, Sweden, and the Czech Republic.64 Disabled persons’ organisations came to the United Nations from all over the world for the first meeting, ready to start drafting. But it was clear from day one
62 International Classification of Functioning, Disability and Health, May 22 2001, Resolution WHA54.21. 63 Report of the Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities, August 27 2002, A/57/357, para 5. 64 The Chair and Vice Chairs collectively formed the Bureau of the meeting, responsible for setting the agenda, organising the programme of work, and the general running of the Ad Hoc Committee. Later in the process Sweden resigned to allow New Zealand to assume the Chair, and the Philippines was replaced by Jordan.
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of the meeting that there was, as yet, no agreement on the need for a Convention. Articulating views typical of those with doubts, the European Union had submitted a paper noting that while the mandate of the Ad Hoc Committee mentioned a specific legal instrument, that did »not exclude the Committee from considering other options as well.«65 At the other end of the spectrum, Mexico was not only convinced of the need for a convention, it had submitted an entire draft convention as a working paper.66 Mexico continued to push strongly for the process of negotiating a text to begin as soon as possible, with statements of support being made by Chile, Norway, South Africa and Brazil.67 The delegates of Sierra Leone and Croatia also strongly supported a convention, noting its relevance to the significant number of their citizens disabled by recent conflicts in their countries.68 The United States, on the other hand, urged caution and questioned the wisdom of a new treaty as the most effective way to strengthen the rights of persons with disabilities. Canada was also cautious, noting that while a proposal for a convention had merit, greater and more targeted use could be made of the existing human rights treaties. Part of the hesitation displayed by some of the more cautious delegations arose from a suspicion that such a convention could end up focusing on social development. There was some irony to this, given how long disabled persons organisations had struggled to make disability a rights issue. Some delegates from developed countries privately expressed a fear that it would become a convention where the obligations were placed on donor countries, undermining the traditional obligations on governments to protect the rights of their own citizens. Feeding into that fear were statements of the sort contained in a working paper submitted to the meeting by China. The paper noted that because the majority of persons with disabilities lived in developing countries, the convention »should focus on the special situation and difficulties of persons with disabilities in developing countries and should reflect the just demands of…developing countries.«69 It went on to say that developed countries »should take concrete
65 Position paper by the European Union, July 31 2002, A/AC.265/WP.2 66 Working Paper by Mexico, July 15 2002, A/AC.265/WP.1 67 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 1 No. 1, July 29 2002, and Vol. 1 No. 2, July 30 2002. 68 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 1 No. 2, July 30 2002, and Vol. 1 No. 3, July 31 2002. 69 Position paper by the People’s Republic of China, August 1 2002, A/AC.265/WP.3.
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steps to provide the developing countries with support and financial assistance.« Similar statements were made by India and Indonesia. 70 If lack of agreement on the need for a convention was one characteristic of the meeting, lack of preparation was another. Less than a quarter of Member States addressed the general debate, and some of those did so only to express concerns that they had not yet received instructions from their capitals. Disabled persons’ organisations issued a bulletin expressing their »deep disappointment« at the lack of progress and their »frustration« at the lack of preparation. 71 Given the range of views at the meeting, the Committee was only able to agree on a limited number of outcomes. These included a recommendation that it meet again the following year, and a request to the Secretary General to improve accessibility of the United Nations headquarters. While architecture buffs admired the virginal state of the 1950s modernist design of the complex, the feature most noticed by persons with disabilities was that its accessibility standards also remained firmly stuck in the 1950s. The Ad Hoc Committee met again for its second session nearly a year later in June 2003. In the interim, those in favour of the convention had been busy, and many regional meetings had been held to consider proposals. Working Papers submitted to the second session included the Bangkok Recommendations,72 the Beirut Declaration and Recommendations,73 a compilation of proposals made by governments and disabled peoples’ organisations,74 and no less than four reports of the Secretary General.75 In addition, Venezuela had submitted its own proposed draft convention.76
70 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 1 No. 3, July 31 2002. 71 Disability Negotiations Bulletin Vol. 1 No. 3, August 1 2002. 72 Bangkok recommendations on the elaboration of a comprehensive and integral international convention to promote and protect the rights and dignity of persons with disabilities, June 4 2003, A/AC.265/CRP.10. 73 Beirut Declaration and Recommendations on the elaboration of a comprehensive and integral international convention to promote and protect the rights and dignity of persons with disabilities, May 29 2003, A/AC.265/CRP.12. 74 Compilation of proposals for a Comprehensive and Integral International Convention to Promote and Protect the Rights and Dignity of Persons with Disabilities, A/AC.265/CRP.13, Add.1 and 2. 75 Issues and emerging trends related to the advancement of persons with disabilities, April 7 2003, A/AC.265/2003/1; Overview of issues and trends related to the advancement of persons with disabilities, April 7 2003, A/AC.265/2003/2; Progress in the equalization of opportunities by, for and with persons with disabilities, April 7
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In the year that had passed, the tide of opinion had clearly turned in favour of a convention, and the debate now focused on what the scope of the convention should be, and which of the drafts before the Committee should be used to begin its work. Discussion centred around three possible models for a convention. The first was a comprehensive or holistic convention, which covered a broad range of human rights, including civil, political, economic, cultural and social rights. The Convention on the Rights of the Child was cited as a model to follow. An alternative approach was a narrower convention focused on non-discrimination, based on the model of the Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women. The third approach suggested was a hybrid of the two.77 The Venezuelan and Mexican drafts followed the first model, as did the Bangkok recommendations and the compilation of proposals from disabled persons’ organisations. Mexico noted in the debate that the mere affirmation of human rights and the elimination of discriminatory barriers »is not sufficient«, and that a »comprehensive« approach was most appropriate. 78 This position was echoed by the newly formed International Disability Caucus, 79 which rejected calls for a narrowly focused non-discrimination treaty. Kick starting a debate on process, the European Union submitted a draft resolution on the third day of the meeting. The draft would establish a group of 15 experts, serving in their personal capacities, to be given the task of drafting a text for presenting to the next session of the Ad Hoc Committee. 80
2003, A/AC.265/2003/3; Views submitted by Governments, intergovernmental organizations and United Nations bodies concerning a comprehensive and integral international convention on the protection and promotion of the rights and dignity of persons with disabilities, May 6 2003, A/AC.265/2003/4, Corr.1 and Add.1. 76 Letter dated 18 June 2003 from the Deputy Permanent Representative of Venezuela to the United Nations addressed to the Secretary of the Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of the
Rights
and
Dignity
of
Persons
with
Disabilities,
June
18
2003,
A/AC.265/2003/WP.1. 77 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 2 No. 1, June 16 2003. 78 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 2 No. 3, June 18 2003. 79 The International Disability Caucus was formed by disabled persons’ organisations specifically to coordinate positions for the drafting of the Convention. 80 Austria, Belgium, Cyprus, Czech Republic, Denmark, Finland, France, Germany, Greece, Hungary, Italy, Ireland, Luxembourg, Malta, Netherlands, Poland, Portugal,
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The reaction of other delegates to the European Union’s draft, however, was immediately negative. Mexico, with some pique, commented that it would be »strange« to need experts to draft a first text of a convention when Mexico had already tabled one.81 Disabled persons’ organisations were dismayed that the draft text would be prepared by a group of experts, without their explicit involvement. They saw it as a »stalling tactic to thwart the process«.82 Sensing the mood of the room, New Zealand proposed instead that a small working group of states and disabled persons’ organisations could prepare a first draft. In including disabled persons’ organisations at the table on the same basis as member states, the New Zealand proposal was unprecedented at the United Nations. Given the demands from disabled persons’ organisations that there be »nothing about us without us,«83 New Zealand made it clear that the participation of disabled persons’ organisations was a prerequisite for beginning negotiations. Securing participation of non-governmental organisations in General Assembly negotiations, however, is notoriously difficult, where they are traditionally observers, not participants. A few states, such as Iran and Nepal, raised concerns about creating such a precedent. 84 But, remarkably, aside from a few such comments, the issue of participation by non-government organisations in the working group was not whether they should be at the table, but how many seats they should have. The number of seats allocated to disabled persons’ organisations grew from the original proposal of seven, to ten, and then to twelve, in order to ensure a fair geographic balance of disabled persons organisations from around the world. Eventually, and with only minutes to spare before the end of the meeting, the Committee agreed to create a Working Group to meet »...with the aim of preparing and presenting a draft text which would be the basis for negotiation by Member States and Observers at the Ad Hoc Committee of the draft convention, taking into account all contributions…«85
United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland, Slovenia, Slovakia, Spain, Sweden: draft resolution, June 19 2003, A/AC.265/2003/L.3. 81 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 2 No. 3, June 13 2003. 82 Disability Negotiations Bulletin Vol. 2 No. 6, June 23 2003. 83 Disability Negotiations Bulletin Vol. 2 No. 6, June 23 2003. 84 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 2 No. 8, June 25 2003. 85 Report of the Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities, July 3 2003, A/58/118, para 15.
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The Working Group: Drafting Begins When the Working Group met early in January 2004, under the leadership of the New Zealand Ambassador Don MacKay, there was an air of excitement and anticipation in the room. Member States and disabled persons’ organisations were finally sitting down, after years of lobbying, to begin drafting a Convention. For the first time disabled persons organisations were sitting at the same table as governments to negotiate a legally binding text. Disabled persons’ organisation were clearly no longer just subjects of human rights, but were actors in shaping those rights. The task in front of the delegates, however, was daunting. The Working Group had only been allocated ten working days to develop the draft. In addition, the amount of documentation had ballooned since the second session of the Ad Hoc Committee. As well as the Mexican and Venezuelan drafts, the Working Group now had in front of it draft conventions from China, the European Union, and India, as well a draft submitted by the Chair of the Committee and a draft submitted by a regional meeting of national human rights institutions in Bangkok. Additional position papers had also been submitted by Australia, Costa Rica, Japan, New Zealand and the United States, as well as by a wide range of disabled persons’ organisations such as Disabled Peoples’ International, the International Disability Alliance, the World Blind Union and the World Network of Users and Survivors of Psychiatry. 86 The scale of the task was evident from the first day of the discussions, when it became clear that there were two different languages being spoken - that of the human rights lawyers sent by governments, and that of the disabilities movement. Many of the first interventions of disabled persons’ organisations, for example, asked for the right to self-determination to be included in the Convention. For the disability movement the right to self-determination was a term that was used frequently to encapsulate many of their demands. It was a catch-all term that included ideas such as autonomy for persons with disabilities, a right to make their own decisions, and the right to be included. For international lawyers, however, the right of self-determination was a term that meant something else entirely. They understood it to be a group right that was traditionally applied to
86 These contributions were not issued as official UN documents, but were listed in paragraph 7 of the report of the Working Group (A/AC.265/2004/WG.1), issued in an informal compilation at the meeting in hard copy and CD Rom, and made available on the UN Enable website, http://www.un.org/esa/socdev/enable/rights/comp-element0 .htm, accessed April 30 2015.
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colonies and territories under foreign occupation. Proposals elsewhere to expand it other groups, such as indigenous peoples, were hotly disputed. The suggestion that it be included in the disabilities convention made government lawyers shift uncomfortably in their seats. The language of international human rights law, on the other hand, caused its own problems for disabled delegates. The original draft of the article on equality and non-discrimination included a paragraph on »special measures«. This was a concept that has a long history in international human rights law, and which had been borrowed from the Convention on the Elimination of Racial Discrimination and the Convention on the Elimination of all forms of Discrimination against Women. The word »spezial« in the disability community, however, had attracted derogatory overtones due to its misuse over the years, and disabled persons organisations rejected a proposal to use it in their own convention. The first few days of the meeting, therefore, saw much confusion over the difference in language. There was debate about how to, and whether to, translate terms and concepts used by the disability community into the language of international human rights law, or whether to us them as they were understood by the disability movement. Negotiations proceeded, despite the initial misunderstandings, at a fast pace. Each draft article was drawn up by informal drafting groups working late into the evenings at the New Zealand Mission, with the assistance of anyone who wished to attend. The results of the discussions were issued the next morning for discussion by the Working Group. By the time the overall text was being pulled into shape towards the end of the meeting, the major issues that would come to dominate the negotiations in the Ad Hoc Committee over the next three years had become apparent. These were the questions of the legal capacity of persons with disabilities, institutionalisation and forced interventions, a raft of social, religious and cultural values, a debate over inclusion versus segregation, and the treatment of women and children with disabilities. These are all discussed in more detail in the next section. The Working Group was able to complete a text in two weeks because it did not need to solve any of these difficult issues. It focused on getting the text that had the widest possible support, and by reflecting any major disagreements in footnotes to the text. The draft convention that it forwarded to the Ad Hoc Committee was one that had significant support and buy-in from governments as well as disabled peoples’ organisations. The Working Group draft was seen as a strong and robust text that would give negotiations in the Ad Hoc Committee the strongest possible start. There was some hope that a lot of pro-
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gress could be made by the end of that year and the convention would soon become a reality. The First Reading of the Draft: Momentum Stalls That optimism, however, soon evaporated when the Ad Hoc Committee met for a third time four months later for the first read through of the Working Group draft. Rather than focus on the key issues that had been identified by the Working Group in its extensive annotations, delegations proposed amendments to every part of the text. Secretariat officials were barely able to keep up with the suggestions as they flooded in. Additions were marked with round brackets, and deletions with square brackets, resulting in a Gordian Knot of proposed amendments. By the end of the meeting, the 25 page Working Group draft had ballooned to a 66 page document that was so heavily bracketed it was, in places, virtually unreadable. Many delegations expressed concerns privately that the Working Group’s efforts had been undone because text had essentially been turned back into a compilation of all views, without any attempt to identify levels of support, common themes, points of consensus, or to weave similar and duplicative proposals together. These frustrations led to a behind the scenes tussle over how the Committee should respond to the proposed amendments. Mexico thought informal negotiations should begin right away to prepare revised draft articles, and sought to lead this work by holding invitation-only meetings in the evenings, starting with articles one and two. In response, the Chair of the Ad Hoc Committee asserted his control by issuing his own revised »clean« drafts for articles one and two. This rendered the Mexican meetings irrelevant, but it was not a popular move. Delegations were unsure who had done the drafting of the Chair’s drafts, and the bureau asked him not to issue any more. With both attempts to hurry the process along stymied, it was not clear how the Committee was to proceed. Even worse, the participation of disabled persons’ organisations was in doubt. The Chair proposed to use a spare day at the end of the meeting to begin informal negotiations on a second reading. He announced that the informal negotiations would be private meetings for states only, consistent with the practice of the General Assembly. His ruling was immediately challenged by Yemen, the European Union, Israel and Thailand. New Zealand and Canada announced that they would refuse to participate any further if disabled persons’ organisations were shut out.
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The meeting concluded in confusion, with its working methods in disarray, and the text of the draft Convention in a shambles. The Second Reading: The Ad Hoc Committee Gets Down to Business Between the May and August meetings of the Ad Hoc Committee that year there were constant negotiations by New York based diplomats, who spent much of the summer discussing how to pull the process back on track. The Working Group had been successful because it had adopted unprecedented working methods allowing for the full participation of disabled persons’ organisations who were, after all, key to the discussions. The eventual compromise was to return, as much as possible, to the Working Group model, where everything happened in the main room in public meetings. To ensure consistency with the Working Group methods, delegates requested that the second reading negotiations be coordinated by Ambassador MacKay of New Zealand. The second reading proceeded relatively smoothly; slowly and cautiously at first during the fourth session, but with increasing pace at the fifth and sixth sessions as the positive atmosphere returned. Ironically, any suggestion that negotiations relocate to private meetings in small rooms became impossible because the number of delegates from governments and disabled persons organisations continued to grow from one session to the next. There was no chance of the Ad Hoc Committee fitting in any room except Conference Room Four – the largest meeting room at UN headquarters besides the General Assembly Hall itself. The five core themes of the debate that had emerged during the Working Group were legal capacity, forced intervention and institutionalization, social, religious and cultural values, inclusion versus segregation and women and children with disabilities. They were a focus of much of the discussion during the second reading.87 The second read through of the text concluded at the end of the sixth meeting in August 2005. It produced a set of reports that contained updated text and extremely detailed written commentaries that form what is perhaps the most meticulous set of travaux preparatoire of any human rights treaty. The reports began to sift common ground from the debate into new text, mostly free of brackets. Proposals were captured that had gathered a good deal of support, while those that did not were quietly dropped.
87 For detailed description see: Degener, Begg (2017), pp. 32–34.
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Midway through the second reading, at the conclusion of the fifth meeting, Ambassador Gallegos concluded his posting as Ecuador’s Ambassador to the United Nations, regretfully announcing that he would step down as Chair. 88 To ensure continuity in the discussions, Ambassador MacKay stepped into the position, and continued through to the end of the negotiations. The Third Reading: The Chair Issues a Clean Text Debate had gone about as far as it could, and the results of the second reading needed to be sifted into a clean text to serve as the basis for the next reading. Ambassador MacKay, therefore, produced a »Chair’s text«, using much of the language that had already been generally agreed during the second reading. The Chair’s approach was to identify the common ground and, in some places, to suggest possible ways of bridging the differences. The Chair also restructured the convention into a new order,89 based on the order used in other human rights treaties, and weeded out inconsistent use of language and a certain amount of duplication that had survived the second reading. The text was also accompanied by a letter from the Chair providing a detailed commentary on the draft. It encouraged delegates to come to the seventh session prepared to be flexible.90 The Ad Hoc Committee enthusiastically began to review the Chair’s text in January 2006 at its seventh meeting, and it made good progress in narrowing down differences on the remaining issues. The most difficult questions, however, were left for its last meeting. The Ad Hoc Committee met for its eighth meeting in August 2006. The message that the eighth session was to be the last was clearly taken seriously, but with an unwelcome result. Sensing it was their last chance to secure national positions, many delegations ignored the exhortations of the Chair and made a flurry of proposals during the first week. They proposed over 150 amendments to text that had otherwise been agreed to, including to virtually every substantive article of the convention. Many were last ditch attempts to revive proposals that had been rejected at previous meetings. Others were clearly intended as negotiating capital to create leverage for issues that remained in square brackets. The slew of new proposals derailed the Chair’s intention that the meeting focus chiefly on those few issues that remained in square brackets, and cast in
88 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 6, No. 10, February 4 2005. 89 Letter dated 7 October 2005 from the Chairman to all members of the Committee, October 14 2005, A/AC.265/2006/1, annex II. 90 A/AC.265/2006/1, paras 6 and 7.
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doubt the possibility of concluding the negotiations. At the close of the first week, the Chair declared the meeting to be in a crisis and called on delegations to exercise restraint in insisting on their proposals. A somber mood settled over the room. Further proposals, meanwhile, continued to be emailed to the secretariat over the weekend. The following week the Chair announced that if delegations really wanted to conclude the negotiations, unusual working methods would need to be adopted. He suggested that any delegation could object to a proposed amendment, and if it did, the amendment would be dropped unless the delegation who had proposed it could strike a deal with those who had objected. These were certainly unorthodox working methods for the United Nations, but they reflected the strong desire to finish the Convention quickly. The Committee read through the compilation of proposals at a fast clip, and delegations settled into a pattern of deal-making and trade-offs. Proposals that had not received support were steadily withdrawn and the Committee was able to re-focus its attention on the serious disagreements that remained. The bureau members from South Africa, Jordan, Costa Rica and the Czech Republic, along with the New Zealand and Mexican delegations, put aside their own positions and fanned out across the room brokering deals and suggesting compromises where ever they could. The difficult issues that had persisted throughout the negotiations were predictably the last to be solved. Legal capacity On the question of »legal capacity« versus »capacity to act«, the Chair had included both phrases in his text in square brackets. He noted in his covering letter, however, that »legal capacity« was the term used in other conventions, and suggested that the Committee should therefore stick to that. 91 But China had other ideas, and not only did the Chinese delegation insist on retaining the phrase »capacity to act«, it insisted on re-inserting the footnote it had asked be attached to the report of the fifth meeting.92 The Chair had also included in his text the disputed paragraph providing for personal representation but, again, in square brackets. In his covering letter he pointed out that paragraph (a) of the article »clearly envisages a wide spectrum of ›assistance‹ depending on the circumstances of each case«.93 Personal repre-
91 A/AC.265/2006/1, para 53. 92 A/AC.265/2006/2, Article 12(2) 93 A/AC.265/2006/1, para 54
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sentation was clearly one end of the spectrum, so did not need to be spelled out. The Chair suggested, therefore, that it be deleted. The compromise had begun to emerge at the previous meeting. The New Zealand delegation proposed an alternative paragraph that retained the safeguards that had accompanied the provision for personal representation - but without mentioning personal representation. The proposal would neither explicitly provide for substitute decision making, nor explicitly outlaw it. 94 At the final meeting consensus was forming around the New Zealand proposal, but China remained unmoved, continuing to demand the inclusion of the footnote from the previous report in the final text. On the very last day of the meeting it became clear no further progress would be made on other outstanding issues unless an agreement was found on legal capacity – and the only way to secure China’s agreement was to include the footnote along with the compromise text. The language was, therefore, gavelled through with the footnote included. During the rush to conclude the issue several delegations were clearly caught by surprise. After the convention had been adopted the European Union, Canada and Australia objected to the footnote, and announced that they would seek to reopen the issue when the convention would be put before the General Assembly for final adoption. Forced intervention and institutionalisation On the question of the integrity of the person, the Chair’s text had retained the paragraph that provided for safeguards for involuntary interventions but, again, in square brackets. Despite strenuous efforts to find a compromise, views had remained firmly polarized between those who wished to delete, and those who wished to retain the offending paragraph. The International Disability Caucus continued to maintain that there should never be any exception for forced interventions, so there should be no need for safeguards.95 At the final meeting, the Committee was close to agreeing to a compromise proposal similar to the compromise on legal capacity – to retain mention of safeguards, but without specifically mentioning forced intervention. But time ran out before all delegations could be convinced. An alternative text, containing only a short one sentence principle on the right to physical and mental integrity was put
94 Report of the Ad Hoc Committee on a Comprehensive and Integral International Convention on the Protection and Promotion of the Rights and Dignity of Persons with Disabilities on its seventh session, February 13 2006, A/AC.265/2006/2, Article 12 95 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 8 No. 4, January 19 2006
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forward by the International Disability Caucus. Consensus quickly coalesced around it given the lack of time remaining to consider anything more complicated, and the rest of the article was discarded. Social, religious and cultural values On the issues to do with sexuality, the Chair’s text had attempted to capture the middle ground by including a new phrase, »in accordance with national laws, customs and traditions of general application«. 96 This proposal did not prove a success, satisfying neither side of the debate.97 At the seventh meeting the Committee took the concept, inverted it, and inserted it into the opening paragraph, creating an obligation on States Parties to »ensure that national laws, customs and traditions relating to family and personal relationships do not discriminate on the basis of disability«.98 Discussions on the gender language, sexuality, sexual and reproductive health, as well as unresolved language on the family, had clearly become an overall stumbling block in the negotiations affecting a large number of articles. In a fitting re-enactment of the Working Group process, the New Zealand Mission was opened up to interested delegates on the final evening of the meeting. In talks that went until 4am, a compromise package covering all of those issues was hammered out. The package included strengthened references to the family in the preamble to the convention, retention of some of the references to »gender«, and the inclusion of sexual and reproductive health. The references to sexuality and sexual relationships became, simply, »relationships«. Inclusion versus segregation The Chair had used in his text for the article on education a restructured version that had been developed in discussions during previous meetings led by the Australian delegation. While general agreement was getting closer at the seventh meeting, the article still retained the controversial statement that alternative
96 A/AC.265/2006/1, para 86. 97 Disability Negotiations Daily Summary, Vol. 8 No. 6, January 23 2006, and Vol. 8 No. 7, January 24 2006. 98 A/AC.265/2006/2, Annex II, Article 23(1).
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measures should be provided in »exceptional circumstances« where the general education system could not meet the needs of persons with disabilities. 99 At the final meeting Australia tirelessly worked the room searching for compromise language, and believed several times to have found it, only to have the agreements fall through shortly before they could be adopted. The final compromise, however, is a strong one. It neither expressly permits nor excludes separate education. But it does commit States Parties to ensure an inclusive education system, and at the same to facilitate the learning of Braille and sign language, and to promote the linguistic identity of the deaf community. The compromise on the right to work was somewhat easier to reach. Delegations agreed that the article should continue to focus on the protection of labour rights of persons with disabilities in general. The article was, however, tweaked, so that it applied to »all forms of employment«. The compromise meant that while sheltered workshops were neither specifically permitted nor prohibited, the protections of the article would cover them and, if they continued to exist, they would need to meet the same employment conditions as the open market. Women and children with disabilities The Chair had included in his text both an article on women and an article on children, but given the disagreement that was still evident during the second reading he left both articles blank. In his covering note he issued a gentle rebuke to the Committee. Noting in both respects that the issue was »mainly with respect to placement rather than substance«, he urged delegations to come to the meeting with flexible instructions because the Committee »cannot afford to be held up by such differences of approach«.100 The German and Kenyan delegations had been given the responsibility of working out a compromise solution. Much lobbying and cajoling of delegations in the margins of the meeting produced an agreement that short separate articles on each issue would be included in the general section of the convention. They would briefly cover general principles for the purposes of awareness raising, and would be reinforced by specific references in the body of substantive articles where relevant.
99
A/AC.265/2006/1, Annex I, Article 24(2)(d).
100 A/AC.265/2006/1, paras 41 and 44.
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Monitoring The final meeting was the first to discuss actual text on monitoring provisions for the convention. The Mexican delegation had hosted intercessional meetings during the summer, and three broad positions emerged. The first was to have no monitoring mechanism (and some delegations suggested the treaty bodies of the existing human rights treaties could monitor the disabilities convention). The second was to have a traditional monitoring mechanism based on the committee system developed by the other core human rights treaties. The third option was to create an innovative new monitoring body. 101 There was limited support for the first and third options, and only the second looked capable of forming the basis of consensus. It became apparent at the final meeting that the most likely compromise was to duplicate what had been adopted in the past. The Committee eventually agreed to a monitoring body that looks more or less like the committees tasked with monitoring the other core human rights treaties. The biggest stumbling block in getting there was over the question of whether to include a right of individual petition to the committee – a feature of several of the other core human rights treaties. Many delegations were not convinced, however, as to the justiciability of economic, social and cultural rights. Those in favour were adamant, however, arguing that the disabilities convention should have no lesser rights of appeal than other core human rights treaties, glossing over the fact that an appeal mechanism would actually be a ground breaking innovation for economic, social and cultural rights. (One has subsequently been adopted for the Covenant on Economic, Social and Cultural Rights, but at that point it was still under negotiation.) The solution, proposed by Liechtenstein, appeared in the last days of the meeting, and was to separate out the appeal mechanism into a separate optional protocol. Once it was apparent that an optional protocol was the only way out, the compromise was agreed to in record time. The Liechtenstein delegation drafted the protocol overnight, and it was agreed to in the space of two hours the following morning – perhaps the fasted negotiated human rights instrument of all time.
101 Informal compilation of proposals on monitoring, prepared by the Mexican Mission, 18 May 2006.
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The last day Negotiations went right to the wire. When the Friday afternoon session began on the last day of the meeting, many of the difficult issues had not yet been agreed. The Chair gavelled the meeting open with several issues unresolved, with negotiations still proceeding frantically at the back of the room and in the corridors. The compromises on legal capacity, integrity of the person, and education were all forged in those last hours. Following the adoption of the last article, the Chair put the text as a whole to the room, and gavelled it through to a standing ovation. Speaking following the adoption, the President of the General Assembly said that he had sensed that he was about to enter »a room where history was going to be made«. He pointed out that »You are sending a message, a message that we want to have a life in dignity for all, and that all human beings are equal.« Noting that the quality of a society is measured by how it treats its most vulnerable citizens, he congratulated the delegates for their years of work. »You have done it!« he said, »You should celebrate!«102 Adoption by the General Assembly The Convention was not, however, out of the woods yet. There was a technical step still to be completed. UN treaties are usually referred to a ›drafting committee‹ following their adoption, which ensures that the treaty is internally consistent, uses terminology consistently, and the various language versions have harmonized translations. The drafting committee was chaired by Liechtenstein, and was to report back to a resumed meeting of the eighth session of the Ad Hoc Committee for final adoption and referral to the General Assembly. This technical step would not normally feature in a negotiating history, since it is entirely editorial in nature. But in this case, it gave delegations the opportunity to continue to contest the presence of the footnote on legal capacity. The International Disability Caucus wasted no time in mounting a lobbying campaign to have the footnote removed. The Caucus wrote to all delegates pointing out the harm the footnote did to the integrity of the text – for both substantive and linguistic reasons, and urged them to press for the removal of the footnote. 103
102 Disabilities and Rights, UNTV, August 25 2006, UN Audiovisual Library, http://www.unmultimedia.org/avlibrary/asset/U060/U060825c/, accessed 30 April 2005. 103 Removing Article 12 Footnote, Letter from the International Disability caucus to Government delegates to the Ad Hoc Committee, September 5 2006.
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Negotiations continued to that end in the succeeding months in the margins of the drafting committee. The arguments put forward by the International Disability Caucus proved to be persuasive. Given that all language versions of UN treaties are equally authentic, and all states parties are equally bound by each language version, a footnote purporting to guide the interpretation of three of the six UN languages would not have any real effect. The face saving way out was to use the Arabic, Russian and Chinese translations of »legal capacity« that already existed in the Convention on the Elimination of Discrimination against Women (since it was language already accepted in that treaty), and to delete the footnote. Syria, Russia and China all agreed to the compromise. With the last disagreement finally tidied away, the Ad Hoc Committee met for the last time in December 2006 to adopt the final text. Speaking before the adoption, Louise Arbour, the UN High Commissioner for Human Rights, paid tribute to the Committee. She said that »I believe that this Committee has been one of the most successful collaborations between states, civil society organisations, national human rights institutions and inter-governmental organisations in any UN forum.« The convention was then adopted by the Ad Hoc Committee and sent to the General Assembly, where it was adopted a week later on 13 December 2006, as the first comprehensive UN human rights treaty of the new millennium. The success of the Committee in forging a strong consensus document can be seen in that fact that when it opened for signature a few months later on 30 March 2007, it was signed by 81 states on the first day – a record for any UN treaty.
CONCLUSION Years of lobbying by the disability movement for a convention, and then their participation in its development, saw disabled persons’ organisations transform themselves into human rights groups. During the negotiations of the Convention, persons with disabilities were active at all levels: as representatives of NGOs (of which more than 400 were accredited to the Ad Hoc Committee); as members of government delegations; as representatives of United Nations organisations, and as delegates of National Human Rights Institutions.104 Never before in the history of the United Nations have so many persons with disabilities been active and influential in international law making. The time was finally ripe for persons with disabilities to become true subjects of human rights.
104 Sabatello (2014); Quinn (2009); Trömel (2009); Lord (2009).
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The result is a Convention that differs considerably from earlier disability instruments. Unlike the declarations of the 1970s, the Convention contains no caveats relating to the possibility of enjoying human rights under impairment conditions. To the contrary, the Committee on the Rights of Persons with Disabilities made a point of making Article 12 the subject of its first General Comment, noting that every person with a disability must be regarded as legally capable and that Article 12 outlaws substitute decision making regimes. 105 All those who participated in the process contributed to one of the richest, least politicised and most inclusive human rights debates at the United Nations for some years. The Ad Hoc Committee, spurred on by the demands of the disability community, managed to set aside the usual working methods of the General Assembly, and created a new model of openness, participation and transparency. Despite all of the differences of opinion on the details, there was a unity of purpose in the Committee and a clear dedication to recognizing the rights of persons with disabilities. The international disability community had convinced national governments across the spectrum of the United Nations to take their demands seriously, and to negotiate with them as rights-holding individuals. The commitment of the International Disability Caucus and the quality of its arguments, as well as the many talented advocates for disability rights on government delegations, was an essential part of the process. Their candid and informative contributions consistently served to reaffirm the need for the Convention, to educate governments, and to underscore why the task was so crucial. It also meant that the convention is closely informed and influenced by the experiences of persons with disabilities worldwide. As they had said from the beginning: »Nothing about us without us«.
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105 General comment No. 1, Article 12: Equal recognition before the law, May 19 2014, CRPD/C/GC/1.
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Behindertenpolitik (in) der Europäischen Union Geschichte und aktueller Stand Anne Waldschmidt
VORBEMERKUNG Spätestens mit der Verabschiedung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, kurz: BRK)1 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2006 lässt sich von einer Internationalisierung der Behindertenpolitik sprechen. Bei der Fokussierung auf die BRK gerät jedoch außer Acht, dass es längst zusätzliche Institutionen und Akteure gibt, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts die Behindertenpolitik maßgeblich beeinflussen und gestalten. Mit einer anderen politischen Ebene, nämlich der europäischen, wird sich dieser Beitrag beschäftigen. Auch die Europäische Union (EU) ist ein Zusammenschluss von Staaten; sie unterscheidet sich jedoch durch ihre regionale Orientierung und supranationalen Machtbefugnisse von den Vereinten Nationen. Um die Eigenheiten der EU zu konturieren und sie außerdem von weiteren europäischen Zusammenschlüssen abzugrenzen, wird der erste Abschnitt kurz drei Organisationen, den Europarat, die ›Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung‹ sowie die ›Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‹ vergleichend betrachten. Im Anschluss verengt sich der Blick und es werden die Geschichte der europäischen Integration und das politische System der EU skizziert. Anschließend wird die Entwicklungsge1
Vgl. etwa Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn 2015.
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schichte der Behindertenpolitik der EU ab Ende der 1950er Jahre bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts erläutert. Im weiteren Teil des Beitrags wird der aktuelle Stand der europäischen Behindertenpolitik behandelt. Die Darstellung konzentriert sich erstens auf die für Menschen mit Behinderungen relevanten Bestimmungen in den Grundlagenverträgen der EU, zweitens auf die behindertenpolitischen Maßnahmen und drittens auf die kollektiven Akteure in der europäischen Behindertenpolitik. Die Schlussbemerkung bietet eine Zusammenfassung und benennt Themenstellungen für künftige Forschung.
WAS IST DIE EUROPÄISCHE UNION (NICHT)? In dem geographisch-kulturellen Raum namens Europa, dessen Grenzen sich vor allem gen Osten nicht eindeutig bestimmen lassen, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Organisationen gegründet, die mit unterschiedlichem Fokus das Anliegen der internationalen Zusammenarbeit verfolgen und jeweils auch Behindertenpolitik betreiben.2 Anhand eines Vergleichs mit drei Zusammenschlüssen kann herausgearbeitet werden, um welche spezifische Institution es sich bei der EU handelt. Erstens gibt es die 1961 gegründete ›Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung‹ (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD). Ihre derzeit 35 Mitglieder3 kommen aus allen Regionen der Welt, zählen zu den entwickelten Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen und fühlen sich der Demokratie und der Marktwirtschaft verpflichtet. Entsprechend zielen die Aktivitäten der OECD vornehmlich auf die Förderung des Wirtschaftswachstums; in den vergangenen Jahren haben zusätzlich Bildungs- und Sozialpolitik an Gewicht gewonnen. Behindertenpolitische Bedeutung hat die OECD wegen ihrer beschäftigungspolitischen Initiativen, der Analysen zur sozialen Ungleichheit und ihres Engagements für die inklusive Bildung. Neben der OECD existiert zweitens die ›Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‹ (OSZE). Sie entstand 1975 mit der Schlussakte von Helsinki aus der vormaligen ›Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa‹ (KSZE) und wurde 1995 umbenannt. Unter den derzeit 57 Teilnehmerstaaten sind fast al-
2
Vgl. für weitere Details Anne Waldschmidt: Europäische und Internationale Behindertenpolitik, in: Markus Dederich/Iris Beck/Georg Antor/Ulrich Bleidick (Hg.), Handlexikon der Behindertenpädagogik. Schlüsselbegriffe aus Theorie und Praxis, Stuttgart, Weimar 2016 (3., überarb. u. erw. Auflage), S. 440-445.
3
Deutschland, Österreich und die Schweiz sind Gründungsmitglieder der OECD.
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le Länder Europas sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die USA und Kanada. Als eine verstetigte Staatenkonferenz zur Friedenssicherung unterhält die OSZE das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (Office for Democratic Institutions and Human Rights, ODIHR), das sich gegen Diskriminierung einsetzt; in diesem Zusammenhang sind auch die Belange behinderter Menschen ein Thema. Diese beiden Organisationen können als ›einfache‹ Zusammenschlüsse intergouvernementaler Kooperation bezeichnet werden und gehören nicht zur EU. Ein drittes Bündnis, dessen Mitgliedschaft sich im Unterschied zu OECD und OSZE auf europäische Länder beschränkt und das außerdem komplexer strukturiert ist, ist der Europarat.4 Er wird besonders häufig mit dem Europäischen Rat, einer EU-Institution, aufgrund der ähnlichen Bezeichnung verwechselt. Bei dem Europarat handelt es sich jedoch um ein eigenständiges Staatenbündnis, das 1949 gegründet wurde und heute 47 Staaten umfasst.5 Der Europarat will seine Ziele primär durch die freiwillige Zusammenarbeit von Nationalstaaten und den Erfahrungsaustausch erreichen. Daneben initiiert, regelt und überwacht der Europarat zwischenstaatliche, völkerrechtlich verbindliche Abkommen, die so genannten Europarats-Konventionen. Wichtige Organe des Staatenbündnisses sind das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung, der Kongress der Gemeinden und Regionen sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (European Court of Human Rights, ECHR). Die Europäische Konvention6 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 stellt den wichtigsten multilateralen Vertrag im Rahmen des Europarates dar; sie ist Grundlage der Rechtsprechung des ECHR. Dieser Gerichtshof befasst sich immer wieder mit Anliegen behinderter Menschen; dabei geht es insbesondere um die zwangsweise Unterbringung in der Psychiatrie sowie um die Sterbehilfe. Ande-
4
Vgl. zum Europarat Sabine Rohmann: Soziale Inklusion in Europa: Europarat, in: Ingeborg Hedderich/Gottfried Biewer/Judith Hollenweger/Reinhard Markowetz (Hg.), Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik, Bad Heilbrunn 2016, S. 626-630; Andreas Sturm/Anne Waldschmidt/Anemari Karačić/Timo Dins: Exercising Influence at the European Level: Political Opportunity Structures of Disability Rights Advocacy and the Impact of the UN CRPD, in: Rune Halvorsen/Bjørn Hvinden/Jerome Bickenbach/Delia Ferri/Ana Marta Guillén Rodriguez (Hg.), The Changing Disability Policy System: Active Citizenship and Disability in Europe Volume 1, Abingdon, London, New York 2017, S. 159-176.
5
Die Bundesrepublik Deutschland trat dem Europarat 1951 bei; Österreich erlangte 1956, die Schweiz 1963 die Mitgliedschaft.
6
Behinderung wird in dieser Konvention nicht explizit erwähnt.
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rerseits wird der ECHR nur dann tätig, wenn der innerstaatliche Rechtsweg eines Mitgliedslandes erschöpft ist. Behindertenpolitisch relevant ist außerdem die Europäische Sozialcharta des Europarates (verabschiedet 1961), die 1965 in Kraft trat und 1996 revidiert wurde. In Artikel 15 der Sozialcharta wird das Recht behinderter Menschen auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft festgehalten; Erwähnung findet Behinderung auch in den Rechten auf Berufsberatung und Berufliche Bildung (Art. 9, 10). Eine aktuelle behindertenpolitische Maßnahme des Europarats ist z.B. die laufende Strategie über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2017-2023). Unter der Überschrift »Menschenrechte: Eine Realität für Alle« sollen die Ziele Gleichheit, Würde und Chancengerechtigkeit verwirklicht werden, auch wenn die Strategie keine bindende Rechtskraft für die Mitgliedsländer hat.7 Wenn man sich mit der EU und deren Behindertenpolitik beschäftigt, sollte man sich also vor Augen halten, dass man es hier lediglich mit einem Ausschnitt aus dem komplexen Feld europäischer Politik zu tun hat, dessen Dynamik nicht immer leicht zu durchschauen und das bislang auch noch kaum umfassend beforscht ist. Studien zur Behindertenpolitik der OECD und OSZE fehlen gänzlich und auch zum Europarat liegen bislang nur wenige Untersuchungen vor. 8 Letzterer ist ein in seiner Relevanz unterschätzter, gleichwohl bedeutender Akteur auf der europäischen Ebene, da er mit der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Sozialcharta und dem Menschenrechtsgerichtshof wichtige Instrumente zur Politikgestaltung zur Verfügung stellt. Dessen ungeachtet fokussiert dieser Beitrag im Folgenden auf die Europäische Union, deren Einfluss auf die Behindertenpolitik im europäischen wie auch nationalen Kontext besonders groß ist. Zum Schluss dieses Abschnitts kann in Abgrenzung zu den drei vorgestellten internationalen Zusammenschlüssen die Frage, was die Europäische Union (nicht) ist, nun so beantwortet werden: Die Europäische Union ist weder ein europäischer Superstaat noch ein einfacher, rein intergouvernementaler Staatenbund, sondern ein Gebilde sui generis, in dem sich die europäische (supranationale), die nationalstaatliche und die subnationale (regionale und lokale)9 Ebene zunehmend verschränkt haben.10 Diese Charakteristi-
7
Council of Europe: Human Rights: A Reality for all. Disability Strategy 2017-2023, Straßburg 2017, S. 10.
8 9
Vgl. hierzu Sturm et al. (2017), S. 164-165. Aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland entspricht die regionale Dimension der Ebene der Bundesländer; die lokale Ebene sind die Kommunen (Landkreise und Städte).
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ka treten bei der Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der EU deutlich zutage.
GESCHICHTE UND ARCHITEKTUR DER EUROPÄISCHEN UNION: EINE SKIZZE 11 Im engeren Sinne ist die Europäische Union (EU) in zwei Schritten, erstens mit dem Vertrag von Maastricht von 1992 (in Kraft seit 1993) und zweitens mit dem Vertrag von Lissabon von 2007 (in Kraft seit 2009) gegründet worden. Ihr Vorläufer, ein einheitlicher institutioneller Rahmen für die drei Europäischen Gemeinschaften für Atom (Euratom), Kohle und Stahl (EGKS) sowie Wirtschaft (EWG), entwickelte sich jedoch bereits seit Ende der 1950er Jahre. Im Laufe der Jahrzehnte wurde durch mehrere Grundlagenverträge die zwischenstaatliche Zusammenarbeit vertieft und erstreckte sich bald auch auf andere Politikbereiche, bei denen Integration und Harmonisierung angestrebt wurden. Im Ergebnis entstand ein sogenanntes Mehrebenen-System, bei dem mit dem Maastricht-Vertrag zu Beginn der 1990er Jahre die früheren Gemeinschaften EGKS und EWG zur Europäischen Gemeinschaft (EG) zusammengeführt wurden; diese verfolgte als hauptsächliches Ziel, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu realisieren. Außerdem etablierten die Mitgliedsländer eine Zusammenarbeit in Polizeilichen und Justiziellen Angelegenheiten (PJZS) und eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Mit dem Lissabonner Vertrag wurden ab 2009 diese drei, bis dato formell unabhängigen Säulen (EG, PJZS, GASP) in die Europäische Union überführt. Gleichzeitig wurde die EU als Rechtsnachfolgerin der früheren EG zu einem Völkerrechtssubjekt; seitdem kann sie internationale Verträge zeichnen und diplomatische Beziehungen mit anderen Ländern unterhalten. Die jüngste Geschichte der EU war besonders wechselvoll. Mit der Wirtschaftskrise des Euro-Raums begann ab 2008 für eine Reihe von Mitgliedsländern eine Phase der Austeritätspolitik, die zu massiven sozialen Kürzungen führ-
10 Vgl. hierzu auch Reinhard Meyers: Perspektiven auf die europäische Integration: Konstanten und Widersprüche einer alten Debatte, Universität Münster 2014, Link: http://reinhardmeyers.uni-muenster.de/docs/2014/Perspektiven.pdf (24.02.2018). 11 Um den Abschnitt nicht zu überfrachten, wird im Folgenden auf Detailhinweise verzichtet. Eine empfehlenswerte Einführung liefert z.B. Werner Weidenfeld: Die Europäische Union (unter Mitarbeit von Edmund Ratka), Stuttgart 2015 (4., akt. Auflage); außerdem bietet die Bundeszentrale für politische Bildung reichhaltiges Material zu diesem Thema.
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te, von denen Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise betroffen waren. Außenpolitisch kam es 2014 wegen der Ukrainekrise zu Verwerfungen im Verhältnis zu Russland und als Folge des Bürgerkriegs in Syrien zu einer Flüchtlingsbewegung in Richtung Europa mit einem vorläufigen Höhepunkt im Sommer 2015. Dabei führt das Grenzmanagement der EU zu humanitären Katastrophen und insbesondere die osteuropäischen Mitgliedsländer zeigen eine Blockadehaltung bei der Verteilung und Versorgung der geflüchteten Menschen. Innenpolitisch schwelt ein Konflikt mit den Mitgliedsländern Polen und Ungarn, deren Rechtsstaatlichkeit durch rechtspopulistische Regierungen unter Druck geraten ist. Mit der europäischen Integration verbunden war zunächst eine stetige Erweiterung der Mitgliedsstaaten, die besonders Mitte der 2000er Jahre mit der Aufnahme osteuropäischer Länder vorangetrieben wurde. Gegründet von lediglich sechs Nationalstaaten, von denen Deutschland ein Gründungsmitglied war, umfasst die EU seit 2013 insgesamt 28 Mitgliedsländer.12 Das britische Referendum (2016) stellt jedoch erstmalig die Herausforderung, bis 2019 den Austritt eines Mitgliedsstaats organisieren zu müssen. Perspektivisch hat die Europäische Union als Folge des Brexit noch 27 Mitglieder, wobei der Beitritt neuer Länder ebenfalls vorbereitet wird. Auch wenn der Vertrag von Lissabon das Zusammenspiel der europäischen Institutionen neu geordnet und den Stellenwert von Supranationalität erhöht hat, ist die EU weiterhin kein eigener Staat. Somit bestimmen die nationalen Regierungen, zum einen im Europäischen Rat (der Staats- und Regierungschefs), zum anderen im Rat (der fachlich zuständigen Minister) maßgeblich die zentralen Entscheidungen. Neben diesen intergouvernementalen Gremien besitzt die Europäische Kommission eine besondere Stellung, da sie supranationale Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten hat und diese auch selbstbewusst wahrnimmt, indem sie etwa Entwürfe für europäische Rechtsakte vorlegt. Als Exekutivorgan der EU ist sie in Generaldirektionen unterteilt, welche als Ressorts der einzelnen Politikfelder fungieren. Zur Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration gehört eine Einheit, die für Behindertenpolitik zuständig ist. Die Europäische Union hat außerdem mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (oder: Europäischer Gerichtshof, EuGH), der nicht mit dem bereits erwähnten Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) des Europarates zu verwechseln ist, eine Rechtsprechungsinstanz. Weiteres bedeutsames Organ der EU ist das Europäische Parlament (EP) als gewählte Repräsentation der EU-
12 Österreich trat erst 1995 bei, während die Schweiz nicht zur EU gehört, jedoch Assoziierungsabkommen unterhält.
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Bevölkerung; es hat in mehreren Schritten erweiterte Mitspracherechte erhalten. Dennoch ist das EP in seinen legislativen Machtbefugnissen nicht mit den nationalen Parlamenten vergleichbar; Gesetzgebungskompetenz hat es nur gemeinsam mit dem Ministerrat. Hinzu kommen zusätzliche Behörden (z.B. die Europäische Zentralbank), übergreifende Gremien (z.B. der Wirtschafts- und Sozialausschuss) und Arbeitszusammenhänge innerhalb der EU-Institutionen. Dabei ist eine weitere Behörde besonders bedeutsam für die Behindertenpolitik – die EUAgentur für Grundrechte (EU Agency for Fundamental Rights, FRA), die seit 2013 am BRK-Monitoring der EU beteiligt ist.
BEHINDERTENPOLITIK DER EUROPÄISCHEN UNION: HISTORISCHE ENTWICKLUNG Will man die Geschichte der Behindertenpolitik der EU nachvollziehen, muss man im Auge behalten, dass sich diese Politik im Kontext der wechselvollen und auch konfliktreichen Entwicklung der europäischen Integration vollzogen hat. Außerdem war die Behindertenpolitik zunächst ein Teilgebiet der Sozialpolitik, insofern lässt sich ihre Herausbildung als distinktes Politikfeld zumindest bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts kaum von der Geschichte der europäischen Sozialpolitik trennen. Im Anschluss an andere Beiträge13 und eigene, frühere Arbeiten14 soll im Folgenden die Entwicklungsgeschichte der Europäischen Be-
13 Vgl. hierzu Peter Becker: Sozialpolitik, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hg.), Europa von A bis Z, Bonn 2006, S. 334-337; Wolfgang Däubler: Die Europäische Union als Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft, in: Werner Weidenfeld (Hg.): Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, Bonn 2006, S. 273288. 14 Die folgende Darstellung ist eine aktualisierte Überarbeitung früherer Fassungen und stützt sich im Wesentlichen auf Anne Waldschmidt: Disability Policy of the European Union: The Supranational Level, in: ALTER: European Journal of Disability Research, 3 (2009) H. 1, S. 8-23 sowie Anne Waldschmidt/Kathrin Lingnau: Abschlussbericht zum Forschungsprojekt Soziale Teilhabe in Europa: Eine Studie zu den Ordnungsprinzipien europäischer Sozial- und Gleichstellungspolitik am Beispiel der Politiken für behinderte Menschen auf supranationaler und nationaler Ebene. Bewilligungsnummer W-06-2-012. Berichtszeitraum 01.04.2007 – 31.03.2009. Gefördert von der RheinEnergieStiftung Jugend/Beruf, Wissenschaft, Köln, Universität zu Köln 2009, S. 16-19; vgl. außerdem Laurenz Aselmeier: Community Care und Menschen
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hindertenpolitik nachvollzogen werden. Dabei lassen sich verschiedene Phasen identifizieren. Die ersten Jahre (1958 bis 1973) des EU-Vorläufers, der damaligen Europäischen Gemeinschaften, waren davon geprägt, dass es praktisch zu keinen sozialpolitischen Initiativen kam. Die Ausnahme bildeten lediglich zwei Verordnungen, welche sich gegen die Benachteiligung von Wanderarbeitern richteten. Angesichts damaliger wirtschaftlicher Konjunktur und Vollbeschäftigung fehlte es offensichtlich an einer sozialpolitischen Problemstellung, die Aktivitäten auf der europäischen Ebene erfordert hätte. Bezeichnenderweise hatte man 1965 im Rahmen des Europäischen Sozialfonds das Problem, angesichts schwindender Arbeitslosigkeit nach neuen Betätigungsfeldern suchen zu müssen. Entsprechend kam es im gleichen Zeitraum auch zu keinen Gemeinschaftsinitiativen, die sich speziell an Menschen mit Behinderungen richteten. Daher ist der Beginn einer europäischen Behindertenpolitik auch erst später zu datieren. 1972 war auf dem Pariser Gipfel der Staats‐ und Regierungschefs der Ausbau der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beschlossen worden. Als eine Folge dieses Beschlusses verabschiedete der Rat der Arbeits‐ und Sozialminister 1974 das erste Sozialpolitische Aktionsprogramm auf europäischer Ebene. Hauptziele waren die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und die Demokratisierung der Betriebe. Auf der Grundlage dieses Programms wurden Richtlinien erlassen, die bis heute den Kern des EU‐Arbeitsrechtes darstellen, wie etwa die Lohngleichheitsrichtlinie (1975), die Gleichbehandlungsrichtlinie (1976) und die Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (1978). Auch wenn die Versprechungen des Programms letztendlich nicht eingelöst wurden, meint Wolfgang Däubler, diese Phase könne aus Arbeitnehmersicht als »goldenes Zeitalter«15 bezeichnet werden. Im Rahmen des ersten Sozialpolitischen Aktionsprogramms beschloss der damalige Rat der Europäischen Gemeinschaften im Juni 1974 außerdem das erste gemeinschaftliche Aktionsprogramm zur beruflichen Rehabilitation von Behinderten. Europapolitisch gehörte das Programm, das auf eine verbesserte Arbeitsmarktteilhabe abzielte, zu den Bemühungen der EU, den gemeinsamen Binnenmarkt zu stärken; die damals auf Grund von Ölkrise (1973) und wirtschaftlicher Rezession relativ hohe Arbeitslosigkeit sollte bekämpft und die Er-
mit geistiger Behinderung, Wiesbaden 2008, S. 31-40. Um den Beitrag nicht zu überfrachten, wird auf Detailverweise verzichtet. 15 Däubler (2006), S. 274.
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werbstätigkeit erhöht werden. Zugleich wurde damit der Grundstein für die europäische Behindertenpolitik gelegt. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre gab es allerdings keinerlei sozialpolitische Fortschritte. Alle Vorhaben der Kommission (z.B. für einen Mindestschutz bei Leiharbeit, befristeter Arbeit und Teilzeitarbeit) scheiterten am britischen Veto. Die damalige konservative Regierung des Vereinigten Königreiches unter Margaret Thatcher verfolgte einen strikt wirtschaftsliberalen Deregulierungskurs; aus diesem Grund hatten sozialpolitische Initiativen der Europäischen Kommission keine Aussicht auf ein positives Abstimmungsergebnis im Rat, zumal der geltende EWG‐Vertrag Mehrheitsentscheidungen noch nicht zuließ. Auch für die Behindertenpolitik der Jahre 1980 bis 1985 kann von einer weitgehenden Stagnation gesprochen werden. Lediglich das »Internationale Jahr der Behinderten« der Vereinten Nationen (1981) erwies sich als – wenn auch schwacher – Impulsgeber, da es eine Entschließung des Rates über die soziale Integration der Behinderten und eine entsprechende Mitteilung der Kommission stimulierte; diese beiden Dokumente wurden jedoch erst im Dezember 1981, somit am Jahresende veröffentlicht. In der nächsten Etappe europäischer Sozialpolitik ab 1986, die bis 1993 datiert wird, formierte sich die EG als sozialpolitischer Akteur. In dem Grundlagenvertrag von 1986, der sogenannten Einheitlichen Europäischen Akte wurde erstmals der Begriff des Binnenmarktes definiert und es wurden zwei sozialpolitische Bestimmungen aufgenommen: So wurden die Kompetenzen des Ministerrats erhöht, um im Bereich der Arbeitsumwelt Mehrheitsentscheidungen fällen zu können; ferner wurde die Kommission beauftragt, den Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zu fördern. Der sich abzeichnende europäische Binnenmarkt veranlasste außerdem die Gewerkschaften, Forderungen nach europaweit geltenden sozialen Rechten zu formulieren. Als Reaktion wurde im Dezember 1989 die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von elf der damaligen zwölf Mitgliedsstaaten angenommen. 16 Zwar enthielt diese Charta keine verbindlichen Regeln, sondern war in erster Linie eine politische Deklaration, jedoch stellte sie die Legitimationsbasis für weitere Initiativen dar. Im Juni 1989 wurde außerdem die Rahmenrichtlinie zum Arbeitsund Gesundheitsschutz angenommen. Weitere Richtlinien im Bereich des Arbeitsrechts, die erlassen wurden, waren die Nachweisrichtlinie (1991) und die Arbeitszeitrichtlinie (1993); zusätzlich kam es zu einer Reformierung der Sozialfonds. Ausgehend von der Sozialcharta von 1989 kam außerdem auf dem Gipfel
16 Nach der Wahl Tony Blairs zum Premierminister 1997 unterzeichnete auch Großbritannien die Charta.
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von Maastricht 1991 ein rechtlich verbindliches Abkommen über die Sozialpolitik (auch Sozialprotokoll genannt) zustande, allerdings wiederum ohne Großbritannien. Zeitgleich lassen sich verstärkte Aktivitäten im Bereich der Sozialpolitik für Menschen mit Behinderungen beobachten. Mehrere Initiativen befassten sich mit der Beschäftigung von Behinderten in der Gemeinschaft und verfolgten das Ziel der besseren Arbeitsmarktintegration. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Programm HELIOS I (1988-1991),17 das auf berufliche Bildung und Rehabilitation fokussierte und als ein zweites Aktionsprogramm der Gemeinschaft zugunsten der Behinderten vom Rat beschlossen wurde. Außerdem kam es 1990 zu einer Entschließung des Rates über die Eingliederung von behinderten Kindern und Jugendlichen in allgemeine Bildungssysteme. Zu Beginn der 1990er Jahre schuf der Maastricht‐Vertrag, der Ende 1993 in Kraft trat, neue Spielregeln. Es entstand die oben erwähnte Drei-Säulenstruktur und als ihr Dach die Europäische Union. Außerdem wurde die Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen, als deren Folge der Euro als gemeinsame Währung 1999 eingeführt wurde. Der Vertrag von Maastricht brachte wichtige Änderungen auch im Bereich der Sozialpolitik. Das oben erwähnte Abkommen wurde als Protokoll zur Sozialpolitik dem Vertrag beigefügt. Künftig sollten auf fast allen Gebieten des Arbeits- und Sozialrechts Richtlinien durch die Mitgliedsstaaten (außer Großbritannien) einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit erlassen werden können. Zugleich wurde das Subsidiaritätsprinzip betont, welches verlangt, dass die Europäische Union nur dort eingreift, wo weder die Mitgliedsstaaten noch die Sozialpartner adäquate Lösungen zustande bringen. Die damals herrschende Aufbruchsstimmung in der europäischen Politik zeigte sich auch auf dem Gebiet der Behindertenpolitik. Zum einen wurde mit dem Programm HELIOS II (1993-1996) die Förderung beruflicher und sozialer Integration fortgesetzt. Zum anderen kam es mit der Mitteilung der Kommission vom 30. Juli 1996 zur Chancengleichheit für behinderte Menschen und einer entsprechenden Entschließung des Rates am 20. Dezember 1996 zu einer deutlichen Zäsur oder, in anderen Worten, zu einem Paradigmenwechsel in der europäischen Behindertenpolitik. Denn von nun an stand nicht mehr allein die berufliche Rehabilitation im Zentrum, sondern die Gleichstellung behinderter Menschen wurde zu einem weiteren, wichtigen Schwerpunkt. Die Jahre 1997 bis 1999 waren sowohl von der Konsolidierung der sozialpolitischen Agenda als auch durch die Verankerung des Rechts auf Nichtdiskri-
17 HELIOS ist das Akronym für »Handicapped People in the European Community Living Independently in an Open Society«, vgl. Aselmeier (2008), S. 32.
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minierung geprägt. In den Vertrag von Amsterdam, der 1997 verabschiedet wurde und 1999 in Kraft trat, wurde als Titel XI (Art. 136-145 EGV) das Abkommen zur Sozialpolitik des Maastrichter Vertrags integriert. Artikel 136 EGV, der die sozialpolitischen Ziele der EU formulierte, wurde außerdem um die Bezugnahme auf die Europäische Sozialcharta des Europarates und die EUGemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer erweitert. Mit dem übergeordneten Ziel, Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen, wurde zudem in Artikel 13 EGV die Nichtdiskriminierung als Grundrecht formuliert. Behindertenpolitisch ist die Phase insofern bedeutsam, als dieser Artikel neben anderen Benachteiligungskategorien auch Behinderung erwähnte. Zusätzlich beschloss der Rat Empfehlungen zum Parkausweis für Behinderte in 1998 und zu den gleichen Beschäftigungschancen für behinderte Menschen in 1999. Damit sollte einerseits verkehrstechnische Mobilität gewährleistet werden, andererseits wurden die arbeitsmarktpolitischen Initiativen fortgesetzt. Mit dem Jahr 2000 und dem Vertrag von Nizza (in Kraft seit 2003) begann für die Europäische Union eine besonders wechselvolle Phase. 2000 wurde die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als unverbindliche Deklaration des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission verabschiedet. Gleichzeitig beschloss der Europäische Rat in Nizza die Europäische Sozialagenda (2000), mit der die EU ihr sozialpolitisches Arbeitsprogramm bis 2005 vorlegte. Ziel war, die sogenannte Lissabon‐Strategie – ein Programm, mit dem die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt gemacht werden sollte – um eine sozialpolitische Dimension zu ergänzen. In der Europäischen Sozialagenda stellte die EU gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zusammen und formulierte Ziele für eine gemeinsame Sozialpolitik. Als ehrgeizige Vorhaben wurden die Schaffung zusätzlicher und besserer Arbeitsplätze, die Modernisierung der Sozialschutzsysteme, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie der Kampf gegen Armut und Diskriminierung verfolgt. Mit Hilfe der Offenen Methode der Koordinierung, die erstmalig 1993 eingeführt worden war und 2000 ausgedehnt wurde, etablierten sich Abstimmungs- und Kontrollprozesse auf europäischer Ebene.18 Die Mitgliedstaaten wurden angehalten, über ihre Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitiken regelmäßig zu berichten, Empfehlungen entgegen zu nehmen und voneinander zu lernen.
18 Vgl. hierzu Stamatia Devetzi/Hans-Wolfgang Platzer (Hg.): Offene Methode der Koordinierung und Europäisches Sozialmodell. Interdisziplinäre Perspektiven, Stuttgart 2009.
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Einerseits wurden somit Anstrengungen unternommen, die gemeinsame Sozial- und Gleichstellungspolitik besser zu koordinieren. Andererseits scheiterte 2007 der Versuch, der EU einen Verfassungsvertrag zu geben, an den nationalen Referenden in Frankreich und den Niederlanden. Das Ende des Jahrzehnts markiert der Vertrag von Lissabon.19 Er stellte die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta her; damit wurde sie ab 2009 zu einem Bestandteil des politischen Systems der EU. Außerdem gab sich die EU mit diesem Vertrag Rechtspersönlichkeit (Art. 47 EUV) und beschloss, die Beziehungen zu weltweiten internationalen Organisationen wie etwa den Vereinten Nationen auszubauen (Art. 21 EUV). In der Behindertenpolitik können die Jahre 2000 bis 2009 als erfolgreich bilanziert werden. In diesem Zeitraum lassen sich zum einen verstärkte Aktivitäten in der Antidiskriminierungspolitik feststellen. Die Richtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (2000) und das im gleichen Jahr verabschiedete Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Diskriminierungen, das von 2001-2006 lief, waren auch für die Behindertenpolitik wichtige Meilensteine. In einer Reihe von Politikfeldern kam es zudem zur Verabschiedung von Maßnahmen, welche sich spezifisch mit der Situation behinderter Menschen befassten. So waren der barrierefreie Zugang zur internetbasierten Wissens- und Informationsgesellschaft und zu den Kultureinrichtungen, die Chancengleichheit für Schüler und Studierende mit Behinderungen in der Bildung und die Förderung der Beschäftigung und sozialen Eingliederung wichtige Themen. Zum anderen erwies sich das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen (2003) als Impulsgeber. Als ein Ergebnis des Themenjahres wurde von 2004 bis 2010 eine Serie von jeweils zweijährigen behindertenpolitischen Aktionsplänen durchgeführt. Zusätzlich empfahl die Europäische Kommission 2007 dem Rat die Zeichnung der Behindertenrechtskonvention. In der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts fand somit eine profilierte Behindertenpolitik der EU statt. Dagegen ist es noch zu früh, für den letzten Zeitraum ab 2010 Bilanz zu ziehen. Angesichts der oben skizzierten Krise der EU rückte in jüngster Zeit die Sozialpolitik wieder in den Mittelpunkt. Auf einem Sozialgipfel im November 2017 in Göteborg verabschiedeten die EU-Mitgliedstaaten die sogenannte Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR). Diese Deklaration stellt zwanzig Grundprinzipien aus den drei Bereichen Chancengleichheit, Arbeit und Beschäftigung sowie soziale Inklusion auf, verpflichtet die Länder jedoch nicht zu konkreten
19 Vgl. Olaf Leiße (Hg.): Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon. Europäische Politik im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2010.
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Maßnahmen und ist somit nur eine neue, unverbindliche Absichtserklärung für soziale Rechte in Europa. Nach wie vor wird über sozialpolitische Fragen auf nationaler Ebene entschieden; gleichwohl findet in der Sozialpolitik seit geraumer Zeit eine verstärkte Europäisierung statt, die vornehmlich indirekt mittels der erwähnten Offenen Methode der Koordinierung abläuft. Die jüngste Phase der europäischen Behindertenpolitik begann ebenfalls 2010 und zwar gelang, erstens, im Hinblick auf die UN Behindertenrechtskonvention ein wichtiger Schritt: In diesem Jahr ratifizierte die EU die BRK (nicht aber das Fakultativprotokoll); rechtlich bindend wurde die Konvention für die europäische Ebene in 2011. Als Vertragspartner verpflichtete sich die EU zur regelmäßigen Berichterstattung über die Umsetzung gegenüber den Vereinten Nationen. Ihren ersten BRK-Bericht legte die Europäische Union 2014 vor; ein Jahr später erfolgte die erste förmliche Prüfung vor dem UN Fachausschuss. Die Anhörung fand im August 2015 statt; im Oktober 2015 veröffentlichte der Fachausschuss seine Beobachtungen und Empfehlungen.20 Zweitens wurde ebenfalls 2010 die Europäische Strategie zugunsten von behinderten Menschen (European Disability Strategy) verabschiedet; sie hat eine zehnjährige Laufzeit (2010-2020) und umfasst ein umfangreiches Programm mit acht Prioritäten. Drittens war in dieser Phase die Barrierefreiheit ein wichtiges Thema. Auf die beiden letzten Punkte wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen. Im historischen Rückblick zeigt sich deutlich eine dynamische Entwicklung mit bemerkenswerten Fortschritten, aber auch Rückschritten und Stagnationsphasen. Insgesamt kann man die Herausbildung der Behindertenpolitik auf europäischer Ebene in sieben Zeitphasen einteilen, für die wiederum zehn Meilensteine charakteristisch sind (vgl. Tab. 1 im Anhang). Dabei verdienen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich zu der Sozialpolitik der EU besondere Beachtung. Zusammenfassend kann die Entwicklungsgeschichte wie folgt resümiert werden: Im Bereich allgemeiner sozialpolitischer Maßnahmen hat die EU noch immer ein relativ schwaches Profil, auch wenn dieses Politikfeld mit der Zeit stärkere Konturen erhalten hat. Mit der Aufnahme des Diskriminierungsverbots in das europäische Primärrecht hat sich die EU ein neues Handlungsfeld geschaffen, das auch Menschen mit Behinderungen zugutegekommen ist. In der Behindertenpolitik ist seit Ende der 1990er Jahre eine erhebliche Zunahme an Aktivitäten zu verzeichnen. Jedoch spiegelt sich die spezifische Kompetenzkonstellation der EU – schwache Machtbefugnisse im Bereich der sozialen Rechte, aber
20 Die Europäische Säule Sozialer Rechte bezieht sich ebenfalls in den Passagen, die behinderte Menschen betreffen, auf die BRK.
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starke Kompetenzen im Politikfeld der Gleichstellung – auch in diesem Politikfeld wider. Lohnenswert wäre es, genauer zu eruieren, inwieweit die Behindertenpolitik auf europäischer Ebene in erster Linie am Ziel eines gemeinsamen Binnenmarktes und damit vor allem marktliberal und weniger sozialpolitisch ausgerichtet ist. Dieser Beitrag kann hierzu nur einige Hinweise liefern.
BEHINDERTENPOLITIK (IN) DER EUROPÄISCHEN UNION: AKTUELLER STAND Wenn konstatiert werden kann, dass sich im Laufe der letzten sechs Jahrzehnte Behindertenpolitik mehr und mehr als ein eigenständiges Politikfeld der EU etabliert hat, liegt – wie gerade angedeutet – die Frage nach dem gegenwärtigen Profil dieses Feldes nahe. Im Folgenden wird deshalb die diachrone Perspektive aufgegeben; stattdessen soll der aktuelle Stand der europäischen Behindertenpolitik betrachtet werden. Dabei orientiert sich die Darstellung grob an diesen drei grundlegenden politikwissenschaftlichen Dimensionen:21 Die Ebene der ›Polity‹ beinhaltet unter anderem die ›Verfasstheit‹, d.h. die grundlegenden Werte und Normen von Politik; unter die zweite Dimension ›Policy‹ fallen die politischen Maßnahmen und Programme, mit deren Hilfe die konkrete Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme stattfindet; mit dem Begriff der ›Politics‹ wird schließlich die Interessenvertretung verschiedener kollektiver Akteure thematisiert. ›Behinderung‹ in der Polity der Europäischen Union Die aktuelle Polity der EU wird durch den bereits erwähnten Grundlagenvertrag von Lissabon bestimmt.22 Eigentlich handelt es sich dabei um zwei Verträge, zum einen um den Vertrag über die Europäische Union (EUV) und zum anderen um den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Hinzu kommt die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als rechtsverbindli-
21 Vgl. Thomas Meyer: Was ist Politik? Wiesbaden 2010 (3., akt. u. erg. Auflage); Manfred G. Schmidt/Frieder Wolf/Stefan Wurster (Hg.): Studienbuch Politikwissenschaft, Wiesbaden 2013. 22 Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Vertrag von Lissabon. Konsolidierte Fassung von Vertrag über die Europäische Union, Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Protokolle, Erklärungen, Deutsches Recht, Bonn 2010.
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cher Teil des Lissabonner Vertrags. Im AEUV wird Behinderung im Zusammenhang mit der Antidiskriminierungspolitik erwähnt. So heißt es in Artikel 19: »Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.«
Mit gleichem Wortlaut war diese Regelung erstmalig im Vertrag von Amsterdam enthalten gewesen; insofern trifft man bei der Antidiskriminierungspolitik auf Kontinuität und nicht auf Neuerungen. Zusätzlich ist die Grundrechtecharta der EU behindertenpolitisch relevant; hier lässt sich ebenfalls Kontinuität beobachten. In dieser Charta taucht Behinderung an zwei Stellen auf. In Artikel 21 wird das Recht auf Nichtdiskriminierung geregelt; dabei wird Behinderung in eine Reihe mit 15 weiteren potenziellen Diskriminierungsgründen gestellt. Außerdem ist Artikel 26 bedeutsam; er ist explizit der Personengruppe gewidmet und trägt den Titel »Integration von Menschen mit Behinderung«. Im Original heißt es: »Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft.« Bemerkenswert ist, dass in der Grundrechtecharta sowohl Artikel 21 als auch Artikel 26 in den sogenannten »Titel III: Gleichheit« eingeordnet sind. Zumindest Artikel 26 hätte eigentlich auch in den ebenfalls existierenden »Titel IV: Solidarität« gepasst, der die Bestimmungen enthält, die traditionell der Sozialpolitik zugerechnet werden, wie etwa »Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung« (Art. 34) oder »Gesundheitsschutz« (Art. 35). Die vorgenommene Zuordnung deutet darauf hin, dass im Rahmen der EU die Lebenssituation behinderter Menschen vornehmlich unter Gleichheitsaspekten betrachtet wird. Welche Konsequenzen diese Akzentuierung hat, müsste genauer untersucht worden. Während der Vertrag von Lissabon sowohl in der Antidiskriminierungspolitik als auch in der Grundrechtecharta die beschrittenen Pfade im Wesentlichen fortführte, erwies er sich in Bezug auf die UN Behindertenrechtskonvention als Türöffner. Auf der Grundlage des oben erwähnten Artikels 47 EUV konnte die Europäische Union als weltweit erste Organisation der regionalen Integration die BRK in 2010 ratifizieren.
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Policies der Europäischen Union: Aktuelle behindertenpolitische Maßnahmen Was die aktuellen, für Menschen mit Behinderungen relevanten Policies der EU betrifft, wurde bereits ausgeführt, dass es seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) nicht mehr nur um das Ziel der beruflichen Teilhabe, sondern auch um Gleichstellung und Antidiskriminierung geht. Gleichzeitig fehlen der EU weiter die Politikinstrumente, um – etwa bei der sozialen Sicherung – verbindliche Regelungen durchzusetzen; deshalb ist dieser Bereich eher von ›Berichtspolitik‹ geprägt. Hinzu kommen symbolische Maßnahmen wie der Europäische Tag der Menschen mit Behinderungen, der jedes Jahr am 3. Dezember begangen wird, oder die seit 2010 jährlich im Rahmen einer europäischen Tagung stattfindende Verleihung des »Access City Award«. Zudem hat sich mit der Ratifizierung der BRK seit 2010 auch in der EU die Implementierung der UN Konvention als eigene Policy etabliert, die eine eigene Betrachtung verdient hätte. 23 Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, können jedoch im Folgenden nur die Antidiskriminierungspolitik, die Europäische Strategie zugunsten behinderter Menschen und die Bemühungen um einen europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit als Beispiele für aktuelle Politikmaßnahmen der EU genauer betrachtet werden. Erstens hat die EU seit 1999 in mehreren Richtlinien das Politikfeld der Gleichstellung und Antidiskriminierung ausbuchstabiert. Dabei ist bemerkenswert, dass weder in der sogenannten Antirassismusrichtlinie von 2000 noch in der Dienstleistungsrichtlinie von 2004 und auch nicht in der Gender-Richtlinie von 2002 oder deren Neufassung von 2006 das Diskriminierungsmerkmal Behinderung explizit erwähnt wurde. Lediglich die Beschäftigungsrichtlinie von 2000 berücksichtigte Behinderung und sah in Artikel 5 vor: »Um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, sind angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen ergreift, um den Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaß-
23 Vgl. hierzu Wiebke Schär/Wolfgang Angermann: Die Europäische Union als Vertragspartei der UN-Behindertenrechtskonvention, in: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn 2015, S. 352-364.
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nahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten.«24
Offensichtlich war ursprünglich die auf behinderte Menschen gerichtete Gleichstellungspolitik mit der Beschäftigungspolitik eng verknüpft; insofern lässt sich von einer ›Huckepack‹-Strategie sprechen: Bewährtes, nämlich das Ziel der Arbeitsmarktintegration, diente als Vehikel für eine Neuausrichtung im Sinne horizontaler Gleichstellungspolitik, bei der die Mehrdimensionalität von Diskriminierung berücksichtigt und außerdem im Falle von Behinderung der Rechtsbegriff ›angemessene Vorkehrungen‹ eingeführt wurde. Im Ergebnis stieß die EU mit ihrer Antidiskriminierungspolitik eine entsprechende Ausrichtung auf der Ebene aller Mitgliedsländer an, da letztere zur Umsetzung der Richtlinien verpflichtet waren und im Falle von Non-Compliance empfindliche Geldbußen hätten zahlen müssen. So hätte es vermutlich in Deutschland das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (2006) ohne die Gleichbehandlungsrichtlinien der EU nicht gegeben; mit diesem Gesetz konnte ein Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Kommission bereits eingeleitet hatte, gerade noch abgewendet werden. Insofern kann dieses Politikfeld auf eine erfolgreiche Karriere zurückschauen, auch wenn die weitere Entwicklung seit geraumer Zeit stagniert. Hinweise darauf, wie die künftige Antidiskriminierungspolitik der EU aussehen könnte, gibt der bereits 2008 publizierte Vorschlag der Europäischen Kommission für eine weitere Gleichbehandlungsrichtlinie.25 Er sieht für Behinderung (neben anderen Merkmalen) eine Ausweitung des Diskriminierungsverbots über den Arbeitsmarkt hinaus auf die Bereiche Sozialer Schutz, Gesundheitsdienste, soziale Vergünstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen vor. Diesbezüglich gibt es Lücken im bestehenden Diskriminierungsschutz, da nur die Richtlinien gegen rassistische und genderspezifische Diskriminierungen diese Lebensbereiche abdecken. Gegen die Ausweitung des europäischen Antidiskriminierungsrechts gibt es jedoch im EU-Ministerrat noch Widerstand und es
24 Vgl. Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 02.12. 2000, S. L303/19. 25 Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Vorschlag für eine Richtlinie zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Brüssel 02.07.2008 (KOM [2008] 426endgültig), Link: http://eur-lex.europa.eu/legalcontent/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:52008PC0426&from=DE (24.02.2018).
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bleibt abzuwarten, ob der seit zehn Jahren vorliegende Vorschlag der Kommission umgesetzt werden kann. Zweitens verabschiedete die EU-Kommission nach dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen (2003) und den drei behindertenpolitischen Aktionsplänen (2004-2010) die sogenannte Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen (European Disability Strategy). 26 Versehen mit einer zehnjährigen Laufzeit (2010-2020) stützt sich dieses umfassende Programm auf die BRK und will zu deren Umsetzung beitragen. Vorgesehen sind Maßnahmen in diesen acht Bereichen: Bei der »Barrierefreiheit« geht es darum, Waren und Dienstleistungen zugänglich zu machen und den Markt für Hilfsmittel zu fördern; unter »Teilhabe« soll sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen die EU-Bürgerschaft in Anspruch nehmen können, gleichberechtigt am öffentlichen Leben und an Freizeitaktivitäten teilnehmen und Zugang zu wohnortnahen Dienstleistungen haben; unter dem Stichwort »Gleichstellung« sollen behindertenspezifische Diskriminierungen bekämpft und die Chancengleichheit gefördert werden; bei der Priorität »Beschäftigung« wird das Ziel verfolgt, die Erwerbsquote der behinderten Menschen und ihre Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt deutlich zu erhöhen; unter »Allgemeine und berufliche Bildung« hat sich die EU vorgenommen, die inklusive Bildung und das gleichberechtigte, lebenslange Lernen für Menschen mit Behinderungen zu fördern; in dem Bereich »Sozialer Schutz« sollen angemessene Lebensbedingungen gefördert, Armut und soziale Ausgrenzung bekämpft werden; unter dem Stichwort »Gesundheit« geht es um gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsleistungen und im Bereich der »Außenpolitik« sollen die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der EU-Erweiterung, der Entwicklungshilfe und der internationalen Zusammenarbeit Berücksichtigung finden. Auskunft darüber, wie weit die Umsetzung der breit angelegten Europäischen Strategie bislang gediehen ist, gibt ein Zwischenbericht der EUKommission, der im Februar 2017 veröffentlicht wurde. Hervorgehoben wird hier u.a., dass es gelungen sei, 2011 eine Richtlinie zur grenzübergreifenden Gesundheitsversorgung und 2016 eine Direktive für Barrierefreiheit im Internet in öffentlichen Einrichtungen zu verabschieden. Zudem werde seit 2016 ein Pilot-
26 Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 20102020: Erneuertes Engagement für ein barrierefreies Europa. Brüssel 15.11.2010 (KOM[2010] 636 endgültig), Link: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/ PDF/?uri=CELEX:52010DC0636&from=DE (24.02.2018).
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projekt zum Europäischen Behindertenausweis durchgeführt, das den Zugang zu Sondervergünstigungen insbesondere in den Bereichen Kultur, Freizeit, Sport und Verkehr gewährleisten soll, und das seit 2014 eingeführte ErasmusPlusProgramm erlaube nunmehr behinderten Studierenden mehr Mobilität. Außerdem werden die Bemühungen um einen europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit erwähnt. Gemessen an dem eigenen Anspruch wirkt diese Bilanz eher ernüchternd. Es fällt auf, dass die EU nach wie vor im Feld der Sozialpolitik kaum Erfolge erzielen kann, sondern sich stattdessen auf die Politikbereiche konzentriert, die im Zusammenhang mit den vier europäischen Grundfreiheiten, nämlich der Mobilität von Personen, Dienstleistungen, Waren und Kapital im Rahmen des europäischen Binnenmarkts von Bedeutung sind. Diese Fokussierung zeigt sich auch in dem dritten hier behandelten Politikbereich, nämlich der Bestrebung, eine europäische Richtlinie zu barrierefreien Produkten und Dienstleistungen zu realisieren. Unter dem Titel »European Accessibility Act (EAA)« legte die EUKommission 2015 einen Vorschlag für eine entsprechende Richtlinie vor; 2017 sprach sich der Rat positiv für dieses Vorhaben aus. Jedoch gab der Titel zu Missverständnissen Anlass; mitnichten handelte es sich um eine umfassende Regelung, die Barrierefreiheit in allen Lebensbereichen realisiert. So versprach die EU-Kommission zwar den Nutzern und Nutzerinnen mit Behinderungen viele Vorteile, jedoch betonte sie gleichzeitig, dass die Wirtschaft durch Kostenreduktion, die Erleichterung beim grenzüberschreitenden Handel und erweiterte Vermarktungschancen von Barrierefreiheit profitieren werde: »Businesses will benefit from: common rules on accessibility in the EU leading to costs reduction [,] easier cross-border trading [and, A.W.] more market opportunities for their accessible products and services.«27 Letztlich ging es vor allem um die Aspekte, die für die Märkte und eine digitalisierte Zukunft von Bedeutung sind. Die Einigung, die zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat im November 2018 erzielt wurde, liegt ganz auf dieser Linie. Die beschlossene Richtlinie »leaves out the real world environment where persons with disabilities live«, wie etwa Wohnen, Alltagsgegenstände oder öffentlicher Raum. 28
27 European Commission, Employment, Social Affairs & Inclusion: Policies and Activities: European Accessibility Act, Link: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1202 (10.11.2018). 28 European Disability Forum: Immediate Release: Disappointing Compromise on EU Accessibility Act, Brussels, 8 November 2018, Link: https://gallery.mailchimp.com/ 865a5bbea1086c57a41cc876d/files/19a831a5-3111-41.
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Stattdessen umfasst sie lediglich »common accessibility requirements for key products and services such as phones, computers, payment terminals or selfservice terminals, banking services, electronic communications including the 112 emergency number, access to audio-visual media services, e-books, ecommerce and some elements of transport services.«29 Sobald die Direktive Rechtskraft erlangt, wird sie für alle Mitgliedsländer rechtlich bindend sein und auf nationaler Ebene umgesetzt werden. Politics in der Europäischen Union: Behindertenpolitische Netzwerke und Akteure Wie kommen eigentlich behindertenpolitische Maßnahmen zustande? Wer konzipiert sie in welchen Zusammenhängen und wie werden Entscheidungen getroffen? Diese Fragen berühren die letzte Analysedimension, die in diesem Beitrag betrachtet wird. Im Folgenden geht es um die Politik im engeren Sinne, um Interessenvertretung und die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure. 30 Auch auf dieser Ebene kann wiederum nur ein Ausschnitt aus dem komplexen Machtgeschehen in der Europäischen Union betrachtet werden. Dabei ist es sinnvoll, zunächst die Möglichkeiten der politischen Beteiligung kennenzulernen, die das politische System der EU bietet. Anschließend erfolgt ein Überblick über einige kollektive Akteure, die in der behindertenpolitischen Arena aktiv sind. Neben der individuellen Teilnahme an den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen des Europäischen Parlaments, die jeder Bürgerin und jedem Bürger der EU offensteht, gibt es eine Reihe von offiziellen und informellen Zugängen zu den EU-Institutionen, die Interessengruppen im Rahmen der kollektiven politischen Partizipation nutzen können. Insbesondere das Europäische Parlament und vor allem die EU-Kommission gelten als relativ offen für die Lobbyarbeit von außen. Außerdem erfolgt die Artikulation von Interessen im Rahmen von zwei ständigen Ausschüssen der EU, zum einen im Wirtschafts- und Sozialausschuss,
0e-98d9-bc8d1013d392/06_11_2018_Press_Release_Accessibility_Act_final.01.pdf (10.11.2018). 29 European Commission, Employment, Social Affairs & Inclusion: Policies and Activities: European Accessibility Act, Link: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1202 (10.11.2018). 30 Vgl. hierzu Hans-Wolfgang Platzer: Interessenverbände und europäischer Lobbyismus, in: Werner Weidenfeld (Hg.), Die Europäische Union. Politisches System und Politikbereiche, Bonn 2008, S. 187-205. Dieser Abschnitt stützt sich außerdem auf Sturm et al. (2017).
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zum anderen im Ausschuss der Regionen, wobei letzterer auch zu Interventionen in EU-Entscheidungsprozessen berechtigt ist, die das Gemeinschaftsrecht betreffen. Die Arbeit dieser Ausschüsse kann jedoch im Rahmen dieses Aufsatzes nicht näher berücksichtigt werden. Zugang zum Europäischen Parlament gewährleistet beispielsweise das Europäische Transparenzregister, das seit 2011 existiert. Interessengruppen und Einzelpersonen, die sich freiwillig registrieren, erhalten damit die Möglichkeit zu ungehindertem Besuch der Gebäude und Sitzungen des EP. Dabei ist zu bedenken, dass die teilnehmende Beobachtung sicherlich hilfreich sein kann, jedoch die direkte Ansprache von Abgeordneten und ihrem Personal auf informellen Wegen wahrscheinlich effektiver für die Einflussnahme ist. Was die Kontakte zwischen dem EU-Parlament und der Zivilgesellschaft in der Behindertenpolitik betrifft, ist sicherlich die »Disability Intergroup« ein zentraler Ort. Als eine der ältesten parlamentarischen Arbeitsgruppen mit informellem Charakter wurde sie bereits 1980 gegründet und bringt Parlamentarier/innen aller europäischen Parteien und europäische Behindertenvertretungsorganisationen regelmäßig zusammen. Im Rahmen der EU-Kommission gibt es ebenfalls eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Kontakten, die insbesondere von der für die Behindertenpolitik zuständigen Dienststelle in der Generaldirektion für Beschäftigung, Soziales und Integration unterhalten werden.31 So hat diese Kommissionseinheit das Akademische Netzwerk zur Europäischen Behindertenpolitik (Academic Network of European Disability experts, ANED) mit Hilfe des EU-Förderprogramms PROGRESS (2007-2013) ins Leben gerufen und lässt seit 2008 die dort versammelten Expertinnen und Experten regelmäßig Berichte zum Stand verschiedener Politikmaßnahmen auf nationaler Ebene verfassen.32 Zusätzlich kommt es im Rahmen der Jahrestagungen von ANED sowie bei der jährlich von der Kommission ausgerichteten Konferenz anlässlich des Europäischen Tages der Menschen mit Behinderungen und anderen thematisch fokussierten Veranstaltungen zu einem persönlichen Austausch zwischen dem verantwortlichem EUPersonal und den Behindertenrechtsorganisationen.
31 Dieses Referat leitet auch die »Inter-Service Group on Disability«, eine dienststellenübergreifende Arbeitsgruppe der Kommission zum Thema Behinderungsfragen, in der EU-Beamte aus allen Generaldirektionen die politischen Maßnahmen im Sinne eines »disability mainstreaming« auf EU-Ebene koordinieren. 32 Sowohl Deutschland als auch Österreich, nicht aber die Schweiz sind in ANED vertreten.
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Ebenfalls Gelegenheiten zur Interessenvertretung bieten beratende Gremien, die sogenannten Expertengruppen der Kommission, die sowohl offiziellen als auch informellen Charakter haben, wobei Einladungen zur Mitgliedschaft jeweils von der federführenden Kommissionsdienststelle ausgehen. Die für Behindertenpolitik relevanten Expertengruppen können hier nicht alle aufgezählt werden.33 Von besonderer Bedeutung ist die sogenannte »High Level Group on Disability« (HLGD); dabei handelt es sich um eine informelle und unbefristete Gruppe, die sich in der Regel zweimal im Jahr trifft. Ihre Aufgabe ist es, den Austausch von Informationen, Erfahrungen und gelungenen Praxisbeispielen zu ermöglichen und die Kooperation zwischen der EU-Kommission, den nationalen Behörden und der Zivilgesellschaft zu fördern. In einer Ratsresolution von 1996 wurde als Ziel der Zusammenarbeit formuliert, «to promote – in collaboration with the Member States and with non-governmental organisations of and for people with disabilities – the exchange of useful information and experience especially concerning innovative policies and good practice”. 34 Geht man der Frage nach, wer eigentlich die kollektiven Akteure sind, die gegenüber den EU-Institutionen als Repräsentanten der Menschen mit Behinderungen auftreten, trifft man zumeist auf Zusammenschlüsse, die auch auf nationaler Ebene tätig sind. In der Liste der Organisationen, die meine Arbeitsgruppe für eine empirische Studie35 zur Praxis der europäischen Interessenvertretung in der Behindertenpolitik untersucht hat, finden sich sowohl beeinträchtigungsspezifische, eher medizinisch orientierte (z.B. European Alliance of Muscular Dystrophy Association, EAMDA; International Federation of Spina Bifida and Hydrocephalus, IF SBH) als auch behinderungsübergreifende Zusammenschlüsse (z.B European Action of Persons with Disabilities/Action Européenne des Personnes Handicapées, AEH). Europäische Ableger gegründet haben sowohl traditionelle Behindertenverbände (z.B. Rehabilitation International, RI), Elternvereinigungen (z.B. Inclusion Europe, IE) als auch Organisationen der Behindertenbewegung (Disabled People's International Europe, DPI-E; European Network on Independent Living, ENIL). Es gibt europäische Selbstvertretungsorganisationen mit langer Geschichte (z.B. European Blind Union, EBU) oder jüngeren Datums (z.B. European Network of [ex-]Users and Survivors of Psychiatry,
33 Vgl. Sturm et al. (2017), S. 163. 34 Council: Resolution of the Council and of the Representatives of the Governments of the Member States Meeting within the Council of 20 December 1996 on Equal Opportunities for Persons with Disabilities (97/C 12/01), in: Official Journal of the European Communities, 13.01.1997, No. C 12/1-2, hier: Part III, Art. 2. 35 Vgl. Sturm et al. (2017).
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ENUSP). Hinzu kommen Neugründungen (z.B. European Association of Service Providers for Persons with Disabilities, EASPD), unter denen insbesondere das Europäische Behindertenforum (European Disability Forum, EDF) hervorsticht. Entstanden 1996 auf Initiative der EU-Kommission im Rahmen des Programms HELIOS II hat sich EDF im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte zu einer einflussreichen Organisation der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen entwickelt.36 Gleich in mehreren Rollen nimmt das Europäische Behindertenforum diese Aufgabe wahr. Zum einen handelt es sich um einen formal strukturierten Zusammenschluss, dessen Mitgliedschaft in vier Kategorien (›full‹, ›ordinary‹, ›observer‹, ›associate‹) unterteilt ist, wobei ›volle‹ Mitgliedschaft die nationalen Behindertenräte in 2937 europäischen Ländern und 25 Behindertenrechtsorganisationen haben. ›Normale‹ Mitglieder sind elf weitere Organisationen, die behindertenpolitisch aktiv sind; ›beobachtenden‹ Status haben nationale Behindertenräte aus vier EU-Beitrittskandidaten und 29 Organisationen sind mit EDF ›verknüpft‹. Mit dieser Struktur ähnelt EDF eher einer netzwerkartigen ›advocacy coalition‹ als einer einfachen Dachorganisation. Aus diesen Grund kann man von EDF als einer »hybriden« Organisation sprechen.38 Zum anderen ist das Forum zusätzlich Mitglied in weiteren Koalitionen, die auf europäischer Ebene sowohl in der Behindertenpolitik als auch in anderen Politikfeldern existieren. Dabei ist wiederum ein großer Einfluss von EDF zu beobachten. So sind zwar einige der Organisationen mit voller EDFMitgliedschaft ebenfalls in verschiedenen Netzwerken vertreten; jedoch ist EDF der einzige kollektive Akteur in der europäischen Behindertenpolitik, der gleichzeitig in den drei wichtigen Koalitionen »European Social Platform«, »European Patients Forum« und »European Coalition of Community Living« Mitglied ist. Zusätzlich ist das Forum als eine Nichtregierungsorganisation Mitglied der »High Level Group on Disability« der EU-Kommission und außerdem für das Sekretariat der »Disability Intergroup« des Europäischen Parlaments zuständig. Dass EDF als zentraler europäischer Netzwerkakteur im Bereich der Behindertenpolitik gelten kann, lässt sich auch aus seiner Rolle bei dem BRKMonitoring auf europäischer Ebene schließen.39 Mit Ausnahme des Europäischen Behindertenforums ist keine weitere (Selbst-)Vertretungsorganisation oder
36 Vgl. hierzu Sturm et al. (2017) sowie Joachim Malleier: Lobbying für Behinderte: Interessenvermittlung am Beispiel des Europäischen Behindertenforums in der Europäischen Union, Frankfurt/Main 2011. 37 Neben den 28 EU-Mitgliedsländern ist außerdem Island vertreten. 38 Sturm et al. (2017), S. 168. 39 Vgl. hierzu auch Sturm et al. (2017), S. 169-172.
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Koalition an dem Monitoring beteiligt. In diesem Zusammenhang übernahm EDF phasenweise auch Leitungsaufgaben. Während von 2013 bis 2015 die EUKommission für Sekretariatsaufgaben verantwortlich war, leitete das Forum das sogenannte ›monitoring framework‹.40 Anschließend übernahm die Europäische Grundrechteagentur das Sekretariat und die Leitung wurde alternierend wahrgenommen. Im Zeitraum 2017/2018 stellte wiederum EDF die Leitung für ein Jahr.41 An diesem Beispiel wird besonders deutlich, dass die Vernetzungsstrukturen der behindertenpolitischen Interessenvertretung auf EU-Ebene nicht nur hochgradig komplex, sondern auch neo-korporatistisch ausgerichtet sind. Welche Auswirkungen dies auf die konkreten Ziele, Praktiken und Strategien der behindertenpolitischen Akteure hat, ist bislang noch kaum untersucht.
SCHLUSSBEMERKUNG Insgesamt war dieser Beitrag eher darstellend und einführend und weniger analytisch ausgerichtet; zudem konnten vorhandene Forschungslücken benannt werden. Zunächst wurde die Europäische Union mit drei anderen internationalen Staatenbündnissen verglichen und es wurden ihre Geschichte und Architektur skizziert. Dabei erwies sich die EU als Gebilde ›sui generis‹ mit einem komplexen politischen Mehrebenen-System, einem hohen Grad an Supranationalität und einem breiten Spektrum an Aufgaben. Die anschließende Entwicklungsgeschichte der europäischen Behindertenpolitik ab Ende der 1950er Jahre machte auf Gemeinsamkeiten mit den sozialpolitischen Phasen der EU aufmerksam; gleichzeitig zeigte sich seit Ende der 1990er Jahre eine bemerkenswerte Profilierung der europäischen Behindertenpolitik. Der aktuelle Stand dieses Politikfeldes ist, was die Ebenen der ›Polity‹ und der ›Policy‹ betrifft, durch einen Fokus auf die Themen Gleichstellung und Barrierefreiheit gekennzeichnet. Auf der Ebene der ›Politics‹ wurde aufgewiesen, dass die europäische Ebene eine Reihe von Beteiligungsmöglichkeiten bietet; jedoch ähnelt die Arena der Interessenvertretung
40 Der sogenannte Rahmen des EU-Monitoring zur BRK wird gebildet aus dem Europäischen Parlament, der Europäischen Bürgerbeauftragten (Ombudsperson), der EUGrundrechteagentur (FRA) und dem Europäischen Behindertenforum (EDF). Bis 2015 war außerdem die Europäische Kommission Mitglied; sie zog sich auf Grund der Empfehlungen des UN-Fachausschusses zurück. 41 Seit 2018 ist die Grundrechteagentur für zwei Jahre sowohl für die Leitung als auch für das Sekretariat zuständig.
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einem ›closed shop‹, da vor allem das Europäische Behindertenforum den Hauptakteur darstellt. Künftige Forschung ist sicherlich für alle behandelten Themen notwendig. So müsste die Entwicklungsgeschichte der Behindertenpolitik der EU noch eingehender untersucht werden; hierzu ist es notwendig, alle EU-Institutionen wie auch die Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen mit einzubeziehen. Was die aktuelle Politik betrifft, ist sicherlich neben Untersuchungen der auf behinderte Menschen gerichteten Gleichstellungspolitik, einer Auswertung der European Disability Strategy und der Politik der Barrierefreiheit vor allem auch die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention auf europäischer Ebene und in den EU-Mitgliedsländern ein wichtiges Forschungsthema. Auch die Praktiken der Interessenvertretung und die Rolle von EDF sowie weiterer Behindertenrechtsorganisationen sind bislang noch zu wenig ausgeleuchtet. Und nicht zuletzt sollte die Frage untersucht werden, welche Auswirkungen die Politik der EU auf die nationale Ebene hat, ob also von einer Europäisierung der Behindertenpolitik in Deutschland gesprochen werden kann.
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Die Eingliederungshilfe Lückenbüßer, Kernbestand, Auslaufmodell der Hilfen für Menschen mit Behinderungen? Wilfried Rudloff
Nachdem sie im behindertenpolitischen Diskurs lange Zeit eher ein Schattendasein gefristet hatte, ist die Eingliederungshilfe seit etwa anderthalb Jahrzehnten zum Gegenstand einer lebhaften Reformdebatte geworden. Die Debatte hat im Dezember 2016 im Bundesteilhabegesetz einen vorläufigen, sicher aber nicht endgültigen Abschluss gefunden. Die politische Vorgeschichte dieses Gesetzes detailgerecht zu schildern, liegt nicht in der Absicht der folgenden Ausführungen, die vielmehr historisch weiter zurückzugreifen versuchen und eine allgemeine Problemgeschichte der Eingliederungshilfe zu skizzieren beabsichtigen. Die Eingliederungshilfe wird dabei als ein quantitativer wie qualitativer Kernbereich der Hilfen für Menschen mit Behinderungen vorgestellt, dessen Bedeutung und Stellenwert kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, der aber auch wie kaum ein zweiter umstritten geblieben ist. Behandelt werden dabei vor allem drei Fragestellungen: Erstens die Frage nach den sozialrechtlichen Besonderheiten der Eingliederungshilfe und ihrem Ort in den Hilfen für Menschen mit Behinderung. Zweitens die großen Linien der Expansionsentwicklung der Eingliederungshilfe und die Reaktionen hierauf von Seiten der Sozialleistungsträger und der Politik. Drittens als Beispielfall für die Leistungsangebote der Eingliederungshilfe die Werkstätten für Behinderte und die mit diesen verbundenen Konflikte- und Streitfelder. Ein kurzer Ausblick versucht abschließend, die Linien der Debatten in ihren groben Konturen weiter bis zu den jüngeren gesetzgeberischen Entwicklungen zu ziehen.
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I. Die Eingliederungshilfe war ein wesentlicher Baustein des 1961 verabschiedeten Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).1 Mit dem Inkrafttreten des BSHG im Jahr 1962 war die Erwartung verbunden gewesen, dass die Sozialhilfeträger in einer Gesellschaft wachsender Prosperität und dauerhafter Vollbeschäftigung von den Zwängen massenhafter Armutsbekämpfung, wie sie den vorangegangenen Epochen der Fürsorge den Stempel aufgedrückt hatten, weitgehend entbunden sein würden. Der Begriff der Hilfsbedürftigkeit wurde in zwei Kategorien sowohl von Bedarfslagen wie auch von Hilfeformen gespalten, einerseits die herkömmlichen materiellen Transfers der »Hilfen zum Lebensunterhalt« und andererseits die als »Hilfen in besonderen Lebenslagen« konzipierten sozialen Dienste. Namentlich die letzteren Lebenslagen, bei denen jenseits der existentiellen Grundsicherung besondere, qualitativ verschiedene Bedarfe angenommen wurden, waren es, auf die sich das Augenmerk der Professionsexperten nun richtete. Indem das BSHG den Akzent auf die sozialen und persönlichen Dienste für Menschen mit besonderen Integrationshindernissen legte, sollte die Sozialhilfe ein Stück weit vom Odium der alten Armenpflege befreit werden, als bloßer Almosengeber in materiellen Notlagen zu dienen. Was die Hilfen für Menschen mit Behinderungen anging, war es den Verfassern des Gesetzes vor allem darum zu tun gewesen, die Grundsätze des Körperbehindertengesetzes von 1957 auf einen weiteren Kreis von Behinderten auszudehnen.2 Mit dieser Verallgemeinerungsabsicht kontrastierte allerdings eine einschränkende Abstufung des BSHG, nach der über die – im Gesetz näher umschriebenen – Gruppen der Körper- und Sinnesbehinderten hinaus nur noch Personen mit »schwach entwickelten« geistigen Kräften ein Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfen eingeräumt wurde. Die üb-
1
Käthe Petersen: Die Eingliederungshilfe für Behinderte. Leistungen und Rechtsgrundlagen nach dem Bundessozialhilfegesetz unter Einbeziehung anderer gesetzlicher Bestimmungen, 2., neu bearbeitete Aufl., Frankfurt a.M. 1978; Anja Welke: Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, in: Jonathan I. Fahlbusch (Hg.), 50 Jahre Sozialhilfe. Eine Festschrift, Berlin 2012, S. 249-268; Peter Krüger: Sozialarbeit in der Eingliederungshilfe für Menschen mit einer Behinderung, Berlin 2006.
2
Friederike Föcking: Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961, München 2007, S. 308-322; Wilfried Rudloff: Rehabilitation und Hilfen für Behinderte, in: Michael Ruck/Marcel Boldorf (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 4: 1957-1966 – Bundesrepublik Deutschland: Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007, S. 463-501, hier S. 475-478.
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rigen Gruppen von Menschen mit geistigen und psychischen Behinderungen mussten sich mit einer »Kann-Regelung« zufrieden geben, was hieß, dass den Sozialhilfeverwaltungen in diesen Fällen ein deutlich größerer Ermessensspielraum verblieb. Die Eingliederungsverordnung der Bundesregierung von 1964 weitete dann zwar den Kreis der in die Pflichtleistungen Einbezogenen allgemein auf Menschen mit geistigen Behinderungen aus; Menschen mit psychischen Behinderungen mussten hierauf noch weitere fünf Jahre warten. 3 Die Zielsetzung der Eingliederungshilfe nach §§ 39-47 des Bundessozialhilfegesetzes unterschied sich vom gesetzlichen Handlungsauftrag der übrigen Rehabilitationsträger vor allem dadurch, dass Hilfe auch gewährt wurde, ohne dass notwendig das vorrangige Ziel einer Wiedereingliederung in das Erwerbsleben verfolgt wurde. Als Leitperspektive der Hilfen für Behinderte war 1961 vielmehr die sehr viel weiter gespannte Forderung in das Gesetz aufgenommen worden, behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen eine »Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft« zu ermöglichen. Dies schloss dann auch ein deutlich weiteres Spektrum an Leistungen und Hilfeformen ein, als es den anderen Leistungsträgern vertraut war. Dass die Hilfen für Behinderte des BSHG damit über die Zielsetzung der anderen Träger erheblich hinaus gingen, galt ungeachtet des Umstandes, dass der § 39 Absatz 3 BSHG dann doch wieder primär die Absicht in den Vordergrund rückte, den Behinderten »die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen«. Der Katalog der Hilfen, die im BSHG als Maßnahmen der Eingliederungshilfe aufgelistet wurden (§ 40), sollte die »Grundvorschrift« des § 39 Abs. 3 konkretisieren. Die Eingliederungshilfe umfasste demnach Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Versorgung mit Prothesen und anderen Hilfsmitteln, Hilfen zur allgemeinen Schulbildung, zur beruflichen Ausbildung und beruflichen Rehabilitation oder zur Erlangung eines Arbeitsplatzes. Die Auflistung nach § 40 wurde jedoch nicht als abgeschlossener Katalog verstanden. Die Eingliederungshilfe war vielmehr offen für neue Entwicklungen, weitere Bedarfslagen und zusätzliche Hilfeansätze. Tatsächlich wies bereits die Kasuistik der Rechtsverordnung vom 27. Mai 1964, welche die Bundesregierung nach § 47 BSHG zu erlassen berechtigt war (und die als »Eingliederungshilfe-Verordnung« über die Jahr-
3
Das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 49 (1969), S. 243247, hier S. 244.
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zehnte mehrfache Änderungen und Neufassungen erfahren sollte), in der Art und im Umfang der Hilfen deutlich über den § 40 des Gesetzes hinaus.4 1974 sorgte der Bundestag bei der Novellierung des BSHG für eine semantische Auffrischung des Leitbildes. Nicht mehr wie bisher »die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern« war den Sozialhilfeträgern jetzt aufgetragen, sondern »den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern«. Wie undeutlich dabei auch geblieben sein mochte, worin genau die Neuerung des Eingliederungsauftrags gegenüber der vorherigen Fassung lag: 5 Es sollte sich jedenfalls um einen weiter gefassten Ansatz gesellschaftlicher Teilhabe handeln als zuvor, denn die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft wurde im § 39 Abs. 3 jetzt nur noch als ein Unteraspekt dieses neu formulierten Leitzieles aufgeführt.6 Im Bundestag betonte der FDP-Abgeordnete Herbert Christ, die Eingliederungsmaßnahmen in die Gesellschaft »sollten nicht nur gemessen werden an den Notwendigkeiten medizinischer oder beruflicher Rehabilitation, sondern künftig auch an dem allgemeinen menschlichen Bedürfnis des Behinderten nach einem intensiveren Kontakt mit seiner sozialen Umwelt.«7 Und der SPD-Experte für Behindertenpolitik, Eugen Glombig, sah in der neuen Regelung bezweckt, »daß die Sozialhilfe den Behinderten zum Beispiel bei der Pflege von Kontakten zu seinen Mitmenschen zu unterstützen hat.« Das hatte durchaus schon zuvor gegolten, wurde jetzt aber noch einmal besonders unterstrichen.8 Jedenfalls war der 1974 bei den Einzelmaßnahmen des Leistungskatalogs zusätz-
4
Hermann Gottschick/Dieter Giese: Das Bundessozialhilfegesetz. Kommentar. 4., neubearb. Aufl., Köln u.a. 1970, S. 245ff. (Eingliederungsverordnung nach dem Stand von 1967).
5
Dieter Giese: Das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, in: Zeitschrift für das Fürsorgewesen 26 (1974), H. 4, S. 73-83, hier S. 76.
6
Walter Schellhorn/Helmut Schellhorn: Das Bundessozialhilfegesetz. Ein Kommentar für Ausbildung, Praxis und Wissenschaft, 15. völlig überarb. Aufl. Neuwied/Kriftel/Berlin 1997, S. 331f.; Jonathan I. Fahlbusch: Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 BSHG – ein geschichtlicher Abriß, in: Michael Conty/Silvia Pöld-Krämer (Hg.), Recht auf Teilhabe. Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderungen, Bielefeld 1997, S. 19-44, hier S. 33-38.
7
Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 7. LP, 74. Sitzung vom 18.1.1974, S. 4675.
8
Ebd., 4670; vgl. den Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit des Deutschen Bundestags zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesssozialhilfegesetzes vom 14.1.1975, Deutscher Bundestag, 7. LP, Drucks. 7/1511, S. 3.
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lich eingefügte Auffangtatbestand des § 40 Abs. 1 Ziffer 8, nach dem zu den Maßnahmen der Eingliederungshilfe ebenso die Hilfe zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zählte,9 ohne ein Äquivalent im Leistungsrecht der anderen Sozialleistungsträger. Ein Beispiel für die Vorreiterrolle, welche die Eingliederungshilfe aufgrund ihres offenen Leistungsbegriffs und der schrittweisen Erweiterung ihres Leistungskatalogs ausübte, lag in der allmählichen Etablierung eines Netzes mobiler oder ambulanter, interdisziplinär ausgerichteter Frühförderungsstellen, insbesondere nachdem die BSHG-Novelle von 1974 das Maßnahmenspektrum der Eingliederungshilfe ausdrücklich um heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter waren, erweitert hatte (§ 40 Abs. 1 Nr. 2a).10 Das diente der möglichst frühzeitigen Förderung von Kindern, die von Geburt oder früher Kindheit an eine Behinderung hatten, und schuf hier anhaltend nahezu ein Monopol der Sozialhilfe als Kostenträger. Weitere Beispiele ließen sich hinzufügen. Anfang der achtziger Jahre wurden die Kosten einer Gesprächs- oder Verhaltenstherapie durch nicht-ärztliche Psychotherapeuten von der Eingliederungshilfe übernommen, nicht aber von der gesetzlichen Krankenversicherung.11 Die Besonderheiten der Eingliederungshilfe, die aus ihrem Fürsorgecharakter erwuchsen, bestimmten auch ihr Verhältnis zu den Leistungen der anderen Rehabilitationsträger, das als ein Verhältnis der Nachrangigkeit definiert war. Der Ausbau der medizinischen und beruflichen Rehabilitation bei den vorgeschalteten Trägern führte deshalb in den sechziger und siebziger Jahren zu einer gewissen Entlastung der Eingliederungshilfe, etwa durch die 1975 erfolgte Einbeziehung derjenigen Behinderten in die Kranken- und Rentenversicherung, die in Werkstätten für Behinderte beschäftigt waren oder in Heimen und Anstalten ein bestimmtes Maß an Arbeitsleistungen erbrachten. Andererseits blieb aber der
9
Vgl. Walter Schellhorn/Hans Jirasek/Paul Seipp: Das Bundessozialhilfegesetz. Ein Kommentar für Ausbildung, Praxis und Wissenschaft 11., ergänzte und überarb. Aufl. Neuwied/Darmstadt 1984, S. 192; Silvia Pöld-Krämer: Soziale Eingliederungshilfe – ihre Voraussetzungen, ihre Angebote, ihre Zielsetzung, in: Conty/Pödl-Krämer (1997), 45-68, hier 60-62.
10 Klaus Dörrie: Die vergessene Hilfe, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 143 (1996), S. 161-163, hier S .163; Klaus Lachwitz: Die Entwicklung der Eingliederungshilfe, in: impulse. Magazin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung Nr. 65, Feb. 2013, S. 10-14, hier S. 12. 11 Bernd Schulte/Peter Trenk-Hinterberger: Sozialhilfe. Eine Einführung, Königstein/Ts. 1982, S. 33.
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Bereich der sozialen Rehabilitation – in der Sprache des BSHG: der Hilfen zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft – auch auf längere Sicht eine Domäne der Sozialhilfe.12 Schon insofern war die Sozialhilfe weit mehr als nur ein punktueller Lückenbüßer im gegliederten System der Sozialstaatlichkeit: Die Eingliederungshilfe deckte vielmehr eine offene Flanke des gesamten Reha-Systems ab. Bei den Ansprüchen auf soziale Teilhabe, etwa bei Fragen der Lebensgestaltung in Bereich des Wohnens, der Erschließung des sozialen Nahraums oder der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, behielt die Eingliederungshilfe ihre sozialstaatliche Sonderstellung.13 Um ein Beispiel zu nennen: Im Jahr 2010 entschied das Bundessozialgericht, dass die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten für eine mobile Treppensteighilfe als Leistung zum mittelbaren (d.h. nicht unmittelbaren) Behinderungsausgleich nicht zu tragen habe und es sich dabei auch nicht um die Gewährleistung eines allgemeinen Grundbedürfnisses handele. Als Hilfsmittel nicht der medizinischen Rehabilitation, sondern der »Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft« seien hier andere Sozialleistungsträger gefragt – namentlich die Sozialhilfe. Sofern kein hinreichendes eigenes Einkommen oder Vermögen vorlag, sahen sich die Betroffenen hier also erneut auf die Eingliederungshilfe verwiesen.14 Hinzu kam ein Weiteres: Die Sozialhilfe blieb auch die zentrale Leistungsplattform für Menschen, die von Geburt an eine Beeinträchtigung besaßen und dauerhaft auf Hilfen angewiesen waren. Aufgrund der starken Anbindung des sozialen Sicherungssystems an die Erwerbsarbeit wurden diese von den vorgelagerten Rehabilitationsträgern oft nicht erfasst. Neben den von Geburt an Behinderten und Menschen mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen waren es zunehmend aber auch Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen, die zu den Kerngruppen der in der Sozialhilfe Leistungsberechtigten gehörten. Für sie blieb die Eingliederungshilfe meist die erste und einzige Anlaufstelle im gegliederten System. Man hat deshalb von den beiden ungleichen, »voneinander strikt getrennten Behindertenwelten« gesprochen: Auf der einen Seite die Menschen mit
12 Ebd., 248-253. 13 Wolfgang Schütte, Abschied vom Fürsorgerecht. Rechtliche und sozialpolitische Anforderungen an eine Reform der »Eingliederungshilfe«, in: Wolfgang Schütte (Hg.), Abschied vom Fürsorgerecht. Von der »Eingliederungshilfe für behinderte Menschen« zum Recht auf soziale Teilhabe, Berlin 2011, S. 17-58, hier S. 24. 14 Maria Wersig: Das Bundesteilhabegesetz – Ein Weg aus der Sozialhilfe? in: Kritische Justiz 49 (2016), S. 549-556, hier S. 550; Urteil des Bundessozialgerichts vom 7.10.2010, Az.: B 3 KR 13/09 R (https://www.jurion.de/urteile/bsg/2010-10-07/b-3kr-5_10-r/).
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körperlichen Behinderungen, die gewöhnlich dem allgemeinen Sozialrecht unterlagen und auf die vor allem das Schwerbehindertenrecht zielte. Sie waren Empfänger personenzentrierter Hilfen und zugleich die ursprünglichen Adressaten des Gleichstellungsgesetzes und des Postulats der Barrierefreiheit. Auf der anderen Seite die Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen, die auf die Eingliederungshilfe des Sozialhilferechts angewiesen waren, einem System einrichtungsbezogener Hilfen begegneten, im öffentlichen Bewusstsein aber eher ein Randdasein fristeten.15 Dass bei der Eingliederungshilfe nicht nur das Spektrum der Leistungen breiter abgesteckt, sondern auch der Kreise der anspruchsberechtigten Personen offener gestaltet war als bei den anderen Reha-Trägern, war Voraussetzung und zugleich Folge des Umstandes, dass die Eingliederungshilfe als Teilsystem der Sozialhilfe die Funktion eines untersten Auffangnetzes des sozialen Sicherungssystems übernahm. Auch wenn die Eingliederungshilfe gegenüber den Rehabilitationsleistungen aller anderen Sozialleistungsträger einen Nachrang besaß, waren ihre Aufwendungen im Ergebnis dann doch höher als diejenigen aller anderen, ihr vorgelagerten Teilbereiche des Sozialstaats. Die Eingliederungshilfe war nachrangig und universell zugleich. Der breiter angelegte gesellschaftliche Eingliederungsauftrag hatte allerdings nach dem Inkrafttreten des BSHG erst noch mühsam Realitätsgehalt gewinnen müssen. In der Praxis zeigte sich schnell, dass die abweichenden Finanzspielräume und die unterschiedlichen Gestaltungsambitionen der örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger auch zu sehr unterschiedlichen Angebots- und Leistungsprofilen führten. Das wurde schon früh registriert und hielt sich zwischen städtischen Metropolen und ländlichen Regionen bis in die Gegenwart durch. So betrug der »Ambulantisierungsgrad« der Hilfen – der Anteil der ambulant betreuten erwachsenen Leistungsberechtigten an allen erwachsenen Leistungsberechtigten der Eingliederungshilfe, die stationär oder ambulant wohnen – 2008 in Hamburg 55 Prozent, im Landschaftsverband Rheinland 44 Prozent, in den mehr ländlichen bayerischen Bezirken Mittelfranken und Oberpfalz oder in Sachsen-Anhalt hingegen nur 15 Prozent.16 Das Leitprinzip der Sozialhilfe, die Hilfsleistungen individuell nach den Besonderheiten des Einzelfalls zu bemessen, eröffnete dadurch, dass bei der Bedarfsermittlung
15 Fritz Baur: Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Deutschland. Perspektivische Darstellung mit einem Seitenblick in die Niederlande, in: Arbeit und Sozialpolitik 56 (2002), S. 23-32, hier S. 24f. 16 Kennzahlenvergleich der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2007 und 2008 (www.lwl.org/spur-download/bag/Endbericht 2007-2008.pdf), S. 40; vgl. Schütte (2011), 27.
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eine Ermessenskomponente ins Spiel kam, Umsetzungsspielräume in der Praxis der Sozialhilfeträger. Aus dem für die Sozialhilfe konstitutiven Nachrangprinzip hatte der Gesetzgeber im Übrigen die Folgerung gezogen, dass nicht nur die Hilfeempfänger selbst, sondern auch ihre Ehegatten und Eltern ihr Einkommen oder Vermögen einzusetzen hatten, wenn dies als zumutbar angesehen werden konnte. Dem Grundsatz nach nachrangig war die Eingliederungshilfe also nicht nur gegenüber den anderen Sozialleistungsträgern, ihr vorgelagert waren grundsätzlich auch die bestehenden Möglichkeiten zur Selbsthilfe und die elterliche Unterhaltspflicht. Als zumutbar galt der Einsatz von Einkommen nach dem BSHG dann, wenn dieses einen besonderen, gesetzlich geregelten Grenzbetrag überstieg – auch dann freilich war nur an einen Kostenbeitrag im »angemessenen Umfang« gedacht (BSHG § 84, Abs. 1). Ausgenommen vom Einsatz waren als Schonvermögen des Weiteren bestimmte Vermögensarten. Hierzu gehörte etwa ein »kleines Hausgrundstück«, sofern der Hilfeempfänger dort selbst oder zusammen mit Angehörigen wohnte (BSHG § 88, Abs. 2, Ziffer 7). In beiden Fällen, bei Einkommen wie bei Vermögen, ergaben sich aus der Unschärfe der gesetzlichen Vorgaben erneut beträchtliche Ermessensspielräume, damit zugleich Auslegungs- und Praxisunterschiede auf Seiten der Sozialhilfeträger und, etwa in der Frage des Hauseigentums, wiederholt auch Rechtstreitigkeiten vor den Verwaltungsgerichten.17 Insbesondere dann, wenn die Sozialhilfeträger wegen der Überlastung der öffentlichen Haushalte finanziell unter Druck gerieten, war dies ein Hebelpunkt, um auf eine restriktivere Hilfspraxis umzuschalten. Allerdings waren die Eltern von Kindern mit Behinderungen schon mit dem zweiten Änderungsgesetz zum BSHG von 1969 bedürftigkeitsunabhängig von der Beteiligung an der Aufbringung jener Mittel für die Eingliederungshilfen ausgenommen worden, die der Schul- und Ausbildung ihrer Kinder zugute kamen. Dies galt seit 1974 auch für die Mittel für heilpädagogische Maßnahmen.18 Im Zuge der Ein-
17 Wiltraud Thrust: Recht der Behinderten. Eine systematische Darstellung für Studium und Praxis, Weinheim/Basel 1980, S. 64f.; Klaus Lachwitz/Sabine Wendt: Die Grundprinzipien der Sozialhilfe im BSHG. Verfügungsmasse der Sparpolitik oder Garantie für eine sozialstaatsgerechte Behindertenhilfe, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 69 (1984), S. 364-370, hier S. 368f. 18 Gottschick/Giese (1970), 234f.; Horst Najda: Die Eingliederungshilfe und ihre Sicherung nach dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, in: Zeitschrift für das Fürsorgewesen 21 (1969), S. 322-324; Hermann Gottschick: Das Dritte Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes, in: Nachrichtendienst des Deut-
Die Eingliederungshilfe | 115
führung des SGB IX im Jahr 2001 wurde diese Abschwächung des Nachrangprinzips schließlich auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation (in erster Linie der interdisziplinären Frühförderung) und Leistungen der Teilhabe am Arbeitsleben und in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen ausgeweitet.19 Weiterhin abverlangt wurde den Eltern in diesen Fällen eine Eigenleistung zu den von der Sozialhilfe getragenen Kosten des Lebensunterhalts (nicht aber zu den Eingliederungsmaßnahmen). Das Nachrangprinzip blieb dennoch ein Stein des Anstoßes. Ein Erwerbstätiger, der wegen der Schwere seine Behinderung auf eine stationäre Einrichtung angewiesen war, musste etwa befürchten, dass er bei der Kostenbeteiligung an der Eingliederungshilfe bis auf ein freigelassenes »Taschengeld« sein gesamtes Einkommen einzusetzen hatte.20 Das SGB IX 2001 brachte eine Anzahl weiterer Neuerungen, während die Einführung des SGB XII, das 2005 in Kraft trat, die Eingliederungshilfe materiell kaum veränderte.21 Bereits seit 2004 gilt allerdings, dass Leistungsberechtigte auf Antrag Leistungen der Eingliederungshilfe auch als Teil eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets in Anspruch nehmen können; seit 2008 besteht hierauf ein Rechtsanspruch. Menschen mit Behinderungen, die ein Persönliches Budget beantragen, erhalten anstelle von Sach- und Dienstleistungen einen festen Geldbetrag (in Ausnahmefällen auch einen Gutschein), mit dem sie selbstbestimmt die notwendigen Sach- und Dienstleistungen selbst organisieren und bezahlen können. Von dieser Verwirklichungsform des im § 1 SGB IX verankerten Wunsch- und Wahlrechts wird einstweilen allerdings nur begrenzt Gebrauch gemacht. Im Jahr 2010 kamen nach einer bundesweiten Erhebung 18 Budgetnehmerinnen und -nehmer auf 1.000 Empfängerinnen und Empfänger von Eingliederungshilfe, darunter nur in seltenen Einzelfällen in der Form des trägerübergreifenden Budgets.22
schen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 54 (1974), S. 116-120, hier S. 117f. 19 Jan Castendiek/Günther Hoffmann: Das Recht der behinderten Menschen, 2. Aufl., Baden-Baden 2005, S. 68; Peter Trenk-Hinterberger: Die Rechte behinderter Menschen und ihrer Angehörigen, 35. Aufl., Düsseldorf 2007, S. 29f. 20 Das Beispiel nach Wolfgang Schütte: Abschied von der »Eingliederungshilfe«. Ein Leistungsgesetz zur sozialen Teilhabe für Menschen mit Behinderungen? Teil 1, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 92 (2012), S. 575-585, hier S. 580 21 Welke (2012), 251-253. 22 PROGNOS: Umsetzung und Akzeptanz des Persönlichen Budgets (Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), Basel 2012, S. 7f.
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II. Die Eingliederungshilfe gehörte von Beginn an zu den dynamischen Wachstumsbereichen der Sozialhilfe. Sowohl ihre Fallzahlen wie auch die Ausgabenposten stiegen von Jahr zu Jahr nahezu ununterbrochen an. Eine noch steilere Entwicklung nahm drei Jahrzehnte lang nur die Hilfe zur Pflege, ehe dieser Trend durch die Einführung der Pflegeversicherung 1996 durchbrochen wurde und zu einer deutlichen Entschärfung der Kostenbelastung führte. 1973 hatte die Zahl der Empfänger und Empfängerinnen von Eingliederungshilfe nach einer ersten Ausbauphase bei 134.834 gelegen, sich bis 1988 auf 262.896 verdoppelt, um sich dann nach dem Hinzutreten der neuen Bundesländer bis zur Jahrtausendwende noch ein weiteres Mal zu verdoppeln.23 2013 wurden schließlich 834.000 Personen gezählt, die Eingliederungshilfe bezogen; 24 seit den frühen siebziger Jahren hatten sich die Zahlen damit mehr als versechsfacht (in diese Steigerung war allerdings der Bevölkerungszuwachs im Zuge der Wiedervereinigung mit eingerechnet). Ähnlich verhielt es sich auf der Ausgabenseite. 1963, kurz nach dem Inkrafttreten des BSHG, hatte die Eingliederungshilfe lediglich 5 Prozent der Bruttoausgaben der Sozialhilfe in Anspruch genommen, 1979 waren es bereits 20 Prozent, zwanzig Jahre später, als die neue Pflegeversicherung die Sozialhilfe finanziell entlastete, 37 Prozent.25 Angesichts der hohen und unablässig steigenden Kostenanteile konnte es nicht verwundern, dass die kommunalen Spitzenverbände bei ihrer Suche nach möglichen Ansatzpunkten finanzieller Entlastung zunehmend die Eingliederungshilfe ins Visier nahmen –
(https://www.bag-ub.de/dl/projekte/pb/fb433-umsetzung-akzeptanz-persoenlichesbudget.pdf). 23 Fritz Baur: Eingliederungshilfe. Zahlen, Daten, Fakten – Hintergründe – Folgerungen. Referat anlässlich der Veranstaltung »CaseManagement in der Eingliederungshilfe« am 20.6.2005 in Kiel, S. 2 und Anhang 3B (www.bagues.de/spur-download/bag/baur 20062005.pdf); vgl. auch Rudolf Kraus: Entwicklung der Sozialhilfeleistungen 19631997 unter besonderer Berücksichtigung der Eingliederungshilfen für Behinderte, in: Behindertenrecht 1999, S. 65-77. 24 Statistisches Bundesamt: Statistik der Sozialhilfe. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen 2013, Wiesbaden 2015, S. 6. (www.destatis.de/DE/Publikationen/Thema tisch/Soziales/Sozialhilfe/Eingliederungshilfe_Behinderte5221301137004.pdf). 25 Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen. Zahlen & Daten aus der amtlichen Statistik. LWL-Statistik 2016/12 (http://www.lwl.org/002-download/statistik/zah len/eingliederungshilfe/Zusammenstellung_12_2016.pdf).
Die Eingliederungshilfe | 117
2013 beanspruchte sie 57 Prozent der Gesamtausgaben der Sozialhilfe.26 Die Eingliederungshilfe war aber nicht nur der stärkste Posten im Sozialhilfebudget. Auf sie fiel 2014 auch exakt die Hälfte der Gesamtausgaben für Rehabilitation und Teilhabe aller beteiligten Sozialleistungsträger: Seit langem hatte sie sich so zum wichtigsten Reha-Träger überhaupt entwickelt.27 Der kontinuierliche Anstieg von Aufwand und Fallzahlen der Eingliederungshilfe ließ sich auf ein ganzes Bündel von Faktoren zurückführen.28 Eine wesentliche Erklärung lag in der gestiegenen Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen, die ihrerseits wiederum eine Folge vor allem des medizinischen Fortschritts und der besseren medizinischen Versorgung war. Insbesondere Menschen mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen besaßen gegenüber früheren Zeiten höhere Überlebenschancen. Bedeutsam war zudem, dass durch die mörderische NS-Euthanasiepolitik die Zahlen bestimmter Behindertengruppen dramatisch verringert worden waren, weshalb der statistische Ausgangspunkt für die Nachfrage nach bestimmten Einrichtungen noch 1961 sehr niedrig gelegen hatte. Weiterhin fiel als ein eigener Erklärungsfaktor ins Gewicht, dass sich das Hilfs- und Infrastrukturangebot zunehmend erweitert hatte, deutlich ablesbar etwa an der zahlenmäßigen Entwicklung der Werkstätten für Behinderte. Das Wachstum von Angebot und Nachfrage bedingte sich wechselseitig. Und schließlich wirkte sich zunehmend auch der Umstand aus, dass das Eintrittsalter der Bewohner von betreuten Wohnangeboten im Durchschnitt merklich gesunken war. Menschen mit Behinderungen schieden früher aus der elterlichen Wohnung und Fürsorge aus und nahmen für eine längere Lebenszeit stationäre Wohnangebote in Anspruch. In einem Bericht über die »Sozialleistungen der Städte in Not« führte der Städtetag 2010 als Grund für den Ausgabenanstieg schließlich auch noch den Umstand ins Feld, »dass die Eingliederungshilfe zu-
26 Statistisches Bundesamt: Statistik der Sozialhilfe. Eingliederungshilfe für behinderte Menschen 2013, Wiesbaden 2015, S. 7 (www.destatis.de/DE/Publikationen/Thema tisch/Soziales/Sozialhilfe/Eingliederungshilfe_Behinderte5221301137004.pdf) 27 Peter Gitschmann: Reform der Eingliederungshilfe – Bundesteilhabegesetz, in Burkhard Küstermann/Mirko Eikötter (Hg.), Rechtliche Aspekte inklusiver Bildung und Arbeit. Die UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung im deutschen Recht, Weinheim/Basel 2016, S. 155-187, hier S. 158. 28 Schütte (2012), 577.; Rüdiger Robert/Wolfgang Schäfer: Eingliederungshilfe – Aufgabenwahrnehmung unter dem Vorzeichen kommunaler Finanznot, in: Rüdiger Robert/Paul Kevenhörster (Hg.), Kommunen in Not. Aufgaben- und Finanzverantwortung in Deutschland, Münster/New York 2004, S. 179-195, hier S. 186f.
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nehmend zum Ausfallbürgen für vorrangig zuständige, jedoch in ihrem Leistungsumfang in den vergangenen Jahren verringerte Systeme wird.«29 Die Gewichte zwischen den einzelnen Maßnahmenarten hatten sich über die Jahrzehnte merklich verschoben. Differenziert nach Art der Maßnahmen stand in einer frühen statistischen Erhebung Mitte der sechziger Jahre rund ein Drittel der Empfängerinnen und Empfänger von Eingliederungshilfe in ärztlicher Behandlung, wurden zwei Fünftel mit Prothesen und anderen Hilfsmitteln versorgt und erhielt ein Fünftel Hilfen zur Schulbildung.30 Mit der Expansion der Eingliederungshilfe sollte sich ihr Leistungsprofil in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verändern; immer mehr beherrschten nun die Hilfen zur Beschäftigung in Werkstätten und die Hilfen zum Wohnen das Bild. Während noch zum Beginn der 1980er Jahre mehr Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zur Schulbildung gezählt wurden als zur Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte, verhielt es sich 1986 bereits umgekehrt (was erst recht dann für die Ausgabenhöhe galt).31 Den Stand im Jahr 1998 verdeutlicht die folgende nach Hilfearten untergliederte Statistik:32
29 Deutsche Städtetag: Sozialleistungen der Städte in Not. Zahlen und Fakten zur Entwicklung kommunaler Sozialausgaben, Berlin und Köln 2010, S. 20. 30 Eingliederungshilfe für Behinderte. Ergebnis der Zusatzstatistik 1966. In: Wirtschaft und Statistik 1968, S. 172-174. 31 Zweiter Bericht der Bundesregierung über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, S. 39f. (Deutscher Bundestag Drucks. 11/4455 vom 2.5.1989). 32 Nach Thomas Haustein: Ergebnisse der Sozialhilfe- und Asylbewerberleistungsstatistik 1998, in: Wirtschaft und Statistik 2000, S. 443-455, hier S. 449. Mehrfachzählungen konnten bei der Auswertung der Daten nicht vollständig ausgeschlossen werden. Die Summe der Maßnahmen bei den einzelnen Hilfearten ist deshalb höher als die Zahl der Empfängerinnen und Empfängern insgesamt.
Die Eingliederungshilfe | 119
Hilfeart
Hilfen zur Berufsausbildung, Fortbildung, Arbeitsplatzbeschaffung Suchtkrankenhilfe ärztliche Behandlung, Köperersatzstücke und Hilfsmittel Hilfen zur Schulbildung heilpädagogische Maßnahmen für Kinder Hilfen zur Beschäftigung in Werkstätten für Behinderte sonstige Hilfen (überwiegend Hilfen zum Wohnen) Eingliederungshilfe insgesamt
1) insgesamt
2) in Einrichtungen
Anteil von 3) an 1)
absolut 3.528
3) außerhalb von Einrichtungen absolut 2.183
absolut 5.701
Anteil 1%
22.474 41.330
5% 8%
20.174 25.167
2.393 16.378
11% 40%
44.349
9%
37.243
7.171
16%
93.469
19%
37.455
56.708
61%
165.354
33%
165.354
-
0%
178.868
36%
135.395
44.631
25%
494.925
100%
372.260
126.736
26%
Anteil 38%
Im Jahr 2013 hatte sich gegenüber 15 Jahren zuvor nur insofern etwas geändert, als der Anteil der Hilfen zum Wohnen noch weiter gestiegen war. Der Großteil der Leistungen fiel auch weiterhin auf die drei Gruppen der Empfängerinnen und Empfänger von Hilfe zum selbständigen Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten
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(46 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger von Eingliederungshilfe),33 von Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen (33 Prozent) und von heilpädagogischen Leistungen (20 Prozent).34 Der Kostenaufwand, der unter dem Dach der Eingliederungshilfe für die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben entstand, war rückläufig (von 327 Mio. Euro 2005 auf 61 Mio. Euro 2015), der Aufwand für Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft stieg gewaltig: von 5,1 Mrd. Euro 2005 auf 10,7 Mrd. Euro 2015.35 Der gesetzliche Ausbau der Eingliederungshilfe hatte mit den beiden BSHGNovellen von 1969 und 1974 seinen Höhepunkt erreicht. Dann begannen sich die Vorzeichen der Debatte langsam umzukehren: statt Ausbau der Leistungen ging es nun zunehmend um die Eindämmung der Ausgaben. Namentlich in den frühen achtziger Jahren machte der steile Kostenanstieg die Eingliederungshilfe zur Zielscheibe für Sparbestrebungen. Die kommunalen Spitzenverbände begaben sich auf die Suche nach Ansatzpunkten für einen Rückbau.36 Die sozialliberale Bundesregierung sah einen solchen im § 43 Abs. 2 des BSHG, der die Einstandspflicht der Eltern für die Kosten stationärer Unterbringung bei Minderjährigen abschwächte. Tatsächlich fiel die Regelung des § 43 Abs. 2, nach der die Eltern zu den Kosten des in einer Einrichtung gewährten Lebensunterhalts nur in der Höhe der für den häuslichen Lebensunterhalt ersparten Aufwendungen beizutragen hatten,37 im Dezember 1981 der Sparpolitik des Gesetzgebers zum Opfer.38 Die Rotstift-Aktion musste freilich schon im Jahr darauf wieder rückgän-
33 Bei genauer Betrachtung lagen die Anteilswerte der Leistungsempfängerinnen und empfänger bei 25 Prozent für Hilfen zum Wohnen in Wohneinrichtungen, 19 Prozent in eigenen Wohnungen und 3 Prozent in Wohngemeinschaften. 34 Statistisches Bundesamt: Sozialleistungen. Empfänger und Empfängerinnen von Leistungen nach dem 5. bis 9. Kapitel SGB XII 2013, Wiesbaden 2015, S. 20 (www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Soziales/Sozialhilfe/SozialhilfeLeistu ngenSGB2130230137004.pdf). 35 BAR-Report
Kompakt:
BAR-Statistik
2016
(https://www.bar-frankfurt.de/file
admin/dateiliste/rehabilitation_und_teilhabe/DatenundFakten/downloads/BAR-Sta tistik2016Kompakt.06.pdf). 36 Vgl. allg. Wolfgang Jaedicke u.a.: Lokale Politik im Wohlfahrtsstaat. Zur Sozialpolitik der Gemeinden und ihrer Verbände in der Beschäftigungskrise, Opladen 1991, S. 58-72; Lachwitz/Wendt (1984). 37 Petersen (1978), S. 128f. 38 Schellhorn/Schellhorn (1997), 364; Peter Trenk-Hinterberger: Sozialhilfe, in: Martin H. Geyer (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6: 1974-
Die Eingliederungshilfe | 121
gig gemacht werden, nachdem die Behindertenverbände massiven Protest erhoben hatten und auch die verantwortlichen Sozialpolitiker zu der Einsicht gelangt waren, dass die Abbaumaßnahme weder als sinnvoll noch als gerecht angesehen werden konnte.39 Das Gros der Aufwendungen für die Eingliederungshilfe bezog sich auf den stationären und teilstationären Bereich. Noch 2003 entfielen 93 Prozent ihrer Ausgaben auf Hilfen innerhalb von Einrichtungen, nur 7 Prozent auf Hilfen außerhalb von Einrichtungen.40 Unter dem Eindruck der wachsenden Kosten, die mit den stationären Hilfen verbunden waren, hatten die kommunalen Spitzenverbände allerdings zunehmend dem Gedanken etwas abzugewinnen vermocht, fortan stärker auf den Ausbau der finanziell gemeinhin günstigeren ambulanten Hilfen zu setzen. Die Sozialhilfeträger hatten bei einer solchen Neuausrichtung der Hilfeleistungen indes mit der institutionellen Trägheit der vorhandenen Infrastrukturen und dem Beharrungsvermögen der Einrichtungsträger zu rechnen, weshalb hier an ein schnelles Umschalten zumeist nicht zu denken war. Immerhin war schon 1984 im BSHG einen Vorrang der ambulanten vor den stationären Hilfen verankert worden (BSHG § 3a), womit sich nun allerdings auf eine paradoxe Weise der Umstand bemerkbar machte, dass ambulante und stationäre Hilfen, geregelt durch die Ausführungsgesetze der Länder, meist in der Zuständigkeit unterschiedlicher Träger lagen – die ersten bei den örtlichen, die zweiten bei den überörtlichen Trägern. Das aber bedeutete, dass Städte und Landkreise, die als örtliche Träger ambulante Strukturen zu schaffen beabsichtigten, finanziell nicht etwa sich selber, sondern die überörtlichen Träger entlasteten. 41 Die Kommunen waren insofern aus einer rein fiskalischen Sicht besser beraten, einen Be-
1982 – Bundesrepublik Deutschland: Neue Herausforderungen, wachsende Unsicherheiten, Baden-Baden 2008, S. 605-635, hier S. 626. 39 Schellhorn/Jirasek/Seipp (1984), 197f.; Lachwitz/Wendt (1984), 364 und 368; vgl. auch Schulte/Trenk-Hinterberger (1982), S. 262. 40 Eckhard Rohrmann: Ambulant oder stationär. Unterstützung behinderter Menschen im Rahmen der Eingliederungshilfe (Vortrag am 15. April 2005 in Kassel), S. 3 (www.forsea.de/aktuelles/Ambulant oder stationaer.pdf). 41 Schellhorn/Jirasek/Seipp (1984), 50f.; Johannes Schädler/Albrecht Rohrmann: Zuständigkeitsregelungen und Reformperspektiven für wohnbezogene Hilfen für Menschen mit Behinderungen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 89 (2009), S. 229-236, hier S. 230; Sabine Wendt: Ambulant vor stationär: Reformbedarf für die Rechtsgrundlagen ambulanter Dienste der Eingliederungshilfe, in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch 39 (2000), S. 195-200, hier S. 196.
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darf an ambulanten Angeboten zu verneinen. Einer zügigen Ambulantisierung war dies nicht eben förderlich. In den Landtagen wurde deshalb die Frage erörtert, ob die Zuständigkeit für die ambulanten Hilfen auf die überörtlichen Träger hochgezont oder umgekehrt die Verantwortung für die stationären Hilfen auf die örtlichen Träger übertragen werden sollte.42 Nach den Zahlen, die der Vierte Behindertenbericht der Bundesregierung mitteilte, hat sich in den Relationen zwischen den Personen, die Eingliederungshilfe innerhalb stationärer und teilstationärer Einrichtungen erhielten, und denen, die Hilfe außerhalb solcher Einrichtungen empfingen, zwischen 1980 und 1995 nichts verändert; in absoluten Zahlen sind die stationären Hilfen in diesem Zeitraum sogar weit stärker gestiegen als die ambulanten.43 Der Bundesgesetzgeber hat schließlich aus dem Anreizdilemma – und um die Reibungen an den zahlreichen Schnittstellen zwischen überörtlichen und örtlichen Trägern zu eliminieren – die Konsequenz gezogen, in der Sollbestimmung des § 97 Abs. 2 des SGB XII so weit wie möglich eine einheitliche sachliche Zuständigkeit zu fordern, die genauer zu bestimmen allerdings Sache der Landesgesetzgebung blieb. Solange der Landesgesetzgeber nicht anders entschied, verortete das SGB XII sie im Fall der Eingliederungshilfe bei den überörtlichen Trägern (§ 97 Abs. 3). 1996 war der Vorrang ambulanter Hilfen überdies unter Kostenvorbehalt gestellt worden, nachdem sich gezeigt hatte, dass ambulante Hilfen als professionelle Dienstleistung nicht durchweg kostengünstiger sein mussten. 44 Das machte noch einmal den Primat der Kostengesichtspunkte deutlich, unter dem die Einführung des Vorrangs ambulanter Hilfen aus der Sicht des Gesetzgebers gestanden hatte. Bei unverhältnismäßigen Mehrkosten entfiel der Vorrang, wobei zuvor jedoch die Zumutbarkeit der Leistung für eine stationäre Einrichtung zu prüfen war.45 Immerhin haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten die Gewichte zwischen stationären und ambulanten Einrichtungen dann doch zunehmend ver-
42 Vgl. z.B. Stenographische Berichte des Bayerischen Landtages, 12. LP, 50. Sitzung vom 5. Mai 1992, S. 3213-3215. 43 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, Bonn 1998, S. 118. 44 Manfred Streppel: Die Änderungen des Bundessozialhilfegesetzes durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 69 (1984), S. 130-140. 45 Johannes Schädler: Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe unter Bedingungen institutioneller Beharrlichkeit: Strukturelle Voraussetzungen der Implementation Offener Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung, Diss. Siegen 2002 (http://www. ub.uni-siegen.de/pub/diss/fb2/2002/schaedler/schaedler.pdf), S. 128-137.
Die Eingliederungshilfe | 123
schoben. So war die Eingliederungshilfe 1996 lediglich für knapp ein Viertel der Empfängerinnen und Empfänger außerhalb von Einrichtungen erbracht worden (102.000 gegenüber 321.000 innerhalb stationärer Einrichtungen). Eineinhalb Jahrzehnte später standen nunmehr 533.000 Empfängerinnen und Empfängern in Einrichtungen immerhin 390.000 außerhalb gegenüber.46 Um den finanziellen Druck von den Kommunen zu nehmen, war in den Debatten wiederholt der Gedanke angeklungen, die Eingliederungshilfe aus dem BSHG herauszulösen und den Kostenaufwand auf andere Schultern zu verlagern. Schon 1973 hatte die CDU/CSU-Opposition im Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, »den Entwurf eines Leistungsgesetzes für Behinderte vorzulegen mit der Zielsetzung, das Leistungsrecht für Behinderte aus dem Bundessozialhilfegesetz herauszunehmen und die vorgesehenen Leistungen unabhängig von Einkommens- und Vermögensverhältnissen der Betroffenen und ihrer Familien zu gewähren.«47 Im Jahr darauf rief ein Redner der Unionsfraktion bei der Suche nach Entlastungsmöglichkeiten für die Sozialhilfe das Ansinnen noch einmal in Erinnerung: »Die Herauslösung der Behindertenfürsorge aus der Sozialhilfe und die Schaffung eines eigenen Leistungsgesetzes wären eine solche Entlastung.«48 Solche Stimmen wurden wenn überhaupt, dann stets von den Bänken der Opposition aus laut, nicht aus den Reihen der Ministerien, wo die Idee einstweilen keinen Anklang zu finden vermochte. Immerhin, es waren dies nicht die einzigen Stimmen, die auf eine solche Neuordnung drangen. Wie Ende der 1980er Jahre berichtet wurde, forderten auch die Eltern von Behinderten »vermehrt die Einführung eines Rehabilitationsgesetzes, um die Unabhängigkeit der Förderung behinderter Menschen vom Bundessozialhilfegesetz zu gewährleisten.«49 Ihnen wie auch den Sprechern der Behindertenbewegung ging es darum, die sozialrechtliche Stellung der Menschen mit Behinderung zu stärken – die Zugehörigkeit der Eingliederungshilfe zum Aufgabenkreis der Sozialhilfe behielt aufgrund des Grundprinzips der Nachrangigkeit ihren Stachel. Dennoch, als 1995 eine Mitgliederversammlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge die »Zukunft der Sozialhilfe« diskutierte, hieß
46 René Geißler/Friederike-Sophie Niemann: Kommunale Sozialausgaben – Wie der Bund sinnvoll helfen kann, Gütersloh 2015, S. 52f. 47 Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Behindertengesetz vom 11.5.1973, Deutscher Bundestag 7. LP, Drucks. 7/553. 48 Abg. Geisenhofer, Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 7. LP, 74. Sitzung vom 18.1.1974, S. 4667. 49 Horst Hüther: Die Einkommenssituation in Werkstätten für Behinderte, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 136 (1989), S. 313-315, hier S. 315.
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es eher beiläufig, dass ein eigenständiges Leistungsgesetz für Behinderte aus Kostengründen einstweilen aussichtslos sei.50 Wie auf anderen Sozialpolitikfeldern auch hat der Einigungsprozess seit 1989 die behindertenpolitischen Reformdebatten eher verzögert als beschleunigt.51 Die CDU-FDP-Bundesregierung, in deren Reihen das Plädoyer der CDU für ein Leistungsgesetz aus den 1970er Jahren in Vergessenheit geraten war, beteuerte in ihrem Bericht über »Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation« von 1998 noch einmal ihre grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber dem, wie es hieß, inzwischen »immer wieder« geforderten besonderen Leistungsgesetz für Behinderte. »Sachliche Gründe« für eine Verschiebung der Kostenlasten, die auf eine Beteiligung des Bundes hinaus laufen würde, erschienen der Bundesregierung »nicht ersichtlich«. Etwaige Ansprüche auf einen »Nachteilsausgleich« durch den Staat ließen sich aus ihrer Sicht weder aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes ableiten noch auch aus anderen rechtlichen Prämissen begründen. Im Übrigen, so las man weiter, würden »Sozialleistungen ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen, ohne Eigenleistung und ohne Rücksicht auf den individuellen Bedarf […] das Finanzierbare nicht nur der gegenwärtigen Finanzsituation der öffentlichen Hand übersteigen.«52 Fahrt nahm die Diskussion über die Reform der Eingliederungshilfe allmählich erst wieder seit den späten neunziger Jahren auf, als die von einzelnen Behindertenverbänden am Leben gehaltene Forderung nach einem Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung von den Oppositionsbänken aus neu belebt wurde. Die PDS stellte 1997 im Bundestag den Antrag, die Bundesregierung zur Vorlage eines solchen Gesetzes aufzufordern, biss damit aber bei den Koalitionsfraktionen wie auch bei der SPD-Opposition auf Granit.53 Das steuerfinanzierte Leistungsgesetz, das auf dem Gedanken des Nachteilsausgleichs fußen sollte, hätte die Leistungen der Eingliederungshilfe von den Fesseln des Nachrangprinzips zu befreien gehabt. Im Wahlkampf 1998 wurde ein solches Leistungsgesetz
50 Dörrie (1996), 161. 51 Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006. 52 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, Bonn 1998, S. 146. 53 Antrag der Gruppe der PDS: Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderungen vom 9.9.1997, Deutscher Bundestag, 13. LP, Drucks. 13/8477; Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 6.5.1998, 13. LP, Drucks. 13/10608.
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auch im Wahlkampfprogramm der Grünen gefordert. 54 Und auch aus den Reihen der oppositionellen SPD war im Bundestag ein Plädoyer für ein eigenes Leistungsgesetz für Behinderte zu vernehmen, »damit die Diskriminierung, im Leistungsbereich des Bundessozialhilfegesetzes leben zu müssen, beendet wird.«55 Doch obwohl die neue rot-grüne Bundesregierung gesetzgeberisch ansonsten einen behindertenpolitischen Reformkurs einschlug, verschwand das Leistungsgesetz wieder von der Agenda, 56 sobald die beteiligten Parteien die Oppositionsgegen die Regierungsbänke getauscht hatten und die SPD nun sowohl den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung wie auch den Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen stellte.57
III. Da an dieser Stelle nicht alle Leistungsarten der Eingliederungshilfe genauer betrachtet werden können, soll zumindest eine der beiden hauptsächlichen Spielformen, die Hilfen zur Beschäftigung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, etwas näher beleuchtet werden. Neben dem ersten Arbeitsmarkt mit seinen wachsenden Integrationsproblemen hatte sich seit den siebziger Jahren ein zweiter, behindertenspezifischer Arbeitsmarkt entwickelt, institutionalisiert in den wettbewerbsgeschützten »Werkstätten für Behinderte«. Mitte der 1970er Jahren arbeiteten hier ungefähr
54 Bündnis 90/Die Grünen: Grün ist der Wechsel. Programm zur Bundestagswahl 1998, April 1998, S. 79 (www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Bilder/Redaktion/30_Jahre _-_Serie/Teil_21_Joschka_Fischer/Wahlprogramm_Bundestagswahl1998.pdf). 55 Abg. Karl Hermann Haack, Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 13. LP, 113. Sitzung vom 20. Juni 1996, S. 10109. 56 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Claudia Nolte etc. vom 21.12.1999, Deutscher Bundestag, 14. LP, Drucks. 14/2447. 57 Zum Rollentausch gehörte dann auch, dass nun die oppositionelle Unionsfraktion im Bundestag ihre Vorliebe für ein Leistungsgesetz wiederentdeckten und beklagten, dass die rot-grüne Regierung das Ziel, die Eingliederungshilfe aus dem BSHG herauszunehmen, inzwischen aufgegeben habe, wiewohl doch die Eingliederungshilfe als »Überbleibsel der Geschichte« dort nichts verloren habe (Abg. Claudia Nolte, Stenographische Berichte des Deutschen Bundestags, 14. LP, 165. Sitzung vom 6. April 2001, S. 16115).
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35.000 Personen,58 Ende 1996 rund 150.000,59 2007 schließlich 275.492 Menschen mit Behinderungen.60 In den achtziger Jahren handelte es sich bei dem Großteil der Beschäftigten (etwa 70 bis 80 Prozent) um Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen;61 hinzu kamen Menschen mit schweren Körperbehinderungen, Mehrfachbehinderungen und immer mehr dann auch Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen. Abgesehen von einem beträchtlichen Zuwachs an Menschen mit seelischen Behinderungen in den Werkstätten, änderte sich an dieser personellen Struktur wenig. 2006 wiesen von den im Arbeitsbereich der Werkstätten Beschäftigten 70% eine vorrangig geistige Behinderung, 17% eine seelische und 6% eine Körperbehinderung (einschließlich Sinnesbehinderung) auf; jeweils 3,5% besaßen eine Lernbehinderung oder waren schwerstmehrfachbehindert. 62 Zuständig für die institutionelle Förderung, also für Bau, Ausbau und Einrichtung der Werkstätten, waren in erster Linie die überörtlichen Träger der Sozialhilfe, in geringerem Maße – und vorrangig auf Darlehensbasis - auch die Träger der Arbeitsverwaltung; hinzu kamen Mittel der Länder, der Hauptfürsorgestellen und des Ausgleichsfonds. Ähnlich verhielt es sich bei den laufenden Kosten, die primär von der Sozialhilfe, in bescheidenerem Umfang, nämlich maximal zwei Jahre für die Beschäftigung im Eingangsbereich und während des
58 Erich Dahlinger: Die Werkstatt für Behinderte. Anerkennungsverfahren und Finanzierungshilfen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 59 (1979), S. 72-76, hier S. 72. 59 Horst H. Cramer: Werkstätten für Behinderte. Die Rechtsgrundlagen, 2. Aufl., München 1997, S. 5. 60 Behindertenbericht 2009. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode, Bonn 2009, S. 60. 61 Hanno Schlage: Aufbau, Struktur und Organisation von außerbetrieblichen Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation. Eine sozialwissenschaftliche Studie, Bochum 1981, S. 80; für die 1990er Jahre: Dietrich Anders: Die Werkstatt für Behinderte – der andere Weg ins Arbeitsleben, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Handbuch Integration und Ausgrenzung. Behinderte Menschen in der Gesellschaft, Neuwied u.a. 1996, S. 547562, hier S. 555. 62 Winfried Detmar u.a. (ISB - Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik): Entwicklung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen (Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), Berlin 2008, S. 5 und 58 (/www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDFPublikationen/forschungsbericht-f383.pdf?__blob=publicationFile&v=2).
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Arbeitstrainings, von der Bundesanstalt für Arbeit getragen wurden. 63 Letzteres galt insbesondere, seitdem 1979 die problematische Einschränkung weggefallen war, dass die Arbeitsverwaltung nur für solche Behinderte die Kosten übernahm, die mindestens ein Drittel der Arbeitsleistung eines Nicht-Behinderten erbrachten.64 Im Wesentlichen finanzierten sich die Werkstätten jedoch über die Individualleistungen der Sozialhilfeträger; im Jahr 2010 zum Beispiel förderte die Eingliederungshilfe zehnmal so viele in den Werkstätten beschäftigte Leistungsempfängerinnen und -empfänger wie die Bundesagentur für Arbeit.65 Zwischen Werkstatt- und Sozialhilfeträgern war es dabei längere Zeit zu Konflikten in der Frage gekommen, welchen Anteil an den Werkstattkosten die Eingliederungshilfe zu leisten hatte und welchen hingegen die Werkstätten selbst aus den Arbeitsergebnissen erwirtschaften sollten. Die BSHG-Novelle von 1996 traf hier schließlich nähere Regelungen und nahm die Sozialhilfeträger in die Pflicht.66 Die Produktionsergebnisse der Werkstätten, wie von ihrer Seite angestrebt, für die Minderung der Kostensätze zu gebrauchen, die die Träger erbringen mussten, war jetzt nicht mehr zulässig. Für Menschen mit Behinderungen bestand im Übrigen seit 1996 ein Rechtsanspruch auf Hilfe zur Beschäftigung in einer Werkstatt.67 In den siebziger Jahren war des Weiteren ein lebhafter Streit über die Konzeption der Werkstätten entbrannt. Dabei standen sich zwei Modelle gegenüber, von denen das eine mehr arbeits- und produktionsorientiert, das andere stärker sozialpädagogisch-therapeutisch ausgerichtet war. Beide Konzepte reproduzierten die spezifischen Problemsichten der beteiligten Träger. Die Arbeitsverwaltung favorisierte einen arbeits-, leistungs- und produktionsorientierten Ansatz, der insbesondere auf als »grenzproduktiv« angesehene Personen mit Behinderungen zielte; die Mehrzahl der Werkstatt-Träger verfocht einen so-
63 Dahlinger (1979). 64 Ergebnisniederschrift über die 18. Sitzung des Beirats für die Rehabilitation der Behinderten am12.6.1981, Anlage 2: Wortprotokoll des von MD Trometer gegebenen Berichts über aktuelle sozialpolitische Fragen, BArch B 149/79652; zur vorherigen Kritik der Werkstätten an dieser Regelung vgl. H. Goldmann/H. Götte/E. Simsa: Einheitlicher Anspruch auf volle Rehabilitation im Rahmen der Werkstätten für Behinderte in Gefahr?, in: Lebenshilfe 16 (1977), S. 76-83. 65 Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung, Bonn 2013, S. 301f. 66 Cramer (1997), 18-25. 67 Ebd., 21-23.
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zialpädagogisch-therapeutischen Ansatz, der einen größeren Kreis an Betroffenen zu erreichen suchte, darunter eben auch solche, die – gemessen an der durchschnittlichen Produktivität eines »Normalarbeiters« – nur über eine geringe Leistungskraft verfügten68. Das Bundesarbeitsministerium schlug sich eine Zeit lang eher auf die Seite der Arbeitsverwaltung. Das Schwerbehindertengesetz von 1974, in dem die Institution der Werkstatt für Behinderte erstmals näher gesetzlich definiert worden war, hatte deren Konzeption nur in sehr groben Zügen umschrieben, zugleich aber die Bundesregierung beauftragt, entsprechende Bestimmungen auf dem Verordnungsweg zu treffen. Das erwies sich als ein langwieriges und schwieriges Unterfangen, bei dem die kontrastierenden Leitbilder erneut auf einander prallten. Ein erster Referentenentwurf stieß 1977 bei den Werkstatt-Trägern auf breite Ablehnung, da er wirtschaftlichen Gesichtspunkten gegenüber sozialpädagogischen den Vorrang gab und die leistungsschwächsten Behinderten von der Förderung auszuschließen drohte.69 Die »Werkstättenverordnung« von 1980 regelte dann schließlich in der Art eines Kompromisses den zu fördernden Personenkreis sowie die Mindestanforderungen an die Werkstätten, welche die Binnenstruktur, Personalausstattung und Wirtschaftsführung betrafen.70 Die Sorge vor dem Übergewicht eines Denkens in »Wirtschaftlichkeits- und Produktivitätskategorien« war damit jedoch keineswegs aus der Welt geschafft.71 Wollten die Werkstätten Aufträge auf dem freien Markt akquirieren oder den nötigen Erlös erzielen, um ein angemessenes Entgelt auszahlen zu können, unterla-
68 Vgl. Albert Haaser: Zielkonflikte und Interessengegensätze in der Werkstatt für Behinderte, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 53 (1973), S. 122-127; Karl Rother: Die Werkstatt für Behinderte aus sozialpolitischer, pädagogischer und ökonomischer Sicht, in: ebd. 56 (1976), S. 272-276. 69 Referentenentwurf einer Dritten Verordnung zur Durchführung des Schwerbehindertengesetzes (Werkstättenverordnung Schwerbehindertengesetz – SchwbWV), 10.1. 1977; BArch (Bundesarchiv Koblenz) B 149, Nr. 50898; dazu kritisch: Für die ›Lebenshilfe‹ unannehmbar, in: Lebenshilfe 16 (1977), S. 65-67; Heinz Bach: Krise der Werkstatt für Behinderte, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 28 (1977), S. 164-169. 70 Horst H. Cramer: Neue Rechtsgrundlage, in: Bundesversorgungsblatt. Auszug aus dem Bundesarbeitsblatt 11 (1980), S. 1-7; Erich Dahlinger: Die Werkstättenverordnung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 61 (1981), S. 12-17. 71 Nationale Kommission für das Internationale Jahr der Behinderten 1981: Schlussbericht der Arbeitsgruppe 5: Beschäftigung von Behinderten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und in Werkstätten für Behinderte, S. 19, BArch B 189, Nr. 48145.
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gen sie schnell dem Zwang, möglichst wirtschaftlich zu produzieren. Hinzu trat das Problem, dass die Werkstätten immer mehr als Abstellgleis für Behindertengruppen angesehen wurden, deren Leistungsvermögen sich bisher noch an der Grenze zur Aufnahmefähigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts bewegt hatte. Die Zielsetzung, Übergangsmöglichkeiten in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, blieb, wie früh schon deutlich wurde, eine Chimäre.72 Auch die seit der Jahrtausendwende rechtlich besser abgesicherten und vermehrt geförderten Integrationsprojekte und -unternehmen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angesiedelt waren und in denen Menschen mit und ohne Schwerbehinderung zusammenarbeiten, haben hier keinen grundsätzlichen Wandel geschaffen. 2010 waren hier 7.551 Schwerbehinderte beschäftigt.73 Für anhaltende Konflikte und beträchtlichen Unmut sorgte über die 1996 verabschiedete Werkstättenreform hinaus schließlich auch der Umstand, dass die Rechtsstellung der in den Werkstätten Beschäftigten und ihre Entlohnung unbefriedigend geregelt blieb. 1991 lag der durchschnittliche Lohn, der aus dem Umsatz der Werkstätten erwirtschaftet werden musste, bei gerade einmal 246 DM (also rund 123 Euro) im Monat pro Werkstattangehörigen.74 Eine Entlohnung, die die Beschäftigten unabhängig von materieller Unterstützung der Sozialhilfe gemacht hätte – wie es etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten, aber auch der Alternative Werkstättentag seit den achtziger Jahren gefordert hatte75 –, konnte nicht entfernt erreicht werden.
IV. Lediglich ein sehr geraffter Ausblick kann hier abschließend auf die Reformdebatten zur Eingliederungshilfe geworfen werden, die mit der 2016 erfolgten Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes einen vorläufigen Abschluss gefunden haben – ohne damit aber, soviel lässt sich vorhersagen, zugleich auch an ihr Ende gelangt zu sein. In den Nullerjahren standen zunächst mehrere Gedankenmo-
72 Mario Schreiber: Teilhabe am Arbeitsleben. Die Werkstatt für behinderte Menschen aus Sicht der Beschäftigten, Wiesbaden 2017, S. 62. 73 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013), S. 140 74 Karl Hermann Seyl: Die Bedeutung der Werkstätten für Behinderte, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Handbuch Integration und Ausgrenzung. Behinderte Menschen in der Gesellschaft, Neuwied u.a. 1996, S. 536-546, hier S. 539. 75 Alternativer Werkstättentag, in: die randschau 3 (1988/89), Nr. 5/6, S. 19-22; Hüther (1989).
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delle für eine Reform der Eingliederungshilfe zur Diskussion: ein Ansatz, der die Loslösung aus dem Sozialhilferecht und Einfügung in das neue Sozialgesetzbuch IX favorisierte, möglichst unter Kostenübernahme durch den Bund, ein weiterer, der ihre Überführung in ein eigenes »Bundesteilhabegesetz« propagierte, mit einem Bundesteilhabegeld als Nachteilsausgleich, und wieder ein anderer, der die Schaffung eines eigenen, breit angelegten und bundeseinheitlichen Leistungsgesetzes für Menschen mit Behinderungen befürwortete. Die lange Zeit allenfalls sporadisch geführte, eher von einzelnen, bruchstückhaften Wortmeldungen geprägte Debatte hatte in den Nullerjahren allmählich schärfere Konturen anzunehmen begonnen. Eine vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge eingesetzte Arbeitsgruppe zu »Finanzierungsfragen der Eingliederungshilfe« erarbeitete 2003 eine Stellungnahme, die aus dem Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe und aus den verschärften Finanzierungsproblemen, die den Kommunen daraus erwuchsen, die Schlussfolgerung zog, es sei nun an dem Bundesgesetzgeber, aktiv zu werden und die Eingliederungshilfe zu einem eigenen Leistungsrecht für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln. Nicht um Fürsorge in einem herkömmlichen Sinne drehe es sich hier, so der systemlogische Begründungsansatz, vielmehr handele es sich um einen sinnvoll nur gesamtgesellschaftlich zu tragenden und deshalb vom Bund zu finanzierenden Nachteilsausgleich. 76 Zugleich wurde aus Kreisen der überörtlichen Sozialhilfeträger der Vorschlag unterbreitet, nach der Logik des Entschädigungsrechts ein bundesfinanziertes und einkommensunabhängiges Behindertengeld zu schaffen.77 Die Fachverbände der Behindertenhilfe nahmen einen ähnlichen Standpunkt ein, und auch der Deutsche Verein legte 2004 ein Konzept für ein Bundesteilhabegeld in Höhe von 553 Euro vor. Es sollte an Menschen mit Behinderungen ausgezahlt werden, die das 27. Lebensjahr beendet hatten, deren Behinderung aber bereits zuvor aufgetreten war und die einen Grad der Behinderung von mindestens 80 Prozent aufwiesen. Ähnlich der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz sollte das Teilhabegeld als Leistung des Nachteilsausgleichs ausgestaltet werden. Zugleich versprach man sich von einem solchen feststehenden Betrag in der Hand der Betroffenen, eine
76 Entwicklung der Sozialhilfeausgaben für Hilfen für Menschen mit Behinderungen – Der Bundesgesetzgeber muss tätig werden!, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 83 (2003), S. 121-125. 77 Pressemitteilung LWL vom 13.11.2003: LWL-Direktor fordert Bundesbehindertengeld (www.lwl.org/pressemitteilungen/mitteilung.php?urlID=13814).
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selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen zu können.78 2013 hat der Deutsche Verein seine Empfehlungen zum Bundesteilhabegeld noch einmal aktualisiert. 79 Bereits zuvor hatte das Forum behinderter Juristinnen und Juristen einen Alternativentwurf vorgelegt, der sich vom Vorschlag des Deutschen Vereins dadurch unterschied, dass das Teilhabegeld in einen nach fünf Stufen der Behinderung abgestuften Grundbetrag und eine je nach Beeinträchtigungsart zusätzlich zu gewährende Zusatzleistung vorsah.80 Dieser Strang der Reformdebatte hinterließ in dem schließlich beschlossenen Gesetz keine tieferen Spuren. Ebenfalls vom Deutsche Verein stammten 2007 Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in ihren Strukturen, die vor allem darauf zielten, die starren Grenzen zwischen den Leistungsformen stationär, teilstationär und ambulant aufzuheben und damit die Anknüpfung der Leistungen an diese Leistungsformen entfallen zu lassen. Die Perspektive war dabei, durch eine höhere Durchlässigkeit der Leistungsformen zu stärker zielgerichteten ambulanten Angeboten und größerer Wahlfreiheit für die Betroffenen zu gelangen. 81 Die Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat im Jahr darauf den Begriff der »personenzentrierten Hilfen« in die Reformdebatte eingeführt, als Gegenbegriff zu den »einrichtungsorientierten« Hilfekonzepten herkömmlicher Art. 82 Das wurde nun
78 Empfehlung des Deutschen Vereins zur Einführung eines bundesfinanzierten Teilhabegeldes – Bundesteilhabegeld, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 85 (2005),S. 2-5. 79 Eigenständiges Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung schaffen – Bundesteilhabegeld einführen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 93 (2013), S. 484f. 80 Forum behinderter Juristinnen und Juristen: Gesetz zur sozialen Teilhabe und zur Änderung des SGB IX und anderer Gesetze, Mai 2011, in: Schütte (2011), 259-302; vgl. dazu auch Ralf Dolata: Teilhabegeld für behinderte Menschen. Mögliche Ausgestaltung, Kosten und (Gegen-)Finanzierung, in: Soziale Sicherung 63 (2014), S. 141-145. 81 Verwirklichung selbstbestimmter Teilhabe behinderter Menschen. Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung zentraler Strukturen in der Eingliederungshilfe, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 87 (2007), S. 245-255. 82 Bund-Länder-Arbeitsgruppe der ASMK: Eckpunkte für die Reformgesetzgebung »Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen«, Stand:
14.9.2010
(www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/RehaRecht/Infothek/
Politik/2012/14-09-2010_ASMK_Eckpunkte_zur_Reform_der_Eingliederungshilfe. pdf); vgl. als Überblick der Diskussionsbeiträge: Antje Welke: Die Zukunft der Ein-
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zu einer wichtigen Leitlinie für die Gesetzeskonzeption. Künftig wird die Eingliederungshilfeträger die Angebote in diesem Sinne an den Wünschen und Bedürfnissen des Leistungsberechtigten zu orientieren haben. Die Interessenlagen der beteiligten Akteure waren bei all dem denkbar verschieden. Die Kommunen strebten in der nun in Gang gekommenen Debatte vor allem eine finanzielle Entlastung durch den Bund an, einschließlich einer Stärkung des fürsorgetypischen Nachrangprinzips. Den Vertretern der Behindertenbewegung, die an den Beratungen im Vorraum der Legislative stark eingebunden waren, kam es auf die Einführung eines umfassenden Teilhabesicherungsgesetzes an, das einen weit reichenden Anspruch auf persönliche Assistenz, ein gestaffeltes Teilhabegeld und umfassende Regelungen zur Gewährleistung barrierefreien Wohnraums beinhalten sollte. Die Leistungen sollten hier einkommensund vermögensunabhängig erbracht, das Wunsch- und Wahlrecht uneingeschränkt, also ohne Kostenvorbehalt, garantiert werden. Ihnen war es namentlich um eine konsequente Ablösung von der Fürsorge zu tun. Bund und Länder pochten unterdessen auf Kostenneutralität und die Verhinderung neuer und zusätzlicher Ausgabendynamiken. Bayern startete im Bundesrat 2012 indes eine Initiative, die auf eine vollständige Kostenübernahme des Bundes für die Eingliederungshilfe durch ein Bundesleistungsgesetz abgestellt war. 83 Die Koalitionen, Kontroversen und Kompromisse, die sich aus den Reformanstößen und bestehenden Konfliktlinien ergaben, sind hier nicht näher zu entwirren. Manches war nicht durchsetzbar, anderes stieß auf weite Zustimmung. Dass Alternativen zu den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gefunden werden mussten, vor allem in Gestalt des »Budgets für Arbeit« (wie in Rheinland-Pfalz und Niedersachsen erprobt), war weitgehend anerkannt, ebenso die Regelung, dass andere Arbeitgeber als die Werkstätten Angebote für Menschen mit Behinderungen machen konnten, die der Beschäftigung in der Werkstatt vergleichbar waren.84 Wichtige Anstöße zum Überdenken des Teilhaberechts gingen ganz allgemein vom Inklusionsgedanken der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2013 enthielt den Auftrag zu einer Reform der Eingliederungshilfe, die zu einem modernen Teilhaberecht weiter entwickelt werden sollte. Den Kommunen wurde eine Entlastung im Um-
gliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 89 (2009), S. 456-464. 83 Gitschmann (2016), 171. 84 Ottmar Miles-Paul: Für ein gutes Bundesteilhabegesetz, in: Leben & Weg 54 (2015), Nr. 5, S. 19-24, hier S. 22.
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fang von fünf Milliarden Euro im Zuge der Verabschiedung eines Bundesteilhabegesetzes in Aussicht gestellt. Kernpunkt der Reform sollte es sein, den institutionenzentrierten Ansatz des BSHG durch einen personenzentrierten Ansatz zu ersetzen.85 Zwischenzeitig stand das Gesetz auf der Kippe, die Vertreter der Behindertenbewegung legten in Anbetracht einer ganzen Anzahl von Schwachstellen des Gesetzesentwurfes massiven Protest ein – vornweg gegen den zweifelhaften Behindertenbegriff, der in der Folge dann auch zurückgestellt wurde. 86 Im Ergebnis vermochte aber auch das schließlich verabschiedete Gesetz, das zeitlich gestaffelt in Kraft tritt, viele Kritiker nicht zu überzeugen. Die Eingliederungshilfe wurde zwar aus dem Sozialhilferecht herausgenommen und in das SGB IX überführt. Von ihrem Sozialhilfecharakter wurde sie jedoch nicht vollends befreit; Einkommen und Vermögen werden auch künftig herangezogen, allerdings in deutlich geringerem Maße als bisher. Wie sich das Gesetz bewähren wird, bleibt einstweilen abzuwarten. Einiges erreicht wäre schon, wenn mit dem Bundesteilhabegesetz der von Wolfgang Schütte betonte rechtssystematische Perspektivenschwenk weg von der Nothilfe, hin zum Nachteilsausgleich auch in der Praxis der Hilfen für Menschen mit Behinderungen Realität werden würde: »Der Sozialstaat leistet nicht mehr deshalb, weil die Menschen mit Behinderungen die Mittel für die notwendige Unterstützung nicht selbst aufbringen können – so in der Sozialhilfe –, sondern weil die Menschen diese Unterstützungsleistungen aufgrund ihrer Einschränkungen zum Erhalt ihrer Teilhabechancen brauchen.«87
LITERATUR Alternativer Werkstättentag, in: die randschau 3 (1988/89), Nr. 5/6, S. 19-22. Anders, Dietrich: Die Werkstatt für Behinderte – der andere Weg ins Arbeitsleben, in: Eduard Zwierlein (Hg.), Handbuch Integration und Ausgrenzung. Behinderte Menschen in der Gesellschaft, Neuwied u.a. 1996, S. 547-562.
85 Zum Verlauf aus Sicht der Bundesregierung: Rolf Schmachtenberg: Das Bundesteilhabegesetz: Vom Koalitionsvertrag zum Gesetz, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht 27 (2018), S. 337-350. 86 Horst Frehe: Kritik am Behinderungsbegriff des BTHG-Entwurfs, in: impulse. Magazin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Unterstützte Beschäftigung Nr. 77, Feb. 2016, S.12-15. 87 Wolfgang Schütte: Neue Eingliederungshilfe? Der Entwurf eines Bundesteilhabegesetzes aus sozialrechtlicher Sicht, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 96 (2016),S. 435-439, hier S. 437.
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Bach, Heinz: Krise der Werkstatt für Behinderte, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 28 (1977), S. 164-169. Baur, Fritz: Eingliederungshilfe für behinderte Menschen in Deutschland. Perspektivische Darstellung mit einem Seitenblick in die Niederlande, in: Arbeit und Sozialpolitik 56 (2002), S. 23-32. Behindertenbericht 2009. Bericht der Bundesregierung über die Lage von Menschen mit Behinderungen für die 16. Legislaturperiode, Bonn 2009. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung, Bonn 2013. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation, Bonn 1998. Bund-Länder-Arbeitsgruppe der ASMK: Eckpunkte für die Reformgesetzgebung »Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen«, Stand: 14.9.2010 (www.reha-recht.de/fileadmin/user_upload/ RehaRecht/Infothek/Politik/2012/14-09-2010_ASMK_Eckpunkte_zur_ Reform_der_Eingliederungshilfe.pdf). Bündnis 90/Die Grünen: Grün ist der Wechsel. Programm zur Bundestagswahl 1998, April 1998. Castendiek, Jan/Günther Hoffmann: Das Recht der behinderten Menschen, 2. Aufl., Baden-Baden 2005. Cramer, Horst H.: Neue Rechtsgrundlage, in: Bundesversorgungsblatt. Auszug aus dem Bundesarbeitsblatt 11 (1980), S. 1-7 Dahlinger, Erich: Die Werkstättenverordnung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 61 (1981), S. 12-17. Das Zweite Gesetz zur Änderung des Bundessozialhilfegesetzes. In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 49 (1969), S. 243-247. Detmar, Winfried u.a. (ISB - Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik): Entwicklung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen (Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales), Berlin 2008 (www.bmas.de/SharedDocs/ Downloads/DE/PDF-Publikationen/forschungsbericht-f383.pdf?__blob =publicationFile&v=2). Deutscher Städtetag: Sozialleistungen der Städte in Not. Zahlen und Fakten zur Entwicklung kommunaler Sozialausgaben, Berlin und Köln 2010. Dolata, Ralf: Teilhabegeld für behinderte Menschen. Mögliche Ausgestaltung, Kosten und (Gegen-)Finanzierung, in: Soziale Sicherung 63 (2014), S. 141145.
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»Heimwelten« Wandel und Kontinuität von den 1970er bis 1990er Jahren Ulrike Winkler
»BEHINDERUNG« UND DIE ORDNUNG DER GESELLSCHAFT Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Unterbringung von Menschen mit geistigen, seelischen oder körperlichen Beeinträchtigungen in geschlossenen und geographisch abgeschiedenen Anstalten und Heimen favorisiert. 1 Nur in diesen exterritorialen Räumen, so die Überzeugung der Fachdisziplinen, der Kostenträger, der (meist konfessionellen) Einrichtungsträger und oftmals auch der Angehörigen, könne man deren Bedürfnis nach Pflege, Betreuung, Erziehung, Bildung und Ausbildung gerecht werden. Da man diesen Menschen die Fähigkeit absprach, zu reifen und erwachsen zu werden – wenn auch auf ihre Weise –, sollten sie vor Herausforderungen eines »normalen« Lebens geschützt werden. Dies bedeutete ihre lebenslange Beheimatung in einer Anstalt, nicht selten über den Tod hinaus. Fanden doch die allermeisten Bewohnerinnen und Bewohner ihre letzte Ruhe auf den anstaltseigenen Friedhöfen. Dass die räumliche Segregation der behinderten Männer, Frauen und Kinder auch dazu diente, die Gesellschaft nicht mit deren als »fremdartig« und »abweichend« empfundenem Aussehen und Verhalten zu konfrontieren, war dabei ein durchaus gewünschter Nebeneffekt, der meist schamvoll verschwiegen oder unterschlagen wurde. Mehr noch: Begreift man mit dem französischen Psycho-
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Zu »Anstalt und Raum« siehe: Ulrike Winkler: Drinnen und Draußen. Die Rotenburger Anstalten und die Stadt Rotenburg als Sozialräume, in: Karsten Wilke et al., Hinter dem Grünen Tor. Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, 1945–1975, Bielefeld ²2018, S. 151-208.
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logen, Philosophen und Soziologen Michel Foucault (1926–1984) die Anstalten als »Heterotopien«, als »andere Orte«, in denen das »Ungeordnete, Missratene und Wirre«2 gebändigt wird, dann waren diese »Sonderwelten« für den Erhalt der Ordnung der Mehrheitsgesellschaft geradezu existentiell. Denn in ihnen wurden jene Menschen, welche die Ordnung »draußen« störten, sich nicht anpassten konnten oder wollten, bestimmten Regeln und Praxen unterworfen, um eine »innere« Ordnung herzustellen, welche wiederum die Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft widerspiegelte und diese garantierte. 3 Die Anstalten und Heime waren gleichsam der zu Stein gewordene beruhigende Beweis, dass sich nichts und niemand der jeweils gültigen Ordnung entziehen konnte.
2
Michel Foucault: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 5. Auflage 1993, S. 34-46.
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In jeder Gesellschaft, so die Grundidee Foucaults, existiert eine »Wissensordnung«, welche man als die Gesamtheit aller in gesellschaftlichen Wissensbestände, Weltanschauungen, Handlungsmuster und daraus abgeleitete Praxen definieren kann. Diese »Wissensordnung«, man kann auch vom »Sozialen Wissen« (Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966), Frankfurt a.M. 1991) sprechen, konstituiert sich (auch) durch die Ausgrenzung jener Räume, in denen die Regeln, die sich im herrschenden Diskurs herausgeformt und gesellschaftliche Geltung erlangt haben, zeitweise suspendiert oder gänzlich aufgehoben sind. Sie werden zu »Heterotopien«, zu »anderen Orten«. Diese »anderen Orte« sind für Foucault einerseits Utopien im Sinne von »Platzierungen ohne wirklichen Ort«, also – im Sinne Thomas Morus’ – fiktive »Nichtorte«. Andererseits beobachtete Foucault »tatsächlich realisierte Utopien«: »Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hinein gezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.« (Foucault (1993), 39) Diese Heterotopien fallen aus der gesellschaftlichen Ordnung heraus. Ihre Existenz aber spiegelt die Ordnung der Mehrheitsgesellschaft wider und macht sie damit der Reflexion zugänglich. Mehr noch, als paradoxes, also vermeintlich widersinniges Element, tragen sie existenziell zum Erhalt der gesellschaftlichen Ordnung der Gesellschaft und zu deren Selbstverständnis bei. Dieses Selbstverständnis unterliegt allerdings Konjunkturen, was wiederum Auswirkungen auf die Ausgestaltung der »Heterotopie« der »Anstalt« nach sich zieht.
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Viele Anstalten und Heime der »Behindertenhilfe«, aber auch der Erziehungsfürsorge entwickelten sich indes nicht zu den postulierten »Schutz- und Schonräumen«, die »Möglichkeiten zu freier Bewegung und Entfaltung« boten,4 wie es Pastor Johannes Klevinghaus (1911–1970), der Leiter des Wittekindshofes,5 Mitte der 1960er Jahre einmal geschrieben hatte. Im Gegenteil: Häufig waren sie Räume der Tristesse, der Entindividualisierung, der Langeweile, der Vernachlässigung, der Unterdrückung und der Angst. Vor allem die prekären materiellen und personellen Ressourcen erzeugten strukturelle Zwänge, die zu derlei Entwicklungen führten. Hinlänglich bekannt und erforscht ist, 6 dass es in den Heimen und Anstalten lange Jahre vorrangig nicht darum ging, die Bewohnerinnen und Bewohnern in ihren Fähigkeiten zu stärken, sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu begleiten und ihre gesellschaftliche Integration zu fördern. Dem Konzept der »totalen Institution« des kanadischen Soziologen Erving Goffman (1922–1982)7 folgend, ging es vielmehr darum, die Frauen, Männer und Kinder
4
Johannes Klevinghaus: Der geistig behinderte Mensch in der heutigen Gesellschaft, in: Ernst Brinkmann (Hg.), Heil und Heilung. Gedenkbuch für Johannes Klevinghaus, Witten 1970, S. 87-93, S. 92.
5
Vgl. Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler: »Als wären wir zur Strafe hier«. Gewalt gegen Menschen mit geistiger Behinderung – der Wittenkindshof in den 1950er und 1960er Jahren, Bielefeld ³2012. Zur Geschichte des Wittekindshofs: dies.: »Der das Schreien der jungen Raben nicht überhört«. Der Wittekindshof – eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, 1887 bis 2012, Bielefeld 2012.
6
Zuletzt (in Auswahl): Bernhard Frings: Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970, Münster 2012; ders. Behindertenhilfe und Heimerziehung. Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945-1970), Münster 2013; Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler: Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld (2009) ²2013; Ulrike Winkler: »Es war eine enge Welt«. Menschen mit Behinderungen, Heimkinder und Mitarbeitende in der Stiftung kreuznacher diakonie, 1947 bis 1975, Bielefeld 2012; Gerda Engelbracht/Andrea Hauser: Mitten in Hamburg. Die Alsterdorfer Anstalten 1945–1979, Stuttgart 2013; Ulrike Winkler/Hans-Walter Schmuhl: Die Behindertenhilfe der Diakonie Neuendettelsau 1945–2015. Alltag, Arbeit, kulturelle Aneignung, Stuttgart 2014; dies.: Aufbrüche und Umbrüche. Lebensbedingungen und Lebenslagen behinderter Menschen in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel von den 1960er bis zu den 1980er Jahren. Ein Beitrag zur Disability History, Bielefeld 2017.
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Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1973 [1961].
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kostengünstig und mit wenig Personalaufwand möglichst störungsfrei zu verwalten, nicht selten unter zu Hilfenahme von körperlicher, psychischer und medizinischer Gewalt.8 Georg B., ein langjähriger Bewohner des Wittekindshofes, brachte dies einmal in einem Interview treffend auf den Punkt: »Es war oft das Gefühl da Als wären wir zur Strafe hier.«9 Augenscheinlich war die Anstaltsunterbringung nicht mehr die Lösung eines sozialen Problems, sondern sie war selbst zu einem sozialen Problem geworden, und Öffentlichkeit, Verbände, Träger und Politik nahmen sie ab Ende der 1960er Jahre endlich auch als ein solches wahr.10 Diese Erkenntnis bedeutete aber nicht,
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Hinsichtlich der medizinisch-pharmazeutischen Gewalt ist zwischen dem Medikamentenmissbrauch zu »Erziehungszwecken« und den im Auftrag bedeutender deutschen Pharmafirmen durchgeführten Arzneimittelstudien (vor allem Sedativa, aber auch Präparate zur Dämpfung des Geschlechtstriebs) in Heimen der »Behindertenhilfe« und Kinder- und Jugendpsychiatrien zu unterscheiden. Vgl. z.B. Winkler/Schmuhl (2014), 88-91. Zu Versuchen in Heimen der »Behindertenhilfe« vgl. Sylvia Wagner: Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern, in: Sozial.Geschichte Online 19 (2016), S. 61-113, Link: https://sozialgeschichteonline.wordpress.co. Uwe Kaminsky: Die Verbreiterung der »pädagogischen Angriffsfläche« – eine medizinisch-psychologische Untersuchung in der rheinischen öffentlichen Erziehung aus dem Jahr 1966, in: Andreas Henkelmann et al., Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945–1972), Essen 2011, S. 485-494; Franz-Werner Kersting/Hans-Walter Schmuhl (Hg.), Psychiatrieund Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945–1980), Münster 2017, S. 84-88. Zu Reihenstudien westdeutscher Pharmafirmen in der DDR vgl. Volker Hess/Laura Hottenrott/Peter Steinkamp: Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie 1964 – 1990, Berlin 2016. Auch vor Elektroschockbehandlungen und stereotaktischen Operationen zur »Verbesserung« der »Erziehungsfähigkeit« schreckten manche Heime nicht zurück. Siehe hierzu neuerdings: Sylvia Wagner: Arzneimittel und Psychochirurgie. Der Einsatz von Medikamenten zur Sedierung, Arzneimittelstudien und Stereotaxie in den Rotenburger Anstalten 1950 – 1980, in: Wilke et al., Hinter dem Grünen Tor, S. 305368.
9
Georg B.: »Alltag 60ziger – 75«, handschriftliches Manuskript, Wittekindshof 2002, abgedruckt in: Schmuhl/Winkler (³2012), 213-219, Zitat: 217. Rechtschreibung und Interpunktion wie im Original. Der Name ist ein Pseudonym.
10 Vgl. Wilfried Rudloff: Lebenslagen, Aufmerksamkeitszyklen und Periodisierungsprobleme der bundesdeutschen Behindertenpolitik bis zur Wiedervereinigung, in: Gabrie-
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dass sich innerhalb der »Behindertenhilfe« – anders als in den Einrichtungen der Erziehungsfürsorge – ein regelrechter Umbruch vollziehen sollte. Vielmehr muss von einem zähen Prozess der Veränderung gesprochen werden, der im Folgenden am Beispiel des Wohnens, der Arbeit und der Geschlechterbeziehungen schlaglichtartig an einigen diakonischen Einrichtungen beleuchtet werden soll. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass sich der Prozess der »Normalisierung« und der Integration von Einrichtung zu Einrichtung unterschiedlich vollzog, obwohl es durchaus Parallelen im Vorgehen gab. Hinzuzufügen ist auch, dass sich in ein und derselben Einrichtung völlig unterschiedliche Entwicklungen vollziehen konnten.11 Das Wohnen Die ungleichzeitige Entwicklung von Persistenz und Wandel galt in hohem Maße für das Wohnumfeld, also jenen Bereich, der das Zentrum der Privatheit und der persönlichen Entfaltung darstellt. Hierzu ein Beispiel. Am 20. September 1970 besuchten Eltern, die eine Unterbringungsmöglichkeit für ihre schwer geistig behinderten Kinder suchten, den fränkischen Ort Bruckberg, eine Dependance der Diakonissenanstalt Neuendettelsau. Kurz zuvor waren in Bruckberg der Birkenhof und der Sonnenhof eingeweiht worden: Moderne Häuser mit hellen, freundlich eingerichteten Doppel-Zimmern für Kinder und Jugendliche, die von jungem, heilpädagogisch ausgebildetem Personal betreut wurden. Von dem Vorgefundenen zeigte sich die Besuchergruppe sehr angetan. Ihren Rundgang beendeten die Eltern im Haus »Gottessegen«, eines der ältesten Häuser auf dem Gelände, welches nur einen Steinwurf vom Birkenhof und vom Sonnenhof entfernt lag. Dort erblickten sie Zustände, vor denen es ihnen »grauste«. 12 In einem Brief an die Heimleitung listeten die Besucherinnen und Besucher jene Eindrücke auf, die sie besonders entsetzt hatten:
le Lingelbach/Anne Waldschmidt (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt a.M./New York 2016, S. 55-81, S. 71. 11 Vgl. z.B. Schmuhl/Winkler (2017). 12 Dorothea R. u. a. an Pfarrer Abel, Fuchs und Hahn, o. D. [5.1.1971], in: Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau (ZADN), Akte Bruckberger Heime 1964-1972, I. Danach auch das folgende Zitat. Vgl. zu diesem Vorgang ausführlich: Winkler/Schmuhl (2014), 36-38.
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»1. Ist es nötig, dass die Behinderten im Schlafraum auf ihren Klostühlen sitzen müssen? 2. Ist es nicht möglich, diese Klostühle, die benutzten Windelhosen so zu säubern, dass man nichts von Stuhl und Urin riecht? 3. Ist es nötig und mit der Menschenwürde zu vereinbaren, dass Ihre Betreuten in einem mit Maschendraht umgebenen käfigartigen Auslauf ins Freie geführt werden? 4. Ist es nötig, dass Ihre Behinderten in Haus Gottessegen uniforme Schürzen tragen müssen? […] 5. Ist es unbedingt nötig, dass in einem Raum eine so große Anzahl von Behinderten existieren muss?«
Tatsächlich war es schwierig, die beengte, lieblose und jede Intimsphäre verwehrende Wohnsituation zu beseitigen. Dies lag nicht zuletzt an der meist noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden, manchmal auch unter Denkmalschutz stehenden Anstaltsarchitektur, die zunächst nur provisorische Lösungen erlaubte, etwa in Form von Sperrholzwänden, mit denen die Schlafsäle unterteilt wurden. Eine von Joachim Walter (* 1947), einem Pfarrer und Psychologen durchgeführte Studie in mehreren stationären diakonischen Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung in Westdeutschland beschrieb die Lebenssituation eines »durchschnittlichen Heimbewohners«13 im Jahre 1980 noch so:
13 Joachim Walter: Zur Sexualität Geistigbehinderter. Die Einstellung der Mitarbeiter als Bedingungsrahmen zur Unterdrückung oder Normalisierung in Behinderteneinrichtungen, Rheinstetten 1980. Als frühe Untersuchungen für den katholischen Bereich sind zu nennen: Gregor Schmidt: Probleme der Einstellung von Erziehern gegenüber der Sexualität geistig Behinderter – Möglichkeiten der Einflussnahmen durch die Sozialarbeit. Unveröffentlichte Graduierungsarbeit an der Katholischen Fachhochschule NRW, Abt. Münster, 1975. Schmidt befragte im Februar 1975 insgesamt sechzig Erzieher im Gruppendienst und an der Heimsonderschule eines Bildungs- und Pflegeheimes in Westfalen. Ferner: Karl-Heinz Stockhausen: Geistigbehinderte erwachsene Menschen in Heimen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Fachbereich Psychologie und Pädagogik, München 1975. Stockhausen hatte neben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern katholischer und anthroposophischer Einrichtungen in Bayern auch Mitarbeitende des Wittekindshofes, der Diakonisssenanstalt Neuendettelsau und ihrer Dependancen Himmelkron und Polsingen sowie der Diakonie Stetten befragt. Ebd., 166. Stockhausens Stichprobe bestand aus 644 Mitarbeitenden aus 23 Heimen. Joachim Walter leitete bis 2010 die Diakonie Kork.
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»Er lebt in geschlechtsgetrennten Gruppen bzw. Stationen – u. U. sogar in getrennten Frauen- und Männerhäuser – mit mehr als 16 anderen Behinderten zusammen, die oft auch mehrfachbehindert, epileptisch oder psychisch krank sind. Zu seinem Drei- oder Mehrbettzimmer hat er keinen Schlüssel, von einem Hausschlüssel ganz zu schweigen, den er sowieso nicht braucht, da er ja nur bis 20 Uhr Ausgang hat und dies nur dann allein und ohne Begleitung, falls er zu den wenigen Selbstständigen gehört. Er geht (deshalb?) normalerweise zwischen 20 und 21 Uhr zu Bett.«14
Weiter stellte Joachim Walter fest, dass 93,3 Prozent der »geistig behinderten« Erwachsenen in den untersuchten Einrichtungen keine Möglichkeit hatten, sich ungestört auf ihr Zimmer zurückzuziehen – weder alleine noch mit einer Partnerin oder einem Partner. Von einer »Normalisierung« der Wohnverhältnisse war man also Anfang der 1980er Jahre noch weit entfernt. Dieser Befund gilt indes auch für die Mitte der 1990er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt lebten immer noch rund 142.000 Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen der »Behindertenhilfe«, wobei nur etwa 15 Prozent des Wohnangebotes eine selbstständigere Lebensführung, also zum Beispiel in einer Außenwohngruppe oder im betreuten Wohnen, ermöglichten. Und die Zeit der kollektiven Ghettoisierung war zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht vorüber. So lebte rund ein Viertel, also etwa 35.500 Menschen mit einer geistigen Behinderung, in Einrichtungen mit über 300 Plätzen. Die Arbeit Ein zweiter wichtiger Bereich, der »normalisiert« werden sollte, war die Arbeit. Da man viele Jahrzehnte lang das Konzept einer lebenslangen »Beheimatung« verfolgt hatte, wurden den Heimbewohnerinnen und Heimbewohner nur diejenigen Fertigkeiten beigebracht, die sie benötigten, um ein nützliches Glied in der Anstaltswelt zu sein. Fragt man Bewohnerinnen und Bewohner nach ihren häufigsten Beschäftigungen, dann fallen ihnen Kartoffelschälen, Garten- und Feldarbeiten und die schwere Tätigkeit in den Anstaltswäschereien ein. »Fittere« Bewohnerinnen wurden in der Pflege der »Schwächeren« eingesetzt. Sie wuschen ihre Kameradinnen, kleideten sie an und aus, brachten sie zu Bett, fütterten sie, hoben sie auf die Toiletten. Manche verteilten sogar die Medikamente und übernahmen damit eine hohe Verantwortung. Mit ihrer unentgeltlichen Arbeit ersetzten sie nicht selten die fehlenden Arbeitskräfte. Und auch nicht selten kam es vor, dass die Leitungen die leistungsstarken Bewohnerinnen und Be-
14 Walter (1980), 136-137.
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wohner in ihren Einrichtungen zu halten versuchten, um den chronischen Personalmangel wenigstens etwas zu kompensieren. Bereits vor dem Umbruch von »1968«15 war vielen Anstaltsleitern klar geworden, dass sie das Beschäftigungsangebot für die ihnen anvertrauten Menschen vergrößern, vor allem aber vervielfältigen mussten. Die daraufhin eingeführten arbeitstherapeutischen Maßnahmen vollzogen sich häufig sehr behelfsmäßig in den Kellern und Dachstuben der Anstaltsgebäude und bestanden nicht selten aus monotonen Tätigkeiten im Auftrag ortsansässiger Betriebe. Durch das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 rückte die Bundesanstalt für Arbeit im Bereich der »Arbeits- und Berufsförderung« von »körperlich, geistig oder seelisch Behinderten«16 in eine Schlüsselposition. Waren die Kompetenzen auf dem Gebiet der beruflichen Rehabilitation bis dahin heillos zersplittert gewesen, so entwickelte sich die Bundesanstalt nunmehr schnell zum größten Träger von Rehabilitationsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland. Dazu nur wenige Schlaglichter: Die finanziellen Aufwendungen für die individuelle Förderung stiegen von 50 Mio. DM (1970) innerhalb von fünf Jahren auf 318 Mio. DM (1975), für die institutionelle Förderung von 16 Mio. DM (1970) auf 116 Mio. DM (1975) – zum Vergleich: Im Zeitraum von 1958 bis 1969, also in elf Jahren, hatte die Bundesanstalt alles in allem ganze 39 Mio. DM als Darlehen und Zuschüsse zur Einrichtung von Arbeitsplätzen für »Behinderte« verausgabt.17 Im Rahmen der institutionellen Förderung stellte die Bundesanstalt finanzielle Mittel für Berufsbildungswerke, Berufsförderungswerke und – wie sie zunächst hießen – »Beschützende Werkstätten« zur Verfügung. Für diakonische Einrichtungen brachen daher in dieser Hinsicht goldene Zeiten an. Überall
15 Die »68er« bzw. »1968« gelten der neueren Forschung nicht mehr als Sammelbegriffe für eine Erlebnis- und Erfahrungsgemeinschaft, die es im Übrigen so nie gegeben hat, sondern als identitätsstiftende Chiffren für ein weit aufgefächertes Spektrum von Überzeugungen, politischen Utopien und Lebensformen. Zuletzt für den kirchlichdiakonischen Raum: Siegfried Hermle/Claudia Lepp/Harry Oelke (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, sowie: Bernd Hey/Volkmar Wittmütz (Hg.), 1968 und die Kirchen, Bielefeld 2008. 16 So das Arbeitsförderungsgesetz, §§ 3, 56, Bundesgesetzblatt I 1969, S. 538, S. 592. 17 Klaus Gemsjäger/Manfred Dill: Arbeits- und Berufsförderung von Behinderten. Berufliche Rehabilitation, Stuttgart u. a. 1977, S. 100, S. 104, S. 132 (Tab.). Zusammenfassend: Hans-Walter Schmuhl: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg 2003, S. 484-488. Danach auch das Folgende.
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schossen jetzt »Werkstätten für Behinderte« aus dem Boden. Freilich weckte es bei manchen Trägern der freien Wohlfahrtspflege Argwohn, dass durch die Annahme der Fördermittel der Einfluss der öffentlichen Arbeitsverwaltung zunahm. Kontroversen gab es etwa um die vom Bundesarbeitsministerium, von der Bundesanstalt und den Trägern der Sozialhilfe 1979 erarbeitete Konzeption der »Werkstatt für Behinderte«, die eine Förderung von einem »Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung« abhängig machte. Weil hier gleichsam durch die Hintertür das Leistungsprinzip in den Bereich der beruflichen Rehabilitation eingeschmuggelt würde, zögerten manche diakonischen Einrichtungen, ihre Werktherapien in »Werkstätten für Behinderte« umzuwandeln. Letztlich gewann aber überall die Verlockung großzügiger öffentlicher Förderung die Oberhand über Bedenken, die Anstalten in den »zweiten Arbeitsmarkt« einzubinden. Problematisch war aber, dass Menschen mit schweren und schwersten Behinderungen – wieder einmal – außen vor blieben. Die Integration von Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen in den allgemeinen Arbeitsmarkt blieb hingegen weiterhin sehr schwierig. Eine Umfrage des Instituts für Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum unter 129 westdeutschen Werkstätten im Jahre 1971 ergab, dass es 48 Werkstätten, also rund 37 Prozent, nicht gelungen war, überhaupt nur einen ihrer Beschäftigten in ein »normales« Arbeitsverhältnis zu vermitteln. 18 In der Regel lag die Vermittlungsquote zwischen vier und sechs Prozent. Nur ein Werkstattleiter meldete eine Vermittlungsquote von über fünfzig Prozent.19 Die Gründe für diese Ergebnisse sind vielfältig. Zum einen brachten die Frauen und Männer häufig nicht die erforderlichen Qualifikationen mit, um in einer auf Leistung, Wettbe-
18 Tabelle 44.4. Anteil der im letzten Jahr auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vermittelten Behinderten, zusammengestellt von Albert Haaser (Methodik und Ergebnisse der empirischen Erhebungen zum Forschungsprojekt »Die Werkstatt für Behinderte«), in: Institut für Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum (Hg.), Die Werkstatt für Behinderte. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Rehabilitation der Behinderten, Bochum 1972, S. 630-750, S. 721. Danach auch die folgenden Zahlenangaben. 92 Personen wurden als »Hilfsarbeiter«, dreißig als »Fabrikarbeiter/Arbeiter«, 21 als »Haushaltshilfen« und 294 als »Sonstige« vermittelt. Ebd., 722. Angaben zu Geschlecht, Alter und Handicap der Vermittelten liegen nicht vor. 19 Der DGB-Bundesvorstand, Abt. Arbeitsmarktpolitik, errechnete 1989 eine Vermittlungsquote auf »normale« betriebliche Arbeitsplätze von »jährlich höchstens 2 %«. Vgl. dessen Stellungnahme zur Situation und zur Rechtsstellung Behinderter in Werkstätten für Behinderte (WfB), 18.4.1989, S. 3, Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung Berlin (ADE), VEEMB 277.
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werb und Flexibilität ausgerichteten Arbeitswelt zu bestehen, zum anderen verringerte sich im Laufe der Jahre die Zahl einfacher Tätigkeiten. Darüber hinaus nutzten viele Arbeitgeber die Möglichkeit, sich mit einer »Ausgleichsabgabe« 20 von der Beschäftigung (schwer-)behinderter Menschen »freizukaufen«. Zudem ermöglichte ihnen der Gesetzgeber, Aufträge, die sie an anerkannte »Werkstätten für Behinderte« vergaben, mit fünfzig Prozent auf die Ausgleichsabgabe anrechnen zu können. Dies verminderte betriebswirtschaftlich den Anreiz, Menschen mit Behinderung einzustellen, und trug – neben der großzügigen staatlichen Förderung – zu einer Vergrößerung der »Sonderarbeitsmärkte« innerhalb der Einrichtungen bei.21 Die Geschlechterbeziehungen Viele Jahrzehnte lang wurden Menschen mit geistiger Behinderung in paternalistischer Manier entweder zu neutralen Wesen, zu »großen« oder zu »ewigen Kindern« erklärt, oder aber ihre sexuellen Bedürfnisse wurden dramatisiert und auf eine vermeintlich ungezügelte Triebhaftigkeit, die ausschließlich auf Genitalsex beschränkt sei, reduziert. Diese Zuschreibungen – hier »ewiges Kind« ohne Bedürfnisse, dort »sexueller King-Kong«,22 wie in mancher zeitgenössischen Publikation zu lesen ist, – stehen einander diametral gegenüber. Mehr noch, man gewinnt den Eindruck, dass nicht der individuelle Mensch in den Blick genommen wurde, sondern stets die Behinderten als Gesamtes. Derlei Überzeugungen
20 Die Ausgleichsabgabe haben Arbeitgeber dann zu entrichten, wenn sie nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von schwerbehinderten Männern und Frauen beschäftigen. Die Höhe der Zahlung richtet sich nach der (nicht erfüllten) Beschäftigungsquote. Mit der Ausgleichsabgabe werden vor allem Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation finanziert. Das Schwerbehindertengesetz von 1975 verpflichtete alle privaten und öffentlichen Arbeitgeber mit mehr als 15 Beschäftigten sechs Prozent ihrer Arbeitsplätze Schwerbehinderten zur Verfügung zu stellen oder für jeden nicht beschäftigten Schwerbehinderten monatlich 100 DM an die jeweiligen Hauptfürsorgestellen zu entrichten. 21 Zu den kontroversen Diskussionen auf der Ebene des Evangelischen Fachverbandes vgl. Schmuhl/Winkler (2017), 199-212. 22 Diese diffamierende Zuschreibung nahm Siegfried Schröder kritisch auf, vgl. ders.: »Das tut man nicht!«, in: Zeitschrift für Heilerziehung und Rehabilitationshilfen, Nr. 2/1977, S. 78, zitiert nach: Joachim Walter: Grundrecht auf Sexualität? Einführende Überlegungen zum Thema »Sexualität und geistige Behinderung«, in: ders. (Hg.), Sexualität und geistige Behinderung, Heidelberg ³1992, S. 29-37, Zitat: S. 33.
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von der angeblich lebenslangen emotionalen Unreife von geistig behinderten Menschen, noch dazu aufgewertet von verschiedenen Fachdisziplinen waren in der Gesellschaft und vor allem in den betroffenen Familien weit verbreitet. Wie kaum eine andere brachte die ungarische und in der Schweiz tätige Heilpädagogin Maria Egg-Benes (1910–2005)23 diese Haltung, die im Übrigen auch ihrer Auffassung entsprach, auf den Punkt: »Die Behinderten sehen in ihrer näheren oder weiteren Umgebung, dass junge Leute zu heiraten pflegen, und so äußern sie nun selber ähnliche Absichten. In aller Ehrlichkeit können wir ihnen dann wiederholt vor Augen führen, dass gar mancher Mensch auch ohne eine Ehe ein glückliches Leben führt. Oft sind es Unverheiratete, die besondere Achtung genießen, etwa die ehrwürdige Schwester oder der geschätzte Lehrmeister. An uns liegt es, diesen Jugendlichen den Wert, die Schönheiten und auch die Annehmlichkeiten des Ledigenstandes zu zeigen. Zu diesen gehört in erster Linie die Möglichkeit, bei der Mutter bleiben zu dürfen. Denn in Wirklichkeit wollen sie von der Mama nicht fort.«24
Dies führte dazu, dass die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner primär als Behinderte und nicht als Frauen oder Männer sozialisiert wurden. Zwar blieben in der täglichen Praxis der Heime die Geschlechtskategorien nicht ausgeklammert – so wurden in der Kleidung, bei der Beschäftigung und in der Freizeitgestaltung durchaus Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, Frauen und Männern gemacht –, ansonsten aber kann man die Erziehungspraxis in den Anstalten als eine kontinuierliche Neutralisierung des Geschlechts oder – mit dem deutschen Soziologen Stefan Hirschauer (* 1960) – als undoing gender charakterisieren.25 Im Jahre 1974 hatte der Verband evangelischer Einrichtungen für geistig und seelisch Behinderte (VeEgsB)26 die »Empfehlungen (Rahmenrichtlinien) für die
23 Maria Egg-Benes gründete 1940 in Zürich den »Heilpädagogischen Schulzirkel«, aus dem die heutige »Heilpädagogische Schule Gotthelf« (HPS) hervorgegangen ist. 24 Maria Egg[-Benes]: Lebensweg der Behinderten: ein Wegweiser für Eltern, Betreuer und Freunde erwachsener geistig Behinderter, Olten/Breisgau 1975, S. 47f. 25 Vgl. Stefan Hirschauer: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41 (2001), S. 208-235, Zitat: S. 384. 26 Im 19. Jahrhundert gründeten Leiter diakonischer »Idiotenanstalten« die »Vereinigung deutscher Anstalten für Idioten und Epileptische«. Der Fachverband erfuhr etliche Umbenennungen, zunächst in »Verband deutscher evangelischer Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten«, dann in »Verband evangelischer Einrichtungen für Men-
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Pflege, Therapie und Förderung geistig Behinderter in Heimen und Anstalten«27 herausgegeben. Auf knapp zwanzig Seiten waren dort Anforderungen an die Ausgestaltung des »Lebens im Heim« (Raumbedarf, Möblierung, Ausgang, Rauchen, Alkoholgenuss, Postverkehr, Kleintierhaltung usw.) formuliert worden. Die zu diesen Themenfeldern gegebenen Empfehlungen erregten keinen Widerspruch, wohingegen sich am Kapitel »Zusammenleben der Geschlechter« heftiger Streit von Seiten der Beschäftigten in den Einrichtungen entzündete. Zwar begrüßten sie die in dem Papier vertretene »positive Grundeinstellung gegenüber menschlicher Geschlechtlichkeit, auch beim Behinderten«, empfanden aber Anregungen als zu vage und daher wenig praxistauglich. Man habe da, »wo es sich um den Kern der Sache« handle, so die Klage, nur »allgemeine Formulierungen gefunden«. In der täglichen Arbeit sei man »unsicher und ratlos«.28 Aufgrund dieser Klagen setzte der evangelische Fachverband noch im selben Jahr eine Arbeitsgruppe ein, die dem Wunsch der Einrichtungen nach
schen mit geistiger und seelischer Behinderung« (VeEgsB, seit Ende der 1980er Jahre: VEEMB). 1998 fusionierten der VEEMB und der »Verband Evangelischer Einrichtungen für die Rehabilitation Behinderter e.V. (VEERB)« zum »Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB)«. Ich danke der Fritz Thyssen Stiftung für die finanzielle Unterstützung, welche die Auswertung des umfangreichen Aktenbestands (ADE, VEEMB) ermöglichte. Die Geschichte des VeEgsB ist indes ein Forschungsdesiderat. 27 VeEgsB, Empfehlungen (Rahmenrichtlinien) für die Pflege, Therapie und Förderung geistig Behinderter in Heimen und Anstalten. Überarbeiteter Entwurf, Januar 1974, ADE, VEEMB 118, S. 9. Danach, wenn nicht anders angegeben, auch die folgenden Zitate. 28 Die Überforderung mit der Sexualität von geistig behinderten Bewohnern konnte Mitarbeiter im Wittekindshof 1975/1976 zu fragwürdigen Handlungen veranlassen, wie der Rektor der dortigen Sonderschulen und zeitweiliger Vorsitzender des VeEgsB Gerhard Brandt (1922–1995) berichtete: »Es ist sogar vorgekommen, dass ein Mitarbeiter ein Präservativ, das er bei einem jungen Mann seiner Gruppe gefunden hatte, in einen verschlossenen Briefumschlag steckte und diesen, gleichsam als corpus delicti, der offiziellen Personalakte des betreffenden Behinderten beifügte.« Gerhard Brandt: Erfahrungen bei der Koedukation geistig Behinderter im Wittekindshof, Vortrag gehalten anlässlich der 6. Psychiatrischen Fachkonferenz 1976 in Kühlungsborn, in: Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der DDR (Hg.), Information für Mitarbeiter an geistig Behinderten in Einrichtungen der Inneren Mission, Nr. VI/1976, S. 33-41, Zitat: S. 37. Privatarchiv Dr. Jürgen Trogisch. Ich danke Herrn Dr. Trogisch für die freundliche Überlassung dieser Dokumente.
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Konkretisierung und Handlungsanleitungen entgegenkommen sollte. Einig waren sich die Mitglieder des Arbeitskreises, dem vor allem Leiter großer Behinderteneinrichtungen angehörten, dass die Zeiten der Tabuisierung und des Verbotes sexueller Kontakte bei Menschen mit geistiger Behinderung endgültig vorbei sein müssten. »Schlafende Hunde« wollte man aber auch nicht wecken, die Einrichtungen seien – bei aller Liberalität – nicht dazu da, dort »heterosexuelle Kontakte zu stiften, wo keine Bedürfnisse vorliegen«. Die »Koedukation der Geschlechter« sollte also durchaus vorangebracht werden, aber vorsichtig und – um ein Bild aus der Technik zu bemühen – mit angezogener Handbremse. Mit der Sexualaufklärung der Bewohnerinnen und Bewohner tat man sich in allen Einrichtungen schwer, was nicht zuletzt an fehlenden einschlägigen Unterlagen, etwa Broschüren, Bilderbücher u. a. m. lag. Zwar existierten für die Sonderschulen Stoff- und Rahmenpläne für sexuelle Aufklärung, aber diese waren ausschließlich auf Menschen mit körperlicher Behinderung, nicht aber mit geistiger Behinderung zugeschnitten. Einzelne Bundesländer hatten Anfang der 1970er Jahre immerhin damit begonnen, für geistig behinderte Schülerinnen und Schüler Stoffsammlungen zusammenzustellen, die jedoch noch in den Kinderschuhen steckten. So verständigte sich die Arbeitsgruppe schließlich darauf, dass in den Heimen demjenigen Mitarbeiter die Sexualaufklärung zu übertragen sei, der das »größte Vertrauen« bei den Bewohnerinnen und Bewohnern genieße, und das sei in der Regel der Gruppenleiter. Dieser habe sich aber – gegebenenfalls im »Rahmen von Selbsterfahrungsgruppen« und in Kontakt mit Ärzten, Psychologen und Pädagogen – selbst zu überprüfen und zu schauen, ob »seine Einstellung richtig« sei. Konkreter wurden die Teilnehmenden hier nicht. Ob die in diesem Zusammenhang zu Protokoll gegebene Idee »eines gemeinsamen Besuchs eines Stripteaselokals, um nackte Frauen zu sehen«, Zweifel an der Aufgeklärtheit und Heterosexualität der mit der Sexualerziehung betrauten Gruppenleiter ausräumen sollten? Auf jeden Fall war dieser Vorschlag bemerkenswert, und zwar in mehrfacher Hinsicht. So hatten offenbar weder die weiblichen noch die männlichen Mitglieder der Arbeitsgruppe den Aspekt der sexuellen Ausbeutung der Stripteasetänzerinnen und deren Herabwürdigung als »Lustobjekte« vor Augen gehabt. Zudem wurde mit zweierlei Maß gemessen. Während die Bewohnerinnen und Bewohner auf keinen Fall visuell oder auditiv »angeregt« werden sollten, schien dies für den »Normalbürger«, auch für den evangelischen Diakonie-Mitarbeiter, durchaus im Bereich des Vertretbaren zu liegen. Überhaupt scheint sich der Umgang mit der Sexualität geistig behinderter Menschen in den 1970er Jahren zeitweise zwischen extremen Positionen bewegt zu haben. Während die einen nach wie vor an Sanktionsmitteln, etwa den stundenweisen Einschluss in einem »Besinnungsstübchen« festhielten, wenn sie Paare beim Sex
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erwischten, wollten die anderen »Begegnungsstübchen« in den Heimen einrichten, in denen Paare miteinander schlafen konnten – gleichsam unter den Augen der Erzieher und der Bewohnerschaft. Diese lediglich skizzierten Veränderungen forderten den jahrelang mehr oder weniger kasernierten Betroffenen einiges ab und nicht jeder oder jede kam gut mit ihnen zurecht. Denn zu ihrer »erlernten Hilflosigkeit« 29 war über all die Jahre ein anderes Problem gekommen. Sie, die viele Jahre lang Objekte einer »fürsorglichen Belagerung« gewesen waren, hatten nämlich nie gelernt, ihre eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse zu fühlen, sich zuzugestehen und auszusprechen. Manche hatten nun – wieder einmal und wohl nicht nur zu Unrecht – den Eindruck, dass erneut andere über ihr Leben bestimmen wollten und dies auch taten. Auch wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen für viele verbesserten, sich Mobilität und gesellschaftliche Teilhabe vergrößerten, so zeigen Interviews mit Betroffenen doch auch, dass die Jahre in den »Anstaltssonderwelten« die Menschen seelisch zutiefst verletzt und traumatisiert haben. Zum Beispiel macht Frau Dagmar P., die als 7-Jährige in eine Dependance der Diakonissenanstalt Neuendettelsau kam und dort massiver körperlicher Gewalt ausgesetzt war, das Erlebte nach wie vor schwer zu schaffen. Frau P. leidet unter plötzlich auftretenden Panikattacken: »Wenn die Leute so streng sind, das kann ich nicht ertragen […] Da habe ich Angst.«30
DIE PERIODISIERUNG DER GESCHICHTE VON »BEHINDERUNG« AUS DER SICHT DER BETROFFENEN. EIN KURZES PLÄDOYER In den letzten Jahren wird in der Geschichtswissenschaft intensiv über die Periodisierung der Zeitgeschichte diskutiert. Welches Ereignis als »Zäsur« 31 oder »Wendepunkt« wahrgenommen wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus diesem selbst, sondern aus der nachholenden Bedeutung, die ihm von einem Individuum oder auch gesellschaftlichen Gruppen verliehen wird. Es geht demnach also eher
29 Ich übernehme diesen Begriff von Martin E.P. Seligman: Erlernte Hilflosigkeit (1975), Weinheim/Basel 1999/42011, ohne jedoch dessen psychologischem Ansatz zu folgen. 30 Zit. nach: Winkler/Schmuhl (2014), 86. Der Name ist ein Pseudonym. 31 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2010, S. 109. Danach auch die folgenden Zitate.
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um eine »ordnende Deutungsleistung«32 der vergangenen Geschehnisse in die eigene (Gruppen-)Biographie. Für die Forschung zur Geschichte von »Behinderung« könnte dies zum Beispiel bedeuten, nicht nur auf Gesetzesänderungen, dem Entstehen von Selbsthilfegruppen oder auf solch markante Daten wie den Contergan-Skandal 1967 oder das von der UNO 1981 ausgerufene Internationale Jahr der Behinderten als Einschnitte oder Wendemarken zu betrachten, sondern bei den Betroffenen selbst nachzufragen, welches Ereignis für sie ganz persönlich den Wandel in der an ihnen praktizierten »Behindertenpolitik« bedeutete. Und hier erhält man äußerst interessante Antworten. Für eine Bewohnerin in Bethel war etwa der Empfang »richtigen« Geldes der Startschuss in ein selbstbestimmteres Leben.33 Hierzu muss man wissen, dass die Bewohnerinnen und Bewohnern bis in die 1970er Jahre hinein für ihre Arbeit fast ausschließlich mit »Bethel-Geld« bezahlt wurden. Das war ein 1908 eingeführter Warengutschein, der einen Anreiz schaffen sollte, die Erzeugnisse der Land- und Gartenwirtschaften sowie von Dienstleistungen der Betriebe in Bethel und der Außenanstalten zu kaufen bzw. in Anspruch zu nehmen. Nun konnte die Bewohnerin in ganz normalen Geschäften der Stadt Bielefeld einkaufen. Das Bethel-Geld existiert übrigens immer noch, am 1. März 2002 wurde die »Bethel-Mark« aber auf Euro umgestellt.34 Für andere Bewohnerinnen und Bewohnerinnen stellte hingegen der eigene Zimmerschlüssel oder gar der eigene Haustürschlüssel der Beginn einer neuen Zeitrechnung dar. Für Georg B., den eingangs zitierten Bewohner des Wittekindshofs, markierte der veränderte Sprachgebrauch die lang herbeigesehnte Zeitwende: Aus den »Pfleglingen« waren »Bewohner«, aus den »Schwachen« »Mehrfachbehinderte« geworden.
32 Ralph Jessen: Zäsuren, Phasen, Kontinuitäten – Zur chronologischen (Un-)Ordnung der deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Lingelbach/Waldschmidt (2016), 28-53, Zitat: 29. 33 Schmuhl/Winkler (2017), 103. 34 »Bethel-Geld« erhielten die Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten. Vgl. Wolfram Korn: Bethel und das Geld 1867–1998. Die ökonomische Entwicklung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Bielefeld 1998, 58 f. Abbildungen des »BethelGeldes« finden sich auf 130-140. Am 1. März 2002 wurde das bis dahin gültige »Bethel-Geld« auf Euro umgestellt. Link: http://www.bethel.de/aktionen-projekte/10jahre-bethel-euro/geschichte-des-bethel-geldes.html.
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»BESONDERUNG« NOCH IM TOD Nach wie vor werden Menschen mit körperlichen, kognitiven und seelischen Beeinträchtigungen in speziellen Einrichtungen »besondert«. Allerdings haben sich die ehemaligen Anstalten im Zeichen der Inklusion geöffnet: Mauern und Zäune sind verschwunden, Farbphilosophen35 beraten bei der Gestaltung der Fassaden und Innenraumgestaltung, Wohnungen und Häuser auf den Geländen werden zunehmend an die »Normalbevölkerung« vermietet, um eine Durchmischung des Quartiers zu erreichen, passgenaue Spielgeräte und Streichelzoos runden das nun gewollt Ungeordnete der einst dem panoptischen Prinzip verpflichteten Anstalten ab. Von derlei Inklusionsbemühungen scheinen manche »Anstaltsfriedhöfe« einstweilen noch weitgehend unberührt zu sein. So finden zum Beispiel die verstorbenen Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Werken der Inneren Mission ihre letzte Ruhe in Reih und Glied und unter einheitlichen Grabsteinen. Natürlich spielen Kostengründe hier eine große Rolle und manch ein Verstorbener hat keine Angehörigen und auch sonst keinen Bezug zu seinem Heimatort, die eine Überführung zuließen. Neben der uniformen Gestaltung der Gräber fällt weiter auf, dass die Bewohnerinnen und Bewohner zusammen liegen, getrennt von all den anderen Toten, die gleich nebenan auf dem öffentlichen abgezäunten Friedhof beigesetzt sind. Ein Grabstein in diesen militärisch anmutenden Reihen fällt hingegen auf. Um ihn herum stehen Engel, die Blumen sind stets frisch. Es ist der Grabstein eines langjährigen Mitarbeiters der Rotenburger Werke, der 2012 verstarb und es vorzog, nicht auf dem öffentlichen Friedhof, sondern bei »seinen Leuten« bestattet zu werden. Eine bemerkenswerte Ausnahme oder – wenn man so will – Inklusion/Integration invers.
35 So hat zum Beispiel die Stiftung kreuznacher diakonie bei der Umgestaltung ihrer »Sonntagshäuser«, beim Neubau von Haus Pella für Menschen mit schweren geistigen Behinderungen und der Errichtung ihres Hospizes, Peter Zoernack (* 1960), ein ehemaliger Schüler des Künstlers Friedrich Ernst von Garnier (* 1935), zu Rate gezogen. Freundliche Mitteilung von Diakon Georg Scheffler-Borngässer, 27.2.2017. Garnier gilt als Begründer der »Organischen Farbigkeit«, eine zur Bionik gehörende Lehre, die besagt, dass eine mehrtönige Farbigkeit von Gebäuden und Räumen zum menschlichen Wohlbefinden beitragen kann. Radikal ist die Absage an die Farbe Grau. Vgl. Friedrich Ernst von Garnier: Meine farbigere Welt, Bad Kreuznach 2008.
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LITERATUR B., Georg: »Alltag 60ziger – 75«, handschriftliches Manuskript, Wittekindshof 2002, abgedruckt in: Schmuhl/Winkler, »Schreien«, S. 213-219. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas : Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie (1966), Frankfurt a.M. 1991. Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen ²2010. Egg[-Benes], Maria: Lebensweg der Behinderten: ein Wegweiser für Eltern, Betreuer und Freunde erwachsener geistig Behinderter, Olten/Breisgau 1975. Engelbracht, Gerda/Hauser, Andrea: Mitten in Hamburg. Die Alsterdorfer Anstalten 1945–1979, Stuttgart 2013. Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 5. Auflage 1993, S. 34-46. Frings, Bernhard: Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970, Münster 2012. Frings, Bernhard: Behindertenhilfe und Heimerziehung. Das St. Vincenzstift Aulhausen und das Jugendheim Marienhausen (1945-1970), Münster 2013. Garnier, Friedrich Ernst von: Meine farbigere Welt, Bad Kreuznach 2008. Gemsjäger, Klaus/Dill, Manfred: Arbeits- und Berufsförderung von Behinderten. Berufliche Rehabilitation, Stuttgart u. a. 1977. Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1973 [1961]. Haaser, Albert: Methodik und Ergebnisse der empirischen Erhebungen zum Forschungsprojekt »Die Werkstatt für Behinderte« in: Institut für Sozialrecht an der Ruhr-Universität Bochum (Hg.), Die Werkstatt für Behinderte. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Rehabilitation der Behinderten, Bochum 1972, S. 630-750. Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007. Hess, Volker/Hottenrott, Laura/Steinkamp, Peter: Testen im Osten. DDRArzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie 1964 – 1990, Berlin 2016. Hey, Bernd/Wittmütz, Volkmar (Hg.), 1968 und die Kirchen, Bielefeld 2008.
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Das Internationale Jahr der Behinderten 1981 in historischer Perspektive Monika Baár/Anna Derksen 1
EINLEITUNG Wenn man die Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurate zieht, gelten etwa zehn bis fünfzehn Prozent aller Menschen als behindert. Damit sind aktuell etwa eine Milliarde Menschen, beziehungsweise jeder Siebte, in irgendeiner Form von psychischer, geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung betroffen, und es wird erwartet, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren weiter ansteigen.2 Als ein Thema von globaler Relevanz hat Behinderung in den vergangenen Jahrzehnten einen radikalen Wandel erfahren, vom Fokus auf eine medizinische und rehabilitative ›Normalisierung‹ des behinderten Individuums hin zu einem rechtsbasierten Ansatz, der ausgehend von der menschlichen Würde und dem Anspruch auf gleiche Grundrechte und Freiheiten aller Bürger eine inklusions- und partizipationsfördernde Gesellschaft anstrebt. In diesen Zusammenhang gestellt, hat Behinderung nicht nur direkte Auswirkungen auf Lebensgestaltung und Alltagsbewältigung der betroffenen Einzelpersonen, sondern auch für ihre Familien und ihr soziales Umfeld: Es ist ein gesellschaftliches Thema, das uns alle betrifft. Gleichzeitig definieren, deuten und bewerten Men-
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Die Autorinnen möchten an dieser Stelle auf die Unterstützung ihres Forschungsprojektes durch den ERC Consolidator Grant Rethinking Disability unter der Fördervertragsnummer 648115 verweisen.
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Weltgesundheitsorganisation/Weltbank (Hg.): World Report on Disability, Genf 2011.
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schen in verschiedenen Kulturkreisen Behinderung auf unterschiedliche Weisen. Dies macht sie zugleich universell und kulturspezifisch.3 Wie die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes vertiefend aufzeigen, kam es in den westlichen Wohlfahrtsgesellschaften seit den 1970er Jahren zu Aktionen von Lobbygruppen und Behindertenverbänden mit dem Ziel, das Thema Behinderung zu de-individualisieren, es als gesamtgesellschaftliche Angelegenheit zu definieren und diese Agenda im öffentlichen Diskurs prominent zu platzieren. Die Tatsache, dass der weitaus größte Anteil behinderter Menschen (die WHO schätzt diesen auf etwa 80 Prozent) in Ländern des globalen Südens lebt und oftmals keinen oder nur unzureichenden Zugang zu staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, Förderprogrammen und Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung besitzt4, fand jedoch erst in jüngerer Zeit die Beachtung der internationalen Gemeinschaft. Neben einer zunehmend länderübergreifenden Vernetzung von Behindertenbewegungen spielten auch internationale Akteure wie die Vereinten Nationen (UN), die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) oder die WHO eine entscheidende Rolle für die Wahrnehmung von Behinderung als in allen Regionen, Kulturen und sozialen Schichten ubiquitäres Phänomen. Vor allem die Gestaltung der internationalen Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, die im Jahr 2006 verabschiedet wurde, wird häufig als zentraler Referenzpunkt für diesen Perspektivenwechsel genannt. Tatsächlich ist die noch recht junge UN-Behindertenrechtskonvention5 jedoch das Ergebnis eines verhältnismäßig langen und steinigen Wegs von Verhandlungen.6 Bereits seit dem Weltflüchtlingsjahr 1959 versuchen die Vereinten Nationen in internationalen Themenjahren, -tagen und -dekaden ein öffentliches Bewusstsein für die Situation unterrepräsentierter gesellschaftlicher Gruppen und für andere Themen von globaler Bedeutung zu schaffen.7 Einige von ihnen, etwa das
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Einen Überblick über Behinderung in verschiedenen Kulturkreisen geben z.B.: Benedicte Ingstad/Susan Whyte (Hg.): Disability and Culture, Berkeley/Los Angeles 1995; Colin Barnes/Geof Mercer: Exploring Disability, 2. Aufl., Cambridge 2010.
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Weltgesundheitsorganisation/Weltbank (2011).
5
UN-Generalversammlung: Convention on the Rights of Persons with Disabilities (A/RES/61/106), 24.1.2007.
6
Theresia Degener: Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen: Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen (2006) H. 2, S. 104-110.
7
Vereinte Nationen: United Nations Observances, Link: http://www.un.org/en/sections/ observances/united-nations-observances/index.html (27.08.17).
Das Internationale Jahr der Behinderten | 163
Internationale Jahr der Menschenrechte 1968 oder das Weltfrauenjahr 1975, erfuhren in der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit breite Resonanz und haben auch den politischen Umgang mit diesen Themen nachhaltig geprägt. 8 Insbesondere dort, wo sie mit der Offenlegung von Missständen und Normkonflikten zusammentrafen, trugen diese Initiativen auch dazu bei, bestehende Strukturen zu in Frage zu stellen, zivilgesellschaftliche Gruppen zu mobilisieren und untereinander in Kontakt zu bringen und neue nationale wie internationale Rechtsinstrumente zu entwickeln. Andere Beispiele – wie die Internationale Dekade der Katastrophenvorbeugung von 1990 bis 1999, das Jahr des Gorillas 2009, oder des Lichts 2015 – fanden ihren Widerhall hauptsächlich im engeren Kreis von Experten. So unterschiedlich die Wirkmächtigkeit dieser Initiativen im Lauf ihrer Geschichte erscheint, so verschieden war auch ihre Wahrnehmung in nationalen und lokalen Zusammenhängen. Das Internationale Jahr der Behinderten, das von den Vereinten Nationen im Jahr 1976 beschlossen und 1981 organisiert wurde 9, hatte nicht nur in den verschiedenen geographischen Regionen, sondern auch im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Debatten Auswirkungen von großer Tragweite, blieb aber in der wissenschaftlichen Forschung weitgehend unbeachtet. Dies erstaunt umso mehr, als es zusammen mit seinem Gegenstück, der Internationalen Dekade der Behinderten von 1983 bis 1992, das erste Ereignis darstellt, das Behinderung umfassend und wirkungsvoll aus rein nationalen Verhandlungen (etwa zwischen Politikern und Interessengruppen) löste und der globalen Agenda einschrieb.10 Dies macht es zu einem der wichtigsten Meilensteine in der modernen Geschichte von Menschen mit Behinderungen. Anhand der 1980er Jahre als globales ›Jahrzehnt der Behinderten‹ wollen wir in diesem Beitrag die Wechselbeziehungen und Spannungen zwischen den uni-
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Roland Burke: Decolonization and the Evolution of Human Rights, Philadelphia 2010; Steven Jensen: The Jamaican Broker: UN Diplomacy and the Transformation of International Human Rights, 1962-1968, in: Eva Maria Lassen/Erik André Andersen (Hg.), Europe and the Americas: Transatlantic Approaches to Human Rights, Leiden 2015, S. 91-129; Kristen Ghodsee: Revisiting the United Nations decade for women: Brief reflections on feminism, capitalism and Cold War politics in the early years of the international women’s movement, in: Women's Studies International Forum 33 (2010), S. 3–12; Jocelyn Olcott: International Women’s Year: The Greatest Consciousness-Raising Event in History, New York 2017.
9
UN-Generalversammlung: International Year of Disabled Persons (A/RES/31/123), 16.12.1976.
10 Barnes/Mercer (2010), 254.
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versellen und partikularistischen Aspekten von Behinderung näher beleuchten. Welche Anknüpfungsmöglichkeiten kann ein Konzept wie Behinderung in einer multikulturellen Welt überhaupt besitzen? Wie können wir ihm politisch und gesellschaftlich begegnen? In Ergänzung zu bisherigen, vornehmlich an nationalstaatlichen Entwicklungen herausgestellten Untersuchungen sehen wir die Originalität unseres Forschungsansatzes darin begründet, die Verhandlung von Behindertenrechten als einen universalisierenden, also verallgemeinernden, und nicht (unbedingt) einen universalen, allgemeingültigen Diskurs zu verstehen, als welche sie in der ›westlichen Welt‹ gesehen und in der Folge auf Entwicklungsländer ›übertragen‹ wurden. Um das – auch in vielen internationalen Organisationen – vorherrschende westliche Konzept von Behinderung für unterschiedliche kulturelle Rahmenbedingungen nutzbar und relevant zu machen, ist es nötig, es zu historisieren und im Sinne von Chakrabartys postkolonialer Theorie zu »provinzialisieren«.11 Durch eine solche Einbettung in das spezifisch lokale, kulturelle und religiöse Umfeld wird es möglich, auch Länder des globalen Südens, sozialistische Staatssysteme oder Auffassungen von Wohltätigkeit, Mitleid und Solidarität in verschiedenen Gesellschaftsformationen zu untersuchen und einander gegenüberzustellen. Wir werden uns in diesem Beitrag auf Bereiche beschränken, die sich insbesondere mit dem Spannungsverhältnis von internationaler und lokaler Perspektive auseinandersetzen. Im Fokus dabei steht erstens die Frage, wie sich das Internationale Jahr der Behinderten auf Menschenrechtsdiskurse und deren globale Anwendbarkeit auswirkte. Zweitens halten wir es für wichtig, zivilgesellschaftliche Beiträge zu sozialem Wandel in den Blick zu nehmen. Schließlich soll auch der transnationale Austausch und Wissenstransfer in Verbindung mit dem Internationalen Jahr untersucht und geprüft werden, wie ›westlich‹ orientierte Diskurse in die ›Dritte Welt‹ vordrangen und mit dem lokalen Umfeld interagierten. Abschließend diskutieren wir, was eine solche globalhistorische Perspektive dem Forschungsgebiet der disability history hinzuzufügen vermag.
MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN AUF DER INTERNATIONALEN AGENDA Auf der globalen Ebene stellt das Thema Behinderung spätestens seit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 einen wichtigen
11 Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.
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Faktor dar und hat sich als Dreh- und Angelpunkt zahlreicher nationaler behinderten- und inklusionspolitischer Reformen etabliert. Als völkerrechtlich bindender Vertrag nimmt sich die Konvention der Situation von Menschen mit Behinderungen aus einer Menschenrechtsperspektive an und geht damit über situative Fragen zu sozialer Ungleichheit, Ausgrenzung und Diskriminierung hinaus.12 Häufig wird sie deshalb auch als Zeichen eines generellen ›Paradigmenwechsels‹ interpretiert: Menschen mit Behinderungen nicht länger als passive Empfänger wohltätiger Gaben, von Maßnahmen medizinischer Rehabilitation und sozialer Sicherheit zu betrachten, sondern als gleichberechtigte und aktive Mitglieder der Gesellschaft. Die weitgehend einvernehmliche Ausgestaltung der Konvention und ihres Zusatzprotokolls sowie ihre schnelle Verabschiedung – mit 82 Unterzeichnungen am ersten Tag ein Rekord in der Geschichte der UN 13 – lassen vermuten, dass es den Vereinten Nationen mit der Behindertenrechtskonvention gelungen ist, ein schlagkräftiges, universelles Instrument zur Beseitigung bestehender Ungleichheiten im Leben von Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Gleichzeitig vermittelt ihr unmittelbarer Entstehungshintergrund das Bild einer relativ linearen Entwicklung von Behinderungswahrnehmungen auf der internationalen Ebene. Dass dieser Konsens nicht nur das Ergebnis einer jahrelangen Beschäftigung der Vereinten Nationen mit dem Thema Behinderung ist, sondern ihm auch ein weitreichender Einfluss zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, Impulse und Proteste zugrunde lag, wird dabei häufig übersehen. Auch sollte der universelle Anspruch der Konvention nicht über die Fragen hinwegtäuschen, inwiefern die einzelnen Länder sie tatsächlich umsetzen und auf welche Weisen sie in örtlich spezifische Definitionen, Rechte und Normen von Behinderung überführt beziehungsweise mit diesen in Einklang gebracht wird. Dieses Spannungsverhältnis von Behinderung als universellem Phänomen und spezifischen kulturellen Erfahrungen ist keineswegs neu.14 Ein Bewusstsein für diesen Sachverhalt im Rahmen internationaler Menschenrechtsdiskurse ent-
12 Theresia Degener: Die UN-Behindertenrechtskonvention, in: Vereinte Nationen 58 (2010) H. 2, S. 57-63; Edurne García Iriarte/Roy McConkey/Robbie Gilligan (Hg.): Disability and Human Rights. Global Perspectives, London/New York 2016. 13 Arlene S. Kanter: The Promise and Challenge of the United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities, in: Syracuse Journal of International Law and Commerce 34 (2007) H. 287, S. 287-321, hier S. 288. 14 Vgl. Benedicte Ingstad: The Myth of the Hidden Disabled. A study of communitybased rehabilitation in Botswana, Oslo 1990; Benedicte Ingstad/Frank Jarle Bruun: Disability in a Cross-Cultural Perspective (=Working Paper University of Oslo/ Department of Social Anthropology 4), Oslo 1990; Ingstad/Whyte (1995).
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wickelte sich jedoch nur langsam. Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 implizit auch Menschen mit Behinderungen einschließt, so blieben sie bis weit in die Nachkriegszeit hinein doch vornehmlich passive Empfänger von privater Wohltätigkeit, öffentlicher Fürsorge und sowohl nicht-intendierter als auch struktureller Diskriminierung, Segregation und Benachteiligung.15 Schon in den späten 1960er Jahren warnte die WHO daher auch vor den negativen sozialen Folgen von Behinderung.16 Unterstützt durch die zur gleichen Zeit in vielen westlichen Ländern aufkommenden sozialen Bewegungen von Menschen mit Behinderungen, mündete dieses Umdenken 1971 in die von der UN-Generalversammlung verabschiedete Erklärung der Rechte geistig behinderter Menschen17 und 1975 in die Erklärung der Rechte der behinderten Menschen.18 Diesen ersten globalen Rechtsinstrumenten blieb durch ihre Unverbindlichkeit jedoch eine breitere politische Akzeptanz, gar eine flächendeckende Anwendung mit spürbaren Verbesserungen für die Lebenssituationen der Betroffenen, verwehrt – ein Umstand, auf den insbesondere auch die internationale Entwicklungsarbeit der UN-Sonderorganisationen aufmerksam machte –, denn gerade in den sogenannten Entwicklungsländern standen Menschen mit Behinderungen weiterhin weit außerhalb der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung.19 Gleichzeitig entwickelte sich an der Basis und im Wirkungsumfeld dieser Hilfsorganisationen eine kritische Haltung gegenüber den als westlich verstandenen Instrumenten und Praktiken. Basierend auf einem wohlfahrtsstaatlichen Verständnis von Behinderung, das kultur- und religionsspezifische Zugänge sowie aus den jeweiligen Lebenssituationen resultierende Bedürfnisse häufig unberücksichtigt ließ, wurden sie zunehmend als ungeeignet angesehen,
15 Theresia Degener/Andrew Begg: From Invisible Citizens to Agents of Change: A Short History of the Struggle for the Recognition of the Rights of Persons with Disabilities, in: Della Fina/Cera/Palmisano (2017), S. 1-5. 16 United Nations Enable: The United Nations and Disabled Persons – The First Fifty Years, Link: www.un.org/esasocdev/en-able/dis50y00.htm (27.08.17). 17 UN-Generalversammlung: Declaration on the Rights of Mentally Retarded Persons (A/RES/2856(XXVI)), 20.12.1971. 18 UN-Generalversammlung:
Declaration on the
Rights
of
Disabled Persons
(A/RES/3447(XXX)), 09.12.1975. 19 United Nations Enable; Internationale Arbeitsorganisation: Disability Inclusion Strategy and Action Plan 2014-17: A Twin-Track Approach of Mainstreaming and Disability-Specific Actions, Genf 2015, S. 2f.; UNESCO: Inclusion in Education, Link: http://en.unesco.org/themes/inclusion-in-education (27.08.17); UNICEF: Disabilities, Link: www.unicef.org/disabilities/ (27.08.17).
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den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Entwicklungsländern gerecht zu werden. So berichtete beispielsweise ein schwedischer Entwicklungshelfer über die Situation behinderter Menschen in Tansania: »In Tansania haben Politiker und Massenmedien stärker als in vielen anderen afrikanischen Ländern auf die Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen aufmerksam gemacht. Gesetze regeln ihr Recht auf Bildung und Arbeit. Aufgrund der schwachen Wirtschaftskraft des Landes fungieren diese Gesetze jedoch eher als Zielsetzungs- und Strategiepapiere. Sie tatsächlich umzusetzen, wird noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen.«20 In einem anderen Bericht heißt es weiter: »Überraschend war, dass sich keine Organisation von staatlichen Zuschüssen abhängig machen wollte, und man für die Zukunft deshalb Kleinunternehmertum, Wohltätigkeit und Entwicklungshilfe als hauptsächliche Einkommensquellen sah.«21 Infolge dieser und ähnlicher Diskrepanzen änderte sich in den Anfangsjahren wenig an der tatsächlichen Situation behinderter Menschen im globalen Süden, was die WHO im Jahr 1977 zu dem Schluss führte, dass »das Hauptziel von Regierungen und der WHO in den kommenden Jahrzehnten die Verwirklichung eines Gesundheitsniveaus bis zum Jahr 2000 [sein muss], das es allen Bürgern dieser Welt ermöglicht, ein sozial und wirtschaftlich produktives Leben zu führen.«22 Auf der ein Jahr später in Alma-Ata, im heutigen Kasachstan, stattfindenden Internationalen Konferenz über primäre Gesundheitsversorgung fand dieses Ziel unter dem Namen »Gesundheit für alle« (Health for All) Eingang in die Abschlusserklärung23 und ebnete zudem den Weg für das Konzept der community-based rehabilitation (gemeinschaftsbasierte Rehabilitation, CBR), einem Ansatz der WHO, lokale Formen im Umgang mit Behinderung in enger Zusammenarbeit mit den behinderten Personen selbst, ihren Familien und ihrer sozialen Gemeinschaft in entsprechende Entwicklungsprojekte zu integrieren, und dadurch langfristig Chancengleichheit und soziale Zugehörigkeit zu stärken.24
20 SHIA: Verksamhetsberättelse 1989/90, Stockholm 1990, S. 14. 21 SHIA: Verksamhetsberättelse 1990/91, Malmö 1991, S. 11. 22 Erklärung von Alma-Ata, 1978, Art. 5, zitiert nach: Weltgesundheitsorganisation: The Third Ten Years of the World Health Organization 1968-1977, Genf 2008, S. 308. 23 Halfdan Mahler. The meaning of Health For All by the year 2000, in: World Health Forum 2 (1981), H. 1, S. 5-22. Siehe auch Marcos Cueto: The Origins of Primary Health Care and Selective Primary Health Care, in: American Journal for Public Health 94 (11), S. 1864-1874. 24 Einar Helander: Training in the Community for People with Disabilities, Weltgesundheitsorganisation, Genf 1989; Weltgesundheitsorganisation: Disability and Rehabilitation, Link: http://www.who.int/disabilities/cbr/en/ (15.08.2017).
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Mit dem Internationalen Jahr der Behinderten 1981 fand diese verstärkte Fokussierung auf globale Zusammenhänge ihren vorläufigen Höhepunkt. Die UNGeneralversammlung proklamierte das Jahr am 16. Dezember 1976 und stellte es 1979 unter das Motto »volle Partizipation und Gleichberechtigung«.25 Das Ziel des Jahres war es, umfassende Kenntnisse über die Belange und oftmals prekäre Situation von Menschen mit Behinderungen in aller Welt zu gewinnen, darüber zu informieren und internationale Richtlinien zum gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung zu entwickeln. Die Vereinten Nationen appellierten zudem an ihre Mitgliedsstaaten, behinderten Bürgerinnen und Bürgern in allen Lebensbereichen die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und diese auch im nationalen Recht festzuschreiben. Neu war, dass Behinderung in Abgrenzung zu früheren internationalen Definitionen nicht mehr nur aus gesundheitlicher und defizitärer Perspektive betrachtet wurde, sondern auch explizit soziale Kontakte und Integration einschloss26: »Die Generalversammlung […] empfiehlt, dass die Mitgliedstaaten und die Organe, Organisationen und Einrichtungen der Vereinten Nationen bei ihren Bemühungen, die uneingeschränkte Teilhabe behinderter Menschen an allen Aspekten des Lebens zu fördern, besonderes Augenmerk auf die Beteiligung behinderter Menschen selbst und ihrer Organisationen an den Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Internationalen Jahr der Behinderten und dessen Weiterverfolgung legen sollten […].«27
Die Thematisierung und sichtbare Präsenz von Behinderung im Rahmen des Internationalen Jahres, die von einem Beratenden Ausschuss aus 23 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen unterstützt wurde, weckte das Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft und auf dem internationalen Parkett agierender Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Seine Wirkung entfaltete es jedoch vor allem auf nationaler Ebene, durch die Gründung nationaler Komitees und die Aktivitäten zahlreicher staatlicher wie nicht-staatlicher Initiativen – so-
25 UN-Generalversammlung: International Year of Disabled Persons (A/RES/34/154), 17.12.1979. 26 Ebd. Siehe auch Weltgesundheitsorganisation: International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps. A manual of classification relating to the consequences of disease, published in accordance with resolution WHA 29.35 of the Twenty-Ninth World Health Assembly, May 1976, Genf 1980. 27 UN-Generalversammlung: Resolution adopted by the General Assembly. International Year of Disabled Persons (A/RES/35/133), 11.12.1980.
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wohl in den teilweise bereits für das Thema ›Behinderung‹ sensibilisierten Industrienationen, wie auch in Ländern der sogenannten ›Dritten Welt‹. Ein Ergebnis des Internationalen Jahres war das vom Beratenden Ausschuss ausgearbeitete und von der UN-Generalversammlung 1982 verabschiedete Weltaktionsprogramm28, welches zusammen mit der daran anknüpfenden Internationalen Dekade der Behinderten von 1983 bis 199229 als eine wichtige Inspirationsquelle und direkter Vorläufer der Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für behinderte Menschen30 fungierte, die 1993 von der Generalversammlung angenommen wurden. Das Internationale Jahr, das Weltaktionsprogramm und die Internationale Dekade der Behinderten haben damit entschieden dazu beigetragen, Behinderung im internationalen Menschenrechtsdiskurs, in nationalen Maßnahmen, aber auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu verankern. Damit ebneten und definierten sie den Weg für die Behindertenrechtskonvention von 2006. Auch wenn die Bewertung des Jahres in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausfällt und viele Behindertenorganisationen es als bloßes Lippenbekenntnis und selbstgefälliges Spektakel der UN und ihrer Regierungen kritisierten, so muss vor dem Hintergrund der globalen Tragweite seiner Rhetorik, neuer gesellschaftlicher Diskurse und einer zunehmend aktiven und kritischen Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen auch in Ländern und Regionen, in denen Behinderung vorwiegend als rein medizinisch-rehabilitatives Phänomen verstanden wurde, doch von einer Zäsur gesprochen werden. Angesichts der rapiden Entwicklungen in der Wahrnehmung von Behinderung, von einer Frage sozialer Wohltätigkeit zu einem globalen Menschenrechtsthema, erscheint eine historische Analyse der Ereignisse und Debatten zum Umgang mit Behinderung daher als dringend geboten.31 Indem es bereits in vielen Ländern vorhandene Strömungen, Ideen und Konzepte – wie etwa das Verständnis von Behinderung als soziale Kategorie – auf-
28 UN-Generalversammlung: World Programme of Action Concerning Disabled Persons (A/RES/37/52), 03.12.1982. 29 UN-Generalversammlung: Implementation of the World Programme of Action Concerning Disabled Persons (A/RES/37/53), 03.12.1982. 30 UN-Generalversammlung: Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities (A/RES/48/96), 20.12.1993. 31 Zu Behinderung und Menschenrechten siehe u.a.: Iriarte/McConkey/Gilligan (2015); Marcia Rioux/Lee Ann Basser/Melinda Jones (Hg.): Critical Perspectives on Human Rights and Disability Law, Leiden/Boston 2001; John-Stewart Gordon/JohannChristian Põder/Holger Burckhart (Hg.): Human Rights and Disability. Interdisciplinary Perspectives, London 2017.
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griff, trug das Internationale Jahr maßgeblich dazu bei, das Thema Behinderung vom äußeren Rand der allgemeinen Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt internationaler Menschenrechtsagenden zu stellen. Der besondere Beitrag des Internationalen Jahres zu Menschenrechtsdiskursen lässt sich dabei vor allem anhand zweier Tendenzen ausmachen: zum einen die Vertiefung des Motivs Behinderung innerhalb der bereits involvierten Akteure auf internationaler Ebene, namentlich der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, und zum anderen eine Verbreiterung des Diskurses auf diverse nationale, lokale und zivilgesellschaftliche Ebenen. Wie sich dies im Einzelnen ausgestaltete, wollen wir im Folgenden näher beleuchten.
DER BEITRAG DES INTERNATIONALEN JAHRES ZU MENSCHENRECHTSDISKURSEN Eine Vielzahl von Ereignissen und Veranstaltungen, die mit dem Internationalen Jahr in Zusammenhang standen, wurden sowohl im formellen wie informellen Raum und auf verschiedenen politisch-geographischen Plattformen abgehalten. Aufbauend auf den Erfahrungen des Weltfrauenjahrs 1975 und des Jahres des Kindes 1979 wurde ein Internationales Sekretariat im Wiener Hauptquartier der UN eingerichtet, das die Planungen der einzelnen Mitgliedsstaaten bei Bedarf unterstützte und als Koordinator für die Erstellung des Weltaktionsprogramms fungierte. Von allen UN-Mitgliedsstaaten wurde eine aktive Teilnahme erwartet. In vielen Fällen führte dies zur Bildung nationaler Komitees, die dem jeweiligen Sozial- oder Gesundheitsministerium unterstellt waren, oft aber interinstitutionell arbeiteten. Neue Basisorganisationen entstanden und vernetzten sich, und auch prominente religiöse Führer wie der Papst sowie Personen des öffentlichen Lebens gaben Erklärungen zum Internationalen Jahr und der Situation behinderter Menschen in Politik und Gesellschaft ab oder übernahmen Schirmherrschaften. Aus diesen Kontakten und Netzwerken über verschiedene geographische, soziale, politische und weltanschauliche Grenzen hinweg erwuchs auch jenseits der etablierten Menschenrechtsorganisationen ein wachsendes Verständnis von Behinderung als einem universellen Phänomen, dem auch über die nationale Gesetzgebung hinaus begegnet werden muss. Im Rahmen des Internationalen Jahres meldeten sich nun in vielen Ländern erstmals Menschen mit Behinderungen auch selbst zu Wort – teilweise gegen den Willen politischer Entscheidungsträger – und brachten sich individuell, über Protestgruppen sowie Vereine aktiv in die Planungen des Jahres ein. Aber auch Länder, die bisher wenig Engagement zum Schutz von Minderheiten gezeigt hatten, beteiligten sich konstruktiv, wie
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etwa Libyen, das den ursprünglichen Vorschlag zur Begehung eines Internationalen Jahres der Behinderten eingereicht hatte.32 Darüber hinaus etablierte Libyen auch auf nationaler Ebene verhältnismäßig weitreichende Gesetzgebungen zum Schutz und zur Unterstützung behinderter Bürgerinnen und Bürger, die auch das soziale Verständnis von Behinderung und die Rolle der Gesellschaft berücksichtigten.33 Dass Libyen obendrein die Aufmerksamkeit der New York Times auf sich zog, weil es seine neue Botschaft in Nähe der Vereinten Nationen in New York konsequent barrierefrei gestaltete, 34 verweist darauf, dass sich Staaten und Regimes auch aus strategischen Gründen dem Themenkomplex Behinderung und (Menschen-)rechte annahmen: um sich die Unterstützung einzelner Bevölkerungsgruppen zu sichern, aber auch, um das eigene Ansehen innerhalb der internationalen Gemeinschaft aufzuwerten. Hinsichtlich der politischen, sozialen und kulturellen Diversität von Menschen mit Behinderungen weist die internationale Landkarte der disability history weiterhin zahlreiche weiße Flecken auf, die wir an dieser Stelle nur anreißen können. Die Menschenrechtsdokumente der UN, der Europäischen Gemeinschaft und anderer internationaler Organisationen, die gerade in den letzten Jahren auch explizit auf das Thema Behinderung verweisen, basieren auf einer prototypischen Person mit Behinderung und reflektieren die Lebensumstände westlicher Bürger sowie in begrenztem Maß auch Mitglieder der urbanen Eliten in Entwicklungsländern. Welche Herausforderungen ergaben sich aus politischer und kultureller Diversität für die Entwicklung von Menschenrechtsdiskursen vom Weltaktionsprogramm über die UN-Rahmenbestimmungen bis hin zur UNBehindertenrechtskonvention? Als wie anwendbar erwiesen sich diese Diskurse innerhalb verschiedener lokaler Kontexte – vor allem in Ländern, die sich durch repressive Regime, extreme Armut, Vertreibung, Gewalt und einem mangelnden Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und grundständiger Bildung auszeichneten? Wie können Rechte nicht nur in nationale Gesetzgebung implementiert, sondern auch garantiert werden? Das bereits angesprochene Beispiel Tansanias, dessen 1967 verabschiedete sozialistische Verfassung grundlegende Rechte auch für Menschen mit Behinderungen festschrieb, sie aber auf lokaler behördlicher
32 Audrey Shabbas: The Disabled in the Arab World, in: The Link 14 (1981) H. 5, S. 1. 33 Allgemeiner Volkskongress der Sozialistischen Volksrepublik Libysch-Arabische Dschamahirija: Gesetz Nr. 3 1981 über Menschen mit Behinderungen, zitiert nach: Cornell University ILR School Digital Commons, Link: http://digitalcommons. ilr.cornell.edu/gladnetcollect/121 (27.08.17). 34 Kathleen Teltsch: Governments Building for U.N. Delegations, in: New York Times, 15.02.1981.
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Ebene systematisch von politischen Entscheidungsprozessen ausschloss und auch aufgrund der schwierigen Wirtschaftssituation nur unzureichende Möglichkeiten zur Gesundheitsversorgung, Bildung oder Arbeit bot, verweist auf charakteristische Problemlagen in Entwicklungsländern.35 Doch auch jenseits dieser auf offizieller Ebene geführten Diskurse lässt sich ein wachsendes Interesse an der Einbettung von Behindertenbelangen in Menschenrechtsdebatten feststellen. Wie bereits das Internationale Frauenjahr 1975 eindrucksvoll gezeigt hatte36, beeinflussten diese globalen Initiativen auch die Selbstorganisation und Selbstrepräsentation derjenigen sozialen Gruppen, die sie zum Thema hatten. Die wohl mit Abstand wichtigste Organisation, die Behindertenrechte auf internationaler Ebene propagierte, war die 1981 auf ihrem ersten Weltkongress in Singapur gegründete Disabled People’s International (DPI). Als erste Organisation, die vollständig von Menschen mit Behinderungen geführt wurde und wird, fördert DPI die Durchsetzung von Behindertenrechten, Chancengleichheit und persönliche Entwicklung in den Ländern ihrer Mitgliedsorganisationen und ist Sonderberater bei den Vereinten Nationen und der ILO.37 Daneben beeinflusste und inspirierte das Internationale Jahr der Behinderten die Arbeit kleinerer und lokaler Behindertenorganisationen, die ihre Situation in Verhandlungen mit Behörden oder Arbeitgebern, aber auch im Kontakt mit der Zivilgesellschaft zunehmend in den Kontext von Menschenrechten stellten, um auf diesem Weg die soziale Anerkennung zu stärken.
IMPULSGEBER FÜR SOZIALEN WANDEL Um der heterogenen Gruppe von Menschen mit Behinderungen gerecht zu werden, wurden 1981 sowohl in der internationalen Kooperation als auch auf nationaler Ebene eine Reihe unterschiedlicher Themen und Projekte lanciert. Konferenzen, sportliche und kulturelle Ereignisse wie Rollstuhlmarathons, Filme oder inklusive Festveranstaltungen sowie neue politische Ausschüsse und Behindertenräte stellen lediglich eine kleine Auswahl dar. Begleitet wurden diese Veranstaltungen von einer breiten medialen Berichterstattung in Zeitungen, Fernsehund Radioprogrammen, die auch kritische Stimmen zu Wort kommen ließ. Ein
35 Dieses Bild ergibt sich u.a. aus zeitgenössischen Berichten westlicher Entwicklungshelfer und den Aussagen örtlicher Behindertenorganisationen. 36 Olcott (2017). 37 Diane Driedger: The Last Civil Rights Movement. Disabled People's International, New York 1989.
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besonderer Fokus lag auf der Sichtbarmachung von behinderten Menschen in der Öffentlichkeit. Dazu gehörten visuelle Mittel wie etwa eine Briefmarkenserie, aber auch Plakate und, häufig umstritten, alle Arten von kommerzialisierten Artikeln wie beispielsweise Gedenkmünzen, in denen sich unterschiedliche Sichtweisen von Wohltätigkeit, der öffentlichen Zurschaustellung von Behinderung oder auch der Hervorhebung bestimmter Beeinträchtigungen bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Behindertengruppen spiegelten. Das Internationale Jahr der Behinderten zeichnete sich nicht nur durch Feierlichkeiten aus, sondern wurde in einigen Ländern auch von massiven Protesten begleitet: Die durch die offizielle Rhetorik befeuerten, ausgesprochen hohen Erwartungen an das Jahr konnten in einer Zeit, die mit der ersten größeren Finanzkrise der Nachkriegsgeschichte zusammenfiel, nicht oder nur in Ansätzen erfüllt werden. Sie ließen häufig die Komplexität politischer Prozesse außer Acht, die im Zeitraum nur eines Jahres kaum größere Reformen ermöglichen konnten. Ein wiederkehrender Streitpunkt war die Frage nach Unterstützung als einem Recht der Menschen mit Behinderungen oder als wohltätiger Akt. Im schwedischen Göteborg, einem Land, das sich durch seine umfassende Sozialpolitik als Vorreiter für Barrierefreiheit und Integration behinderter Menschen einen Namen gemacht hatte, demonstrierten etwa 8.000 Personen unter dem Motto »Wohltätigkeit – nein danke!« für eine bessere Umsetzung der Regierungsversprechungen – laut zeitgenössischer Analyse eine der weltweit größten Manifestationen des gestärkten Selbstbewusstseins behinderter Menschen.38 Der tiefe Graben, der zwischen den offiziellen Diskursen und der häufig mit diesen kontrastierenden, alltäglichen Lebenswelt von Menschen mit Behinderungen sichtbar wurde, schuf eine kreative Spannungslage, aus der sich allmählich ein neues gesellschaftliches Paradigma herausbildete. Im Sinne Reinhard Kosellecks kann von einer »Verdichtung« der historischen Zeit gesprochen werden39, in der sich bereits vorhandene Tendenzen und Entwicklungen vor dem Hintergrund des Internationalen Jahres beschleunigten und letztendlich in fundamentale Veränderungen resultierten, deren Eintritt unter normalen Umständen mehrere Jahrzehnte gedauert hätte. Das Internationale Jahr wurde damit zur treibenden Kraft hinter der zunehmend deutlicher artikulierten Politisierung behinderter Bürgerinnen und Bürger, die in westlich geprägten Ländern bereits in den 1960er und 1970er Jahren begonnen hatte und nun auch andere Regionen und Kulturkreise erfasste. Durch die gesteigerte Aufmerksamkeit erhielt das Thema
38 Barbro Hurtig: Stort intresse för Handikapp-81. HCK:s jättesatsning i Göteborg, in: Bohusläningen, 07.05.1981. 39 Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1984.
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Behinderung als Anliegen einer »Neuen Sozialen Bewegung«40 Auftrieb und stieß erstmals auch in den Medien und damit in der breiteren Bevölkerung auf Gehör. Dennoch waren Menschen mit Behinderungen noch weit davon entfernt, als gleichberechtigter Teil einer vielfältigen Gesamtgesellschaft wahrgenommen zu werden: Man betrachtete sie vielmehr als Personen mit eigenen und besonderen Bedürfnissen. Auch wenn Protestaktionen und Demonstrationen von Menschen mit Behinderungen bereits in den Jahrzehnten zuvor vereinzelt stattgefunden hatten, so nahmen sie im Rahmen des Internationalen Jahres eine neue Qualität an. Mit dem Perspektivenwechsel vom beeinträchtigten Individuum auf das soziale Umfeld als eigentlicher Ursache der Behinderung, wandelte sich auch das Selbstverständnis von Menschen mit Beeinträchtigungen selbst. Die Proteste waren somit auch eine ausdrückliche Positionierung gegen die mit der älteren Sichtweise einhergehenden Stigmatisierung behinderter Menschen als ›unproduktive Nutznießer‹ des wirtschaftlichen Systems – und gegen eine Pathologisierung und Bevormundung durch Ärzte, Lehrer, Behörden und andere Autoritätsinstanzen. Als Beispiel für den radikalen Bruch mit der Deutungshoheit von Experten kann der Gründungskongress von DPI 1981 in Singapur genannt werden, wo sich mehr als 400 behinderte Delegierte aus allen Teilen der Welt mit dem Ziel zusammenfanden, ihre eigenen Interessen und Entscheidungen zu verfolgen. 41 Dazu zählte auch Kritik an der erst ein Jahr zuvor von der WHO veröffentlichten Internationalen Klassifikation von Schädigungen, Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen, an deren Definitionen sich das Internationale Jahr orientierte. Die Klassifikation unterschied drei Kategorien: Sie verknüpfte Schädigung (impairment) mit organischen Defiziten, Funktionsstörungen (disabilities) mit Defiziten des Individuums, und Beeinträchtigungen (handicaps) mit der Interaktion und Anpassung der behinderten Person an ihre Umwelt und der Ausübung sozialer Rollen.42 Maßnahmen, die eine grundlegende Öffnung und Umstrukturierung der Gesellschaft vorsahen – eines der Hauptziele der Behindertenbewegungen –, wurden dagegen erst 1993 im Zuge einer Überarbeitung des Gesamttextes for-
40 Vgl. Tom Shakespeare: Disabled People's Self-Organization: A New Social Movement? in: Disability, Handicap and Society 8 (1993) H. 3, S. 249-264; Jan Stoll: Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt/New York 2017. 41 Driedger (1989). 42 Weltgesundheitsorganisation (1980).
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muliert.43 Das auf dem Kongress verabschiedete Manifest von DPI sowie ein daran angelehntes Handlungsprogramm stellten das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstartikulation dagegen an vorderste Stelle. Mit dieser Ausrichtung schuf DPI nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl mit Behinderung als zentralem Identifikationsmerkmal, sondern inspirierte Kongressteilnehmer auch zu weiteren Aktionen und Vernetzungen in ihren Heimatländern.44 Am eindrücklichsten verweisen vermutlich die westdeutschen Aktionen gegen das Jahr auf das dadurch freigesetzte emanzipatorische Potential. So besetzten die Mitglieder einer Aktionsgruppe aus Protest gegen mangelnde Möglichkeiten zur Mitgestaltung des offiziellen Programms die Bühne der Festredner für die Eröffnungsfeier in Dortmund und veranstalteten am Ende des Jahres das sogenannte »Krüppeltribunal«, das Missstände in der öffentlichen Behandlung behinderter Menschen offenlegte und den Selbstvertretungsanspruch der Gruppe verdeutlichte. Eine radikale Form des Protests wählte bei der Eröffnung der Messe REHA 81 der Aktivist Franz Christoph, als er dem damals amtierenden Bundespräsidenten Carstens mit seiner Krücke gegen das Schienbein schlug. Dass Carstens auf eine Anzeige verzichtete, interpretierte die »Krüppelbewegung« als einen weiteren Beweis dafür, nicht als vollwertige Bürger wahrgenommen zu werden.45 Unter repressiven Regimes nahmen die Proteste auch subtilere Formen an. Sie rieben sich weniger offensichtlich an den politischen Verhältnissen, sondern suchten beispielsweise durch Zurschaustellung besonderer (oft künstlerischer) Fähigkeiten, gemeinsame Begegnungen und Feiern oder durch das Aufzeigen von alltäglichen Herausforderungen die Solidarität der Gemeinschaft. Während des Internationalen Jahres begann sich das Konzept von Behinderung als eine sozial distinkte Identität damit auch in nicht-westlichen Staaten durchzusetzen. Umfragen und Kartierungen, die Ausweitung von Rehabilitationsprogrammen, neue Regierungsstrategien und eine größere Sichtbarkeit der Menschen mit Behinderungen selbst begünstigten soziale Anerkennung und Integration. Es sind jedoch insbesondere die gesellschaftlichen Ausgestaltungen des Konzepts Behinderung in der postkolonialen Welt, die darauf verweisen, dass der genannte Wandel nicht ohne Friktionen war. So kam es in der Folge auch zu »hybriden
43 Raymond Lang: The Development and Critique of the Social Model of Disability (=Working Paper, University College London/Leonard Cheshire Disability and Inclusive Development Centre), London 2007, S. 23ff. 44 Driedger (1989). 45 Stoll (2017), 290-343.
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Identitäten«46, die mit der Gegensätzlichkeit von universellen Rechtsdiskursen und partikularen, auf festgefügte Traditionen beruhende Wahrnehmungen von Behinderung zu ringen hatten. Der gesellschaftliche Wandel verlief in diesen Kontexten dementsprechend weniger linear als in westlich geprägten Ländern, die auf eine längere Tradition von Emanzipationsbewegungen zurückblicken konnten.
GLOBALE DIMENSIONEN VON BEHINDERUNG: AUSTAUSCH UND WISSENSTRANSFER Eine weitere Bedeutung des Internationalen Jahres liegt darin begründet, dass im Rahmen globaler und transnationaler Programme und Ideentransfers die Definitionen von Behinderung, wie die Vereinten Nationen und die WHO sie vorgaben, zunehmend kritisch hinterfragt wurden. Auf dem Wertekanon der modernen ›westlichen Welt‹ basierend, stellten sie das Individuum in den Mittelpunkt und gingen von der Vorannahme aus, dass Gleichheit, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und persönliche Selbstverwirklichung allgemein erstrebenswerte Werte seien. Umgekehrt sei Abhängigkeit – von staatlicher Unterstützung, Wohltätigkeit oder dem engeren Familienkreis – ein inhärentes Problem, dem mithilfe von Bildungs- und Arbeitsrehabilitationsprogrammen begegnet werden müsse. Einen wichtigen Anteil an der Verbreitung dieser Normen hatten Hilfsprojekte der UN-Sonderorganisationen wie der WHO, die sich mit Prävention und medizinischer Rehabilitation befasste47, der ILO, die berufliche Trainingsprogramme und Weiterbildung förderte48, und der UNESCO und UNICEF, die den Fokus ihrer Arbeit in Entwicklungsländern auf den Ausbau sonderpädagogischer Angebote legten49. Die recht hohe Anzahl an Projekten insbesondere im ländlichen Raum verdeutlicht einerseits das vorhandene Interesse nicht-westlicher Länder an den Ideen und Erfahrungen der Industrienationen. Sie lässt andererseits aber auch erkennen, dass die vorherrschende Vorstellung von individuellen Rechten häufig konträr zu den anerkannten Normen und Praktiken in vielen Entwicklungsländern stand, wo Menschen mit Behinderungen als Teil eines übergeordneten Ganzen angesehen wurden: der helfenden und pflegenden Fami-
46 Vgl. Keri E. Iyall Smith/Patricia Leavy (Hg.): Hybrid Identities. Theoretical and Empirical Examinations, Leiden/Boston 2008. 47 Weltgesundheitsorganisation: Disability and Rehabilitation. 48 Internationale Arbeitsorganisation (2015). 49 UNESCO: Inclusion in Education; UNICEF: Disabilities.
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lie und Verwandtschaftsnetzwerke. Auch das in islamischen Ländern verbreitete Konzept der Mildtätigkeit fällt in diese Kategorie. Hier ist es die Gemeinschaft der Gläubigen, die sich aus religiöser Verpflichtung ihrer bedürftigen Mitglieder annimmt.50 Insbesondere die bilaterale Zusammenarbeit innerhalb der staatlichen Entwicklungshilfe wurde scharf kritisiert, da man befürchtete, dass regionale Auffassungen von Behinderung und damit verbundene Praktiken ignoriert und zugunsten des westlichen Individualitätsparadigmas marginalisiert würden. Da staatlich initiierte Hilfsprojekte niemals rein philanthropische Unternehmungen sind und häufig von ehemaligen Kolonialmächten durchgeführt wurden, ist es nicht verwunderlich, dass im Internationalen Jahr der Behinderten Stimmen laut wurden, die diese Projekte als neokoloniale Verfügungen ablehnten, sahen sie durch diese doch die eigenständige Handlungsmacht der Staaten im globalen Süden sowie zivilgesellschaftliche Netzwerke bedroht. Ein Beispiel für diese Kritik ist die Ausrufung regionaler Dekaden, um an örtliche und kulturelle Gegebenheiten, Traditionen und Weltanschauungen orientierte Lösungsansätze auszuarbeiten. Zu nennen sind hier u.a. die Dekade für Menschen mit Behinderungen in Asien und dem Pazifik von 1993 bis 200251 und die Afrikanische Dekade der Menschen mit Behinderung von 1999 bis 200952. Betrachtet man die Dynamiken zwischen den Empfängern und Bereitstellern humanitärer Hilfe und Entwicklungsförderung während des Internationalen Jahres und der anschließenden Internationalen Dekade der Behinderten genauer, so fallen vor allem die zahlreichen Rehabilitations- und Ausbildungsprogramme mit Verankerung auf der lokalen Ebene (CBR) ins Auge, die meist unter Federführung der WHO, ILO und nichtstaatlicher Hilfsorganisationen durchgeführt wurden. Das Konzept der CBR wurde zwar als universell anwendbares Instrument verstanden, das Menschen mit Behinderungen umfassend in die örtliche soziale Gemeinschaft integrieren sollte, berief sich dabei allerdings explizit auf spezifische kulturelle Erfahrungen und Praktiken wie chinesische Barfußärzte, die außerhalb der staatlichen Gesundheitsversorgung und in ländlichen Gebieten
50 Mohammed Ghaly: Islam and Disability. Perspectives in Islamic Theology and Jurisprudence, Leiden 2008; Hiam Al-Aoufi/Nawaf Al-Zyoud/Norbayah Shahminan: Islam and the Cultural Conceptualisation of Disability, in: International Journal of Adolescence and Youth 17 (2012), H. 4, S. 205-219. 51 Wirtschafts- und Sozialkommission der Vereinten Nationen für Asien und den Pazifik: ESCAP Resolution 48/3 Asian and Pacific Decade of Disabled Persons, 19932002, 23.04.92. 52 Organisation für Afrikanische Einheit: Report des Generalsekretärs CM/2112 (LXX), Algiers 12.-13.04.2000 und Lomé 06.-08.07.2000.
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tätig waren.53 Konkret angewandt wurde CBR beispielweise in der schulischen Integration körperbehinderter Kinder in enger Zusammenarbeit mit Eltern, Lehrkräften und lokalen Behörden, in der Errichtung von Werkstätten zur Ausbildung und Produktion von Hilfsmitteln, oder dem Aufbau lokaler Behindertenorganisationen. Die individuelle Anpassung dieses universellen Werkzeugs vor Ort resultierte in der Folge in einer Vielzahl unterschiedlicher Modernitätsformen, beziehungsweise entangled modernities54, die westliche und lokal-indigene Herangehensweisen miteinander verband. Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen transnationalen Kontakte und Verflechtungen zwischen Nord und Süd bietet das Internationale Jahr der Behinderten auch einen unkonventionellen Zugang zum besseren Verständnis dafür, wie das Jahr zugleich zu einer diskursiven Arena des Systemkonflikts wurde. Besonders deutlich wird der politisch-ideologische Aspekt anhand der Nichtbeteiligung der Sowjetunion am Internationalen Jahr – mit der Begründung, Behinderung als Ergebnis sozialer Barrieren sei dort schlicht nicht existent. 55 Hierzu schildert ein zeitgenössischer Beobachter: »Die offizielle Medienberichterstattung, die offenbar die Theorie entwickelt, dass in der Sowjetunion Behinderte vollständig in das soziale System integriert sind, schilderte deren Situation, als ob die für das Programm des Internationalen Jahres bereitgestellten Maßnahmen nur in kapitalistischen Gesellschaften von Relevanz seien.«56 Neben diesen augenscheinlichen ideologischen Unterschieden zwischen Vertretern sozialistischer und westlich-liberaler Gesellschaften lassen sich jedoch auch gemeinsame Interessen und Vernetzungen vor allem zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren
53 Helander (1989); Ders.: My Life as a Doctor in the World Health Organization, in: The Permanente Journal 10 (2006) H. 3, S. 45-50; Weltgesundheitsorganisation: Disability and Rehabilitation. 54 Das Theorem der entangled modernities nach Randeria (1999) steht dem Modell der multiplen Modernitäten nach Eisenstadt (2003) entgegen. Letzterer verortet den singulären Ursprung der Moderne in Europa, von wo aus sie sich später im Zuge des Kolonialismus auf andere Kulturen ausbreitete. Randeria schlägt stattdessen ein Modell vor, in welchem verschiedene, miteinander verwobene und historisch entwickelte Formen der Moderne koexistieren. 55 Sarah D. Phillips: «There Are No Invalids in the USSR!” A Missing Soviet Chapter in the New Disability History, in: Disability Studies Quarterly 39 (2009), H. 3, S. 1-33. 56 Paul D. Raymond: Disability as Dissidence: The Action Group to Defend the Rights of the Disabled in the USSR, in: William O. McCagg/Lewis Siegelbaum (Hg.), The Disabled in the Soviet Union. Past and Present, Theory and Practice, Pittsburgh 1989, S. 235-252, hier S. 243.
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feststellen. So war die Behindertenbewegung in Polen personell und ideell mit der Solidarność verbunden57, und Behindertenrechtsaktivisten aus der Volksrepublik China, die aufgrund eines politischen Repräsentationskonflikts mit Taiwan während des Gründungskongresses von DPI in ihrem Hotel bleiben mussten, erklärten ihr weiterhin bestehendes Interesse an internationalem Austausch über eine Grußbotschaft.58 Eine andere globale Herausforderung stellte sich mit dem Vormarsch neoliberaler Politik59, die zu Beginn der 1980er Jahre auch in Ländern mit gut ausgebautem Sozialsystem zu einem Rückbau staatlicher Unterstützungsmaßnahmen führte. Dies traf Menschen mit Behinderungen in besonderer Weise, verschärften diese Kürzungen doch den Konflikt um soziale Gerechtigkeit und den Streitpunkt und die Rolle des Staates als umfassender oder selektiver Anbieter von Gesundheitsleistungen für behinderte Bürgerinnen und Bürger. Dem zur Seite stand die Kritik an den zunehmenden Verflechtungen von staatlichen Akteuren und Nichtregierungsorganisationen mit Wirtschafts- und Pharmaunternehmen sowie Wohltätigkeitsorganisationen, die sich an Profit, Selbstprofilierung oder der Bereitstellung von auf Mitleid basierenden Gaben orientierten.
SCHLUSS Der historische Blick auf das von den Vereinten Nationen 1981 organisierte Internationale Jahr der Behinderten zeigt, dass die Suche nach globalen, universell anwendbaren Lösungsansätzen für bestehende soziale Ungerechtigkeiten gegenüber Menschen mit Behinderungen bereits lange vor den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 begonnen hatte. Unter dem Motto »volle Partizipation und Gleichberechtigung« bewarb das Internationale Jahr eine Neukonzeption von Behinderung als soziale Kategorie erstmals auf globaler Ebene – und überführte sie damit auch in verschiedene lokale, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte, wo sie nicht selten mit traditionellen Wertesystemen kollidierte.
57 Sara Calvo/Andres Morales: Social and Solidarity Economy. The World's Economy with a Social Face, New York 2017, S. 184-190. 58 Driedger (1989), S. 52. 59 Mladenov diskutiert dies am Beispiel postsozialistischer Transformationsprozesse. Teodor Mladenov: Neoliberalism, Postsocialism, Disability, in: Disability & Society 30 (2015) H. 3, S. 445-459.
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Vor dem Hintergrund der Dynamiken und Spannungen, die sich zwischen diesen universalen und partikularen Aspekten von Behinderung auftaten, kann das Internationale Jahr gleich in mehrfacher Hinsicht als Kristallisationspunkt übergeordneter Prozesse verstanden werden: die Anwendbarkeit von Menschenrechtsinstrumenten in einer multikulturellen Welt, die Sichtbarkeit und Einflussnahme neuer sozialer Bewegungen, transnationale Aspekte von Identitätsbildung und Selbstorganisation, sowie Debatten über gesellschaftliche Teilhabe, Verantwortlichkeit, Autonomie oder soziale Gerechtigkeit. Wie wir anhand verschiedener Beispiele versucht haben aufzuzeigen, bietet eine solche Perspektive nicht nur der disability history neue Impulse und Anknüpfungspunkte, wie Behinderung in ihrer globalen Komplexität erfassbarer gemacht werden kann. Ein auf vielfältigen, im Hinblick auf den Kalten Krieg, neoliberale Prozesse und postkolonialen Strukturwandel durchaus auch kontroversen Ebenen diskutiertes Ereignis wie das Internationale Jahr öffnet Behinderung als globales Phänomen zudem auch für die breite Geschichtswissenschaft, das ebenso wie Klassenzugehörigkeit, Geschlecht oder Ethnizität eine bedeutende Position in der Analyse sozialer Ungleichheiten einnehmen kann.
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»Eine Aufgabe der gesamten Bevölkerung« Behinderung im schwedischen Wohlfahrtsstaat der 1970er und 1980er Jahre Anna Derksen 1
»An einem späten Sommerabend im Jahr 1976 bewegte sich eine wundervolle Entourage durch Stockholm. Tausende taube, blinde, sehbehinderte, hörgeschädigte und taubblinde Kameraden demonstrierten für ihre Rechte.«2 Mit diesen bewegten Worten erinnerte sich Bengt-Olof Mattson, Abteilungssekretär im schwedischen Sozialministerium, während eines Vorbereitungstreffens zum Internationalen Jahr der Behinderten 1981 an eine öffentliche Kundgebung von etwa 2.000 Menschen mit Behinderungen, die auf einen Aufruf der Landesverbände für Taube, Blinde und Taubblinde (Sveriges Dövas Riksförbund, De Blindas Förening und Föreningen Sveriges Dövblinda) in die schwedische Hauptstadt gekommen waren.3 Die Belange von Menschen mit Behinderungen gegenüber der Politik und Bevölkerung sichtbar zu machen und ihren Unmut über mangelnde Rechte und staatliche Unterstützung zu äußern, war jedoch nur ein Anliegen der Demonst-
1
Die Autorin möchte an dieser Stelle auf die Unterstützung ihres Forschungsprojektes durch den ERC Consolidator Grant Rethinking Disability unter der Fördervertragsnummer 648115 verweisen.
2
Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen aus dem Schwedischen von der Autorin. Beredningsgruppen för handikappåret 1981: Rapport från konferens med studieförbund och kulturinstitutioner [Vorbereitungsgruppe für das Internationale Behindertenjahr 1981: Bericht zur Konferenz mit Studienverbänden und Kulturinstitutionen], 17.03.1980, Schwedisches Reicharchiv: Statens Handikappråd, Handikappår 1981, 1980/1982, F5:6.
3
Ebd.
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ranten. Wie die Plakate und Spruchbänder vermitteln, waren die Teilnehmenden an diesem Tag auch zusammengekommen, um ihre Unterstützung für eine neue behindertenpolitische Strategie des skandinavischen Landes auszudrücken. Denn mit der Veröffentlichung des Abschlussberichts zur ersten nationalen Behindertenumfrage (1965-1976), den die Schwedische Regierungskommission für Behindertenfragen (handikapputredning) im Mai 1976 unter dem Titel Kultur für alle (Kultur åt alla) vorgelegt hatte,4 bekannte sich der schwedische Staat zu einem neuen Verständnis von Behinderung, für das sich Aktivisten in Schweden und den nordischen Nachbarländern bereits seit Jahren stark machten: die Idee, dass Behinderung nicht im körperlich oder geistig beeinträchtigten Individuum begründet liege, sondern aus dessen Konfrontation mit der sozialen Umwelt resultiere – und damit ein Anliegen der gesamten Gesellschaft sei.5 In der schwedischen disability history steht Kultur für alle sinnbildlich für den Beginn einer behindertenpolitischen Zeitenwende. Doch natürlich treibt die Frage nach dem richtigen Umgang mit Menschen, die aufgrund einer Beeinträchtigung von geltenden sozialen Normen abweichen, Gesellschaften und Staaten seit Jahrhunderten um. Im Bereich Behinderung hat das neuere Konzept der Inklusion zunehmend den Blick von medizinischer Rehabilitation auf Ziele der Teilhabe und selbstbestimmten Lebensführung verschoben.6 Durch die länderübergreifende Vernetzung von Behindertenorganisationen und den Einsatz der Vereinten Nationen7 setzt sich auch international zunehmend die Ansicht durch, »dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie
4
Sozialministerium (Hg.): Kultur åt alla. Betänkande av handikapputredningen (SOU 1976:20), Stockholm 1976.
5
Zur historischen Entwicklung des Behindertenbegriffs in Schweden siehe u.a. Mårten Söder: Handikappbegreppet – en analys utifrån WHO:s terminologi och svensk debatt, Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981, Uppsala 1982; Staffan Förhammar/Marie C. Nelson: Funktionshinder i ett historiskt perspektiv, Lund 2004; Elin Gardeström: Handikapprörelsen och forskningen, Sundbyberg 2006; Karl Grunewald: Från idiot till medborgare. De utvecklingsstördas historia, Stockholm 2008; Magnus Tideman (Hg.): Perspektiv på funktionshinder och handikapp, Stockholm 1996.
6
Arie Rimmermann: Social Inclusion of People with Disabilities, Cambridge 2012, S. 33-54.
7
Theresia Degener: Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen (2006) H. 2, S. 104-110.
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an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern«, wie es in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 heißt.8 Trotz des zeitlichen Unterschiedes von 30 Jahren ist die Konvention damit der in Kultur für alle entworfenen Utopie bemerkenswert ähnlich. Dieser Beitrag beleuchtet, wie sich die Vision einer ›Gesellschaft für alle‹ im Kontext schwedischer Behindertendiskurse entwickelte. Der Titel des Debattenbuchs Im Hinterhof des Volksheims (På folkhemmets backgård), 1968 von dem Behindertenaktivisten Vilhelm Ekensteen verfasst,9 dient als Ausgangspunkt für die Frage, wie sich die verschiedenen Interessengruppen innerhalb der schwedischen Behindertenbewegung organisierten, welche politischen Ziele sie vorbrachten und wie diese rezipiert wurden. Dadurch können Erkenntnisse über die sozialen Dimensionen von Behinderung in Schweden gewonnen werden, sie bietet aber auch einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis zivilgesellschaftlicher Versuche, den Wohlfahrtsstaat von innen herauszufordern und neu zu definieren. Was waren die Voraussetzungen für den umweltbezogenen Behindertenbegriff und die Forderung nach einer ›Gesellschaft für alle‹, und wie lässt sich ihre Überführung auf die politische Agenda interpretieren? Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über wesentliche Merkmale schwedischer Behindertenpolitik in der Nachkriegszeit gegeben. Mit Fokus auf den beteiligten Akteuren und den spezifischen gesellschaftspolitischen Strukturen des schwedischen Wohlfahrtsstaates werden anschließend drei Wegmarken der 1970er und 1980er Jahre beleuchtet, die neue Sichtweisen auf das Thema Behinderung eröffnet und die politische Auseinandersetzung in besonderer Weise geformt haben: das Programm der schwedischen Behindertenbewegung unter dem Titel Eine Gesellschaft für alle (Ett samhälle för alla) (1972),10 das politische Bekenntnis zum umweltbezogenen Verständnis von Behinderung im Bericht der nationalen Behindertenumfrage Kultur für alle (1976),11 und schließlich das Internationale Jahr der Behinderten (1981).12
8
UN-Generalversammlung: Convention on the Rights of Persons with Disabilities (A/RES/61/106), 24.1.2007.
9
Vilhelm Ekensteen: På folkhemmets bakgård. En debattbok om de handikappades situation, Stockholm 1968.
10 Handikappförbundens Centralkommitté (Hg.): Ett samhälle för alla. Princip- och handlingsprogram för handikappförbundens centralkommitté, Stockholm 1972. 11 Sozialministerium (1976). 12 Sozialministerium (Hg.): Handlingsprogram i handikappfrågor. Förslag av Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (SOU 1982:46), Stockholm 1982.; Ders. (Hg.): Handikappåret i Sverige. Slutrapport från Beredningsgruppen för
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HISTORISCHE ASPEKTE Von der Utopie des Volksheims … Schwedens Weg in die Moderne13 zeichnet sich durch zwei ambivalente, dabei eng miteinander verflochtene Entwicklungen aus, die wichtige Grundlagen für den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung schufen: die auf normativen und eugenischen Erwägungen basierende Abgrenzung gegenüber gesellschaftlichen ›Abweichlern‹, als welche Menschen mit geistiger Behinderung, aber auch Alkoholiker, Prostituierte oder ethnische Minderheiten wie die Sami, Roma oder tattare gesehen wurden,14 und die radikalintegrative Utopie des ›Volksheims‹, der schwedischen Konzeption eines universellen Wohlfahrtsstaates. Angelehnt an sozialdemokratische Wertvorstellungen von Gleichheit, Hilfsbereitschaft und Solidarität verdeutlicht das 1928 in einer Rede des späteren Ministerpräsidenten Per Albin Hansson vorgestellte Konzept des Volksheims wie kein anderes die schwedische Idealvorstellung einer ›guten Gesellschaft‹ mündiger Bürger.15 In diesem Sinne wurde der Staat als eine Familie gedacht, ein »gu-
internationella handikappåret 1981, Stockholm 1982. Eine umfassende Dokumentation des Jahres befindet sich im Schwedischen Reichsarchiv, u.a.: Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981; Statens Handikappråd: Handikappåret 1981; Handikappförbundens Centralkommitté: FN:s Handikappår 1981 (1980-1980). 13 Dieser Abschnitt bezieht sich auf Entwicklungen, die Menschen mit Behinderungen unmittelbar betrafen, und stellt daher nur einen kleinen Ausschnitt der schwedischen Sozialgeschichte um 1900 dar. Für Studien zur schwedischen Moderne um 1900 siehe u.a. Sven E.O. Hort: Social Policy, Welfare State, and Civil Society in Sweden. Vol. 1: History, Policies, and Institutions 1884-1988, Lund 2014; Petteri Pietikainen: Neurosis and Modernity. The Age of Nervousness in Sweden, Leiden 2007; Leo Lucassen: A Brave New World. The Left, Social Engineering, and Eugenics in Twentieth-Century Europe, in: International Review of Social History 55 (2010), H. 2, S. 265-296. 14 Gunnar Broberg/Nils Roll-Hansen (Hg.): Eugenics and the Welfare State. Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing 1996. Als tattare wurden im skandinavischen Raum Angehörige nicht-sesshafter Gruppen verschiedener Herkunft bezeichnet; im heutigen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung romanifolket (abgeleitet von Roma) durchgesetzt. 15 Leif Holgersson: Building a People's Home for Settled Conscientious Swedes, in: Scandinavian Journal of Social Welfare 3 (1994), H. 3, S. 113–120; Norbert Götz:
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tes Heim [das] keine Privilegierten oder Zurückgewiesenen kennt, keine Lieblingskinder und keine Stiefkinder.«16 Damit oblag es in erster Linie dem Staat, gesellschaftliche Unterschiede auszugleichen; wie Sjögrén herausstellt, kamen die Leistungen des Volksheims jedoch insbesondere jenen zugute, die seinen normativen Anforderungen entsprachen.17 Als vermeintliches gesellschaftliches Risiko wahrgenommen, waren bürgerliche Teilhaberechte und soziale Zugehörigkeit behinderter Menschen eng damit verknüpft, zu welchem Grad sie sich aktiv am Aufbau des Volksheims beteiligten. Daraus resultierte im Jahr 1914 ein zum »Schutz der Gesellschaft« erlassenes Eheverbot für Menschen mit geistiger Behinderung18 und zwanzig Jahre später das bis 1975 bestehende Sterilisationsgesetz.19 Menschen mit körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen waren dagegen in weitaus geringerem Umfang staatlichen Interventionen ausgesetzt. Noch bis in die 1950er Jahre fielen sie in den Zuständigkeitsbereich der städtischen Armenfürsorge und wohltätiger Vereine. Das 1934 in Kraft getretene Gesetz zur Blindenentschädigung stellte lange Zeit die einzige zielgerichtete behindertenpolitische Maßnahme dar.20 Dies änderte sich in den 1940er Jahren. So sieht Ericsson 21 die 1943 erfolgte Einrichtung des Kooperationskomitees für partiell Arbeitsfähige (Samarbetsorgan för partiellt arbetsföra, SAMPA) als exemplarisch für eine erste Neubetrachtung von Behinderung, die sich vom Diktum der gesellschaftlichen Abgren-
Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim, Baden-Baden 2001; Valeska Henze: Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells, Florenz/Berlin 1999. 16 Per Albin Hansson: Rede in der Zweiten Kammer 1928, zit. nach Leif Åslund: Tal i tiden, Stockholm 1994, S. 126. 17 Annick Sjögrén: Folkhemmets framgång försvårar mångfald, in: Invandare & Minoriteter, 2 (2000), S. 21-25. 18 Mattias Tydén: Medicinska äktenskapshinder. Om rashygienens etablering i svensk politik under 1910-talet, in: Marika Hedin et. al. (Hg.), Staten som vän eller fiende? Individ och samhälle i svenskt 1900-tal, Stockholm 2007, S. 99-132. 19 Broberg/Roll-Hansen (1996). 20 Kungl. Maj:ts Förordning (1934:105) om blindhetsersättning; Inger Persson Bergvall/Malena Sjöberg: Åratal – ur handikapphistorien, HandikappHistoriska Föreningen, Kalmar 2012, S. 13; Claes G. Olsson: Omsorg & kontroll. En handikapphistorisk studie 1750-1930. Föreställningar och levnadsförhållanden, Umeå 2010, S. 256f. 21 Kent Ericsson: From Institutional Life to Community Participation. Ideas and Realities Concerning Support to Persons with Intellectual Disability, Uppsala 2002.
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zung abwandte und die Integration in wohlfahrtsstaatliche Konzeptionen und Institutionen antizipierte: »The ambition of the committee was therefore that the support to be provided to persons with disabilities should be in accordance with the social spirit of the time. All citizens in need of support were to be given the same opportunity to welfare.«22 … zum Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit rückte eine Realisierung des Volksheimgedankens in Form eines modernen Wohlfahrtsstaats in greifbare Nähe. In der Praxis verband sich dies mit einem umfassenden Ausbau des öffentlichen Sektors und sozialstaatlicher Leistungen. Mit dem neuen Sozialhilfegesetz von 1956 erhielten schwedische Bürger eine Grundsicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität und Alter. Damit wurden auch Menschen mit Beeinträchtigungen in das allgemeine Sozialversicherungsnetz integriert. 23 Ideell erfuhr die Behindertenpolitik jedoch erst in den 1960er Jahren neue Impulse. Angestoßen durch den wachsenden Wohlstand der Bevölkerung verschob sich der politische Fokus nun zunehmend vom Wohl der Gesamtgesellschaft auf das der einzelnen Gruppen, aus denen sie bestand. Bücher wie Die unfertige Wohlfahrt (Den ofärdiga välfärden) des Ehepaars Inghe thematisierten die weiterhin bestehende Stigmatisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen.24 Durch Medienberichte über die durch ›Unbildbarkeit‹ scheinbar legitimierte soziale Vernachlässigung behinderter Kinder 25 und über Proteste von Elternorganisationen26 wurde die Öffentlichkeit zunehmend mit dem Problem kon-
22 Ebd., 29. 23 Lag (1956:2) om socialhjälp. 24 Gunnar und Maj-Britt Inghe: Den ofärdiga välfärden, Stockholm 1967. Insgesamt wurden acht verschiedene Bevölkerungsgruppen untersucht, Menschen mit (geistigen) Behinderungen fanden jedoch keine explizite Erwähnung. 25 Das im schwedischen Raum wohl bekannteste Beispiel ist die Journalistin Lis Asklund, die im Jahr 1959 eine investigative Radioreportage über das Eugeniahemmet, ein Heim für Kinder mit schweren körperlichen Behinderungen, produzierte und damit eine heftige Debatte über staatliche Zensur und das Anstaltswesen anstieß. Sveriges Radio: Lis Asklund – kuratorn som blev Sveriges biktmor, 2013; Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 20f. 26 Persson Bergvall/Sjöberg (2012); Grunewald (2008); Bo Andersson: Inte som andra. En historia om mångfald, Bollnäs 1993; Kristina Engwall/Stig Larsson (Hg.): Utanförskapets historia - om funktionsnedsättning och funktionshinder, Lund 2012.
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frontiert, dass die moderne Wohlfahrtsgesellschaft ungeachtet ihrer egalitärdemokratischen Ideale weiterhin eine an Klassengesellschaft zu sein schien, die sich an ökonomischen Werten orientierte. Menschen mit Behinderungen schlossen sich auch selbst zu neuen Organisationen zusammen oder richteten bestehende Vereine neu aus. 27 Auch die Politik begann einzusehen, dass sich Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen kaum von den übergreifenden gesellschaftspolitischen Entwicklungen trennen ließen, wie sich in dem Bericht Soziale Fürsorge Behinderter (Social omvårdnad av handikappade) (1964) widerspiegelt.28 Hier findet sich erstmals ein Hinweis auf ein gesellschafts- und umweltbezogenes Verständnis von Behinderung: »Eine Person kann aus medizinischer Sicht als schwer behindert angesehen werden, doch wenn man seinen Arbeitseinsatz und seine Einbindung in die Gemeinschaft betrachtet, kann er möglicherweise überhaupt nicht als behindert betrachtet werden.«29 Auch wenn der Bericht vage bleibt, lassen sich zwei Neuerungen des politischen Blicks auf Behinderung erkennen; die Einbindung des sozialen Umfeldes, und die Ausdehnung behindertenpolitischer Maßnahmen »überall im gesellschaftlichen Leben […], in der Gesellschaftsplanung ebenso wie im Wohnungsbau, im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt, in der Sozialversicherung und im Kulturleben«.30 Um die gewonnenen Erkenntnisse für zukünftige Maßnahmen nutzbar zu machen, wurde 1965 eine staatliche Untersuchungskommission für Behindertenfragen, die sogenannte handikapputredning,31 ins Leben gerufen, die den elf Jahre später erschienen Abschlussberichts Kultur für alle verfasste.32 Unterstützt wurde sie vom Staatlichen Behindertenrat (Statens Handikappråd), der als erstes Organ des Interessenausgleichs zwischen der Politik und Behindertenverbänden
27 Handikappförbundens Centralkommitté (Hg.): HCK – 50 år: handikapprörelsen i samverkan – då, nu och i framtiden, Stockholm 1992; Susanne Berg: DHR. 80 år av rörelse, Stockholm 2007; Gardeström (2006); Agneta Hugemark/Christine Roman: Kamper i handikapprörelsen. Resurser, erkännande, representation, Umeå 2012; Erik Ransemar: Handikapprörelsen växer fram, Stockholm 1981. 28 Sozialministerium (Hg.): Social omvårdnad av handikappade. En sammanställning gjord inom Socialpolitiska kommittén (SOU 1964:43), Stockholm 1964. 29 Ebd., 26. 30 Ebd., 110. 31 Schwedische Regierung (Hg.): Från patient till medborgare – en nationell handlingsplan för handikappolitiken (Prop. 1999/2000:79), Stockholm 2000, S. 12; Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 14f. 32 Grunewald (2008), 159ff.
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angesehen werden kann. Der zunehmend politisierten Behindertenbewegung gingen diese Reformen jedoch nicht weit genug: An die Stelle von finanzieller Unterstützung und Arbeitsmarktintegration trat die Forderung nach einem radikalen Umbau des wohlfahrtsstaatlichen Systems an sich – der endgültigen Verwirklichung einer ›Gesellschaft für alle‹, die bereits der Imagination des Volksheims innegewohnt hatte.33
AUS DEM ›HINTERHOF DES VOLKSHEIMS‹ IN DIE ›GESELLSCHAFT FÜR ALLE‹? Eine Gesellschaft für alle (1972) – die Behindertenbewegung politisiert sich Wie das Beispiel von Kultur für alle verdeutlicht, bedeuteten die 1970er Jahre für die gesellschaftliche Positionierung der schwedischen Behindertenbewegung einen Neuanfang. Fragen zu Gleichheit und Integration von Menschen mit Behinderungen sollten nicht länger als Einzelphänomene verstanden, sondern von der gesamten Gesellschaft her gedacht werden. Darin fügte sich auch das 1972 vom Zentralkomitee der Behindertenverbände (Handikappförbundens Centralkommitté, HCK), dem landesweiten, gemäßigten Sprachrohr der Behindertenorganisationen, veröffentlichte Manifest Eine Gesellschaft für alle ein.34 Inhaltlich eher eine Liste politischer Forderungen als ein kohärentes Programm, war es das Ergebnis langer Aushandlungsprozesse, die die Beziehungen zwischen Staat und Behindertenorganisationen, aber auch innerhalb der Behindertenbewegung selbst, auf neue Grundlagen stellten. Die 1960er Jahre waren auch in Schweden eine Zeit des Umbruchs. Gemeinsam mit anderen westlichen Ländern erlebte das Land eine Politisierung breiter Bevölkerungsschichten. Neben Studentenprotesten, dem Einsatz für Frauenrechte und Umweltschutz etablierte sich mit der Behindertenbewegung und ihren verschiedenen, von linksradikalen Kräften bis zu gemäßigten Organisationen reichenden Strömungen ein weiteres kritisches Element im öffentlichen Dis-
33 Doris Brenner: Die Geschichte der Schwedischen Gebärdensprache. Eine internationale Erfolgsgeschichte?, Klagenfurt 2006, S. 102; Anita Pärsson: Dövas utbildning i Sverige 1889 – 1971. En skola för ett språk och ett praktiskt yrke, Göteborg 1997, S. 121ff. 34 Handikappförbundets Centralkommitté (1972); Ders. (1992).
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kurs.35 Doch auch das Verhältnis zum Staat wurde neu verhandelt. In Schweden bildeten Etatismus und Individualismus laut Trägårdh und Berggren seit den Volksbewegungen des 19. Jahrhunderts eine untrennbare Einheit, die ihren politischen Ausdruck zunächst in der Rhetorik des Volksheims fand. 36 Die sich in den 1960er Jahren herausbildenden Neuen Sozialen Bewegungen, so argumentieren Bjerend und Demker, müssen in der gleichen Tradition gesehen werden, mit dem Unterschied, dass sich Individualisierungsprozesse nun zunehmend beschleunigten. Die Folge war eine bis dahin nicht gekannte Pluralisierung von Interessen, die neu ausgehandelt werden mussten.37 Bis weit in die Nachkriegszeit hinein war der Einfluss der schwedischen Behindertenorganisationen auf politische Prozesse marginal, was auch auf eine mangelnde Vernetzung der Organisationen untereinander zurückzuführen ist.38 Die teilweise seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Verbände, wie die Stockholmer Taubstummenvereinigung (Stockholms Döfstumsföreningen, 1868) oder die Vereinigung der Blinden (De Blindas Förening, 1889), hatten sich 1943 zum Kooperationskomitee für partiell Arbeitsfähige (Samarbetsorgan för partiellt arbetsföra, SAMPAS) zusammengefunden, dem sich auch zahlreiche neu gegründete Organisationen wie der Reichsverband für entwicklungsgestörte Kinder (Riksförbundet för utvecklingsstörda barn, ungdomar och vuxna, FUB) oder der Verband für soziale und mentale Gesundheit (Riksförbundet för social och mental hälsa, RSMH) anschlossen.39 Generell konzentrierten sich diese Organisatio-
35 Brenner (2006), 102; Engwall/Larsson (2012), 21f. Siehe auch Kjell Östberg: Sweden and the Long ‹1968› – Break or Continuity?, in: Scandinavian Journal of History 33 (2008), H. 4, S. 339-352. 36 Lars Trägårdh/Henrik Berggren: Är svensken människa? Gemenskap och oberoende i det moderna Sverige, Stockholm 2009. 37 Ulf Bjereld/Marie Demker: I Vattumannens tid? En bok om 1968 års uppror och dess betydelse i dag, Stockholm 2005. 38 Handikappförbundens Centralkommitté (1992); Marie-Louise Larsson-Severinsson/ Olov Andersson/Magnus Tideman (Hg.): Det relativa handikappbegreppets framväxt och etablering, Halmstad 2009, S. 31. 39 Sozialministerium (Hg.): Kommitténs för partiellt arbetsföra betänkande 1. Förslag till effektiviserad kurators- och arbetsförmedlingsverksamhet för partiellt arbetsföra m.m. (SOU 1946:24), Stockholm 1946; Sozialministerium (Hg.): Kommitténs för partiellt arbetsföra betänkanden, Bilaga nr 2. Arbetsterapi, ett led i sjukvården. Rapport från en studieresa i U.S.A. av med. dr Erik Severin (SOU 1946:65), Stockholm 1946. Siehe auch Kent Ericsson: Den svenska handikappreformen och 1946 års normaliseringsprincip, in: Handicaphistorisk Tidskrift 13 (2005), S. 36-50; Karl Montan: Från par-
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nen jedoch auf die partikularen Interessen ihrer Mitglieder. Außerhalb von SAMPAS, das seinen Namen 1962 in Zentralkomitee der Behindertenverbände (HCK) geändert hatte, blieb die organisationsübergreifende Zusammenarbeit auf ein Minimum beschränkt. Dies änderte sich erst mit dem aufgeladenen politischen Klima der späten 1960er Jahre, in denen sich insbesondere zwei Gruppierungen als zentrale Akteure herausbildeten: die dem linksalternativen Milieu nahestehende Protestbewegung Anti-Handikapp und das gemäßigtere HCK. Der Gründung von Anti-Handikapp ging eine Publikation voraus, die direkt in die hitzig geführte Diskussion um soziale Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat hineinstieß. Im Hinterhof des Volksheims von 196840 war ein Debattenbuch, das gleich auf mehreren Ebenen Kritik übte: die bisherige Behindertenpolitik sei im Kern antidemokratisch, behinderte Bürger würden nicht als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft sondern als passiv und bedürftig wahrgenommen, und auch die öffentliche Fürsorge gliche eher einem wohltätigen Akt als einem fundamentalen Recht. Dieser Kritik stellte der Autor und Behindertenaktivist Vilhelm Ekensteen ein für die damalige Zeit radikal neues Verständnis von Behinderung entgegen, das er als Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umwelt beschrieb.41 Anti-Handikapp sei keine normale Behindertenorganisation, da sie von »einer Definition von Behinderung als einem sozialen und nicht einem physischen Phänomen« ausgehe.42 Von Gustavsson als »nordisches relationales Modell« bezeichnet,43 blieb Ekensteens Definition bis in die 1970er Jahre hinein ein rhetorischer Kampfbegriff der Anti-HandikappBewegung. Nicht mehr verbandsorientierte Einzelforderungen, sondern die Umgestaltung der Gesellschaft stand nun im Fokus. Die reine Ausweitung behindertenpolitischer Maßnahmen auf andere Verwaltungsbereiche, wie es der Untersuchungsbericht Soziale Fürsorge Behinderter noch 1964 vorgeschlagen hatte, wurde als unzureichende Verlegenheitsmaßnahme abgelehnt.44
tiellt arbetsför till funktionshindrad. Rehabilitering och handikappomsorg under perioden 1945-1985, Bromma 1988. 40 Ekensteen (1968). 41 Ebd.; siehe auch Ekensteens Beiträge in AH-bulletinen. Anti-Handikapp i Lund (1970), H. 1. 42 AH-bulletinen (1970). 43 Anders Gustavsson/Jan Tøssebro/Rannveig Traustadóttir (Hg.): Resistance, Reflection and Change. Nordic Disability Research, Lund 2005. 44 Larsson-Severinsson/Andersson/Tideman (2009), 17f.; Leif Svanström/Stig Åhs/Leif Stenberg: Handikappade i välfärdssamhället, Stockholm 1992, S. 43ff.
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Ähnliche Überlegungen prägten auch die bereits etablierten und in der gesellschaftspolitischen Debatte gemäßigter auftretenden Behindertenorganisationen im Dachverband HCK. 45 Im Gegensatz zur dem Staat gegenüber äußerst konfrontativ eingestellten Anti-Handikapp war das HCK der erste institutionalisierte Versuch, eine gemeinsame Politikplanung zwischen behinderten Menschen und staatlichen Organen auf den Weg zu bringen. Das Verhältnis zwischen beiden Gruppen war schwierig und die jeweiligen Wortführer Vilhelm Ekensteen und Mats Denkert, der 1975 das Buch Schau weg und spende! Einblicke in die Behindertenbewegung (Blunda och skänk! Insyn i handikapprörelsen)46 verfasste, diskutierten erbittert über die Rolle öffentlicher Unterstützung, ihr Verhältnis zum Staat und die Tatsache, dass viele der im HCK organisierten Verbände nicht von Menschen mit Behinderungen selbst geführt wurden. Wo Anti-Handikapp auf öffentliche Mobilisierung setzte, richtete sich das HCK mit seiner Programmschrift direkt an staatliche Vertreter. Eine Gesellschaft für alle wurde 1972 von etwa 400 Teilnehmern von 20 verschiedenen Behindertenverbänden im schwedischen Reichstag unter großer Anteilnahme politischer Vertreter verabschiedet. Die bisherige Unterscheidung zwischen verschiedenen Behinderungsarten wurde durch eine neue kollektive Identität als ›Behinderte‹ ersetzt, die auf den geteilten Erfahrungen von gesellschaftlicher Ungleichheit und Ausgrenzung gründete.47 Weniger radikal als Ekensteens Debattenbuch, weist Eine Gesellschaft für alle dennoch viele inhaltliche Parallelen auf – nicht zuletzt die Betonung der gesellschaftlichen Umwelt als eigentliche Ursache für eine Behinderung und der daraus abgeleitete Anspruch auf gesellschaftlichen Wandel. Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen, so eine der Hauptaussagen, kämen allen Menschen zugute: »Die Gesellschaft muss für alle funktionieren. […] Wenn die Behindertenbewegung fordert, dass die Gesellschaft von heute eine Gesellschaft für alle sein muss, dann ist dies keine Frage der Gerechtigkeit, Gleichheit oder Solidarität nur für Behinderte. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität für alle. […] Mit Blick auf die negativen Umwelt- und Gesellschaftsfaktoren genügt es nicht, das Individuum der Gesellschaft anzupassen. Die Forderung muss nun lauten, die Umwelt und die Gesellschaft den Bedürfnissen der Mitbürger anzupassen.«48
45 Handikappförbundens Centralkommitté (1992). 46 Mats Denkert: Blunda och skänk! Insyn i handikapprörelsen, Stockholm 1975. 47 Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 9ff. Siehe auch Larsson-Severinsson/Andersson/ Tideman (2009), 7 u. 18; Söder (1982). 48 Handikappförbundens Centralkommitté (1972), 3.
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Das HCK griff verschiedene gesellschaftspolitische Bereiche auf, von denen Menschen mit Behinderungen auf vielfältige Weisen ausgeschlossen waren oder benachteiligt wurden, darunter Schule und Ausbildung, Wohnungsfragen, Rehabilitation, Freizeit und Kultur, Mitbestimmung und Informationspolitik. Einer Einführung in die Problematik folgten Forderungen, die jedoch nur wenige konkrete Vorschläge beinhalteten. Neu an der Debatte um Behindertenrechte war, dass der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung ein eigener Punkt gewidmet wurde und durch Menschen mit Behinderungen selbst erfolgen sollte. Das HCK führte dadurch die von Anti-Handikapp lancierte Idee eines umweltbezogenen Behindertenbegriffs in den breiteren gesellschaftspolitischen Diskurs ein. Gleichzeitig machte Eine Gesellschaft für alle deutlich, dass Menschen mit Behinderungen ebenso wie andere zivilgesellschaftliche Gruppen einen politischen Faktor darstellten, mit dem man rechnen musste. Das Programm kann damit als Symbol für die Mobilisierung der schwedischen Behindertenbewegung nach innen gewertet werden. Darüber hinaus steht es für ein stets breiter werdendes Netz an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kooperationspartnern, neuen Themenbereichen und Definitionen. Kultur für alle (1976) – Aufbruch ohne Wandel? Die in Eine Gesellschaft für alle vorgebrachte Vorstellung von Behinderung als Missverhältnis zwischen dem Individuum und seiner Umwelt war zu Beginn der 1970er Jahre auch deshalb so geeignet, das zuvor durch Anti-Handikapp stark politisierte Verhältnis zum Staat zu ›normalisieren‹, weil es sowohl die Forderungen des Staates nach Integration und Anpassung, als auch die durch die Behindertenbewegung vorgebrachten Emanzipations- und Mitbestimmungsansprüche erfolgreich miteinander zu verbinden vermochte. Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass der Staat als Autor des solidarischen Volksheimgedankens und der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft auf eine lange Geschichte zivilgesellschaftlicher Unterstützung zurückblicken konnte49 und entsprechend positiv auf das Engagement des HCK reagierte. Die wachsende Zusammenarbeit zwischen staatlichen Vertretern und den Behindertenorganisationen wird in der Reichsausstellung Verbot von Behinderung (Förbud mot handikapp) deutlich, einem Kooperationsprojekt der Behindertenbewegung, Studenten der Stockholmer Kunsthochschule Konstfack und der staatlichen Behörde für Reichsausstellungen (Riksutställningar), das zwi-
49 Hort (2014).
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schen 1971 und 1973 in verschiedenen schwedischen Städten zu sehen war. 50 Verbot von Behinderung hatte sich ganz den Sichtweisen der Behindertenbewegung verschrieben: Die Ausstellung informierte das interessierte Publikum auf kreative und undogmatische Weise über die Lebenssituationen und alltäglichen Herausforderungen von Menschen mit Behinderungen, etwa im Haushalt, im Lebensmittelgeschäft oder auf der Arbeit, regte aber auch zu Diskussionen darüber an, wie eine ›Gesellschaft für alle‹ praktisch aussehen könnte.51 Dies verdeutlichte auch der Titel Verbot von Behinderung, der sich durch seine Doppeldeutigkeit als erfolgreiches Werkzeug für die Verbreitung der Hauptbotschaft der Behindertenbewegung herausstellte. So schrieb die Zeitung VästerbottensKuriren: »›Verbot von Behinderung‹, wundert sich jemand. Das geht doch gar nicht. Doch, sagte Gunnar Olofsson [behindertenpolitischer Sprecher des Regierungsbezirks Umeå] in seiner Begrüßungsrede. Indem wir die Gesellschaft und die Umwelt an den Nutzen und die Bedürfnisse aller Menschen anpassen, geht das. Wir wollen, dass Barrieren, die eine Behinderung verursachen, beseitigt werden.«52
Ein weiteres Beispiel für die intensivierten Kontakte zwischen Staat und Behindertenorganisationen ist der 1965 auf Initiative der handikapputredning ins Leben gerufene Staatliche Behindertenrat sowie seine Ableger auf regionaler und kommunaler Ebene. Dass diese Institutionen auf großes Echo stießen – 1977 besaßen bereits 245 der damals 278 Kommunen einen Behindertenrat – zeigt, dass die programmatische Arbeit des HCK erste Früchte trug. Ihre Aufgaben waren breit gefächert. Sie koordinierten die kommunale Behindertenpolitik, übermittelten Ergebnisse und Erfahrungen an die Gemeinden und Provinziallandtage, diskutierten gesellschaftliche Maßnahmen und gaben der Behindertenbewegung die Gelegenheit, ihre Standpunkte mit einer gemeinsamen Stimme vorzubringen. Unter Federführung des HCK etablierte sich die Behindertenbewegung somit als wichtige remiss-Instanz, das heißt als Konsultations- und Beratungsorgan im
50 Riksutställningar: »Förbud mot handikapp« [Reichsausstellungen: »Verbot von Behinderung«], 1970-1973, Schwedisches Reicharchiv: Riksutställningar/Projektarkivet/ Projektnr. 1 073/F1A:103A,. 51 Helene Broms/Anders Göransson/Mikael Löfgren: Kultur i rörelse – en historia om Riksutställningar och kulturpolitiken, Stockholm 2012, S. 93ff. Die Ausstellung wurde auch in der Presse diskutiert: Jan Lindgren: Utställningen där alla kan få uppleva hur det är att vara handikappad, in: Expressen, 09.05.1972. 52 Maning i utställning: Förbud mot handikapp, in: Västerbottens-Kuriren, 01.04.1977.
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Gesetzgebungsprozess und in der Planung gesellschaftspolitischer Projekte. Als problematisch galt jedoch, dass die Behindertenräte lediglich eine beratende Funktion besaßen und ihr politischer Einfluss damit stark von den jeweiligen Entscheidungsträgern abhing – was weiterhin dadurch erschwert wurde, dass letztere sich häufig noch schwer damit taten, das von der Gesellschaft her gedachte Konzept von Behinderung auf ihre Arbeitsrealität zu übertragen.53 Dies mag erklären, warum die handikapputredning am Ende ihrer etwa zehnjährigen Untersuchung einen Abschlussbericht vorlegte, der anstelle einer ›Gesellschaft‹ lediglich ›Kultur für alle‹ vorsah. Der Kulturbereich erforderte einen relativ geringen staatlichen Planungsaufwand und erschien im Vergleich zu den ideologischen Grabenkämpfen der 1960er Jahre verhältnismäßig harmlos. Gleichzeitig ging Kultur für alle mit seinem Bekenntnis zu einem Recht auf Teilhabe im Freizeit- und Kulturbereich aber auch über rein sozialpolitische Fragestellungen hinaus. Dass die Behindertenbewegung, wie eingangs geschildert, die Publikation mit einer Demonstration von etwa 8.000 Teilnehmern in Stockholms Stadtzentrum feierte und die darin angesprochenen Themen und Problemlagen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit brachte, liegt auch daran, dass Kultur für alle der erste Bericht war, an dem die Behindertenorganisationen in großem Umfang selbst mitgewirkt hatten.54 Bereits der Umschlag verwies direkt auf die Zielgruppe der Menschen mit Behinderungen, indem er den Titel nicht nur in normaler Schrift, sondern auch in Braille, als Fingeralphabet und anhand dreier Zeichnungen sogar in Gebärdensprache abbildete. Zudem war jedem Kapitel eine Zusammenfassung in Leichter Sprache nachgestellt und der Text konnte bei der Kommission auch in Blindenschrift oder als Hörversion bestellt werden. 55 Das Neue an Kultur für alle war jedoch weniger der Anspruch, verbesserte Zugangsvoraussetzungen zu Literatur, Kunst oder Theater für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.56 Von langfristig größerer Bedeutung war, dass sich nun auch der Staat zu der von den Behindertenaktivisten vorgebrachten neuen Definition von Behinderung bekannte: »Wir verwenden den Begriff ›behindert‹, um eine Person zu bezeichnen, die aus physischen oder psychischen Gründen bedeutendere Schwierigkeiten in der täglichen Lebensführung hat. Dieser Beschreibung wohnt inne, dass eine Behinderung von den Lebensver-
53 Ingrid Dalén/HSO Stockholms Stad (Hg.): De kommunala funktionshinderrådens historia, Stockholm 2013. 54 Brenner (2006), 103f. 55 Sozialministerium (1976). Siehe auch Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 40ff. 56 Sozialministerium (1976), 153ff.
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hältnissen des Einzelnen, von der Ausgestaltung der Gesellschaft beeinflusst wird. […] Behinderung ist daher für uns ein relativer Begriff. […] Die Probleme der Behinderten sollen nicht durch ähnliche, dabei aber getrennte kulturelle Angebote gelöst werden. […] Eine getrennte Behindertenkultur soll nicht entstehen.«57
Kultur für alle vertrat ebenso wie das HCK-Programm Eine Gesellschaft für alle ein stark an klassische sozialdemokratische Wertvorstellungen ausgerichtetes Menschenbild und appellierte damit auch an Kernideale der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft. Die Betonung, dass »kulturelle Gleichheit ebenso wichtig [sei] wie wirtschaftliche und soziale Gleichheit«58 und eine Voraussetzung für informierte, mündige Bürger setzte das HCK als Mittel ein, um politische Entscheidungsträger an ihre selbstgegebene Verantwortung für den sozialen Zusammenhalt im Land zu erinnern und Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte Mitbürger anzuerkennen. Diese Erwartungshaltung teilte auch Bengt-Olof Mattsson in seinem Bericht zur Vorbereitung des Internationalen Jahres der Behinderten: »Blinde, Taube, Kranke und alle anderen, die wir behindert nennen, sind keine besonderen Menschen. Sie sind eine Ressource in der Gesellschaft, genau wie alle anderen. Sie sind auch notwendig, um die Gesellschaft zu entwickeln und zu verbessern. Wir müssen alle dafür eintreten, dass sie Teil unserer Gemeinschaft sein können. Können sie dies nicht, gibt es keine Gemeinschaft. Auszugrenzen, nicht hineinzulassen, betrifft alle, macht die Gesellschaft arm.«59
Kultur für alle hinterlässt ein gemischtes Bild. Zwar stand die Utopie einer ›Gesellschaft für alle‹ weiterhin im Vordergrund und schlossen sich immer mehr staatliche Vertreter den Forderungen der Behindertenbewegung nach mehr Integration und Teilhabe an, doch bis auf punktuelle Projekte wie die Reichsausstellung, die kommunalen Behindertenräte oder die Publikation von Büchern in Leichter Sprache blieb der erhoffte gesellschaftliche Wandel aus.60 Mit der Verkündung eines Internationalen Jahres der Behinderten 1981 durch die Vereinten
57 Ebd., 47ff. 58 Ebd., 52. 59 Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (17.03.1980), (2)4. 60 Mit der schwedischen Behindertenbewegung in den 1970er Jahren und ihrem Verhältnis zur Behindertenpolitik haben sich u.a. befasst: Ransemar (2008); Grunewald (2008); Gardeström (2006); Anders Gustavsson (Hg.): Delaktighetens språk, Lund 2004.
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Nationen61 schien endlich die Zeit gekommen, ihre Anliegen noch sichtbarer in die öffentliche Debatte einzubringen. Das Gleichberechtigungsideal des schwedischen Staates und das große Medieninteresse dienten der Behindertenbewegung als ideale Vorlage, den bisher vor allem theoretisch geführten Diskurs hinter sich zu lassen und sich ganz konkret auf die bestehenden Probleme und Schieflagen im Leben von Menschen mit Behinderungen in der Wohlfahrtsgesellschaft zu konzentrieren. Volle Partizipation und Gleichheit (1981) – das Internationale Jahr der Behinderten zwischen Teilhabe und Protest Die Zeit zwischen der Veröffentlichung von Kultur für alle im Frühling 1976 und dem Internationalen Jahr der Behinderten 1981 stellte das in der ersten Hälfte der 1970er Jahre verhandelte Verhältnis von Staat und Behindertenorganisationen vor neue Herausforderungen. Am 19. September 1976, nach vierundvierzig Jahren an der Macht, unterlagen die Sozialdemokraten mit ihrem charismatischen Ministerpräsidenten Olof Palme in der Parlamentswahl der bürgerlichen Koalition. Mit dem Regierungswechsel ging auch eine intensive Diskussion über die Zukunft der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft einher, denn vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise, einem wachsenden Staatsdefizit und drohender Arbeitslosigkeit schien die Erfüllung von Gleichheit und Teilhabe zunehmend weit entfernt.62 Von den Einsparungsmaßnahmen blieb das Politikfeld Behinderung jedoch zunächst verschont, und auch die wechselnden Koalitionen unter Thorbjörn Fälldin (1976-78, 1979-81, 1981-82) und Ola Ullsten (1978-79) hielten am bisherigen Weg fest, wie das Vorbereitungskomitee für das Internationale Jahr der Behinderten lobend hervorhob: »Vier schwedische Regierungen nacheinander haben sich in den letzten vier Jahren mit einer Einigkeit, die ihresgleichen sucht, innerhalb ihrer Parteipolitik der Sache für die großen Einsätze verschrieben, derer es weiterhin bedarf. Sie sind sich ebenfalls in der Bedeu-
61 UN-Generalversammlung: International Year of Disabled Persons (A/RES/31/123), 16.12.1976. 62 Vor allem das HCK sprach diesen Sachverhalt während des Internationalen Jahres wiederholt an. Während des sogenannten handikapp-Forums in Göteborg sollte es schließlich auch zur offenen Konfrontation mit staatlichen Vertretern kommen. Handikappförbundens Centralkommitté: FN:s Handikappör 1981 (nationellt och internationellt), 1981-82, Schwedisches Reichsarchiv: SE/RA/730108/F-/F-6/F-6e/14.
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tung und Zielsetzung der Behindertenbewegung einig, ja, das sind jene aus Kultur für alle.«63
Wie bereits an anderer Stelle in diesem Sammelband argumentiert wurde, stellt das Internationale Jahr der Behinderten 1981 ein wichtiges Ereignis in der modernen disability history dar, da es Behinderung zum ersten Mal als globalgesellschaftliches Phänomen entwarf.64 Aufbauend auf vorausgehenden Internationalen Tagen, Jahren und Dekaden verfolgten die Vereinten Nationen unter dem Motto »volle Partizipation und Gleichberechtigung«65 eine breite öffentliche Sensibilisierung für die Belange von behinderten Menschen und ihre oftmals prekäre gesellschaftliche Situation und riefen ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, nationale Planungskomitees einzurichten, die neben Repräsentanten der Ministerien, Regierungsbehörden, Nichtregierungsorganisationen und Freiwilligengruppen auch Behindertenorganisationen einschließen sollten.66 Schweden kam diesem Aufruf unmittelbar nach. Das sogenannte Vorbereitungskomitee trat erstmals im Dezember 1979 zusammen. Seine Zusammensetzung verweist bereits auf die Themen, die das Internationale Jahr dominierten: Neben der Staatsrätin für Gesundheit, Elisabeth Holm, die den Vorsitz übernahm, waren ferner Vertreter der Ministerien für Auslandsangelegenheiten, Bildung, Arbeit und Wohnen, den Ämtern für Soziales, Schule, Arbeitsmarkt, Arbeiterschutz, Regional- und Kommunalbehörden, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie der staatlichen Entwicklungshilfeorganisation SIDA vertreten. Menschen mit Behinderungen wurden durch Bengt Lindqvist und Rolf Utberg (HCK) sowie Nils Wallin vom Reichsverband der Behinderten (De Handikappades Riksförbund, DHR) repräsentiert.67 Ähnlich wie bereits in
63 Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (17.03.1980), (5)7. 64 Siehe den Beitrag von Baár und Derksen in diesem Band. 65 Dass das Motto der Vereinten Nationen für das Jahr den schwedischen Diskussionen der 1970er Jahre mit ihrem Fokus auf Teilhabe und Gleichheit so nahestand, war kein Zufall, ging es doch laut des Vorbereitungskomitees auf einen schwedischen Vorschlag zurück. Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981, 1979-1982, Schwedisches Reicharchiv: SE/RA/323494, Vol. 1: Protokoll och Minnesanteckningar från beredningsgruppen, nationella utskottet och programutskottet [Protokolle und Notizen der Vorbereitungsgruppe, des nationalen Ausschusses und des Programmausschusses]. 66 UN-Generalversammlung: International Year of Disabled Persons (A/RES/34/154), 17.12.1979. 67 Sozialministerium (1982).
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der von 1965 bis 1976 tätigen handikapputredning verfolgten beide Seiten eine auf einem umweltbezogenen Verständnis von Behinderung beruhende Grundlinie und kooperierten auch in den Planungen von Kampagnen und Veranstaltungen, der Formulierung von Zwischenberichten sowie der Ausarbeitung eines nationalen Handlungsplans miteinander. Doch zeigten die Beteiligten zu Beginn des Jahres noch großen Enthusiasmus, dass sich die Pläne der 1970er Jahre nun endlich würden umsetzen lassen, war das Bild im Frühjahr 1982 ein anderes. Nicht mehr Idealismus, sondern Enttäuschung kennzeichnete die Rückschau der Behindertenbewegung, die das Jahr als jippo, als inhaltsleeres und selbstgefälliges Spektakel schmähten.68 Wie kam es zu diesem Wandel? Waren die Behindertenbewegung und ihre staatlichen Partner an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert? Das Internationale Jahr bestand in Schweden aus mehreren Säulen, welche die verschiedenen Bedürfnisse und Anliegen behinderter Menschen umfassend behandelten.69 Die Gesellschaft als Ausgangspunkt möglicher Reformen stand weiterhin im Fokus, wie Bengt Lindqvist erklärte: »Vermutlich wird sich die Behindertenbewegung auf eine ›Inaugenscheinnahme‹ der schwedischen Gesellschaft richten – eine Auswertung und Analyse der heutigen Gesellschaft aus der Behindertenperspektive.«70 Aufbauend auf dieser Prämisse begann das Vorbereitungskomitee seine Arbeit mit einer landesweiten Enquete-Untersuchung71 zu behindertenpolitischen Maßnahmen in staatlichen Behörden, Kulturinstitutionen, Bildungseinrichtungen, Kommunen und Wirtschaftsunternehmen. Die Ergebnisse wurden im Bericht Schwedische Behindertenpolitik (Svensk handikappolitik)72
68 Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (1979-1982), Vol. 56-58: Pressklipp [Zeitungsartikel]. 69 Dazu zählten Initiativen auf verschiedenen Verwaltungsebenen, Projekte nordischer Zusammenarbeit, bei den Vereinten Nationen und im transnationalen Austausch, sowie Ausschüsse zu den einzelnen Politikbereichen, die im Vorbereitungskomitee vertreten waren. Siehe Sozialministerium (1982). 70 Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (1979-1982), Vol. 1. 71 Beredningsgruppen för internationella handikappåret 1981 (1979-1982), Vol. 13-30: Enkät [Enquete]. 72 Sozialministerium (Hg.): Svensk Handikappolitik, Beredningsgruppen för internationella handikappåret, Stockholm 1981. Der Bericht versammelte mehr als 110 Rückmeldungen und wurde von den Behindertenorganisationen überwiegend positiv aufgenommen. Gleichzeitig bildete er die Basis für die Ausarbeitung eines Handlungsprogramms für die schwedische Behindertenpolitik (veröffentlicht als SOU 1982:46) durch einen vom Vorbereitungskomitee eingesetzten Programmausschuss, dem neben
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veröffentlicht und als Diskussionsgrundlage für die weitere Arbeit des Komitees genutzt. Auch auf lokaler Ebene bildeten sich vor und während des Internationalen Jahres zahlreiche Komitees, die eng mit den Behindertenorganisationen kooperierten und eine große Bandbreite kultureller Veranstaltungen ins Leben riefen. Während das staatliche Planungskomitee sich einer Neukonzeptualisierung der Behindertenpolitik verschrieben hatte, übernahmen die lokalen Initiativen die Aufgabe, Behinderung stärker in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Die Medien berichteten intensiv über stattfindende Messen und Kulturveranstaltungen wie Rollstuhltanz, Gebärdensprachtheater oder Konzerte und schufen dadurch einen unmittelbaren Zugang zur eher sperrigen Integrationsdebatte. Filme, Interviews, Artikel- und Fotoserien mit und über Menschen mit Behinderungen ergänzten dieses Angebot. Gemessen an Anzahl und Vielfalt der Veranstaltungen und der medialen Präsenz hätte das Internationale Jahr also durchaus als Erfolg gewertet werden können. Doch konzentrierten sich die Akteure nicht allein auf die öffentliche Meinungsbildung. Auch sozialpolitische Fragestellungen gewannen vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezession an Gewicht. Befeuert wurde dies durch gesellschaftliche Entscheidungsträger wie den Direktor des schwedischen Arbeitgeberverbandes, Karl-Olof Faxén, der bereits 1976 davon gesprochen hatte, dass Menschen mit Behinderungen, die nicht in einem Arbeitsverhältnis standen, es »zu gut« hätten. Die dem Vorbereitungskomitee für das Internationale Jahr der Behinderten vorstehende Staatssekretärin für Gesundheit, Elisabeth Holm, hatte noch 1980 kritisiert, dass Pflegeangebote für Menschen mit geistigen Behinderungen in öffentlichen Einrichtungen weitaus besser seien als in einem »normalen schwedischen Zuhause« und positionierte sich damit gegen die bereits seit Ende der 1950er Jahre vorgebrachten Forderungen von Elterninitiativen und Behindertenaktivisten, endlich den Standard der Heime zu verbessern oder sie zugunsten kleinerer Wohneinheiten ganz aufzugeben.73 Während des einwöchigen handikapp-Forums im Sommer 1981 in Göteborg war es die Generaldirektorin des Zentralamts für Gesundheits- und Sozialwesen (Socialstyrelsen), Barbro Westerholm, die in ihrer Eröffnungsrede das breite Netzwerk aus Wohltätigkeitsorganisationen und Freiwilligeninitiativen in Großbritannien als Vorbild für Schweden pries. Scharfe Reaktionen seitens der Behindertenbewegung ließen nicht lange auf sich warten: So warf ihr der Wortführer des HCK, Rolf Utberg, vor, Wohltätigkeit wieder salonfähig machen zu wol-
Mitgliedern der im Reichstag vertretenen Parteien auch das HCK und der Reichsverband der Behinderten (De handikappades riksförbund, DHR) angehörten. 73 Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 16.
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len, und nannte ihre Rede gar eine »Kriegserklärung an Menschen mit Behinderungen«.74 Zum Abschluss des handikapp-Forums fand mit 8.000 Teilnehmern eine der weltweit größten Demonstration von Menschen mit Behinderungen statt. Die mitgeführten Protestschilder verdeutlichen, dass die alten Forderungen weiterhin aktuell waren. »Jeder hat ein Recht auf Arbeit«, »Lohn anstelle von Pension«, »Gerechtigkeit im Wohnungsbau und in der Freizeit« oder »Unser größtes Handicap ist deine Einstellung« sind nur einige der Kritikpunkte, die sich weniger an die nichtbehinderte Gesellschaft als an politische Entscheidungsträger richteten.75 Dennoch konnte das Internationale Jahr durchaus Ergebnisse vorweisen. Dazu zählen unter anderem die offizielle Anerkennung von Gebärdensprache als erste Muttersprache von gehörlosen und hörbehinderten Menschen,76 das Recht auf kostenfreie Übersetzungsdienste für Taubblinde und Gebärdensprecher,77 und die Überführung von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen auf die kommunale Ebene.78 Auch die Idee einer ›Gesellschaft für alle‹ findet sich
74 Zeitungsartikel, die über den Vorfall berichteten, mahnten jedoch an, Westerholms Aussagen differenzierter zu betrachten. Demnach sollten sie nicht als Wohlfahrtskritik, sondern vielmehr als Aufruf an die Bevölkerung verstanden werden, sich stärker gesellschaftlich zu engagieren und staatliche Angebote zu unterstützen. 75 Siehe u.a. Allan Fredriksson: Protester mot Barbro Westerholm: Handikappade ska ej vara beroende av välgörenhet, in: Göteborgs-Posten, 07.05.1981; Gösta Lindblad: Handikapp 81 i Göteborg: Invigningstalet möttes av hård kritik från HCK, in: Hallandsposten, 07.05.1981; Barbro Hurtig: Stort intresse för Handikapp-81. HCK:s jättesatsning i Göteborg, in: Bohusläningen, 7.5.1981; Gräl om handikappade, in: Göteborgs-Posten, 08.05.1981. Ein Überblick über Handikapp 81 und die Forderungen des HCK in: Schwedisches Reicharchiv: Statens Handikapråd, Handikappår 1981, 1980/1982, F5:1 bis F5:7. 76 Zur Geschichte der Gebärdensprache in Schweden siehe Brenner (2006); Päivi Fredäng: Teckenspråkiga döva. Identitetsförändringar i det svenska dövsamhället, Stehag 2003. 77 Dieses Recht wurde nicht in der nationalen Gesetzgebung verankert, sondern beruht auf einer im Dezember 1981 vom schwedischen Handikappinstitut gegebenen Empfehlung an die Provinziallandtage, einheitliche Übersetzungsdienste für gehörlose und taubblinde Menschen einzurichten. 78 Das am 28. Juni 1979 verabschiedete und 1982 in Kraft getretene Sozialgesetz (Socialtjänstlagen) übertrug den Kommunen und Gemeinden die letztendliche Verantwortung für die Bereitstellung von Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen.
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im offiziellen Abschlussbericht Handlungsprogramm für Behindertenfragen (Handlingsprogram i handikappfrågor) wieder: »Es ist eine Aufgabe der gesamten Bevölkerung, dafür zu sorgen, dass alle an der Gemeinschaft teilhaben können. […] Die Partizipation und Gemeinschaft behinderter Menschen innerhalb der Gesellschaft muss dadurch erreicht werden, dass Umwelt und Handlungen so gestaltet werden, dass sie für Menschen mit Behinderungen zugänglich werden. Jede Einrichtung und jeder soziale Träger muss dies in seine Tätigkeiten integrieren.«79
Die vorgebrachten Kritikpunkte wurden durch diese Maßnahmen jedoch nur kurzzeitig zerstreut. Bereits Mitte der 1980er Jahre stellte ein neuer Untersuchungsbericht fest, dass es zwischen den Lebensverhältnissen von Menschen mit und ohne Behinderungen weiterhin große Unterschiede gab. 80 Eine 1989 eingesetzte zweite handikapputredning unterbreitete schließlich in ihrem Abschlussbericht, der unter Rückgriff auf das etwa 20 Jahre zuvor veröffentlichte HCKProgramm den Titel Eine Gesellschaft für alle trug, erstmals konkretere Handlungsanweisungen.81 Dass das Thema Behinderung aus der politischen Arbeit nicht mehr wegzudenken war, und sich »volle Partizipation und Gleichberechtigung« von einem progressiven Slogan zur etablierten behindertenpolitischen Zielsetzung gewandelt hatte, zeigte sich wohl am deutlichsten in der Verabschiedung der LSS- und LASS-Gesetze im Jahr 1993, mit denen Schweden basierend auf den Erkenntnissen der zweiten handikapputredning das auch international vielbeachtete Modell der persönlichen Assistenz einführte.82
Seit 1995 sind sie zudem für die psychiatrische Versorgung zuständig. Siehe Persson Bergvall/Sjöberg (2012), 12 u. 31. 79 Sozialministerium (1982), 7 u. 13. 80 Sozialministerium (Hg.): Regeringens skrivelse om uppföljning av handlingsprogram i handikappfrågor (Skr 1986/87:161), Stockholm 1987. 81 Socialdepartementet (Hg.): Ett samhälle för alla. Handikapputredningens slutbetänkande av 1989 års handikapputredning (SOU 1992:52), Stockholm 1992. Die zweite handikapputredning veröffentlichte zudem sechs Teilberichte, in denen die schwedische Behindertenpolitik umfassend aufgearbeitet und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen, Werten und Anforderungen in Beziehung gesetzt wurde. Siehe dazu Ann-Charlotte Carlberg/Tore Karlsson/Gerhard Larsson: Handikappreformer – mot år 2000. En översikt av Handikapputredningens förslag, Stockholm 1992. 82 Das Gesetz über Hilfs- und Dienstleistungen für Personen mit herabgesetzter Funktionsfähigkeit (Lag (1993:387) om stöd och service till vissa funktionshindrade, LSS)
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Welche Erkenntnisse können wir über das Internationale Jahr der Behinderten in Schweden gewinnen? Wie Kultur für alle hinterfragte es unter Verweis auf bestehende Probleme der Ungleichheit und Diskriminierung behinderter Menschen den Wertekonsens der schwedischen Wohlfahrtsgesellschaft. Nach der von Anti-Handikapp in den 1960ern praktizierten Abgrenzung gegenüber einem als paternalistisch empfundenen Staat trat die Behindertenbewegung, diesmal unter Führung des HCK, wieder als Protestbewegung in Erscheinung. Auch das Verhältnis zwischen Staat und Behindertenorganisationen hatte sich gewandelt: Diskussionen um die Legitimität von Wohltätigkeit und ein Mangel an spürbaren Verbesserungen im Leben von behinderten Menschen hatten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Sozialpolitik gesät. Die historische Perspektive auf die Idee einer ›Gesellschaft für alle‹ zeigt auf, dass lokale Netzwerke und öffentliche Kampagnen der Behindertenbewegung zunehmend an Bedeutung gewannen, konnten die von der Politik ignorierten Belange so doch direkt in die Bevölkerung getragen werden.
SCHLUSSBETRACHTUNG Die schwedische Behindertenpolitik hat in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Einfluss der Behindertenbewegung und ihres Einsatzes für gesellschaftliche Anerkennung einen deutlichen Wandel erfahren. Während der Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit von dem Paradigma medizinischer Rehabilitation und Arbeit bestimmt war, trat mit der selbstbestimmten Advokation der Behindertenbewegung und ihren Forderungen nach Öffnung (HCK) beziehungsweise radikalem Umbau der Gesellschaft (Anti-Handikapp) das umweltbezogene Verständnis von Behinderung zunehmend in das politische Blickfeld. Auch wenn die Idee einer ›Gesellschaft für alle‹ nur zögerlich in eine aktive Behindertenpolitik überführt wurde, prägte sie die Debatten über Definitionen und Umgang mit Behinderung auf besondere Weise. Erstens standen die Forderungen der Behindertenbewegung im Einklang mit zeitgenössischen Vorstellungen eines solidarischen Wohlfahrtsstaates. Anti-
und das Gesetz über die persönliche Assistenz (Lag (1993:389) om assistansersättning, LASS) ersetzten zum 1. Januar 1994 das bis dahin geltende Betreuungsgesetz (Lag (1967:940) angående omsorger om vissa psykiskt utvecklingsstörda, omsorgslagen) von 1968. Siehe Grunewald (2008), 191ff. und Ders.: Handikapplagen LSS och annan närliggande lagstiftning, 7. Aufl., Stockholm 2011.
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Handikapp verstand sich zwar als Protestbewegung, doch sprach aus, was für immer mehr Menschen offensichtlich wurde: Auch in Schweden gab es Gruppen, die von der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft systematisch ausgeschlossen waren. Die Vorstellung von einer ›Gesellschaft für alle‹ griff die Imagination des Volksheims auf eine Weise auf, die sowohl der gemäßigteren HCK neue politische Anknüpfungspunkte bot, als auch an die Verantwortlichkeit des Staates für den gesellschaftlichen Zusammenhalt appellierte – denn um sein Versprechen von Gerechtigkeit einzulösen, war die Teilhabe aller essentiell. Dass diese Erkenntnis im Laufe der 1970er Jahre zunehmend an Gewicht gewann, verdeutlichen der Bericht Kultur für alle, die Behindertenräte oder die Reichsausstellung Verbot von Behinderung. Zweitens entwickelte sich eine bemerkenswert enge Kooperation zwischen den Behindertenorganisationen und dem Staat. Mit der handikapputredning wurde die Behindertenbewegung von staatlicher Seite erstmals als gleichberechtigter Partner anerkannt und konnte sich fortan geschlossen und selbstbewusst in sozialpolitische Reformdebatten einbringen. Dies war kein Zufall. Die Mitsprache zivilgesellschaftlicher Organisationen hatte in Schweden eine lange Tradition, konnte sie der Politikgestaltung doch neue Impulse verleihen, ohne dass die Legitimität staatlicher Steuerung verloren ging. Da die Verwirklichung einer ›Gesellschaft für alle‹ die Beteiligung sämtlicher Akteure voraussetzte, stellte der Staat keinen Gegner im eigentlichen Sinne dar, sondern war ein wichtiger – wenn auch nicht immer zuverlässiger – Bündnispartner. Schweden kann in dieser Hinsicht auch international durchaus als ein Vorreiter betrachtet werden: In den USA wurde seit den späten 1960er Jahren insbesondere das Prinzip der Normalisierung aufgegriffen, das Menschen mit geistigen Behinderungen ein Leben »so nah an dem nichtbehinderter Menschen« ermöglichen sollte und z.B. kleinere Wohneinheiten und ein Recht auf sinnvolle Arbeit und Freizeitgestaltung beinhaltete. Doch auch die weiter gefasste Vorstellung von Behinderung als Ergebnis von Diskriminierung und sozialer Interaktion, dem nur mithilfe gesellschaftlicher Veränderungen begegnet werden kann, wurde mit der schwedischen Idee einer ›Gesellschaft für alle‹, wie sie Vilhelm Ekensteen und AntiHandikapp vorgebracht hatten, bereits früh in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs eingeführt. Davon unabhängig entwickelte sich das für die Etablierung der Disability Studies so zentrale ›soziale Modell von Behinderung‹ im englischsprachigen Raum erst einige Jahre später. Federführend war hier die britische Aktivistengruppe Union of the Physically Impaired against Segregation (UPIAS), die ähnlich wie Anti-Handikapp eine stark gesellschaftskritische Position einnahm und Behinderung u.a. als Form sozialer Unterdrückung definierte. Eine enge Zusammenarbeit von Behindertenorganisationen mit der Politik, wie
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sie das HCK verfolgte, erschien in Großbritannien unter dieser Prämisse wenig zielführend.83 Drittens spielte die schwedische Behindertenbewegung auch für den Durchbruch behindertenbezogener Themen in der breiten Bevölkerung eine wesentliche Rolle. Das Internationale Jahr der Behinderten 1981 stellte diesbezüglich einen Wendepunkt dar. Wo sich vor dem Hintergrund neuer Diskussionen um Wohlfahrt und Wohltätigkeit die Bande zum Staat lockerten, gewann die Zusammenarbeit mit lokalen Behörden, den Medien und anderen gesellschaftlichen Vertretern rapide an Bedeutung. Mit dem Eingang des umweltbezogenen Behindertenbegriffs in allgemeine Debatten verlor sich der utopisch-idealistische Charakter der ›Gesellschaft für alle‹. War der Begriff bereits seit seiner Entstehung ein wenig beliebig gewesen, unterzog man ihn seit den 1980er Jahren einer Modernisierung: In Verbindung mit den Schlagworten des Internationalen Jahres, »volle Partizipation und Gleichheit«, steht er heute nicht mehr allein für Solidarität mit den Anliegen behinderter Menschen, sondern wurde für eine Vielzahl gesellschaftlicher Randgruppen wie ältere Menschen oder Einwanderer geöffnet, gekoppelt an einen ganzheitlichen Ansatz, der das gesellschaftliche Zusammenleben mit individueller Selbstbestimmung verbindet. 84 Dahinter verbergen sich jedoch neue Ambivalenzen, da Menschen mit Behinderungen zunehmend als gut integriert gelten, was eine Lösung weiterhin bestehender Probleme obsolet erscheinen lässt.85 Auch wenn sich das Verständnis von Behinderung und damit die Verantwortlichkeit für Unterstützung und Teilhabe im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat, so bleibt der Einsatz für eine ›Gesellschaft für alle‹ damit weiterhin aktuell.
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83 Grunewald (2008), 244ff. Siehe auch Jameel Hampton: Disability and the Welfare State in Britain. Changes in Perception and Policy 1948-1979, Bristol 2017, S. 220ff. 84 Schwedische Regierung (Hg.): Från patient till medborgare – en nationell handlingsplan för handikappolitiken (Prop. 1999/2000:79), Stockholm 2000. Siehe auch Gardeström (2006). 85 Mårten Söder: Disability as a Social Construct. The Labelling Approach Revisited, in: European Journal of Special Needs Education 4 (1989), H. 2, S. 117-129.
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Umstrittene Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen Zur Geschichte von Kriegsopferverbänden, Elterninitiativen, Clubs, VHS-Kursen und Krüppelgruppen Jonas Fischer
In einer Gesellschaft, »deren Ideale ›Leistung, Schönheit, Vollkommenheit‹ an jeder Ecke von den Plakatwänden strahlen«,1 müsse es doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass sich Menschen, die diesen Idealen nach herkömmlicher Auffassung nicht entsprechen, zusammentun. So formulierten es die Redakteure der Zeitschrift Luftpumpe in ihrer ersten Ausgabe im April 1978. Dies war allerdings zu diesem Zeitpunkt noch keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr wurden die Interessen von Menschen mit Behinderungen zumeist nicht von ihnen selbst, sondern zunächst von Anderen für die Betroffenen vertreten. In ihrer Funktion als Vorgeschichte der Behindertenbewegung dienen die Schilderungen der Fremdvertretung von Menschen mit Behinderungen als Darstellung des Erfahrungshorizontes, vor dem die Akteure der selbstbestimmten Behindertenbewegung agierten. Sie verweisen auf Konflikte und Ausgangslagen, die für die Entstehung und das Handeln der Bewegung konstitutiv waren, wie im zweiten Teil dieses Aufsatzes, welcher sich mit der Interessenvertretung durch die Betroffenen selbst beschäftigt, gezeigt werden soll.
1
Luftpumpe (1) 1978 S. 3.
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KRIEGSOPFERVERBÄNDE ALS AUSGANGSPUNKT BEHINDERTER INTERESSENVERTRETUNG Die ersten behindertenpolitischen Akteure im Nachkriegsdeutschland waren die Kriegsopferverbände, die »nach den Gewerkschaften größten Verbände der jungen Bundesrepublik«.2 In der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zahl derer, die als Kriegsopfer anerkannt wurden, in mehrfacher Hinsicht strittig. Zum einen divergierten die Ansichten darüber, inwiefern materielle Einbußen oder familiäre Verluste als Kriegsbeschädigung anerkannt wurden;3 zum anderen wurde innerhalb der Gruppe derer, die gesundheitlich versehrt waren, unterschiedlich gezählt und gewichtet.4 Diese Vielfalt an möglichen Betroffenen spiegelte sich sozialpolitisch bei den Leistungsbeziehern wider, den sogenannten ›anerkannten Versorgungsberechtigten‹, deren Zahl über die gesamten 1950er Jahre konstant bei circa vier Millionen lag.5 Etwa 1,5 Millionen hiervon wurden als ›anerkannte Kriegsbeschädigte‹ eingruppiert, der Rest waren Angehörige von Kriegsgeschädigten oder Hinterbliebene.6 Der dominante Stellenwert der Gruppe der Kriegsgeschädigten innerhalb der Gesamtheit von Menschen mit Behinderungen in der Nachkriegsgesellschaft lässt sich erfassen, wenn man diese 1,5 Millionen ›anerkannten Kriegsgeschädigten‹ als Teilmenge von circa 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen insgesamt versteht, die durch einen bundesdeutschen Mikrozensus im Jahr 1951 erhoben wurden.7 Die Zahl von insgesamt 1,7 Millionen ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da genauer untersucht werden müsste, inwiefern Menschen, die et-
2
Wilfried Rudloff: Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform, (49:6) 2003, S. 868.
3
Vgl. Jan Stoll: Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2017, S. 29 ff. und zur Diskussion um das Narrativ der deutschen Gesellschaft als Opfer nationalsozialistischer Einzeltäter u.a. Daniel Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 2012.
4
Vgl. hierzu: Arnfried Bintig: Die deutschen Behindertenstatistiken von 1906 bis 1979, in: Rehabilitation 20 (1981), S. 147-158.
5
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zum VdK geht sogar von mehr als 5 Millionen Betroffenen aus, vgl. Sascha Kristin Futh und Hanna Jeanrond: Der Erfolg des Sozialverbands VdK. Wie sich ein Verband zum Mitgliedermagnet transformiert, als Arbeitspapier 289 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2013, S. 11.
6
Rudloff (2003), S. 867.
7
Vgl. Stoll (2017), S. 30.
Umstrittene Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen | 215
wa in Anstalten untergebracht waren, bei der Zählung berücksichtigt wurden. Dieser Einwand verweist auf die grundsätzliche Problematik der fehlenden Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen. Der Begriff der ›Beschädigten‹ war seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in durchaus heroisierender Manier für jene Kriegsopfer reserviert. Personen mit angeborenen Behinderungen wurden demgegenüber abwertend als ›Krüppel‹ bezeichnet, ein Begriff, der eine semantische Demarkationslinie darstellte.8 Die Selbstorganisation der Kriegsbeschädigten begann unter dem Eindruck alliierter Einwände gegen die Rentenzahlungen an jene Personengruppe, die sie noch wenige Jahre zuvor im Felde bekämpft hatten, was sich etwa in Aussetzungen und Minderungen von Zahlungen niederschlug. Des Weiteren sahen sich die Betroffenen aufgrund ihrer kriegsbedingten Einschränkungen mit massiven Schwierigkeiten bei der Erwerbsarbeit konfrontiert, was – wie auch schon nach dem Ersten Weltkrieg – zu einer fortschreitenden Verelendung führte.9 Um für die eigenen Interessen einzutreten, gründeten sich, zunächst auf lokaler und regionaler Ebene, bis zu einhundert verschiedene Vereinigungen, gegliedert nach den Formen der Einschränkungen und politischen Orientierungen, die bisweilen weit ins nationalkonservative Lager hineinragten.10 Eine bundesweite Organisation wurde von den West-Alliierten untersagt.11 Die Briten und Amerikaner planten dabei, die Kriegsgeschädigten sozialrechtlich der »allgemeinen Klientel der Sozialversicherungsträger unterzumischen,«12 nicht zuletzt unter dem Eindruck der Erfahrungen aus der Weimarer Republik, in der sich hochmobilisierte Veteranenverbände als ein erhebliches Gefahrenpotenzial für die Stabilität der jungen Demokratie erwiesen hatten.13 Dies hatte zur Folge, dass sich die beiden größten Vereinigungen formal »unter Einbezug von Sozialrentnern, Hinterbliebenen und Zivilgeschädigten« gründen mussten, »um den alliierten Anforderun-
8
Zur Etymologie des Begriffs ›Krüppel‹ vgl.: Klaus-Dieter Thomann: Der »Krüppel«. Entstehen und Verschwinden eines Kampfbegriffs, in: Medizinhistorisches Journal Bd. 27, H. 3/4 (1992) S.221-271 und Hans-Walter Schmuhl: Exklusion und Inklusion durch Sprache – Zur Geschichte des Begriffs Behinderung. IMEW Expertise 11, Berlin 2010.
9
Vgl. Wolf Donner: Die sozial- und staatspolitische Tätigkeit der Kriegsopferverbände, Berlin 1960, S. 23 ff.
10 Vgl. Stoll (2017), 35. 11 Futh, Jeanrond (2013), 11. 12 Rudloff (2003), 867. 13 Vgl. James M. Diehl: The Thanks of the Fatherland: German Veterans after the Second World War, Chapel Hill 1993.
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gen gerecht werden zu können«.14 Die beiden größten Verbände, der VdK (Verband der Kriegsbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen) und der Reichsbund (Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen) hatten bereits Mitte der 1950er Jahre zusammengenommen circa zwei Millionen Mitglieder und stellten damit durchaus relevante sozialpolitische Akteure in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft dar.15 Neben ihrer schieren Größe speiste sich die politische Durchsetzungsfähigkeit von VdK und Reichsbund auch aus der Zusammensetzung ihrer Mitglieder: »Viele Betroffene kannten aus ihrer vorherigen Tätigkeit als Angestellte oder Beamte die entsprechenden Mechanismen - und gewannen beträchtlichen Einfluß auf die politischen Gremien.«16 Zusätzlich verlieh der demonstrativ unterstrichene ›Aufopferungstatbestand‹ den Belangen der Gruppe der Kriegsteilnehmer das notwendige moralische Kapital. Dies war zu diesem Zeitpunkt kein neues und auf Deutschland begrenztes Phänomen.17 Ihren Einfluss machten die beiden Verbände insbesondere geltend, um sozial- und arbeitsmarktpolitische Forderungen ihrer Klientel vorzubringen. Erkennbar ist dies daran, dass Bundesinnenministerium und -arbeitsministerium je eigene Beiräte für Kriegsopferangelegenheiten einrichteten, um so die Verbände beteiligen und damit auch pazifizieren zu können. Entsprechend kann von einer recht starken Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft ausgegangen wer-
14 Stoll (2017), 36. 15 Vgl. zu ausführlichen Informationen über die Entstehung und gesellschaftliche Rolle der Kriegsopferverbände ebd. S. 30 ff sowie älter Donner: Kriegsopferverbände. 16 Peter Radtke: Selbsthilfegruppen, in: Otto Speck und Klaus-Rainer Martin (Hg.): Handbuch der Sonderpädagogik. Sonderpädagogik und Sozialarbeit, Berlin 1990 S. 256. 17 Vgl. David A. Gerber: Disabled Veterans, the State, and the Experience of Disability in Western Societies 1914-1950, in: Journal of Social History 36(4) 2003 S. 899-916. Wenngleich etwa Reichardt und Kienitz darauf hingewiesen haben, dass für den Fall der Weimarer Republik »der ›moralische Appellcharakter‹ des kriegsverletzten Körpers seit den zwanziger Jahren immer stärker auf Ablehnung« gestoßen sei, vgl.: Sven Reichardt: Gewalt, Körper, Politik. Paradoxien in der deutschen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, Göttingen 2005 S. 213 und Sabine Kienitz: KörperBeschädigungen,. Kriegsinvalidität und Männlichkeitskonstruktionen in der Weimarer Republik, in: Karen Hagemann und Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): HeimatFront: Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt am Main S. 188-207.
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den.18 Gleichzeitig verweist diese Anerkennung auch auf eine Herabsetzung der so genannten »Zivilbehinderten«, da den Kriegsversehrten »sozialpolitisch eine höhere Dignität zu[kam] als zivilen Leiden gleicher Art.« 19 Dies führte dazu, dass – auch wenn sich die Vereine später Zivilbehinderten öffneten und als Sozialverbände auftraten – diese Missachtungsgeschichte eine Ablehnung seitens der späteren Behindertenbewegung evozierte. Insbesondere auf rechtlicher Ebene war es den Kriegsopferverbänden gelungen, symbolische sowie materielle Unterscheidungen zwischen Kriegsopfern und Menschen mit angeborenen Behinderungen durchzusetzen, die erst durch deren allmähliche Gleichstellung in den 1960er Jahren korrigiert wurde.
DIE ELTERNVEREINIGUNGEN – DER FOKUS AUF DEM BEHINDERTEN KIND Gegen diese Unterscheidung im Feld der Behindertenpolitik richteten sich die seit den späten 1950er Jahren entstandenen Elternvereinigungen. Ihr Aufkommen markierte die zweite Etappe der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen in der Bundesrepublik. Diese Vereinigungen legten den Fokus auf jene gesellschaftliche Gruppe, die bisher kaum Anerkennung gefunden hatte, nämlich Menschen mit geistigen Behinderungen, Kinder mit Behinderungen oder sogenannte zivile Beschädigte.20 Deren Lebenssituation unterschied sich sowohl durch einen fehlenden Versorgungsanspruch als auch durch gesellschaftliche Diskriminierung eklatant von jener der Kriegsgeschädigten. Die Zurücksetzung, insbesondere von Menschen mit geistiger Behinderung, muss dabei als ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens einer kollektiven Ablehnung des »Abnormalen« verstanden werden.21
18 Vgl.: Stoll (2017), 90. 19 Rudloff (2003), 867. 20 Stoll (2017), 125. 21 Vgl.: Hans-Walter Schmuhl: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«. 1890-1945, Göttingen 1992; Michael Burleigh (Hg.): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 19001945, Zürich 2002; Götz Aly: Die Belasteten. ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt am Main 2014; Ernst Klee: »Euthanasie« im Dritten Reich. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main 122012. Zu dessen Langzeitwirkung in die Bundesrepublik hinein vgl. Britta-Marie Schenk: Be-
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Dass sich ein diversifiziertes, nach den jeweiligen Behinderungsformen differenziertes Netzwerk an Elternvereinen etablierte, war das Ergebnis einer institutionellen Mangelsituation, die die betroffenen Eltern vorfanden. Das größte Beispiel eines solchen Vereins war die ›Bundesvereinigung Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind‹, die am 23. November 1958 in Marburg gegründet wurde. Gründungsmitglieder waren nicht nur Eltern geistig behinderter Kinder, sondern auch Fachleute auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie der Pädagogik.22 Als drängendste Problemlage wurde die Anerkennung der »Bildungsfähigkeit« der Kinder mit Behinderungen identifiziert. Hierzu wurde durch lokale und regionale Zusammenschlüsse die »dezentrale Gründung modellbildender Einrichtungen in eigener Regie« angestrebt. 23 Die Kinder sollten dazu befähig werden, möglichst einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, die dann allerdings in der Regel wiederum in behindertenspezifischen und abgesonderten Anstalten wie Werkstätten stattfinden sollte – eben jene Einrichtungen, die ihrerseits wenige Jahre später Ziel der Kritik der Behindertenbewegung wurde. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Elternvereine als »Motor des Umbaus« der Behindertenpolitik verstanden werden können, da es ihnen gelang, ihre Ideen von sogenannter ›sozialer Eingliederung‹ gesellschaftlich zu verbreiten, wenngleich auch nicht fest zu verankern. 24 Entsprechend des Periodisierungsvorschlags des Historikers Wilfried Rudloff war es den Elternvereinigungen durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit, Zugang zu politischen Entscheidungsträgern sowie aufgrund ihres habituellen Auftretens gelungen, den Kriegsopferverbänden im Laufe der 1960er Jahre die Deutungshoheit im Feld der Behindertenpolitik streitig zu machen.25 Nicht zu unterschätzen ist im Zuge dessen auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeitsund Betroffenheitswende, die mit dem Contergan-Skandal einherging.26
hinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre), Frankfurt am Main 2016. 22 Stoll (2017), 130. 23 Wilfried Rudloff: Akteurssysteme, in: Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde (Hg.): Sozialstaat Deutschland, Geschichte und Gegenwart, Bonn 2011, S. 144. 24 Rudloff (2003), 870. 25 Vgl. ebd., 870 ff. 26 Vgl. hierzu Anne Helen Günther: Der Contergan-Fall als Zäsur in den 1960er Jahren? Eine mediengeschichtliche Analyse, in: Anne Waldschmidt/Gabriele Lingelbach (Hg.): Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2016, S 142-165.
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Die Definitionen davon, was allerdings echte Anerkennung sei, und dass sich diese eben nicht darin ausdrücke, ein paternalistisches Parallelsystem von ›Schonräumen‹ von der Wiege bis zur Bahre zu etablieren – darin entspann sich der Konflikt zwischen den Elternvereinigungen und den sich bald formierenden Gruppen, in denen Menschen mit Behinderungen nun selbst für ihre Rechte eintraten.
DIE BEHINDERTENBEWEGUNG – ZWISCHEN GEMÄßIGTEN UND RADIKALEN STIMMEN Wie im Folgenden aufgezeigt wird, war die Entstehung der Behindertenbewegung, verglichen mit anderen emanzipativen gesamtgesellschaftlichen Umwälzungen, eine zeitlich nachholende Entwicklung mit wechselnden Protagonisten, die sich aufeinanderfolgend und parallel zueinander zusammenschlossen, um selbstbestimmt für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einzutreten. Die Clubs Behinderter und ihrer Freunde – Geselligkeit als Protest »1968«27 – das Jahr weckt bei Zeithistorikern und insbesondere bei jenen, die sich schwerpunktmäßig mit den neuen sozialen Bewegungen beschäftigen, vielfältige Assoziationen. In eben diesem Jahr gründete sich in Hamburg, aus einem der oben skizzierten Elternverbände heraus, erstmals eine lokale Gruppe von Menschen mit Behinderungen, die für sich in Anspruch nahm, ihre Interessen eigenständig zu vertreten. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren unterschiedliche und sich wandelnde Auffassungen darüber, was Gruppen von und für Menschen mit Behinderungen zu leisten haben. Als eine der ersten Gruppen dieser Art identifiziert der Historiker Jan Stoll etwa vierzig Jugendliche, deren Eltern im »Verein zur Förderung spastisch gelähmter Kinder« organisiert waren, die sich zu Beginn der 1960er Jahre lose zusammengeschlossen hatten. Ihre
27 Siehe zur Problematisierung »1968« grundlegend: Oliver Rathkolb/Friedrich Stadler (Hg.): Das Jahr 1968 - Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen 2010; Gerd-Rainer Horn: The Spirit of '68. Rebellion in Western Europe and North America, 1956-1976, Oxford 2007; Jürgen Mittag: »1968« als Chiffre weltweiten Protests? Der Protestzyklus aus globaler Perspektive. Konferenzbericht der 44. ITH-Tagung: »1968 - A view of the protest movements 40 years after, from a global perspective«, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Heft 40 (2008), S. 165-176.
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Selbstorganisation zielte zunächst auf gemeinsame Freizeitaktivitäten und Erfahrungsaustausch ab und mündete, eben 1968, nachdem sich die Gruppe junger Leute mit dem Vorstand des »Elternvereins« überworfen hatte, in der Gründung des eigenverantwortlich geführten ›Club 68 – Verein für Behinderte Hamburg‹. 28 Organisatorisch knüpften die jungen Leute trotz des Konflikts zunächst an die Strukturen der bestehenden Elternvereine an. Sie traten dem ›Dachverband der deutschen Vereine zur Förderung und Betreuung spastisch gelähmter Kinder und Jugendlicher‹, dem ›Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV)‹ und der ›Deutschen Vereinigung zur Rehabilitation Behinderter‹ bei und bemühten sich um Förderung durch die ›Aktion Sorgenkind‹. Dabei handelte es sich um eine Institution »des ZDF, der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege und der Arbeitsgemeinschaft der Elternverbände«, also aller etablierten Akteure, die seit 1964 eine Fernsehlotterie und andere Shows produzierten, um damit Spenden für Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zu erzielen. 29 Gleichzeitig standen in den Berichten über die Spendenempfänger die »Topoi der Hilflosigkeit und des Defizits von ›Sorgenkindern‹ im Mittelpunkt«, was maßgeblich zur gesellschaftlichen Stigmatisierung von Menschen mit Behinderungen beitrug, aber den größten Spendenerfolg versprach.30 Dass sich diese neugegründeten Clubs nun um Gelder dieser Organisation bewarben, verdeutlicht, dass sich eine dezidiert politische Dimension des Generationenkonfliktes, die gemeinhin mit »1968« verbunden wird, an dieser Stelle nur bedingt nachweisen lässt – anders als es der ›Club Behinderter und ihrer Freunde Frankfurt‹ heute auf seiner Homepage festhält, wonach die ersten Clubs »im Zuge der 68er
28 Vgl. Stoll (2017), 214 f. Stoll widerspricht dadurch richtigerweise der Annahme Radtkes, dass die CeBeeF-Bewegung 1970 in Hessen und Nordwestdeutschland entstanden sei. Vgl. hierzu Peter Radtke: CeBeeF, in: Otto Speck und Klaus-Rainer Martin: Handbuch der Sonderpädagogik. Sonderpädagogik und Sozialarbeit, Berlin 1990 S. 258. 29 Elsbeth Bösl: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland Bielefeld 2009, S. 93. 30 Zitat nach ebd., 94. Eine Problematisierung der Rolle der Aktion Mensch hat Gabriele Lingelbach vorgenommen, in der sie auf insbesondere auf die Konstruktion des Bildes von Kindern mit Behinderung als Last und Unglück für ihre jeweiligen Eltern, um eine möglichst ertragreiche Spendenakquise zu betreiben. Vgl. hierzu Gabriele Lingelbach: Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964; in: Elsbeth Bösl u.a. (Hg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 127-150.
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Bewegung entstanden« seien.31 Auch die Interessenslagen, die primär auf Austausch und Freizeitgestaltung ausgerichtet waren, lassen zu diesem Zeitpunkt noch keine explizit politische Stoßrichtung erkennen, vielmehr betonte die BAGC keine Forderungen an Politik und Gesellschaft zu richten, wie es die etablierten Verbände täten.32 Bei der BAGC handelte es sich um die Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde, die 1971 von Vertretern elf lokaler Clubs gegründet wurde.33 So hält auch Rudloff fest, dass sich die frühen Clubs zwar einerseits »gegen den paternalistischen Stil der Fürsorge und Fürsprache zur Wehr setzte[n]«. Andererseits sei das Selbstverständnis der neuen Behindertenclubs nicht allzu politisch gewesen. Sie verstanden sich weder als ›Kampfverband‹, noch wollten sie »ständig Forderungen an die Gesellschaft adressieren.«34 Nichtdestotrotz kann das Jahr 1968 als der Beginn dessen begriffen werden, was im Laufe der folgenden Jahre zu einer neuen sozialen Bewegung werden sollte, da Menschen mit angeborenen Behinderungen erstmals organisiert einen Selbstvertretungsanspruch formulierten. Dies lag nicht zuletzt an einer raschen Ausbreitung der Club-Idee, die sich in der Gründung einer Vielzahl von Clubs Behinderter und ihrer Freunde im gesamten Bundesgebiet zwischen dem Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre niederschlug. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass solche Clubs nicht nur in den Großstädten, sondern auch in vielen Klein- und Mittelstädten entstanden, in der Regel aus den örtlichen Elternvereinen heraus.35 Zentrales Vernetzungsorgan der CeeBeFs wurde die Zeitschrift Luftpumpe, die zwischen 1978 und 1986 in einer Auflage von 1.500 Stück von einer Hauptredaktion in Köln und fünf Regionaldirektionen verlegt wurde, und sich mit ihrem Leitmotiv ›Wir machen es gemeinsam‹ an den ›Clubs Behinderter und ihrer Freunde‹ orientierte.36
31 Selbstauskunft des Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V., Link: http://www. cebeef.com/index.php?menuid=37 (30.01.2018). 32 Stoll (2017), 219. 33 Zur sozialen und generationellen Zusammensetzung der Bewegung vgl. ebd., 222 ff. 34 Rudloff (2003), 874. 35 Vgl. Stoll (2017), 215 f. 36 Jörg Fretter: Themenseite ›Luftpumpe. Zeitung zur Emanzipation Behinderter und Nichtbehinderter‹ auf der Homepage Archiv der Behindertenbewegung, Link: http://www.archiv-behindertenbewegung.org/beitraege/beitrag-01 (15.02.2018), als Beispiel für diese ›Ideologie‹ vgl. o.V.: Vom Helfen und Helfen lassen, in: Luftpumpe (1) 1979 S. 6-8.
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Das Neue und Zentrale der Clubs war die kulturelle Dimension der Zusammenschlüsse, während die Elternverbände aus den 1950er Jahren insbesondere die Themen Erziehung, Beschulung und Ausbildung der betroffenen Kinder fokussiert hatten, um diese möglichst gut in ein (letztlich separiertes) Erwerbsleben einzugliedern. Die sozialpolitischen Erfolge der Elternverbände begründeten die Etablierung eines staatlichen Netzes an Rehabilitationseinrichtungen und Sonderinstitutionen im Bildungsbereich.37 Dass dadurch allerdings die soziale Rehabilitation, also die Eingliederung der Menschen in die Mehrheitsgesellschaft, und das Knüpfen und Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen zu Personen ohne Behinderung verunmöglicht wurde, bildete den Ausgangspunkt der eigenständigen Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen. So weist Rudloff in seiner Analyse der Namensgebung ›Clubs‹ richtigerweise auf einen Paradigmenwechsel im Zusammenschluss rund um das Thema Behinderung hin, habe der »Begriff den Zeitgenossen« doch »als ›Chiffre moderner Geselligkeit‹« gegolten.38 Auch sei die Bezeichnung ›Club‹ gewählt worden, um »die völlige Freizügigkeit und Freiwilligkeit in allen Veranstaltungen und Aktionen« zu unterstreichen.39 Entsprechend bedeutend war das Feld des zwischenmenschlichen, sexuellen und partnerschaftlichen Umgangs zwischen behinderten und nichtbehinderten Mitgliedern, woraus eine veränderte gesellschaftliche Stellung der Menschen mit Behinderungen eingeübt und etabliert werden sollte. Der Frankfurter VHS-Kurs – Herausbildung einer behinderten Identität Die gleiche Stoßrichtung verfolgte auch der VHS-Kurs ›Bewältigung der Umwelt‹, dessen Protagonisten diese veränderten gesellschaftlichen Umstände allerdings weitaus proaktiver herbeiführen wollten. Ausgangspunkt des Kurses war ein interner Arbeitskreis der Volkshochschule Frankfurt, der eingerichtet wurde, um die Kursleiter im Umgang mit Menschen mit Behinderungen systematisch zu schulen. Der Arbeitskreis wurde vorbereitet durch ein Gespräch, das Vertreter des Gesundheits- und Sozialamtes mit Gusti Steiner, einem von Muskelschwund betroffenen Studenten der Sozialarbeit, führten.40 Steiner war, nachdem er die ersten zehn Jahre seines Lebens noch zu Fuß unterwegs gewesen war, ab seiner
37 Vgl. Rudloff (2003), 870 ff. 38 Ebd. 39 Zielsetzung der BAGC, 1972, BArch B 189/9447, fol. 96-97 zitiert nach Stoll (2017), 216. 40 Das Zustandekommen des Kontaktes ist aus den Quellen nicht zu rekonstruieren.
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Jugend Rollstuhlfahrer. Der Rollstuhl als Hilfsmittel und Ausdruck der Behinderung ihres Sohnes war für seine Mutter nicht zu ertragen – als Resultat dessen bewegte er sich, wenn überhaupt, innerhalb der Wohnung auf allen Vieren, doch eigentlich galt: »Den Tag über gab es nur einen Platz: den Stuhl.«41 Während dieser Zeit besuchte Steiner, in Ermangelung einer Sonderschule in der Umgebung, die örtliche Realschule, zu der ihn die Mutter täglich brachte. Dies habe bei ihm gewissermaßen zu einer »Zufallsintegration« geführt.42 In Erwartung einer besser ausgebauten Infrastruktur zog Steiner nach dem plötzlichen Tod der Mutter in die nächstgelegene Großstadt, nach Frankfurt – eine Erwartung, die sich letztlich nicht erfüllte. So beschreibt Steiner, dass er bei der Wohnungssuche die Information erhalten habe, »dass es in ganz Frankfurt keine einzige rollstuhlgerechte Wohnung« gebe.43 Dass er sich zudem mit beträchtlichen Einschränkungen in elementaren Bereichen Mobilität und Selbstversorgung konfrontiert sah, identifizierte Steiner als »politisch verursacht«.44 Im Vorgespräch mit den Vertretern der VHS sowie des Gesundheits- und Sozialamtes schilderte er den aus seiner Sicht mangelbehafteten Status quo der öffentlichen Behindertenhilfe und kritisierte, dass diese geprägt sei durch partielle Hilfsangebote. Deren Ursprung liege allesamt in einer Begutachtung durch Ärzte, die den Betroffenen ihre verschiedenen Bedarfe bescheinigten und so entsprechende Maßnahmen einleiteten.45 Diese Maßnahmen, die von »Wohlfahrtsverbänden, beschützenden Werkstätten, therapeutischen Abteilungen der Krankenhäuser, Mütterschulen und anderen Einrichtungen« und zur beruflichen Integration angeboten wurden, deckten jedoch in keiner Weise den Freizeitbereich ab, wie Steiner kritisierte. Um dieses Vakuum zu füllen, schlug er vor, dass sich das Kursangebot der Frankfurter Volkshochschule auch für Menschen mit Behinderungen öffnen solle. Hierzu wäre langfristig eine Vorbereitung oder Fortbildung der Lehrkräfte auf die Arbeit mit dieser Gruppe notwendig. Kurzfristig fand eine Identifizierung jener Angebote der VHS statt, die bereits zu diesem Zeitpunkt für Menschen mit Behinderungen offenstanden. Nach den Vorstellungen Steiners fußte diese Auswahl auf drei Kriterien: dem Einver-
41 Ernst Klee: Behinderten-Report II »Wir lassen uns nicht abschieben«. Bewußtwerdung und Befreiung der Behinderten, Frankfurt am Main 1976, S. 10. 42 Vgl. ebd. und Gusti Steiner: Wie alles anfing, Link: http://www.forsea.de/forseahomepage-bis-2017/projekte/20_jahre_assistenz/steiner.shtml (15.02.2018). 43 Ebd. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl.: Gusti Steiner: Gesprächsnotiz 08.Juni 1973, in: Nachlass Gusti Steiner Bd.1, o.S., in: AdbS P1/2.
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ständnis des Kursleiters, den zu bewältigenden räumlichen Zugängen sowie der Möglichkeit, eine Sonderstellung der Menschen mit Behinderungen zu vermeiden. Aus diesem Grund sollte auf eine Kennzeichnung der Kurse im allgemeinen Kursangebot der Volkshochschule verzichtet werden, um eine möglichst durchmischte Zusammensetzung zu erzielen. Damit sollte letztlich proaktiv auf eine gesellschaftliche Behindertenfeindlichkeit reagiert werden. 46 In seinen Strategiepapieren formulierte Steiner das Ziel der Anfangsphase dieser Behindertenarbeit als »Überwindung der individuellen Isolation – Kontaktaufnahme«.47 Aus dieser Herangehensweise entstand die Idee, nicht nur die bestehenden Kurse zu öffnen, sondern darüber hinaus einen eigenen Kurs anzubieten, mit dem man nicht, »wie in der Behindertenarbeit üblich, für Behinderte etwas tun soll, sondern mit ihnen zusammen« – ein Anliegen, welches von VHSFachbereichsleiter Wolfram Helmer positiv aufgenommen wurde. 48 Geleitet werden sollte dieser Kurs von Steiner selbst, gemeinsam mit dem Journalisten Ernst Klee. Dieser hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits einen Namen als »Randgruppenjournalist«49 gemacht und war ein Bekannter Steiners. Seine Investigativreportagen, die er als Bücher und in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht hatte, hatten ihn zu einer öffentlichen Figur des linksalternativen Milieus gemacht.50 So schrieb der studierte Theologe und Sonderpädagoge, bevor er sich dezidiert mit Menschen mit Behinderungen auseinandersetzte, über Strafgefangene51, Alkoholsüchtige52, Gastarbeiter53 und Psychiatrieinsassen54.
46 Ebd. 47 Vorüberlegungen zur Arbeit an der VHS, o.S., in: AdbS P1/2. 48 Klee (1976), 14. 49 Vgl. zum Begriff Randgruppe den grundlegenden Artikel von Friedrich Fürstenberg: Randgruppen in der modernen Welt, in: Soziale Welt (3) 1965 S. 236-245 und zur Selbstverortung Ernst Klee: Die im Dunkeln. Sozialreportagen, Düsseldorf 1971. 50 Vgl. zum Begriff des alternativen Milieus Sven Reichardt/Detlef Siegfried: Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968-1983, Göttingen 2010. 51 Vgl. Ernst Klee: Thema Knast, Bremen 1969; ders.: Prügelknaben der Gesellschaft: Häftlingsberichte, Düsseldorf 1971 oder ders.: Eigentlich suchen sie eine Mutter. Hochzeit hinter Gittern: Warum immer mehr Strafgefangene heiraten, in: Die Zeit Nr. 13 vom 22.3.1974. 52 Vgl. Ernst Klee: Es beginnt mit Cola und Rum, in: Die Zeit Nr. 47 vom 30.11.1973 oder ders.: Therapie für Alkoholkranke. Alleine schafft es keiner, in: Die Zeit Nr. 51 vom 14.12.1973.
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Über den sozialen Status von Menschen mit Behinderungen hielt Klee fest: »Behinderte sind ebenso eine Randgruppe wie Strafgefangene, psychisch Kranke und Obdachlose. Doch eines hebt sie hervor: Während andere Randgruppen heute politisch diskutiert werden, fällt für die Behinderten nur Mitleid ab, werden lediglich Almosen verabreicht.« 55 Die Arbeit des VHS-Kurses ›Bewältigung der Umwelt‹ wurde von Ernst Klee öffentlich in den beiden Büchern ›Behinderten-Report‹ und ›BehindertenReport II‹ begleitet und verarbeitet.56 Im ›Behinderten-Report‹ aus dem Jahr 1974 wurde zunächst neben statistischen Angaben die soziale Lage der Menschen mit Behinderungen, die Konstruktion von Unfähig- und Unmündigkeit, die Ghettoisierung, die Rolle in der Familie und dem sozialen Umfeld, die Sexualität und die vermeintliche Befähigung zur Arbeit diskutiert. 57 Das Buch folgte damit dem streng aufklärerischen Impetus, den Klee in seiner vorherigen Randgruppenarbeit verfolgt hatte, und leistete mit Blick auf die Beschreibung der sozialen Lage von Menschen mit Behinderungen durchaus Pionier-Arbeit. Für diese Untersuchung ungleich spannender ist allerdings der ›BehindertenReport II‹, der von Klee als Aufzeichnung und (Selbst-)Reflexion des VHSKurses ›Bewältigung der Umwelt‹ konzipiert wurde. Der VHS-Kurs ›Bewältigung der Umwelt‹ begann am 29. Januar 1974. Dem war eine Pressekonferenz des Frankfurter VHS-Leiters Helmer vorangegangen, »um für den Umweltbewältigungskurs die notwendige Publizität zu schaffen«. 58 Zudem hatte Steiner eine Liste von Institutionen und Organisationen zusammengestellt, die über das Bestehen des Kurses in Kenntnis gesetzt werden sollten. Hierzu zählten Beratungsstellen, Vereine und Verbände, Rehabilitationseinrichtungen, Sozial-, Schul- und Gesundheitsämter sowie umliegende CeBeeFs. 59
53 Vgl. Ernst Klee: Die Nigger Europas: Zur Lage der Gastarbeiter. Eine Dokumentation, Düsseldorf 1971 oder idem: Gastarbeiter. Analysen und Berichte, Frankfurt am Main 1972. 54 Ernst Klee: 44 Jahre in der Anstalt warum eigentlich? in: Die Zeit Nr. 39 vom 20.9.1974 oder ders.: Die armen Irren: das Schicksal der seelisch Kranken, Düsseldorf 1972. 55 Ernst Klee: Behinderten-Report, Frankfurt am Main 1974, S. 75. 56 Vgl. Ernst Klee: Behinderten-Report. Informationen zur Zeit, Frankfurt a. M. 1974 und ders. (1976). 57 Vgl. ebd. 58 Ergebnisprotokoll des Treffens des Arbeitskreises 6103 »Freizeitangebot für Behinderte« vom 06.11.1973 o.S., in AdbS P1/2. 59 Aufsuchende Sozialarbeit, o.S., in: AdbS P1/2.
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Dabei sollte sich die Arbeit in diesem Kurs grundlegend von jener Erfahrung unterscheiden, die Gusti Steiner in einem der Behindertenclubs gemacht hatte: Die Stimmung dort hatte er als trostlos und fatalistisch empfunden. 60 Aufgrund der hohen Nachfrage mussten zwei Gruppen gebildet werden, die sich jeweils hälftig aus Menschen mit Behinderungen und Nichtbehinderten zusammensetzten. Bei den Nichtbehinderten sollte eine »Sensibilisierung für die Probleme und die Lebenssituation Behinderter, [eine] Überwindung der Scheu vor Behinderten [und die] Schaffung eines persönlichen und damit normalen Verhältnisses zu Behinderten« erreicht werden.61 Von den siebzig Anwesenden zum Auftakt des Kurses im Alter zwischen 16 und 70 Jahren 62 gehörten in der Folge etwa zwei Drittel zum inneren Kreis, wobei nach Kursbeginn weitere Mitglieder dazu stießen. Aus der Perspektive der Kursleiter wurde dies allerdings als Problem wahrgenommen, da das Ziel des Kurses eine »organische« Weiterentwicklung der Gruppe sein sollte, von der die Menschen mit und ohne Behinderungen auch individuell profitieren sollten. Aus diesem Grund fand keine Besprechung individueller Problemlagen statt, sondern eine übergeordnete Diskussion der allgemeinen Lage von Menschen mit Behinderungen, Rollenspiele sowie die Vorbereitung und Durchführung der Aktionen, mit denen eine Außenwirkung erzeugt werden sollte.63 In diesem VHS-Kurs sollte es also nicht bloß um eine Überwindung behinderter Isolation gehen, sondern dezidiert politische Aufklärungsarbeit geleistet werden. Bei ihren Vorbereitungen unterteilten die Kursleiter den Kurszeitraum in eine Anfangsphase, eine Arbeitsphase, eine fortgeschrittene Arbeitsphase sowie eine finale Aktionsphase. Während es in der Anfangsphase um die Konstituierung des Kurses als Gruppe gehen sollte, wurde in der Arbeitsphase eine allgemeine Reflexion der Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen angestrebt. In einer »Gegenüberstellung von Wirklichkeit und Möglichkeiten« 64 sollten die Kursteilnehmer Einblicke in die Behindertenpolitik im Ausland erhalten, so vor allem Skandinavien, Holland, England und Italien. In der fortgeschrittenen Arbeitsphase sollten aus diesen Erkenntnissen Schlussfolgerungen »für die eigene Existenz«65 gezogen werden. Es sollte also erarbeitet werden, wie die eigenen Bedürfnisse der Betroffenen erfüllt werden könnten und welche Um-
60 Klee (1976), 12 f. 61 Ebd. S. 15. 62 Vgl. ebd. S. 21. 63 Vgl. ebd. S. 54. 64 Gusti Steiner: Vorüberlegungen zur Arbeit an der VHS, o.S., in: AdbS P1/2. 65 Ebd.
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stände dafür zu verändern seien. In der Aktionsphase sollten dann, so die vorher formulierten Vorstellungen der Kursleiter Steiner und Klee, gemeinsame Aktionen geplant und durchgeführt werden.66 Die erste dezidierte »Aktion« des Kurses richtete sich gegen die Deutsche Bundespost, deren Filialen für Mobilitätseingeschränkte nur schwer zugänglichen waren. Ein durch die Teilnehmer durchgeführter Test ihrer jeweiligen Postämter hatte ergeben, dass von 19 Einrichtungen lediglich drei barrierefrei zugänglich waren. Im Rahmen der gemeinschaftlichen Diskussion, wie mit diesem Umstand umzugehen sei, wurden mehrere Reaktionsmöglichkeiten durchgespielt. Nachdem sich die Gruppe mit vielen unrealistischen, wirkungslosen, nicht auf eine unmittelbare Verbesserung gerichteten Vorschlägen auseinandergesetzt hatte, sei »ganz zum Schluß, als Witz,« eine Demonstration vorgeschlagen worden.67 Mit einer Demonstration, also der Schaffung einer Öffentlichkeit für die Belange von Menschen mit Behinderungen, wollte man mit der zugewiesenen Rolle als Empfänger von Almosen gezielt brechen, welche im Jahre 1974 in der Selbst- wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung noch allgegenwärtig war. Nachdem zwei Kursmitglieder die Hauptfiliale der Post in Frankfurt auf ihre Barrierefreiheit getestet und festgestellt hatten, dass Stufen den Weg in das Gebäude versperrten, wurde zunächst Kontakt mit den Postbeamten aufgenommen. Diese reagierten allerdings wenig kooperativ. So erwiderte beispielsweise der Abteilungspräsident der Oberpostdirektion erstaunt: »Was, Gehbehinderte können nicht zwei Stufen gehen?«68 Darüber hinaus ließ der Beamte jegliches Bewusstsein für die Dimension des Problems vermissen, da er sich erkundigte, wie viele Menschen denn überhaupt Betroffen seien und auf die Erwiderung, dass es laut der CDU in Frankfurt 40.000 Menschen mit Behinderungen gäbe, diese Zahl zu relativieren versuchte und vorschlug, dass für die Betroffenen andere, selbstorganisierte Lösungen gefunden werden müssten, um ihre postalischen Angelegenheiten zu erledigen. Die Reaktion verweist auf zwei allgemeine und zentrale Grundübel der gesellschaftlichen Situation von Menschen mit Behinderungen in den 1970er Jahren: Zum einen fand eine Internalisierung der Problematik hin zu den betroffenen Personen statt. Eine fehlende Infrastruktur wurde nicht problematisiert, vielmehr wurde die jeweilige Verantwortung für das Problemmanagement auf die Betroffenen selbst übertragen, was in den Disability Studies unter dem
66 Vgl. ebd. 67 Vgl. ebd. S. 22 f. 68 Ebd. S. 24.
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Stichwort ›medizinisches Modell von Behinderung‹ beschrieben wird. 69 Die zweite Dimension betraf die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen. Der zuständige Mitarbeiter konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass es 40.000 Personen im Frankfurter Stadtgebiet gab, die durch zwei Stufen vor dem Postgebäude an einer selbstständigen Erledigung ihrer Amtsgeschäfte gehindert wurden: »Die Zahl 40.000, davor erschrickt man etwas«, gab der Beamte zu. 70 Dieses fehlende Gespür lässt sich aus der zeittypischen Abwesenheit von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Raum erklären. In Behindertenheimen oder der Familie wohnend, wenn überhaupt in Sondereinrichtungen betreut, beschult oder arbeitend, blieb diese Gruppe in der westdeutschen Gesellschaft letztlich weitgehend unsichtbar. »Da die Post keine Behinderten kennt, muss sie welche kennenlernen«71, wurde nun eine Maxime der Mitglieder des VHS-Kurses. Hierfür versammelten sich am 18. Februar 1974 um die dreißig rollstuhlfahrende und gehbehinderte Mitglieder des Kurses vor der Hauptfiliale der Deutschen Post. Begleitet wurde die Demonstration von herbeigerufenen TV-Kameras, Zeitungs- und HörfunkReportern, die die Aktion verbreiteten, was den diensthabenden Beamten der Hausverwaltung zu der erschreckten Feststellung verleitete: »Ja, das wird dann ja in der ganzen Bundesrepublik publik. Stellen Sie sich das vor, was das für eine Kostenfrage gibt, wenn dann alle Postämter Rampen wollen!« 72 Nach mehreren Versuchen gelang es den Demonstrierenden, ein öffentliches Gespräch mit dem Amtsleiter zu führen, der die Errichtung einer Rampe mit dem Warnhinweis ablehnte, dass man aufpassen müsse, »daß kein Gesunder über die Schräge fällt«.73 Im Nachgang der Demonstration war allerdings festzustellen, dass der
69 Vgl. zum medizinischen oder individuellen Modell von Behinderung folgende Definition von Waldschmidt: »Erstens beruhe das Modell primär auf medizinischen Definitionen und benutze einen einseitigen biophysischen Begriff von Normalität; zweitens werde die individuelle Schädigung (impairment) als alleinige Ursache von Beeinträchtigung (disability) und Benachteiligung (handicap) angesehen; drittens zwinge das Modell behinderte Menschen in abhängige Positionen und erwarte viertens außerdem von ihnen, sich individuell anzupassen und ihre Behinderung so gut wie möglich zu ›bewältigen‹.« Anne Waldschmidt: Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (2005), 1, S. 16, vgl. hierzu auch die anderen Beiträge in diesem Band. 70 Klee (1976), 24. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 25.
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Amtsleiter sich mit seiner abwehrenden Haltung nur bedingt durchsetzen konnte. Letztlich war es der Kursgruppe trotz alledem gelungen, für das Thema eine Öffentlichkeit herzustellen. So nahm sich die Oberpostdirektion dem barrierefreien Zugang ihrer Ämter an, indem sie eine Bestandsaufnahme für den Raum Hessen erstellen ließ, welche Ämter zugänglich seien und welche nicht. Analog dazu griff ein namenltlich nicht bekannter Landtagsabgeordneter das Thema auf und auch im Bundestag musste sich die sozialliberale Bundesregierung im Rahmen einer kleinen Anfrage zu dem Sachverhalt äußern.74 Doch nicht nur nach außen, auch innerhalb der Gruppe erzeugte die Aktion Resonanzen. Im Rahmen der Reflexionssitzung zur »Post-Aktion« einen Tag später schilderten die Teilnehmer ihre Eindrücke. Einige bekannten, dass die abwehrende Haltung bei ihnen zunächst Resignation ausgelöst habe: »Mit zunehmender Zeit wurde ich immer deprimierter. Ich kam mir vor, als würden wir um Almosen bitten.«75 Klee und Steiner resümierten in ihren jeweiligen Schriften, dass die Aktion den Teilnehmern mit und ohne Behinderungen beispielhaft aufgezeigt habe, wie Behörden Menschen mit Behinderungen zu vertrösten versuchen. Die Demonstration und die folgenden Entwicklungen, das Aufgreifen der Thematik durch die Öffentlichkeit sowie die Politik hatten in den Augen der Veranstalter letztlich den Beweis erbracht, »daß man Veränderungen und Problembewusstsein schaffen« könne.76 Das neu gewonnene Selbstbewusstsein wurde bei der mit Abstand öffentlichkeitswirksamsten Aktion des VHS-Kurses wenig später allerdings auf die Probe gestellt: Um auf die Behindertenfeindlichkeit des öffentlichen Raumes aufmerksam zu machen, versammelten sich die Teilnehmer des Kurses am Ende des Kurszeitraums vor der Frankfurter Hauptwache. Inmitten des geschäftigen Treibens einer Einkaufsstraße wollten sie dort für die Lage der Menschen mit Behinderungen sensibilisieren, die fehlende Sichtbarkeit kritisieren und auf die Befangenheit im Umgang mit ihnen durch Nichtbehinderte sowie Barrieren im Alltag aufmerksam machen. Begleitet wurden sie bei dieser Aktion von zahlreichen Print-, Radio- und TV-Journalisten, die von dem Vorhaben berichten wollten. Die angesprochenen Passanten reagierten in vergleichbarer Art und Weise wie die oben beschriebenen Postbeamten, indem sie die Relevanz des Problems abstritten oder sich im Umgang mit Menschen mit Behinderungen unbeholfen
74 Ebd. 75 Gusti Steiner: Einschätzung und Interpretation/Gruppenverlaufsanalyse der 4. Sitzung vom 19.2.1974, in: VHS-Kurs Frankfurt Bd.3, Arbeitsjournal, o.S., in AdbS P1/4; Klee (1976), 25. 76 Steiner: Gruppenverlaufsanalyse 4. Sitzung.
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zeigten. Zusätzlich dazu waren einige Passanten bereits von der schieren Anwesenheit und Demonstrationsfähigkeit der Menschen mit sichtbaren Behinderungen merklich überrascht.77 Nach der Demonstration vor der Hauptwache machte die Gruppe mittels der Inszenierung einer gescheiterten Mitfahrt der Straßenbahn auf die Barrieren bei der Benutzung der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur aufmerksam. Hierfür versuchte der rollstuhlfahrende Kurs-Teilnehmer Fritz Boch in die nächste Straßenbahn einzusteigen – ein offensichtlich aussichtsloses Unterfangen, da eine Mittelstange sowohl bei den regulären als auch bei den für Kinderwagen verbreiterten Türen den Einstieg versperrte. Auf Rückfrage eines Fernsehreporters bemerkte der Straßenbahnfahrer, der sich der Szenerie angenommen hatte: »Es ist das erste Mal, daß einer mit einem Rollstuhl praktisch kommt und einsteigen will.«78 Infolge des provoziert gescheiterten Einstiegsversuchs blockierte Gusti Steiner die Straßenbahngleise und artikulierte die Forderungen nach einer Teilhabe an den öffentlichen Verkehrsmitteln mit einem Megaphon. Die Reaktionen auf die Straßenbahnblockade waren gemischt: »Die Hälfte der Passanten klatscht zu Gusti Steiner’s (sic) Erklärungen, die andere Hälfte ist in Pogromstimmung.«79 Die Wortgefechte, die durch den öffentlichen Protest ausgelöst wurden, spiegelten letztlich die gesamte Bandbreite des zeitgenössischen gesellschaftlichen Umgangs mit Menschen mit Behinderungen wider: Ein besonders konfrontativer und verständnisloser Passant stellte fest, »beim Hitler würde sowas gar nicht mehr leben«.80 Andere nutzten die auf die Erwerbstätigkeit bezogene Aussonderung, die Menschen mit Behinderungen (nicht zu Unrecht) unterstellt wurde, zu einer Diskreditierung ihrer Proteste: »Die Leute wollen heimfahren. Die arbeiten ja nicht«, war eine Aussage, eine andere, von Klee festgehalten, lautete: »Im Namen der deutschen Arbeiterschaft, geben Sie die Schiene frei.«81 Das Vorurteil der Unmündigkeit behinderter Menschen reproduzierte ein weiterer Passant: »Die armen Behinderten werden doch nur vorgeschoben für diese kommunistischen Machenschaften.« 82 Es gab allerdings auch unterstützende Wortmeldungen, die den grundsätzlichen Missstand anerkannten, teil aber die Straßenbahnblockade als das falsche Mittel einschätzten: »Die wis-
77 Vgl. Klee (1976), 35 ff. 78 Ebd., 38. 79 Ebd. 80 Ebd., 39 81 Ebd. 82 Ebd.
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sen ihr Problem ja schon lange. So kann man das nicht bewältigen.« 83 Dem widersprach ein anderer: »Es ist doch leider so, daß Sie hier nur auf einen Mißstand aufmerksam machen können, wenn Sie auf den Tisch hauen. Mit Unterschriften sammeln ist nichts getan«, und eine Frau ergänzte: »Das muß sein, denn das ist eine so kleine Minderheit, daß die anders [als] mit einer Kundgebung nichts erreichen können. Die müssen manchmal auf die Straße, um das publik zu machen.«84 Während das unmittelbare Echo auf die Demonstranten also ambivalent ausfiel, beschrieb Ernst Klee eine einhellig positive Rückmeldung aus der medialen Öffentlichkeit. Besonders viel Aufmerksamkeit erreichte der Beitrag »Körperbehinderte kämpfen gegen Vorurteil und Diskriminierung in der Öffentlichkeit«, der in der WDR-Redaktion Experimentelle Formen entstanden war.85 In einem Brief an den Programmdirektor des WDR bemerkte der Pressechefs der Bundesregierung Klaus Bölling, dass dieser nicht nur bei den betroffenen Personen auf reges Interesse gestoßen sei, sondern »auch die seitens der Bundesregierung zuständigen Ressorts reagierten positiv«. Bemerkenswerterweise fuhr er fort: »Bedauert wurde allerdings der späte Zeitpunkt der Sendung um 23:05 Uhr.«86 In Kenntnis über die Gepflogenheiten in Behindertenheimen schlug er vor, »diesen ausgezeichneten Fernsehfilm zu einer günstigeren Sendezeit zu wiederholen. Viele Behinderte, die in einem Heim leben, können dort nur bis 22:00 Uhr das Fernsehprogramm verfolgen«. 87 Die Verantwortlichen kamen dieser Bitte tatsächlich nach, indem sie den Film am Tag vor Silvester um die Mittagszeit erneut ausstrahlten.88 Betrachtet man die Geschichte des VHS-Kurses zusammenfassend, fand eine Zuschreibung der Ursachen der Mobilitäts- und Zugangsprobleme von Menschen mit Behinderungen statt, die diese bei den Betroffenen selbst verortete. Insbesondere die Sachbearbeiter vor Ort sahen sich außerstande, an den Bedingungen etwas zu ändern. Vielmehr wurde – sowohl bei der Post, als auch bei den Stadtwerken als Betreiber der Straßenbahnen – versucht, das Problem zu verwal-
83 Ebd. 84 Ebd. 85 DEMONSTRATION Körperbehinderte kämpfen gegen Vorurteil und Diskriminierung in der Öffentlichkeit, Prod.-Nr. 551 842/553 034, Eingang 2.7.74, in WDRArchiv A.-Nr. MAZ 19 101 (Ausgabe auf Anfrage per E-Mail). 86 Ebd., 43. 87 Ebd. 88 Vgl. Tagesbericht ARD-Deutsches Fernsehen vom 30. Dezember 1974, Regional- + Gemeinschaftsprogramm Blatt 1, in WDR-Archiv (Ausgabe auf Anfrage per E-Mail).
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ten, indem auf die jeweils nächsthöhere Ebene verwiesen wurde. Mit diesen Reaktionen hatten viele der Teilnehmenden des Kurses zu kämpfen. Resignation, Frustration und ein Gefühl von Demütigung machte sich bei vielen breit, eine intendierte Entwicklung der Kursleiter, um die Betroffenen politisch zu aktivieren. Auf der anderen Seite wurde durch ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit eine, nach eigenem Bekunden, zuvor nie dagewesene »Kampfeslust« geweckt, die sich insbesondere mit dem Gefühl verband, mit seinen Anliegen nicht alleine zu sein. Diese Mobilisierung und Politisierung aufzunehmen und produktiv umzusetzen war der entscheidende Punkt, an dem sich der VHS-Kurs von den eher im Privaten verharrenden CeBeeFs absetzte: Wie es von den Kursleitern geplant war, entwickelte sich eine genuin gesellschaftspolitische Stoßrichtung, die durch öffentlichkeitswirksame Demonstrationen und Proteste in die nichtbehinderte Gesellschaft hineingetragen wurden. Die Tatsache, dass bauliche Barrieren Betroffene daran hinderten, sich im öffentlichen Raum zu bewegen und selbstständig ihren Anliegen nachzugehen (wie beispielsweise einen Brief aufzugeben) wurde umfassend problematisiert und letztlich auch skandalisiert. Die zentrale politische und motivationale Stoßrichtung nahm dabei die Erkenntnis ein, dass es sich dabei um eine Missachtung durch die Gesellschaft handele und nicht um individuell »verschuldete« Problemlagen. Aus diesen kollektiven Missachtungserfahrungen entstand also das, was in den Disability Studies als das ›soziale Modell von Behinderung‹ beschrieben wird. Diese Einordnung kann als ein zentraler Perspektivwechsel in die Geschichte der Emanzipation von Menschen mit Behinderungen eingeordnet werden. Durch die gemeinschaftlichen Erkenntnisprozesse wurde der Weg dafür bereitet, dass sich die Menschen mit Behinderungen als eine randständige Gruppe identifizieren, ihrer Alterität bewusstwurden, um daraus kollektiv Kraft zu schöpfen, dieser als gesellschaftlich produzierten Lage zu entkommen. Der Kurs darf allerdings nicht nur einseitig als Erfolgsgeschichte begriffen werden. Schon aus der Binnenperspektive offenbarten sich auch Probleme.89 Der Bericht Klees im ›Behinderten-Report II‹ hebt die im Entwurf des Kursprogramms eingeplante Reflexion in seinem Begleitband hervor (»Die Nachbereitung ist so notwendig wie die Vorbereitung« 90), während etwaige Konflikte innerhalb der Gruppe nicht thematisiert wurden. Die Protokolle der Sitzungen im
89 Diese sind in der knappen Darstellung Stolls unter den Tisch gefallen, vgl.: Stoll (2017), 296 ff. 90 Ebd.,48.
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Nachlass von Steiner legen diese dagegen offen.91 Ihnen ist etwa zu entnehmen, dass in den Reflexionssitzungen der Kurse im Mai 1974 unvermittelt Kritik an Ernst Klee geäußert wurde, als dieser sich zu Schnittarbeiten beim WDR in Köln befand. Die Stoßrichtung der Kritik ging dabei hauptsächlich in zwei Richtungen: Zum einen warf man dem Journalisten vor, dass er bei seiner Tätigkeit stärker auf die öffentliche Wirksamkeit als auf eine Herausbildung behinderten Selbstbewusstseins und eine Entwicklung der Gruppe hingearbeitet habe: »Daß Ernst nicht da ist, zeigt sein Desinteresse. Warum ist ihm der Film in Köln wichtiger als die kritische Auseinandersetzung mit der Gruppe?«92, fragte etwa ein Teilnehmer. Ein anderer schilderte eine Situation, in der Klee »damals einfach einen Mann vom Fernsehen mitgebracht [hat] und er hat den Mann nicht mal vorgestellt«.93 Ein anderer Aspekt, der von den Teilnehmern scharf kritisiert wurde, war die zu große Autorität, die die Kursleiter insgesamt, aber insbesondere Klee, in der Kursgestaltung an den Tag gelegt hatten. Hierzu bemängelte einer: »Die Kursteilnehmer hatten nur wenig oder keine Möglichkeit, an den Entscheidungen mitzuwirken.«94 Während Gusti Steiner wiederum keine persönliche Kritik an sich selbst festgehalten hat, illustrieren drei weitere Statements die Vorbehalte gegen die Führungsarbeit von Klee deutlich. Insbesondere der oben bereits angesprochene Termin in der Wohnung der Kursteilnehmerin Christa scheint Anlass zur Kritik an der Arbeit Klees geliefert zu haben, denn hierzu stellten Teilnehmer fest: »Bei der Briefaktion hat Ernst in Christas Wohnung das Zepter übernommen, obwohl er sich anfänglich im Kurs da raushalten wollte.«95 Dies führt zu der umfassenden, und in einer Gegenüberstellung mit den formulierten Zielen des Kurses vernichtenden Kritik: »Ernst schüchtert mit seiner Art zu reagieren einige Leute ein. Sie trauen sich dann nicht mehr ihre Meinung zu sagen.« Nach dem ersten Kurs musste Gusti Steiner seiner Kursleiter-Tätigkeit aus privaten Gründen niederlegen: Er widmete sich fortan seinem Studium der Sozialarbeit und zog 1977 nach Dortmund, um dort auf lokaler Ebene behindertenpolitisch aktiv zu sein. Aus seiner Zeit in Frankfurt konnte er die Erfahrung mitnehmen, dass das behindertenpolitische Potenzial von Betroffenen, die zuvor
91 Vgl. Gusti Steiner: Ergebnisprotokoll Treffen der Kurse 6153 und 6154 ›Bewältigung der Umwelt‹ am Dienstag, dem 28.5.1974, in: VHS-Kurs Frankfurt Bd.4, Arbeitsjournal, o.S., in AdbS P1/5. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd.
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isoliert aufgewachsen und gelebt hatten, durch gezielte Arbeit öffentlichkeitswirksam mobilisiert werden konnte – eine Erfahrung, die ihm zum späteren Aufbau einer Infrastruktur zur Überwindung von Heimunterbringungen motiviert haben dürfte. Auch Klee gab den Kursleiterposten wenig später auf. 96 Dennoch wurde der VHS-Kurs auch in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt und das Konzept wurde auch in den Volkshochschulen anderer Städte übernommen, in denen jeweils lokale VHS-Kurse zu dem gleichen Thema durchgeführt wurden. Besonders in Erscheinung traten diese untereinander vernetzten Kurse im Jahr 1980, als sie – in Verbindung mit einem zwischenzeitlich angewachsenen behindertenpolitischen Netzwerk – den Protest gegen das Frankfurter Reiseurteil anführten, der bis dahin größten Demonstration von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland.97 Zu dieser Zeit hatte sich aber die gesamte Gemengelage in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Missachtungserfahrungen von Menschen mit Behinderungen gewandelt, was nicht zuletzt an den in den späten 1970er Jahren aufkommenden, deutlich radikaleren Krüppelgruppen lag. Die Krüppelgruppen – der radikale Flügel der Behindertenbew egung Die sogenannten Krüppelgruppen hatten mit der Erarbeitung des »Krüppelstandpunktes«, der die Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten ausschloss, der Behindertenbewegung einen nachhaltigen Impuls gegeben. In diesem entscheidenden Punkt setzten sie sich von ihren Vorgängergruppen ab. Die von ihnen herausgegebene Krüppelzeitung, deren Redaktion sich vornehmlich aus norddeutschen Krüppelgruppen zusammensetzte, bildete das öffentliche Sprachrohr der neuen Krüppelbewegung. Den »Krüppelstandpunkt« begründete das Redaktionsmitglied der Krüppelzeitung Udo Sierck 1982 in einer Art behindertenpolitischer Streitschrift: »Die Krüppelgruppen kritisieren an den Clubs und Initiativen, dass das Verhältnis von Krüppeln und Nichtbehinderten nicht hinterfragt wird.« 98 Durch diese fehlende Abgrenzung würde ein Machtgefälle zwischen Menschen mit Behinderungen und Nichtbehinderten aufrechterhalten und diese kämen nicht selbst zu Wort – eine Argumentation die sich analog zu Tendenzen in der
96 Vgl. zum späteren Werdegang Ernst Klees in der Behindertenarbeit bspw. Lothar Sandfort: Interview mit Ernst Klee, in: Luftpumpe (2) 1980 S. 4-8. 97 Vgl.: Ernst Klee: Behinderte im Urlaub? Das Frankfurter Urteil. Eine Dokumentation, Frankfurt am Main 1980. 98 Udo Sierck/Michael Wunder (Hg.): Sie nennen es Fürsorge. Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand, Berlin 1982 S. 153.
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Frauenbewegung interpretieren ließe, die in Teilen auf einen Ausschluss von Männern setzte, um eine genuin frauenzentrierte Identität herausbilden zu können.99 Der Ausschluss Nichtbehinderter schlug sich beispielsweise in einer unorthodoxen Preispolitik für die Krüppelzeitung nieder, die ein abgestuftes Preismodell verfolgte: Während Nichtbehinderte 5 DM zu zahlen hatten, kostete die Zeitung für Menschen mit Behinderungen mit vollem Einkommen 2,50 DM, für jene mit Sozialhilfe oder BaföG 1,50 DM und Taschengeldempfänger, also Heimbewohner, erhielten die Zeitung für lediglich 50 Pfennige. 100 In der Begründung dieser Preispolitik auf der zweiten Seite der ersten Ausgebe der Krüppelzeitung, lässt sich der provokantere und aggressivere Tonfall erkennen, den die Krüppelgruppen im Gegensatz zu den CeBeeFs anschlugen. So wird der vergünstigte Preis für Taschengeldempfänger mit dem »unterdrückerischen Taschengeld (z.b. von 30 DM)« begründet, der auf eine Anprangerung von materiellen Missständen verweist.101 Zudem verdeutlicht es den Ansatz der Gruppen, bewusst nicht mit Nichtbehinderten zusammenarbeiten zu wollen, wenn sie explizit formulieren, dass sie »die Zeitung nicht für sie geschrieben haben« und ihre Neugier im Preis berücksichtigt werden solle.102 Der Mitbegründer Horst Frehe sah in der Krüppelzeitung selbst ein Medium, das sich von den »Behindertenmagazinen, die alle sehr brav und Harmonie süchtig (sic) waren«, abgrenzen und als Forum zur Austragung von Kontroversen, nicht zuletzt zum »Krüppelstandpunkt«, dienen sollte. Dass dies allerdings kaum möglich war, musste er in der Retrospektive eingestehen, da es »keinen Raum für konstruktive Auseinandersetzungen« gegeben habe: »Wir hatten eine kurze Phase ganz am Anfang mit einem solidarischen Klima, später war es eher ein Machtkampf.«103 Gleichwohl habe es sich bei der Krüppelzeitung um das erste behindertenpolitische Organ gehandelt, das sich auch theoretischen Fragestellungen geöffnet habe und, über einen meist moralisierenden Betroffenheitsjour-
99
Vgl.: Rüder Lautmann: (Welche) Neue Männer braucht das Land … Männer und Neue Frauenbewegung, in: Ilse Lenz (Hg.): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2010 S. 735-737.
100 Vgl.: o.V.: Impressum, in: Krüppelzeitung (1) 1979, S. 2. 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Christian Mürner/Udo Sierck: Krüppelzeitung. Brisanz der Behindertenbewegung, Hamburg 2009, S. 42 f.
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nalismus hinweg, übergeordnete Fragen des Zusammenlebens und -arbeitens und des politischen Engagements diskutiert hat.104 Die Verwendung des Krüppelbegriffs in Abgrenzung zu der damals gängigen Bezeichnung ›Behinderte‹ begründeten die Macher mit den aus ihrer Perspektive unzureichenden Assoziationen, die mit dem Begriff ›Behinderung‹ semantisch verknüpft seien: »Wir werden beherrscht, sei es durch Institutionen oder Nichtbehinderte, die uns vorschreiben, was wir zu machen haben.«105 Immer wiederkehrende Themen, die in den fünf Jahren des Bestehens der Krüppelzeitung diskutiert wurden, waren die Herausbildung eines behinderten Selbstbewusstseins in Selbsthilfegruppen 106, juristische Fragen und der Umgang mit dem staatlichen Verwaltungsapparat107, Kritik am eugenischen Denken, sowohl in der Rückschau108 als auch zeitgenössisch109, Erfahrungsberichte über die Bewältigung von Alltagssituationen110 Sexualität111, kulturelle Betätigungen von Menschen mit Behinderungen, lyrische oder zeichnerische Werke von Mitgliedern einzelner Krüppelgruppen112 sowie der gesellschaftliche113 oder medizini-
104 Vgl.: ebd., 44 f. 105 Ebd. S. 3. 106 Vgl. bspw.: Otto Terbäk: Mein - ausschließlich subjektiver - Eindruck bei der ersten Kontaktaufnahme mit anderen Krüppeln, in: Krüppelzeitung (3) 1982, S. 46-49 oder Gemeinsam sind wir stärker. Leben und Lernen in Selbsthilfegruppen, in: Krüppelzeitung (3) 1983, S. 5-9. 107 Vgl.: Krüppel aus der Gruppe Hamburg: Für Abbau der Sozial-Verwaltung! Gegen Abbau der Sozial-Leistungen, in: Krüppelzeitung (2) 1982, S.4-13. 108 Vgl. den Abdruck eines Artikels mit dem Titel »Zum Thema: Gnadentod«, ursprünglich veröffentlicht in der SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps von 1937, in: Ebd. 23. 109 Vgl. bspw.: Nati Radtke: Ein schönerer, besserer und schnellerer Tod oder Angst fressen Seele auf, in: Krüppelzeitung (3) 1982, S. 20-23 oder Udo Sierck: Die ›humane Sterbehilfe‹ droht, in: Ebd., 24-26. 110 Vgl.: Christian (Nachname unbekannt): Krüppels Umzug und seine Probleme, in: Krüppelzeitung (2) 1980, S. 31-34. 111 Vgl.: o.V.: Krüppel-Coming-Out, oder wie ich es nennen soll, in: Krüppelzeitung (1) 1981, S. 26-28. 112 Vgl: Friedrich Wagenfeld: Die Gräfin Emma und der Krüppel, in: Krüppelzeitung (1) 1979, S. 37-39. 113 Nati Radtke: Sprache ist verräterisch, in: Krüppelzeitung (1) 1984, S. 5-7.
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sche114 Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Darüber hinaus wurde explizit der Themenkomplex »Geschlecht« aufgegriffen und bald auch in eigenen Frauen-Krüppelgruppen diskutiert.115 Exemplarisch für die konzeptionelle Ausrichtung der Krüppelgruppen und deren öffentliche Skandalisierungsstrategien werden nachfolgend die Auseinandersetzungen um Fahrdienste, als existenzielles Thema der Mobilität dargestellt. Ausgangspunkt der Debatte war die Bekanntmachung der Bremischen Bürgerschaft aus dem Mai 1979, dass der Modellversuch eines von den betroffenen Heimbewohnern bereits als unzureichend empfundenen Fahrdienstes ohne Änderungen verlängert werden sollte, ohne die Kritikpunkte der Betroffenen zu berücksichtigen.116 Die inhaltlichen Forderungen der Krüppelgruppe waren eine Aufhebung der Beschränkung der Anzahl der Fahrten, eine Verkürzung der Anmeldefristen, sodass auch spontane Fahrten ermöglicht wurden, sowie eine Ausdehnung der Fahrbereitschaft auf den Betriebszeitraum des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) von 6.00 bis 1.00 Uhr. Darüber hinaus sollte der berechtigte Personenkreis auf all jene ausgeweitet werden, die nicht am ÖPNV teilnehmen oder denen eine Benutzung nicht zugemutet werden konnte. Zur Verbesserung der Standards, die zuvor als »auf dem Niveau von Vieh und Paketen«117 kritisiert wurden, sollte zudem eine Arbeitsgruppe von Menschen mit Behinderungen, Fahrern und Technikern gebildet werden. Bei der Begründung der einzelnen Forderungen lässt sich ablesen, dass die Bremer Krüppelgruppe im Austausch mit anderen Gruppen stand, denn sie konnte Beispiele aus anderen Städten nennen, die bereits unbeschränkte Fahrdienste eingerichtet hatten. 118 Die Begrenzung auf nur eine wöchentliche Fahrt wurde mit einem impliziten Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz kritisiert, indem argumentiert wurde, dass all jene Menschen mit Behinderungen, denen der ÖPNV verschlossen sei, nicht schlechter gestellt werden dürften als jene Schwerbehinderten, die seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im Nahverkehr vom 1. Oktober 1979 einen erheblichen Zuwachs an Mobilität
114 Jutta Rüter und Bettina Reher: Sind Ärzte krüppelfeindlich?, in: Krüppelzeitung (1) 1984, S. 35-37. 115 Vgl. bspw. Nati Radtke und Petra Fuchs: Krüppelfrauentreffen in Hamburg. »Wir erobern uns unseren Körper zurück«, in: Krüppelzeitung (3) 1982, S. 5-9. 116 Vgl.: Horst Frehe: Fahrdienst in Bremen. Einmal die Woche dürfen wir raus, in: Krüppelzeitung (1) 1979, S. 26-28. 117 Ebd., 27. 118 Vgl. ebd.
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erfahren haben.119 Auch die Erweiterung des Personenkreises und die Ausdehnung der Bereitschaftszeiten werden unter Zuhilfenahme dieses Argumentes gefordert. Das Ansinnen der Krüppelgruppen, während eines Gesprächs mit dem Sozialsenator, Mitgliedern aller drei Fraktionen sowie der Presse die konkreten inhaltlichen Forderungen zu erläutern, scheiterte auf ganzer Linie. Lediglich ein Vertreter der oppositionellen CDU folgte der Einladung und sagte »die Unterstützung unserer Vorschläge in allen Punkten zu«.120 Dieser Forderungskatalog war der Auftakt für eine langwierige und hitzige Auseinandersetzung zwischen der Bremer Politik und der ortsansässigen Krüppelgruppe. So fanden in der Folge Demonstrationen im öffentlichen Raum, Störaktionen von Sitzungen der Bürgerschaft sowie Pressekonferenzen statt. Ihren Höhepunkt hatten die Proteste rund um die geplante Abstimmung in der Bürgerschaft. Rund 30 Betroffene hatten sich auf den Rängen des Parlamentes eingefunden, doch da es den Sozialdemokraten nicht gelungen war, die nötige Anzahl an Abgeordneten zu organisieren, um mit ihrer absoluten Mehrheit für das Gesetz zu stimmen, wurde die Abstimmung vertagt. Dies löste unter den anwesenden Betroffenen derartige Wut aus, dass sie sich zu einer radikaleren Protestform entschlossen: einem Hungerstreik in den Räumlichkeiten des Parlaments. Dieser Hungerstreik überraschte die Landespolitiker und machte nachdrücklichen Eindruck auf sie, wie es der damalige Sozialsenator Scherf später bestätigte: »Dieses Anketten da unten, das war sehr sehr sehr schlau. Die Abgeordneten hatten alle panische Angst, die trauten sich gar nicht daran vorbei, die sind dann so hinten rein in die Bürgerschaft gekommen und haben gesagt: ›Mach das zu Ende, wir wollen hier Schluss machen!‹ Die waren völlig genervt und die waren ja die, die mich beauftragt hatten, das zu machen. Ich war ja nicht der Erfinder dieser Kürzung, sondern ich sollte die Kürzung, die beschlossen war umsetzen.«121
119 Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr. Art 10 Inkrafttreten, Link: https://www.gesetze-im-internet.de/unbefg_1979/art_10.html (15.02.2018) 120 Horst Frehe: Fahrdienst in Bremen. Einmal die Woche dürfen wir raus, in: Krüppelzeitung (1) 1979 S. 28. 121 Rückbetrachtung Henning Scherf, in: Maskos, Rebecca: Hungerstreik gegen Fahrdienstkürzungen, Bremen 1981, Link: https://www.youtube.com/watch?v=121dBCZeho, Min. 3:30-3:56.
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Unabhängig von der Rolle Scherfs als Person, die in den Quellen der Krüppelgruppe als deutlich aktiver und machtvoller dargestellt wird 122, zeugt dieses Statement von der unmittelbaren Wirksamkeit des Protestes, die auch und insbesondere an der Normabweichung von Menschen mit Behinderungen als Protestierenden lag, wie Scherf in seinem Rückblick bekräftigt: »Das ist hier nun mal ein Parlament, das ist ja nicht irgendein Haus, da ist es besonders delikat, wenn da Demonstrationen in dem Gebäude sind, vor dem Haus, das muss man sich gefallen lassen, aber in dem Gebäude, das ist eigentlich ein Tabubruch, das wird hier nicht gewünscht – aber gegen Behinderte tritt keiner offensiv auf, keiner ruft die Polizei gegen Behinderte, keiner wendet Gewalt an gegen Behinderte.«123
Doch nicht nur die öffentliche Sichtbarmachung der sozialen Devianz war gelungen, sondern auch inhaltlich konnte die Krüppelgruppe Erfolge verzeichnen. Das Ziel, die Freifahrten aufrechtzuerhalten, wurde erreicht; deren Anzahl wurde sogar auf 104 pro Jahr erhöht und zweckgebundene Fahrten, wie beispielsweise zu den Treffen der Krüppelgruppen, zu Sport- oder Kulturveranstaltungen, nicht eingerechnet. In der Folge engagierten sich die Krüppelgruppen innerhalb der kurzzeitig übergreifend agierenden Behindertenbewegung, an der sich zudem Mitglieder und Ehemalige diverser VHS-Kurse und Vertreter der Clubs Behinderter und ihrer Freunde beteiligten. Als verbindendes Moment fungierten die gemeinsamen Vorbereitungen auf das »UN-Jahr der Behinderten« 1981. Sie wollten die gesteigerte Aufmerksamkeit, die im Zuge dieses gesellschaftlichen Ereignisses auf die Belange von Menschen mit Behinderungen gerichtet wurde, dazu nutzen, um Kritik an den bestehenden Zuständen in der Bundesrepublik zu artikulieren, wie im Beitrag von Monika Baár und Anna Derksen in diesem Band ausgeführt wird. Dass sich die Geschlossenheit der Aktivisten als ein vergleichsweise kurzes Strohfeuer erweisen sollte, steht für typische Problemstellungen einer sozialen Bewegung wie der westdeutschen Behindertenbewegung.
122 Vgl. bspw. Brief von Henning Scherf an Ingeborg Drewitz, Vizepräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland vom 25.2.1981, abgedruckt in: Krüppelzeitung (1) 1981, S. 14 oder Henry Meyer: Scherfs Frechheiten, in: Ebd.,15 ff. 123 Scherf: Rückbetrachtung, Min. 3:06-3:30.
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Diskriminierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen gestern, heute und morgen Peter Lehmann
Viel ist die Rede vom Wandel der Rechtsnormen auch im psychiatrischen Bereich. Die Psychiatrie-Enquete von 1975 gilt häufig als Wendepunkt in der zweifelhaften Geschichte der Psychiatrie mit ihren Menschenrechtsverletzungen. Doch Menschenrechte waren in der Enquete kein Thema. Jahrzehntelang wurde in den deutschen Bundesländern systematisch gegen das Grundrecht auf körperliche Unverletzbarkeit verstoßen. Ungebrochen finden in der Psychiatrie fortwährend Menschenrechtsverletzungen statt. Dies betrifft insbesondere die mit oder ohne Zwang vollzogene psychiatrische Behandlung ohne informierte Zustimmung. Aktuell kehrt der Elektroschock wieder, auch unter Zwang verabreicht. Die Umsetzung der in der UN-Behindertenrechtskonvention enthaltenen Forderung nach Gleichheit von psychiatrisch behandelten Menschen vor dem Gesetz ist hochaktuell. Informiert wird auch nicht über Frühwarnsymptome, mit denen sich psychopharmakabedingte Erkrankungen ankündigen. Die enorme Vulnerabilität psychiatrisch behandelter Menschen, die sich in einer um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderten Lebenserwartung widerspiegelt, wird bei der Verabreichung potenziell riskanter Psychopharmaka nicht berücksichtigt. Die Betroffenen erhalten keine Hilfe, wenn sie sich für dafür entscheiden, die Einnahme von Psychopharmaka zu beenden, und wenn sie unter Entzugsproblemen leiden. Neuroleptikabedingte Suizidalität wird ebenso ignoriert wie das Fehlen therapeutischer Angebote für Menschen, die durch psychiatrische Zwangsbehandlung
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traumatisiert sind. Die Psychiatrie als medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplin kann dem Anspruch, psychosoziale Probleme zu lösen, nicht gerecht werden. Es ist dringend nötig, evaluierte humanistische Alternativen für Menschen in psychischen Notlagen einzuführen. Der Gleichheitssatz der UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet über die Gleichheit von psychiatrisch behandelten Menschen vor dem Gesetz hinaus auch die Gleichheit von Psychiatern vor dem Gesetz, insbesondere dem Strafrecht, wenn sie die Rechte ihrer Patientinnen und Patienten verletzen. Ohne diese Gleichheit, deren Umsetzung nicht in Sicht ist, wird sich die willkürliche und straffreie Verletzung der Menschenrechte von psychiatrisch behandelten Menschen fortsetzen.
OBSKURES MENSCHENRECHTSVERSTÄNDNIS IN DER PSYCHIATRIE-ENQUETE Viele verbinden mit der Psychiatrie-Enquete von 1975 die Beendigung der inhumanen Zustände in der Psychiatrie und die Gewährung von Menschenrechten auch für psychiatrisch behandelte Menschen (»psychisch Kranke«). Unter der Überschrift »Gleichstellung der psychisch Kranken mit körperlich Kranken« wurde seinerzeit gefordert: »Dem psychisch Kranken muss prinzipiell mit den gleichen Rechten und auf dem gleichen Wege wie dem körperlich Kranken optimale Hilfe unter Anwendung aller Möglichkeiten ärztlichen, psychologischen und sozialen Wissens gewährleistet werden.« 1 Allerdings ging es nicht um Menschenrechte auch für psychiatrisch behandelte Menschen, insbesondere das Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Schutz der Menschenwürde. Die Formulierung bezog sich vielmehr auf Fragen des Leistungs- und Versicherungsrechts, des Kassenarztrechts, des Arbeitsrechts, der Verantwortung von in der Versorgung Tätigen, der Freiheitsentziehung, der Reform des Entmündigungs-, Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts, der Heimunterbringung, der Postkontrolle, der Schuldunfähigkeit bei verwirrten alten Menschen, des Datenschutzes, der Registrierung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und der erneu-
1
Deutscher Bundestag: Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch/psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung, in: Deutscher Bundestag, 1975, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200, S. 205.
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ten Legalisierung von Sterilisationen ohne Einwilligung der Betroffenen.2 Festgeschrieben wurde die neurobiologische Grundausrichtung der Psychiatrie: »Die Sachverständigen-Kommission vertritt daher nachhaltig die Auffassung, dass die psychiatrische Krankenhausversorgung grundsätzlich ein Teil der Gesamtmedizin ist. Hierbei sind die besonderen Beziehungen der Psychiatrie zur Neurologie in Rechnung zu stellen. Demgemäß muss das System der psychiatrischen Versorgung in das bestehende System der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge integriert werden.«3
Mit der Aussage, psychisch Kranken müsse prinzipiell auf dem gleichen Wege geholfen werden, war die einseitige medizinische Herangehensweise festgeschrieben, mit der Menschen von ihren psychischen Nöten befreit werden sollten. Dass bauliche Gegebenheiten, deren Modernisierung als Erfolg der Psychiatrie-Enquete bis heute gepriesen wird, für psychiatrisierte Menschen wichtig sind, versteht sich von selbst; wer möchte schon in Bettensälen mit 50 Leidensgenossen und maroden sanitären Einrichtungen dahinvegetieren? Niels Pörksen, bekannt durch eine langjährige Vorstandsarbeit in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPN), brachte das Verständnis von Menschenwürde in der Psychiatrie-Enquete auf den Punkt: »Vieles, was in der Psychiatrie-Enquete noch als menschenunwürdige Zustände bezeichnet wurde, änderte sich nach und nach. Bauprogramme und Renovierungsprogramme sorgten dafür, dass betonierte Krankenabteilungen im Krankenhausstil auf dem noch freien Parkgelände gebaut wurden und alte Bausubstanz erneuert wurde.«4
Zu der Zeit, als die Psychiatrie-Enquete erstellt wurde, war auch die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK) aktiv, die sich – gefördert durch den Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll – um Ausreißer aus Erziehungsheimen, um Obdachlose und Psychiatriebetroffene kümmerte. 5 In einer Rede vor dem Gesundheitsausschuss des Landschaftsverbands Rheinland in Köln rief Lothar Gothe, einer der
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Ebd., S. 33f.
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Niels Pörksen: § 100 – der Hemmschuh. Ohne Änderung läuft nichts in der Gemeindepsychiatrie, in: DGSP-Rundbrief, 1983, H. 21/22, S. 14.
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Lothar Gothe/Rainer Kippe: Ausschuss – Protokolle und Berichte aus der Arbeit mit entflohenen Fürsorgezöglingen, Köln 1970.
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Gründer des SSK, 2011 die psychiatrischen Menschenrechtsverletzungen in Erinnerung. Er rekapitulierte: »Unser Hauptvorwurf war und ist, dass die universellen Menschenrechte der Insassen auch mehr als 30 Jahre nach dem 2. Weltkrieg ständig, massiv und systematisch verletzt wurden. [...] Der Skandal ist, dass Menschen wie Vieh gehalten werden können, mit Dämpfungsmitteln vollgestopft. Wer bei diesem Drogenmissbrauch stirbt, wird sang- und klanglos unter die Erde gebracht.«6
PSYCHIATRISCHE MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN HEUTE UND MORGEN Menschenrechtsverletzungen werden gern als Missstände vergangener Zeiten abgetan. Doch damit sind sie nicht aus der Welt geschafft. Wie die folgenden Kapitel zeigen, werden die Rechte von psychiatrisch behandelten Menschen akut und systematisch verletzt. Fortwährende Behandlung ohne informierte Zustimmung Untersuchungen jüngeren Datums, die unter Mitarbeit unabhängiger Betroffener erstellt wurden, wie zum Beispiel die europäische Studie »Diskriminierung von Psychiatriebetroffenen im Gesundheitswesen«, kamen zum Ergebnis, dass psychiatrisch behandelten Menschen Menschenrechte strukturell vorenthalten werden. In dieser multinationalen Studie im Rahmen des »Aktionsprogramms der Gemeinschaft zur Bekämpfung von Diskriminierung 2001-2006« der Europäischen Kommission, Abteilung Beschäftigung und Soziales, fragten Verbände von psychiatrisch Tätigen, von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und von Angehörigen aus England, Wales, Österreich, Deutschland, Spanien und den Niederlanden gemeinsam mit einem belgischen Forschungsinstitut nach Erfahrungen im Gesundheitssystem. Ergebnis war: Menschen mit psychiatrischen Diagnosen werden im medizinischen Bereich und in der Psychiatrie systematisch diskriminiert. Psychiatrische Behandlung findet ohne informierte Zustimmung statt, krankhafte Psychopharmakawirkungen werden zum Symptom der diagnostizierten psychischen Krankheit umdefiniert, Beschwerdeaktionen pathologi-
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Lothar Gothe: Rede vor dem Gesundheitsausschuss des Landschaftsverband Rheinland, Köln, 10. Juni 2011, Link: http://armeirre.blogsport.de/images/LotharGothe_Ge sundheitsausschuss_LVR_1062011.pdf (10.11.2018)
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siert.7 Neue Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen, sind nicht bekannt. Aus dem Wissen über Verstöße gegen Recht und Ethik folgen jedoch kaum Konsequenzen, es sei denn, die Betroffenen werden aktiv und finden Unterstützer.8 Von Seiten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) ist keine Initiative zur Verbesserung der Rechtsstellung von psychiatrisch behandelten Menschen zu erwarten. 2012 wurde beispielsweise Hanfried Helmchen, ehemaliger DGPN-Vorsitzender, vom DGPPN-Präsidenten Frank Schneider »in Anerkennung seiner Expertise, seiner Erfahrung und seines Engagements« in den DGPPN-Beirat berufen.9 Welches Engagement Helmchen seinen Kollegen in Sachen Aufklärung vorschlug, erläuterte er 1981 am Beispiel der Warnung vor den gefürchteten tardiven Dyskinesien, einer oft bleibenden oder erst beim oder nach dem Absetzen auftretenden, nicht behandelbaren und mit einer Verkürzung der Lebenszeit einhergehenden veitstanzartigen Muskelstörung, in dem Buch Psychiatrie und Rechtsstaat. Über das Risiko einer tardiven Dyskinesie meinte Helmchen spätestens zum Zeitpunkt ihrer beginnenden Sichtbarwerdung informieren zu müssen, oder aber drei Monate oder ein Jahr nach Beginn der Behandlung, denn: »Vermutlich wäre die Ablehnungsrate sehr hoch, wenn alle akut schizophrenen Pa-
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Aktionsprogramm gegen »Diskriminierung und Schikane von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im Gesundheitsbereich«: »Hier wird nicht schikaniert«, Poster, Brüssel 2005.
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Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit Rheinland-Pfalz e.V. (Hg.): Aufklärungsbögen Antipsychotika, erstellt in Zusammenarbeit mit der Rhein-MoselFachklinik Andernach, der Rheinhessen-Fachklinik, dem Pfalzklinikum Klingenmünster, Volkmar Aderhold und Peter Lehmann, Trier 2017; dies.: Aufklärungsbögen Antidepressiva, erstellt in Zusammenarbeit mit der Rhein-Mosel-Fachklinik Andernach, der Rheinhessen-Fachklinik, dem Pfalzklinikum Klingenmünster, dem Krankenhaus zum Guten Hirten Ludwigshafen, Markus Kaufmann, Peter Lehmann und Anne Pesch, Trier 2018.
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Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: Beirat nimmt seine Arbeit auf – Erfahrung und Engagement der ehemaligen DGPPN-Präsidenten für die Fachgesellschaft erhalten, Internetveröffentlichung vom 26. Mai 2012, Link: http://www.dgppn.de/ehrungen-preise/aktuelles-ehrungenund-preise/detailansicht/article/beirat-nimmt.html (2.11.2013).
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tienten über dieses Nebenwirkungsrisiko vor Beginn einer notwendigen neuroleptischen Behandlung informiert würden.«10 Aus dem Verständnis der Unheilbarkeit der sogenannten Schizophrenie und den Übereinkommen über die Notwendigkeit der Dauerverabreichung von Neuroleptika ergibt sich, dass in aller Regel auch nach Abklingen akuter Verrücktheitszustände nicht aufgeklärt wird. Psychiatrische Behandlung und Frühsterblichkeit Menschen mit psychiatrischen Diagnosen und entsprechender Behandlung haben eine um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte reduzierte Lebenserwartung. 11 Die Sterblichkeit von Psychiatriepatientinnen und -patienten steigt seit drei Jahrzehnten in alarmierender Weise kontinuierlich linear an.12 Die Firma Janssen Pharmaceuticals, Hersteller unter anderem von Haloperidol (Haldol ®), Paliperidon (Invega®) und Risperidon (Risperdal®), schrieb 2012:
10 Hanfried Helmchen: Aufklärung und Einwilligung bei psychisch Kranken, in: Manfred Bergener (Hg.), Psychiatrie und Rechtsstaat, Neuwied und Darmstadt 1981, S. 79-96, hier S. 83. 11 Urban Ösby/Nestor Correia/Lena Brandt et al.: Mortality and causes of death in schizophrenia in Stockholm county, Sweden, in: Schizophrenia Research 45 (2000) H. 12, S. 21-28; Craig W. U. Colton/Ronald W. Manderscheid: Congruencies in increased mortality rates, years of potential life lost, and causes of death among public mental health clients in eight states, in: Preventing Chronic Disease 3 (2006) H. 2, S. 1-14; Volkmar Aderhold: Antwort auf die Stellungnahme der Arbeitsgruppe »Biologische Psychiatrie« der Bundesdirektorenkonferenz (BDK), in: Soziale Psychiatrie 32 (2008) H. 4, S. 28-32; Volkmar Aderhold: Neuroleptika zwischen Nutzen und Schaden. Minimale Anwendung von Neuroleptika – ein Update, unveröffentlichtes Manuskript vom September 2010, Link: http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/ Texte_Anmeldecoupons/Aderhold_Antipsychotika_Update.pdf (12.12.2018); Volkmar Aderhold: Neuroleptika zwischen Nutzen und Schaden. Ein Update zur Neuroleptika-Debatte, in: Die Kerbe – Forum für Sozialpsychiatrie 31 (2013) H. 2, S. 25-27; Stefan Weinmann/John Read/Volkmar Aderhold: Influence of antipsychotics on mortality in schizophrenia: Systematic review, in: Schizophrenia Research 113 (2009) H. 1, S. 1-11. 12 Sukanta Saha/David Chant/John McGrath: A systematic review of mortality in schizophrenia: Is the differential mortality gap worsening over time?, in: Archives of General Psychiatry 64 (2007), S. 1123-1131.
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»Forschung hat gezeigt, dass die Lebenserwartung von Menschen mit schweren psychischen Leiden um durchschnittlich 25 Jahre geringer ist als die der Durchschnittsbevölkerung. Herz- und Atemwegserkrankungen, Diabetes und Infektionen [...] sind die häufigsten Todesursachen in dieser Bevölkerungsgruppe.«13
Für manche ist die toxische Wirkung der Psychopharmaka Ursache für diese Katastrophe (die in der Diskussion der Mainstreampsychiatrie allerdings keinerlei Rolle spielt), für manche sind es die prekären Lebensverhältnisse, unter denen die meist arbeitslos gewordenen psychiatrisch behandelten Menschen ihr Leben fristen müssen. Joe Parks, Vorsitzender des Medical Directors Council der US-amerikanischen National Association of State Mental Health Program Directors, wies schon Jahre vor der Firma Janssen Pharmaceuticals auf die große Zahl früh sterbender Patientinnen und Patienten »mit schwerer psychischer Erkrankung« hin. Als solche gelten Menschen mit Diagnosen wie »Schizophrenie«, »bipolare Störung«, »schwere Depression« und »Persönlichkeitsstörung«. Parks warnte: »Es ist seit Jahren bekannt, dass Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung früher sterben als die Durchschnittsbevölkerung. Allerdings zeigen jüngste Ergebnisse, dass sich die Rate für Anfälligkeiten (Krankheit) und Sterblichkeit (Tod) in diesem Personenkreis beschleunigt hat. Tatsächlich sterben Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung nunmehr 25 Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung.«14
Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen wies er auf den Zusammenhang der Frühsterblichkeit speziell mit den sogenannten atypischen Neuroleptika und deren gefährlichen unerwünschten Wirkungen hin; dabei warnte er vor Gewichtszunahme, Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Insulinresistenz (fehlender oder stark herabgesetzter Reaktion der Zellen auf Insulin) und metabolischem
13 Janssen Pharmaceuticals, Inc.: The importance of total wellness, in: Choices in Recovery – Support and Information for Schizophrenia, Schizoaffective and Bipolar Disorder 9 (2012) H. 2, S. 12. 14 Joe Parks: Foreword, in: Joe Parks/Dale Svendsen/Patricia Singer et al. (Hg.), Morbidity and mortality in people with serious mental illness. Thirteenth in a Series of Technical Reports, Alexandria, VA, S. 4, Internetveröffentlichung vom Oktober 2006, Link:
http://www.nasmhpd.org/sites/default/files/Mortality%20and%20Morbidity%
20Final%20Report%208.18.08.pdf (10.11.2018).
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Syndrom (Kombination aus Übergewicht, Insulinresistenz, Fettstoffwechselstörung und Bluthochdruck).15 Würde man – wie die Mehrzahl der Mainstreampsychiater – den angeschlagenen Gesundheitszustand als ursächlich für ihren häufigen frühen Tod ansehen, stellte sich nicht nur die Frage, ob es noch irgendeine Rechtfertigung gibt, dieser vulnerablen Patientengruppe riskante und potenziell toxische Wirkstoffe zu verabreichen – oft gar unter Nötigung, Drohung und Gewaltanwendung. Noch deutlicher wird dieses Problem mit Blick auf überfällige straf- und zivilrechtliche Konsequenzen, insbesondere im Hinblick auf den nicht allzu lange zurückliegenden psychiatrischen Massenmord im rechtsfreien Raum, der deutschen Psychiatern während der Zeit des Hitlerfaschismus gewährt worden war. 16 Auch die DGPPN sieht die Psychiatrie in einer besonderen Pflicht, wie sie in ihrer ethischen Stellungnahme 2014 betonte.17 Psychiatrische Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika, vermögen eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen und seelischer Leiden hervorzurufen. Zu nennen sind Gewichtszunahme und Fettleibigkeit, chronischer Diabetes, erhöhter Cholesterinspiegel, Herzrhythmusstörungen, Herzmuskelentzündungen, metabolisches Syndrom, Schlaganfall, Herzinfarkt, irreversible Muskel- und Bewegungsstörungen, erhöhter Prolaktinspiegel, Tumore in den Brustdrüsen, Leberschäden, Verletzungen des Sehnervs, Grauer Star, Karies, Defizitsyndrom, Verminderung der Grauen Substanz der Hirnrinde und der Intelligenzwerte, Suizidalität, Delire, Chronifizierung von Psychosen und Depressionen. Viele Frühwarnzeichen sich entwickelnder chronischer oder zum Tode führender psychophar-
15 Joe Parks/Dale Svendsen/Patricia Singer et al (Hg.): Morbidity and mortality in people with serious mental illness. Thirteenth in a Series of Technical Reports, Alexandria, VA, S. 6, Internetveröffentlichung vom Oktober 2006, Link: http://www.nasm hpd.org/sites/default/files/Mortality%20and%20Morbidity%20Final%20Report%208. 18.08.pdf (10.11.2018) 16 Erwin Pape: Es war psychiatrischer Massenmord, in: Klaus Dörner/Christiane Haerlin/Veronika Rau et al. (Hg.), Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Bonn 1980, S. 45-46. 17 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde: Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen – Eine ethische Stellungnahme der DGPPN, Internetveröffentlichung vom 23. September 2014, Link: https://www. dgppn.de/presse/stellungnahmen/stellungnahmen-2014/ethik.html (10.11.2018).
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makabedingter Erkrankungen sind bekannt.18 Der dänische Internist Peter Gøtzsche schätzt, »dass 200.000 der 20 Millionen mit Zyprexa [Wirkstoff Olanzapin – P.L.] behandelten Patienten an den unerwünschten Wirkungen des Medikaments gestorben sind. Besonders traurig daran ist, dass viele dieser Patienten nie mit Zyprexa hätten behandelt werden müssen. Da Zyprexa nicht das einzige [potenziell toxische – P.L.] Medikament ist, muss die Zahl der Opfer noch höher sein.«19 Angesichts des Ausmaßes der Risiken wäre es für psychiatrisch behandelte Menschen von existenzieller Wichtigkeit, die Frühwarnzeichen dieser iatrogenen Erkrankungen und die notwendigen Kontrolluntersuchungen zu kennen. Kennen sollten sie zudem – wie auch ihre Angehörigen und Psychiater – das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24. Februar 2015: Eine Mutter hatte auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens geklagt, nachdem ihr Sohn aufgrund unterbliebener Kontrolluntersuchung der Herztätigkeit von Seiten des Psychiaters und trotz bekannter Herzstörungen unter einer hohen Dosis des Neuroleptikums Amisulprid (im Handel auch als Solian®) an Herzversagen gestorben war; der Bundesgerichtshof urteilte, dass das Absehen von einer aus medizinischer Sicht gebotenen Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt.20 Amisulprid gehört wie Olanzapin oder Risperdal® (Wirkstoff Risperidon) zur Gruppe der modernen sogenannten atypischen Neuroleptika, die als besser verträglich beworben werden. Gerhard Ebner, Mitglied des Advisory Board bei Janssen-Cilag zur Einführung des Risperdal Consta und gleichzeitig Präsident der Schweizerischen Vereinigung Psychiatrischer Chefärzte, warnte allerdings schon 2003: »Es handelt sich nicht um weniger Nebenwirkungen, sondern um andere, die aber ebenfalls sehr einschneidend sein können, auch wenn sie von den Patienten nicht unmittelbar wahrgenommen werden, weswegen die Patienten leichter zur Einnahme dieser Antipsychotika motiviert werden können, da die quälenden Frühdyskinesien/extrapyramidalen
18 Peter Lehmann: Frühe Warnzeichen für chronische oder tödlich verlaufende neuroleptikabedingte Erkrankungen, in: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener, 2014, H. 1, S. 16-19. 19 Peter C. Gøtzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität – Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, 2. Auflage, München 2015, S. 351. 20 BGH v. 24.2.2014; Az. VI ZR 106/13, in: Recht und Psychiatrie 33 (2015), S. 157159.
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Nebenwirkungen [Störungen des physiologischen Bewegungsablaufs einer Körperregion, eines Körperteils oder eines Organs] nicht oder nicht so stark auftreten.«21
Die Bedeutung der Frühwarnzeichen Psychiater kennen die Frühwarnzeichen. 2002 traf sich ein Team um Stephen Marder vom neuropsychiatrischen Institut und Hospital der University of California in Los Angeles, um die vorhandene Literatur zu Gesundheitsproblemen von Menschen mit Schizophrenie-Diagnosen auszuwerten und einen Konsens zu entwickeln, wie deren Gesundheitszustand zu überwachen ist, wenn man ihnen fortwährend Neuroleptika verabreicht. Sie schrieben zwei Jahre später: »Menschen mit Schizophrenie haben eine um 20% kürzere Lebenserwartung als die Allgemeinbevölkerung und eine größere Anfälligkeit für mehrere Krankheiten einschließlich Diabetes, Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Bluthochdruck und Emphysema [übermäßiges oder ungewöhnliches Vorkommen von Luft in Körpergeweben und -organen]. Eine Reihe von Erklärungen für diese Anfälligkeiten weisen auf die Lebensgewohnheiten von Menschen mit schweren psychischen Krankheiten, die oft mit schlechter Ernährung, Fettleibigkeit, viel Rauchen und dem Konsum von Alkohol und Drogen verbunden ist. Wie in diesem Artikel später beschrieben, sind antipsychotische Medikamente in Verbindung gebracht worden mit Gewichtszunahme, dem Entstehen von Diabetes, steigenden Plasmalipidspiegeln [Blutfettspiegeln] und unregelmäßigen Elektrokardiogrammbefunden. Zusätzlich zu ihrem bei Schizophrenie üblichen Potenzial, körperliche Probleme zu verschlimmern, sind Antipsychotika in Verbindung gebracht worden mit anderen Nebenwirkungen, die die Gesundheit angreifen, einschließlich Prolaktinerhöhung, der Ausbildung eines Katarakts [Grauer Star, Trübung der Augenlinse], Bewegungs- und Sexualstörungen. Wegen der gestiegenen Gesundheitsrisiken, die mit Schizophrenie und der zu ihrer Behandlung verwendeten Medikamente verbunden sind, ist die Überwachung der körperlichen Gesundheit als Mittel der Gesundheitsförderung bei dieser Patientengruppe besonders wichtig. [...] Wenn Hyperprolaktinämie (erhöhte Prolaktin-Konzentration im Blut) während der Behandlung auftritt und mit Menstruations- und Sexualstörungen verbunden ist, sollte man den Wechsel der Medikamente des Patienten zu prolaktinschonenden Wirkstoffen mit geringer Wirkung auf den Prolaktinspiegel in Betracht ziehen, um eine kostenträchtige Abklärung zur Bestimmung der Ursache des erhöhten Prolaktinspiegels zu vermeiden. Psychiater sollten sich bewusst sein, dass selbst eine minimale bis moderate Hyperprolak-
21 Gerhard Ebner: Aktuelles aus der Psychopharmakologie. Das Wichtigste vom ECNPKongress, in: Psychiatrie (Schweiz), Online-Ausgabe, 2003, H. 1, S. 29-32.
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tinämie der Vorbote eines ernsthaften zugrundeliegenden Problems wie zum Beispiel ein Hypophysentumor [Tumor in der Hirnanhangdrüse] sein kann.«22
Bei Psychiatern mit ihrem Medizinstudium kann man davon ausgehen, dass sie Symptome kennen, die einen sich entwickelnden Krankheitsverlauf anzeigen. Ignorieren sie sich entwickelnde Krankheiten, die infolge der Verabreichung von Psychopharmaka auftreten, und ändern sie nichts an ihrer Behandlung, sind sie – eigentlich – wegen Verstoßes gegen § 223 Absatz 1 StGB (Körperverletzung) zu belangen. Der Paragraph sagt: »Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.« Allgemein herrscht unter Juristen Einigkeit, dass für die Strafbarkeit einer Tat Eventualvorsatz ausreicht und das Ausmaß der Verantwortlichkeit gleich zu bewerten ist, egal ob der Schadensverursacher rücksichtslos oder vorsätzlich handelt. Eventualvorsatz liegt nach herrschender Rechtsauffassung vor, wenn der Täter den Taterfolg – in diesem Fall wäre es Körperverletzung durch Psychopharmakaverabreichung mit möglicher Körperschädigung oder gar Todesfolge – als Konsequenz seines Handelns ernsthaft für möglich hält und den Schaden zugleich billigend in Kauf nimmt und sich damit abfindet. Auch für die zivilrechtliche Verantwortlichkeit genügt der bedingte Vorsatz. 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.23 Per Definition gehören psychiatrisch behandelte Menschen zum Personenkreis der Behinderten. Die allgemeinen Menschenrechte gelten für alle Menschen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen überall strukturell missachtet werden. So wurde die UN-Behindertenrechtskonvention als zusätzliche Maßnahme verabschiedet, um für Menschen mit Behinderungen die überfällige Gleichheit vor dem Gesetz herzustellen. Menschen mit Behinderungen sollen dieselben Rechte zugestanden werden, wie sie auch Menschen ohne Behinderungen gewährt werden. Gleichzeitig ver-
22 Stephen R. Marder/John W. Hubbard/Theodore van Putten et al.: Physical health monitoring of patients with schizophrenia, in: American Journal of Psychiatry 161 (2004), S. 1334-1349. 23 Gesetz zum Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: Bundesgesetzblatt, 31. Dezember 2008, Teil II, H. 35, S. 1419-1457.
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pflichteten sich die Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, proaktiv Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichheit von psychiatrisch behandelten Menschen vor dem Gesetz herzustellen. Eine Enquete, die in deutschen psychiatrischen Einrichtungen strukturell verübte Menschenrechtsverletzungen erfasst, steht allerdings noch aus. Sie wäre dringend notwendig. 2011 erkannte das Bundesverfassungsgericht nach einer Verfassungsbeschwerde eines in BadenWürttemberg im Maßregelvollzug Untergebrachten mit dem Beschluss zum Verfahren 2 BvR 633/11, dass (auch) in diesem Bundesland jahrzehntelang die Menschenrechte auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit ohne Rechtsgrundlage verletzt wurden. Im Folgejahr rügte der Bundesgerichtshof mit seinem Beschluss zum Verfahren XII ZB 99/12 die fehlende Rechtsgrundlage für eine Einwilligung des rechtlichen Betreuers in eine Zwangsbehandlung. Beide Urteile zeigen, dass Psychiater und mit ihnen Regierungs- und Verwaltungsabteilungen sowie psychiatrische Einrichtungen und Organisationen Verstöße gegen Menschenrechte psychiatrisch behandelter Menschen als Selbstverständlichkeit hingenommen und noch nicht einmal als Menschenrechtsverstöße wahrgenommen haben. Keine Hilfe beim Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka Psychiater verabreichen Psychopharmaka, helfen Betroffenen jedoch in der Regel nicht mit Rat und Tat, wenn diese sich entscheiden, die Einnahme der Psychopharmaka zu beenden, beispielsweise, weil sie die mit der Einnahme verbundenen Gesundheitsrisiken nicht länger tragen oder ein Kind ohne das Risiko von Fehlbildungen in die Welt setzen wollen. Pirkko Lahti, Präsidentin der World Federation for Mental Health von 2001 bis 2003, schrieb im Vorwort von Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern: »Lassen wir unsere PatientInnen nicht allein mit ihren Sorgen und Problemen, wenn sie sich – aus welchem Grund auch immer – selbst entscheiden, ihre Psychopharmaka absetzen zu wollen? Wo können sie Unterstützung, Verständnis und positive Vorbilder finden, wenn sie sich enttäuscht von uns abwenden (und wir uns von ihnen)?«24
24 Pirkko Lahti: Vorwort, in: Peter Lehmann (Hg.), Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern, 4. aktualisierte Auflage, Berlin, Eugene und Shrewsbury 2013, S. 1012, hier S. 11.
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2015 meinte der Psychiater Asmus Finzen, 1970 Gründungsmitglied der DGSP und von 1971 bis 1975 Mitverfasser der Psychiatrie-Enquete, Ärzte würden nur lernen, wie man Psychopharmaka verordnet, nicht aber, wie man sie wieder absetzt. Das Verstoßen absetzwilliger Patientinnen und Patienten könne jedoch ein Kunstfehler sein: »Wenn ein Patient Medikamente, die er langzeitig eingenommen hat, absetzen oder reduzieren will, hat der behandelnde Arzt ihm gefälligst zu helfen – auch wenn er anderer Meinung ist.«25 Schon ab Mitte der 1950er-Jahre wiesen Mediziner auf die Toleranzbildung beim Neuroleptika-Prototyp Chlorpromazin hin. Diese sei nicht zu vermeiden und trete vorwiegend bei niederpotenten Neuroleptika auf, auch bei relativ niedriger Dosierung. Die neueren Neuroleptika und Antidepressiva26 scheinen mit ihren speziellen Rezeptorenveränderungen das Risiko der körperlichen Abhängigkeit gar noch zu vergrößern. Entzugsprobleme bei Neuroleptika und Antidepressiva würden sich in nichts von Entzugsproblemen bei Alkaloiden (Morphium gehört zu dieser Substanzgruppe) und Schlafmitteln unterscheiden, warnte Mitte der 1960er-Jahre Rudolf Degkwitz, späterer DGPN-Präsident. Bei einem unbekannten Teil der chronisch Behandelten sei das Absetzen wegen der unerträglichen Entzugserscheinungen schwierig, wenn nicht unmöglich.27 Doch ohne über Abhängigkeitsrisiken aufzuklären, verordnen Medizinerinnen und Mediziner unentwegt diese Substanzen – ein auch zivil- und strafrechtlich relevanter Tatbestand. In Einklang mit den Interessen der Pharmaindustrie und unterstützt von psychoedukativen Mitstreiterinnen und Mitstreitern leugnen sie – mit Ausnahme der Aufklärungsbroschüren Antidepressiva und Neuroleptika 28 – jegliches Abhängigkeitsrisiko bei Antidepressiva und Neuroleptika und bagatellisieren deren Risiken.
25 Asmus Finzen: Wie man Medikamente absetzt, lernen Ärzte nicht. In: Asmus Finzen/Peter Lehmann/Margret Osterfeld et al.: Psychopharmaka absetzen: Warum, wann und wie, in: Soziale Psychiatrie 39 (2015) H. 2, S. 16-19, hier S. 16. 26 Peter Lehmann: Risiken und Schäden neuer Antidepressiva und atypischer Neuroleptika, in: Peter Lehmann/Volkmar Aderhold/Marc Rufer et al., Neue Antidepressiva, atypische Neuroleptika – Risiken, Placebo-Effekte, Niedrigdosierung und Alternativen. Mit einem Exkurs zur Wiederkehr des Elektroschocks, Berlin und Shrewsbury 2017, S. 19-174. 27 Vgl. Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie, Band 2: Wie Psychopharmaka den Körper verändern, Berlin 1996, S. 353-456 und S. 353-456. 28 Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit Rheinland-Pfalz e.V., Aufklärungsbogen Antidepressiva, Trier 2017; Aufklärungsbogen Antipsychotika, Trier 2018.
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Psychiatrisch behandelte Menschen, die sich entscheiden, ihre Psychopharmaka-Einnahme zu beenden, erhalten weder Informationen über mögliche Entzugssymptome noch über Möglichkeiten, Psychopharmaka risikoarm abzusetzen. Sie ernten für ihre Probleme kein Verständnis, in der Regel auch nicht bei Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Da es noch keine Diagnose der Abhängigkeit von Neuroleptika oder Abhängigkeit von Antidepressiva – vergleichbar der Abhängigkeit von Benzodiazepinen – gibt, können Medizinerinnen und Mediziner unterstützende Tätigkeiten beim Absetzen kaum abrechnen, und es gibt auch keine Finanzierung von Rehabilitationsmaßnahmen. Die Zahl psychiatrisch behandelter Menschen, die aufgrund fehlender Hilfen beim Absetzen von Psychopharmaka zu Schaden oder gar zu Tode kommen, dürfte beträchtlich sein. An dieser Situation wird sich vermutlich erst dann etwas ändern, wenn – ähnlich wie in den 1980er-Jahren bei Benzodiazepinen29 – Hersteller und Anwender von Neuroleptika und Antidepressiva zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt werden, weil sie nicht vor der Gefahr körperlicher Abhängigkeit von diesen Substanzen gewarnt haben. Sollte diese Situation eintreten, ist allerdings rechtzeitig sicherzustellen, dass die Einschränkung von Antidepressiva und Neuroleptika nicht zu einer verstärkten Verabreichung von Elektroschocks führt. Logarithmen und Elektroschocks Zum Leidwesen vieler Psychiater setzt eine große Zahl psychiatrischer Patientinnen und Patienten aus eigenem Entschluss die verordneten Antidepressiva und Neuroleptika ab. Eine Reaktion von Psychiatern stellen Absetzstudien dar, deren Ziel die Entwicklung von Logarithmen ist, mit denen man erkennen will, bei wem die Psychopharmaka abgesetzt werden können und wem sie besser weiterhin verabreicht werden sollen. Bei solchen Studien werden die Teilnehmer nicht über Entzugsprobleme informiert, auch nicht darüber, wie diese minimiert werden können, so dass das Ergebnis tendenziell vorbestimmt ist: Der Absetzversuch schlägt wegen heftiger Entzugssymptome fehl oder wird als Fehlschlag interpretiert, woraufhin weiterhin oder gar noch vermehrt Psychopharmaka oder augmentativ, das heißt wirkungsverstärkend, Elektroschocks verabreicht wer-
29 »Aufrechterhaltung der Tablettensucht durch ärztliche Tablettenverschreibung – StGB § 223«, in: Neue Juristische Wochenschrift 41 (1988), S. 2965; »Herbeiführung einer weiteren Sucht durch einen Arzt anlässlich Substitutionsbehandlung – StGB §§ 15, 223, 229«, in: Neue Juristische Wochenschrift 2003, S. 371-373.
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den.30 Die Verabreichung von Elektroschocks kann allerdings auch die logische Konsequenz von Toleranzbildung, Wirkungsverlust und sogenannter Behandlungsresistenz bei Antidepressiva31 und Neuroleptika32 darstellen. Seit Mitte der 1980er-Jahre führt das Ausbleiben der erwünschten Reaktion auf Antidepressiva und Neuroleptika zu einer langsamen, aber kontinuierlichen Wiederbelebung des Elektroschocks. Als Anlässe zur Rechtfertigung gelten unbefriedigende Wirkungen von Antidepressiva, Neuroleptika und Phasenprophylaktika, Versagen einer Behandlung mit atypischen Neuroleptika, insbesondere das »Nichtansprechen« auf Leponex oder gar dessen Ablehnung sowie Kontraindikationen zu Neuroleptika. Bei Elektroschocks geht es nicht darum, dass man den Betroffenen mit Stromstößen Schocks zufügt, sondern in deren Gehirnen mit elektrischen Stromstößen Krämpfe bewirkt, die sich in epileptischen Anfällen äußern. Die Methode und ihre Bezeichnung als Elektroschock wurde 1938 von Psychiatern im faschistischen Italien unter Mussolini eingeführt. Hintergrund ist der Glaube, Epilepsie und die sogenannte Schizophrenie würden sich ausschließen. Psychiater schätzen am Elektroschock die hohe Responserate, das heißt seine Wirkung auf Knopfdruck. Der epileptische Anfall tritt sofort ein, die psychischen Probleme treten erst mal in den Hintergrund. Psychiaterverbände in Deutschland, Südtirol (Italien), Österreich und der Schweiz riefen 2012 dazu auf, flächendeckend Elektroschock-Apparate anzuschaffen und konsequent, vorbeugend und kontinuierlich Elektroschocks zu verabreichen. Zeitgleich wurde vom Bundesministerium für Gesundheit ein Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen initiiert, mit dem Krankenhäuser mit Elektroschocks und deren krankenhausindividueller Abrechnung als Zusatzleistung lukrative Mehreinnahmen erwirtschaften können. Ab Januar 2018 erhält eine psychiatrische Klinik in Deutschland für jeden Tag eines stationären Aufenthalts 300 €, für den ersten Elektroschock kommen 297 € hinzu und für jeden weiteren 220 €. Sollte eine durchgehende 1:1-Betreuung nötig werden, können noch einmal 1000 € pro Tag in Rechnung gestellt werden. Hun-
30 Lehmann, Peter: (Einige) Offene Fragen Psychiatriebetroffener zum Absetzen von Psychopharmaka, in: Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und PsychiatrieBetroffener e.V. (Hg.), PSYCHEXIT – Auf dem Weg zum Curriculum »Kompetente Hilfe beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika«. Dokumentation, Berlin 2016, S. 15-24. 31 Vgl. Lehmann (2017), S. 94-98. 32 Vgl. ebd., S. 99-102.
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derte von Kliniken haben die gewinnbringenden Apparate angeschafft und sind dabei, sie zu amortisieren. Die Freunde des Elektroschocks begründen ihre Maßnahme mit nur geringen Nebenwirkungen und überlegener Ansprechrate. Weitere Argumente sind (1) das Ausbleiben von Muskel- und Knochenschäden durch den Einsatz muskelerschlaffender Substanzen, (2) die Verabreichung des Schocks unter Narkose, (3) angeblich tolerierbare zeitlich nur begrenzte Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit (»sofern diese überhaupt auftreten«), (4) fehlende neuere Berichte über elektroschockbedingte Hirnblutungen sowie (5) die angebliche Anregung zur Neubildung von Nervenzellen. Einzelne lediglich subjektiv belastende autobiographische Gedächtnisstörungen seien zwar zu beachten, bezüglich Häufigkeit und Ursächlichkeit jedoch unklar. Und viele Patienten würden zwangsweise verabreichte Elektroschocks im Nachhinein befürworten.33 Dass selbst die American Psychiatric Association informierte, Elektroschocks können zu chronischen Gedächtnisstörungen führen, stört die Freunde des Elektroschocks hierzulande nicht. Möglicherweise bedingt durch ein patientenfreundlicheres Recht auf Schadenersatz bei Behandlungsschäden, musste der US-amerikanische Psychiaterverein Anfang des 21. Jahrhunderts einräumen: »Einige Patienten erholen sich von retrograder Amnesie [Verlust des Gedächtnisses hinsichtlich zurückliegender Ereignisse] nicht vollständig, und die Befunde haben gezeigt, dass EKT [Elektrokrampftherapie] zu langanhaltendem oder dauerhaftem Gedächtnisverlust führen kann.«34 Die bekanntesten Behandlungsschäden sind Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit und Gedächtnisstörungen. Manche Patienten vergessen nach Elektroschocks, dass sie Kinder haben, oder sie wissen nicht mehr, wie sie heißen, wie alt sie sind. Der US-amerikanische Neurologe Sydney Sament äußerte 1983, er habe viele Patienten nach der Verabreichung von Elektroschocks gesehen und keine Zweifel, dass die Auswirkungen des Elektroschocks mit denen einer Kopfverletzung identisch seien. Nach einer Elektroschockserie leide der Patient unter Symptomen, die denen eines ehemaligen Boxers nach mehreren Kopftreffern gleichen. In allen Fällen sei das sogenannte Ansprechen auf die Elektroschocks auf eine Art Gehirnerschütterung oder Gravierenderes zurückzuführen. Der Patient vergesse seine Symptome, weil der Hirnschaden Gedächtnis-
33 Vgl. Peter Lehmann: Die schleichende Wiederkehr des Elektroschocks, in: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V., 2018, H. 4, S. 24-27. 34 American Psychiatric Association: The practice of electroconvulsive therapy: Recommendations for treatment, training, and privileging, 2. Auflage, Washington 2001, S. 71.
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spuren im Gehirn zerstöre, und müsse mit einer herabgesetzten geistigen Leistungsfähigkeit dafür bezahlen.35 Über lange anhaltende sowie chronische Gedächtnisschäden berichten Psychiater intern schon seit Jahrzehnten. Gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit werden solche Schäden totgeschwiegen, bagatellisiert, mit Anekdoten erfolgreicher Elektroschocks relativiert oder mit Berichten einzelner dankbarer Elektroschockpatienten weggeredet. Manche Psychiater nennen Häufigkeitsraten von Gedächtnisschäden von über 50%.36 Harold Robertson und Robin Pryor, zwei US-amerikanische Wissenschaftler, durchforschten die medizinische Literatur zu Elektroschocks. 2006 schrieben sie in den Advances in Psychiatric Treatment, dauerhafter Gedächtnisverlust sei eine verbreitete, ernste und häufig vorkommende Auswirkung. Für viele Menschen würden diese Auswirkungen jeglichen möglichen kurzfristigen Nutzen auf Dauer zunichte machen.37 Weitere Behandlungsschäden sind Unruhezustände und delirante Zustände. Verwirrtheitszustände können über Stunden anhalten, die Patienten schlagen um sich, sie können sich verletzen oder aufstehen und stürzen. Hinzu kommen Kopfschmerzen, Sprachversagen und beeinträchtigte zentralnervöse Sinnesverarbeitung. Auch anhaltende epileptische Anfälle von mehreren Minuten (Status epilepticus) können auftreten, ebenso spontane Anfälle einhergehend mit Flüssigkeitsansammlung in der Lunge und Atemstillstand. Dass nach Elektroschocks auf Dauer ein bis zwei epileptische Anfälle pro Woche auftreten können, ist Ärzten schon lange bekannt. Bekannt aus medizinischen Veröffentlichungen sind auch die fünffach erhöhte Suizidrate in der auf Elektroschocks folgenden Woche sowie ernsthaftere Suizidversuche nach Elektroschocks im Vergleich zu Antidepressiva.38 Lucy Johnstone von der University Bristol in England befragte Betroffene für eine Studie und kam 1999 zum Schluss, dass die Verabreichung von Elektroschocks für einen Teil der Patienten eine tiefgreifende und dauerhaft traumatische Erfahrung bedeutet. In den Interviews sei eine Vielzahl von Themen aufgekommen, darunter Gefühle von Angst, Scham und Demütigung, Wert- und Hilf-
35 Sidney Sament: In favor of wider ECT ban, in: Clinical Psychiatry News 11 (1983) H. 3, S. 11. 36 Larry R. Squire/Pamela C. Slater: Electroconvulsive therapy and complaints of memory dysfunction: A prospective three-year follow-up study, in: British Journal of Psychiatry 142 (1983), S. 1-8. 37 Harold Robertson/Robin Pryor: Memory and cognitive effects of ECT, in: Advances in Psychiatric Treatment 12 (2006), S. 228-238. 38 Vgl. Lehmann (2017), S. 141-151.
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losigkeit sowie das Gefühl, misshandelt und vergewaltigt worden zu sein. Einige hätten darauf hingewiesen, dass Elektroschocks qualitativ anders einzuschätzen seien als Psychopharmaka, nämlich als brutaler Angriff auf die Person an sich. 39 In ihren internen Publikationen nennen Psychiater als weitere Schäden Komplikationen der Lungenfunktion wie Asthmaanfälle sowie Krämpfe der glatten Bronchialmuskulatur und des Kehlkopfes, Schwindelzustände, Übelkeit, Einkoten, Einnässen, Risse in der Blasenwand, Verletzungen an der Zunge, den Lippen, den Zähnen und der Mundschleimhaut sowie – in einer Rate von 7,1% – fötale Sterblichkeit beim Schocken von Schwangeren. In Deutschland verabreicht man Elektroschocks bevorzugt Frauen sowie Patienten über 50 Jahren. Weltweit sind es typischerweise ebenfalls mehr weibliche Patienten, die mit dem Elektroschock traktiert werden.40 Kritiker von Elektroschocks, egal ob Psychiater oder Betroffene, die auf Behandlungsschäden und wahrheitswidrige Informationen über Risiken aufmerksam machen, werden von den Freunden des Elektroschocks als »unsachlich«, »unwissenschaftlich«, »unseriös«, »kontraproduktiv«, »gefährlich« und »der Sache der Betroffenen abträglich« beschimpft.41 Am unangenehmsten ist den Freunden des Elektroschocks, wenn die Ursprünge dieser damals noch ohne Anästhesie und muskelerschlaffende Mittel vollzogenen Maßnahme geschildert werden. Der erste Elektroschock Der erste Elektroschock an einem Menschen wurde 1938 von dem italienischen Psychiater Ugo Cerletti und seinem Kollegen Lucio Bini verabreicht. Cerletti war nicht nur ein Schüler des Psychiaters Emil Kraepelin, eines kriegsbegeisterten, homophoben und judenfeindlichen Psychiaters, sondern auch ein technisch interessierter Mann. Schon 1917, im Ersten Weltkrieg, tat er sich mit derselben Kriegsbegeisterung hervor, als er einen Verzögerungszünder für Artilleriegranaten erfand, der die Geschosse Minuten und sogar Stunden nach dem Abschuss hinter den gegnerischen Linien zur Explosion bringen und dort zusätzliche Menschenleben fordern sollte. Nachdem sein Zünder 1918 in die Serienproduktion gegangen und an die Front transportiert worden war, kam er wegen des Kriegsendes nicht mehr zum Einsatz, worauf sich Cerletti enttäuscht wieder der Medi-
39 Lucy Johnstone: Adverse psychological effects of ECT, in: Journal of Mental Health 8 (1999), S. 69-85. 40 Vgl. Lehmann (2017), S. 127. 41 Vgl. Lehmann (2018).
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zin zuwandte.42 20 Jahre später, mittlerweile zum Direktor der psychiatrischen Universitätsklinik La Sapienza in Rom aufgestiegen, kam erneut die Chance, sich mit einer Neuerung hervorzutun. Er hatte erfahren, dass man im örtlichen Schlachthaus Schweine durch Stromstöße tötete, was seine Zweifel bestätigte hinsichtlich der Gefahren elektrischer Behandlung von Menschen, die seinerzeit in der Diskussion war. Zu der Zeit suchten Cerletti und Bini nach einer nicht tödlichen Methode zur Auslösung von Krampfanfällen. Nach Versuchen an Hunden und Schweinen berichtete Cerletti: »Meine erste Beobachtung war, dass die Tiere selten starben, und wenn, dann nur, wenn der Strom durch den Körper und nicht durch den Kopf geleitet wurde. Diejenigen Tiere, die die stärkste Dosis empfingen, erstarrten während des Stromstoßes, blieben nach einem heftigen Krampfanfall manchmal minutenlang auf der Seite liegen und versuchten schließlich, sich aufzurichten. Nach vielen, zunehmend verstärkten Anstrengungen gelang es ihnen, aufzustehen, einige zögernde Schritte zu machen und schließlich davonzulaufen. Diese Beobachtungen lieferten mir den überzeugenden Beweis für die Harmlosigkeit eines 125-Volt-Stromstoßes durch den Kopf von einigen Zehntelsekunden Dauer, der mehr als ausreichend war, um einen vollständigen Krampfanfall auszulösen. Zu diesem Zeitpunkt schien es mir, dass wir unsere Experimente auf Menschen ausdehnen können, und ich gab meinen Assistenten Anweisung, nach einer geeigneten Versuchsperson Ausschau zu halten.«43
Ausgewählt für den ersten psychiatrischen Elektroschock wurde schließlich der 39-jährige Maschinist Enrico, der auf dem Bahnhof verhaftet worden war, weil er ohne Fahrkarte kurz vor der Abfahrt in Zügen umherlief und nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte zu sein schien.44 Der wehrlose Mann war vom römischen Polizeipräsidenten zur Beobachtung in die Psychiatrie überstellt worden, wo man ihn als schizophren diagnostizierte. Damit hatte Cerletti, ein Bewunderer des Faschistenführers Mussolini, endlich jemanden zur Verabreichung des
42 Wikipedia: Ugo Cerletti; undatierte Internet-Ressource, Link: https://de.wikipedia.org/ wiki/Ugo_Cerletti (10.11.2018). 43 Ugo Cerletti: Electroshock therapy, in: Arthur M. Sackler/Mortimer D. Sackler/Raymond R. Sackler et al. (Hg.), The great physiodynamic therapies in psychiatry: An historical reappraisal, New York 1956, S. 91-120, hier S. 93; zitiert nach: Thomas Stephen Szasz: Wem dient die Psychiatrie?, in: Franco Basaglia/Michel Foucault/Robert Castel et al., Befriedungsverbrechen, Frankfurt am Main 1980, S. 237250, hier S. 239. 44 Ebd.
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ersten Elektroschocks an der Hand. Umgeben von mehreren Kollegen verabreichte er Enrico am 11. April 1938 den ersten Schock. Aufgrund der niedrigen Spannung führte dieser jedoch keinen Krampfanfall herbei. Als die Psychiater das weitere Vorgehen diskutierten, reagierte Enrico, wie Cerletti berichtete: »Plötzlich sagte der Patient, der unserer Unterhaltung offensichtlich gefolgt war, klar und bestimmt, ohne das bisher gewohnte Kauderwelsch: ›Nicht noch einmal! Es ist tödlich!‹«45 Daraufhin ordnete Cerletti einen zweiten, stärkeren Stromschlag an. Dieser rief den erhofften Krampfanfall hervor. Das Experiment galt als erfolgreich. Zu den dramatischen Momenten seiner psychiatrischen Experimente sagte Cerletti nichts. Dies tat allerdings Lothar Kalinowsky, der spätere Mentor des USamerikanischen Elektroschocks. Geboren 1899, hatte dieser Psychiater Deutschland 1933 in Richtung Italien verlassen, wo er schließlich mit Cerletti zusammenkam, den man damals – einem weiteren Elektroschockkollegen zufolge – als »Maestro« bezeichnete.46 Kalinowsky verpasste das erste Elektroschockexperiment, war aber beim zweiten dabei. In einem späteren Interview äußerte er sich dazu: »Cerletti war besorgt gewesen, dass bei der ersten Behandlung irgend etwas schieflaufen könnte; sie fand daher heimlich statt. (...) Als die erste Behandlung gut verlief, gestattete man uns allen, der zweiten beizuwohnen. Ein Trompetenstoß kündigte uns die Behandlung an!«47 Auf die Frage nach seinem Eindruck vom Elektroschock, den er zum ersten Mal gesehen hatte, antwortete Kalinowsky: »Meiner Frau zufolge – ich selbst kann mich nicht genau erinnern – war ich sehr blass, als ich nach Hause kam, und sagte: Ich habe heute etwas Furchtbares gesehen. Ich will so etwas nie wieder sehen!«48 Kalinowsky überwand jedoch seinen anfänglichen Widerwillen gegen den Elektroschock, und in den Jahren 1939 bis 1940 half er dann bei der Einführung des Verfahrens in Frankreich, England, den Niederlanden und den USA. Cerlettis erster Eindruck vom Elektroschock war dem Kalinowskys ähnlich gewesen: »Als ich die Reaktion des Patienten sah, dachte ich: Dies sollte abgeschafft wer-
45 Cerletti (1956), S. 93; zitiert nach: Szasz, (1980), S. 239f. 46 Ferdinando Accornero: An eyewitness account of the discovery of electroshock, in: Convulsive Therapy 4 (1988) H. 1, S. 40-49, hier S. 42. 47 Zitiert nach: Richard Abrams: Interview with Lothar Kalinowsky, M.D., in: Convulsive Therapy 4 (1988) H. 1, S. 24-39, hier S. 30. 48 Ebd.
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den! Seitdem habe ich immer gehofft, dass eines Tages der Elektroschock von einer anderen Behandlungsmethode abgelöst wird.«49 Das Wirkprinzip des Elektroschocks, der epileptische Anfall, hat sich seither nicht geändert, allerdings die offizielle Bezeichnung. Freunde des Elektroschocks sprechen heutzutage von »Elektrokrampftherapie (EKT)«, »elektrischer Durchflutungstherapie«, »Elektrokonvulsionstherapie« oder »Elektrostimulation«. Tabu: Neuroleptikabedingte Suizidalität Suizid ist mittlerweile eine der häufigsten Todesursachen von Menschen mit der Diagnose »Psychose« oder »Schizophrenie«. Nach Einführung der Neuroleptika zu Beginn der 1950er-Jahre stieg die Suizidrate dramatisch – nicht von ungefähr. Der US-amerikanische Psychiater Frank J. Ayd schrieb schon 1975, es bestehe eine allgemeine Übereinstimmung, dass milde bis schwere Depressionen, die zum Suizid führen können, bei der Behandlung mit jedem Depot-Neuroleptikum auftreten können, ebenso wie sie während der Behandlung mit jedem oralen Neuroleptikum vorkommen können.50 Schaut man sich Programme der Suizidprophylaxe und dort aufgelistete Risikofaktoren an, fällt das komplette Fehlen des Risikofaktors »antipsychotische Medikamente« auf. Gleichzeitig stechen die Namen der Sponsoren dieser Programme ins Auge: Janssen-Cilag, Lundbeck, AstraZeneca, Eli Lilly, Pfizer, GlaxoSmithKline und so weiter. 51 Es gibt selbstverständlich viele Umstände, die Depressivität und Suizidalität bewirken können, beispielsweise politische, soziale, ökonomische, körperliche und emotionale Faktoren.52 Dass Psychiater ausgerechnet die von ihnen verabreichten Neuroleptika mit ihrer potenziell suizidfördernden Wirkung komplett ausblenden, spricht für sich. Aus diesem Grund war die Einrichtung eines Suizidregisters eine der Forderungen, die sich aus der oben genannten europäischen Studie »Diskriminierung von Psychiatriebetroffenen im Gesundheitswesen« er-
49 Zitiert nach: Frank J. Ayd: Ugo Cerletti, M.D. (1877-1963), in: Psychosomatics 4 (1963) H. 6, S. A6-A7, hier S. A7. 50 Frank J. Ayd: The depot fluphenazines: A reappraisal after 10 years’ clinical experience, in: American Journal of Psychiatry 132 (1975), S. 491-500, hier S. 497. 51 Peter Lehmann: About the intrinsic suicidal effects of neuroleptics: Towards breaking the taboo and fighting therapeutical recklessness, in: International Journal of Psychotherapy 16 (2012b) H. 1, S. 30-49. 52 Martin Härter/Harald Baumeister/Jürgen Bengel (Hg.): Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen, Berlin 2007.
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gaben.53 In Schweden gibt es bereits ein solches Suizidregister. Gemäß dem dortigen Gesetz zur Regelung professioneller Handlungen im Gesundheitsbereich (»Lex Maria«) müssen seit 2006 alle Suizide, die innerhalb von vier Wochen nach dem letzten Besuch einer Stelle des Gesundheitssystems begangen werden, der Nationalen Behörde für Gesundheit und Soziales gemeldet werden. Die dortige Datenauswertung zeigte die massive Beteiligung aller Arten von Antidepressiva und Neuroleptika an Suiziden.54 Es ist dringend erforderlich, auch hierzulande ein Suizidregister auf den Weg zu bringen – als unabhängiges Projekt und unter Mitwirkung unabhängiger Psychiatriebetroffener und Angehöriger, die keinem von Pharmafirmen gesponserten Verband angehören. Traumatisierende psychiatrische Zwangsmaßnahmen Ein Risikofaktor für Suizidalität sind traumatische Erfahrungen mit psychiatrischer Gewalt und das Nichtvorhandensein traumatherapeutischer Maßnahmen für die Opfer psychiatrischer Zwangsmaßnahmen. Für viele Psychiatriebetroffene stellt die gewaltsame Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka oder Elektroschocks eine durch und durch traumatisierende Erfahrung dar, ver-
53 Aktionsprogramm gegen »Diskriminierung und Schikane von Menschen mit psychosozialen Beeinträchtigungen im Gesundheitsbereich«: Gemeinsame Empfehlungen von Mental Health Europe, LUCAS (Belgien), Pro Mente Salzburg (Österreich), MIND (England und Wales), Clientenbond (Niederlande), FEAFES (Confederación Española de Agrupaciones de Familiares y Personas con Enfermedad Mental – Spanien), BPE (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. – Deutschland) und ENUSP (European Network of [ex-] Users and Survivors of Psychiatry), Brüssel 2005, Link: http://www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/empfehlungen.pdf
(10.11.
2018); Peter Lehmann: Das betroffenenorientierte Suizidregister als Maßnahme der Suizidprävention, in: Sabine Hahn/Michael Schulz/Susanne Schoppmann et al. (Hg.), Depressivität und Suizidalität. Prävention – Früherkennung – Pflegeinterventionen – Selbsthilfe, Unterostendorf 2010, S. 152-157; Peter Lehmann: Ein Suizidregister unter Mitwirkung von Psychiatriebetroffenen?, in: Rundbrief des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener, 2010, H. 3, S. 7-9. 54 Janne Larsson: Psychiatric drugs & suicide in Sweden 2007: A report based on data from the National Board of Health and Welfare, Internetveröffentlichung von 2009, Link:
http://iloapp.jannel.se/blog/psychiatricdrugs?ShowFile&doc=1273233718.pdf
(10.11.2018).
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gleichbar der Erfahrung sexueller Gewalt. 55 Es gibt zwar hierzulande vielfältig ausgerichtete Traumatherapien, doch wenn Psychiatriebetroffene nach Hilfe bei der Verarbeitung von Traumata suchen, die durch psychiatrische Gewalt ausgelöst werden, finden sie nirgendwo Hilfe. In der Traumatologie findet psychiatrische Gewalt als Entstehungsfaktor für Traumata nicht statt. Dabei gesteht selbst die DGPPN die potenziell traumatisierende Wirkung psychiatrischer Zwangsbehandlung ein.56
KEINE HILFEN BEI PSYCHISCHEN PROBLEMEN MASSGEBLICH SOZIALER NATUR Bekommen Menschen aus unterschiedlichsten Gründen psychische Probleme, stehen ihnen – wie eingangs ausgeführt – gemäß den Vorgaben der PsychiatrieEnquete von 1975 im psychiatrischen System medizinisch und neurologisch ausgerichtete Hilfen zur Verfügung: die psychiatrische Krankenhausversorgung sei grundsätzlich ein Teil der Gesamtmedizin, wobei die besonderen Beziehungen der Psychiatrie zur Neurologie in Rechnung zu stellen seien. Dank dieses Paradigmas haben humanistische Alternativen zur Psychiatrie, die Menschenrechte respektieren und Zwangsmaßnahmen massiv reduzieren oder komplett ausschließen, keine Chance, Teil der Standard-»Versorgung« zu werden. Dabei handelt es sich um gut evaluierte Ansätze. Soteria: Im Vergleich mit einer Kontrollgruppe in einer psychiatrischen Klinik schulpsychiatrisch Behandelter zeigte sich beim kalifornischen SoteriaProjekt des humanistisch orientierten Psychiaters Loren Mosher, dass der Gebrauch von Psychopharmaka bei der Soteria-Gruppe auch noch nach zwei Jahren sehr gering war, dagegen die persönliche Entwicklung der Patientinnen und Patienten besser. Mosher sah das normalerweise als »Psychose« bezeichnete Phänomen als Bewältigungsmechanismus und Antwort auf Jahre traumatischer Ereignisse, welche die Betroffenen veranlasst haben, sich aus der konventionellen Realität zurückzuziehen. Demzufolge verzichtete er auf Zwangsmittel, Krankheitsbegriff und weitestgehend auf Neuroleptika. So hatten seine Patientinnen
55 Peter Lehmann: Stellungnahme zur Gewaltbereitschaft der Psychiatrie für die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Arbeitskreis »Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Versorgung«, in: Leuchtfeuer – Journal des Landesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen Rheinland-Pfalz, 2012a, Sonderausgabe, S. 9-24. 56 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (2014).
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und Patienten nach Abklingen der Psychosen eher eine geregelte Arbeit, eher einen erfolgreichen Schulabschluss, lebten selbstständiger, hatten eine befriedigendere sexuelle Beziehung und wurden seltener in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.57 Offener Dialog: Der Offene Dialog, auch als bedürfnisangepasste Behandlung bekannt, wurde von dem ebenfalls humanistisch orientierten Psychiater Yrjö Alanen in Südfinnland entwickelt. Als notwendige Voraussetzungen für eine hilfreiche Krisenintervention wurde ein systemisches Psychosenverständnis gesehen, das sich auf Beziehungsstörungen der Menschen stützt, nicht aber auf Hirnstörungen. Sofortiges Reagieren vor Ort und die Einbeziehung des sozialen Netzes in Entscheidungen charakterisiert den Offenen Dialog ebenso wie die Übernahme von Verantwortung, psychologische Kontinuität, ein Team mit Mitgliedern aller Berufsgruppen und insbesondere die Toleranz von Ungewissheit (zu der auch die Nichtverabreichung von Psychopharmaka über Wochen gehört). Ergebnis dieses Ansatzes ist die merkliche Reduzierung von Zwang und Psychopharmaka. In einem Vergleich des Behandlungsprozesses bei Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie-Diagnosen zwischen dem Offenen Dialog und der üblichen Behandlung wurden aussagekräftige Unterschiede festgestellt: Die Patientinnen und Patienten der Vergleichsgruppe hatten längere Klinikaufenthalte, allen wurde Neuroleptika verabreicht, verglichen mit nur einem Drittel der Gruppe des Offenen Dialogs. Diese erholten sich trotzdem besser von ihren Krisen, hatten weniger Rückfälle und bleibende psychotische Symptome und einen besseren Beschäftigungsstatus.58 Krisenherberge: Hauptziel der betroffenengeleiteten Krisenherberge in Ithaca im Bundesstaat New York war es, einen Ort bereitzustellen, wohin Menschen sich zurückziehen konnten, die einen Psychiatrieaufenthalt für nötig hielten oder das Risiko einer Unterbringung fürchteten. Das von 1994 bis 1996 stattfindende, unter wesentlicher Mitwirkung von Psychiatriebetroffenen entwickelte Programm bestand aus zwei Komponenten: dem Angebot von vorsorglicher Krisenplanung und Training zur Krisenbewältigung, verbunden mit Unterstützung in einer Beratungsstelle, sowie einer Unterkunft für Leute, die diese aufgrund eigener Einschätzung benötigten. Die Evaluierung ergab, dass die Ergebnisse der Klientinnen und Klienten der Krisenherberge besser waren als die der Kontroll-
57 Volkmar Aderhold/Peter Stastny/Peter Lehmann: Soteria – Eine alternative psychosoziale Reformbewegung, in: Peter Lehmann/Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2, Berlin, Eugene und Shrewsbury 2007, S. 150-165. 58 Jaako Seikkula/Birgitta Alakare: Offene Dialoge, in: Peter Lehmann/Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2, Berlin, Eugene und Shrewsbury 2007, S. 234-249.
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gruppe, die Patientinnen und Patienten der gewöhnlichen Psychiatrie waren. Erstere waren gesünder, zufriedener, selbstständiger. Sofern es zu Ausfällen im Arbeitsleben kam, waren diese geringer, ihre späteren Psychiatrieaufenthalte waren seltener und kürzer. Dass die Krisenherberge auch zu einer deutlichen Kostensenkung führte, sollte angesichts der Unsummen, die der Einsatz immer neuer und teurerer Psychopharmaka verschlingt, für die Finanziers des Gesundheitssystems, das heißt Krankenkassen und Steuerzahler, äußerst interessant sein (selbst wenn die Frage der Finanzen zweitrangig sein sollte, wenn es um die Bewältigung psychosozialer Probleme geht).59 Zum Leidwesen von Psychiatriebetroffenen gibt es all diese Angebote in Deutschland nicht oder nur rudimentär als »Elemente«. Dabei war in der Consensus-Konferenz Balancing Mental Health Promotion and Mental Health Care (Ausgewogene Förderung von psychischer Gesundheit und psychiatrischer Pflege) 1999 in Brüssel, veranstaltet von der WHO und der Europäischen Kommission, die Förderung nichtstigmatisierender, das heißt nichtmedizinischer Ansätze als Eckpfeiler für eine wirksame Reform des psychosozialen Systems definiert worden. Hinzu kamen die Förderung von Selbsthilfe-Ansätzen, die aktive Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen in psychiatriepolitische Entscheidungen und die Betonung der Freiheit zur Auswahl aus Behandlungsangeboten zwecks Stärkung der Menschenrechte.60 Ähnlich, jedoch mit rechtlich bindendem Vertragscharakter, erwartet die UN-Behindertenrechtskonvention von den Vertragsstaaten personenangepasste Hilfen zur Vermeidung von Fremdkontrolle; in akuten Krisen soll eine Krisenbewältigung ohne Freiheitsentziehung und Zwangsmassnahmen möglich werden.
GLEICHHEIT VOR DEM GESETZ FÜR ALLE Dass die Psychiatrie als medizinisch-naturwissenschaftliche Disziplin dem Anspruch, psychische Probleme überwiegend sozialer Natur zu lösen, nicht gerecht werden kann, überrascht wenig. Hinzu kommt, dass ihre Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen in der Gesellschaft ver-
59 Jeanne Dumont/Kristin Jones: Die Krisenherberge. Ergebnisse einer betroffenendefinierten Alternative zur stationären Psychiatrie, in: Peter Lehmann/Peter Stastny (Hg.), Statt Psychiatrie 2, Berlin, Eugene und Shrewsbury 2007, S. 186-194. 60 World Health Organization/European Commission: Balancing mental health promotion and mental health care: A joint World Health Organization/European Commission meeting, Broschüre MNH/NAM/99.2, Brüssel 1999, S. 9-10, hier S. 9.
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stellt. Insofern ist es notwendig, sich für den Aufbau angemessener und wirksamer Hilfe für Menschen in psychosozialer Not zu engagieren, für die Sicherung ihrer gesellschaftlichen Teilhabe und ihre rechtliche Gleichstellung mit normalen Kranken, für die Unterstützung beim selbstbestimmten Absetzen psychiatrischer Psychopharmaka sowie für Toleranz, Respekt und Wertschätzung von Vielfalt auf allen Ebenen des Lebens.61 An vorderster Stelle sollte der Kampf gegen die exzessive Frühsterblichkeit psychiatrisch behandelter Menschen62 sowie gegen die Dominanz des reduktionistischen biomedizinischen Modells stehen, wie dies auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Dainius Pūras, in seinem Bericht über das allgemeine Recht auf Zugang zum höchstmöglichen Standard körperlicher und psychischer Gesundheit vom 28. März 2017 erwähnt. 63 Dringend erforderlich ist die Einwirkung auf die Strafverfolgungsbehörden, die systematische und ohne informierte Zustimmung begangene psychiatrische Körperverletzung entsprechend § 230 Absatz 1 StGB (Strafantrag) zu verfolgen: »Die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 229 werden nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.«
Angesichts ihres Leids hätte die Masse der psychiatrisch behandelten Menschen öffentliches Interesse und einen solchen Schritt verdient. Zumal der Prozentsatz von Personen, die im Lauf ihres Lebens mit der Psychiatrie in Kontakt kommen, rasant steigt. Gleichheit psychiatrisch behandelter Menschen vor dem Gesetz muss auch Gleichheit ihrer Behandler vor dem Gesetz nach sich ziehen. Die Kultur des Vertuschens und Verschweigens muss ein Ende haben, das Strafrecht
61 Peter Lehmann: Über humanistische Antipsychiatrie, Internetveröffentlichung vom 20. September 2015, Link: http://www.peter-lehmann.de/hu-an-de.htm (10.11.2018). 62 Peter Lehmann: Paradigm shift: Treatment alternatives to psychiatric drugs, with particular reference to LMICs, in: Laura Davidson (Hg.), The Routledge handbook of international development, mental health and wellbeing, Abingdon/New York 2019 (im Druck) 63 United Nations: Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, report A/HRC/35/21 to the Human Rights Council, thirty-fifth session 6-23 June 2017, agenda item 3, Internetveröffentlichung vom 28. März 2017, Link: https://documentsdds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G17/076/04/pdf/G1707604.pdf?OpenElement (10.11.2018).
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muss auch für Psychiater und ihrer Mitarbeiter gelten. Von diesen, die sich gut eingerichtet haben, und ihren Interessenverbänden ist in aller Regel keine Initiative zu erwarten, sich der Gleichheit vor dem Gesetz auszusetzen. Doch für den Rest der Gesellschaft brächte die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und die damit hoffentlich einhergehende Stärkung der Autonomie, Ressourcen und Gestaltungskraft von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen einen beträchtlichen Gewinn. Dies betrifft nicht zuletzt auch die Kosten, so die direkten Folgekosten herkömmlicher psychiatrischer Behandlung mit ihren vielfältigen Krankheitssymptomen (»Nebenwirkungen«), also zum Beispiel Kosten für Behandlung, Pflege und Rehabilitation, und die indirekten Kosten wie Produktionsausfälle, Krankschreibungen, Erwerbsminderung oder Arbeitsunfähigkeit. Diese Kosten dürften Milliarden Euro betragen; aufgebracht werden sie in ständig steigender Höhe von jedem und jeder einzelnen Krankenversicherten. Anmerkung Die kursiv gesetzten Erläuterungen in Klammern sowie die Übersetzungen aus dem Englischen stammen vom Autor.
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Missbrauch behinderter Heimkinder Diskurs und Entschädigung Volker van der Locht
EINFÜHRUNG Ich möchte zu Beginn bemerken, dass ich zu den Missständen und der sexualisierten Gewalt an Heimkindern seit den 50er Jahren nicht systematisch geforscht habe. Mein Zugang war zunächst sehr allgemein. Ich habe vor etwa vier Jahren für die Beiträge zur Essener Stadtgeschichte eine Rezension des Buches von Bernhard Frings über die Heimerziehung im Essener Franz-Sales-Haus 1945 bis 1970 – ein katholisches Heim vorwiegend für Menschen mit geistiger Behinderung – verfasst.1 Mir ist damals schon aufgefallen, dass die Dinge, die wirklich interessant sind, nicht ausdrücklich benannt wurden. Es gab zwar Gewalt, aber sie wurde nur diffus beschrieben. Es gab keine Täter oder Täterinnen, nicht einmal eine aus datenschutzrechtlich gebotene, anonymisierte Darstellung von Täterprofilen wurde vorgestellt. Ich hätte dies aus wissenschaftlicher Perspektive für sinnvoll gehalten, weil es den früheren Heimkindern das Gefühl des Ernstgenommen-Werdens gegeben hätte. Anders ausgedrückt: Eine sozialgeschichtlich und psychologisch erforschte Täter- oder Täterinnen-Biographie hätte zumindest bei den Opfern den Eindruck erwecken können: »Ja, so war das damals!«; »Das könnte der Mitarbeiter oder die Nonne gewesen sein!« So blieb der Eindruck bei der Frings-Publikation bestehen, hier werden die entscheidenden Fakten und Zusammenhänge ausgeblendet.
1
Volker van der Locht: Rezension: Bernhard Frings: Heimerziehung im Franz Sales Haus 1945-1970. Strukturen und Alltag in der »Schwachsinnigen-Fürsorge«, Münster 2012, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 125/126. Band 2012/2013, S. 380-382.
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Bestätigt wurde dies während der Zeit vor Veröffentlichung der Rezension – das war Ende 2012. Damals erhielt ich einen Anruf von Rolf-Michael Decker, der Ende der 60er Jahre im Franz-Sales-Haus untergebracht war. Er war empört darüber, wie das Heim 2009 sein 125-jähriges Bestehen gefeiert und die kritischen Punkte seiner Geschichte ausgeklammert hatte. 2 Er erzählte mir schreckliche Dinge wie zum Beispiel: »Da gab es den Herrn Gruß. Das war ein Bergmann. Und dort oben waren drei Zellen, da kamen alle Kinder rein, die was ausgefressen hatten. Er ist, je nachdem auf welchen Jungen er jetzt Bock hatte, von Zelle zu Zelle gegangen und hat nachts durchgefeiert. Aber das Unmögliche an der Kiste war, dass man Kinder manchmal über ein Jahr eingesperrt hat, nur weil man die beiseite haben wollte. Es sollte niemand mehr Kontakt mit ihnen haben. Und was man solchen Kindern angetan hat, dieses Wegsperren, mit Zigaretten verbrannt, oder wenn Kinder weggelaufen sind, dann kriegtest du Bügeleisen hingestellt. Die waren heiß. Wenn die Fußsohlen schön gebrannt haben, schön wässrig waren, also dass du dich richtig verbrannt hast und keinen Schritt mehr laufen konntest.«3
Durch diesen Kontakt habe ich mich weniger wissenschaftlich, sondern eher politisch mit dem Thema Gewalt an Heimkindern in der Bundesrepublik beschäftigt. Im Dialog mit Rolf-Michael Decker, der mit vielen früheren Heimkindern in Kontakt steht, ist daraus ein Bericht entstanden, der teils Betroffenenerfahrungen, teils wissenschaftliche Systematisierungen beinhaltet, ohne den Anspruch einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung zu erheben. Der folgende Bericht macht deutlich: Wenn man mal hinter der Glitzerfassade der offiziellen Pressemitteilungen über die Anerkennung des »Leids der Opfer« und Hilfen nachschaut, so zeigt sich, wie zeitaufwändig und schwer es in der Bundesrepublik ist, als Opfer persönlichen Respekt und materielle/finanzielle Ansprüche durchzusetzen.
2
Franz Sales Haus/Günter Oelscher (Hg.): 125 Jahre Mitmenschen Franz Sales Haus, Essen 2009.
3
Erika Feyerabend/Volker van der Locht: »Die ehemaligen Heimkinder werden heute das zweite Mal vergewaltigt«, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 54 Dezember 2013, S. 2-4, hier S. 2.
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DIE WEITERE ENTWICKLUNG Nach dem ersten persönlichen Kontakt mit Rolf-Michael Decker haben wir im Newsletter Behindertenpolitik Artikel zu Gewalt an Heimkindern in Behinderteneinrichtungen veröffentlicht. Darüber hinaus habe ich einen Text für eine Petition an den Deutschen Bundestag verfasst, um die Missstände und fehlende Entschädigung in Behinderteneinrichtungen einzufordern. Unsere Initiative war nicht die erste Eingabe an das Parlament. Schon seit dem Frühjahr 2006 gingen verschiedene Petitionen zum Thema »Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren in der alten Bundesrepublik« beim Petitionsausschuss des Bundes ein. Ehemalige Heimkinder, die in der Zeit in westdeutschen Heimen untergebracht waren, berichteten seitdem in Presse, Radio und Fernsehen über Lieblosigkeit, Misshandlungen, sexuelle Gewalt, harte Arbeit und nichtige Einweisungsgründe. Sie beklagten fehlende Bildungsangebote im Heim und mangelnde Vorbereitung auf das Berufsleben. Nach zweijähriger Beratung konnten sich die Abgeordneten im Bundestag aufgrund der damals bekannten Missstände lediglich zu einem Bedauern für das erlittene Unrecht und Leid durchringen. Eine klare politische Positionierung gegen die Heimunterbringung unterblieb. Vielmehr folgte das Parlament im Dezember 2008 den Empfehlungen des Petitionsausschusses. Sie beinhalteten die Einrichtung eines Runden Tischs Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, kurz RTH. Er sollte unter der Leitung der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen) unter anderem die rechtlichen, pädagogischen und sozialen Bedingungen der Heimerziehung sowie die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Heimpraxis für die Betroffenen aufarbeiten und Hilfsangebote zugänglich machen. Der RTH hat im Januar 2011 einen Abschlussbericht vorgelegt. Die Ausführungen stellen vielfache Missstände wie physische, psychische, sexuelle Gewalt und Arbeitszwang fest. Des Weiteren wurden Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Situation ehemaliger Heimkinder gemacht. Die bisherige Praxis hat jedoch gezeigt, dass an einer umfassenden Aufarbeitung der Gewalt in geschlossenen Einrichtungen und an einer angemessenen Entschädigung aller Betroffenen kein Interesse besteht. Eine Einschränkung betraf damals den Kreis der Gewaltopfer. Gegenstand der Beratungen waren etwa 700.000 bis 800.000 ehemalige Heimkinder, die sich in der Zeit der alten Bundesrepublik bis Mitte der 1970er Jahre in Fürsorgeerziehungsheimen befanden. Betroffene aus Behindertenheimen blieben unberücksichtigt. Im Abschlussbericht heißt es dazu: »Im Auftrag des Petitionsausschusses war die Bearbeitung der Thematik der Behindertenhei-
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me nicht enthalten, obwohl dort von ähnlichen Problemen wie in der Heimerziehung der Jugendhilfe berichtet wird.«4 Streng formal beschränkten sich die Abgeordneten auf die Betroffenen der Einrichtungen der Erziehungshilfe, ohne die schon damals bestehenden Forderungen von früheren Heimbewohnern aus Institutionen der Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie zu berücksichtigen. Aber selbst die Opfer aus den Erziehungsheimen fanden während der Beratungen des Runden Tischs wenig Respekt. Aus persönlichen Gesprächen mit ehemaligen Heimkindern erfuhr ich, dass betroffene RTH-Teilnehmer die Unterstützung und Beratung durch einen Rechtsanwalt bräuchten, um den Verhandlungen mit den juristisch versierten Parlamentariern folgen zu können. Der Wunsch wurde zurückgewiesen. Selbst der Vorschlag eines Anwaltsbüros, im Hintergrund zu bleiben und die früheren Heimkinder nur in Verhandlungspausen zu beraten, wurde abgelehnt. Eine Eingabe vor einem Berliner Gericht wurde von einer Richterin positiv bewertet. Allerdings wurde die Richterin politisch unter Druck gesetzt, so dass der Gerichtsbeschluss hinfällig wurde. Wohlgemerkt, hier geht es nur um die früheren Kinder aus Fürsorgeheimen.
FINANZIELLE HILFEN – ABER NUR ZUM TEIL Parallel zu den Beratungen des RTH hatte das Bundeskabinett am 24. März 2010 die Einrichtung eines weiteren Runden Tisches beschlossen. Er trug den Titel »Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich«, im Folgenden Runder Tisch Kindesmissbrauch (RTK). Der Abschlussbericht dieses Runden Tischs wurde am 30. November 2011 beschlossen, und er sollte eine Signalfunktion übernehmen und dazu dienen, die geschehenen Gewaltakte gründlich und dauerhaft aufzuarbeiten, auch wenn die Thematik aus den Medien verschwunden sein wird.5
4
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hg.): Abschlussbericht des Runden Tisches »Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren«, Berlin 2010, S. 4, Anm. 2, Link: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschluss bericht_000.pdf, (14.07.2017).
5
Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Bundesministerium für Bildung (Hg.): Abschlussbericht Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich, Berlin 2011/2012, S. 5f., Link: http://www.bmjv.de/
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So aufklärerisch und parteiisch für die Opfer der Berichtstext auch klingt, so skeptisch beurteilten die ehemaligen Heimkinder die daraus folgende Praxis. Das galt unter anderem für die Frage eines finanziellen Ausgleichs. Auf Seite 18 des RTK-Abschlussberichts wird unter den verschiedenen Leistungen für die Opfer auch die Einmalzahlung von 10.000 Euro erwähnt. Wer glaubt, hier werde den Opfern unbürokratisch eine Geldleistung als erste Genugtuung ausgezahlt, um Zeit für die Bewilligung anderer Leistungen wie etwa eine regelmäßige Opferrente zu gewinnen, sieht sich getäuscht. Das wird schon aus der Form der Einmalzahlung deutlich, die als Sachleistung gewährt wird und von Anfang an einen Streitpunkt zwischen den potentiellen und anerkannten Leistungsbezieherinnen und -beziehern und den Leistungsträgern darstellte. Denn abgesehen von der geringen Höhe für jahrzehntelange Diskriminierung, Verunmöglichung höher qualifizierter beruflicher Abschlüsse wurde den Betroffenen nicht einmal das Recht eingeräumt, frei über die Entschädigungssumme zu verfügen. Getreu dem obrigkeitsstaatlichen Fürsorgeprinzip mussten sie nachweisen, dass sie das Geld für etwas »Sinnvolles« verwenden. Das führte zu völlig absurden Situationen der Bevormundung der Opfer, die, wenn überhaupt, in manchen Fällen ihre 10.000 Euro nur durch massiven Protest erhalten haben, wie Rolf-Michael Decker berichtet hat. »Wir hatten z.B. einen älteren Herrn gehabt, der wollte eine Donaureise machen. Der ist über 70, kriegt ein bisschen Rente und ein bisschen was vom Amt. Der wollte gerne noch eine Fahrt über die Donau durch Ungarn machen. 10 Tage auf so einem Dampfer. Kostenpunkt 2.800 Euro. Er hat den Antrag gestellt, und die haben ihn abgelehnt. Begründung: Das wäre etwas, was aus dem Titel nicht zu zahlen wäre. Er könnte sich ein Auto kaufen und das dann bei ebay verkaufen. D.h. die haben von ihm verlangt, er solle sich ein Auto oder Möbel kaufen. Hat er auch gemacht und hat für 3.800 Euro Möbel bestellt und hat von seinem bisschen Rente, was er gespart hatte, bezahlt. Hinterher, als er gefragt wurde, haben die dann gesagt: Die Möbel bezahlen wir ihnen jetzt, damit sie das Geld auch wiederkriegen, aber das restliche Geld bekommen sie nicht für eine Donaureise. Bis die Zeitung in Bremen darüber berichtet hat, dann haben sie schnell die 10.000 Euro überwiesen und wollten damit nichts mehr zu tun haben.«6
Es ist verständlich, wenn sich ein früheres Heimkind als Ausgleich für jahrelange Demütigung im Alter ein bisschen Luxus in Form einer Donaufahrt wünscht.
SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschlussbericht_RTKM.pdf?__blob =publicationFile (14.07.2017). 6
Feyerabend/van der Locht (2013), 4.
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Umso unverschämter wirkt die Ablehnungsentscheidung der Verantwortlichen in den Gremien des Heimkinderfonds. Sie hatten kaum ein Interesse, den Willen und die Bedürfnisse der Betroffenen zu berücksichtigen. Möglicherweise geht man davon aus, dass Betroffene das Geld vertrinken oder auf andere Weise verschwenden würden. Selbst in der Annahme, dass es solche Einzelfälle gibt – bei dem erwähnten Rentner war das offensichtlich nicht der Fall – so muss doch berücksichtigt werden, dass in den besagten Einzelfällen das Leben und die Persönlichkeit dieser ehemaliger Heimkinder durch die Fürsorgeinstitutionen zerstört worden war, und ihnen daher der selbstbestimmte und verantwortungsvolle Umgang mit Geld oft nicht mehr zur Verfügung stand. Hilfen durch intensive personelle Unterstützung bei Wahrung der persönlichen Integrität und Berücksichtigung individueller Wünsche war und ist aber im Rahmen der Entschädigung mit Geld nicht vorgesehen. Problematisch für die Opfer sind auch die Auszahlungsmodalitäten nach dem Sachleistungsprinzip. Um das Geld für das Sachgut zu bekommen, müssen die Betroffenen einen Kaufvertrag vorweisen und in der Regel in Vorkasse treten. Das fällt vielen schwer, weil sie aufgrund ihrer fehlenden Schul- und Berufsausbildung keine oder nur geringfügige Beschäftigungen vorweisen konnten oder von Sozialgeld (Hartz IV) leben, so dass sie überhaupt nicht die Mittel besitzen, um Vorkasse zu leisten. Folglich sind etliche Betroffene praktisch von den Einmalzahlungen ausgeschlossen, weil sie die gesetzten Bedingungen nicht erfüllen können. Wie groß die Zahl derer ist, die zwar anspruchsberechtigt wären, aber aufgrund der unerfüllbaren Konditionen erst gar keinen Antrag stellten, liegt im Dunkeln.
DER KAMPF UM DIE POLITISCHE DEUTUNG DER GEWALT AN HEIMKINDERN Ist es schon schwierig für die ehemaligen Heimkinder aus den Erziehungsheimen gewesen, Ansprüche durchzusetzen, umso komplizierter gestaltet sich die Entschädigung für die Opfer aus den Einrichtungen der Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bereits mit der Veröffentlichung des RTHBerichts wurden die fehlenden Reglungen für Behinderte von den ehemaligen Heimkindern kritisiert und die zuständigen Regierungsstellen sagten zu, einen Sonderfonds dafür einzurichten. Ohne Druck der Betroffenen bewegten sich die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen in Berlin aber nicht. Wie zuvor bei den Betroffenen aus den Erziehungseinrichtungen gingen beim Petitionsausschuss des Bundestags Petitionen bezüglich der Entschädigung der Gruppe aus
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Behinderten- und Psychiatrieeinrichtungen ein. Auch wir von der Redaktion des Newsletters Behindertenpolitik haben, wie oben erwähnt, in Zusammenarbeit mit Rolf-Michael Decker eine Petition erarbeitet und öffentlich der Vorsitzenden des Petitionsausschusses übergeben.7 Darin fordert Rolf-Michael Decker: »Der Deutsche Bundestag möge einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einrichten, der 1. die Gewalt an Heimkindern in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie während des Zeitraums 1950 bis 1975 untersucht. 2. die gesetzlichen Bestimmungen der 30jährigen Verjährung in den Fällen aufhebt, in denen Heimmitarbeiter gegen internationale Vereinbarungen verstoßen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben.«
Zentral für die Petitionsbegründung war weniger eine ausreichende materielle Entschädigung. Wesentlicher war dem Petenten die historisch-politische und juristische Aufarbeitung des Geschehens bis hin zur strafrechtlichen Ahndung, soweit Täter oder Täterinnen noch leben und zur Verantwortung gezogen werden können. Ein Hauptpunkt, der die juristische Aufarbeitung verhindert, war und ist die Verjährung eines schweren Verbrechens nach 30 Jahren. In Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie etwa Völkermord gilt diese Verjährungsfrist jedoch nicht. In diesem Sinne reichte Rolf-Michael Decker parallel zum Petitionsverfahren im Herbst 2014 beim Internationalen Strafgerichtshof der UNO in Den Haag eine Anzeige gegen die Bundesrepublik Deutschland ein. 8 Die Eingabe stützte sich auf Bestimmungen des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB), das am 26. Juni 2002 vom Bundestag verabschiedet worden war. 9 So definiert dieses internationale Strafrecht Taten als Völkerrechtsverbrechen, wenn jemand »eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zufügt, insbesondere sie foltert oder verstümmelt.« (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 VStGB) oder sie »sexuell nötigt oder vergewaltigt« (ebd. Nr. 4). In
7
Siehe Dokumentation: Gegen das Vergessen, Verdrängen und Verschweigen, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 56 Juni 2014, S. 2-4. Dort sind auf Seite 4 der Petitionstext und eine stark gekürzte Fassung der Petitionsbegründung abgedruckt. Die ausführliche Begründung nebst Anlagen ist auf der Bioskop-Website abrufbar. Link: http://www.bioskop-forum.de/begruendung-heim-petition.html, (Zugriff 11.08.2017).
8
Volker van der Locht: Strafanzeige gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 58 Dezember 2014, S. 2-5.
9
Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches v. 26.06.2002, in: Bundesgesetzblatt Teil I 2002, S. 2254-2260.
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diesen Fällen sehen die Bestimmungen eine Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren vor.10 Nun kann ein Gegenargument lauten: Selbst wenn die Taten den Strafkriterien des Völkerstrafrechts entsprächen, können sie bei den ehemaligen Heimkindern nicht angewendet werden, weil es sich bei dem besagten Paragraphen nicht um »Kriegsverbrechen an Personen« handelt, die »im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt« stehen. Und in der Tat kann niemand ernsthaft behaupten, die früheren Heimkinder haben sich zum Zeitpunkt der Gewalterfahrung in einer kriegerischen Situation befunden. Dagegen kann man einwenden, dass das Gewalterleben für die Opfer gleich schwer ist, unabhängig davon, ob die Verbrechen in einem kriegerischen oder nichtkriegerischen Umfeld stattgefunden haben. Dazu kommt die Tatsache einer Pflichtvergessenheit deutscher Heimaufsichtsbehörden, die es jahrzehntelang versäumt haben, ihnen anvertraute Kinder zu schützen. Immerhin galt zum Zeitpunkt der Taten Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz, der besagt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«11 Von daher kann sehr wohl von einem Staatsversagen gesprochen werden, welches vor einer unabhängigen Instanz wie dem Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden sollte. Die Relevanz sahen auch die Juristinnen und Juristen des Gerichtshofs in Den Haag. Denn dass Rolf-Michael Decker seine Anzeige dort einreichen konnte, war nur nach vorheriger Prüfung möglich. Die zugleich mit der Eingabe vorgelegten Beweisdokumente – mehrere tausend Seiten insgesamt – reichten den GerichtsmitarbeiterInnen in Den Haag, um Ermittlungen gegen die Bundesrepublik Deutschland einzuleiten. Oder anders ausgedrückt: Es besteht der begründete Verdacht, dass in der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtswidrige Verbrechen an Heimkindern begangen worden sind. Die Den Haag-Initiative hatte selbstverständlich eine politische Stoßrichtung. Sie verfolgte seinerzeit zugleich den Zweck, die politischen Gremien in der Bundesrepublik bezüglich der Petitionen unter Druck zu setzen. Dass der Petitionsausschuss und der Bundestag in Berlin im Sinne der Den Haag-Anzeige entscheiden würden, war aber kaum zu erwarten gewesen. Am 2. Juli 2015 haben die Abgeordneten die Gesuche von Rolf-Michael Decker und anderer im Sinne der Vorlage des Petitionsausschusses einstimmig und parteiübergreifend
10 Ebd., 2555. 11 Bundesgesetzblatt Teil I 1949, S. 1.
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beschlossen.12 In der Begründung wird ausgeführt, alle Verbrechen unterliegen je nach Schwere des Delikts einer unterschiedlich langen Verjährung, weil »die Verjährung dem Rechtsfrieden dient« und »nach Ablauf einer gewissen Zeit eine Bestrafung kriminalpolitisch nicht mehr notwendig ist«. Zwar hatte der Bundestag durch verschiedene Gesetzesreformen eine Fristausdehnung beschlossen, zum Beispiel gilt als Beginn der Verjährungsfrist bei Kindern nicht mehr der Zeitpunkt der Tat, sondern die Vollendung des 21. Lebensjahres, wenn das Opfer auch rechtsfähig gegen Misshandlungen vorgehen kann, gleichwohl müssen andere Ablehnungsformulierungen für die Betroffenen wie Hohn klingen: »Von der Verjährung gänzlich ausgenommen sind allein gemäß § 78 Absatz 2 StGB nach § 211 StGB (Mord) sowie die in § 5 des Völkerstrafgesetzbuches genannten Verbrechen. Dies berücksichtigt, dass die Tötung eines Menschen unter besonders verwerflichen Umständen das schwerste Verbrechen darstellt (…), welches unsere Rechtsordnung kennt. Nur bei diesen allerschwersten Straftaten ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass ein Strafbedürfnis auch nach langer Zeit nicht entfällt. Für die Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 StGB sowie die weiteren genannten Straftaten gelten diese Erwägungen hingegen nicht in gleichem Maße, da diese – im Vergleich zum Mord oder Völkermord – eine geringere Unrechtsschärfe aufweise.«13
Nach § 5 VStGB sind sämtliche im Völkerstrafgesetzbuch aufgeführten Straftaten unverjährbar – auch die erwähnten Straftaten nach § 8 VStGB (Kriegsverbrechen an Personen). Von daher konnten die Abgeordneten die Misshandlungen, Vergewaltigungen etc. an Kindern in deutschen Fürsorge- und Behindertenheimen nicht in gleicher Weise behandeln wie die gleichen Taten, die in kriegerischen Auseinandersetzungen als unverjährbare Völkerrechtsverbrechen beurteilt werden. Denn was wäre geschehen, wenn sie den Forderungen der Petenten entsprochen hätten? Wenn der Beschluss zum Beispiel hieße: In der frühen Bundesrepublik sind an Heimkindern mit und ohne Behinderung unter Missachtung der Grundrechte Verbrechen begangen worden, die dem Straftatbestand § 8 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VStGB entsprechen und aus heutiger Sicht vor den Internationalen Strafgerichtshof verhandelt werden müssen. Das hätte den Schluss nahelegen können: HeimmitarbeiterInnen der frühen Bundesrepublik stehen auf gleicher Stufe wie etwa Massenvergewaltiger im Jugoslawienkonflikt. Absurd die Vorstellung, die Abgeordneten würden eine solche Parallele zulassen.
12 Schreiben an Rolf-Michael Decker v. 6. Juli 2015 nebst Anlage: BundestagsBeschluss v. 2. Juli 2015, Anlage 4 zum Prot. 18/41, Aktenz. 4-18-07-451-009108. 13 Ebd.
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AUF DEM WEG ZU GELDLEISTUNGEN Obwohl das Ziel, die Gewalt an Heimkindern als Völkerrechtsverbrechen zu werten, nicht erreicht wurde, mussten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages aufgrund der vorgelegten Beweismittel anerkennen, dass es diese Gewalt gegeben hat. Damit war auch ein Leistungsanspruch der ehemaligen Heimkinder aus Behinderteneinrichtungen und Jugendpsychiatrien unstrittig. Die Petitionen von Rolf-Michael Decker und anderer Beschwerdeführer wurden daraufhin dem Bundesarbeitsministerium mit der Erwägung zugeleitet, einen Fonds für die früheren Heimkinder aus Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien einzurichten, da sie nach den Beschlüssen des »Runden Tischs Heimerziehung« noch nicht berücksichtigt worden sind. Schließlich sind die Petitionen auch den verschiedenen Länderparlamenten zur Entscheidung zugeleitet worden, da die Behindertenhilfe und psychiatrische Versorgung zum Aufgabengebiet der Bundesländer gehört. Sie müssen, so die Ansicht der Bundesbehörden, ebenso ihren Teil zu dem Entschädigungsfonds beitragen. Dieser Erfolg ist nicht unwichtig. Denn formal hat es Beschlüsse gegeben, etwas für die Opfer in Behinderteneinrichtungen zu tun. Schon kurz nach der Veröffentlichung des RTH-Abschlussberichts, im Juli 2011, hatte der Bundestag fraktionsübergreifend beschlossen, die Bundesregierung aufzufordern, in Abstimmung mit den Ländern den bestehenden Fonds für ehemalige Heimkinder auf Betroffene aus Behinderteneinrichtungen zu erweitern. Das Bundesarbeitsministerium hatte daraufhin mit Vertretern der Länder und der evangelischen und katholischen Kirche Lösungswege diskutiert und erst drei Jahre später 20 Millionen Euro für Hilfen zur Verfügung gestellt. Auch die Kirchen waren grundsätzlich bereit, Geld zur Verfügung zu stellen. Schwierigkeiten bereiteten jedoch die Bundesländer. Zwar sah die 90. Arbeits- und Sozialministerkonferenz der Länder (ASMK) schon 2013, dass die früheren Heimkinder in Behinderteneinrichtungen und Kinder- und Jugendpsychiatrien viel Unrecht und Leid erfahren hatten. Die finanzielle Verantwortung sahen sie aber allein beim Bund und wollten in einen solchen Fonds nicht einzahlen. Das ist allein deshalb indiskutabel, weil die Kinder- und Jugendpsychiatrie und die Behindertenhilfe sich im Zuständigkeitsbereich der Länder befinden. Ebenso sperrten sich die Ländersozialministerien in der 91. ASMK 2014. Nun äußerten sie Zweifel an einer eigenständigen Fondslösung. Die Petitionsinitiativen haben also erneut Schwung in die Debatte gebracht, weil durch die entstandene Öffentlichkeit die Länder zunehmend in die Rolle der Blockierer geraten sind und sich gezwungen sahen, ihren finanziellen Beitrag zu leisten. Denn parallel zu den Betroffeneninitiativen haben aufgrund der vorangegangenen Beschlüsse zwischen Bund und Ländern
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weitere Beratungen auf der Ebene der Landes-Arbeits- und Sozialministerien, der Kirchen unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Verlauf des Jahres 2015 stattgefunden. Herausgekommen ist dabei die Stiftung »Anerkennung und Hilfe«.14 Allerdings sind die Regelungen voller Widersprüche und die möglichen »Hilfen« denkbar mager. Auf alles kann hier nicht eingegangen werden. Nur so viel: Skandalös ist schon, dass es so lange brauchte, bis überhaupt Bestimmungen über Zahlungen für die Opfer aus Behinderteneinrichtungen getroffen worden sind. Während nach den RTH-Beschlüssen die Erziehungsheimopfer seit dem 1. Januar 2012 Anträge stellen konnten,15 stand den Betroffenen aus Behinderteneinrichtungen diese Möglichkeit erst ab Januar 2017 offen. Fünf Jahre später – wie viele Anspruchsberechtigte sind seitdem verstorben? Diese Frage wird tunlichst verschwiegen. Es ist doch verständlich, dass die zur Schau gestellte Trauermiene der Offiziellen über das geschehene »Unrecht und Leid« der Opfer von den Betroffenen nur als Hohn empfunden werden kann. Und sollen sie jetzt dankbar sein, dass sie etwas erhalten? Obwohl die Regelungen des Runden Tischs Heimerziehung zum Maßstab für die Opfer aus Behindertenheimen genommen werden, schließen die Verantwortlichen eine Gleichbehandlung aus. Statt der oben erwähnten Einmalzahlung von 10.000 Euro sollen an die »Behinderten« bei Anerkennung nur 9.000 Euro ausgezahlt werden. Ebenso sind geringere Rentenersatzleistungen vorgesehen. Der »Verein ehemaliger Heimkinder e.V.« merkt zu den beschlossenen Leistungen dieser Stiftung »Anerkennung und Hilfe« an: »Wieder und wieder wird bekannt gegeben, dass auch diese Gruppe der Ehemaligen nun zu ›ihrem Recht‹ kommen würde, hoffen könne und natürlich wird nicht mit Lob gespart für die Ausrichter und PolitikerInnen, denen es endlich gelungen sei, diesen Fonds auf die
14 Vorschlag an die Chefin und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder und den Chef des Bundeskanzleramtes (CdS-Konferenz), übermittelt durch das Vorsitzland der ASMK, Thüringen und an die Evangelische Kirche sowie die Katholische Kirche in Deutschland, übermittelt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Stand 31. August 2015), S. 4f., Link: http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/ public_html/wp-content/uploads/2015/10/31.08.2015_Vorschlag-an-die-CdS-Konfe renz.pdf (20.8.2017). 15 Vgl. Pressemitteilung des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend v. 2.1.2012, Link: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemit teilungen/bund--laender-und-kirchen-starten-fonds--heimerziehung-in-der-bundesrepu blik-deutschland-in-den-jahren-1949-bis-1975-/88370?view=DEFAULT, (15.7.2017).
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Beine zu stellen. Fast bekommt man den Eindruck, als wäre diese Selbstverständlichkeit – nämlich die Gleichbehandlung von Behinderten›hilfe‹- und Psychiatrieopfern ein historischer Augenblick, ein Beweis dafür, dass Bund, Länder und Kirchen ein kleines Wunder vollbracht hätten. Was wird dieser Fonds denn nun wirklich bringen? Auf jeden Fall noch WENIGER Geld für die Opfer als es für die ›normalen‹ Opfer gab. Wer kann das verstehen? Wir jedenfalls nicht. Und so wird es wohl ein Geheimnis von Kirchen, Bund und Ländern bleiben, warum diese Opfergruppe nur 9.000 Euro (statt der 10.000 für ›Normalos‹) bekommen soll. Auch warum die Zwangsarbeit dieser Überlebenden noch weniger wert gewesen sein soll, als unsere, hat uns bislang niemand erklären können. Gab es für Überlebende aus ›normalen‹ Heimen bei geleisteter Zwangsarbeit ab dem 14. Lebensjahr 300 Euro pro gearbeitetem Monat Rentenausgleichszahlungen, sollen Behinderte und Psychiatrisierte nun mit einer Gesamtsumme zwischen 3.000 und 5.000 Euro abgespeist werden. Egal wie lange sie gearbeitet haben. Um es an einem kleinen Beispiel aufzuzeigen: Ein Ehemaliger/eine Ehemalige aus einem Heim bekommt für 1 Jahr geleisteter Arbeit 3.600 Euro Rentenausgleich, für 2 Jahre 7.200 Euro und für die längste anrechenbare Zeit – nämlich vom 14. bis zum 21. Lebensjahr, also 7 Jahre, wurden 25.200 Euro allein an Rentenausgleich gezahlt!«16
Ganz offensichtlich wird wieder Rechtsbruch begangen, denn es ist nicht anzunehmen, dass die JuristInnen in den Ministerien die geltende Gesetzeslage nicht kennen. Artikel 3 des Grundgesetzes bestimmt die Gleichheit vor dem Gesetz und legt Diskriminierungsverbote fest. Am 15. November 1994 wurde sogar in Artikel 3 Absatz 3 ein zweiter Satz eingefügt: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.«17 Mehr noch: Ende des Jahres 2008 verabschiedeten die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Gesetz über die Einführung der UN-Behindertenrechtskonvention, die bereits am 13. Dezember 2006 in den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen verabschiedet worden war.18 Dieses internationale Völkerrechtsabkommen legt in Artikel 3b und 3e die
16 VEH e.V. Rundbrief 4/16, Link: http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public _html/wp-content/uploads/2016/12/dez-2016.pdf (20.8.2017). 17 Vgl. Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn 2015, S. 449; Swantje Köbsell: Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Neu-Ulm 2012, S. 27. 18 Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte
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Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit fest. Dazu verpflichtet sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifizierung der Konvention »den Schutz und die Förderung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen in allen politischen Konzepten und allen Programmen zu berücksichtigen« (Art. 4 Abs. 1 c) und »Handlungen oder Praktiken, die mit diesem Übereinkommen unvereinbar sind, zu unterlassen und dafür zu sorgen, dass die staatlichen Behörden und öffentlichen Einrichtungen im Einklang mit diesem Übereinkommen handeln« (Art. 4 Abs. 1 d).19 Hier zeigt sich, dass die in der Regel juristisch kundigen PolitikerInnen bezüglich der Stiftung »Anerkennung und Hilfe«, ungeachtet der geltenden Verfassungsgrundsätze und internationalen Völkerrechtsabkommen, vor allem nach Kassenlage entschieden. Dabei könnte das Leistungsvolumen erheblich aufgestockt werden, wenn alle verantwortlichen Institutionen zur Kasse gebeten würden. Wenn zum Leistungskatalog auch Rentenersatzleistungen gehören, dann ist zugleich zugestanden, dass die davon profitierenden Leistungsempfänger auch gearbeitet haben. Dass es sich dabei meist um nicht- oder sehr schlecht entlohnte Billigstarbeit gehandelt hat, ist von den Betroffenen vielfach beschrieben worden. Der VEH spricht in diesem Zusammenhang von Zwangsarbeit (siehe oben). Insofern stehen die Heimträger ebenso als frühere Arbeitgeber in der Pflicht nicht nur Renten-, sondern auch Lohnersatzleistungen zu zahlen. Das gilt jedoch nicht nur für die staatlichen und kirchlichen Träger, sondern auch für Unternehmen, die Aufträge an die Heime vergeben haben. Also – warum zahlen Unternehmen oder Wirtschaftsverbände, die von der Arbeit in Fürsorgeerziehungsund Behindertenheimen profitiert haben, nicht in die Heimkinderfonds? Einige Milliarden Euro könnten für die Opfer zumindest als Ersatz für jahrzehntelange soziale und finanzielle Demütigung dienen. Aber das ist eines der Themen, die im öffentlichen Diskurs überhaupt keine Rolle spielen. Sicher, es müsste mit erheblichem personellem und finanziellem Aufwand rekonstruiert werden, welche Unternehmen wann und in welchem Umfang mit der Ausbeutung früherer Heimkinder Gewinne erzielt haben. Vermutlich wird dabei manches ans Tagelicht kommen, was dem Firmenimage schaden würde. Dass daran kein Interesse besteht, verwundert niemand. Das trifft selbstverständlich auch auf die Bundesregierung zu, die immerzu bestrebt ist, die deutsche Wirtschaft vor möglichen finanziellen Belastungen zu schützen. Erinnert sei an das zähe Ringen um die Entschädigung der NS-ZwangsarbeiterInnen um die Jahrtausendwende. Erst nach
von Menschen mit Behinderungen (kurz Behindertenrechtskonvention BRK) vom 21. Dezember 2008 (Bundesgesetzblatt Teil II 2008 Nr. 35, S. 1419). 19 Ebd., 1424f.
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drohenden Klagen in den USA gegen deutsche Unternehmen und Banken kam Bewegung in die Angelegenheit. Georg Heuberger, damals deutscher Repräsentant der Jewish Claims Conference bei den Verhandlungen für die Einrichtung der Zwangsarbeiterstiftung, äußerte in einem Tagesschau-Interview: »Es war nicht so, dass die Wirtschaft gesagt hätte: Hurra, jetzt dürfen wir endlich unsere Zwangsarbeiter entschädigen – eher im Gegenteil.«20
OFFENES ENDE Bemerkenswert an den damaligen Regelungen für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ist, dass auch Erben verstorbener Opfer Geld beanspruchen durften.21 Eingedenk der Erfahrungen von Holocaust-Opfern, deren Traumata sich ebenso auf deren Kinder und Kindeskinder übertragen haben, ist das richtig. Das haben auch die Erfahrungen der Gedenk- und Erinnerungsarbeit für die NSOpfer gezeigt, weil diesen nach Jahren oder Jahrzehnten durch ihren Nachgeborenen zumindest symbolisch Gerechtigkeit zuteil wird. Solche Regelungen können für die ehemaligen Heimkinder ebenfalls wichtig sein, wenn sich herausstellt, dass ihre Gewalterfahrungen Auswirkungen auf ihre Kinder und das spätere Familienleben gehabt haben. Das ist nicht selbstverständlich. Sexualisierte Gewalt ist ein noch größeres Tabu als die »rassischpolitische« Verfolgung, denen unter anderem die NS-ZwangsarbeiterInnen ausgesetzt waren. Von daher ist wahrscheinlicher, dass enge Familienangehörige der Heimkinder noch weniger über die früheren Gewalterfahrungen wissen. Aber wenn darüber etwas bekannt wird, könnte es für Angehörige ehemaliger Heimkinder eine Genugtuung bedeuten, wenn sie Geld erhalten würden – selbst wenn das unmittelbar betroffene Opfer schon Jahre tot ist. Gerade im gegenwärtigen Diskurs über die ehemaligen Heimkinder aus Erziehungs- und Behindertenheimen muss man diesen Aspekt stärker betonen, denn angesichts der systematischen Verzögerungstaktik der Verantwortlichen der Heimkinderfonds bei der Leistungsgewährung werden wahrscheinlich noch viele unmittelbar Betroffene ohne Anerkennung sterben und vergessen sein.
20 Georg Heuberger: »Das Entscheidende ist die Gerechtigkeit«. Tagesschau-Interview v. 24.8.2007, Link: https://www.tagesschau.de/inland/meldung95132.html (19.8. 2017). 21 Nicole Diekmann: Zwangsarbeiterentschädigung. Der steinige Weg bis zur letzten Tranche, Tagesschau-Meldung v. 1.10.2006, Link: https://www.tagesschau.de/inland/ meldung23582.html (19.8.2017).
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Die Chancen für die Realisierung einer derartigen generationenübergreifenden Entschädigung für die ehemaligen Heimkinder stehen denkbar schlecht. Das liegt daran, dass die Verantwortlichen die beschlossenen Hilfen nicht als Entschädigung verstehen. Denn dieser Begriff stammt aus der Frühzeit der Bundesrepublik als es um Wiedergutmachungsleistungen bei NS-Opfern ging. Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) bestimmte dort in Paragraph eins die Personen als anspruchsberechtigt, die »in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945« wegen »ihrer politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung« vom Nationalsozialismus verfolgt wurden.22 Dies schließen die VertreterInnen der Stiftung »Anerkennung und Hilfe« bei den Heimopfern aber aus. In dem erwähnten Vorschlag an die CdSKonferenz heißt es dazu: »Die Leistungen des Hilfesystems sind analog zu denen der Fonds ›Heimerziehung‹ keine Entschädigungen. Sie sollen vielmehr neben der Anerkennung von erlittenem Leid und Unrecht den Betroffenen, die als Kinder oder Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder Psychiatrie untergebracht waren, helfen, heute noch andauernde Belastungen aus der Heimerziehung/dem Psychiatrieaufenthalt abzumildern und so zur Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen beitragen.«23
Hier wird ein Muster deutlich, das PolitikerInnen schon vor Jahren bei der Opfergruppe der NS-Zwangssterilisierten und »Euthanasie«-Geschädigten angewendet haben. Hier handelt es sich um eine Verfolgtengruppe, die nicht unter die Bestimmungen des BEG fällt. In dem lesenswerten Buch Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-«Euthanasie« beschreibt die Politikwissenschaftlerin Kathrin Braun, dass die nach BEG Verfolgten ihre Leistungen vom Bundesfinanzministerium erhalten, während die Zwangssterilisierten und »Euthanasie«-Geschädigten vom Bundesgesundheitsministerium bedacht werden. Es geht bei letzteren nicht um Wiedergutmachung aufgrund politischer Verfolgung, sondern um »Zuschüsse zur Förderung der gesundheitlichen Selbsthilfe«. So forderten die staatlichen Geldgeber tatsächlich Geld von der Interessenvertretung der Betroffenen, dem »Bund der ›Euthanasie‹-Geschädigten und Zwangssterilisierten« (BEZ) zurück, weil es für politische und nicht »gesund-
22 Vgl. § 1 Abs.1 Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) v. 18. September 1953, Bundesgesetzblatt Teil I 1953, S. 1387-1408, hier S. 1388. 23 Vorschlag an die Chefin und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder und den Chef des Bundeskanzleramtes (CdS-Konferenz), 12.
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heitsfördernde« Maßnahmen ausgegeben wurde. Letztlich, so die Autorin, geht es um die Medikalisierung, Individualisierung und Entpolitisierung des Kampfes des BEZ, der die Gleichstellung mit den anderen NS-Verfolgtengruppen zum Ziel hat.24 Insofern entsprechen die oben zitierten Begriffe in dem Maßnahmenkatalog für ehemalige Heimkinder wie »heute noch andauernden Belastungen aus der Heimerziehung/dem Psychiatrieaufenthalt abzumildern«, um eine »Verbesserung der Lebenssituation der Betroffenen« zu erreichen, ganz dem Tenor der Entpolitisierung und unterlaufen die Forderungen der früheren Heimkinder aus Erziehungs-, Behinderten- und Psychiatrieeinrichtungen. Von daher hat der Kampf um Entschädigung im Sinne der Wertung als politische Verfolgung und Menschenrechtsverbrechen, so wie es Rolf-Michael Decker und andere Betroffene mit ihren Initiativen intendiert haben, gerade erst begonnen.
LITERATUR Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hg.): Abschlussbericht des Runden Tisches »Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren«, Berlin 2010. Link: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH _Abschlussbericht_000.pdf, (14.07.2017). Braun, Kathrin: »Ob es tatsächlich dazu kommt, ist nach wie vor offen und bleibt abzuwarten.« Der Kampf des BEZ um die Anerkennung der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten als Verfolgte des Nationalsozialismus und die Antworten der Politik, in: Margret Hamm (Hg.), Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-«Euthanasie« in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017, S. 199-221. Bundesgesetzblatt Teil I und Teil II. Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Bundesministerium für Bildung (Hg.): Abschlussbericht Runder Tisch Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich, Berlin 2011/2012, Link:
24 Kathrin Braun: »Ob es tatsächlich dazu kommt, ist nach wie vor offen und bleibt abzuwarten.« Der Kampf des BEZ um die Anerkennung der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten als Verfolgte des Nationalsozialismus und die Antworten der Politik, in: Margret Hamm (Hg.), Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-«Euthanasie« in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2017, S. 199-221, hier S. 220f.
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http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachinformationen/Abschl ussbericht_RTKM.pdf?__blob=publicationFile, (14.07.2017). Degener, Theresia/Diehl, Elke (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn 2015. Diekmann, Nicole: tagesschau.de Zwangsarbeiterentschädigung Der steinige Weg bis zur letzten Tranche, Tagesschau-Meldung v. 1.10.2006, Link: https://www.tagesschau.de/inland/meldung23582.html (19.8.2017). Dokumentation: Gegen das Vergessen, Verdrängen und Verschweigen, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 56 Juni 2014, S. 2-4. Feyerabend, Erika/van der Locht, Volker: »Die ehemaligen Heimkinder werden heute das zweite Mal vergewaltigt«, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 54 Dezember 2013, S. 2-4. Franz Sales Haus/Günter Oelscher (Hg.): 125 Jahre Mitmenschen Franz Sales Haus, Essen 2009. Heuberger, Georg: »Das Entscheidende ist die Gerechtigkeit«. TagesschauInterview v. 24.8.2007, Link: https://www.tagesschau.de/inland/ meldung95132.html (19.8.2017). Köbsell, Swantje: Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Neu-Ulm 2012. van der Locht, Volker: Rezension: Bernhard Frings: Heimerziehung im Franz Sales Haus 1945-1970. Strukturen und Alltag in der »SchwachsinnigenFürsorge«, Münster 2012, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 125/126. Band 2012/2013, S. 380-382. van der Locht, Volker: Strafanzeige gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht, in: Newsletter Behindertenpolitik Nr. 58 Dezember 2014, S. 2-5. VEH e.V. Rundbrief 4/16, Link: http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public_ html/wp-content/uploads/2016/12/dez-2016.pdf (20.8.2017). Vorschlag an die Chefin und Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder und den Chef des Bundeskanzleramtes (CdS-Konferenz), übermittelt durch das Vorsitzland der ASMK, Thüringen und an die Evangelische Kirche sowie die Katholische Kirche in Deutschland, übermittelt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Stand 31. August 2015), Link: http://www.veh-ev.eu/home/vehevinf/public_html/wp-content/uploads/2015/ 10/31.08.2015_Vorschlag-an-die-CdS-Konferenz.pdf (20.8.2017).
Trotz alledem: Behinderte Menschen verändern die Republik Behindertenbewegung und Behindertenpolitik in den 1990er und 2000er Jahren H.-Günter Heiden
PROLOG In der Nacht vom 11. auf den 12. Mai 2016 ketteten sich über 20 Menschen mit Behinderungen, die meisten von ihnen im Rollstuhl, am Reichstagufer in Berlin an. Die unangemeldete Protestaktion in der Bannmeile – gezielt vor den auf Glas eingravierten Artikeln der Grundrechte angesetzt – dauerte rund 30 Stunden.1 Ihre Aktion richtete sich zum einen gegen die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), in der private Anbieter nach wie vor nicht zur Herstellung von umfassender Barrierefreiheit verpflichtet wurden, zum anderen gegen den Entwurf für ein »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen« (Bundesteilhabegesetz – BTHG), das dann im Dezember 2016 von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde. Diese Nacht am Reichstagufer, diese Form des zivilen Ungehorsams, war der Auslöser für viele weitere Protestaktionen: Behinderte Menschen sperrten sich vor dem Berliner Hauptbahnhof symbolisch in einen Käfig, blinde Menschen gingen in der Spree »baden«. Es wurde sogar schon von einer »Behindertenbewegung 2.0« gesprochen, was meiner Ansicht nach jedoch nicht zutrifft, da es zwischen der »Behindertenbewegung 1.0«, womit vor allem die Krüppelbewegung gemeint ist, und diese neue Aktivitäten eine weitere Bewegung gab, die die
1
Vgl. dazu http://leidmedien.de/aktuelles/presseschau-nichtmeingesetz/ [28. Januar 2018]. Das Abrufdatum bezieht sich auch auf alle folgenden Links.
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Juristin Theresia Degener einmal als »Die letzte Bürgerrechtsbewegung« bezeichnet hat.2 Bislang ist diese Bewegung kaum dokumentiert. Die meisten Publikationen der Disability History bleiben bislang am Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre stehen oder verkürzen auf unzulässige Art. Stellvertretend dafür mag ein Zitat dienen: »Großer Jubel brach bei den Selbstbestimmt-Leben-Initiativen aus, als Ende 1994 im Artikel 3 des Grundgesetzes der Satz eingefügt wurde: ‹Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.›«3 Ich nenne eine solche Beschreibung das »Sterntaler-Modell«. Eine solche Beschreibung unterstellt, dass es keine politischen Kämpfe zur Durchsetzung der Verfassungsergänzung gegeben habe und dass sie der Behindertenbewegung quasi in den Schoß gefallen sei. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Doch dazu später. In meinem Text möchte ich herausarbeiten, dass sich seit Ende der 1980er Jahre ein großer Teil der Behindertenbewegung zu einer Bürger- und Menschenrechtsbewegung gewandelt, viele neue Ideen hervorgebracht, neue Kämpfe ausgefochten und so auch dazu beigetragen hat, die Republik ein Stück weit zu verändern. Diese, noch weitgehend unbeschriebenen Jahre, werde ich kurz umreißen und dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. In Bezug auf die Einteilung geschichtlicher Prozesse habe ich den Zeitraum ab 1990 in vier Phasen gegliedert: • • • •
Von der Wende bis zur Grundgesetz-Ergänzung (1990-1994) Aktion Grundgesetz und BGG-Kampagne (1995-2002) Eine Menschenrechtskonvention entsteht (2002-2009) Staatenprüfung – BRK-Allianz, LIGA Selbstvertretung und BTHG-Prozess (2009-2016)
Innerhalb jeder Phase habe ich eine Dreiteilung in »Debatten – Aktivitäten der Zivilgesellschaft – Rechtssetzung« vorgenommen. Eine solche Dreiteilung mag etwas künstlich erscheinen, da es sich in der Realität um verwobene Prozesse handelte. Für eine analytische Darstellung halte ich diese Differenzierung jedoch für vertretbar.
2
H.-Günter Heiden (Hg.): »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«. Grundrecht und Alltag - eine Bestandsaufnahme, Reinbek 1996, S. 16.
3
Christian Mürner/Udo Sierck: Der lange Weg zur Selbstbestimmung. Ein historischer Abriss. In: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.): Handbuch Behindertenrechtskonvention, Bonn 2015, S. 34.
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ZU MEINER PERSPEKTIVE Vorab noch ein Wort zu meiner Person und meiner Perspektive: Ich war und bin seit 1986 selber Akteur in diesem Prozess und so mancher Aspekt mag vielleicht durch diese persönliche Sichtweise beeinflusst sein. Ich habe als Publizist politische Prozesse und Kampagnen mit initiiert, habe 1990 den »Initiativkreis Gleichstellung Behinderter« mitgegründet, 1993 die Anhörung vor der Verfassungskommission koordiniert und 1996 das NETZWERK ARTIKEL 3 - Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V. mit ins Leben gerufen 4. Für das NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. habe ich von 2012 bis 2015 die BRKAllianz koordiniert, die den ersten Parallelbericht zum deutschen Staatenbericht an den UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen erstellt hat5. Danach habe ich bis zum Sommer 2017 als sozialwissenschaftlicher Mitarbeiter am Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) 6 mit dem Schwerpunkt politische Partizipation gearbeitet und war gleichzeitig für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) in der Öffentlichkeitsarbeit tätig.
VON DER WENDE BIS ZUR GRUNDGESETZERGÄNZUNG (1990-1994) 1. Debatten Versorgung und Fürsorge waren im Nachkriegsdeutschland unter den Stichworten »Kriegsopferversorgung« und »Contergan-Skandal« zunächst immens wichtig. Die Behindertenpolitik der Bundesrepublik Deutschland konzentrierte ihre Kräfte deshalb vorwiegend auf sozialpolitische Fragestellungen, etwa auf die Renten- und Sozialversicherung, auf Nachteilsausgleiche. Sie konnte viel erreichen und hat, getragen aus einer Fürsorgeperspektive, wesentlich zum vielzitierten »sozialen Netz« beigetragen. Doch mit der zunehmenden Herausdifferenzierung von »Sonder«-Schulen, von Behindertenwerkstätten und Rehabilitationseinrichtungen, durch den in Zement geronnenen Nachweis der erfolgreichen Fürsorgepolitik unter paternalistischen Fittichen, begann sich auch die Kritik zu
4
Vgl. dazu www.netzwerk-artikel-3.de.
5
Vgl. dazu www.brk-allianz.de.
6
Vgl. dazu https://bodys.evh-bochum.de/ueber-bodys.html.
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entwickeln, die zur emanzipatorischen Krüppel- und Behindertenbewegung führte. Ich möchte in meinem Beitrag nicht noch einmal die Geschichte der Krüppelbewegung nachzeichnen, die in vielen Texten bereits ausführlich beschrieben worden ist, sondern dort anknüpfen, wo Disability History bislang aufhört: am Ende der 1980er Jahre, in denen durch die Kritik am UN-Jahr 1981 der Gedanke eines erforderlichen grundlegenden Perspektivenwechsels stärker wurde. Dieser Gedanke – weg vom Objekt der Fürsorge und hin zu Bürgerinnen und Bürgern mit gleichen Rechten – wurde Mitte der 80er Jahre durch Besuche in den USA gefördert. Behinderte USA-Reisende kehrten regelmäßig begeistert zurück und forderten in den deutschen Behindertenzeitschriften eine ähnliche AntiDiskriminierungsgesetzgebung, wie sie 1973 bereits mit der Section 504 des »Rehabilitation Act« eingeführt worden war: Jegliche Diskriminierung behinderter Menschen war darin untersagt, wenn öffentliche Gelder flossen. Doch noch blieben alle Aufrufe vereinzelt und folgenlos. Gesellschaftspolitisch wehte Mitte/Ende der 1980er Jahre zudem ein scharfer Wind: Behinderte Menschen mussten sich zunehmend einer Diskussion über ihr Lebensrecht erwehren, die von »Sterbehelfern« und »Utilitaristen« wie Hans Henning Atrott und Peter Singer ausgelöst worden war. 2. Aktivitäten der Zivilgesellschaft Das Jahr 1990 brachte neue Entwicklungen in der Verbändelandschaft. Bereits kurz nach der Maueröffnung gründete sich am 12. April 1990 der »Allgemeine Behindertenverband der DDR«, der sich am 31. August in »Allgemeiner Behindertenverband in Deutschland e.V.« (ABiD) umbenannte. Der ABiD ist jedoch nur im Osten Deutschlands aktiv. Ein halbes Jahr später, am 19. Oktober 1990 konstituierte sich die »Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.« (ISL) in Erlangen. Die ISL ist der Dachverband der Zentren für Selbstbestimmtes Leben und der deutsche Zweig der weltweiten Selbstvertretungsorganisation »Disabled Peoples’ International« (DPI). Die SelbstbestimmtLeben-Philosophie erhielt damit erstmals eine organisatorische Grundlage auf Bundesebene. Bereits am 15. Oktober 1986 hatten, nach US-Modell, behinderte Frauen und Männer das erste regionale Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Bremen ins Leben gerufen. Im Jahr 1990 veranstaltete das Bonner Büro des Bundesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderter e.V. (BSK) eine behindertenpolitische Konferenz »Plädoyer für ein Mobilitätssicherungsgesetz« – Vorbild war ein neues Gesetz aus den USA, der »Americans with Disabilities Act (ADA)«, der die Aktivist*innen
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elektrisierte. Über 50 Multiplikator*innen aus der Behindertenbewegung sowie Vertreter*innen der Politik diskutierten einen ganzen Tag lang miteinander. Zum Schluss waren sich die Aktiven einig: Auch in Deutschland brauche man ein umfassendes Anti-Diskriminierungsgesetz in Anlehnung an den ADA. Wünschenswert, jedoch utopisch, sei auch eine Ergänzung des Grundgesetzes. Doch diesmal blieb man nicht bei der bloßen Forderung stehen. Aus dem Kreis der Referent*innen bildete sich eine Arbeitsgruppe – ein Personenbündnis, das aus unterschiedlichen Organisationen stammte: Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter (BSK), Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH), Bundesvereinigung Lebenshilfe und Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Das Personenbündnis gab sich den Namen »Initiativkreis Gleichstellung Behinderter« und bestand zunächst nur aus männlichen Mitgliedern.7 Die Gräben zwischen den einzelnen Verbänden waren noch tief und verbandsübergreifende Zusammenarbeit ein Fremdwort, sodass lediglich diese Art der Kooperation Erfolg versprechend schien. Unterstützung erhielten die Aktivist*innen 1991 aus den USA: Bei einer ISL-Tagung in Verden/Aller referierte Marilyn Golden vom Disability Rights Education and Defense Fund (DREDF) über die erfolgreichen Strategien der US-amerikanischen Behindertenbewegung. Zur Hilfsmittelmesse REHA 1991 im Oktober in Düsseldorf stellte der Initiativkreis dann mit dem »Düsseldorfer Appell gegen die Diskriminierung Behinderter« eine menschenrechtsorientierte Plattform vor, die auf eine überwältigende Resonanz stieß – offensichtlich war die Zeit dafür reif: Über 130 Organisationen und mehrere Zehntausend Einzelpersonen unterzeichneten diesen Appell – seinerzeit noch auf Papier-Unterschriftenlisten, die im Januar 1993 der damaligen Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD) übergeben wurden. Der Appell beinhaltete zwei Hauptforderungen: Erstens die Schaffung eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes, auch Gleichstellungsgesetz genannt, das wirksame einklagbare Rechte für behinderte Menschen schaffen sollte und zweitens die Ergänzung von Artikel 3 des Grundgesetzes. Der Artikel 3 wurde deshalb gewählt, da er den Nichtdiskriminierungsansatz verdeutlicht, der als Reaktion auf den Nazi-Terror ins Grundgesetz geschrieben wurde. Bedingt durch den Einigungsvertrag begann 1992 in Deutschland die Überarbeitung des Grundgesetzes. Deshalb beschloss der Initiativkreis, sich an dieser Debatte aktiv zu beteiligen und den Einsatz für die Verfassungsergänzung, also
7
Gründungsmitglieder waren: Dr. Hans Aengenendt, Heinz Preis, Ottmar Miles-Paul, Horst Frehe, Peter Floerecke, Ulrich Hellmann und H.- Günter Heiden. Später stießen Andrea Schatz und Dr. Sigrid Arnade hinzu.
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dem zweiten Ziel des »Düsseldorfer Appells« zunächst in den Vordergrund zu stellen. Vorbilder für eine Verfassungsergänzung gab es in der brandenburgischen Landesverfassung und in der Verfassung von Kanada. Um nicht nur mit Aufrufen politisch zu wirken, sondern auch auf der Straße sichtbar zu sein, rief der Initiativkreis für den 5. Mai 1992 den ersten europäischen Protesttag gegen die Diskriminierung Behinderter aus. Bei diesem ersten Protesttag wurde in über 100 europäischen Städten für Gleichstellungsgesetze nach US-Vorbild demonstriert. In Deutschland lag der Schwerpunkt auf der Verfassungsergänzung und etwa in Berlin, Nürnberg und Kassel wurde dafür demonstriert. Der Protest der Behindertenbewegung gegen das »Flensburger Urteil« im August 1992 tat dann ein Übriges: Wieder war deutlich geworden, dass die Diskriminierung behinderter Menschen im Alltag endgültig beendet werden musste. In diesem skandalösen Urteil wurde den Klägern eine zehnprozentige Reisepreisminderung zugesprochen, da sie im gleichen Speisesaal mit einer Gruppe behinderter Gäste speisten und sich durch diese belästigt fühlten. Nach intensivem Ringen gelang es dem Initiativkreis, einen Anhörungstermin bei den Berichterstatter*innen zu Artikel 3 der Verfassungskommission durchzusetzen. Vom Initiativkreis wurden die Stellungnahmen der Selbsthilfeorganisationen gebündelt, sodass sich zum Anhörungstermin am 15. Januar 1993 in Bonn ein dichtes Bild der Geschlossenheit ergab: Von den autonomen Gruppen bis hin zum (damaligen) Kriegsopferverband VdK (heute Sozialverband VdK) – alle sprachen sich für die Ergänzung von Artikel 3 aus. Selbst der damalige Beauftragte der Bundesregierung, Otto Regenspurger (CSU), änderte unter dem Eindruck der Gemeinsamkeit unter den Betroffenen nach dieser Anhörung seine zunächst ablehnende Haltung. Ferner konnte bei diesem Termin die SPD, in Person des ehemaligen Parteiund Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel, von der geforderten Verfassungsergänzung überzeugt werden. Die SPD erarbeitete in der Folge einen eigenen Textvorschlag: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden«, der dann später in dieser Form auch Gesetzeskraft erlangte. Nun galt es, auch die Abgeordneten von FDP und CDU zu überzeugen, da in der Verfassungskommission eine Zweidrittelmehrheit vonnöten war. Dies war umso notwendiger, da Abgeordnete der seinerzeitigen Regierung erklärt hatten, dass eine Verfassungsergänzung nicht notwendig sei, da das Grundgesetz nicht zu einem »Warenhauskatalog« verkommen solle. Parallel zur Anhörung startete der Initiativkreis eine Postkartenaktion: Rund 100.000 Postkarten wurden über Behindertenorganisationen und Behindertenzeitschriften verteilt: Über 20.000 Karten landeten bei der Verfassungskommission, weitere 15.000 Unterschriften gingen per Listen ein. Am 17. Juni 1993 war
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dann die abschließende Sitzung der Verfassungskommission, in der die SPD ihren Textvorschlag einbrachte. Zwar wurde eine relative Mehrheit von 30:22 Stimmen erreicht, doch die notwendige Zweidrittelmehrheit wurde verfehlt. Enttäuschung machte sich breit und viele gaben den Kampf um die Verfassungsergänzung schon verloren, zumal von Wolfgang Schäuble, dem prominentesten Rollstuhlnutzer Deutschlands, keine Unterstützung kam. Doch da der Gesamttext der Verfassungskommission noch in den Bundestag und den Bundesrat eingebracht werden musste, ergab sich erneut die Möglichkeit zur Einflussnahme. So stand die Aktionswoche Anfang Mai 1994 ganz im Zeichen der endgültigen Entscheidung. Mittlerweile hatten sich auch die beiden großen Kirchen und die Wohlfahrtsverbände für die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes in die Verfassung ausgesprochen. Damit war das seltene Kunststück gelungen, einen bundesweiten behindertenpolitischen Konsens herzustellen, der auf einer Menschenrechtsperspektive basierte. Nur die Regierungsfraktionen verweigerten sich hartnäckig jedem Gespräch. Wahrscheinlich wären alle Anstrengungen vergeblich geblieben, wenn nicht im Mai 1994 auch der Wahlkampf zum neuen Bundestag begonnen hätte. Der Initiativkreis empfahl, alle Kandidat*innen der Parteien daraufhin zu befragen, wie ihre Position zur Gleichstellung sei. Eventuell hat diese Aktion mit dazu beigetragen, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl auf einem Bundeskongress des VdK am 20. Mai 1994 verkündete, dass auch er ein Diskriminierungsverbot Behinderter in der Verfassung befürworte. Damit war der Widerstand in den Regierungsfraktionen obsolet und nur knapp sechs Wochen später, am 30. Juni 1994, beschloss der Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude fast einstimmig die neue Verfassung. Die Behindertenbewegung hatte, 45 Jahre nach Verabschiedung des ersten deutschen Grundgesetzes im Mai 1949, mit vereinten Kräften ihre eigene Bürgerrechtserklärung erkämpft. Hilfreich in diesem ganzen Prozess war die Gründung des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) im Jahr 1991, das als loser Zusammenschluss von juristischen Expert*innen bis zum heutigen Tag aktiv ist und die politischen Kämpfe mit juristischem Know-How untermauern konnte. Im Gefolge der politischen Auseinandersetzungen war das Jahr 1992 bedeutsam für weitere Neugründungen auf Ebene der Zivilgesellschaft: Das erste Netzwerk behinderter Frauen gründete sich in Hessen. Bifos, das Bildungs- und Forschungszentrum zum selbstbestimmten Leben Behinderter, begann sich auf die Durchführung von Kongressen und Bildungsveranstaltungen zu konzentrieren und beim Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) wurden die Betroffenen im Bereich der Psychiatrie aktiv.
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3. Rechtssetzung Am 26. Juli 1990 unterzeichnete der amerikanische Präsident George W. Bush sen. den bereits erwähnten »Americans with Disabilities Act« (ADA). Dieses Gesetz gilt als der gleichstellungspolitische Meilenstein für alle weiteren Gesetze, etwa in Großbritannien, Australien oder (eingeschränkt) auch für Deutschland. Der ADA setzte konsequent einen Prozess fort, der in den USA bereits 1973 mit der Verabschiedung des »Rehabilitation Act« begonnen hatte. Von der UN-Generalversammlung wurde am 14. Oktober 1992 der Beschluss gefasst, jeden 3. Dezember zum »International Day of Disabled Persons« zu erklären, an dem auf die Menschenrechtssituation behinderter Kinder, Frauen und Männer aufmerksam gemacht werden sollte.8 Am 20. Dezember 1993, nach der Beendigung der Dekade der Menschen mit Behinderungen 1983 – 1992) verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die »Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities«. Die Standard Rules sind der rechtlich unverbindliche Vorläufer der UN-Behindertenrechtskonvention mit Empfehlungen, die auf die volle Teilhabe behinderter Menschen in der Gesellschaft zielen. Erst im Oktober 1995 wurde die deutsche Übersetzung, m.E. etwas unscharf mit dem Titel »Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte« veröffentlicht. Dieses Menschenrechtsdokument wurde im behindertenpolitischen Diskurs in Deutschland kaum wahrgenommen. Der seinerzeit dafür zuständige UN-Sonderberichterstatter Bengt Lindqvist schätzte die Standard-Rules dagegen wie folgt ein: »Die Regeln beschreiben, was getan werden muss, damit Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu fairen und gleichen Bedingungen an den Aktivitäten der Gesellschaft teilnehmen können, der sie angehören.«9 Für den Bereich der Bildung bedeutsam ist der Beschluss der »SalamancaErklärung« mit einem Aktionsrahmen zur Inklusion behinderter Schüler*innen auf der UNESCO-Weltkonferenz »Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität« im spanischen Salamanca vom 7.–10. Juni 1994. Der Originaltext der Erklärung10 spricht vom Prinzip der »Inclusion« – die deutsche Übersetzung überträgt den Begriff unzutreffend mit »Integration«, ein Fehler, der sich 2008 mit der deutschen Übersetzung in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention wiederholt hat. Nachdem der Deutsche Bundestag am 30. Juni 1994 fast einstimmig den neuen Satz 2 im Grundgesetz Artikel 3, Absatz 3:
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Vgl. http://undocs.org/en/A/RES/47/3.
9
Vgl. NETZWERK ARTIKEL 3 (2006), S. 42.
10 Vgl. http://www.unesco.org/education/pdf/SALAMA_E.PDF.
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»Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« beschlossen hatte, trat diese Ergänzung am 15. November 1994 mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt in Kraft. Auf Ebene der Vereinten Nationen wurde 1989 die Kinderrechtskonvention beschlossen, die in Deutschland 1992 in Kraft trat: Sowohl in Artikel 3 als auch in Artikel 23 wurden die Rechte von behinderten Kindern betont und ihre Diskriminierung verboten. Damit wurden zum ersten Mal in der Geschichte Behindertenrechte als Menschenrechte verbindlich festgeschrieben. Leider sind diese Artikel, im Gegensatz zur späteren UNBehindertenrechtskonvention, kaum bekannt.
AKTION GRUNDGESETZ UND BGG-KAMPAGNE (1995-2002) 1. Debatten Nach der erfolgreichen Grundgesetzergänzung hofften viele Aktivist*innen, dass die politischen Gremien nun damit begännen, einzelgesetzliche Änderungen zum Abbau der Benachteiligung einzubringen – die Kernforderung des »Düsseldorfer Appells« war ja noch nicht verwirklicht. Doch das Gegenteil war der Fall: Einführung der Pflegeversicherung 1995, Neuregelung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), Sozialabbau. Hinzu kam, dass der Initiativkreis Gleichstellung Behinderter Ende 1994 aus finanziellen Gründen seine Arbeit zunächst unterbrechen musste. Die Verfassungsergänzung auf Bundesebene gab jedoch auch einen positiven Impuls für viele Länderverfassungen: Es kam zu entsprechenden Ergänzungen etwa in Baden-Württemberg und Berlin, wobei die Landesverfassungen teilweise über Formulierungen des Grundgesetzes hinausgehen und auch einen Gleichstellungsauftrag festschreiben. Die SPD-Bundestagsfraktion stellte im Herbst 1995 eine Große Anfrage zur Umsetzung des neuen Artikels 3 GG, ebenso die Fraktion von Bündnis90/Die Grünen im Jahr 1996. Von Regierungsseite wurde jedoch kein Handlungsbedarf gesehen. Gebetsmühlenartig wurde lediglich auf ein neu zu schaffendes Sozialgesetzbuch IX verwiesen, in dessen Rahmen noch bestehende Ungleichheiten abgeschafft werden sollten. Diese Argumentation bewies jedoch, dass sich die Regierung noch nicht von der Fürsorgeperspektive gelöst hatte, denn die umfassende Herstellung von Barrierefreiheit etwa war mitnichten durch ein Sozialgesetz zu lösen. Schlagzeilen auf Bundesebene machte am 8. Oktober 1997 ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes zur schulischen Integration, in dem die Verfas-
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sungsbeschwerde einer behinderten Schülerin gegen ihre Überweisung auf eine Sonderschule abgelehnt wurde – eine Benachteiligung im Sinne des neuen Grundgesetzsatzes sei nicht gegeben. Einen nicht zu unterschätzenden Impuls zur Gleichstellung erfolgte 1997 durch die »Aktion Grundgesetz«, einer Kampagne der damaligen »Aktion Sorgenkind«, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den neuen Artikel im Grundgesetz mit Leben zu erfüllen: Mit frechen Slogans auf rot-grünen Plakaten wurde bundesweit erfolgreich Bewusstseinsbildung betrieben. Der bekannteste Slogan bis heute lautete: »Behindert ist man nicht, behindert wird man!«. Eine Buchpublikation im Rowohlt-Verlag unter dem Titel »Die Gesellschaft der Behinderer« komplettierte die Kampagne. Im Zuge dieser Aktionen war es auch möglich, dass die »Aktion Sorgenkind« im Jahr 2000 ihren lange kritisierten Namen in »Aktion Mensch« änderte. Bereits Anfang 2000 hatte das Forum behinderter Juristinnen und Juristen einen Vorschlag für ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz erarbeitet und dem damaligen Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Karl-Hermann Haack (SPD), übergeben.11 Der Vorschlag enthielt zu diesem Zeitpunkt sowohl Vorschläge zum Abbau von Benachteiligung im öffentlichen Recht, als auch die Beseitigung von Diskriminierungen im Zivilrecht. Im späteren Prozess wurden diese beiden Rechtsgebiete einzelgesetzlich getrennt. Zur öffentlichen Diskussion eines neuen Gesetzes veranstaltete Karl Hermann Haack den Kongress »Gleichstellungsgesetze jetzt!« am 20./21. Oktober 2000 in Düsseldorf – fast auf den Tag genau neun Jahre nach dem »Düsseldorfer Appell«. 2. Aktivitäten der Zivilgesellschaft Mit der Verfassungsergänzung im Rücken kam es zu weiteren Prozessen der Selbstorganisation in der emanzipatorischen Behindertenbewegung, die das gewachsene Bedürfnis nach Selbstrepräsentanz widerspiegelten: Vom 15. bis 18. August 1996 tagte die erste europäische Konferenz behinderter Frauen in München. Am Rande der Tagung schlossen sich die deutschen Teilnehmerinnen zu einem Bundesnetzwerk zusammen, aus dem 1998 »Weibernetz e.V. – Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung« hervorging. Auch Menschen mit sogenannter »geistiger Behinderung« wurden aktiv: Das Motto eines Kongresses der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Jahr 1994 in Duisburg lautete ganz selbstbewusst: »Ich weiß doch selbst, was ich will!«
11 Im Jahr 1998 wurde die bislang bestehende Koalition von Union und FDP durch eine rot-grüne Regierungskoalition abgelöst.
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Selbstbestimmung und Empowerment standen auch hier im Vordergrund. Das Projekt »Wir vertreten uns selbst!«, ein Zusammenschluss von Menschen mit Lernschwierigkeiten in Deutschland, startete am 1. Dezember 1997. Ziel war die politische Selbstvertretung, vorrangig, um sich für das Recht auf Leichte Sprache einzusetzen. Sie schlugen für sich selbst die Bezeichnung »Menschen mit Lernschwierigkeiten« vor, da sie nicht als »geistig behindert« etikettiert werden wollten. Zum Ende des Projekts, am 3. Februar 2001 gründete sich dann das »Netzwerk People First Deutschland e.V.«.12 Bereits im Jahr 2000 hatte People First das »Wörterbuch der Leichten Sprache« veröffentlicht und auf der Mitgliederversammlung vom 1. Oktober 2005 stellte der Verein seinem Namen den Zusatz »Mensch zuerst« voran. Speziell den Fragen der persönlichen Assistenz gewidmet entstand im Jahr 1997 ForseA – das Forum selbstbestimmter Assistenz behinderter Menschen und zwei Jahre später der Bundesverband behinderter Eltern (bbe). Auch der Initiativkreis fand in die Politik zurück: 1996 entstand das NETZWERK ARTIKEL 3 zunächst als Projekt der ISL e.V., konnte sich aber 1998 als »Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V.« konstituieren und seine Lobbyarbeit für Gleichstellung fortsetzen, etwa mit einer rechts- und sozialpolitischen Tagung in München.13 Bei dieser Tagung wurde die erfolgreiche strategische Dreiteilung in »Nervensägen – Paragraphenreiter – Straßenkämpfer« geboren: eine Mischung von Aktivitäten, die konsequente Lobbyarbeit mit konkreten Gesetzesvorschlägen und phantasievollen Aktionen verband. Um politisch stärker Gehör zu finden und mit einer Stimme zu sprechen, schlossen sich am 3. Dezember 1999 unterschiedliche Behindertenverbände zum Deutschen Behindertenrat (DBR) zusammen, der nach eigenen Angaben etwa 2,5 Millionen behinderte Menschen repräsentiert. Der DBR ist jedoch kein eingetragener Verein und auch kein Dachverband, sondern lediglich ein Aktionsbündnis, das nach einem Drei-Säulen-Modell zusammengesetzt ist: Die erste Säule bilden die Verbände der ehemaligen Kriegs- und Wehrdienstopfer, heute die Sozialverbände, in erster Linie der Sozialverband VdK e.V. und der Sozialverband Deutschland e.V. (SoVD), die zweite Säule bilden die vorwiegend diagnoseorientierten Verbände der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe e.V.
12 Die Bezeichnung »People First« leitet sich von der Gründung der ersten Gruppen in USA und Kanada ab, die selbstbewusst erklärt hatten: »I’m tired of being called retarded – we are people first.« Vgl. http://www.people1.org/about_us_history.htm ]. 13 Gemeinsame Tagung von ISL, NETZWERK ARTIKEL 3 und dem Verbund behinderter ArbeitgeberInnen (VbA) e.V. am 13. März 1999: »Strategien zur Gleichstellung Behinderter nach der Bundestagswahl«.
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(BAGS)14 und in der dritte Säulen finden sich die Selbstvertretungsverbände ISL e.V., Weibernetz e.V. und ABiD e.V. zusammen. Doch nicht nur in den Bereich der politischen Partizipation kam Bewegung, sondern auch in Wissenschaft und Forschung: Der 13. April 2002 steht für das Gründungsdatum der »Arbeitsgemeinschaft Disability Studies Deutschland – Wir forschen selbst« an der Universität Dortmund mit 24 (behinderten) Gründungsmitgliedern.15 Entstanden in Großbritannien und den USA, verstehen sich die Disability Studies (DS) als interdisziplinär ausgerichtete Wissenschaft, die Behinderung nicht unter einem medizinischen Aspekt betrachtet, sondern vor allem zu sozialen, gesellschaftlichen und menschenrechtlichen Fragen von Behinderung forscht. Dabei steht die Disziplin der »Disability History«, die Erforschung der Geschichte von Behinderung, noch in den Anfängen. Zu Fragen der Bioethik gründete sich 1995 das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und mehrere Behindertenverbände beschlossen im Jahr 2001, ein Institut zu diesen Fragen zu gründen: Das IMEW –Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft. Ein Quantensprung in Hinsicht auf ihre publizistische Durchschlagskraft gelang 2002 mit der Gründung des tagesaktuellen Nachrichtendienstes »kobinet-nachrichten«. Der Verein Kooperation Behinderter im Internet, der rein ehrenamtlich arbeitet, hat es geschafft, eines der meist gelesenen behindertenpolitischen Medien zu werden16. 3. Rechtssetzung Fortschritte auf europäischer Ebene waren durch die Revision der MaastrichtVerträge im Jahr 1997 zu verzeichnen, wobei der Artikel 6 um eine Nichtdiskriminierungsbestimmung17 ergänzt werden konnte – starke Lobbyarbeit der europäischen Behindertenbewegung war dabei hilfreich. Diese Vorschrift ist bis heute ein wichtiger Eckpfeiler bei der Formulierung von Verordnungen und Richtli-
14 Früherer Name war u. a. Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte (BAGH) 15 Vgl. http://www.disabilitystudies.de/agdsg.html. 16 http://www.kobinet-nachrichten.org/. 17 »Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrags kann der Rat im Rahmen der durch den Vertrag gegebenen Zuständigkeiten der Gemeinschaft auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder des Glaubens, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.« (Artikel 6a, danach Artikel 13 und jetzt Artikel 19, Abs. 1 der Europäischen Verträge).
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nien der Europäischen Kommission, wenn es um die Gleichstellung behinderter Menschen geht. Schlussendlich beruht auch die Schaffung des deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 auf dieser Klausel und der Umsetzung von vier entsprechenden europäischen Richtlinien aus den Jahren 2000 bis 2004.18 Ebenfalls im Jahr 2000 legte die EU-Grundrechte-Charta einen Akzent auf die Rechte behinderter Frauen und Männer, als sie in Artikel 21 die Diskriminierung (unter anderem) aufgrund von »Behinderung« untersagte und behinderten Menschen einen eigenen Artikel 26 widmete. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 erhielt die Charta der Grundrechte zwar die Rechtsverbindlichkeit, in den Debatten um die politische Gleichstellung behinderter Menschen in Deutschland spielt sie jedoch nur eine marginale Rolle, da der Text der Charta kaum rezipiert wird. So positiv die Impulse auf Ebene der Europäischen Union waren, so kontraproduktiv war die Entwicklung auf Ebene des Europarates: Die sogenannte Bioethik-Konvention aus dem Jahr 1997 (in Kraft getreten 1999), deren offizieller Titel »Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin« (Oviedo-Konvention) lautete19, erlaubte die sogenannte »fremdnützige Forschung« an »einwilligungsunfähigen Personen«. Deutschland hat die Konvention jedoch aus diesem Grund bis zum heutigen Tage weder unterzeichnet noch ratifiziert. Auf der Ebene der deutschen Bundesländer war dann Berlin im Jahr 1999 der Vorreiter für ein Gleichstellungsgesetz, für das die Betroffenen bereits seit 1994 einen Entwurf erarbeitet hatten – das »Landesgleichberechtigungsgesetz (LGBG)« trat drei Jahre vor dem Bundesgesetz in Kraft. Als Pionier der Gleichstellung auf kommunaler Ebene kann die hessische Gemeinde Erlensee gelten, die bereits 1996 einen Beschluss zur durchgehend barrierefreien Gestaltung der kommunalen Einrichtungen gefasst hatte. Das lang diskutierte20 und verhandelte Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) trat dann im Juli 2001 in Kraft – zumindest waren jetzt »Teilhabe und Selbstbestimmung« behinderter Menschen als Gesetzesziel formuliert. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das unter Mitwirkung der behinderten Juristen Horst Frehe und Dr. Andreas Jürgens entstand, folgte zum 1. Mai 2002: Kernelemente waren die Herstellung von (erstmals gesetzlich definierter) Barriere-
18 Vgl. dazu http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Recht _und_gesetz/EU-Richtlinien/eu-Richtlinien_node.html. 19 Vgl. https://rm.coe.int/168007d002. 20 Vgl. dazu etwa https://www.gruene-bundestag.de/uploads/tx_ttproducts/datasheet/1765-Reader-Selbstbestimmung_voranbringen_web.pdf.
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freiheit im öffentlich-rechtlichen Bereich, Zielvereinbarungen für den privatrechtlichen Bereich und ein Verbandsklagerecht für Behindertenorganisationen. Ferner wurde die Deutsche Gebärdensprache (DGS) als eigenständige Sprache anerkannt. Das BGG war auch das erste Gleichstellungsgesetz auf Staatenebene weltweit, das die Belange von behinderten Frauen prominent in Paragraph 2 des Gesetzes nach vorne rückte. Die verbindliche Herstellung von Barrierefreiheit auch für private Anbieter konnte damals nicht erreicht werden und harrt bis zum heutigen Tage (Frühjahr 2018) der Umsetzung.
EINE MENSCHENRECHTSKONVENTION ENTSTEHT (2002-2009) 1. Debatten In Anbetracht des erfolgreichen Kampfes der Behindertenbewegung in Deutschland zur Schaffung des BGG wurde der Beginn einer ganz anderen Entwicklung kaum zur Kenntnis genommen: Bereits im Dezember 2001 hatte die UNGeneralversammlung einen Beschluss gefasst, der die Einsetzung eines sogenannten »Ad-Hoc-Ausschusses« beinhaltete, der prüfen sollte, ob es eine Behindertenrechtskonvention geben müsse. Diese Frage war dann bald positiv geklärt, sodass der Ausschuss umgehend mit der eigentlichen Textdiskussion der neuen Menschenrechtskonvention begann.21 Ein anderes behindertenpolitisches Ereignis trug ebenfalls dazu bei, dass der Beginn der UN-Arbeiten in Deutschland nur am Rande wahrgenommen wurden: Mit dem Beschluss des Europäischen Rates, 2003 zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen (EJMB) zu machen, sollte ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Teilhabe behinderter Menschen in Europa erfolgen.22 Es müsse einen spürbaren Politikwechsel geben, so der behinderte Jurist Horst Frehe, der im EJMB die nationale Koordinierungsstelle leitete. Es dürfe nicht bei einer Imagekampagne mit Malwettbewerben, einem Europäischen Marsch und einer Eröffnungsfeier in Athen bleiben. Drei Kernforderungen gebe es, so Frehe:
21 Vgl. dazu Degener (2015), 55 ff. 22 Vgl.
https://www.kommunen-in-nrw.de/en/mitgliederbereich/bulletins/detailansicht/
dokument/europaeisches-jahr-der-menschen-mit-behinderungen-2003-1.html?cHash= 2a683240e66a6bdd021c24e05d3129ba.
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Teilhabe verwirklichen! Selbstbestimmung ermöglichen! Gleichstellung durchsetzen!23 Ganz im Geiste dieser Forderungen organisierte das Bildungs- und Forschungsinstitut zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos e.V.) im August 2003 im Rahmen des EJMB eine gut besuchte Sommeruniversität in Bremen, die den Ansatz der Disability Studies »Behinderung neu denken« einem breiteren Publikum zugänglich machen konnte. Zentrales Motto des EJMB war zwar der Slogan »Nichts über uns ohne uns!«, doch die Bilanz der Aktiven zum Ende des europäischen Jahres war ernüchternd, wie es der seinerzeitige Landesbehindertenbeauftragte von Berlin, Martin Marquard, formulierte: »Weniger erfolgreich war das EJMB auf der Politikebene: Wie schon angedeutet, herrscht in der Gleichstellungsdiskussion Stillstand, verzeichnen wir in der Frage des Antidiskriminierungsgesetzes Rückschritte und müssen wir ausgerechnet zum Ende des EJMB erneut eine gefährliche Debatte über eine mögliche Relativierung der Menschenwürde und eine Lockerung des Embryonenschutzes erleben«.24 Doch mit dem Ende des EJMB war der Blick der Aktiven frei für die internationale Arbeit. Eine erste kritische Durchsicht des Entwurfes einer Behindertenrechtskonvention war zwar ermutigend, doch gleichzeitig wurde deutlich, dass die Geschlechterfrage im Konventionstext nicht behandelt wurde. So starteten das NETZWERK ARTIKEL 3 und der Sozialverband Deutschland die Kampagne25 »Frauen in der UN-BRK sichtbar machen!« (ausführlich beschreibt der Text von Sigrid Arnade in diesem Buch diese Kampagne und ihren Erfolg). Die internationale Behindertenbewegung konnte die Verhandlungen zur UNBRK begleiten und dabei war wiederum das Motto »Nothing about us without us!« zentral und handlungsleitend: Zum Ende jedes Verhandlungsteils erhielt der »International Disability Caucus« (IDC) die Möglichkeit zur Stellungnahme, vorausgesetzt, er konnte mit einer Stimme sprechen. Dies bedeutete zwar eine enorme Herausforderung, war aber von Erfolg gekrönt, denn im Schlusstext der Konvention fanden sich wesentliche Positionen der Behindertenbewegung wieder. Mit diesem Dokument ist Behindertenpolitik nun endgültig zur Menschenrechtspolitik geworden und das bislang vorherrschende medizinische Modell von Behinderung konnte durch das menschenrechtliche Modell ersetzt werden. Anfang 2009 startete die damalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Karin Evers-Meyer (SPD) die Kampagne »Alle Inklusive«. Damit sollten in acht Regionen der Republik die Konvention unter speziellen thematischen Ge-
23 Vgl. Netzwerk-Info Jan – Feb 2003, S. 11. 24 Vgl. https://www.fdst.de/aktuellesundpresse/imgespraech/martinmarquard/. 25 Vgl. http://nw3.de/un-konv/index.php.
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sichtspunkten bekannt gemacht und Handlungsaufträge aufgezeigt werden.26 Das Spektrum reichte von »Antidiskriminierung« bis »Frauen mit Behinderungen«. Im gleichen Jahr nahm auch die Monitoring-Stelle beim Deutschen Institut für Menschenrechte ihre Arbeit auf: Sie hat nach Vorgabe des Artikels 33 der UNBehindertenrechtskonvention die Aufgabe, als unabhängige Institution die Einhaltung und Umsetzung der Konvention in Deutschland zu überwachen.27 2. Aktivitäten der Zivilgesellschaft Waren die Verhandlungen zur Konvention noch im beschriebenen partizipativen Geist verlaufen, so änderte sich dies schlagartig auf nationaler Ebene. Erfolglos drang die Behindertenbewegung auf eine Beteiligung an der Übersetzung des Konventionstextes ins Deutsche, da man Fehler befürchtete – und diese fanden sich auch prompt in der zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein abgestimmten Übersetzung. Größter Knackpunkt war, dass »inclusive education« mit »integrativer Bildung« übersetzt wurde. Dies nahm das NETZWERK ARTIKEL 3 zum Anlass, eine »Schattenübersetzung« zu erstellen, die seitdem viele tausend Male verkauft und noch häufiger aus dem Netz heruntergeladen wurde.28 Mittlerweile wird in Deutschland nur noch von »Inklusion« gesprochen, obwohl sich dieser Begriff in der abgestimmten deutschen Fassung nicht findet. Österreich hat nach seiner ersten Staatenprüfung vor dem UN-Ausschuss die Konventionsfassung nach Vorbild der Schattenübersetzung geändert29, in Deutschland steht dies jedoch noch aus. Da die Behindertenbewegung die Umsetzung der im BGG verankerten Barrierefreiheit immer wieder anmahnte, war sie im Jahr 2008 auch insoweit erfolgreich, dass ein Bündnis aus mehreren Verbänden das »Bundeskompetenzzentrum Barrierefreiheit (BKB)« gründete30. Das BKB erarbeitete in der Folge eine Vielzahl von Stellungnahmen und Handreichungen und wurde mit der Neufassung des BGG im Jahr 2016 in die »Bundesfachstelle Barrierefreiheit« überführt – je-
26 Vgl.
http://www.brk-allianz.de/attachments/article/74/Broschuere_Handlungsauftrae
ge.pdf. 27 Vgl. http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoring-stelle-un-brk/. 28 Vgl. http://www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/schattenuebersetzung-endgs.pdf. 29 Vgl.
dazu
https://broschuerenservice.sozialministerium.at/Home/Download?pub
licationId=19. 30 http://www.barrierefreiheit.de/.
Trotz alledem: Behinderte Menschen verändern die Republik | 309
doch nicht mehr in der Regie der Behindertenverbände, sondern als Fachstelle der Bundesregierung.31 3. Rechtssetzung Nach dem ersten Landesgleichstellungsgesetz in Berlin im Jahre 1999 konnte die Behindertenbewegung einen weiteren Erfolg verbuchen: In fast allen Bundesländern wurden Gleichstellungsgesetze verabschiedet, die oft nach dem Vorbild des Bundesgesetzes gestrickt waren. Im Dezember 2006 verabschiedete die UN-Generalversammlung den Text der Konvention, die nach der Ratifikation des 20sten Staates am 3. Mai 2008 international in Kraft trat. Deutschland unterzeichnete die Konvention am 30. März 2007 und mit einem Ratifizierungsgesetz Ende 2008 war auch der Weg für die Gültigkeit hierzulande frei: Seit dem 26. März 2009 gilt die UN-BRK in Deutschland und hat den Rang eines Bundesgesetzes. Ein wichtiger Eckpunkt des »Düsseldorfer Appells« war jedoch immer noch nicht durchgesetzt, trotz unablässiger Forderungen der Verbände – die zivilrechtliche Antidiskriminierung. Erst durch die Existenz und die damit erforderliche Umsetzung von vier europäischen Richtlinien trat im August 2006 das »Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz« (AGG) in Kraft – damit verbunden wurde die »Antidiskriminierungsstelle des Bundes« (ADS) gegründet.32 Europa sollte auch weiterhin der Motor für die Gleichstellung behinderter Menschen sein: Die EU-Flugverordnung 1107/2006 regelt seit 2006 die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität. Der Vorschlag zu einer fünften EU-Anti-Diskriminierungsrichtlinie aus dem Jahr 2008 harrt jedoch immer noch der Umsetzung: Deutschland ist hier einer der Bremserstaaten. Dies ist umso bedauerlicher, da der Vorschlag die Einführung von »Angemessenen Vorkehrungen« vorsah und dies ausdrücklich auch für den Bereich privat angebotener Dienstleistungen.
31 https://www.bundesfachstelle-barrierefreiheit.de. 32 http://www.antidiskriminierungsstelle.de.
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STAATENPRÜFUNG – BRK-ALLIANZ, LIGA, SELBSTVERTRETUNG UND BTHG-PROZESS (2009- 2016) 1. Debatten Obgleich die abgestimmte deutsche Übersetzung der UN-BRK den Begriff der Inklusion nicht enthält, nannte die Bundesregierung im Jahr 2011 ihren ersten Nationalen Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der Konvention »Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft«. Dieser Aktionsplan entstand nach einer Reihe von Konferenzen der Bundesregierung, bei der auch die Zivilgesellschaft eingeladen war – die Bunderegierung sprach von »eingebunden«. Doch fand sich wenig von den Forderungen der Zivilgesellschaft in diesem Plan. Von den insgesamt rund 200 Maßnahmen zur angeblichen Umsetzung der UN-BRK entfielen nach Zählung des NETZWERK ARTIKEL 3 nur etwa fünf Prozent auf gesetzgeberische Maßnahmen. Die meisten der aufgelisteten Aktivitäten bestanden in Projekten, die sowieso von einzelnen Ministerien durchgeführt wurden.33 Auch die spätere Bewertung der BRK-Allianz in ihrem Parallelbericht fiel sehr ernüchternd aus: »Entgegen den Vorgaben des Deutschen Instituts für Menschenrechte34 fehlt es an verbindlichen, überprüfbaren Zielen, die mit den Maßnahmen des Aktionsplans erreicht werden sollen. Es zeugt von wenig Entschlossenheit, wenn die Bundesregierung – trotz erheblich steigender Arbeitslosigkeit unter schwerbehinderten Menschen – die Arbeitgeberschaft nur ‹sensibilisieren› möchte und deren Bereitschaft für das Thema Ausbildung und Beschäftigung behinderter Menschen lediglich ‹gefördert werden solle› statt konkrete Zielvorgaben zur Beschäftigung behinderter Menschen in Unternehmen zu benennen.«35 Vielen Maßnahmen des Aktionsplans fehlen verbindliche Zielsetzungen und zeitliche Komponenten zur Umsetzung. Dies verhindert, dass ihr Erfolg tatsächlich messbar und damit die Umsetzung der BRK auch überprüfbar wird. 36
33 Vgl. http://www.netzwerk-artikel-3.de/index.php/vereinte-nationen/102-einfachmach en. 34 Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.): Aktionspläne zur Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention. Positionen der Monitoring-Stelle, Berlin 2010. 35 Vgl. NAP, S. 129. 36 Vgl. BRK-Allianz: Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! Erster Bericht der Zivilgesellschaft.
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Wenige Monate nach dem NAP legte Bundesregierung im Herbst 2011 den ersten Staatenbericht Deutschlands vor.37 Im Gegensatz zu den Vorgaben der Konvention (Artikel 35) war dieser Staatenbericht jedoch nicht durch enge Konsultationen und aktive Einbeziehung der Organisationen von Menschen mit Behinderungen (Art. 4, Absatz 3 BRK) entstanden. Die Zivilgesellschaft erhielt seinerzeit den nahezu fertiggestellten Entwurf des Berichtes mit der Bitte, Beiträge und Änderungswünsche innerhalb von ca. 14 Tagen schriftlich einzubringen. Die Verbände kamen diesem Ansinnen jedoch nicht nach, sondern entschlossen sich zu einem eigenen Bericht, wie in Punkt 2 gleich weiter ausgeführt wird. Der Staatenbericht enthielt nach Ansicht der Zivilgesellschaft auch keine menschenrechtlich begründete Bestandsaufnahme der Umsetzung der Konvention im Berichtszeitraum, sondern bestand lediglich aus einer Erläuterung der gesetzlichen Lage in der Bundesrepublik, die kaum mit differenzierten Daten zur Situation und zur Vielfalt der Lebenslagen von behinderten Menschen unterfüttert war. Dies ist etwas verwunderlich, da fast parallel, im Jahr 2013, der erste Teilhabebericht der Bundesregierung veröffentlicht wurde, der selbstkritisch feststellte: »Die bisherigen Berichte haben sich darauf konzentriert, die in der jeweiligen Legislaturperiode ergriffenen Maßnahmen und Aktivitäten darzustellen. Die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen wurden hingegen nur unzureichend abgebildet. (…) Die Bundesregierung nimmt mit dem Teilhabebericht nun erstmals die tatsächlichen Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen in den Blick. Der Bericht untersucht die Frage, inwiefern Menschen, die beeinträchtigt sind, im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren Beschränkungen ihrer Teilhabechancen erfahren, d. h. dadurch erst behindert werden. Er untersucht also Faktoren, die die Teilhabe einschränken und Umstände, die sich für die Teilhabe als förderlich erweisen.«38
Im Jahr 2016 wurde der Zweite Teilhabebericht veröffentlicht. Die intensive Debatte um die schulische Inklusion, die nach Verabschiedung der UN- BRK im Jahr 2009 begann, immer noch heftig geführt wird und mittlerweile auch die Koalitionsvereinbarungen einzelner Bundesländer erreicht hat, kann an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden, da sie sich einer skizzenhaften Darstellung der Behindertenpolitik, die in diesem Beitrag gewählt wurde,
37 Vgl. https://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/AS/UN _BRK/2011_08_03_staatenbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2. 38 Vgl.
http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-13-
teilhabebericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2, S. 9.
312 | H.-Günter Heiden
entzieht. Die Debatte um schulische Inklusion hatte jedoch auch zur Folge, dass sich der offiziell nicht existente Begriff der »Inklusion« verfestigte: Die »Inklusionstage« des BMAS, die seit 2014 in jährlichem Rhythmus stattfinden oder der »Inklusionsbeirat« bei der/dem Behindertenbeauftragten sind ein deutliches Zeichen dafür. Mittlerweile gerät der Inklusionsbegriff jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven in die Kritik.39 Ein zentraler Debatteninhalt flammte mit dem Inkrafttreten der Konvention auch wieder auf: Die Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Sozialgesetzbuch XII (und damit aus der Sozialhilfe heraus) in das Sozialgesetzbuch IX (hinein in das System der Teilhabe). Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) erstellte 2013 mit Unterstützung von Selbstvertretungsorganisationen dazu einen umfangreichen Vorschlag für ein »Gesetz zur Sozialen Teilhabe« und konnte diesen sogar im Mai 2013 vor der Bundespressekonferenz vorstellen.40 Kampagnen, wie etwa die Petition »Recht auf Sparen«, die die diskriminierenden Regelungen beim Einsatz von Einkommen und Vermögen behinderter Menschen anprangerte,41 machten deutlich, dass enormer Veränderungsdruck bestand. So startete die Bundesregierung im Jahr 2014 mit einem sogenannten »hochrangigen Beteiligungsprozess« die Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Nachdem Ende 2015 aber die ersten Entwürfe eines solchen Gesetzes bekannt wurden, wurde umfangreiche Kritik geäußert, die sich in Aktionen wie #nichtmeingesetz und phantasievollen Demonstrationen, wie eingangs bereits beschrieben, niederschlug. 2. Aktivitäten der Zivilgesellschaft Da die Bundesregierung im Herbst 2011 ihren ersten Aktionsplan veröffentlicht und den vorgeschrieben Staatenbericht an den Genfer UN-Ausschuss abgeliefert hatte, war es an der Zeit für die Zivilgesellschaft. Auf Initiative der MonitoringStelle fand am 30. Juni 2011 ein Kick-off-Workshop statt, der den Startschuss für den Parallelbericht der Zivilgesellschaft bilden sollte. Das NETZWERK
39 Vgl. etwa Bernd Ahrbeck (2014): Inklusion. Eine Kritik (Brennpunkt Schule) oder Uwe Becker (2015): Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. 40 Vgl.
http://www.isl-ev.de/index.php?option=com_content&view=article&id=772:fo
rum-behinderter-juristinnen-und-juristen-stellt-gesetz-zur-sozialen-teilhabe-vor&catid =90. 41 Vgl. https://www.change.org/p/recht-auf-sparen-und-f%C3%BCr-ein-gutes-teilhabege setz-jetzt-sch%C3%A4uble-und-nahles.
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ARTIKEL 3 e.V. erklärte seine Bereitschaft, diesen Prozess zu koordinieren und begann mit der Bildung einer Arbeitsgruppe, die in einem halbjährigen Arbeitsprozess ein Statut für eine »BRK-Allianz« erstellte. Am 19. Januar 2012 gründete sich dann diese Allianz mit insgesamt 78 Organisationen, die im Wesentlichen das Spektrum der behindertenpolitisch arbeitenden Verbände in Deutschland repräsentierten.42 Sie kamen vor allem aus dem Bereich der Selbstvertretungsverbände von Menschen mit Behinderungen43, der Behindertenselbsthilfe und der Sozialverbände. Ebenso waren die Wohlfahrtsverbände, die Fachverbände der Behindertenhilfe und der Psychiatrie vertreten. Ferner arbeiteten Berufs- und Fachverbände aus dem Bereich der allgemeinen Schule und der Entwicklungszusammenarbeit sowie Elternverbände und Gewerkschaften mit. Im Verlauf des Jahres 2012 erarbeite die BRK-Allianz in zehn Teilbereichsgruppen die Inhalte des Parallelberichtes, der vom Allianz-Plenum am 17. Januar 2013 verabschiedet und Ende März 2013 sowohl Tom Koenigs, dem seinerzeitigen Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses des Bundestages, als auch einen Tag später der damaligen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen überreicht wurde. Die BRK-Allianz begleitete dann intensiv in den beiden folgenden Jahren das gesamte Staatenprüfungsverfahren und berichtete auch vor dem Ausschuss in Genf, unmittelbar vor dem »konstruktiven Dialog«, den der Ausschuss mit der deutschen Regierung am 26. und 27. März 2015 führte. Zum Abschluss des Staatenprüfungsverfahrens beschloss der UN-Ausschuss die »Abschließenden Bemerkungen« für Deutschland.44 Damit endete das Mandat der Allianz im Juni 2015. Die »Abschließenden Bemerkungen« vom 13. Mai 2015, forderten unter anderem ausdrücklich die Partizipation und Stärkung der Selbstvertretungsorganisationen, im Englischen auch DPOs (Disabled Persons Organziations) genannt. Mit dem § 19 »Förderung der Partizipation« im novellierten Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und der dazugehörigen Förderrichtlinie hat der deutsche Gesetzgeber im Juli 2016 dieser Forderung bereits entsprochen. Was genau unter einer DPO, einer Selbstvertretungsorganisation, zu verstehen ist, hatte der eben erwähnte Ausschuss bereits im Jahr 2014 klar formuliert: »The Committee understands disabled persons organizations to be those comprised by a majority of persons with disabilities – at least half of its membership –, governed, led and di-
42 http://www.brk-allianz.de/. 43 Die BRK-Allianz verwendet in diesem Bericht in der Regel den Begriff »Menschen mit Behinderungen« und folgt damit dem Sprachgebrauch der UN-BRK. 44 Vgl. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G15/096/31/PDF/G1509631 .pdf?OpenElement
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rected by persons with disabilities.”45 Nach diesen Vorgaben schlossen sich am 2. Dezember 2015 in Berlin ein Dutzend Behindertenverbände zur LIGA Selbstvertretung (DPO Deutschland) zusammen, um die politische Interessenvertretung durch die unmittelbar Betroffenen zu stärken und sich von diagnosespezifischer Selbsthilfe zu lösen.46 Parallel zur Arbeit der BRK-Allianz organisierten Aktivist*innen die »Erste Mad and Pride Parade« in Berlin am 13. Juli 2013. Unter dem Motto »Küsst den Wahnsinn wach, liebt Krummbeine und Spasmus, begehrt Krücken und Katheter!« zelebrierten Tausende offensiv ihre Beeinträchtigung.47 In Berlin fand, nur wenige Wochen später, am 4. Oktober 2013, die weltweit erste TaubblindenDemonstration statt. Die Demonstrant*innen zogen an symbolische Eisenkugeln gekettet durch die Straßen – ein Bild dafür, dass Taubblindheit wie Isolationshaft wirkt, wenn die nötige Unterstützung fehlt. Bleibt schlussendlich noch die Gründung des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung am 12. Juni 2015 in Berlin zu erwähnen, bei dem sich über 200 Wissenschaftler*innen mit und ohne Behinderung sowie Organisationen zusammenfanden, um vernetzt im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention die Teilhabe behinderter Menschen voranzubringen.48 3. Rechtssetzung Die bereits erwähnten »Abschließende Bemerkungen« des UN-Ausschusses sind zwar nicht rechtsverbindlich, stellen jedoch eine Art Leitlinie für die bundesdeutsche Behindertenpolitik dar. So zitiert der NAP 2.0, der zweite Aktionsplan der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, zwar ausführlich Textstellen aus diesem UN-Dokument. Doch durch die bloße Wiedergabe des Textes wird noch keine kohärente und menschenrechtsorientierte Politik erreicht, sodass nach meiner Einschätzung auch der NAP 2.0 keine wirkliche Neuorientierung der Behindertenpolitik in Sinne der UN-BRK bewirkt. Einige Fortschritte durch die »Abschließenden Bemerkungen« sind jedoch bei der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) im Jahr 2016 erreicht worden: So ist das Konzept der »Angemessenen Vorkehrungen« (nach Artikel 2 der UN-BRK) definiert und deren Verweigerung als Benachteili-
45 Vgl. CRPD/C/11/2, Annex II: Guidelines on the Participation of Disabled Persons Organizations (DPOs) and Civil Society Organizations in the work of the Committee. 46 Vgl. http://liga-selbstvertretung.de/. 47 Vgl. http://www.pride-parade.de/die-parade/parade-2013. 48 Vgl. https://teilhabeforschung.bifos.org/.
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gung verankert worden. Die Förderung der Partizipation von Selbstvertretungsorganisationen wurde, wie vorstehend bereits erwähnt, gesetzlich vorgeschrieben49 und mit einem Partizipationsfonds finanziell untersetzt. Eine Schlichtungsstelle nach österreichischem Vorbild bei Verstößen gegen das BGG wurde bei der Behindertenbeauftragten des Bundes eingerichtet, leider nur in Bezug auf öffentliche Träger und nicht (wie in Österreich) auch bei privaten Anbietern. Ab Januar 2018 sind auch die Regelungen zur Verwendung von Leichter Sprache verstärkt worden. Schlussendlich wurde, wie bereits angerissen, die »Bundesfachstelle Barrierefreiheit« als Nachfolgeorganisation des »Bundeskompetenzzentrums Barrierefreiheit«, das von Behindertenverbänden als Projekt getragen wurde, gesetzlich eingeführt. Was entgegen dem starken Protest aus der Zivilgesellschaft immer noch nicht gelang, war die Einführung umfassender Barrierefreiheit für Anbieter des Privatrechts. Zwar hatte die Bundesregierung einer entsprechenden Empfehlung der USA im Rahmen des UPR-Prozesses (Universal Periodic Review) der Vereinten Nationen im Jahr 2013 zugestimmt, die Umsetzung aber nicht gesetzlich geregelt.50 Eine Novellierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG), die in der aktuellen 19. Legislaturperiode auf der Agenda der zivilgesellschaftlichen Akteure steht, könnte in diesem Punkt endlich auch Bewegung bringen. Das Ende 2016 verabschiedete BTHG ist ein Artikelgesetz 51, das in mehreren zeitlichen Stufen vor allem das Sozialgesetzbuch IX komplett umsortiert. Eine ausführliche Darstellung und Bewertung dieses Gesetzes ist im Rahmen dieses Artikels ebenfalls nicht möglich, da Kernteile des Gesetzes erst 2020 bzw. 2023 in Kraft treten und bereits in Kraft getretene Regelungen wissenschaftlich begleitet werden. Viel Resonanz hat die Einführung der »Ergänzenden unabhängigen Beratung« ab Anfang 2018 durch den neuen § 32 des SGB IX-neu hervorgerufen, wodurch einige hundert Beratungsstellen nach dem Konzept des Peer Counseling gefördert werden sollen. Leider ist diese Vorschrift bis Ende 2022 befristet und müsste per Bundestagsbeschluss entfristet werden, um nachhaltig wirken zu können. Als stark umstritten im BTHG gelten beispielsweise die (noch nicht in Kraft getretenen) Vorschriften zum sogenannten »Zwangspoolen«, im Gesetzesdeutsch »gemeinsam zu erbringende« Leistungen genannt. Ferner stehen geplan-
49 Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/__19.html 50 Vgl. http://www.kobinet-nachrichten.org/de/1/nachrichten/27709/Deutschland-antwor tet-dem-UN-Menschenrechtsrat.htm. 51 Vgl. https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/gesetz/reformstufen/.
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te Vorschriften, die den eingliederungshilfeberechtigten Personenkreis umdefinieren, in der Kritik.52 Auf Ebene der Bundesländer ist im Bereich der völkerrechtswidrigen Wahlrechtsauschlüsse bestimmter Gruppen behinderter Menschen Bewegung gekommen. Die Landeswahlgesetze in NRW und Schleswig-Holstein sind geändert worden und im Koalitionsvertrag von SPD und CDU in Niedersachsen aus dem Jahr 2017 ist eine beabsichtigte Wahlrechtsänderung festgehalten. Auf Bundesebene besteht in dieser Frage derzeit noch Stillstand. Ebenfalls noch in der »Warteschleife« auf europäischer Ebene befindet sich der geplante »European Accessibility ACT« (EEA), der die barrierefreie Gestaltung vor allem von Produkten und Dienstleistungen vorsieht.53
SCHLUSS UND AUSBLICK Zusammenfassen will ich meine Ausführungen in drei Punkten: Auf Ebene der politischen Debatten stehen wir derzeit im Übergang vom medizinischen Modell von Behinderung zum menschenrechtlichen Modell, wobei das traditionelle Modell noch dominierend ist. Im Alltagssprachgebrauch werden die Termini »Beeinträchtigung« und »Behinderung« synonym und damit unscharf verwandt – ein verbaler Verweis auf die UN-BRK existiert zwar in der Regel, wobei das Etikett der »Inklusion« auf viele Reform- oder bereits existierende Ansätze geklebt wird. Eine umfassende menschenrechtsorientierte Umorientierung bundesdeutscher Behindertenpolitik steht jedoch aus. Recht neu ist die Verknüpfung der Merkmale »Migrationshintergrund« und »Behinderung« oder noch schärfer von »Rassismus« und »Ableismus«54. Erste größere Veranstaltungen haben stattgefunden55, Publikationen wurden veröffentlicht. Hier stehen die Debatten aber m. E. noch ganz am Anfang. Auf Ebene der Zivilgesellschaft hat sich – spätestens mit der Gründung der LIGA Selbstvertretung – eine Abkehr von einer traditionell medizinisch oder
52 Vgl. dazu etwa Heiden (2017). 53 Vgl. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=1202. 54 Außerhalb der Disability Studies steht die Rezeption des Konzeptes von »Ableismus« in der Zivilgesellschaft erst ganz am Anfang. Siehe dazu etwa: https://www.islev.de/attachments/article/1687/Ableismus%20ISL%20Brosch%C3%BCre.pdf. 55 Vgl. dazu etwa https://www.behindertenbeauftragte.de/DE/Wissenswertes/Publika tionen/publikationen_node.html;jsessionid=D58A7F39FBA25BC65521AB513AAC F1BD.2_cid355.
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diagnosespezifisch hergeleiteten Organisationsform der Selbsthilfeorganisationen herausgebildet, die sich bürger- und menschenrechtsrechtsorientiert versteht und auch der internationalen Definition von Disabled Persons Organizations (DPOs) entspricht. Außerdem ist die Einsicht in die Notwendigkeit verbandsübergreifender Kooperation gewachsen, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig hat eine Herausdifferenzierung spezieller Interessenorganisationen stattgefunden, die sich nicht global mit »der« Behindertenpolitik befassen, sondern sich auf einzelne Aspekte fokussieren, etwa auf die Elternassistenz. Auch gibt es erste Organisationen von behinderten Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Damit einher geht ein zunehmendes Selbstbewusstsein und Empowerment der behinderten Akteur*innen in Bezug auf ihre Rechte und die offensive Nutzung sozialer Medien. Der Deutsche Behindertenrat als reines Aktionsbündnis sträubt sich dagegen noch immer gegen eine notwendige Professionalisierung.56 Auf Ebene der Rechtssetzung konnte in den letzten drei Jahrzehnten eine noch unvollständige Flankierung des Sozialrechts durch das Gleichstellungsund Menschenrecht errungen werden, bei der die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen im Vordergrund steht.57 Gleichzeitig sind immer wieder Abwehrkämpfe im Rahmen von anstehenden Gesetzesänderungen erforderlich und bei der aktuellen Umsetzung des BTHG droht ein »Roll Back« für das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen auf materieller Ebene58. »Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren.« So lautet ein bekanntes Zitat, das Bertolt Brecht zugeschrieben wird. Die Bürgerund Menschenrechtsbewegung behindert werdender Frauen und Männer hat gekämpft und gegen viele Widerstände die Bundesrepublik Deutschland ein Stück weit verändert. Die aktuellen Diskussionen deuten darauf hin, dass dieser Kampf weitergehen wird.
56 Vgl. H.-Günter Heiden: Drei Säulen wohnen ach in meiner Brust. In: RehaTreff 4/2008, S. 8 ff. 57 Vgl. Frehe/Welti (Hg.): Behindertengleichstellungsrecht. 3. Auflage Baden-Baden 2018. 58 H.-Günter Heiden: Menschenrechte Behinderter unter Kostenvorbehalt. Wie das neue Bundesteilhabegesetz echte Teilhabe verhindert. In: Till Müller-Heidelberg et al. (Hg.): Grundrechte-Report 2017. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt am Main 2017, S. 59 ff.
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Heiden, H.-Günter: Menschenrechte Behinderter unter Kostenvorbehalt. Wie das neue Bundesteilhabegesetz echte Teilhabe verhindert, in: Till MüllerHeidelberg et al. (Hg.): Grundrechte-Report 2017. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Frankfurt am Main 2017. Hermes, Gisela/Köbsell, Swantje (Hg.): Behinderung neu denken! Dokumentation der Sommeruniversität, Kassel 2003. Köbsell, Swantje: Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Neu-Ulm 2012 Mürner, Christian/Sierck, Udo: Der lange Weg zur Selbstbestimmung. Ein historischer Abriss. In: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, Bonn 2015. S. 25 ff NETZWERK ARTIKEL 3 (Hg.): Einfach Europa!? Einführung in die europäische und internationale Behindertenpolitik, Berlin 2006. NETZWERK ARTIKEL 3 (Hg.): Schattenübersetzung. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Behindertenrechtskonvention – BRK, Berlin 2. Auflage 2010 NETZWERK ARTIKEL 3 (Hg.): Deutschland auf dem Prüfstand vor dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Berlin 2017. Vereinte Nationen: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015. UN-Dokument CRPD/C/CO/DEU/1.
Behinderte Frauen: Sehr kämpferisch, sehr erfolgreich und sehr arm Sigrid Arnade
In einen Rückblick zur Behindertenbewegung gehört selbstverständlich die spezielle Betrachtung der Bewegung behinderter Frauen. Diese durfte ich etwa seit Mitte der 1980er Jahre des vorigen Jahrhunderts miterleben und teilweise mitgestalten. Deshalb skizziere ich hier die aus meiner subjektiven Sicht wichtigen Stationen im Zusammenhang mit meinem eigenen Erleben und Wirken. So hoffe ich, die vergangenen 30 Jahre mit dem Fokus auf Frauen mit Behinderungen 1 für die Leser*innen lebendig werden zu lassen.
1986: BEHINDERTE FRAUEN – UNSICHTBAR Kurz vor meinem 30. Geburtstag sah ich mich gezwungen, statt meiner Beine künftig einen Rollstuhl zur Fortbewegung zu benutzen. Das war selbstverständlich mit vielerlei Umstellungen verbunden, angefangen von der Aufgabe meines erlernten Berufs als Tierärztin und dem Einstieg in den Journalismus über die Suche nach einer neuen Wohnung und die Veränderungen meiner Freizeitgewohnheiten. Als bekennende Feministin beschäftigte mich aber auch die Frage nach der Lebenssituation behinderter Frauen im Vergleich zu behinderten Männern. Im Frauenbuchladen fand ich nur ein einziges Werk: eine wissenschaftli-
1
Die Begriffe »behinderte Frauen«, »Frauen mit Behinderung« und »Frauen mit Behinderungen« werden in diesem Beitrag synonym verwendet, s.a. Hamburger Programm der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL), Fußnote 4, Link: http://www.isl-ev.de/attachments/article/962/Hamburger%20Pro gramm_Druckvers.pdf (5.11.2017).
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che Abhandlung zum Thema2. Bald entdeckte ich auch noch ein Frauenkapitel in einem Buch, das von behinderten Menschen als Reaktion auf das »UNO-Jahr der Behinderten« 1981 herausgegeben worden war und ein Buch, das behinderte Frauen selbst geschrieben hatten3. In diesem Werk wird deutlich, dass es für viele Frauen mit Behinderung eine prägende und verletzende Erfahrung ist, primär nicht als Frau, sondern als geschlechtsloses behindertes Wesen wahrgenommen zu werden. Das kenne ich auch, seit ich Rollstuhlfahrerin bin: War ich zunächst froh darüber, dass mich niemand mehr mit Blicken halb auszog oder wie zufällig Po oder Brüste anzugrapschen versuchte, irritierte es mich zunächst, nicht mehr als Frau, sondern nur noch als Rollstuhl mit Inhalt wahrgenommen zu werden. Bald wich die anfängliche Irritation zunehmendem Ärger. Auch wenn es einige wenige Publikationen behinderter Frauen gab, blieben sie in der gesamten deutschen Behindertenwelt weitgehend unsichtbar. Zeitschriften im Behindertenbereich hatten (und haben teilweise bis heute) Titel wie »Der Paraplegiker« oder »Der Dialysepatient«; Infoschriften der Bundesregierung titelten beispielsweise »Der Schwerbehinderte und seine Rechte«; im Behindertenrecht kamen Frauen nicht vor; der behinderte Mensch schlechthin war geschlechtslos oder bestenfalls männlich. In Behindertenverbänden wurden die Entscheidungen hauptsächlich von Männern getroffen und es kam ihnen nicht in den Sinn, dass sich die Lebenssituation behinderter Frauen von der behinderter Männer unterscheidet. Diesbezüglich waren alle gleich: die traditionellen Sozialverbände, die Selbsthilfeverbände und die gerade aufkeimenden ersten Selbstvertretungsinitiativen. Eine Ausnahme stellten lediglich die nach 1981 entstandenen formlosen Zusammenschlüsse behinderter Frauen dar, die sich selbst als Krüppelfrauengruppen bezeichneten, sich aber nach einigen Jahren wieder auflösten.
1991/1992: BEHINDERTE FRAUEN – DOPPELT DISKRIMINIERT Das Schlagwort der doppelten Diskriminierung machte die Runde: Im Herbst 1991 organisierte ich für das Forumsprogramm während der REHA-Messe in Düsseldorf einen Tag zum Thema »Frauen mit Behinderung«. In drei Veranstal-
2
Ulrike Schildmann: Lebensbedingungen behinderter Frauen: Aspekte ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung, Gießen 1983.
3
Carola Ewinkel/Gisela Hermes (Hg.), Geschlecht: behindert; besonderes Merkmal: Frau, München 1986.
Behinderte Frauen | 323
tungen ging es zunächst um genetische Fragestellungen, dann um die Situation behinderter Frauen auf dem Arbeitsmarkt und schließlich um sexualisierte Gewalt. Etliche Medien berichteten zur doppelten Diskriminierung behinderter Frauen. So bezeichneten die Betroffenen selbst ihre Situation, weil sie sowohl als Frauen als auch als behinderte Menschen benachteiligt werden. Dabei war »doppelt« nicht im numerischen Sinne gemeint, sondern sollte die mehrfache Diskriminierung ausdrücken. 1992 erschien auch mein Buch mit dem Titel »Weder Küsse noch Karriere« im Fischer Verlag in der Reihe »Die Frau in der Gesellschaft« 4. Dem Literaturmangel zu dem Thema wollte ich etwas entgegensetzen. In dem Buch portraitiere ich zwölf von Geburt oder Kindesbeinen an behinderte Frauen. Es war nicht ganz unproblematisch, mit dem Buchkonzept in die Frauenreihe des Verlags aufgenommen zu werden, denn zunächst schlug man mir die Krisenreihe vor. Da sich unter den Protagonistinnen aber keine Frau findet, die nicht behindert sozialisiert wurde und später durch Krankheit oder Unfall behindert wurde, konnte ich mich letztlich durchsetzen. Angeregt durch die REHA-Veranstaltung in Düsseldorf organisierte die damalige hessische Frauenministerin Prof. Heide Pfarr eine Tagung zum Thema behinderte Frauen, die ich moderieren durfte. Sie regte die Bildung des ersten Netzwerks behinderter Frauen auf Landesebene in Hessen an, das durch eine hauptamtliche Kraft unterstützt wurde. Weitere Netzwerkgründungen folgten auf Landesebene. 1995 war ich an der Gründung vom »Netzwerk behinderter Frauen Berlin e.V.« beteiligt, in dessen Vorstand ich die kommenden 16 Jahre tätig war. Generell machten wir als behinderte Frauen die Erfahrung, dass wir bei Frauenpolitikerinnen mit unseren Anliegen recht schnell auf offene Ohren stießen. Das erleichterte die Gründung von Netzwerken auf Landes- und später auf Bundesebene sowie die Einflussnahme auf politische Prozesse. Im Gegensatz dazu wurden wir in der Behindertenszene, selbst in der fortschrittlichen Gleichstellungsbewegung, lange Zeit entweder ignoriert oder uns wurde eine Spaltung der Bewegung unterstellt. Beispielsweise hatte sich bereits 1990 der »Initiativkreis Gleichstellung Behinderter« gegründet, der sich für ein Antidiskriminierungsgesetz nach USamerikanischem Vorbild stark machte und für eine Grundgesetzergänzung zum Diskriminierungsmerkmal Behinderung eintrat. In dem reinen Männerbündnis fiel es niemandem auf, dass eine wesentliche Perspektive fehlte. Ab 1992 wirkte ich als erste Frau mit.
4
Sigrid Arnade: Weder Küsse noch Karriere. Erfahrungen behinderter Frauen, Frankfurt am Main 1992.
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1996-99: BEHINDERTE FRAUEN – ORGANISIERT Für die erste europäische Konferenz behinderter Frauen, die im Sommer 1996 in München stattfand, organisierte und koordinierte ich die Pressearbeit. Ein voller Erfolg, denn dank des Sommerlochs in der Medienwelt und einiger engagierter Kolleginnen von Nachrichtenagenturen wurde landauf und landab über die Situation von Frauen mit Behinderung berichtet. Wir deutschen Frauen mit Behinderung ergriffen in München die Gelegenheit, uns zu einem Bundesnetzwerk behinderter Frauen zusammenzuschließen, aus dem 1998 der Verein »Weibernetz e.V. – Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung« hervorging. In den ersten Weibernetzjahren war ich dort im Vorstand aktiv. Seit der Gründung des Deutschen Behindertenrats (DBR) 1999 hat das Weibernetz dort einen festen Sitz im Arbeitsausschuss, den ich häufig wahrnahm. Inzwischen hatte das Thema auch die Bundespolitik erreicht: 1997 beantwortete die Bundesregierung die erste Große Anfrage zur »Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen«, eingebracht von der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen5. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) wurde eine Studie zur Lebenssituation behinderter Frauen erstellt6. Vom Herbst 1999 an förderte das BMFSFJ für drei Jahre die »Bundesorganisationsstelle behinderte Frauen«, die weitere Studien erstellte, Informationsschriften veröffentlichte und in einem Rechtsprojekt die rechtlichen Handlungsbedarfe zur Verbesserung der Situation behinderte Mädchen und Frauen untersuchte. Im Bundesland Berlin trat Ende Mai 1999 das erste Landesgleichstellungsgesetz für Behinderte der Bundesrepublik in Kraft, das »Gesetz über die Gleichberechtigung von Menschen mit und ohne Behinderung« (LGBG). Zwar lässt dieses Gesetz aus behindertenpolitischer Sicht vieles zu wünschen übrig, aber etliche der Forderungen des Netzwerks behinderter Frauen Berlin e.V. wurden dank der Unterstützung durch die frauenpolitischen Sprecherinnen der Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses und der zuständigen Frauensenatsverwaltung in diesem Gesetz umgesetzt. So enthält das LGBG einen Frauenfördergrundsatz.
5
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk u.a. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen »Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen«, Bundestags-Drucksache 13/7987, 06.06.1997.
6
Eiermann, Nicole/Häußler, Monika/Helfferich, Cornelia: Live, Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung: Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen, hrsg. v. BMFSFJ, Stuttgart 2000.
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Damit ist das Berliner LGBG das weltweit erste Gleichberechtigungs- beziehungsweise Gleichstellungsgesetz bezogen auf behinderte Menschen, das die Lebenswirklichkeit von Frauen berücksichtigt. Im August 1999 erschien in Berlin auch ein Ratgeber für behinderte Mädchen und Frauen, den ich im Auftrag der Frauensenatsverwaltung geschrieben hatte7. 1994 hatte ich einen vergleichbaren Ratgeber bereits für das Bundesland Hessen im Auftrag des dortigen Frauenministeriums verfasst 8.
2000-2003: BEHINDERTE FRAUEN – GESETZLICHE VERANKERUNGEN Als im Herbst 2000 das novellierte Schwerbehindertengesetz in Kraft trat, kam erstmals das Wort »Frau« in einem deutschen Gesetz des Schwerbehindertenund Rehabilitationsrechts vor. Das war ein riesiger Erfolg, zu verdanken der unermüdlichen Arbeit der verschiedenen Frauennetzwerke und des oben erwähnten Rechtsprojekts. Das Schwerbehindertengesetz wurde bald Teil eines neuen Sozialgesetzbuchs: Das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) 9 wurde als Dachgesetz über die existierenden Sozialgesetzbücher zu Rehabilitation und Teilhabe konzipiert und gilt seit Sommer 2001. Es entstand in einem umfassenden Beteiligungsprozess, in den auch die Netzwerke behinderter Frauen einbezogen wurden. So gelang es, an vielen Stellen des Gesetzes Referenzen zu behinderten Frauen mit und ohne Kinder zu verankern. Bereits in § 1 werden bei der Zieldefinition des Gesetzes »behinderte und von Behinderung bedrohte Frauen und Kinder« genannt. Auch im Rehabilitationsprozess wird seit Einführung des SGB IX die Situation von Müttern mit Behinderung berücksichtigt. Des Weiteren enthält das SGB IX die Pflicht, die Interessenvertretungen behinderter Frauen zu beteiligen, beispielsweise bei der Erarbeitung der sogenannten »Gemeinsamen Empfehlungen«, die von den Rehabilitationsträgern erarbeitet werden.
7
Arnade, Sigrid: Ratgeber für behinderte Mädchen und Frauen in Berlin, hrsg. v. Senatsverwaltung für Arbeit, berufliche Bildung und Frauen, Berlin 1999.
8
Arnade, Sigrid: Durchhalten. Dranbleiben. Und sich trauen. Dann haben wir am ehesten eine Chance. Lebenssituation und Alltagserfahrungen behinderter Frauen, hrsg. v. Hessisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung, Wiesbaden 1994.
9
Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen.
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Die Forderungen behinderter Frauen fanden in einem weiteren Gesetz aus der ersten Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung Eingang und zwar im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002. Nachdem 1994 das Grundgesetz in Artikel 3 um den Satz »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« ergänzt worden war, forderten behinderte Menschen und ihre Verbände schon lange die Umsetzung dieses Verfassungsanspruchs in einzelgesetzlichen Normen. 1998 griff die Bundesregierung in der 14. Legislaturperiode den Gedanken in ihrem damaligen Koalitionsvertrag auf und formulierte: »Der grundgesetzliche Gleichstellungsauftrag wird in ein Gesetz umgesetzt«. Anfang 2000 legte zunächst das Forum behinderter Juristinnen und Juristen einen eigenen Gesetzentwurf vor, in den etliche Forderungen behinderter Frauen aufgenommen wurden. Dieser diente dann als Grundlage für die Gesetzeserarbeitung, so dass das BGG nicht nur einen Frauenfördergrundsatz enthält, sondern auch eine geschlechtsdifferenzierte Berichtspflicht sowie die Beseitigung geschlechtsspezifischer Benachteiligungen als eine Aufgabe des oder der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. In der zweiten rot-grünen Koalitionsvereinbarung vom Oktober 2002 wurden die Erfolge der vorigen Legislaturperiode aufgegriffen und weiterentwickelt. Dort hieß es: »Für Frauen mit Behinderung sind in der letzten Legislaturperiode vielfältige Beteiligungsrechte im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und im Bundesbehindertengleichstellungsgesetz geschaffen worden. Wir wollen dafür sorgen, dass diese Beteiligungsrechte auch über ein Bundesnetzwerk gesichert werden.« So wird seit 2003 das Projekt »Politische Interessenvertretung behinderter Frauen« des Weibernetz e.V. durch das BMFSFJ gefördert, so dass das vielfältige ehrenamtliche Engagement behinderter Frauen endlich durch hauptamtliche Strukturen flankiert wurde. Ebenfalls 2003 erschien die erste Auflage einer Informationsbroschüre10 für behinderte Mädchen und Frauen, die ich im Auftrag des BMFSFJ geschrieben hatte. Sie war auch als barrierefreie Version im Internet verfügbar und wurde in Leichte Sprache übersetzt. Ende 2003 zeitigte eine lange währende Kampagne behinderter Frauen endlich einen ersten Erfolg: Das von uns Frauen mit Behinderung so genannte »Zwei-Klassen-Sexualstrafrecht« wurde zumindest in Bezug auf den Straftatbestand der Vergewaltigung reformiert. Während vorher der Strafrahmen für die Vergewaltigung einer als »widerstandsunfähig« geltenden Frau deutlich unter dem sonst für Vergewaltigungen vorgesehenen Strafrahmen lag, gibt es diese Ungerechtigkeit seither nicht mehr. Für sexuelle Übergriffe »unterhalb« einer
10 Arnade, Sigrid: Einmischen Mitmischen. Informationsbroschüre für behinderte Mädchen und Frauen, hrsg. v. BMFSFJ Berlin 2003.
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Vergewaltigung wie Nötigung galten jedoch immer noch unterschiedliche Strafrahmen und alle Proteste dagegen blieben ungehört, bis es in Folge der Kölner Silvesternacht 2016/2017 plötzlich möglich war, 2016 eine Reform des Sexualstrafrechts zu verabschieden, das jegliche Ausprägungen sexueller Übergriffe konsequent ahndet und Frauen mit Behinderung nicht länger benachteiligt. Nun war ich etwas zu schnell – also zurück zur Chronologie.
2004-2006: BEHINDERTE FRAUEN – UND DIE UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION 11 Seit 2004 bestimmt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) mein politisches Leben, zunächst das Ringen um die Verankerung der Belange behinderter Frauen, dann der Streit um eine korrekte Übersetzung ins Deutsche und seit ihrem In-Kraft-Treten in der Bundesrepublik 2009 engagiere ich mich für die Umsetzung der Konventionsvorgaben. Allerdings habe ich erst im Frühjahr 2004 so richtig wahrgenommen, dass eine UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verhandelt wurde. Zu diesem Zeitpunkt erhielten wir im Deutschen Behindertenrat (DBR) die erste Entwurfsfassung, die von einer Arbeitsgruppe im Januar 2004 erarbeitet worden war. Als ich feststellte, dass Frauen- und Genderreferenzen in diesem Entwurf fast vollständig fehlten, war ich empört. Ich war empört, weil bekannt ist, dass Frauen mit Behinderungen besonders benachteiligt sind und meist unerwähnt und damit unsichtbar bleiben. Dass dasselbe nun auch in einer Menschenrechtskonvention über die Rechte behinderter Menschen zu passieren drohte, hat mich protestieren lassen. Der DBR verfasste eine Stellungnahme zum Entwurfstext, den die Frauenreferentin beim Sozialverband Deutschland – SoVD e.V., Sabine Häfner, mit einem vierseitigen Papier aus frauenpolitischer Sicht ergänzte. Im September 2004 erhielt ich durch Weibernetz e.V. die Möglichkeit, am Gipfeltreffen von »Disabled Peoples’ International – DPI« in Winnipeg in Kanada teilzunehmen. Auf dem Programm stand auch eine Diskussion mit zwei maßgeblich an den Verhandlungen zur Behindertenrechtskonvention beteiligten
11 Textteile dieses Abschnitts entstammen meinem Beitrag »Wir waren viele und wir waren überall.« Ein persönlicher Rückblick zur Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention, in: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 223-229.
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Botschaftern. Also packte ich die DBR-Stellungnahmen ins Reisegepäck. Bei der Diskussion in Winnipeg meldete ich mich dann zu Wort und machte auf die mangelnde Berücksichtigung der Lebenssituation behinderter Frauen aufmerksam. Die angereisten Botschafter hielten dagegen: Dann könne ja jede Behindertengruppe kommen und spezielle Berücksichtigung fordern, hieß es. Ich versuchte zu verdeutlichen, dass Frauen mit Behinderungen keine Gruppe sind, sondern dass es sich mindestens um die Hälfte der Personen handelt, für die die Konvention gedacht ist. Glücklicherweise wurde ich von vielen Frauen aus allen Teilen der Welt unterstützt. Am Ende versprachen die Botschafter, unsere Argumente in den Verhandlungsprozess einzubringen. Versorgt mit Kopien der DBRStellungnahmen reisten sie wieder ab. Eine Kampagne wird geboren Anschließend unterhielt ich mich mit einer Kanadierin, die mich in der Diskussion unterstützt hatte. Wir waren uns einig, dass die Versprechen der Botschafter nicht ausreichten, sondern dass die Initiative für eine frauenfreundliche Konvention von uns selbst ausgehen müsse. Abends im Hotelzimmer trank ich noch mit meinem Lebensgefährten, der mich als Assistent begleitete, einen Schluck Wein. Es war wohl gegen Mitternacht, als ich die Idee hatte, wir sollten eine Kampagne zur Sichtbarmachung behinderter Frauen in der UN-Konvention starten. Zurück in Deutschland rief ich Sabine Häfner, die Frauenreferentin des SoVD e.V., an und erzählte ihr von den Erlebnissen in Winnipeg und meiner Idee. Sie war sofort begeistert. So wurde die Kampagne »Behinderte Frauen in der UNKonvention sichtbar machen!« vom NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. und vom SoVD e.V. ins Leben gerufen. Wir arbeiteten mit einer dreisprachigen Homepage (deutsch/englisch/spanisch), sammelten zunächst Unterschriften für unser Anliegen und veröffentlichten sie auf der Website12. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Kampagne von rund 500 Einzelpersonen und knapp 100 Organisationen aus etwa 30 Ländern unterstützt. Alle Verbände des DBR hatten unterschrieben, und auch die European Women´s Lobby, der Zusammenschluss von Frauenorganisationen auf europäischer Ebene, sowie der Deutsche Frauenrat unterstützten das Anliegen. Außerdem erarbeiteten wir Ergänzungsvorschläge zur Konvention und machten Pressearbeit. Ideell und finanziell wurden wir dabei vom BMFSFJ unterstützt, damit wir unser Netzwerk ausdehnen konnten. Im Frühjahr 2005 bekam ich von DPI den Auftrag, ein Papier zur Einbeziehung von Frauen in die UN-Konvention zu erarbeiten. Sabine Häfner und ich
12 Link: www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/index.php (29.10.2017).
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teilten uns die Arbeit. Das Werk mit dem Titel »Towards visibility of women with disabilities in the UN Convention«13 besteht aus drei Teilen: Wir sind erstens auf die Situation von Frauen mit Behinderungen weltweit eingegangen und haben zweitens existierende UN-Dokumente auf ihre Relevanz für behinderte Frauen überprüft. Im dritten Teil werden Ergänzungsvorschläge vorgestellt, wobei wir teilweise Anregungen anderer Staaten unterstützten, teilweise neue Formulierungen vorschlugen. Dabei bedachten wir, dass die südkoreanische Regierungsdelegation vorgeschlagen hatte, den Konventionsentwurf durch einen eigenen Frauenparagrafen zu ergänzen. Wir wussten aber auch, dass die Mitgliedsstaaten der EU und andere westliche Länder entweder gänzlich dagegen waren, Frauen in der Konvention zu erwähnen, oder den Ansatz des Gender Mainstreamings favorisierten, also die Verankerung von Frauenreferenzen in entscheidenden Artikeln. Auf alle Fälle sprachen sie sich gegen einen gesonderten Frauenartikel aus. Deshalb haben wir in der Zusammenfassung unseres Papiers, das im Juli 2005 veröffentlicht wurde, den »twin-track approach« (ein zweigleisiges Vorgehen mit einem eigenen Frauenartikel und Genderreferenzen in weiteren wichtigen Artikeln) empfohlen und damit aus dem »entweder oder« ein »sowohl als auch« gemacht. Dieser Ansatz überzeugte letztlich und wurde realisiert. Bis dahin war es allerdings noch ein weiter mühsamer Weg. Als im Sommer 2005 das Thema »Frauen mit Behinderungen« bei den Verhandlungen zur UNBRK bei den Vereinten Nationen in New York thematisiert wurde, war ich dank einer Förderung des damaligen Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung mit meinem Lebensgefährten als Assistent dabei. Die Position der Nichtregierungsorganisationen (NROs) wurde bei den Verhandlungen zur Behindertenrechtskonvention beachtet und sehr ernst genommen. Voraussetzung dafür war allerdings, dass die NROs sich auf gemeinsame Standpunkte einigten. Angereist war auch eine recht große Delegation behinderter Koreanerinnen, die gut vorbereitet waren, sich für einen eigenen Frauenartikel aussprachen und vom Gender Mainstreaming wenig hielten. Diese Position konnte ich im Laufe der Zeit besser verstehen. Sie beharrten auf einem separaten Frauenartikel, weil sie die Erfahrung gemacht hatten, dass die Strategie des Gender Mainstreaming in ihren Ländern nicht greift. Für einen separaten Frauenartikel sprach außerdem das Argument der Koreanerinnen, dass Staaten damit gezwungen seien, Frauenministerien bei der Durchführung und Überwachung der Konvention zu beteiligen. Als das Frauenthema schließlich im Plenum diskutiert wurde, vertraten die Regierungsdelegationen unterschiedliche Positionen. Gemäß dem Motto, unter dem die Konvention verhandelt wurde »Nothing about us without us!« (zu
13 Link: http://www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/doku/draftend.pdf (29.10.2017).
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deutsch: »Nichts über uns ohne uns!«) kamen am Ende NRO-Vertreterinnen zu Wort, die sich alle für den twin-track-approach aussprachen. Glücksfall und Erfolge Der Vorsitzende des Verhandlungskomitees kündigte an, eine moderierende Person zu der Frauenfrage einsetzen zu wollen, deren Aufgabe es sein würde, eine gemeinsame Position der Regierungsdelegationen zu finden. Es war ein großer Glücksfall, dass die deutsche behinderte Juristin und Professorin Theresia Degener zur Moderatorin für die Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention ernannt wurde. Theresia Degener war während der gesamten Verhandlungen Mitglied der deutschen Regierungsdelegation. Auch die anderen Mitglieder der deutschen Regierungsdelegation unterstützten unser Anliegen. So konnten wir uns von verschiedenen Seiten mit verteilten Rollen für dieselben Ziele einsetzen, aber auch am Ende dieser Verhandlungsrunde war noch alles offen. Wieder in Deutschland folgten Ministeriumsvertreterinnen einem Vorschlag von Theresia Degener und wollten, dass ein juristisches Hintergrundpapier zur Frage der Einbeziehung der Belange behinderter Frauen in die Konvention erarbeitet wird. Im November 2005 wurden Sabine Häfner und ich gefragt, ob wir diese Aufgabe übernehmen. So machten wir uns an die Arbeit. Es war recht aufregend für mich, als ich die Ergebnisse unserer Arbeit kurz vor Weihnachten auf einem Workshop in Berlin Expertinnen und Experten vortragen sollte. Ein Professor für Völkerrecht war extra aus Australien angereist. Sabine Häfner war am ersten Tag leider nicht dabei. Die Expertinnen und Experten lobten zwar unsere Vorarbeiten, sprachen sich jedoch für weitreichende Änderungen aus. In Arbeitsgruppen wurde zu den verschiedenen Teilaspekten gearbeitet, und am Ende erhielten Sabine Häfner und ich neben den Anregungen aus dem Workshop einige Papiere, die wir weiter verarbeiten sollten. Damit stand unser Weihnachtsprogramm fest, denn das fertige Papier sollte zur nächsten Sitzung des Verhandlungskomitees Mitte Januar 2006 vorliegen. Wir haben es geschafft, und dieses Mal reisten wir mit Unterstützung des BMFSFJ beide nach New York. Dort warben wir innerhalb der Frauengruppe und bei Regierungsdelegationen für die Inhalte unseres Hintergrundpapiers14 und konnten damit die Arbeit von Theresia Degener als Moderatorin unterstützen. Als das Frauenthema dann im UN-Plenum diskutiert wurde, sprachen sich bereits viele Regierungsdelegationen für eine Verwirklichung des twin-track-
14 Link: http://www.netzwerk-artikel-3.de/un-konv/doku/papier-02.pdf (29.10.2017).
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approach aus. Unsere Aufgabe bestand nun darin, weiter für diesen zweigleisigen Ansatz zu werben, uns in die Formulierung des Frauenartikels einzumischen und für starke Frauenreferenzen in anderen Artikeln zu werben. So ist es ein toller Erfolg, dass die UN-Behindertenrechtskonvention, die im Dezember 2006 von der UN-Vollversammlung verabschiedet wurde, neben dem gut formulierten Artikel 6 (Frauen mit Behinderungen) weitere Frauen- und Genderreferenzen in der Präambel und den Artikeln 3 (Allgemeine Grundsätze), 8 (Bewusstseinsbildung), 16 (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), 25 (Gesundheit), 28 (Angemessener Lebensstandard und sozialer Schutz) und 34 (Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen) enthält. Die Verankerung von Frauen- oder Genderaspekte in weiteren Artikeln ist uns nicht gelungen. Beispielsweise fehlen entsprechende Bestimmungen in den Artikeln zur Erziehung, zur Arbeit und Beschäftigung sowie zur Statistik und Datensammlung.
2008/2009: BEHINDERTE FRAUEN – WAS SOLL ES BEDEUTEN? Diese Phase war geprägt von der Begleitung des Prozesses der Übersetzung und Ratifizierung der UN-BRK. Bei der amtlichen Übersetzung ins Deutsche sind bekanntlich Fehler gemacht worden. Beispielsweise wurde der englische Begriff »inclusion« mit »Integration« übersetzt oder das englische Wort »assistance« mit »Hilfe«. Nachdem alle unsere Appelle für eine bessere Übersetzung ins Leere gelaufen waren, haben wir mit dem NETZWERK ARTIKEL 3 – Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V. selbst eine korrektere sogenannte »Schattenübersetzung« veröffentlicht.15 Nach der Zustimmung aller Bundesländer wurde ein Ratifikationsgesetz auf den Weg gebracht, das von Bundestag und Bundesrat gebilligt wurde, so dass die UN-BRK am 26. März 2009 für Deutschland in Kraft treten konnte und seither hierzulande geltendes Recht etwa vom Rang eines Bundesgesetzes ist. Sabine Häfner und ich waren in dieser Zeit auch in Bezug auf Frauen mit Behinderungen aktiv. Wir wollten deutlich machen, was der Frauenartikel sowie die weiteren Frauen- und Genderreferenzen in der UN-BRK bedeuten beziehungsweise welche Verpflichtungen für staatliches Handeln sich daraus ergeben. Also verfassten wir einen Interpretationsstandard als Arbeits- und Argumentationspapier.
15 Link: http://www.nw3.de/attachments/article/89/089_schattenuebersetzung-endgs.pdf (4.11.2017).
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Eine Kurzfassung veröffentlichten wir im März 2009, die Langfassung im Dezember 2009.16 Mit finanzieller Unterstützung der Frauenstiftung filia konnten wir den Interpretationsstandard ins Englische übersetzen lassen und diese Fassung 2011 veröffentlichen.17
2013-2016: BEHINDERTE FRAUEN – ES GEHT NOCH MEHR Seit 2010 bin ich Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL und habe von daher eine Vielzahl von behindertenpolitischen Themen zu bearbeiten, kann mich also nicht mehr so wie vorher auf die Frauenaspekte konzentrieren. Trotzdem habe ich sie immer im Blick und unterstütze die Kolleginnen vom Weibernetz oder anderen Frauennetzwerken, wo es nur geht. Hin und wieder halte ich auch Vorträge, in denen ich speziell auf die Situation von Frauen mit Behinderungen eingehe oder wirke in frauenspezifischen Gremien mit. So begleitete ich auch als Mitglied eines Beirates die Entstehung einer umfassenden Studie zur Lebenssituation behinderter Frauen, deren Endbericht 2013 veröffentlicht wurde.18 Innerhalb von drei Jahren waren über 1.500 Frauen in Institutionen und Haushalten befragt worden. Dabei zeigte sich unter anderem, dass Frauen mit Behinderungen deutlich häufiger von sexueller Gewalt betroffen sind als Frauen ohne Behinderungen und dass die Gefährdung von Frauen, die in Institutionen leben, besonders hoch ist. Die differenzierten Ergebnisse der Studie dienen seither als Argumentationshilfen, um Verbesserungen für behinderte Frauen zu erwirken.
16 Link:
http://www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/article/92/092_I-standard-kurz.
pdf (2009) (4.11.2017); http://www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/article/92/ 092_i-standard-lang09s.pdf (2009) (4.11.2017). 17 Link: http://www.netzwerk-artikel-3.de/attachments/article/91/091_crpd_interpreta tion_women_and_gender_provisions_nw3-de_2011.pdf (2011) (4.11.2017). 18 Schröttle, Monika et al.: Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bielefeld u. a. 2013. Siehe auch https://www.bmfsfj. de/blob/94206/1d3b0c4c545bfb04e28c1378141db65a/lebenssituation-und-belas tungen-von-frauen-mit-behinderungen-langfassung-ergebnisse-der-quantitativen-be fragung-data.pdf (5.11.2017).
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In der Legislaturperiode von 2013-2017 wurde das Bundesteilhabegesetz (BTHG) als großes sozialpolitisches Projekt der Großen Koalition erarbeitet und verabschiedet. Damit wurde die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe herausgelöst und ins SGB IX übertragen. Als eine von zehn Vertreter*innen des DBR wirkte ich vom Juli 2014 bis April 2015 in dem intensiven Beteiligungsprozess mit. Umso größer waren das Entsetzen und der Zorn, als Anfang 2016 ein Arbeitsentwurf des Gesetzes bekannt und im April 2016 der Referentenentwurf veröffentlicht wurde: Von unseren Vorschlägen, Ideen, Argumenten fand sich kaum etwas wieder, vielmehr konzentrierten wir uns in den Folgemonaten darauf, die normierten Verschlechterungen abzuwehren und uns unser altes schlechtes Recht millimeterweise zurückzuerobern. Aus Frauensicht hatten wir Erfolg: Seit Jahren haben wir gefordert, Elternassistenz gesetzlich zu verankern, also die Unterstützung, die Eltern mit Behinderungen benötigen, um ihren Erziehungspflichten gerecht zu werden. Mit dem BTHG sind jetzt Assistenzleistungen für »Mütter und Väter mit Behinderungen bei der Betreuung und Versorgung ihrer Kinder« vorgesehen.19 Ein weiterer Erfolg ist die Festschreibung von Frauenbeauftragten in Werkstätten für behinderte Menschen.20 Dieser Erfolg ist vor allem dem Engagement der Kolleginnen vom Weibernetz zu verdanken, die unter anderem mit Modellprojekten immer wieder auf eine Stärkung der Frauen, auch als Strategie zur Gewaltprävention, hingewirkt haben. Eine weitere langjährige Forderung behinderter Frauen ist das Recht auf Frauenpflege zum Schutz der Menschenwürde der Betroffenen und zum Schutz vor Gewalt. Im Assistenzmodell, in dem sich die Betroffenen ihre Assistent*innen aussuchen, ist das Problem gelöst. Ob das Assistenzmodell mit dem BTHG gestärkt oder geschwächt worden ist, ob Frauen mit Behinderungen also ihrem Anspruch auf Frauenpflege näher gekommen sind oder nicht, wird die Umsetzung des Gesetzes zeigen. Rückenwind haben behinderte Frauen im September 2016 durch den UNAusschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bekommen, als er seine dritte Allgemeine Bemerkung (General Comment) zum Thema Frauen und Mädchen mit Behinderungen verabschiedete.21 Darin weist der Ausschuss auf
19 SGB IX, § 78 Abs. 3 (das BTHG hat als Artikelgesetz bestehende andere Gesetze geändert). 20 SGB IX, § 222 Abs. 5 (das BTHG hat als Artikelgesetz bestehende andere Gesetze geändert). 21 Link: http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal/Download.aspx?symbol no=CRPD/C/GC/3&Lang=en (5.11.2017)
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die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragsstaaten hin und formuliert Handlungsempfehlungen, um behinderte Mädchen und Frauen besser vor Diskriminierungen zu schützen. Die Monitoring-Stelle zur UN-BRK, die beim Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, hat das Dokument auf Deutsch zusammengefasst und seine Bedeutung für Recht und Politik in Deutschland hervorgehoben.22
2017: BEHINDERTE FRAUEN – SEHR ARM Behinderte Frauen haben viel erreicht: Sie sind in eigenen Organisationen und Gesetzen sichtbar geworden, ihre Situation und ihre Bedarfe werden wahr genommen und manchmal reagiert die Politik auch darauf. Was sich indes noch nicht grundsätzlich geändert hat, ist ihre mangelhafte Erwerbsbeteiligung und die daraus resultierende schlechte Einkommenssituation. Mit einer Kollegin vom Paritätischen Gesamtverband habe ich zur Armut behinderter Menschen einen Beitrag für den »Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017« geschrieben und dabei insbesondere die Situation behinderter Frauen beleuchtet23. Aussagekräftig sind nicht unbedingt die Arbeitslosenzahlen, da behinderte Frauen häufig nicht arbeitslos gemeldet sind, sondern die Erwerbsquoten. Die Erwerbsquote beziffert den Anteil der jeweiligen Personengruppe, die erwerbstätig ist oder als arbeitssuchend gilt. Die Erwerbsquote betrug 2009 für Männer ohne Behinderung 71 Prozent, für Frauen ohne Behinderung 55 Prozent, für Männer mit Behinderung 31 Prozent und für Frauen mit Behinderung 23 Prozent.24 Entsprechend der schlechten Erwerbsbeteiligung sind Frauen mit Behinderung insgesamt häufiger von Armut betroffen als Frauen ohne Behinderung oder Männer in derselben Situation. Ein Vergleich des Netto-Einkommens von Men-
22 Link:
http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikatio
nen/Information/Information_10_Rechte_von_Frauen_und_Maedchen_mit_Behinder ungen.pdf (5.11.2017). 23 Arnade, Sigrid/Scheytt, Claudia: Mit Behinderung leben – Armut inklusive!, in: Der Paritätische Gesamtverband (Hg.), Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017, Berlin 2017. 24 Heiko Pfaff und Mitarbeiterinnen: Lebenslagen der behinderten Menschen. Ergebnis des Mikrozensus 2009, in: Statistisches Bundesamt: Wirtschaft und Statistik, Wiesbaden 2012, S. 235f.
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schen zwischen 18 und 64 Jahren im Jahr 2013 zeigt die angespannte Haushaltslage vieler Frauen mit Behinderung: Über monatlich nur bis zu 899 Euro verfügten 18 Prozent der Männer ohne Behinderung, 39 Prozent der Frauen ohne Behinderung, 33 Prozent der Männer mit Behinderung und 47 Prozent der Frauen mit Behinderung25. Dass auch viele Frauen ohne Behinderung mit so wenig Geld auskommen mussten, liegt an dem hohen Frauenanteil bei der Teilzeitbeschäftigung und bei Minijobs. Bei gut verdienenden Menschen zeigt sich ein umgekehrtes Bild: Monatlich zwischen 2.000 und 5.999 Euro hatten 38 Prozent der Männer ohne Behinderung, 23 Prozent der Männer mit Behinderung, aber nur 14 Prozent der Frauen ohne Behinderung und 10 Prozent der Frauen mit Behinderung.
2018 FF: BEHINDERTE FRAUEN – PERSPEKTIVEN Frauen mit Behinderungen sind nicht mehr unsichtbar. Ihre Stimme ist aus dem behindertenpolitischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Wie der nach wie vor bestehenden Ungerechtigkeit hinsichtlich Erwerbssituation und Einkommen vielleicht beizukommen ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen im letzten Abschnitt: Die Schere zwischen arm und reich verläuft weniger zwischen behindert – nicht behindert, sondern vielmehr zwischen Frauen und Männern. Wenn Frauen es endlich schaffen, eine gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen und des gesellschaftlichen Reichtums zwischen den Geschlechtern zu erwirken, dann werden auch behinderte Frauen davon profitieren. Bis dahin ist es vermutlich noch ein weiter Weg, aber wie man an der letzten Reform des Sexualstrafrechts (s. oben) gesehen hat, kann es manchmal auch unerwartet schnell gehen. Ich hoffe jedenfalls auf ganz viele selbstbewusste, unerschrockene, laute Frauen mit und ohne Behinderungen, die mit brennender Ungeduld und langem Atem die wirkliche Gleichstellung der Geschlechter erstreiten. Möge der vorliegende Beitrag diese Frauen inspirieren und ihnen Mut für ihr scheinbar unmögliches Unterfangen machen!
25 Schildmann, Ulrike/Libuda-Köster, Astrid: Zusammenhänge zwischen Behinderung, Geschlecht und sozialer Lage: Wie bestreiten behinderte und nicht behinderte Frauen und Männer ihren Lebensunterhalt? Eine vergleichende Analyse auf der Basis der Mikrozensus-Daten der Jahre 2005, 2009, 2013, in: Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 37/2015, S. 40-54.
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LITERATUR Arnade, Sigrid: Weder Küsse noch Karriere. Erfahrungen behinderter Frauen, Frankfurt am Main 1992. Arnade, Sigrid: Durchhalten. Dranbleiben. Und sich trauen. Dann haben wir am ehesten eine Chance. Lebenssituation und Alltagserfahrungen behinderter Frauen, hrsg. v. Hessisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung, Wiesbaden 1994. Arnade, Sigrid: Ratgeber für behinderte Mädchen und Frauen in Berlin, hrsg. v. Senatsverwaltung für Arbeit, berufliche Bildung und Frauen, Berlin 1999 Arnade, Sigrid: Einmischen Mitmischen. Informationsbroschüre für behinderte Mädchen und Frauen, hrsg. v. BMFSFJ Berlin 2003. Arnade, Sigrid/Häfner, Sabine: Interpretationsstandard der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) aus Frauensicht. Arbeits- und Argumentationspapier zur Bedeutung der Frauen- und Genderreferenzen in der Behindertenrechtskonvention. NETZWERK ARTIKEL 3, Berlin 2009. Arnade, Sigrid: »Wir waren viele und wir waren überall.« Ein persönlicher Rückblick zur Einbeziehung von Frauen in die Behindertenrechtskonvention, in: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.), Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010, S. 223-229. Arnade, Sigrid/Scheytt, Claudia: Mit Behinderung leben – Armut inklusive!, in: Der Paritätische Gesamtverband (Hg.), Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017, Berlin 2017. Deutscher Bundestag: Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk u.a. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen »Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen«, Bundestags-Drucksache 13/7987 vom 06.06.1997. Eiermann, Nicole/Häußler, Monika/Helfferich, Cornelia: Live, Leben und Interessen vertreten – Frauen mit Behinderung: Lebenssituation, Bedarfslagen und Interessenvertretung von Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderungen, hrsg. v. BMFSFJ, Stuttgart 2000. Ewinkel, Carola/Hermes, Gisela (Hg.), Geschlecht: behindert; besonderes Merkmal: Frau, München 1986. Heiko Pfaff und Mitarbeiterinnen: Lebenslagen der behinderten Menschen. Ergebnis des Mikrozensus 2009, in: Statistisches Bundesamt: Wirtschaft und Statistik, Wiesbaden 2012.
Behinderte Frauen | 337
Schildmann, Ulrike: Lebensbedingungen behinderter Frauen: Aspekte ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung, Gießen 1983. Schildmann, Ulrike/Libuda-Köster, Astrid: Zusammenhänge zwischen Behinderung, Geschlecht und sozialer Lage: Wie bestreiten behinderte und nicht behinderte Frauen und Männer ihren Lebensunterhalt? Eine vergleichende Analyse auf der Basis der Mikrozensus-Daten der Jahre 2005, 2009, 2013, in: Journal Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW Nr. 37/2015, S. 40-54. Schröttle, Monika et al.: Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bielefeld u. a. 2013.
Autorinnen und Autoren
Arnade, Sigrid, Dr. med. vet., Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL; gemeinsam mit H.-Günter Heiden Leiterin das JoB. (Journalismus ohne Barrieren-)Medienbüros in Berlin. Die promovierte Tierärztin ist seit 1986 zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen und arbeitete seitdem als Journalistin, Moderatorin und Projektmanagerin mit den Schwerpunkten »behinderte Frauen«, »rechtliche Gleichstellung« und »barrierefreies Naturerleben«. Mitbegründerin des Deutschen Behindertenrats und Teilnahme an den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in New York. Außerberuflich hat sie drei Vereine und eine Stiftung mitbegründet. Derzeit ist sie ehrenamtlich aktiv im Vorstand des NETZWERK ARTIKEL 3, als Vorsitzende der Stiftung LEBENSNERV sowie im Kuratorium des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Baár, Monika, Prof., Dr. phil., Professorin für Mitteleurpäische Geschichte an der Universität Leiden, Studium der Geschichte, Literaturwissenschaften und Linguistik an der Eötvös Loránd University (ELTE) in Budapest. 2002 Promotion an der Oxford University, im Anschluss Postdoctoral Fellowship am Max Planck-Institut für Wisenschaftsgeschichte Berlin und Teching Fellowship an der University of Essex. 2009 bis 2015 Rosalind Franklin Fellow an der Universität Groningen. Seit 2015 Leiterin des durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderte Forschungsgruppe »Rethinking Disability: The Global Impact of the International Year of Disabled Persons (1981) in Historical Perspective«. Publikationen zur Geschichte der Behinderung, Tiergeschichte und Geschichte Ost- und Mitteleuropas in globalhistorischer Perspektive. Begg, Andrew, Studium der Rechtswissenschaften an der University of Victoria in Wellington, Neuseeland. Er war im neuseeländischen Auslandsdienst und bei den Vereinten Nationen im Bereich der internationalen Menschenrechte und des internationalen Strafrechts tätig. Während der Verhandlungen zur Ausarbeitung
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der UN-Behindertenrechtskonvention vertrat er Neuseeland in Menschenrechtsfragen bei den Vereinten Nationen in New York. In seiner Rolle als Vorsitzender der Arbeitsgruppe, die den ersten Entwurf der Konvention erstellte, und als Vorsitzender des Ad-hoc-Ausschusses, der den Entwurf bis zu seiner Annahme aushandelte, war er juristischer Berater des neuseeländischen Botschafters Don MacKay. Degener, Theresia, Prof. Dr., Studium der Rechtswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt a.M.; 1986: Erstes Juristisches Staatsexamen. 1990: Master of Laws (LL.M) der University of Califormia, Berkeley, USA. 1992: Promotion im Fachbereich Rechtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität. 1993: Assessoren-Examen in Hessen. Sie lehrte an verschiedenen ausländischen Hochschulen zum Thema internationale Menschenrechte, u.a. an der juristischen Fakultät der University of California, USA, und an der juristischen Fakultät der University of Western Cape, Kapstadt, Südafrika. 2000-2001: Mitglied der Enquetekommission des Bundestages »Recht und Ethik der modernen Medizin«. 2002-2006: Mitglied der deutschen Delegation beim Ad Hoc-Ausschuss der Vereinten Nationen zur Vorbereitung der Behindertenrechts-Konvention. Seit 2011 Mitglied des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2013-2017 stellv. Ausschussvorsitzende, 2017-2018 Ausschussvorsitzende. Professorin für Recht und Disability Studies und Leiterin des Bochumer Zentrums für Disability Studies (BODYS) an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Disability Studies und Menschenrechtstheorie. Derksen, Anna, M.A., Studium der Volkskunde/Kulturgeschichte und Politikwissenschaft (BA) sowie Neueren Geschichte (MA) an der Friedrich-SchillerUniversität Jena; Aktuell Wissenschaftliche Mitarbeiterin im ERC-Projekt »Rethinking Disability: The Global Impact of the International Year of Disabled Persons 1981 in Historical Perspektive« an der Universität Leiden. Ihr Dissertationsprojekt befasst sich mit dem Wandel gesellschaftspolitischer Konzeptionen und Praktiken von Behinderung in den Nordischen Ländern unter besonderer Berücksichtigung wohlfahrtsstaatlicher, sozial- und menschenrechtlicher Diskurse. Fischer, Jonas, M.A., Studium der Geschichtswissenschaft und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an der Ruhr-Universität Bochum; seit 2018 Promotions-
Autorinnen und Autoren | 341
student an der Ruhr-Universität Bochum mit einem von der Friedrich EbertStiftung geförderten Projekt zur neueren Geschichte der Behindertenbewegung. Heiden, H.-Günter, M.A., Studium der Sonderpädagogik (AfH Köln) und Publizistik (FU Berlin); arbeitet als Fachjournalist und Projektmanager in Berlin. Ab 1996 Aufbau des JoB.-Medienbüros (gemeinsam mit Dr. Sigrid Arnade). Seine Themenschwerpunkte sind: Menschenrechte, gesetzliche Gleichstellung, Partizipation, internationale Behindertenpolitik, Barrierefreiheit. 2012-2015: Koordination der BRK-Allianz; 2015-2017: Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS). Neben der wissenschaftlichen Tätigkeit arbeitet er unter anderem für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) und das NETZWERK ARTIKEL 3 – Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter e.V. Seit 2017 ist er Geschäftsführer der Selbstbestimmt Leben UG, einer Tochtergesellschaft der ISL. Lehmann, Peter, Dr. phil. h.c., Diplom-Pädagoge. Arbeitet als selbstständiger Sozialwisenschaftler, Autor, Verleger, Medizinjournalist und Versandbuchhändler in Berlin. 1986 Begründer des Antisychiatrie-Verlages; seit 1990 Mitherausgeber des Journal of Critical Psychology, Counselling and Psychotherapy; 1994 2000 Vorstandsmitglied des Bundesverbands Psychiatrieerfahrener e.V., 19972000 Vorstandsmitglied bei Mental Health Europe. Seit 2013 Schirmherr der Berliner Organisation Psychiatrie-Erfahrener und Psychiatrie-Betroffener (BOP&P). Zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Feld der humanistischen Antipsychiatrie. Miquel, Marc von, Dr. phil., 1990-1996: Studium der Geschichtswissenschaft und Slavistik an den Universitäten Bonn, Göttingen, Bochum; 1993-1998: freier Pädagogischer Mitarbeiter des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks Dortmund; 1998-2001: Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und der VWStiftung; 2002: Promotion an der Ruhr-Universität Bochum (Titel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren); 2002-2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jüdischen Museum Westfalen, Dorsten; 2003-2008: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster; seit 2009: Geschäftsführer der sv:dok. Publikationen zur Sozialstaats- und juristischen Zeitgeschichte. Rudloff, Wilfried, Dr. phil., Studium der Neueren Geschichte und der Politischen Wissenschaft in Freiburg, München, Florenz und Sienna. 1989-1996 Wisenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere und Neueste Geschichte der
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LMU München; 1995/96: Promotion zum Dr. phil.; 1996-2002 Wissenschaftlicher Assistent am Lhrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; 2003-2005 Forschungsreferent am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer; seit 2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Arbeitsstelle für Historische Sozialpolitik an der Universität Kassel. Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Kassel. Zahlreiche Publikationen zur Sozialstaats-, Politik-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. van der Locht, Volker, Dr. phil. Dipl.-Pädagoge. Seit Ende 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. 1981-1989 Studium der Pädagogik an der Universität Gesamthochschule Essen, 1989 Diplom, 1996 Promotion; 1996/1997 und 1999/2000 Tätigkeit als Historiker im Stadtarchiv Essen; 2000-2002 Dozent für politische Bildung an der Zivildienstschule Sondershausen; 2004-2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Existenz und Funktion des sozialen Milieus am Beispiel des anthroposophisch heilpädagogischen Instituts Lauenstein« am Fachbereich Soziale Arbeit der Hochschule Neubrandenburg; daneben Lehrbeauftragter an der Folkwang-Universität der Künste Essen, der Hochschulen Potsdam, Magdeburg, Neubrandenburg, Düsseldorf, der Universität Duisburg-Essen und der Ev. Hochschule in Bochum. Langjähriger Redakteur der behindertenpolitischen Zeitschrift »Die Randschau« und des »Newsletters Behindertenpolitik«. Waldschmidt, Anne, Univ.-Prof., Dr. rer. pol., Studium der Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte) in Bremen und Edinburgh. Sie ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität zu Köln und leitet dort die Internationale Forschungsstelle für Disability Studies (iDiS). Von 2008 bis 2015 war sie Mitglied des Academic Network of European Disability Experts (ANED). Im Rahmen des EUForschungskonsortiums DISCIT – Making Persons with Disabilities Full Citizens (2013-2016) leitete sie das Teilprojekt Active Citizenship as Political Participation. Diverse Publikationen auf dem Feld der Disability Studies und der Disability History. Welti, Felix, Univ.Prof., Dr. jur., Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg; 1997 Promotion an der Universität Hamburg; 1996-1998 Referendar am OLG Hamburg; 1999-2005 Wissenschaftlicher Referent am Sozialrecht und Sozialpolitik in Europa der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel;
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2005: Habilitation für Öffentliches Recht einschließlich Europarecht, Sozial- und Gesundheitsrecht mit einer Studie zu Behinderung und Rehabilitation im sozialen Rechtsstaat; 2007-2010: Professor an der Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Gesundheit, Pflege, Management; seit 2010 Professor an der Universität Kassel – Fachbereich 01 Humanwissenschaften; ehrenamtlicher Richter am Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein (seiot 2008) und am Bundessozialgericht (seit 2010). Zahlreiche Publikationen zum Gesundheitsrecht, Sozialrecht, Öffentlichen Recht sowie zum Recht von Menschen mit Behinderungen. Winkler, Ulrike, Dr. phil., Studium der Politik-, Rechts- und Erziehungswissenschaften in Marburg; 2007 Promotion mit einer Studie zur Männlichen Diakonie im Zweiten Weltkrieg; 2008 Projektmitarbeiterin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Projekts zur soziokulturellen Konstruktion von geistigen Behinderungen. Mitglied des Sprecherrates der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NSZeit in Rheinland-Pfalz seit November 2016. Berufung in den Beirat Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Mai 2017. Ulrike Winkler lebt als selbstständige Politikwissenschaftlerin und Historikerin in Trier.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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