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German Pages 360 [384] Year 2023
Bücher und ihre Wege
FOKUS NEUE STUDIEN ZUR GESCHICHTE POLENS UND OSTEUROPAS NEW STUDIES IN POLISH AND EASTERN EUROPEAN HISTORY Publikationsserie des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften/Series of the Centre for Historical Research of the Polish Academy of Sciences in Berlin
Herausgegeben von/Series Editors Hans-Jürgen Bömelburg, Dietlind Hüchtker, Maciej Górny, Igor Kąkolewski, Yvonne Kleinmann, Markus Krzoska Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Hans Henning Hahn Dieter Bingen Eva Hahn Joanna Jabłkowska Kerstin Jobst Beata Halicka Jerzy Kochanowski Magdalena Marszałek Michael G. Müller Jan M. Piskorski Miloš Řezník Isabel Röskau-Rydel Izabella Surynt
BAND 12
Vanessa de Senarclens (Hg.)
Bücher und ihre Wege Bibliomigration zwischen Deutschland und Polen seit 1939
Die Herausgeberin: Vanessa de Senarclens ist Expertin der französischen Literatur der Aufklärung (u.a. Montesquieu, Rousseau, Voltaire, Diderot) und des europäischen Kulturtransfers (u.a. Dichtung Friedrich des II. von Preußen). Sie lehrt am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität sowie am Bard College Berlin. Sie studierte in Genf, London, Cambridge und Berlin, wo sie promovierte und habilitierte (Lehrbefugnis für Französische Literatur- und Kulturwissenschaft). Umschlagabbildung: Der Voltaire-Band gehört der Sammlung der Alten Drucke der Universitätsbibliothek Lodz (UB Lodz, Sign. 1002049, vor 1945: „Bibliothek Schloss Plathe III P 16a IV 26“)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2024 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.brill.com Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-5020 ISBN 978-3-506-79175-7 (hardback) ISBN 978-3-657-79175-0 (e-book)
Inhalt Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix Einleitung der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xi Vanessa de Senarclens
Teil I Zerstörung und Zerstreuung der Bücherbestände in Polen während der Besetzung durch Nazi-Deutschland 1.
Die Dokumentation polnischer Sammlungen und ihrer Bedrohung in den Materialien der Londoner Exilregierung im Zweiten Weltkrieg. Am Beispiel zweier NS-Buchausstellungen im besetzten Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Eberharter
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2.
Der Büchermord: Die Zerstörung der Bibliotheken in der polnischen Hauptstadt während und nach der Niederschlagung des Aufstands (August 1944 bis Januar 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Jacek Kordel
3.
Die Geschichte der sogenannten Sozialabteilung (Sammlungen zum soziopolitischen Leben) der Öffentlichen Bibliothek von Warschau 1941–1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jacek Puchalski
4.
Die janusköpfige Rolle der deutschen Bibliothekare im besetzten Polen 1939–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Andrzej Mężyński
5.
Sammeln, um zu zerstören: Die Vernichtung der deutschen und polnischen jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken . . . . . . . . . 86 Nawojka Cieślińska-Lobkowicz
6.
Stories of Loss and Survival: Three Objects from Max Pinkus’s Dispersed Library . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Judith Siepmann
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Inhalt
Teil II Wechselnde Kontexte: Die Migration von Büchern und Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg 7.
Aus vielen protestantischen Ländern zusammengetragen: Flugschriften zum Reformationsjubiläum 1617 in Lodz . . . . . . . . . . 143 Cora Dietl
8.
Das Buch und seine (weiteren) Leben: Die Wanderung eines Buches aus der Lodzer Universitätsbibliothek (Wittenberg, Stettin, Friedrichswalde, Lassehne, Landeshut, Lodz) 1599–1945 . . . . . . . . 163 Tomasz Ososiński
9.
Die Frage nach der Nützlichkeit der nach 1945 gesicherten deutschen Buchbestände am Beispiel der Bibliotheken der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Wiesław Sieradzan
10. Migration Without Moving: Polish Books in German Public Libraries During the Second World War. The Examples of the Gdańsk City Library (Danziger Stadtbibliothek) and the Polish Gymnasium in Gdańsk (Gimnazjum Polskie w Gdańsku) . . . . . . . 196 Dagmara Binkowska
Teil III Geschichte der Verluste aus deutscher Perspektive 11.
Der Verweis ‚Kriegsverlust‘ in Bibliothekskatalogen . . . . . . . . . . . . . 213 Vanessa de Senarclens
12. „Behalten Sie alles von meiner Hand, da Sie, glaube ich, die Schwachheit haben, unleserliche Autographe zu bewahren“ – Der „Nachlass Alexander von Humboldt“ in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 Dominik Erdmann 13. Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek: damals, heute und vielleicht in der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Petra Figeac
Inhalt
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14. Die Bibliothek der Danziger Naturforschenden Gesellschaft als Beispiel für das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Gilbert H. Gornig
Teil IV Virtuelle und literarische Rekonstruktionen 15. Bibliomigrancy und Digimigrancy: Sächsische kriegsbedingt verlagerte Drucke und Handschriften in Polen – wie verändern die Digitalisate die Sicht auf die Originale? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Konstantin Hermann 16. Von der Bücherwand in den Zettelkatalog: Wie Teile einer romantisch-komparatistischen Büchersammlung des 19. Jahrhunderts an Bibliotheken in Polen gelangten . . . . . . . . . . . . 315 Theresa Mallmann 17. Nothing More Than a Book: The Autobiography of Josef Popper-Lynkeus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Michael Hagner Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
Publikationsreihe des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften FOKUS. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas In dieser Buchreihe erscheinen wissenschaftliche Monographien und Sammelbände, die der neuesten Forschung zur Geschichte Polens und Osteuropas gewidmet sind. Die darin veröffentlichten Arbeiten verbinden verschiedene Disziplinen der Kultur- und Sozialgeschichte. Auch wenn der thematische Schwerpunkt der Reihe auf Polen und Osteuropa liegt, so sollen in ihr Arbeiten erscheinen, die die Vergangenheit dieses Teils unseres Kontinents im Rahmen einer möglichst breiten Forschungsperspektive behandeln und auf diese Weise die Forschung zu ähnlichen Themen anderer Regionen Europas inspirieren. In der Buchreihe FOKUS: Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas werden u.a. auch herausragende akademische Qualifikationsarbeiten erscheinen, wie z.B. für den wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen in Deutschland eingereichte Dissertationen.
Einleitung der Herausgeberin Vanessa de Senarclens Der Historiker Robert Darnton hat die Geschichte eines Buches als einen lebendigen Kommunikationskreislauf – „a communication circuit“1 – beschrieben, an dessen materieller Produktion, Vertrieb und Wirkung zahlreiche Akteure und Institutionen beteiligt sind: vom Autor zum Drucker und Buchhändler über private wie öffentliche Räume wie Salons, Cafés und Bibliotheken, in denen das Buch vom Leser interpretiert, diskutiert und übersetzt wird. Sie alle tragen zur öffentlichen Debatte bei, die nicht an den Nationalgrenzen Halt macht. Im 18. Jahrhundert bilden sie rege Netzwerke, die oft verborgen vor der staatlichen Kontrolle interagieren. Auf verschlungenen und oft verbotenen Wegen werden sie durch ganz Europa transportiert, von Paris nach Warschau, von Dresden bis London, von Genf nach Leipzig. Das tragbare Buch der Aufklärung („le livre portatif“), jenes nomadische Objekt, das große Enzyklopädien kondensiert, wandert von Hand zu Hand und nährt eine Konversation zwischen Liebhabern, Experten, Sammlern und Dilettanten. Dieser Band befasst sich mit Büchern, die einem solchen lebendigen Austausch und einer entsprechenden Zirkulation entzogen sind: Bücher wurden während des Zweiten Weltkrieges in einem, bis dahin nicht bekannten Ausmaße zerstört, oder, sofern sie die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts überlebt haben, fristen sie ihr Dasein auf Abstellgleisen, verwaist, von ihrem ursprünglichen Kontext abgekoppelt, darauf wartend, wiederentdeckt und in ein lebendiges Ganzes integriert zu werden. Wie die Voltaire-Ausgabe der „Philosophie de l’Histoire“ von 1765, die den Umschlag dieses vorliegenden Bandes ziert, sind die Bücher von der Geschichte geprägt: Mit ihrem jeweils übereinandergeklebten Exlibris tragen sie die Spuren der verschiedenen Kontexte, denen sie angehörten. Auf dem Wappen einer adligen Familie hat man in der Polnischen Volksrepublik ein modernistisches Exlibris aus der Zeit der 1960iger Jahre geklebt: Unter einer Eule, die nachts auf den Dächern einer Industriestadt thront, erahnt man noch die Umrisse des pommerschen Greifen. Die Vergangenheit lässt sich nicht ganz von der Gegenwart überdecken. Bibliotheken werden im 18. Jahrhundert wie Basiliken mit weiten Gewölben ideal geträumt – man denke nur an die Pläne von Étienne-Louis Boullée für die französische Königsbibliothek am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie werden als Ort der Ordnung gedacht, in denen jedes Buch nach den makellosen 1 Darnton, Robert: What is the history of books, in: Daedalus 111, 1982 (3), S. 65–83, S. 67.
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Vanessa de Senarclens
Angaben eines Katalogs im großen gewölbten Raum auffindbar ist.2 Auf dem Prüfstand der Zeit zeigten sie sich in den folgenden Jahrhunderten, vor allem im 20. Jahrhundert, als zerbrechlich und verwundbar. In ihrer Monographie „The Library. A Fragile History“ verfolgen Andrew Pettegree und Arthur der Weduwen Größe und Verfall der Bibliotheken seit der Antike und betonen die existenziellen Herausforderungen, die ihnen der Zweiten Weltkrieg gestellt hat. Büchersammlungen waren stets bedroht, aber kein Jahrhundert war verheerender für ihre Existenz als der 20igste.3 Und keines zeigt– so die deutschpolnische Büchermigration, die das Thema dieses Buches ist – einen so großen Schattenwurf. Mit dem Angriff Nazi-Deutschlands auf Polen 1939 wurden bis Kriegsende 1945 rund 70 bis 75 Prozent der polnischen Bibliotheksbestände dezimiert, zerstört oder verstreut.4 Gemäß einer Berechnung von 2015 überlebten von den 22,6 Millionen Bänden der polnischen Bibliotheken vor 1939 nur ein knappes Drittel.5 In seinem Aufsatz „Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“ von 1940 erläuterte Heinrich Himmler seinen Plan, die slawischen Kulturen, die er für minderwertig hielt, auslöschen zu wollen. Sie sollten in „kleine Splitter und Partikel“6 zerplatzen. Dieser Wille NaziDeutschlands, das polnische Kulturerbe zu zerstören, ist in Polen in so schmerzhafter wie lebendiger Erinnerung. Eine Urne mit der Asche von verbrannten Handschriften und alten Drucken versinnbildlicht in der Krasiński-Bibliothek 2 Chartier, Roger: L’ordre des livres. Lecteurs, auteurs, bibliothèques en Europe entre XIVe et XVIIIe siècle, Aix en Provence 1992. 3 Pettegree, Andrew/der Weduwen, Arthur: The Library. A Fragile History, London 2021, insbesondere: das Kapitel 16 mit dem Titel: „Surviving the twentieth century“, ebd., S. 323–349; Fabian, Bernhard: The book in totalitarian context, in: Comparative criticism 23, 2001, S. 20–34; Ovenden, Richard: Burning the Books: A History of the Deliberate Destruction of Knowledge, Cambridge/MA 2020. 4 Siehe Markert, Werner (Hg.): Osteuropa-Handbuch. Polen, Köln 1959; Bieńkowska, Barbara: Losses of Polish Libraries During World War II, Warsaw 1994; Zacharska, Marzena/Pirozinski, Jan (Hg.): Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa, Bd. 6: Polen und Bulgarien, Hildesheim 1999; Mężyński, Andrzej: Biblioteki Warszawy w latach 1939–1945 [Warsaw’s Libraries in the years 1939–1945], Warsaw 2010; Kowalski, Wojciech/Kuhnke, Monika: Looted and Restituted: Polish Ministry of Foreign Affairs’ Efforts to Restitute Poland’s Cultural Property Lost During World War II, Ministry of Foreign Affairs, Warsaw 2015. 5 Siehe Pirozynski, Jan: Bestände aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek in Polen, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXIX, 1992 (1993), S. 113–126; Pirozynski, Jan/Ruszajowa, Krystyna: Die nationalsozialistische Bibliothekspolitik in Polen während des zweiten Weltkrieges, in: Vodosek, Peter/Komorowski, Manfred (Hg.): Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Wiesbaden 1989, S. 199–232. 6 Himmler, Heinrich: „Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten“, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte, Jg. 5, Heft 2, Dokumentation: Denkschrift Himmlers über die Behandlung der fremd-völkischen im Osten, Mai 1940, 1957, S. 196–198, hier 196.
Einleitung der Herausgeberin
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diese brutale Zerstörungswut, die die ganze polnische Nation und ihre Kultur traf.7 Auch jüdische Bibliotheken in Schulen und Synagogen sowie private Bestände wurden nach 1939 dezimiert, sowohl im Deutschen Reich wie auch in den Zentren des jüdischen Lebens in Polen wie Warschau, Breslau und Lublin. Nach dem Krieg blieben die verstreuten Bücher oft ohne Eigentümer. Eine amerikanische „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ (CEJCR), die von Hannah Arendt geleitet wurde, agiert als Verwahrer dieses „verwaisten“ jüdischen Kulturguts. In seinem Briefwechsel befasst sich der Philosoph Gershom Scholem mit der Tragödie der „heirless“ Bücher aus verstreuten jüdischen Sammlungen, die nun ohne Leser waren.8 In der Nachkriegszeit wurden in Deutschland ebenfalls Sammlungen vermisst: Nach der im August 1945 erfolgten Verlegung der deutsch-polnischen Grenze an die Oder-Neiße-Linie gelangten Millionen von Büchern aus privaten, kirchlichen und auch ausgelagerten öffentlichen Sammlungen der Preußischen Staatsbibliothek in einen neuen nationalen Kontext. Aus polnischer Perspektive wurden diese „zurückgelassenen“ Bücher aus deutschen Bibliotheken als Staatseigentum betrachtet und als solches vor weiteren Plünderungen und Zerstörungen geschützt. Polen versuchte, den Abtransport von „Trophäenbüchern“ in die Sowjetunion zu verhindern. Laut einem polnischen Gesetz vom 6. Mai 1945 galten sie als „verlassen und aufgegeben“.9 Entsprechend bezeichnet man diese Bücher aus ehemaligen deutschen Bibliotheksbeständen als „sichergestellte Büchersammlungen“ und betrachtet sie als „Kompensation“ für die Zerstörung von polnischen Archiven und Bibliotheken während des Krieges – wenn auch als eine gänzlich unzureichende und unverhältnismäßige. Die sogenannten „post-German collections“ wurden in der polnischen Wahrnehmung vor der Zerstörung und Plünderung gerettet.10 In der Bundesrepublik wie auch in der DDR und vielleicht erst recht im wiedervereinigten Deutschland sind diese Bücher aus ehemaligen deutschen Sammlungen mit Begriffen wie „Verlust“, „schmerzliche Lücke“ oder 7 8 9 10
Siehe Abbildung S. 38. Siehe in diesem Band: Nawojka Cieślińska-Lobkowicz: „Sammeln, um zu zerstören Die Vernichtung der deutschen und polnischen jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken“, S. 86–119. Sierzputowski, Bartłomiej: Public international law in the context of post-German cultural property held within Poland’s borders. A complicated situation or simply a resolution?, in: Leiden Journal of International Law 33 (4), 2020, S. 953–968. Siehe Nowicki, Ryszard: Legal regulation concerning the preservation and protection of library collections in Poland after World War II, in: The Studies into the History of the Book and Book Collections 15, 2021 (4), S. 488–496. Siehe auch Gortat, Jakub: Berlinka. Ein besonderer deutsch-polnischer Erinnerungsort, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017 (2018), S. 105–128.
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Vanessa de Senarclens
„Zerrissenheit der Nachlässe und Sammlungen“ verbunden.11 Der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, bezeichnete 2007 die Handschriften und Nachlassteile von Beethoven, Bach, Haydn, Telemann, Dürer, Luther, Kant und Goethe als „das geistige Tagebuch der Deutschen“.12 Im gleichen Jahr nannte Tono Eitel, der damalige Sonderbotschafter für die „Rückführung kriegsbedingt verlagerter Kulturgüter“, die Bücher die „letzten deutschen Kriegsgefangenen“.13 Sinnbild solchermaßen auseinandergerissener Bestände ist sicher die 8. Sinfonie von Beethoven: Die Handschriften des ersten, zweiten und vierten Satzes sind in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt, die des dritten Satzes „Tempo di menuetto“ in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau.14 In den digitalen Katalogen der Staatsbibliothek zu Berlin (StaBiKat) begegnet der Benutzer oder die Benutzerin bei der Suche nach einem Buch dem Verweis „Standort: Kriegsverlust“. Im Normalfall findet der Benutzer unter der Signatur eine Angabe, in welchem Magazin (Potsdamer Platz, Unter den Linden, Rara-Sammlung, Außenmagazin) das Buch zu finden ist und wie lange es dauern wird, es zu bestellen. Der Vermerk „Kriegsverlust“ verweist indessen auf eine Abwesenheit des Buches und erzeugt das Gefühl einer Leere.15 Der Hinweis ist als knappe Information gedacht, das Buch sei „nicht verfügbar“, allerdings wirkt es zugleich wie ein unabsichtliches Gedenken an die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Der Krieg bricht unvermittelt in die Literaturrecherche hinein. Wenn die Benutzerin jedoch zu dem Hinweis „Kriegsverlust“ auf der Webseite der Staatsbibliothek weiter recherchiert, so findet sich unter „Besitzstempel und Supralibros“ eine Belehrung über die rechtliche Dimension des Ganzen. Man liest dann: „Die Staatsbibliothek zu
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Breslau, Ralf: Verlagert verschollen vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerte Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995; Schochow, Werner: Bücherschicksale: Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung-Zerstörung-Entfremdung-Rückführung, Berlin/New York 2003. 12 Lehmann, Klaus-Dieter: „Seit 1945 in Polen Das Geistige Tagebuch der Deutschen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.11.2007. 13 Schuller, Konrad: Streit um die „Beutekunst. Goethe in Krakau“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 27.7.2007. 14 https://staatsbibliothek-berlin.de/fileadmin/user_upload/zentrale_Seiten/ueber_uns/ dokumente/verlagerte-bestaende.pdf. 15 Einige Statistiken dazu: Eine Suche im online-Katalog Stabikat der Staatsbibliothek zu Berlin mit Suchschlüssel „Standort/ Hauskennung“ = 4 (Kriegsverlust) ergab am 8. Mai 2023 734.140 relevante Treffer; mit Suchschlüssel: Standort/ Hauskennung“ = 8 (Kriegsbedingt verlagert) 19.192 Treffer.
Einleitung der Herausgeberin
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Berlin erhebt auf alle Materialien, die mit ihren historischen Stempeln versehen sind, Eigentumsanspruch.“16 Seit nunmehr 75 Jahren sind die deutschen Bücher in Polen – Bücher aus ausgelagerten Beständen der Staatsbibliothek, aber auch Bücher aus öffentlichen und privaten schlesischen und pommerschen Sammlungen – Gegenstand zweier völlig verschiedener und inkompatibler nationaler Erzählungen. Die Bücher sind in Universitätsbibliotheken (Łódź, Kraków, Wrocław, Warszawa, Lublin) aufbewahrt, doch oft ohne erklärenden Zusammenhang, oft unzureichend katalogisiert, ohne Angabe von Provenienz: „Verlegt, verwahrt und vergessen“.17 Von einigen wenigen Initiativen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern18 abgesehen, wird mit ihnen nicht gearbeitet, vielmehr scheinen sie auf ihre politisch-symbolische Dimension der Kriegsfolgen reduziert zu werden.19 In Anlehnung an den Begriff der „Bibliomigrancy“ stellt dieser Band Geschichten von Büchermigrationen zwischen Deutschland und Polen ab 1939 in den Mittelpunkt. Er basiert auf einer Tagung, die im März 2022 in Warschau stattgefunden hat.20 Historikerinnen und Historiker aus Polen und aus Deutschland versuchten gemeinsam, die Bücher aus ihrem toten Winkel herauszuholen und sie als lebendige Objekte der Geschichte zu betrachten, samt ihrer „Biographie“ mit ihren kulturellen, sozialen und politischen Aspekten. Der Begriff „Bibliomigrancy“ wurde von dem in Wisconsin lehrenden Germanisten B. Venkat Mani entwickelt, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Es geht in seiner Monographie um der Begriff Weltliteratur 16 Besitzstempel | Staatsbibliothek zu Berlin (staatsbibliothek-berlin.de) (2.5.2023). 17 Siehe Senarclens, Vanessa de: Verlegt, verwahrt und vergessen. Die Bücher aus den ehemaligen deutschen Bibliotheken in Polen, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken 74, Oktober 2020, S. 77–84. 18 Siehe u.a. Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź, Łódź 2018; Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata, Ososiński, Tomasz (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź. Ausstellungskatalog, Łódź 2022; oder Das Alexander von Humboldt Portal: https://humboldt.staatsbibliothekberlin.de/ (9.5.2023), das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der Staatsbibliothek zu Berlin und der Biblioteka Jagiellońska: siehe Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek, Bibliotheca Iagellonica. Fontes et Studia 37, Krakau 2019. 19 Siehe dazu u.a Gortat, Jakub: „Berlinka“. Ein besonderer deutsch-polnischer Erinnerungsort, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017 (2018), S. 105–128. 20 Dieses Buch enthält die Beiträge der Konferenz: „Das „Bibliomigratorische“ im deutschpolnischen Kontext seit dem Zweiten Weltkrieg“, die am Deutsches Historisches Institut Warschau (DHIW), von 31. März bis 1. April 2022 stattgefunden hat.
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Vanessa de Senarclens
im globalisierten Zeitalter.21 Der Neologismus „Bibliomigrancy“ ist aber auch für die Geschichte des Buches innovativ und fruchtbar. Die Wortneuschöpfung, die aus dem englischen Wort „Migrancy“ abgeleitet ist, deutet nicht so sehr auf ein Ereignis hin – die Migration von einem Land in ein anderes oder von einer Sprache in eine andere – als vielmehr auf einen Zustand, der andauert und fortwährt. Bei der „Bibliomigration“ geht es um die Wege der Bücher in Raum und Zeit als auch um ihre sich wandelnde Semantisierung innerhalb geografischer, politischer, institutioneller und sprachlicher Räume. Das Buch, das über die Fronten hinweg wandert, ist eine mächtige Metapher für die desaströsen Episoden der Geschichte, aber auch für die Wider ständigkeit des Objektes. Mit ihren Migrationen, die sich in ihre Materialität eingeschrieben haben, sind die Bücher im deutsch-polnischen Kontext ein Zeugnis der Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs. Die Untersuchung der migrierten Bücher mit den übereinanderliegenden Exlibris-Schichten, den durchgestrichenen Insignien seines Eigentümers, den Spuren der Bücherwürmer,22 die Feuchtigkeit der ungeeigneten Depots, in denen es gelagert wurde, aber auch die Marginalien, die markierten Seiten einer einst geliebten Passage im Buch, hinter denen sich die Persönlichkeiten seiner Leser verbergen: All dies ist ein faszinierendes Gebiet der Buch- und der Bibliotheksgeschichte.23 In Anlehnung an die Formulierung des senegalesischen Philosophen Souleymann Bachir Diagne könnte man diese Bücher als „restless“ bezeichnen.24 Mit diesem Adjektiv bezeichnet er Gegenstände aus der Kolonialzeit, etwa die Benin-Bronzen, und betont, dass man sie nicht ohne ihre Migration- und Einflussgeschichte betrachten könne. Die Bücher sind allerdings porös und zerbrechlicher als Bronzen. Sie sind oft materiell gezeichnet von der Geschichte und fragil in ihrem Zustand.
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Siehe Mani, B. Venkat: Recoding World Literature Libraries, Print Culture, and Germany’s Pact with Books, New York 2017. Siehe auch ders., Art. „Bibliomigrancy“, in: D’haen, Theo/Damrosch, David/Kadir, Djelr (Hg.): The Routledge Companion to World Literature, London 2011, S. 283–295. 22 Siehe Senarclens, Vanessa de: Les vers à soie et les vers dévoreurs des livres: luxe et morbidité des ‚insectes changeant‘ dans l’œuvre de Voltaire, in: Cornfield, Penelope/Overhoff, Jürgen/Stockhorst, Stefanie: Human-Animal Relations and Their Cultural Representations in the 18th Century, Amsterdam/New York 2021. 23 Siehe Fabian, Bernhard: Über die Zukunft des Buches, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 169, 2003 (1), S. 3–15. 24 Bei einer Diskussion, die am 5. September 2019 in New York (Columbia) stattfand: https://french.columbia.edu/events/repairing-invisible-kader-attia-conversationsouleymane-bachir-diagne
Einleitung der Herausgeberin
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Jenseits von Kriegskompensation oder Kriegsverlust repräsentiert die Geschichte des Buches ein bis jetzt eher vernachlässigtes Forschungsgebiet, das weiter Gegenstand einer Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland sein könnte. Nicht nur die Bücher in ihrem Kontext vor 1945 sollten Gegenstand der gemeinsamen Forschung sein, sondern ihre teils verschlungenen Wege durch das 20. und 21. Jahrhundert bis heute. Die Bücher samt ihren Migrationsgeschichten laden dazu ein, festgelegte nationale Denkmuster aufzubrechen und gemeinsame Praktiken des Erinnerns zu (er)finden. Denn auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie, heute die deutsch-polnischen Grenze, geht es dabei um Verlust- und Trauergeschichten. In ihrem programmatischen Aufsatz von 2017 mit dem Titel „Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe“ zeigt Bénédicte Savoy, wie Trauer dadurch transformiert werden kann, dass man die Geschichte von wechselseitiger Wirkung und Verflechtung als gemeinsames europäisches Erbe erzählt und teilt.25 Anlässlich einer Ausstellungeröffnung in 2001 in Warschau sprach der Historiker und ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski in dem gleichen Tenor: Wie uns die Erfahrung lehrt, kann das gemeinsame Erbe auch Gegenstand von Streitigkeiten und Konflikten sein. Es kann aber auch- und die gebietet uns die Erfahrung – eine Quelle der Genugtuung über wohl genutzte Nachbarschaft sein.26
Der vorliegende Tagungsband ist in vier thematische Schwerpunkte gegliedert: Der erste und umfangreichste Teil – „Zerstörung und Zerstreuung der Bücherbestände in Polen während der Besetzung durch Nazi-Deutschland“ – befasst sich mit den immensen Zerstörungen, die Bibliotheken in Polen während des Krieges erlitten haben. Markus Eberhardt erinnert an die Bemühungen der polnischen Exilregierung in London, ihre Verluste im Bereich der Bibliotheken schon während des Krieges zu dokumentieren. Jacek Kordel ruft die Personifizierung „Büchermord“ auf, um die Gewalt zu bezeichnen, der die Warschauer Bibliotheken zur Zeit des Aufstandes in der Hauptstadt ausgesetzt waren. Jacek Puchalski beschäftigt sich mit der Zeit der Besatzung und der Kontrolle, die die Nazi-Verwaltung über die öffentliche Bibliothek in Warschau ausübte. Andrzej Mężyński setzt sich mit der ambivalenten Rolle der deutschen Bibliothekare 25
Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018. 26 Tomaszewski, Andrzej: Kulturgüter-Kulturerbe-Kulturbesitz, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXXVIII, Berlin 2001 (2002), 38, S. 167–173, hier: S. 173.
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Vanessa de Senarclens
auseinander, die zwischen ihrem professionellen Ethos und der Nazi-Ideologie schwankten. Die letzten Artikel dieses ersten Abschnitts widmen sich speziell der Zerstörung jüdischer Sammlungen: Nawojka Cieślińska-Lobkowicz bietet einen umfassenden Überblick über die Geschichte der jüdischen Bibliotheken, deren Ausstrahlung vor dem Krieg und ihrer späteren systematischen Zerstörung durch die Nationalsozialisten. Judith Siepmann befasst sich anhand von drei Büchern, deren Werdegang sie rekonstruiert, mit der Privatbibliothek eines aus Schlesien stammenden jüdischen Kaufmanns. Der zweite Teil des Buches – „Wechselnde Kontexte: Die Migration von Büchern und Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg“– enthält Beiträge zu den Büchern, die nach der Veränderung der deutsch-polnischen Grenzen ab 1945 verlagert wurden. Es handelt sich um die evakuierten Depots der Staatsbibliothek ab 1941, aber auch um Bücher aus privaten und öffentlichen Sammlungen in Schlesien und Pommern, die nach Kriegsende polnischen Bibliotheken in Warschau und Krakau, aber auch in Toruń, Lodz, Lublin und Wrocław zugeteilt wurden. In der Stadt Lodz, deren Universitätsbibliothek 1945 eingeweiht wurde, bildeten die deutschen Bestände den Hauptteil der Abteilung für alte Bücher. Cora Dietl und Tomas Ososiński beschäftigen sich in ihren jeweiligen Artikeln mit seltenen Exemplaren aus ehemaligen privaten pommerschen Sammlungen. Die von ihnen untersuchten Bände verdeutlichen den Reichtum der in Polen verstreuten Bestände, aber auch die Anstrengung der historischen Rekonstruktion, die damit einhergeht, dass sie sich heute in einem völlig anderen institutionellen Kontext als ihren ursprünglichen Sammlungen befinden. Der Artikel von Wiesław Sieradzan befasst sich mit der Bibliothek in Toruń, wo die Bestände aus ehemaligen deutschen Bibliotheken dazu beitrugen, Forschungsarbeiten und einen didaktischen Ansatz in vielen wissenschaftlichen Disziplinen der polnischen Nachkriegszeit zu begründen. Dagmara Binkowska beleuchtet den Fall der Migration ohne geografische Verschiebung am Beispiel der Bibliothek von Danzig, deren wechselnder politischer Status die Art und Weise bestimmte, wie ihre Bestände in den verschiedenen politischen Perioden wahrgenommen wurden. Im dritten Teil – „Geschichte der Verluste aus deutscher Perspektive“ – geht es um die Frage, wie die DDR, die alte Bundesrepublik und dann auch das vereinigte Deutschland in den Nachkriegsgenerationen mit der Frage der verlorenen Bücher und Sammlungen umgingen. Wie verfährt man mit Kriegsverlusten, die von Nazi-Deutschland verursacht wurden? Der noch immer gegebene Hinweis „Kriegsverlust“ im Katalog der Staatsbibliothek ist Gegenstand einer lexikalischen und diachronen Analyse der Herausgeberin, die sich indirekt mit der deutschen Trauer befasst. Petra Figeac geht auf die Bedeutung der rabbinischen Sammlungen in der Staatsbibliothek zu Berlin vor dem Krieg
Einleitung der Herausgeberin
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ein, die – was für ein Paradox! – ebenfalls von den Nazis evakuiert wurden, um sie vor den Bomben, die auf die Stadt fielen, zu schützen. Sie befinden sich heute größtenteils in Krakau, während ihre Kataloge immer noch in Berlin sind. Dominik Erdmann beleuchtet die ebenfalls verstreuten Bestände des Alexander von Humboldt und wertet die Autographen aus der Sammlung von Varnhagen aus. Gilbert Gornig blickt auf die wendungsreiche Geschichte der Bibliothek der „Danziger Naturforschenden Gesellschaft“ zurück und gibt als Experte für öffentliches Recht Anregungen zum Thema Kulturerbe, definiert durch die Charta der UNESCO als „common heritage of mankind“. Der letzte Teil des Bandes ist der Rekonstruktion von Beständen gewidmet: „Virtuelle und literarische Rekonstruktionen“. Theresa Mallmann erläutert die Vorgehensweise von Historikerinnen und Historikern am Beispiel der Bibliothek des Schriftstellers Ludwig Tieck und blickt auf Kapitel europäischer Buchgeschichte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Konstantin Hermann denkt als Bibliothekar über den Status von Digitalisaten im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen nach. Michael Hagner verfolgt den Weg eines einzigartigen Buches, das er in einem Antiquariat in Tel Aviv gekauft hat, und weist mit diesem Parcours darauf hin, dass die Archive des Lebens anderer Menschen weiterhin zu uns sprechen und uns betreffen. Die Konferenz, die diesem Buch zugrunde liegt, wurde finanziell sehr großzügig durch die „Deutsch Polnische Wissenschaftsstiftung“ (DPWS) und das „Deutsche Historische Institut“ Warschau (DHI) gefördert. Beiden Institutionen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dank gebührt auch Simone Buckreus, die die deutschen Artikel des Bandes korrigiert hat. Literaturverzeichnis Bieńkowska, Barbara: Losses of Polish Libraries During World War II, Warsaw 1994. Breslau, Ralf: Verlagert verschollen vernichtet … Das Schicksal der im 2.Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995. Chartier, Roger: L’ordre des livres. Lecteurs, auteurs, bibliothèques en Europe entre XIVe et XVIII e siècle, Aix en Provence 1992. Darnton, Robert: What is the history of books, in: Daedalus 111, 1982 (3), S. 65–83. Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź, Łódź 2018. Dies./Ososiński, Tomasz (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź. Ausstellungskatalog, Łódź 2022.
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Vanessa de Senarclens
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Einleitung der Herausgeberin
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Teil I Zerstörung und Zerstreuung der Bücherbestände in Polen während der Besetzung durch Nazi-Deutschland
Die Dokumentation polnischer Sammlungen und ihrer Bedrohung in den Materialien der Londoner Exilregierung im Zweiten Weltkrieg Am Beispiel zweier NS-Buchausstellungen im besetzten Warschau Markus Eberharter Abstract Der Ausgangspunkt für meine Überlegungen sind Archivmaterialien der polnischen Exilregierung in Paris und London, die von den ersten Kriegswochen an Unterlagen zur Zerstörung und Verbringung polnischer Kulturgüter sammelte. Ihr Ziel war es zum einen, die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, und zum anderen, diese Formen der Migration von Büchern zu dokumentieren und damit deren Rückgabe nach Kriegsende zu ermöglichen. In diesen Materialien finden sich unter anderem einige Hinweise darauf, dass für Buchausstellungen, die die Propagandaabteilung der NSDistriktverwaltung in Warschau eigens organisierte, gezielt Bücher aus bestehenden polnischen Sammlungen benutzt und herausgenommen wurden, um sie als Träger einer anderen historischen Narration in neuen Zusammenhängen zu präsentieren. Wie ich am Beispiel von zwei solcher Ausstellungen aus den Jahren 1940 und 1941 zeigen möchte, stand diese Praxis in völligem Einklang mit der NS-Kulturpolitik und sollte die deutsche Besatzung Polens in den Jahren 1939–1945 legitimieren. Auf Seiten der Exilregierung wurde hingegen befürchtet, dass für Ausstellungen aus den Bibliotheken entnommene Werke anschließend nicht wieder zurückgegeben wurden und so für die Sammlungen verloren gingen. Wie im Artikel an ausgewählten Beispielen gezeigt wird, lassen sich solche Fälle durchaus belegen.1
1 Zugleich kam es in Warschauer Bibliotheken bereits in den ersten Kriegswochen zu systematischen Plünderungen und Verbringungen ganzer Bestände, u.a. durch das sog. Kommando Paulsen oder die Kommission von Kajetan Mühlmann – vgl. dazu Mężyński, Andrzej: Kommando Paulsen. Organisierter Raub polnischer Kulturgüter während des Zweiten Weltkrieges, Köln 2000.
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_002
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Karol Estreicher und die Materialien des Büros für die Rückgabe von Kulturgutverlusten in London
Eine zentrale Rolle spielte in diesem Zusammenhang der Krakauer Kunsthistoriker Karol Estreicher jr., der schon im Oktober 1939 in Paris in die Exilregierung unter Premierminister Władysław Sikorski eintrat.2 Da seit Kriegsbeginn dank Kurieren und Emigrantinnen und Emigranten aus Polen immer tragischere Nachrichten über die Lage der Sammlungen polnischer Kultureinrichtungen unter der NS-Besatzung eintrafen, entschloss sich Sikorski im Frühjahr 1940, eine eigene Einheit unter dem Namen „Komisja rejestracji i rewindykacji polskich dóbr kulturalnych“ (Kommission für die Registrierung und Rückgabe polnischer Kulturgüter) ins Leben zu rufen, deren Leitung er Estreicher übertrug. Ihre Aufgabe war es, Zerstörungen und Raub systematisch zu dokumentieren. Diese Arbeit setzte Estreicher ab 1942 im Rahmen des „Büros für die Rückgabe von Kulturgutverlusten“ (Biuro Rewindykacji Strat Kulturalnych) fort, das ein Teil des damals neu eingerichteten „Ministeriums für Kongressarbeiten“ war.3 Er stand dabei in engem Kontakt sowohl mit britischen als auch amerikanischen Einrichtungen (zwischen Oktober 1942 und Mai 1943 unternahm er dafür eine Reise in die USA), was vor allem zum Ziel hatte, Unterstützung für die polnischen Bemühungen um die Rückgabe von Kulturgütern zu gewinnen. So wies Estreicher in öffentlichen Vorträgen auf die polnischen Verluste hin bzw. auf die Möglichkeiten, von den Nationalsozialisten verbrachte Kulturgüter an ihren ursprünglichen Ort zurückzubringen. Polen war 1944/45 somit sehr gut auf die Verhandlungen über die Rückgabe von Kulturgütern vorbereitet und dank Estreicher kehrten nach 2 Bei allen Informationen zur Tätigkeit von Estreicher für die Exilregierung im Bereich der Dokumentation von Zerstörung und Verbringung sowie der Rückgabe polnischer Kulturgüter stütze ich mich auf: Kowalski, Wojciech: Udział Karola Estreichera w alianckich przygotowaniach do restytucji dzieł sztuki zagrabionych w czasie II Wojny Światowej, in: Muzealnictwo 30, 1986, S. 24–33 sowie Matelski, Dariusz: Karol Estreicher jr 1906–1984 – biografia wielkiego Polaka, tome II 1939–1945, Kraków 2017 – insbesondere Kapitel V (Działalność rewindykacyjna w latach wojny [1939–1945]), S. 205–478. 3 Die wichtigsten Aufgaben dieses Ministeriums bestanden darin, Polen in politischer, wirtschaftlicher und juristischer Hinsicht auf die zukünftige Friedenskonferenz nach Ende des Krieges vorzubereiten. Vgl. dazu genauer: Ministerstwo Prac Kongresowych Rządu RP [emigracyjnego] w Londynie. Dzieje twórcy, zugänglich auf: https://www.szukajwarchiwach. gov.pl/zespol/-/zespol/51849 (18.1.2023); Pasierb, Bronisław: Polskie prace przygotowawcze do Traktatu Pokojowego z Niemcami 1916–1948. Instytucje – ludzie – problemy, Wrocław 1996, S. 177–202 sowie Kącka, Katarzyna: Polska wobec pokoju z Niemcami – rozwiązania instytucjonalne: Ministerstwo Prac Kongresowych oraz Biuro Prac Kongresowych 1939–1948, in: Toruńskie Studia Międzynarodowe 1, 2012, S. 44–48.
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Kriegsende schon im April 1946 u.a. Leonardo da Vincis Bild „Dame mit dem Hermelin“, der Hochaltar aus der Marienkirche sowie der Balthasar-BehemCodex nach Krakau, also an ihren ursprünglichen Ort, zurück.4 Die entsprechenden Informationen zu Verlusten und Zerstörungen im Bereich von Kulturgütern, die die Mitarbeiter des von Estreicher geleiteten Büros sammelten und bearbeiteten, gelangten dank der Aktivitäten der Untergrundbewegung im besetzten Polen sowie eines weltweiten Korrespondentennetzwerks nach London. Das Ergebnis dieser Arbeit waren drei Kartotheken (d.h. Zettelkästen), die Estreicher in einem Brief vom 14. Juni 1945 an den langjährigen Direktor des Warschauer Nationalmuseums Stanisław Lorentz, der sich während der NS-Besatzung ebenfalls für die Rettung von Kulturgütern engagierte, folgendermaßen beschreibt: Im Büro für die Rückgabe von Kulturgutverlusten, das zu leiten ich die Ehre habe, arbeiten fast zwanzig wissenschaftliche Mitarbeiter, die mühsam Materialien zu unseren Verlusten und zu Entschädigungen im Bereich der Kultur vorbereiten. Als im Frühjahr 1944 Fragen der Rückgabe international ein Thema wurden, war Polen das einzige Land, das vorbereitete Materialien und eine ausgearbeitete Methode hatte. Es existieren drei Kartotheken, auf deren Grundlage das Büro handelt. 1. Eine Kartothek nach Orten, in der gemäß den Ortschaften die Verluste unserer Institutionen besprochen werden. 2. Eine Kartothek nach Gegenständen, in der einzelne Objekte nach ihrer Art notiert werden. 3. Eine Kartothek nach Personen, die die Namen jener Deutschen enthält, die in Polen geraubt haben und die jetzt inhaftiert und verhört werden.5
Diese von Estreicher erwähnten Kartotheken werden heute im Warschauer „Archiwum Akt Nowych“ (Archiv für Neue Akten [AAN]) aufbewahrt, zusammen mit weiteren Materialien seines Büros, die zu ihrer Erstellung benutzt wurden.6 Vor allem dank dieser Materialien versuchte die polnische Exilregierung bereits während des Krieges die Weltöffentlichkeit auf die erheblichen Verluste Polens im Bereich seiner Kulturgüter hinzuweisen.7 4 Siehe dazu genauer: Ameisenowa, Zofia: Kodeks Baltazara Behema, Warszawa 1961, S. 6–7 (zugänglich unter: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ameisenowa1961; 12.12.2022) sowie Cieślińska-Lobkowicz, Nawojka: Walka w obronie polskich dóbr kultury w czasie wojny i okupacji hitlerowskiej, in: Kronika Zamkowa 1–2, 2008, S. 172. 5 Estreicher, Karol jr.: Dziennik wypadków tom I 1939–1945, Kraków 2001, S. 779. Falls nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Autor dieses Artikels. 6 Ein genaues Verzeichnis aller im AAN aufbewahrten Materialien des Büros für die Rückgabe von Kulturgutverlusten ist zugänglich auf: https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/seria?p_p_ id=Seria&p_p_lifecycle=0&p_p_state=normal&p_p_mode=view&_Seria_nameofjsp= jednostki&_Seria_id_serii=284002&_Seria_resetCur=false&_Seria_delta=200 (18.1.2023). 7 Dies geschah durch folgende Veröffentlichungen: 1. Édouard, Herriot: L’invasion allemande en Pologne: documents, témoignages authentifiés et photographiés, Centre d’information
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Zu den von Estreicher und seinem Team gesammelten Materialien zählt außerdem eine umfangreiche Sammlung von deutschen Presseartikeln aus den Jahren 1940–1945, die polnische Kultureinrichtungen betreffen,8 sowie eine weitere Kartothek zu diesen Artikeln, die sowohl chronologisch als auch nach Ortschaften geordnet ist.9 Die Ausschnitte stammen vorwiegend aus deutschen Zeitungen und Zeitschriften, die im Generalgouvernement erschienen sind, etwa der „Krakauer Zeitung“, „Warschauer Zeitung“ oder „Lemberger Zeitung“ sowie ihrer Beilage „Aus Zeit und Geschichte“, die in Zusammenarbeit mit dem „Institut für deutsche Ostarbeit“ in Krakau erstellt wurde. Einige Ausschnitte kommen wiederum aus dessen Vierteljahresschrift „Die Burg“ sowie aus der Monatsschrift „Das Generalgouvernement“. Vereinzelt wurden auch deutsche Zeitungen und Zeitschriften herangezogen, wie die Vierteljahresschrift „Jomsburg – Völker und Staaten im Osten und Norden Europas“, die „Kölner Zeitung“ oder der „Ostdeutsche Beobachter“, der in Posen, der Hauptstadt des ins Reich eingegliederten Warthelandes, erschien. In manchen Fällen enthält die vorhin angesprochene Kartothek zu den Artikeln das gesamte Inhaltsverzeichnis einer bestimmten Nummer einer Zeitschrift, in anderen Fällen die Zusammenfassung eines Artikels mit Hinweisen auf die aus Sicht der Arbeit des Londoner Büros wesentlichsten Passagen. Manchmal wurden auch kurze Fragmente ins Polnische übersetzt. Aus heutiger Perspektive muss über diese Ausschnitte aus deutschen Zeitungen einerseits betont werden, dass sie größtenteils Themen berühren, die
et de documentation du gouvernement Polonais, Paris 1940; 2. Ebor, William: The German Invasion of Poland: Polish Black Book Containing Documents Authenticated Reports and Photographs, London 1940 – engl. Ausgabe von L’invasion allemande en Pologne; 3. German Destruction of Cultural Life in Poland, New York 1941; 4. The German New Order in Poland, London 1942; (zweite Ausg. 1943); 5. Estreicher, Karol: Cultural Losses of Poland: Index of Polish Cultural Losses during the German Occupation, 1939–1944, London 1944, zugänglich unter: http://mbc.malopolska.pl/dlibra/doccontent?id=13505 (18.1.2023); 6. A provisional estimate of losses sustained by Poland during the first four years of War (London 1944 – diese Veröffentlichung erwähnt Kowalski [Udział Karola Estreichera, S. 27], sie lässt sich aber in keiner Bibliothek nachweisen); 7.The Nazi Kultur in Poland by several authors of necessity temporarily anonymous. London: Polish Ministry of Information by His Majesty’s Stationery Office 1945. 8 Dabei handelt es sich um: Wycinki z prasy niemieckiej (lub odpisy) dotyczące spraw kulturalnych w Polsce za lata 1940–1945 (AAN, Ministerstwo Prac Kongresowych Rządu RP [emigracyjnego] w Londynie/Dział Rewindykacji Strat Kulturowych, 2/136/0/3/252–257 und 259). 9 Kartoteka wyciągów z prasy niemieckiej dot. spraw kulturalnych w Polsce (ebd. 2/136/0/3/260).
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mittlerweile gut bekannt und erforscht sind, z.B. dank Materialien, die nach 1945 zugänglich waren. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die einzelnen Artikel aus der deutschen Besatzungspresse stammen und daher keine objektiven Quellen für die wissenschaftliche Forschung darstellen. Auf der anderen Seite zeigen die Ausschnitte, auf welche Art und Weise sich das Wissen unter den damaligen Repräsentanten des polnischen Staates in London über die Zerstörung und den Raub polnischer Kulturgüter herausbildete und mit welcher Akribie unter schwierigsten Bedingungen jede noch so kleine Information gesammelt wurde, die – so hoffte man – nach Kriegsende helfen konnte, verbrachtes Kulturgut wieder an seinen ursprünglichen Ort zurückzubringen. Somit sollten z.B. Migrationen von Büchern und anderen Kulturgütern, zu denen es während der Besatzungszeit gekommen war, wieder rückgängig gemacht werden. Viele der Ausschnitte und Kartothekeinträge zu polnischen Bibliotheken und Buchsammlungen betreffen allgemeine Fragen der NS-Bibliotheksverwaltung im Generalgouvernement sowie die Neuorganisation und Ordnung der Bestände, etwa nach dem Umzug der Jagiellonen-Bibliothek (als „Staatsbibliothek Krakau“) in ihr neues Gebäude im Frühjahr 1941. Es geht aber nicht nur um die großen vier neu eingerichteten Staatsbibliotheken Krakau, Warschau, Lublin und Lemberg oder um die SUB Posen, sondern auch um viele kleinere Bibliotheken. In den Besprechungen der Presseartikel in der Kartothek wird meist genau darauf geachtet, inwiefern es zu Eingriffen in bestehende Sammlungen kommt. Dies gilt besonders bei der Staatsbibliothek Krakau, in deren Fall häufig von konkreten Handschriften, Inkunabeln oder alten Drucken die Rede ist, vor allem dann, wenn bekannt war, dass diese aus der Bibliothek entlehnt wurden, um sie auf Ausstellungen zu präsentieren. Offenbar befürchteten Estreicher und seine Mitarbeiter, dass diese Bücher oder Handschriften nicht nur zeitweilig, sondern dauerhaft aus ihren ursprünglichen Sammlungen entfernt und nicht mehr zurückgegeben wurden. Schließlich war es doch ihre Aufgabe, mögliche Kulturgutverluste zu dokumentieren. In der Tat durchforsteten deutsche Kulturfunktionäre systematisch polnische Bibliotheken und Archive nach Dokumenten oder Drucken, um sie auf Ausstellungen von Büchern und Dokumenten in Krakau und Warschau zu zeigen. In erster Linie sollte dadurch die These von der deutschen Kulturüberlegenheit gestützt werden. Zugleich sollte der angeblich über Jahrhunderte so dominierende deutsche Kultureinfluss in Polen hervorgestrichen werden, was die NS-Besatzung polnischer Gebiete legitimierte. Zwei dieser Ausstellungen und einige der gezeigten Werke sollen nun im zweiten Teil dieses Textes näher vorgestellt werden.
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Buchausstellungen als Instrument der NS-Kulturpolitik im besetzten Polen
In erster Linie waren solche Buchausstellungen als kulturelles Angebot an die im besetzten Polen lebenden Deutschen gerichtet. Ihnen sollten die am Ende des vorigen Abschnitts angesprochenen kulturpolitischen Ziele nachhaltig vermittelt werden. Daher wurden Drucke und Dokumente ausgestellt, die entweder auf Deutsch verfasst wurden oder die sich in irgendeiner Form auf deutsches Engagement in Polen beziehen, etwa indem sie Deutsche betreffen, die in Polen gelebt und gearbeitet haben. Zugleich muss betont werden, dass alle aus Warschau stammenden Drucke als „Polonica“ angesehen werden können, sowohl in historischer als auch zeitgenössischer Hinsicht. Im Hinblick auf den Ort ihrer Herkunft erfüllen sie das territoriale Kriterium, ebenso wie das ethnische oder nationale, da sie von Personen hergestellt wurden, die ihren Berufsund Lebensmittelpunkt in Polen hatten.10 Außerdem gehörten diese Exemplare vor 1939 zu polnischen Sammlungen. Die Organisation solcher Ausstellungen oblag der Hauptabteilung Propaganda in Krakau sowie der Abteilung für Propaganda beim Gouverneur des Distrikts Warschau, denen im Rahmen der NS-Besatzungspolitik von Beginn an eine zentrale Rolle zufiel. So sollte erstere laut dem aus München stammenden Journalisten Maximilian du Prel, der der erste Leiter in Krakau war, als „aktive Ideenträgerin in das politische Geschehen eingreifen“ und auch der Generalgouverneur Hans Frank unterstrich, es gehe „um die Erringung eines neuen Lebensraumes für unser deutsches Vaterland“.11 Die Tätigkeit der Propagandaabteilungen stand in völligem Einklang mit der NS-Kulturpolitik im besetzten Polen, die sich, wie Christoph Kleßmann zeigt, vor allem auf die ideologisch motivierte Überlegenheit der deutschen über die polnische Kultur (sogenanntes deutsch-polnisches Kulturgefälle) stützte, weshalb er in diesem Zusammenhang von einem „Dualismus von Destruktion
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Vgl.: Mieczkowska, Halina: „Polonicum“ – definicja pojęcia, zakres doboru materiału, zastosowanie w bibliografii, in: Z badań nad Książką i Księgozbiorami Historycznymi 9, 2015, S. 21–30 oraz: Jednolite zasady gromadzenia zbiorów. Załącznik nr 1 do zarządzenia nr 155, 2018 Dyrektora Biblioteki Narodowej z dnia 24 grudnia 2018 r., online: https://www. bn.org.pl/download/document/1550829637.pdf (18.1.2023), S. 5–6. Zit. n.: Jochheck. Lars: Propaganda im Generalgouvernement. Die NS-Besatzungspresse für Deutsche und Polen 1939–1945, Osnabrück 2006, S. 78. Jockhecks Arbeit gibt außerdem einen informativen Überblick über die Strukturen und Tätigkeitsschwerpunkte der „Propagandabürokratie“ im Generalgouvernement – insbesondere in den Kapiteln „II. Strukturen“ (S. 69–90) und „III. Inhalte“ (S. 135–160).
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und forcierter Aktualisierung“ spricht.12 Es ging somit um die Bestätigung der These, dass alle kulturellen Phänomene, die im besetzten Polen anzutreffen sind, auf einen deutschen Einfluss zurückzuführen sind, z.B. da sie von Deutschen geschaffen wurden, die im Laufe der Jahrhunderte in Polen tätig waren. Zugleich sollte nachgewiesen werden, dass der sogenannte Weichselraum ursprünglich germanisches und nicht slawisches Siedlungsgebiet war. Die zweite und dezidiert destruktive Erscheinungsform dieser Kulturpolitik waren der Raub polnischer Kulturgüter, die bewusste Zerstörung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie die Unterbindung polnischen künstlerischen Schaffens bis hin zur Ermordung ihrer Schöpfer.13 Zugleich gestalteten die Propagandaabteilungen die NS-Kulturpolitik selbst entscheidend mit, wie die bereits im Frühjahr 1940 von ihnen erarbeiteten „Kulturpolitischen Richtlinien“ zeigen. Diese wurden einer breiteren Öffentlichkeit zum ersten Mal dadurch bekannt, dass sie auf Deutsch und Englisch in der von Estreichers Büro mitbetreuten Publikation „The Nazi Kultur in Poland“ 1945 in London veröffentlicht wurden.14 Diese Richtlinien regelten genau das kulturelle Leben im Generalgouvernement in all seinen Facetten, indem strikt zwischen polnischer und deutscher Kultur getrennt werden sollte, etwa bei Theater- und Opernaufführungen. Den Polen sollten lediglich unterhaltende Gattungen wie Varietés oder leichte Unterhaltungsromane zugänglich sein, ernste Schauspiele oder Opern seien ausschließlich Deutschen vorbehalten. Im Bereich der Buchkultur hatten diese Richtlinien eine – entsprechend der Bemerkung Kleßmanns – eindeutig destruktive Dimension, da sie festlegten, dass polnische Literatur gemäß spezieller Listen aus Buchhandlungen, Bibliotheken sowie privaten Haushalten zu entfernen sei. 12 Vgl. zu den Bemerkungen über die NS-Kulturpolitik im besetzten Polen: Kleßmann, Christoph: Die Selbstbehauptung einer Nation. Nationalsozialistische Kulturpolitik und polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939–1945, Düsseldorf 1971, S. 48–53. Das angeführte Zitat steht auf S. 48. 13 Siehe ausführlicher zu diesem Aspekt und zu konkreten Beispielen: Majewski, Piotr: Wojna i kultura. Instytucje kultury polskiej w okupacyjnych realiach Generalnego Gubernatorstwa, Warszawa 2005, S. 181–234 (Kapitel: „Muzea, zbiory sztuki i architektura zabytkowa“) und S. 235–272 (Kapitel: „Archiwa i biblioteki“). 14 Vgl. dazu im Folgenden: Nazi Kultur in Poland, S. 184–186 – zugänglich unter: https://pbc. gda.pl/dlibra/doccontent?id=65208 (18.1.2023). Das entsprechende darin abgedruckte Dokument selbst ist aber leider nicht datiert, ebenso ist unklar, an welche Dienststelle es adressiert war, weshalb u. a. Josef Bühler, Hans Franks Stellvertreter und Staatssekretär, dessen Echtheit infrage stellte. Vgl. dazu genauer: Pospieszalski, Karol Marian: Nazi Occupation Law in Poland. Selected Documents. Part II The General Government. Poznań: Institute for Western Affairs 2019, S. 563 (= Documenta Occupationis VI), der die „Richtlinien“ noch einmal abdruckt.
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Es ist leider unbekannt, wer die (insgesamt vier) „Listen des deutschfeindlichen, schädlichen und unerwünschten polnischen Schrifttums“ (Buchverlag Ost, Krakau 1940–1943) verfasste; vereinzelt wird – wie etwa vom Vorsitzenden des polnischen Schriftstellerverbandes bis 1939, Ferdynand Goetel,15 – vermutet, dass es der Germanist Karl Grundmann gewesen sein könnte, der vor dem Krieg Assistent des berühmten polnischen Literaturwissenschaftlers Zygmunt Łempicki an der Warschauer Universität war, aber schon im Oktober 1939 als Referent in die Warschauer Propagandaabteilung eintrat. Grundmann war, nicht zuletzt wegen seiner akademischen Ausbildung, einer ihrer wichtigsten Mitarbeiter und war in den Bereichen Literatur, Buchhandel und Theater aktiv, engagierte sich vor allem aber als Kulturpublizist und in der täglichen Kulturarbeit.16 So war er für eine der Buchausstellungen, von denen im Anschluss die Rede ist, verantwortlich, und über das allgemeine Ziel deutscher Kulturveranstaltungen im besetzten Warschau schrieb er in einem Text für die „Warschauer Kulturblätter“, deren Redakteur er war: Wir müssen uns nämlich immer wieder vergegenwärtigen, daß der deutsche Mensch hier in einer fremden Umgebung lebt und daß er gerade in Warschau der Gefährdung durch ein fremdes Volkstum, das hier seine stärksten Kräfte konzentriert hat, besonders ausgesetzt ist. […] so soll doch besonders an einigen Höhepunkten immer wieder deutlich werden, wie unendlich reich der Schatz unseres kulturellen Lebens ist und welche großen Verkörperer deutscher Kunstgestaltung in unserer Zeit leben. Das aber ist der tiefste Sinn der Kulturtage […]; so wollen sie nicht nur der Unterhaltung und Zerstreuung dienen und nicht nur unsere ständige Verbundenheit mit der Heimat besonders deutlich zeigen, sondern sie wollen gleichzeitig eine Manifestation deutscher Kulturleistung überhaupt sein. Jedem hier lebenden Deutschen sollen sie [d.h. die Kulturtage] die Verpflichtung auferlegen, an der Förderung und Stärkung des sich hier entwickelnden deutschen Kulturlebens einen umso lebhafteren Anteil zu nehmen.17
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Vgl. Goetel, Ferdynand: Czas wojny. Vorwort Władysław Bartoszewski, bearb. und Nachw. Marek Gałęzowski, Kraków 2005, S. 43–44. Goetel erhält von Grundmann auf seine Frage nach dessen Mitarbeit bei den Listen nur eine ausweichende Antwort. 16 Siehe zu Grundmann meinen Beitrag „Begrüßte oder verweigerte Multikulturalität? Der Warschauer Germanist Karl Grundmann (1909–1944), in: Bömelburg, Hans-Jürgen/ Surynt, Izabela (Hg.): Wer hat Angst vor Multikulturalität? Erfahrungen und Vorstellungen in der deutschen und polnischen Kultur. Marek Zybura zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 2022, S. 231–238. 17 Grundmann, Karl: Zwei Jahre kultureller Aufbauarbeit in Warschau, in: Warschauer Kulturblätter 3, 1941, o.S. [= S. 44–45].
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„Deutsche Leistung im Weichselraum“ (Krakau und Warschau 1940)
Die erste unter den genannten Vorzeichen organisierte Ausstellung mit Dokumenten und Drucken aus polnischen Bibliotheken und Archiven wurde zum ersten Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. September 1940 in Krakau mit dem Titel „Deutsche Leistung im Weichselraum“ eröffnet. Sie kam anschließend nach Radom und Lublin und war ab 27. Oktober 1940 auch in Warschau zu sehen, und zwar im Rahmen der zweiten Warschauer Kulturtage (25.10.– 3.11.1940), die anlässlich des einjährigen Bestehens des Generalgouvernements veranstaltet wurden.18 Wenngleich es leider keine genaueren Listen der Exponate und ihrer Herkunft gibt, kann angenommen werden, dass die überwiegende Mehrheit davon aus polnischen Archiven, Bibliotheken oder Museen stammte. Und zwar nicht zuletzt deswegen, da sowohl Heinrich Kurtz, Mitarbeiter der Krakauer Propagandaabteilung und Kurator der Ausstellung, als auch Grundmann, der das zweite Heft seiner „Warschauer Kulturblätter“ dieser Ausstellung und damit verbundenen Themen widmete, dies explizit betonen. Grundmann versteht die einzelnen Beiträge sogar als „ein[en] verheißungsvolle[n] Auftakt für die Arbeit an der Erschließung der zahlreichen noch in den Archiven lagernden Quellen“ und bedankt sich explizit beim Leiter des Archivamtes in Warschau, Erich Weise, für dessen Hilfe bei der Suche nach wertvollen Dokumenten.19 Kurtz hingegen spricht von „zahlreiche[n] Ausstellungsgegenständen aus den Beständen der ehemaligen polnischen Museen“ sowie davon, dass in diesen Sammlungen noch ein reichhaltiges Material und „Zeugnisse deutscher Leistung“ vorhanden seien.20 Deutlich ist somit erkennbar, dass die Eingriffe in bestehende polnische Sammlungen mit einer klaren kulturpolitischen Absicht, nämlich die deutsche Kulturdominanz zu belegen, vorgenommen wurden. Vielleicht gerade aus diesem Grund befindet sich dieser
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Vgl. Deutsches Schaffen im Osten. Zu der Ausstellung am Krakauer Stephansplatz, in: Warschauer Zeitung, 1./2. September 1940, o.S. [= S. 4], S. 4 sowie Grundmann, Karl: [Vorwort], in: Warschauer Kulturblätter 2, 1940, o.S. [= S. 5]. In diesem Heft (S. 27–30) befindet sich auch ein Programm der Kulturtage. Grundmann, [Vorwort], S. 6. Kurtz, Heinrich: „Deutsche Leistung im Weichselraum“. Die Ausstellung als Grundstock künftiger Museen, in: Warschauer Zeitung, 30. August 1940, S. 4. Vgl. auch den von Kurtz verfassten Führer durch die Ausstellung (Ausstellung Deutsche Leistung im Weichselraum vom 1.–20. September 1940, Krakau Ausstellungsgebäude am Stephansplatz, Krakau 1940), in dem er unterstreicht, es sei von Anfang an Teil seines Konzepts gewesen, polnische Sammlungen als Fundament für seine Ausstellung zu nutzen (S. 3–4).
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Artikel von Kurtz unter den Materialien, die das Büro von Estreicher in London gesammelt hat.21 Vereinzelt lassen sich aus den Publikationen, die anlässlich der Ausstellung in Zeitungen oder als eigene Drucke erschienen, Hinweise auf einzelne Exponate finden, wodurch sich gleichzeitig Spuren auf die mögliche Migration von Büchern und Drucken ergeben. So wurden u.a. deutsche Theaterplakate aus dem späten 18. Jahrhundert gezeigt,22 darunter wahrscheinlich auch jenes einer Aufführung von Schillers „Don Carlos“ am 14. September 1793, das zugleich in einem Artikel von Grundmann über die Warschauer Theaterbriefe von Lorenz Christoph Mizler de Kolof abgedruckt ist. Dieser Artikel, der in erster Linie Mizlers Werk „Brief eines Gelehrten aus Wilna an einen bekannten Schriftsteller in Warschau die Polnischen Schaubühnen betreffend“, das 1775 bei Johann August Poser in Warschau erschien, gewidmet ist, verdient wegen der darin genannten Bücher nähere Aufmerksamkeit. Grundmann selbst betont in seinem Text, es handle sich um einen seltenen Druck aus jener Zeit,23 der gemäß dem Bibliografen Karol Estreicher24 zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in vier polnischen Bibliotheken zugänglich war.25 Drei Exemplare sind heute noch nachweisbar,26 mit Ausnahme jenes der Krakauer JagiellonenBibliothek, die vielleicht sogar zwei besaß: In ihrem Katalog sind nämlich zwei Exemplare mit den Bemerkungen „verloren“ und „unauffindbar“ versehen.27 Bemerkenswert ist, dass es im Exemplar der Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit/Wissenschaften (PAN/PAU) im vierten und fünften Brief Anstreichungen mit einem Bleistift gibt. Beim Vergleich dieser Stellen mit Grundmanns Artikel fällt auf, dass es sich just um jene Sätze und Fragmente handelt, die dieser in seinem Artikel zitiert, wie etwa die Behauptung Mizlers, dass mehr als die Hälfte der damaligen Einwohner Warschaus Deutsche seien, 21 22
Wycinki z prasy niemieckiej (1940), S. 28. Kurtz, Heinrich: Rundgang durch die Ausstellung „Deutsche Leistung im Weichselraum“, in: Warschauer Kulturblätter 2, 1940, o.S. [= S. 12–13]. 23 Grundmann, Karl: Ein Warschauer Theaterbrief aus dem Jahre 1775, in: Warschauer Kulturblätter 2, 1940, o.S. [= 22]. 24 Es handelt sich hier um den Großvater des im ersten Teil dieses Artikels genannten Kunsthistorikers Karol Estreicher, der in London für die polnische Exilregierung arbeitete. 25 Vgl. Estreicher, Karol: Bibliografia Polska, 140.000 druków, Teil III, Bd. XI, Kraków 1908, S. 443–444. 26 Es sind dies die Exemplare aus zwei Krakauer Bibliotheken (Polnische Akademie der Gelehrsamkeit/Wissenschaften PAU/PAN sowie Czartoryski) sowie aus dem Ossolineum (früher: Lviv, heute Wrocław). 27 Vgl. http://pka.bj.uj.edu.pl/PKA/index.php?scr=indeksy&t1=kolof&offset=1&file=16930098-00.jpg sowie: http://pka.bj.uj.edu.pl/PKA/index.php?scr=indeksy&t1=kolof&offset= 1&file=1693-0100.jpg (18.01.2023).
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was sehr gut in Grundmanns ideologisches Konzept passt.28 Ebenso wie Mizlers Bemerkung, die Polen würden die französische der deutschen Kultur vorziehen, wobei sie den Deutschen gegenüber undankbar seien, obwohl diese doch so viel für die Kultur in Polen getan hätten.29 Vor allem sind Parallelen zwischen beiden Texten aber im vierten und fünften Brief zu erkennen, dort, wo Mizler die wichtigsten Eigenschaften aufzählt, die polnische Stücke aufweisen sollten, damit sie im Geiste der Aufklärung erzieherisch auf die Gesellschaft einwirken könnten. Diese Stellen – es sind jene, die Grundmann in seinem Artikel zitiert – sind nicht nur durch einen senkrechten Strich an der Seite gekennzeichnet, sondern zugleich mit – leider unlesbaren – Kommentaren versehen sowie dem Hinweis, diese Bemerkungen würden im fünften Brief fortgesetzt, zusammen mit einer genauen Seitenangabe.30 Es ist jedoch nicht eindeutig belegbar, ob auch Mizlers Buch auf den Ausstellungen in Krakau oder Warschau gezeigt wurde, ebenso wenig, ob Grundmann mit dem PAU/PAN-Exemplar gearbeitet hat, da er dieses aus Krakau hätte nach Warschau bringen müssen, wo in den Bibliotheken offenbar keine Ausgabe vorhanden war.31 Außerdem führt Grundmann die Zitate aus Mizlers Briefen nicht nach der Originalausgabe, sondern nach einer späteren Edition an.32 Grundmann bezieht sich in seinem Text noch auf einen weiteren seltenen Druck aus der Warschauer Theatergeschichte, und zwar auf einen Theaterkalender, den der aus Nürnberg oder Dresden stammende Buchdrucker Michael Gröll 1780 in Warschau verlegte und dessen Autor laut Karol Estreicher senior Adam Kazimierz Czartoryski war.33 Ludwik Bernacki schreibt, der Kalender sei erst 1919 in der Warschauer Universitätsbibliothek gefunden worden,34 wo 28 Vgl. Mizler de Kolof, Wawrzyniec: Brief eines Gelehrten aus Wilna an einen bekannten Schriftsteller in Warschau die polnischen Schaubühnen betreffend, Warschau 1775, S. 4 [=S. 52] – online zugänglich unter: https://polona.pl/item/brief-eines-gelehrtenaus-wilna-an-einen-bekannten-schriftsteller-in-warschau-die,MTE3MjgxNjU/2/#info: metadata (19.08.2022) – sowie: Grundmann, Ein Warschauer Theaterbrief, [S. 23]. 29 Vgl. Mizler de Kolof, Brief eines Gelehrten, S. 75 sowie Grundmann, Ein Warschauer Theaterbrief, [S. 23]. 30 Vgl. Mizler de Kolof, Brief eines Gelehrten, S. 5–7 [= S. 53–55] S. 75 sowie Grundmann, Ein Warschauer Theaterbrief [S. 24–25]. 31 Es ist bemerkenswert, dass keine der großen Warschauer Bibliotheken je ein Exemplar besaß bzw. besitzt. 32 Und zwar nach: Bernacki, Ludwik: Teatr, dramat i muzyka za Stanisława Augusta. Bd. 1: źródła i materiały, Lwów 1925, S. 66–122. 33 Dazu genauer: Bernacki, Ludwik: Adama Czartoryskiego G.Z.P. „Monitor“ z r. 1763 i „Kalendarz teatrowy“ na r. 1780, Lwów 1920, S. 6 (= Sonderdruck „Exlibris“). 34 Ebd.
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sich auch heute noch das wahrscheinlich einzige Exemplar in Polen befindet. Bei diesem scheint es sich jedoch nicht um jenes Exemplar zu handeln, dessen Titelseite Bernacki in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1920 abdruckt (und das er ein Jahr zuvor gefunden haben will), da bei ihm der Stempel der „Zaristischen Hauptbibliothek“ der Universität Warschau (wie die Bibliothek unter der russischen Besatzung vor 1914 hieß) fehlt. Das heutige Warschauer Exemplar stammt ursprünglich aus der Bibliothek der Warschauer „Towarzystwo Przyjaciół Nauk“ (Gesellschaft der Wissenschaftsfreunde) und weist sowohl den Stempel der „Zaristischen Hauptbibliothek“ als auch jenen der Warschauer Universitätsbibliothek selbst auf. Daher kann angenommen werden, dass die Universitätsbibliothek es schon vor dem Ersten Weltkrieg besaß; wie jedoch ein entsprechender Eintrag zeigt, wurde dieses Exemplar 1963 erneut erworben.35 Somit bleibt insgesamt die Frage offen, was mit dem Exemplar, das Bernacki beschreibt, geschah: Konnte Grundmann es vielleicht benutzen und hätte es auf einer Ausstellung in Warschau gezeigt werden können? Leider ist keine Quelle bekannt, die helfen würde, entsprechende Antworten zu finden.36
Ausstellung „Deutscher Kampf im Osten“ oder „Buch und Schwert“ (Krakau und Warschau 1941)
Auch anlässlich des zweiten Jahrestages der Einrichtung des Generalgouvernements organisierten die deutschen Besatzer eine Ausstellung von Büchern und Archivalien. Am 25. Oktober 1941 eröffnete Hans Frank die Schau „Deutscher Kampf im Osten“, die aus zwei Teilen bestand: einem Überblick über die aktuelle deutsche Verlagsproduktion sowie einer umfangreichen Sammlung von Dokumenten zur Geschichte des Deutschtums im Generalgouvernement. Sie war bis 12. November zu sehen und wurde in Zusammenarbeit u.a. mit der Archivdirektion und der Staatsbibliothek Krakau veranstaltet.37 35
Vgl. Czartoryski, Adam: Kalendarz teatrowy dla powszechney Narodu Polskiego Przysługi dany na rok przestępny 1780, Nakładem y Drukiem Michała Grölla, Warszawa o.J. [Universitätsbibliothek Warschau, Alte Drucke, Signatur 4.22.4.103]. 36 Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Mitarbeiterinnen der Abteilung für Alte Drucke der Universitätsbibliothek Warschau, bei Frau Mag. Marianna Czapnik sowie Frau Mag. Ewa Kosmowska, für ihre Hilfe, die im Text dargestellten Details in Bezug auf den Theaterkalender zu ermitteln, bedanken. 37 Siehe zu näheren Informationen über die Ausstellung: Deutscher Ostkampf im Spiegel alter Urkunden. Buchausstellung in Krakaus Tuchhallen – Eröffnung zur Buchwoche durch Dr. Frank, in: Krakauer Zeitung, 24. Oktober 1941, S. 5; Die Grundsteine der deutschen Ostarbeit. Eröffnung der Ausstellung „Deutscher Kampf im Osten“ durch Dr. Frank
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Ende November kam die Ausstellung nach Warschau, wo sie im Rahmen einer weiteren Auflage der Warschauer Kulturtage bis 7. Dezember 1941 unter dem Titel „Buch und Schwert“ gezeigt wurde. Es handelte sich jedoch nicht um genau dieselbe Ausstellung wie zuvor in Krakau. Gemeinsam war lediglich der Überblick über das Verlagsgeschehen, der zweite historische Teil war in Warschau aber dem deutschen Einfluss in den Bereichen Verwaltung, Handel oder Kultur auf die Geschichte der Stadt sowie der Region Mazowsze (Masowien) gewidmet. Verantwortlich für diesen Teil war Grundmann, der aus diesem Anlass zugleich ein den Kulturtagen und der Ausstellung gewidmetes Heft der „Warschauer Kulturblätter“ herausbrachte.38 Interessant sind im vorliegenden Zusammenhang etwa zwei Beispiele für auf der Ausstellung „Buch und Schwert“ 1941 gezeigte Bücher. Zu ihnen zählt erstens der alte Druck „Das frohlockende Warschau“, in dem detailliert der feierliche Einzug des Sachsenkönigs August III. in Warschau beschrieben wird und dessen Autor ein gewisser Gottlieb Enoch Jonisch war. Der Druck hatte sowohl eine Dresdener als auch Warschauer Ausgabe.39 Es ist interessant, dass sich und Staatssekretär Gutterer, in: Warschauer Zeitung, 26. Oktober 1941, S. 1 sowie: Im Spiegel des Buches. Zur Ost-Ausstellung in Krakau, in: Warschauer Zeitung, 27. Oktober 1941, S. 3. Ein weiterer Bericht erschien im Posener „Ostdeutschen Beobachter“ am 29. Oktober 1941 mit dem Titel „Der Osten [sic!] künftiges Kulturzentrum. Staatssekretär Gutterer sprach zur Eröffnung der Buchwoche in Krakau“. Dieser Artikel sowie eine Zusammenfassung befinden sich in den Materialien des Büros für die Rückgabe von Kulturgutverlusten – vgl. Wycinki z prasy niemieckiej (1941), S. 43 sowie: Kartoteka wyciągów, S. 47. 38 Die Warschauer Ausstellung wurde in der damaligen Presse relativ ausführlich besprochen, vgl.: 6000 Besucher in 19 Tagen. „Deutscher Kampf im Osten“ auch in Warschau und Lemberg, in: Warschauer Zeitung, 14. November 1941, S. 5; Programm der Warschauer Kulturtage. Ein Aufruf an das Deutschtum in Warschau – Tagesplan der Veranstaltungen, in: Warschauer Zeitung, 23. November 1941, S. 7; Schon 1586 erste Warschauer deutsche Buchdruckerei. Deutsches Schrifttum auf Warschaus Kulturtagen ausgestellt – Dr. Goebbels schenkt der Stadt die „Künstlerfahrt“, in: Warschauer Zeitung, 25. November 1941, S. 5; Der Osten ein Zukunftsland deutscher Dichtung. Präsident Ohlenbusch eröffnete Ausstellung „Buch und Schwert“ – Der zweite Tag der Warschauer Kulturtage sowie: Neues Heft „Warschauer Kulturblätter“. Blick auf Warschaus deutsche Geschichte, beide in: Warschauer Zeitung, 28. November 1941, S. 5; Warschaus ältestes deutsches Schrifttum ausgestellt. Aufschlussreiche Dokumente in der Buchausstellung – Ein „General-JudenReglement“ aus dem Jahre 1797, in: Warschauer Zeitung, 3. Dezember 1941 sowie Grundmann, Karl: [Vorwort], Warschauer Kulturblätter 3, 1941, o.S. [= S. 5]. Der Artikel „Der Osten ein Zukunftsland …“ befindet sich außerdem unter den Londoner Ausschnitten – Wycinki z prasy niemieckiej (1941), S. 50. 39 Beide Ausgaben sind online über die ULB Sachsen-Anhalt zugänglich: https://digitale. bibliothek.uni-halle.de/vd18/content/pageview/13482120 sowie: http://digitale.bibliothek. uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1-754610 (18.1.2023). Sie stammen ursprünglich aus der Bibliothek von Johann August von Ponickau.
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heute kein Exemplar dieses Drucks mehr in den Beständen der Universitätsbibliothek Warschau befindet, obwohl diese Bibliothek noch 1938 nachweislich die Warschauer Ausgabe von „Das frohlockende Warschau“ besaß.40 Sie wurde noch 1942, also im Jahr nach der Ausstellung, von Felix Billig, einem Redakteur der „Krakauer Zeitung“ in einer weiteren Nummer der „Warschauer Kulturblätter“ besprochen. In seinem Artikel „Von Warschauer Freudentagen“ gibt es außerdem eine Reproduktion des Titelblattes.41 Offenbar ging dieser Druck also erst nach 1942 verloren. Auch die Broschüre „Gesänge bei der Schillerfeier in Warschau am 10. November 1859“ aus der Druckerei der Gebrüder Hindemith in Warschau wurde mit Sicherheit im Herbst 1941 gezeigt, was von Karl Dietrich, der sie in den „Warschauer Kulturblättern“ bespricht, explizit bestätigt wird.42 Sie erschien aus Anlass der in Warschau organisierten Feiern zum 100. Geburtstag von Friedrich Schiller und enthält neben dem „Lied von der Glocke“ und „An die Freude“ die Texte einer Jubelouvertüre sowie einer Festkantate zu dessen Ehren. Es handelt sich offenbar um einen sehr seltenen Druck, der nicht nur in den polnischen Bibliographien (z.B. bei Estreicher) fehlt, sondern sich heute auch in keiner großen Bibliothek nachweisen lässt.43 Das einzige auffindbare Exemplar gehört der Bayerischen Staatsbibliothek,44 bei einem Vergleich des Titelblattes mit jenem aus den „Warschauer Kulturblättern“ fällt jedoch rasch auf, dass es zwei verschiedene Exemplare sind. Somit stellen sich die Fragen, woher das 1941 in Warschau auf „Buch und Schwert“ gezeigte Exemplar kam und was sein späteres Schicksal war.
Zusammenfassung
Es ist schwer zu sagen, ob sich die in diesem Beitrag angedeuteten Migrationsgeschichten je weitererzählen lassen. Die erwähnten Materialien, die das Londoner Büro für die Rückgabe von Kulturgutverlusten rund um Estreicher 40 Vgl. Estreicher, Stanisław: Bibliografia Polska Karola Estreichera. Ogólnego zbioru Tom XXXII, Kraków 1938, S. 211. 41 Billig, Felix: Von Warschauer Freudentagen, in: Warschauer Kulturblätter 4, 1942, nach S. 48. 42 Dietrich, Karl: Eine Schillerfeier in Warschau im Jahre 1859, in: Warschauer Kulturblätter 3, 1941, o.S. [= S. 32–33]. Der Artikel enthält ebenfalls eine Reproduktion des Titelblattes. 43 Wenig bekannt ist auch die Geschichte der Druckerei der Gebrüder Hindemith – vgl. Ociepko, Janina: Karol Wilhelm Hindemith, in: Treichel, Irena (Hg.): Słownik Pracowników Książki Polskiej, Warszawa Łódź 1972, S. 331–332. 44 Zugänglich online unter: https://www.digitale-sammlungen.de/en/view/bsb10125031? page=,1 (18.1.2023).
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sammelte und die das Schicksal polnischer Sammlungen während des Krieges dokumentieren sollten, geben zwar einige Impulse und sind ein Beleg für die Akribie, die vonseiten der polnischen Exilregierung in dieser Angelegenheit gezeigt wurde. Sie helfen jedoch nicht weiter, wenn es um die Frage geht, was nach 1945 mit den im besetzten Warschau oder Krakau gezeigten Exponaten passierte und wo sie sich heute befinden, falls sie nicht mehr in ihre ursprüngliche Sammlung zurückgekehrt sind. Die wenigen hier beschriebenen Beispiele sowie der historische und kulturpolitische Kontext, in den diese Bücher gestellt wurden, zeigen, in welche Richtung entsprechende Forschungen gehen könnten, da auf den von den NS-Propaganda-Abteilungen organisierten Ausstellungen zahlreiche Inkunabeln, Drucke und Archivalien gezeigt wurden, wofür systematisch bestehende Sammlungen durchforstet wurden. Somit könnte zweifelsfrei ein bislang wenig bekannter Aspekt in der Geschichte polnischer Buchsammlungen während des Zweiten Weltkriegs etwas näher erhellt werden. Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur
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Der Büchermord
Die Zerstörung der Bibliotheken in der polnischen Hauptstadt während und nach der Niederschlagung des Aufstands (August 1944 bis Januar 1945) Jacek Kordel Abstract Der Beitrag widmet sich der Geschichte der gezielten und systematischen Zerstörung von Handschriften, Inkunabeln und alten Drucken während des Warschauer Aufstands und nach dessen Niederschlagung. Es handelt sich um die letzten Monate der deutschen Besatzung Warschaus, nämlich vom 1. August 1944, dem Ausbruch des Aufstands, bis zur Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1945, als die letzten deutschen Truppen die Stadt verließen. In Anbetracht des ungeheuren Schadens wurde dies als „Büchermord“ bezeichnet. Der Text stützt sich vor allem auf die Erinnerungen der Bibliothekare, die die Ereignisse selbst miterlebt haben.
Von Beginn des Zweiten Weltkriegs an herrschten die deutschen Behörden als Besatzer über die polnischen Gebiete mit harter Hand. Exekutionen, Verhaftungen, Zwangsarbeit und Deportationen, unter anderem in Konzentrationslager, waren an der Tagesordnung für die polnische Bevölkerung während der sechs Kriegsjahre. Die deutschen Besatzer richteten sich besonders gegen die politische, soziale, intellektuelle und kulturelle Elite des Landes. Die eigentliche Hekatombe traf die polnische Gesellschaft im letzten Kriegsjahr, als die deutschen Behörden den Warschauer Aufstand (August bis Oktober 1944) auf brutale Weise niederschlugen: Das Blut der ermordeten Bürger floss auf den Straßen und Pioniereinheiten zerstörten nacheinander die Stadtteile, die auf Hitlers Befehl dem Erdboden gleichgemacht werden sollten. Bohdan Korzeniowski, ein bedeutender polnischer Theaterwissenschaftler und Übersetzer, war ein wacher Beobachter der tragischen Ereignisse, die während des Aufstandes und nach dessen Niederschlagung in Warschau stattfanden. Er prägte den Begriff „Büchermord“, um die schrecklichen Handlungen der deutschen Wehrmacht zu beschreiben, die auch die ältesten, größten und wertvollsten Bibliotheksbestände in Warschau fast vollständig zerstörten. Bevor ich zum Hauptthema komme, möchte ich kurz die Geschichte der Warschauer Bibliotheken während des Zweiten Weltkriegs skizzieren. Diese Geschichte beginnt mit den ersten Bombenangriffen und Artilleriebeschüssen, die die Stadt in den ersten Tagen des Septembers 1939 trafen.
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_003
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September 1939
Der Angriff Deutschlands auf Polen im September 1939 forderte zahlreiche Menschenleben. Die Gesamtzahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung betrug etwa 100.000, wobei Warschau allein 25 Prozent dieser Verluste zu beklagen hatte. Durch Bombenangriffe und Artilleriebeschuss wurden Städte, Industrieanlagen sowie Eisenbahn- und Straßeninfrastruktur zerstört.1 Warschau, das größte und bedeutendste politische, wissenschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes, erlitt bereits in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs erhebliche Schäden. Ab dem 1. September 1939 war die Stadt Ziel von Bombenangriffen, und vom 8. bis zum 27. September wurde sie mit Artillerie beschossen. Viele Bibliotheken wurden dabei zerstört oder schwer beschädigt. Am 24. September brannte die Zentrale Militärbibliothek (Centralna Biblioteka Wojskowa) bis auf die Grundmauern nieder. Die Bibliothek befand sich im Gebäudekomplex der Generalinspektion der Streitkräfte und war seit den ersten Kriegstagen bombardiert worden. Das Feuer vernichtete eine Büchersammlung von 400.000 Bänden, darunter auch Handschriften und alte Drucke. Am Vorabend des Brandes konnten einige der wertvollen Werke unter Artilleriebeschuss aus der Bibliothek gerettet werden, sie wurden jedoch nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands verbrannt. Unter den zerstörten Sammlungen befanden sich auch die wertvollsten Werke aus dem Polnischen Museum in Rapperswil.2
1 Vgl. Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Bonn 2006; ders.: Der Überfall. Deutschlands Krieg gegen Polen, Stuttgart 2009; Moczulski, Leszek: Wojna polska 1939 [Polen-Krieg 1939], Warszawa 2009. 2 Nowik, Grzegorz: Skarby (po wielokroć) utracone. Ratowanie zbiorów Centralnej Biblioteki Wojskowej podczas II wojny światowej i po wojnie [(Vielfach) verlorene Schätze. Die Rettung der Sammlung der Zentralen Militärbibliothek während des Zweiten Weltkriegs und nach dem Krieg], in: Studia i Materiały Centralnej Biblioteki Wojskowej im. Marszałka Józefa Piłsudskiego 1 (d.h. 10), 2019, S. 9–18. Das Polnische Museum in Rapperswil wurde 1870 von Władysław Graf Plater gegründet. Zu Beginn des 20. Jhs. verfügte es über die größte polnische Bibliothek im Exil (rund 100.000 Drucke) und eine reiche Handschriftensammlung (darunter das Archiv der Großen Emigration). 1927 wurde die Sammlung vom Nationalmuseum und der Nationalbibliothek übernommen. Vgl. Chankowski, Andrzej Stanisław: Muzeum Polski Współczesnej w Rapperswilu w latach 1936–1939 [Das Museum des zeitgenössischen Polen in Rapperswil in den Jahren 1936 bis 1939], in: Rocznik Biblioteki Narodowej 32, 1998, S. 281–326; Chwalewik, Edward: Zbiory polskie w ojczyźnie i na obczyźnie [Polnische Sammlungen im In- und Ausland], Bd. 2, Warszawa 1927, S. 141–151; Jastrzębowska, Elżbieta: Drugi Rapperswil i jego kustosz [Das zweite Rapperswil und sein Kustos], in: Rocznik Biblioteki Narodowej 36, 2004, S. 275–298. Für weitere Informationen zur Geschichte der Bibliotheken, insbesondere in Warschau, während des Zweiten Weltkriegs, siehe Kordel, Jacek: The decimation of Polish
Der Büchermord
Abb. 2.1
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Ruinen des Gebäudes der Zentralen Militärbibliothek, das im September 1939 durch Artilleriebeschuss zerstört wurde, 1939. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1982/III.
Auch die Bibliothek des Fideikommisses der Familie Zamoyski (Biblioteka Ordynacji Zamojskiej) wurde mehrmals bombardiert. In dieser Bibliothek wurden wertvolle illuminierte Handschriften, Inkunabeln, alte Drucke, kartografische, ikonografische und numismatische Sammlungen aufbewahrt. Am 25. September fielen Geschosse auf das Gebäude und beschädigten etwa 50.000 Bände, was fast ein Drittel der Sammlung ausmachte. Ein Großteil der Manuskripte und Drucke, die vor der Zerstörung gerettet wurden, wurde im August und September 1944 von deutschen Soldaten verbrannt. Den Krieg überlebten nur einzelne Objekte.3 Libraries in the Second World War, in: Polish Libraries 10, 2022, S. 6–25 (einschließlich eines Verzeichnisses relevanter Literatur). 3 Ajewski, Konrad: Zbiory artystyczne i galeria muzealna Ordynacji Zamojskiej w Warszawie [Kunstsammlungen und Museumsgalerie des Fideikommisses der Familie Zamoyskiin Warschau], Kozłówka 1997, S. 257. Vgl. Horodyski, Bohdan: Biblioteka Ordynacji Zamojskiej w latach wojny [Die Bibliothek des Fideikomisses der Familie Zamoyski während der Kriegsjahre], bearb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2005; Makowski, Tomasz: The Zamoyski Family Library In Warsaw As An Institute Of Polish History, in: Polish Libraries 1, 2013, S. 234–240.
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Auch die Bibliothek des Fideikommisses der Familie Przezdziecki (Biblioteka Ordynacji Przezdzieckich) wurde am 25. September fast vollständig zerstört. Dabei gingen 60.000 Bände und 500 Handschriften, 800 Pergamentdokumente, 350 Karten sowie 10.000 Stiche und Zeichnungen verloren. Ein kleiner Teil der Sammlung, der im September 1939 vor der Zerstörung geschützt wurde, fiel im September 1944 der deutschen Armee zum Opfer.4 Die anderen bedeutenden Bibliotheken in Warschau blieben von den Verlusten nicht verschont: Explosionen und die in der Folge verursachten Brände richteten im Potocki-Palast, wo die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek untergebracht war, sowie im modernen Gebäude der Bibliothek des Fideikommisses der Familie Krasiński (Biblioteka Ordynacji Krasińskich) in der Okólnik-Straße erheblichen Schaden an. Die Universitätsgebäude, die die wertvollen Sammlungen der Universitätsbibliothek und der Fakultätsbibliotheken beherbergten, waren ebenfalls von den Kriegshandlungen betroffen und wurden beschädigt. Ein bemerkenswerter Ausschnitt aus den Memoiren von Tadeusz Makowiecki, eines Kunst- und Literaturhistorikers, der im September 1939 in der Universitätsbibliothek tätig war, verdeutlicht die schwierigen Umstände dieser Zeit: Der Feuerring um die Bibliothek zieht sich immer enger zusammen. Das Feuer dringt dreimal in das Gebäude ein […]. Die Explosion hat die große Eingangstür weggesprengt, Granatsplitter haben die Ostwand verkrüppelt und das Dach ist an hundert Stellen zerrissen. Es gibt keine intakte Glasscheibe mehr, der Rauch erstickt die Arbeiter und es fehlt an Wasser. Die Steintreppe des KazimierzPalastes [Sitz des Rektorats] ist mit Blut bedeckt und dadurch glitschig. […] Einige Schritte vom Lagerhaus entfernt weht der Wind brennende Aktenstapel heran. Das Feuer dauerte 20 Stunden, die gesamte Universität brannte drei Tage und drei Nächte lang.5
Die Verluste an den Sammlungen waren überraschenderweise nicht so hoch. Allerdings verursachten die durch Bombardierung und Artilleriebeschuss verursachten Brände verheerende Schäden in Schul- und Gemeindebibliotheken. Die Bibliothek der Freien Polnischen Universität (Biblioteka Wolna Wszechnica Polskiej) mit über 100.000 Bänden wurde vollständig zerstört, ebenso wie 4 Ajewski, Konrad: O trzech bibliotekach ordynackich w Warszawie w 60. rocznicę ich zniszczenia [Über die drei Familienbibliotheken in Warschau zum 60. Jahrestag ihrer Zerstörung], in: Muzealnictwo 45, 2004, S. 9–18; Sapała, Patryk: Biblioteka Przezdzieckich i jej zbiory [Die Przezdziecki-Bibliothek und ihre Sammlungen], in: Rocznik Biblioteki Narodowej 42, 2011, S. 273–318. 5 Makowiecki, Tadeusz: Warszawska Biblioteka Uniwersytecka [Universitätsbibliothek Warschau], Frankfurt a.M. 1947, S. 3–4 (Wenn nicht anders angegeben, wurden die Übersetzungen vom Autor angefertigt).
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fast 20 Prozent der Zweigstellen der Stadtbibliothek (Biblioteka Publiczna m. st. Warszawy).6
Besatzung (1939–1945)
In den ersten Monaten der Besatzung wurden die Bibliotheken oft geplündert. Eine besonders schwerwiegende Schädigung wurde durch das sogenannte Einsatzkommando Paulsen verursacht, eine Gruppe von Archäologen unter der Leitung von Peter Paulsen, die im Generalgouvernement im Auftrag des Reichssicherheitshauptamtes tätig war. Ursprünglich war das Kommando Paulsen nur damit beauftragt, archäologische Ausgrabungsstätten und prähistorische Artefakte zu schützen. Im Oktober 1939 erhielten die Mitglieder den Befehl, alle Kulturgüter in Polen zu beschlagnahmen, die einen Bezug zu germanischen Angelegenheiten hatten. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass die Verbindung zur deutschen Kultur von den Gruppenmitgliedern sehr breit gefasst wurde. Die politischen Büchersammlungen standen an erster Stelle, insbesondere die marxistischen, aber auch die jüdischen und freimaurerischen. Paulsen beschlagnahmte diese wie auch andere und schickte sie nach Berlin. Darunter befanden sich die Bibliothek des Sejm und des Senats mit über 80.000 Bänden, die Büchersammlungen des Französischen, des Dänischen und des Ungarischen Instituts, die Bibliothek des Sprachwissenschaftlichen Seminars des Indoeuropäischen Instituts der Universität Warschau sowie Teile der Bücher aus der Bibliothek des Staatlichen Archäologischen Museums, des Polnischen Instituts für Ausländische Zusammenarbeit und des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts. Auch die Hauptbibliothek der Judaistik (Główna Biblioteka Judaistyczna), die größte jüdische Büchersammlung in Warschau, mit 40.000 Bänden wurde an die Spree geschickt. Paulsen hatte außerdem 6 Bańkowski, Piotr (Hg.): Straty bibliotek i archiwów warszawskich w zakresie rękopiśmiennych źródeł historycznych [Verluste der Warschauer Bibliotheken und Archive im Hinblick auf handschriftliche historische Quellen], Bd. 3: Biblioteki [Bibliotheken], Warszawa 1955; Bieńkowska, Barbara (Hg.): Informator o stratach bibliotek i księgozbiorów domowych na terytoriach polskich okupowanych w latach 1939–1945 (bez ziem wschodnich) [Ein Handbuch über die Verluste von Bibliotheken und Büchersammlungen in den besetzten polnischen Gebieten (ohne Ostgebiete) in den Jahren 1939 bis 1945], Poznań 2000; Estreicher, Karol: Cultural losses of Poland. Index of Polish cultural losses during the German occupation, 1939–1944, London 1944; Tomkiewicz, Władysław (Hg.): Straty kulturalne Warszawy [Die kulturellen Verluste von Warschau], Bd. 1, Warszawa 1948; Mężyński, Andrzej (Hg.): Straty bibliotek w czasie II wojny światowej w granicach Polski z 1945 roku. Wstępny raport o stanie wiedzy [Verluste von Bibliotheken während des Zweiten Weltkriegs innerhalb der polnischen Grenzen von 1945. Vorläufiger Bericht über den Stand des Wissens], Warszawa 1994.
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vor, wertvolle illuminierte Handschriften aus der Sammlung der ZamoyskiBibliothek zu beschlagnahmen, konnte jedoch letztendlich nur den „Codex Suprasliensis“, ein Denkmal der slawischen Schrift aus dem 11. Jahrhundert, nach Berlin ausführen. Das „Kommando Paulsen“ brachte mindestens 160.000 Bücher aus Polen heraus, von denen nach 1945 bis auf wenige Ausnahmen keines zurückkehrte.7 An der Plünderung von Kulturgütern war ebenfalls der österreichische Kunsthistoriker Kajetan Mühlmann beteiligt, der im November 1939 von Hermann Göring zum „Sonderbeauftragten für den Schutz und die Sicherung von Kunstwerken in den besetzten Ostgebieten“ ernannt wurde. Mühlmann konzentrierte sich hauptsächlich auf die Museumssammlungen, doch seine Aktivitäten führten auch zu Verlusten bei den Buchsammlungen. Aus der Universitätsbibliothek in Warschau wurden fast 600 Zeichnungen, sechs Bände mit Landkarten, 18 Alben und fast 16.500 Stiche entnommen, darunter Werke von Albrecht Dürer und eine Sammlung von Grafiken aus der Sammlung von Stanislaus II. August. Diese wurden anschließend in Krakau deponiert. In der Nationalbibliothek wurden 410 Pergamentmanuskripte beschlagnahmt. Auch die Inkunabeln dieser Bibliothek, über 2.000 Bände, sollten eigentlich von der Kommission Mühlmann erbeutet werden, wurden jedoch schließlich in Warschau belassen. Zusätzlich wurden 21 illuminierte Handschriften aus der Zamoyski-Bibliothek und eine unbekannte Anzahl von Objekten aus der Krasiński-Bibliothek gestohlen.8 Die größten Bibliotheken, darunter die Nationalbibliothek und die Universitätsbibliothek, sowie die Büchersammlungen der einzelnen Fakultäten wurden für die Leser geschlossen. Die Bibliothekare versuchten, Manuskripte, alte Drucke und Bücher zu sichern, die im September 1939 vor der Zerstörung bewahrt worden waren, aber die Situation war sehr schwierig. In ihren Memoiren schreibt Wanda Sokolowska über die Universitätsbibliothek: Es fehlte nicht an Notfallarbeiten. Das Bibliotheksgebäude wies an vielen Stellen Beschädigungen auf. Das Dach war löchrig und die Fensterrahmen im Magazin waren durchgebrannt und beschädigt. Keine einzige Glasscheibe war unversehrt und die Bücher in den Regalen des Magazins waren mit Glas, Putz und Asche bedeckt. Im Handschriftenlesesaal befand sich eine mechanische Werkstatt mit allem notwendigen Zubehör, einschließlich Schmiermitteln und Petroleum. Die 7 Mężyński, Andrzej: Kommando Paulsen. Organisierter Kunstraub in Polen, Köln 2000; ders.: Okupacyjne dzieje księgozbioru Biblioteki Sejmowej [Die Geschichte der Bibliothek des Sejms während der deutschen Besetzung], in: Przegląd Sejmowy 2, 1994, S. 188–200. 8 Kordel, Decimation, S. 14. Eine monografische Studie über die Tätigkeit der MühlmannKommission stellt ein Forschungsdesiderat dar.
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neuen Besitzer des Bibliotheksgebäudes nahmen keinerlei Rücksicht auf die Sicherheit der Bestände.9
Diese Arbeiten wurden unter äußerst schwierigen Bedingungen durchgeführt. Die Arbeiter waren ständigen Schikanen der Polizei ausgesetzt und mussten bei Kälte arbeiten, manchmal sogar im Freien oder in einem unverglasten Lagerhaus. Hinzu kam der unangenehme Gestank der Gräber, die wegen der Exhumierung ausgehoben wurden.10 Einige Bibliotheken erlitten ein noch schlimmeres Schicksal. Die Büchersammlungen vieler renommierter Hochschulen wurden zerstört, darunter die der Hochschule für Politikwissenschaft (Szkoła Nauk Politycznych), der Militärischen Ingenieurschule (Wojskowa Szkoła Inżynierii), der Höheren Kriegsschule (Wyższa Szkoła Wojenna) und der Hochschule für Journalismus (Wyższa Szkoła Dziennikarska). Die Tätigkeit der Stadtbibliothek wurde nicht unterbrochen, sie blieb, wie die meisten ihrer Zweigstellen, bis zu ihrer Schließung im November 1942 geöffnet. Die deutschen Behörden gingen grausam gegen die Schulbibliotheken vor. Es ist zu schätzen, dass diese Büchereien während des Krieges 92 Prozent ihres Bestandes verloren haben.11 Im Juni 1940 richtete der Generalgouverneur Hans Frank die Hauptverwaltung der Bibliotheken im Generalgouvernement ein. Diese wurde von Gustav Abb, dem Direktor der Universitätsbibliothek Berlin, geleitet. In Warschau, Krakau und Lublin wurden neue Staatsbibliotheken ins Leben gerufen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde auch in Lemberg eine weitere Staatsbibliothek eröffnet. Die staatlichen Bibliotheken sollten primär der deutschen Wissenschaft dienen. Mit wenigen Ausnahmen waren ihre Bestände ausschließlich deutschen Nutzern vorbehalten. In Warschau wurde die Staatsbibliothek aus der Zusammenführung der Universitätsbibliothek (Abteilung I) und der Nationalbibliothek (Abteilung II) geschaffen. Nach dem Tod von Edward Graf Krasiński im Dezember 1940 im Konzentrationslager Dachau wurde die Krasiński-Bibliothek in die Staatsbibliothek integriert (Abteilung III). Die Leitung der Staatsbibliothek in Warschau wurde Wilhelm Witte anvertraut, der zuvor in der Staats- und Universitätsbibliothek Breslau tätig war. Im Frühjahr 1941 ordnete Witte eine grundlegende Neuordnung der Bestände in der Staatsbibliothek Warschau an. Dem Plan zufolge sollte die Krasiński-Bibliothek Spezialsammlungen aus allen Bibliotheken in Warschau 9 10 11
Sokołowska, Wanda: W Bibliotece Uniwersyteckiej, 1939–1944 [In der Universitätsbibliothek, 1939–1944], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter], Warszawa, 1939–1945, Bd. 1, S. 278–279. Ebd., S. 280. Kordel, Decimation, S. 6–25 (mit einem kritischen Überblick über die Literatur).
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beherbergen. Trotz der Proteste führender polnischer Bibliothekare wurde eine Umstrukturierung eingeleitet. Die Pläne für das Gebäude in der OkólnikStraße sahen die Zusammenlegung von alten Drucken, Polonica bis 1800, Handschriften, Grafiken und Zeichnungen (einschließlich Fotografien), Karten sowie Musik- und Theatersammlungen vor.12
Abb. 2.2
Die Fassade der Krasiński-Bibliothek, 1930. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1995/II.
Das Gebäude der Krasiński-Bibliothek wurde während der Belagerung der Hauptstadt im September 1939 von drei Bomben und Artilleriegeschossen getroffen, wodurch das Treppenhaus, der Lesesaal und ein Teil der Museumsräume zerstört wurden. Seit Herbst 1939 war das Gebäude ungeheizt und dadurch sehr feucht. Es erfüllte nicht die nötigen Voraussetzungen, um die wichtigsten und wertvollsten Bibliotheksbestände angemessen unterzubringen. 12 Mężyński, Andrzej: Biblioteki Warszawy w latach 1939–1945 [Bibliotheken in Warschau 1939–1945], Warszawa 2010, S. 123–161, 209–233. Es ist zu erwähnen, dass im Urteil des Obersten Nationalgerichts, welches nach dem Krieg deutsche Kriegsverbrecher in Polen verurteilte, die Umstrukturierung der Bibliotheken als eine Maßnahme „zum Nachteil des polnischen Staates und der Zivilbevölkerung“ angesehen wurde, Cyprian, Siedem wyroków, S. 69.
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Wittes Absichten wurden jedoch weitgehend verwirklicht. Fast 18.000 Handschriften aus der Nationalbibliothek und 4.000 aus der Universitätsbibliothek wurden in die Krasiński-Bibliothek transportiert. Außerdem wurden mehr als 5.600 Musikmanuskripte und fast 13.000 Theatermanuskripte in das Bibliotheksgebäude in der Okólnik-Straße gebracht. Hinzu kommen die kartografische Sammlung (hauptsächlich aus der Nationalbibliothek) mit 34.000 Karten sowie die Kollektion der Stiche, Zeichnungen und Fotografien mit fast 160.000 Einheiten. Auch mehr als 2.000 Inkunabeln und 50.000 alte Drucke aus der Nationalbibliothek, darunter die Sammlung der Bibliotheca Zalusciana, die im Rahmen des Vertrags von Riga von Russland zurückerhalten worden war, wurden in die Krasiński-Bibliothek transportiert.
Abb. 2.3
Der Lesesaal der Krasiński-Bibliothek, 1930. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.26943/III.
Später stellte sich heraus, dass es ein Glück war, dass die alten Drucke der Universitätsbibliothek nicht in die Okólnik-Straße gebracht wurden. Die ausländischen Drucke aus dem 17. und 18. Jahrhundert aus der Nationalbibliothek, die etwa 32.000 Bände umfassten, wurden stattdessen in die Universitätsbibliothek transportiert. Dorthin wurden auch mehr als 10.000 alte ausländische Drucke aus der Sammlung der Krasiński-Bibliothek überführt. Im Herbst 1941 wurden die Umstrukturierung der Staatsbibliothek Warschau und der Umzug der Bibliotheksbestände eingestellt.13 13 Über die Krasinski-Bibliothek während des Zweiten Weltkriegs: Ajewski, Zbiory artystyczne, S. 243–275; Tchórzewska-Kabata, Halina: Pod znakiem światła. Biblioteka Ordynacji Krasińskich, 1844–1944 [Im Zeichen des Lichts. Bibliothek des Fideikomisses der Familie
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Der Aufstand und die letzten Monate der deutschen Besatzung (vom August 1944 bis Januar 1945)
Am 1. August 1944 brach in Warschau der Aufstand aus. Trotz anfänglicher Erfolge der polnischen Abteilungen gingen die zur Niederschlagung des Aufstands eingesetzten deutschen Einheiten schnell in die Gegenoffensive über. Schließlich befahl Hitler, alle nichtdeutschen Einwohner Warschaus zu töten und die Stadt dem Erdboden gleichzumachen.14 In zahlreichen Massen- und Einzelhinrichtungen wurden Hunderttausende Menschen getötet. Allein im Stadtteil Wola wurden vom 5. bis 7. August zwischen 30.000 und 65.000 Menschen ermordet. Die Kämpfe endeten am 2. Oktober nach 63 Tagen. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung beliefen sich auf 150.000 bis 200.000 Tote. Aufgrund des Aufstands wurden zwischen 500.000 und 550.000 Einwohner der Hauptstadt und etwa 100.000 Menschen aus den umliegenden Städten gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Fast 150.000 von ihnen wurden in Konzentrationslager deportiert oder zur Zwangsarbeit tief ins Reich transportiert. Zwei Monate heftiger Kämpfe der Aufständischen brachten enorme materielle Verluste in der Hauptstadt mit sich. 25 Prozent der Gebäude am linken Weichselufer wurden zerstört. Krasiński, 1844–1944], Warszawa 2010, S. 419–445. Bibliotheca Zalusciana war die erste polnische Nationalbibliothek. Sie wurde von den Brüdern Andrzej Stanisław (1695–1758) und Józef Andrzej Załuski (1702–1774), Politikern, Geistlichen und Kunstmäzenen 1747 gestiftet. Mit einem Bestand von 400.000 Büchern, 20.000 Manuskripten sowie 40.000 Bildern und Grafiken gehörte sie zu den größten Bibliotheken Europas. Nach dem Untergang des Kościuszko-Aufstandes im Jahr 1794 und am Vorabend der dritten Teilung Polens im Jahr 1795 wurde die Sammlung als Kriegsbeute nach St. Petersburg gebracht. An der Newa diente sie als Grundlage für die Gründung der Kaiserlichen Öffentlichen Bibliothek. Gemäß dem Friedensvertrag von Riga (1921) sollten die Kulturgüter, die vom Zarenreich ausgeführt wurden, dem nach dem Ersten Weltkrieg wiedergeborenen polnischen Staat zurückgegeben werden. Fast alle Handschriften, ein großer Teil der Grafiken und Bilder (ca. 13.000) wurden zurückgegeben. Nur eine Auswahl von 70.000 Bänden wurde von den Büchern restituiert. Die Zalusciana wurden in den 1920er Jahren in die Nationalbibliothek integriert. Leider wurden fast alle Objekte im Herbst 1944 verbrannt. Vgl. Lemke, Heinz: Die Brüder Załuski und ihre Beziehungen zu Gelehrten in Deutschland und Danzig, Berlin 1958. 14 Erdelbrock, Georg: „Warschau ist dem Erdboden gleichzumachen, um auf diese Art ein abschreckendes Beispiel für ganz Europa zu schaffen.“ Deutsche „Vergeltungspolitik“ während des Warschauer Aufstands 1944 zwischen Vernichtungspraxis und Arbeitskräftebedarf, in: Wrochem, Oliver von (Hg.): Repressalien und Terror. „Vergeltungsaktionen“ im deutsch besetzten Europa 1939–1945, Paderborn 2017, S. 217–234. Über den Warschauer Aufstand: Borodziej, Włodzimierz: Terror und Politik, Die deutsche Polizei und die polnische Widerstandsbewegung im Generalgouvernement 1939–1944, Mainz 1999.
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Abb. 2.4
Ruinen des Gebäudes der Krasiński-Bibliothek, 1945. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1990/III.
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In der Zeit nach dem Aufstand wurden im Zuge der systematischen und planmäßigen Zerstörung der Stadt durch die deutschen Soldaten mehr als 30 Prozent der Gebäude zerstört. Die Stadt verwandelte sich in ein Trümmerfeld. Das tragische Schicksal verschonte auch die Bibliotheken nicht. In der Nacht vom 4. auf den 5. September 1944 brach in der Krasiński-Bibliothek ein Feuer aus, nachdem fünf Bomben das Gebäude getroffen und zwei Stockwerke beschädigt hatten. Dieser Moment wurde von Janina Lasocka in ihren Memoiren festgehalten: Es gab ein Zischen, ein Heulen und ein Krachen, als das Stahlbetongebäude ins Wanken geriet. Eine Bombe nach der anderen fiel auf die Bibliothek nieder. Die kleinere Bombe zertrümmerte die beiden oberen Stockwerke, während die größere bis zum Erdgeschoss vordrang und den rechten Flügel in der Nähe des Aufzugs zerstörte. Die dritte Bombe, die nicht explodierte, steckte in der Wand fest. Inmitten des klappernden Einsturzes der Wände und einer Staubwolke begannen die Menschen, die sich im Gebäude befanden, einander zu suchen und zu finden […]. Sofort brach ein Feuer aus, das sich blitzschnell ausbreitete. Das Rettungskommando arbeitete aufopferungsvoll und wurde von Freiwilligen sowie Bewohnern der umliegenden Mietskasernen unterstützt. Diese zeigten viel Einfallsreichtum und Hingabe bei den Rettungsarbeiten. […] In ihrer Verzweiflung warfen die Gelehrten wertvolle Sammlungen, Gemälde und Manuskriptmappen aus dem ersten und zweiten Stock auf die Straße und in den Hof hinunter.15
Dank großem Einsatz und Engagement konnte das Feuer schließlich gelöscht werden, jedoch waren die Verluste schwerwiegend. Glücklicherweise wurden die wertvollsten Sammlungen, wie Manuskripte, Inkunabeln und alte Drucke, die in Betonuntergründen versteckt waren, nicht beschädigt. Stefan W. Zawadzki notierte: Von außen wirkte die Bibliothek unversehrt, als ich durch den Vordereingang eintrat. Doch im Inneren bot sich mir ein erschreckendes Bild der Zerstörung. […] In den oberen Stockwerken des durch Trümmer abgeschnittenen Flügels, über dem Raum, aus dem ich gerade entkommen war, brannten Bücher auf eisernen Bücherregalen. Auf dem Boden wiederum lagen Bücher, die durch die Explosion von den Regalen geworfen wurden und in Flammen aufgingen.16
Am 6. September wurde das Gebäude von deutschen Truppen besetzt. Einige Tage später entwendete SS-Obersturmführer Moritz Arnhardt mehrere Kisten mit deutschen Manuskripten aus der ehemaligen Załuski-Büchersammlung 15 16
Zit. nach: Ajewski, Zbiory artystyczne, S. 259. Zit. nach: ebd., S. 260.
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der Bibliothek. Die meisten dieser Objekte wurden auf Schloss Fischhorn in Österreich deponiert und kurz nach dem Krieg an Polen zurückgegeben. Nach seinem Besuch kam die Vernichtung. Mitte Oktober 1944 verbrannte die Pioniereinheit der Wehrmacht den Rest der zuvor geretteten und wertvollsten Sondersammlungen. In dem Katalog der Ausstellung „Warschau klagt an“ (Warszawa oskarża), die die Zerstörung der polnischen Kultur in der Hauptstadt während der Verteidigung Warschaus im September 1939, der deutschen Besatzung und des Aufstands zeigte und die von Mai 1945 bis Januar 1946 im Nationalmuseum in Warschau gezeigt wurde, heißt es: „Das Gebäude der Krasiński-Bibliothek wurde sorgfältig von unten nach oben niedergebrannt. Dabei wurden Stockwerk für Stockwerk alte Drucke und die größte Sammlung von Manuskripten in Polen, welche die wichtigste Quellenbasis der polnischen Geschichte darstellte, wurde vollständig zerstört.“17
Abb. 2.5
Die zerstörte Fassade der Krasiński-Bibliothek, 1945. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1973/III.
17 Warszawa oskarża. Przewodnik po wystawie urządzonej przez Biuro Odbudowy Stolicy wespół z Muzeum Narodowym w Warszawie [Warschau klagt an. Ein Führer zur Ausstellung, die vom Büro für den Wiederaufbau der Hauptstadt zusammen mit dem Nationalmuseum in Warschau organisiert wurde], Warszawa 1945, S. 21–22.
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Die polnischen Bibliothekare kehrten erst einige Wochen nach der Zerstörung in die Okólnik-Straße zurück. Am 14. Oktober konnten sie sich davon überzeugen, dass der Keller der Bibliothek noch immer schwelte. Erst im November war es ihnen möglich, die verkohlten Überreste zu untersuchen. Der bereits erwähnte Bohdan Korzeniowski schrieb: Ich konnte den Keller erreichen, da der Abstieg nicht durch Schutt blockiert war. Auf den ersten Blick empfand ich ein überwältigendes Gefühl der Freude und hätte am liebsten geschrien: ‚Die Sammlung war gerettet!‘ Ich sah es vor mir, ausgebreitet in verschiedenen Schichten von unterschiedlicher Dicke. Was mir jedoch auffiel, war die scheinbare Ordnung, die ich darin erkennen konnte. Offensichtlich hatten wir es nicht so zurückgelassen, als wir den Eingang zum Unterstand getarnt hatten. Ich konnte keine Metallplatten oder Sandsäcke erkennen, die wir normalerweise zum Schutz aufgehäuft hatten. Besonders auffällig war jedoch die verminderte Höhe der Schichten im Vergleich zu unserem letzten Besuch. Die Bücherstapel reichten nicht mehr bis zur gewölbten Decke, wie es beim letzten Besuch der Fall gewesen war. Eine nähere Untersuchung zeigte schnell, woran das lag. Was ich entdeckte, war absolut entsetzlich. Sobald man eine Schicht der akkurat angeordneten Bücher berührte, fielen sie nicht etwa einfach auseinander – nein, sie verschwanden einfach spurlos! Die gesamte Sammlung schien vollständig von dem Feuer verzehrt worden zu sein, das sich wahrscheinlich über viele Tage hinweg langsam ausgebreitet hatte. Es war offensichtlich, wie die Bücher zerstört worden waren. […] Sie hatten die Bücher oben unter der Decke hervorgeholt, sie mit Benzin übergossen und angezündet. Selbst mit einem Fuß auf der Kehle vollstreckten sie weiterhin das Vernichtungsurteil, das sie ihrem Nachbarland auferlegt hatten. Sie waren nicht nur zum Völkermord fähig, sondern auch zum Büchermord.18
Tadeusz Makowiecki begleitete Korzeniowski auf seiner Entdeckungsreise und beschrieb die Eindrücke später in seinen Memoiren. Er schreibt: Alles ist still. Die Fenster des Lagers sind schwarz und leer, doch wir wussten, dass die Bibliothek den Aufstand überlebt hatte. Als wir die Treppe hinunterstiegen, blieben unsere Schuhe in der Asche stecken. Der Anblick, der sich uns in den riesigen Kellern bot, war desolat. Es war offensichtlich, dass hier jede Einheit systematisch in Brand gesteckt worden war. Die Bibliothek hatte hier ihre größten Schätze gehortet: Handschriften, Frühdrucke, Zeichnungen, Stiche, Musikhandschriften, Karten und nicht zuletzt die wertvolle Załuski-Bibliothek, die Sammlung von Stanislaus II. August, die Reste der Rapperswiler Sammlung, das Krasiński-Archiv und die Schätze aller Warschauer Bibliotheken. Doch was
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Korzeniowski, Bohdan: Książki [Bücher], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter], Warszawa, 1939–1945, Bd. 2, Warszawa 1970, S. 293.
Der Büchermord
Abb. 2.6
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Ruinen des Gebäudes der Krasiński-Bibliothek, 1945. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1975/III.
uns am meisten erschütterte, war die Tatsache, dass von all diesen Schätzen nichts mehr übrig geblieben war. Über 100.000 Manuskripte, die nie benutzt, nie gedruckt wurden und nun nie wieder gedruckt werden können, wurden vollständig vernichtet. Darunter befanden sich illuminierte Miniaturen aus dem 15. Jahrhundert, unschätzbare polnische Silva rerum sowie unbekannte Briefe von Żeromski, Reymont und Berent. Alles war für immer verloren. Wieder übermannte uns eine tiefe Hilflosigkeit, ähnlich wie bei den grausamen Berichten über den Verlust geliebter Menschen. Kraftlos schleppten wir uns durch die dunklen Gänge des Kellers. Im tiefsten Raum, dem einstigen Kesselraum, standen vielleicht hundert leere Holzkisten bereit für die Evakuierung der Sammlungen. Ein trauriger Zeuge der vergeblichen Rettungsversuche. Diese leeren Kisten waren das einzige, was die Deutschen nicht in Brand gesteckt hatten. Und warum sollten sie auch? Wir standen da und beleuchteten die gewölbte Höhle mit ein paar Kerzen. Schließlich nahmen wir die leeren Kisten – jeweils zwei –,
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Jacek Kordel denn sie würden in anderen Bibliotheken nützlich sein. Langsam gingen wir weiter, stolperten über die Trümmer und durchquerten die Ziegelberge bis zum ersten Stock. Schweigend überquerten wir die Straße, ein Tross mit zehn langen Holzkisten – leer, nicht einmal mit Asche darin.19
Die Zeuge waren entsetzt und hilflos angesichts der Tatsache, dass so viele Manuskripte und alte Drucke vernichtet worden waren. Ebenso ergreifend sind die Worte der bedeutenden Bibliothekarin Alodia Kawecka-Gryczowa: Es wurde Brandmaterial verwendet, um sicherzustellen, dass das Feuer effektiv war und alles vernichtete, was nicht zuvor aus dem Gebäude entfernt worden war. Leider ist es schwierig, genaue Angaben zu machen, da Inventare und Kataloge zur gleichen Zeit vernichtet wurden. Wir werden also niemals vollständig erfahren, was wir verloren haben. Von den etwa 300.000 Objekten aus der Nationalbibliothek, der Universitätsbibliothek und der Krasiński-Bibliothek – unersetzliche, einzigartige Handschriften und Zeugnisse unserer Geschichte – bleibt nur noch eine Schicht aus weißer Asche übrig. Als man auf diesem Friedhof herumlief, reichte einem die Ascheschicht fast bis zur Hälfte der Waden. Auf den höheren Ebenen behielten die Bücher ihre Form, die Seiten zerfielen nicht zu Staub. Sie standen da wie weiße Gespenster in den Regalen, bereit sich in einen feinen, samtigen Staub zu verwandeln, der in Nichts zerrinnen würde, wenn man sie berührte. Was diese Wut in der Stadt angerichtet hat, überstieg jede Vorstellungskraft des Menschen im 20. Jahrhundert. Das systematische Niederbrennen von Straßen, Haus für Haus, setzte sich auch nach der Kapitulation fort, als nicht nur die Aufständischen, sondern die gesamte Bevölkerung vertrieben wurde. Die Jagd auf Menschen und ihre grundlose Ermordung ließen die Herzen zu Stein werden. Das Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlustes wird mit der Zeit nicht ausgelöscht. Das Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlustes wird mit der Zeit immer stärker, insbesondere wenn wir mit einem Mangel an Quellen in Forschungsarbeiten konfrontiert werden, die es nicht mehr geben wird. Die Nationalbibliothek, die Krasiński-Bibliothek und viele weitere Bibliotheken, die absichtlich und nicht im Krieg auf polnischem Boden verbrannt wurden, werden für immer ein Zeugnis für die Schande einer Nation bleiben, die Hitler hervorgebracht hat.20
Im Winter 1945 sammelten die Bibliothekare einen Teil der Asche aus dem zerstörten Gebäude der Krasiński-Bibliothek ein und legten sie in eine Urne. Die Schriftstellerin und Bücherliebhaberin Zuzanna Rabska hielt dies fest: 19 Makowiecki, Tadeusz: W obronie zbiorów bibliotecznych. Wspomnienie z 1944 r. [Zur Sicherung der Bibliotheksbestände. Eine Erinnerung an 1944.], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter], Warszawa, 1939–1945, Bd. 2, Warszawa 1970, S. 245–246. 20 Kawecka-Gryczowa, Alodia: Ochrona zbiorów Biblioteki Narodowej [Bewahrung der Sammlung der Nationalbibliothek], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter], Warszawa, 1939–1945, Bd. 1, S. 219–220.
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Abb. 2.7 Ruinen des Gebäudes der Krasiński-Bibliothek, 1945. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. F.1976/III.
„Liebevoll bettete man in dieser Urne die graue Asche […] Es liegen diese feinen Gebeine wie in einer kalten Leichenhalle/ Und das Leichengrau schimmert durch die trüben gläsernen Wände.“21 Die zerstörte Bibliothek wurde mit einem Gedicht des Dichters Mieczysław Jastrun gewürdigt: Wie viele von euch, alten Drucken, Handschriften, Büchern, Gingen unwiederbringlich im Brand Warschaus verloren! Es verschlangen euch die Flammen einer zerstörerischen Macht, Und eure Asche zerstreute der Wind in jenem blutigen Jahr.22
Die Krasiński-Bibliothek teilte ihr Schicksal mit anderen Kultureinrichtungen, denn auch die Bibliothek der Technischen Universität Warschau wurde fast
21 Rabska, Zuzanna: Moje życie z książką. Wspomnienia [Mein Leben mit dem Buch. Erinnerungen], Bd. 2, Wrocław 1964, S. 433 (übersetzt von Markus Eberharter). 22 Jastrun, Mieczysław: Poemat o mowie polskiej [Poem über die polnische Sprache], in: Jakubowski, Jan Zygmunt (Hg.): Wiersze o książkach [Gedichte über Bücher], Warszawa 1964, S. 51 (übersetzt von Markus Eberharter).
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Abb. 2.8
Die Urne mit der Asche der 1944 von der deutschen Armee verbrannten Handschriften und alten Drucke im Gebäude der Krasiński-Bibliothek. Biblioteka Narodowa w Warszawie, Sign. V.2046.
vollständig von den Deutschen verbrannt. Der Bibliotheksleiter Czeslaw Gutry konnte erst Mitte Oktober vor Ort eintreffen: In der großen Halle blieb nur noch Asche von den Büchern übrig. Weiße, breiige Asche türmte sich einen Meter hoch in der großen Halle sowie in den Gängen, im Büro und in den Lesesälen. Alles war verbrannt. […] Alles, was von der Bibliothek übrig blieb, waren die Asche von 90.000 bearbeiteten, gebundenen Bänden, fünf Tonnen Bücher aus der Bibliothek des Kommunikationsministeriums und die vorübergehend in der Bibliothek deponierten Büchersammlungen der Lehrstühle. […] Das Einzige, was überlebt hat, sind einige Bücher, Manuskripte
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und aktuelle Zeitschriften, die im Lesesaal für Studenten verstreut lagen. Ich inspiziere alle Räume und gehe durch die Asche. […] In dem Raum, in dem ich vor dem Verlassen der Bibliothek Inventare abgelegt habe, gibt es Spuren von Verbrennung, der Rest ist Asche. Wir kommen halb weiß von der Asche heraus. Das Lager hat überlebt, aber es sind fast keine Bücher mehr vorhanden.23
Auch die bereits im September 1939 stark beeinträchtigte Zamoyski-Bibliothek wurde zerstört: Im August warfen die Deutschen Brandgranaten in das Gebäude. Die Sammlungen, die nach dem Brand im September 1939 gesichert worden waren, verbrannten zum großen Teil, darunter etwa 10.000 alte Drucke, Karten, Atlanten, Stiche, Kataloge und Kartotheken. In den ersten Septembertagen des Jahres 1944 wurde das Gebäude des Archivs der alten Akten (Archiwum Akt Dawnych) durch Sprengbomben zerstört. Das Archiv enthielt mehr als 40.000 Akten aus dem 19. Jahrhundert, die bei dem Angriff verloren gingen. Wenige Tage später brannte auch das Finanzarchiv (Archiwum Skarbowe) ab. Obwohl einige Akten vor dem Feuer gerettet werden konnten, wurden sie nach dem Rückzug der Aufstandsabteilungen aus der Altstadt von deutschen Truppen vernichtet. Während des Aufstands brannte das Gebäude des Stadtarchivs durch Granatenbeschuss nieder und 70.000 Akten fielen dem Feuer zum Opfer. Das Hauptarchiv für alte Akten (Archiwum Główne Akt Dawnych) blieb von den Kämpfen unversehrt. Am 2. September drangen deutsche Soldaten in das Archivgebäude ein und setzten die Keller sowie Lagerräume in Brand. Mehr als 1.600.000 Archiveinheiten wurden dadurch zerstört. Am 3. November 1944 wurde das bis dahin unversehrte Gebäude des Archivs der neuen Akten (Archiwum Akt Nowych), in dem die Akten aus der Zwischenkriegszeit aufbewahrt wurden, von deutschen Truppen in Brand gesetzt. Die dort gelagerten Sammlungen brannten vollständig aus.24 Die Sprengung der Nationalbibliothek wurde wie durch ein Wunder verhindert.25 23
Gutry, Czesław: Pamiętnik [Tagebuch], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter], Warszawa, 1939–1945, Bd. 2, Warszawa 1970, S. 14. 24 Stebelski, Adam (Hg.), Straty bibliotek i archiwów warszawskich w zakresie rękopiś miennych źródeł historycznych [Verluste der Warschauer Bibliotheken und Archive im Hinblick auf handschriftliche historische Quellen], Bd. 1. Archiwum Główne Akt Dawnych [Hauptarchiv für alte Akten], Warszawa 1957; Konarski, Kazimierz (Hg.): Straty bibliotek i archiwów warszawskich w zakresie rękopiśmiennych źródeł historycznych [Verluste der Warschauer Bibliotheken und Archive im Hinblick auf handschriftliche historische Quellen], Bd. 2: Archiwa porozbiorowe i najnowsze [Archive aus dem 19. und 20. Jahrhundert], Warszawa 1956. 25 Grycz, Józef: Dzienniczek z okresu Powstania Warszawskiego 1944 r. [Tagebuch aus dem Warschauer Aufstand, 1944], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter]. Warszawa, 1939–1945, Bd. 1, Warszawa 1970, S. 255.
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In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1944 wurde die Kapitulation unterzeichnet, welche die Übergabe der Stadt an die Deutschen vorsah. Im Rahmen der Vereinbarung mit dem deutschen Militärkommando wurde die Evakuierung der noch vorhandenen Sammlungen zwischen der zweiten Oktoberhälfte und Anfang Januar 1945 durchgeführt. Diese Aktion wurde als PruszkówAktion (Akcja pruszkowska) bezeichnet. Dank der Pruszków-Aktion konnten einige der Manuskripte und Bücher, die den Aufstand überlebt hatten, vor der Zerstörung bewahrt werden.26 Während polnische Archivare, Bibliothekare und Museumsmitarbeiter die wertvollsten Sammlungen retteten, brannten Pioniereinheiten der Wehrmacht Häuser, Straßen und ganze Viertel nieder und zerstörten die Stadt. Am 13. Januar 1945 enthielt der konspirativ in Krakau erscheinende „Kurier Powszechny“ einen Bericht über die Lage in Warschau. Darin hieß es: „Obwohl das Ende der Kämpfe in Warschau bereits mehr als drei Monate zurückliegt, setzen die Deutschen die Zerstörung der Stadt fort. Der Grad der Zerstörung von Warschau im vergangenen Dezember wurde auf 90 Prozent geschätzt.“27 Am Vorabend der sowjetischen Besetzung der Stadt, am 16. Januar 1945, setzten zurückziehende deutsche Truppen die Stadtbibliothek in Brand. Die Magazine und Lesesäle brannten fast bis auf die Grundmauern nieder.28 Die Bibliotheken in Warschau waren bereits im September 1939 stark betroffen. Während der Besatzung wurden viele von ihnen geschlossen und ihre Sammlungen geplündert, verschoben oder sogar zerstört. Während der letzten Kriegswochen haben die deutschen Behörden in einer gezielten Aktion die wertvollsten Manuskripte und Literaturbücher, die in den Bibliotheken gesammelt wurden, vorsätzlich vernichtet. Diese Maßnahmen waren in der Geschichte beispiellos.
26 Łodyński, Marian: Pruszkowska akcja zabezpieczenia warszawskich zbiorów bibliotecznych (1944–1945) [Aktion Pruszków zur Sicherung der Warschauer Bibliotheksbestände (1944–1945)], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury [Kampf um Kulturgüter]. Warszawa, 1939–1945, Bd. 2, Warszawa, S. 266–282; Dembowska, Maria: „Akcja pruszkowska“. Ratowanie zbiorów bibliotecznych po Powstaniu Warszawskim [„Aktion Pruszków“. Die Rettung der Bibliotheksbestände nach dem Warschauer Aufstand], in: Przegląd Biblioteczny 63, 1995, 1, S. 5–14. 27 Kurier Powszechny 55, 13. Januar 1945. 28 Kordel, Decimation, S. 25–26.
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Die Geschichte der sogenannten Sozialabteilung (Sammlungen zum soziopolitischen Leben) der Öffentlichen Bibliothek von Warschau 1941–1944 Jacek Puchalski Abstract Die Verlagerung von Bibliotheksbeständen während des Zweiten Weltkriegs ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, darunter das Schicksal, die Interessen und die Entscheidungen von Einzelpersonen, Organisationen und Institutionen. Es ist die Aufgabe des Historikers und der Historikerin, die sich mit diesen Themen beschäftigen, sie zu rekonstruieren. Der vorliegende Artikel widmet sich dieser Aufgabe am Beispiel der Geschichte der Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek von Warschau (Biblioteka Publiczna m. st. Warszawy), in der Materialien über das sozio-politische Leben zwischen 1941 und 1944 gesammelt wurden.1 Die Geschichte zeigt, dass Bibliotheksbestände und ihre Pflege während des Krieges als „Deckmantel“ für Aktivitäten dienten, die nichts mit ihnen zu tun hatten.
„Polnische Festung“ – Öffentliche Bibliothek während der deutschen Besatzung
Während der Besatzungszeit unterstand die Öffentliche Bibliothek dem stellvertretenden Bürgermeister Jan Pohoski (1889–1940) und nach dessen Erschießung durch die Deutschen am 20. oder 21. Juni 1940 dem stellvertretenden Bürgermeister Julian Kulski (1892–1976). Seitens der deutschen Behörden wurde die Bibliothek von mehreren Kulturreferenten beaufsichtigt. Die polnischen Leiter der Bibliothek waren Aleksy Bachulski (1893–1951) bis Mai 1940, Ryszard Przelaskowski (1903–1971) bis November 1942 und Leon Bykowski (1895–1992) bis zum 17. Oktober 1944. Bis November 1942 funktionierte die Bibliothek relativ normal: Sie nahm Bücherspenden an, kaufte in 1 Dieser Text ist eine modifizierte deutschsprachige Version des Artikels: Puchalski, Jacek: Geneza i dzieje zbiorów Działu Społecznego przy Bibliotece Publicznej m.st. Warszawy [Die Entstehung und Geschichte der Sammlung der Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau], in: Łaskarzewska, Hanna/Mężyński, Andrzej (Hg.): Biblioteki warszawskie w latach 1939–1945 [Warschauer Bibliotheken 1939–1945]. Warszawa 2010, S. 137–156.
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geringem Umfang neue Bücher und Zeitschriften und stellte den Leserinnen und Lesern den größten Teil des Bestandes zur Verfügung. Sie war die einzige für Polen zugängliche Bibliothek im Generalgouvernement. Natürlich erfolgte der Zugriff auf die Sammlung mit größter Wachsamkeit und Vorsicht angesichts der ständigen Beobachtung der Bibliothek durch die Deutschen, die von Beginn der Besetzung an das Funktionieren dieser Einrichtung eingeschränkt hatten.2 Zu den wichtigsten Ereignissen in dieser Zeit der Besatzungsgeschichte der Bibliothek gehörte die Eröffnung der Deutschen Abteilung im März 1940, die im Lesesaal der Jugend- und Kinderbibliothek in der Koszykowa-Straße 26 untergebracht war. Die Büchersammlung bestand aus deutschsprachigen Publikationen, die von der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau übernommen wurden. Die Deutsche Abteilung war direkt dem Vertreter des Chefs des Distrikts Warschau unterstellt. Von Juli 1940 bis Juli 1942 leitete sie der Volksdeutsche Bruno Nagel im Amt des Stadtrates, gefolgt von der deutschen Bibliothekarin Brandt. Der zweite Abschnitt in der Geschichte der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau begann im Frühjahr 1942. Ab dann beschlossen die Besatzungsbehörden, diese „Polnische Festung“ für die Öffentlichkeit zu schließen.3 Dies geschah anlässlich einer Bibliotheksdurchsuchung, die im August und September 1942 auf Befehl von Alfred Schellenberg durchgeführt wurde – vom Februar 1941 Kulturbeauftragter der Abteilung Schulwesen im Amt des Chefs des Distrikts Warschau. Am 4. November desselben Jahres ordnete das deutsche Amt des Stadtrates die Reorganisation der Bibliothek an, die bis zum 30. November andauerte. Sie führte zur Schließung einiger Bibliotheksräume und zum Personalabbau, einschließlich der Entlassung des bisherigen Direktors, R. Przelaskowski. L. Bykowski übernahm das Amt des Direktors. Bykovsky (Levko Bykovskyj, Lev Bykovsky) war ein Ukrainer, ein aktiver ukrainischer Nationalaktivist, und erweckte wahrscheinlich aus diesem Grund mehr 2 Sprawozdanie Biblioteki Publicznej m. Warszawy za czas od 2.X.1939 r. do 31. III.1942 r. [Bericht der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau für den Zeitraum vom 2.10.1939 bis 31.3.1942 r.]. Archiwum Biblioteki Publicznej [Archiv der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau – im Folgenden ABP]. Sign. A. 476/6, 47. 3 Feststellung von Ludwig Eichholz, Beamter der Hauptabteilung Wissenschaft und Unterricht in der Regierung des Generalgouvernements in Krakau. Zitiert nach: Przelaskowski, Ryszard: Wspomnienia o pracy w Bibliotece Publicznej m.st. Warszawy w okresie drugiej wojny światowej [Erinnerungen an die Arbeit in der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau während des Zweiten Weltkriegs], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury. Warszawa 1939–1945 [Kampf um Kulturgüter. Warschau 1939–1945]. Vol. l. Warszawa 1970, S. 385.
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Vertrauen bei den Deutschen als Przelaskowski. Bykowski hatte seit 1928 in der der Öffentlichen Bibliothek gearbeitet. Während der deutschen Besatzung stand er loyal zu seinen polnischen Kollegen. Er arbeitete eng mit R. Przelaskowski zusammen, auch nachdem dieser von den Deutschen aus der Bibliothek entfernt worden war.4 Die Verdienste von L. Bykowski für die Öffentliche Bibliothek in der Vorkriegs- und Kriegszeit sind unbestritten5 – die polnische Bibliothekarin Janina Peszyńska (1887–1949) nannte ihn sogar einen „Patrioten der Öffentlichen Bibliothek“6. Der Warschauer Archivar Adam Słomczyński (1903–1980) schreibt über ihn Folgendes: Leon Bykowski, der sich – übrigens wahrheitsgemäß – als Ukrainer bezeichnete und so in den Genuss verschiedener Privilegien kam, die den Polen entzogen wurden. Natürlich wurde eine solche Erklärung seinerzeit [von den Polen] scharf verurteilt. Dennoch hat er nicht geschadet, sondern gerettet, beschützt. A. Bachulski kannte ihn gut und verweigerte ihm nicht sein Vertrauen.7
Unter Bykowskis Leitung blieb die Bibliothek bis zum Ende der deutschen Besatzung für die Öffentlichkeit geschlossen. Die dritte und auch die tragischste Periode in der Geschichte der Besetzung der Öffentlichen Bibliothek begann mit dem Ausbruch des Warschauer Aufstandes am 1. August 1944. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurde ein Teil der Sammlung weggenommen. Insgesamt wurden etwa 73.000 Bände 4 Przelaskowski, Wspomniena, S. 391. 5 Migoń, Krzysztof: Leon Bykowski (1895–1992) – ukraiński bibliolog i polski bibliotekarz [Leon Bykowski (1895–1992) – ukrainischer Bibliologe und polnischer Bibliothekar], in: Roczniki Biblioteczne 47, 2003, S. 155–168; Lewandowska, Grażyna M Leon Bykowski (1895– 1992). Polski bibliotekarz [Leon Bykowski (1895–1992). Polnische Bibliothekar], in: Jagielska, Janina/Jedynak, Teresa (Hg.): Żyją w naszej pamięci. Wspomnienia o pracownikach Biblioteki Publicznej m.st. Warszawy [Sie leben in unserer Erinnerung weiter. Erinnerungen an die Mitarbeiter der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau], Warszawa 2017: Biblioteka Główna Województwa Mazowieckiego, Biblioteka na Koszykowej, S. 75–90. 6 Skierkowska, Elżbieta/Przelaskowski, Ryszard (Hg.): Zapisy dzienne z okresu Powstania w diariuszu Biblioteki Publicznej m. st. Warszawy, prowadzone przez pracowników biblioteki: p.o. dyrektora L. Bykowskiego i kustosz J. Peszyńską [Tägliche Aufzeichnungen aus der Zeit des Aufstands in den Tagebüchern der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau, geführt von den Mitarbeitern der Bibliothek: dem stellvertretenden Direktor L. Bykowski und der Kustodin J. Peszyńska], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury. Warszawa 1939– 1945 [Kampf um Kulturgüter. Warschau 1939–1945]. Vol. L, Warszawa 2017, S. 423. 7 Eigene Übersetzung für: Słomczyński, Adam: W warszawskim Arsenale. Wspomnienia archiwisty m. st. Warszawy 1939–1945 [Im Warschauer Arsenal. Erinnerungen eines Archivars der Stadt Warschau 1939–1945], Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury. Warszawa 1939– 1945 [Kampf um Kulturgüter. Warschau 1939–1945]. Vol. L, Warszawa1970, S. 524.
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verschleppt,8 von denen etwa 30.000 nach dem Krieg wiedergefunden wurden, darunter die wertvollsten Sammlungen (einschließlich alter Drucke), die aus Legnica [Liegnitz] zurückgeholt wurden.9 Diese Sammlungen wurden im Rahmen der sogenannten Pruszków-Aktion, die von Oktober bis Januar 1945 durchgeführt wurde, abtransportiert. Punkt zehn des Kapitulationsabkommens zwischen den Deutschen und der Aufstandsleitung vom 2. Oktober 1944 sah die Evakuierung von „Gütern von künstlerischem, kulturellem und kirchlichem Wert“ aus Warschau vor. Auf dieser Grundlage wählten polnische Bibliothekare aus mehreren Warschauer Bibliotheken die wertvollsten Sammlungen aus und transportierten sie mit Zustimmung und Unterstützung der Deutschen, die Auto- und Bahntransporte zur Verfügung stellten, aus Warschau heraus, vor allem im Deutschen Reich. Die polnischen Bibliothekare wollten auf diese Weise besonders wertvolle Materialien vor der Zerstörung bewahren. In der Öffentliche Bibliothek begann die Räumung der Sammlung am 18. Oktober auf Anweisung von Hans Fuhr – Leiter der Abteilung Schulwesen im Amt des Chefs des Distrikts Warschau und zugleich deutscher Betreuer der Öffentlichen Bibliothek. Einige der ausgewählten Bücher wurden nach Legnica [Liegnitz], einige ins tschechische Prag und einige nach Pruszków bei Warschau gebracht.10 Einige der für den Versand verpackten Bücher, die nicht ausgeführt werden konnten, wurden im Januar 1945 von den Deutschen zusammen mit der gesamten Bibliothek verbrannt.11 Das Brandkommando zündete die Stadtbibliothek fast im letzten Moment an, wenige Stunden bevor die Deutschen Warschau verließen (17. Januar 1945).12 Es wird geschätzt, dass etwa 82 Prozent der gesamten Büchersammlung der Öffentliche Bibliothek bei dem Brand zerstört wurden.13
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Gutry, Czesław: Notatka o Bibliotece Publicznej m.st. Warszawy w okresie od 5.X.1944 do 19.I.1945 r. [Notiz über die Öffentliche Bibliothek der Stadt Warschau vom 5.10.1944 bis 19.1.1945]. ABP. Unsigniert, 1. 9 Gawinowa, Alina: Raport w sprawie segregacji wstępnej zbiorów rewindykowanych z Lignicy Śląskiej. 5.I.1946 [Bericht über die Vorsortierung der in Liegnitz gefundenen Sammlungen]. ABP. Unsigniert. 10 Mężyński, Andrzej: Biblioteki Warszawy w latach 1939–1945 [Bibliotheken in Warschau 1939–1945], Warszawa 2010, S. 273–274. 11 Gutry, Notatka o Bibliotece Publicznej. Unsigniert, 2. 12 Mężyński, Biblioteki Warszawy, S. 275. 13 Bieńkowska, Barbara/Paszkiewicz, Urszula/Szymański, Janusz (Hg.): Informator o stratach bibliotek i księgozbiorów domowych na terenach Polskich okupowanych w latach 1939–1945 (bez Ziem Wschodnich) [Ein Leitfaden zu den Verlusten von Bibliotheken und Privatbuchsammlungen in den polnisch besetzten Gebieten 1939–1945 (ohne Ostgebiete)], Poznań 2010, S. 301.
Die Geschichte der sogenannten Sozialabteilung
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Entstehung der beruflichen Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek
Zu den von den Deutschen beschlagnahmten Sammlungen gehörte auch ein Teil der Büchersammlung der sogenannten Sozialabteilung, die im Januar 1944 von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) beschlagnahmt wurde. In diesem Artikel wird versucht zu erklären, warum die Besetzer dies taten. Dafür muss man in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zurückgehen, in der in Warschau das Sozialmuseum und das Institut für die wissenschaftliche Erforschung des Kommunismus aktiv waren: Die Büchersammlungen dieser Einrichtungen bildeten den Bestand der ab 1941 in der der Öffentlichen Bibliothek eingerichteten Sozialabteilung. Das Sozialmuseum in Warschau 1921–1939 Der Gründer dieser Einrichtung war Stefan Wolff (1879–1950), obwohl er in den Statuten des Vereins „Soziales Museum“ nicht unter den Gründern aufgeführt war.14 Er war Bibliothekar, Archivar, Wirtschaftswissenschaftler sowie politischer und sozialer Aktivist. In seiner Jugend war er Mitglied der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen,15 später trat er der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens bei – seit 1925 Kommunistische Partei Polens (KPP) genannt. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die KPP von März 1919 bis zu ihrer Auflösung durch die Komintern am 16. August 1938 eine illegale Partei in der polnischen Republik war. Der Verein „Soziales Museum“ wurde im Dezember 1921 gegründet, um Dokumente von historischer und sozialer Bedeutung zu sammeln, zusammenzustellen und zu veröffentlichen.16 Er befand sich in Räumlichkeiten, die von der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau angemietet wurden.17 Das Sozialmuseum hatte eine einzigartige Sammlung von Dokumenten des sozialen, politischen, kulturellen und erzieherischen Lebens zusammengetragen, die sich auf die Aktivitäten von Einzelpersonen, Institutionen 14
Muzeum Społeczne. Statut Towarzystwa [Soziales Museum, Statuten des Vereins], Warszawa: [s.n.] 1922. 15 Die Partei wurde 1893 gegründet und war um die Jahrhundertwende aktiv. 16 Akta przekazania zbiorów Muzeum Społecznego Bibliotece Publicznej m.st. Warszawy [Übergabe der Sammlung des Sozialmuseums an die Öffentliche Bibliothek der Stadt Warschau]. ABP. Sign. A. 413, 29; Muzeum Społeczne, S. 12. 17 Siehe: Akta przekazania [Übergabe der Sammlung], S. 12; Szturm de Sztrem, Tadeusz (Hg.): Muzeum Społeczne 1921–1939 [Das Sozialmuseum 1921–1939] in: Tazbir, Stanisław Tazbir (Hg.): Z dziejów książki i bibliotek w Warszawie [Aus der Geschichte der Bücher und Bibliotheken in Warschau], Warszawa 1961, S. 727.
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Jacek Puchalski
und Organisationen bezog: berufliche, genossenschaftliche, kulturelle und erzieherische, politische und religiöse, die in Polen in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert tätig waren.18 Die Materialien stammen aus Hinterlassenschaften und Schenkungen staatlicher Einrichtungen, sozialer Organisationen und Dutzender Einzelpersonen, darunter Wissenschaftler, Freidenker, Künstler, Bibliophile, Bibliothekare und Buchhändler sowie soziale und politische Aktivisten, insbesondere aus linksradikalen Kreisen. Bis Ende 1928 wurden über 27.000 katalogisierte Objekte gesammelt, darunter 11.078 Bücher und Broschüren in 11.629 Bänden, 3.386 Zeitschriften, 12.551 Archivalien und 241 Fotografien. Zusammen mit den katalogisierten Dubletten (11.105 Bücher und Broschüren und 1024 Zeitschriften) umfasste die Sammlung 39.385 Objekte.19 Die Tätigkeit des Sozialmuseums wurde von Mai bis Juni 1930 von der Polizei unterbrochen, weil es illegale kommunistische Publikationen, interne Zeitschriften und Rundschreiben der Führung der illegalen Kommunistischen Partei Polens aufbewahrte und in der Einrichtung zur Verfügung stellte. Wolff wurde verhaftet,20 und im Juni 1930 wurde das Museum geschlossen.21 Es nahm seine Tätigkeit im Oktober 1931 wieder auf, nachdem S. Wolff aus der Leitung des Museums entlassen worden war.22 Die Bibliothekarin Maria Lotto übernahm die Leitung der Einrichtung. Sie reorganisierte die Sammlung, die bei einer polizeilichen Durchsuchung stark dezimiert worden war.23 Das Museum wurde erst Mitte 1932 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Jahr 1934 wurde die Sammlung für fünf Jahre als Depositum von der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau übernommen. Am 1. April 1939 umfasste diese 16.168 Bücher und Broschüren in 16.864 Bänden, 3.838 Zeitschriften, 233 Archive, 562 Fotografien.24
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Sprawozdanie Muzeum Społecznego w Warszawie [za lata 1922–25] [Bericht des Sozialmuseums in Warschau für 1922–25], Warszawa1926, S. 7. 19 III Sprawozdanie Muzeum Społecznego w Warszawie [za 1928 r.] [III. Bericht des Sozialmuseums in Warschau für 1922–25], Warszawa1929, S. 8. 20 Szturm de Sztrem, Muzeum Społeczne, S. 734. 21 Akta przekazania, S. 29. 22 Szturm de Sztrem, Muzeum Społeczne, S. 734. 23 Siehe: Wykaz spraw i wniosków, rozważanych na posiedzeniu Magistratu m.st. Warszawy dnia 27 lutego 1934 r. [Liste der in der Sitzung des Warschauer Magistrats vom 27. Februar 1934 behandelten Themen und Anträge]. ABP. Sign. 356/1, 42. 24 Sprawozdanie Biblioteki Publicznej m. Warszawy za rok budżetowy 1938/39 [Bericht der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau für das Haushaltsjahr 1938/39]. ABP. Sign. A. 286/5, 28.
Die Geschichte der sogenannten Sozialabteilung
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Am 9. November 1939 tauchte die Gestapo in der Bibliothek auf, verlangte die Vorführung der Museumssammlung und versiegelte sie am 16. November 1939.25 Am 18. Juli 1940 entfernte B. Nagel (Leiter der Deutschen Abteilung der Öffentlichen Bibliothek) in Anwesenheit eines Gestapo-Funktionärs die Siegel aus den Räumen des Museums und nahm die Sammlungen in Verwahrung.26
Das Institut für die Wissenschaftliche Erforschung des Kommunismus in Warschau 1930–1939
Der Gründer und Leiter des am 28. Juni 1930 eingetragenen Wissenschaftlichen Instituts zur Erforschung des Kommunismus (INBK) war Pater Antoni Wincenty Kwiatkowski.27 Die offizielle Aufgabe des Instituts bestand darin, sowjetologische Studien durchzuführen und die antikommunistische Propaganda in Polen zu unterstützen.28 Die inoffizielle Aufgabe bestand darin, die Aktivitäten der zweiten Abteilungen des polnischen Generalstabs (militärischer Nachrichtendienst), des Innenministeriums, des Außenministeriums und des Justizministeriums zu unterstützen. Das Institut sollte diese Institutionen vor allem bei der operativen „Zerlegung“ der Komintern (d.h. der Kommunistischen Internationale, auch bekannt als Dritte Internationale), der Struktur 25 Sprawozdanie Biblioteki Publicznej m. Warszawy za czas od 2.X.1939 r. do 31.III.1942 r. [Bericht der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau für den Zeitraum vom 2.10.1939 bis 31.3.1942]. ABP. Sign. A. 476/6, 44. 26 Raport Tygodniowy /15–21 lipca 40 r./ z 22 lipca 1940 r. p.o. Dyrektora Biblioteki Publicznej dr R. Przelaskowskiego [Wochenbericht vom 22. Juli 1940 von R. Przelaskowski]. ABP. Sign. A. 474/1, 48. 27 Vor dem Zweiten Weltkrieg u.a. sozialer und politischer Aktivist, Sammler, Verleger (auch von antisemitischen Broschüren), Publizist – Autor von Büchern und zahlreichen Broschüren, antikommunistischen und antisowjetischen Artikeln, die er unter seinem Namen und unter dem Pseudonym Antoni Starodworski veröffentlichte. Siehe mehr: Puchalski, Jacek: Ksiądz Antoni Wincenty Kwiatkowski i jego Instytut Naukowego Badania Komunizmu w Warszawie (INBK) w latach 1930–1937 [Pater Antoni Wincenty Kwiatkowski und sein Institut für die Wissenschaftliche Erforschung des Kommunismus in Warschau (INBK) in den Jahren 1930–1937], in: Sielicki, Aleksander (Hg.): Losy Polaków w okresie drugiej wojny światowej [Das Schicksal der Polen während des Zweiten Weltkriegs], Krasnodar 2015, S. 60–83. 28 Siehe mehr: Puchalski, Jacek: Book, Press, and Book Market Research in the Service of Polish Government Agencies: The Institute for Scientific Investigation of Communism in Warsaw, 1930–1937, in: Soszyński, Jacek/Chamera-Nowak, Agnieszka (Hg.): Book versus Power: Studies in Relations between Politics and Culture in Polish History, Frankfurt a.M. 2015, S. 193–217.
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Jacek Puchalski
und Funktionsweise kommunistischer und „krypto-kommunistischer“ Parteien und ihrer Aktivitäten unterstützen.29 Im Gegenzug leisteten diese Institutionen dem INBK inhaltliche, personelle, organisatorische, finanzielle und materielle Unterstützung.30 Nach 1934 wurde Józef Bogusław Kamiński auch als Józef Mützenmacher bekannt; er war außerdem Autor des unter dem Pseudonym Jan Alfred Reguła veröffentlichten Buches „Historia Komunistycznej Partii Polski w świetle faktów i dokumentów“ (Geschichte der Kommunistischen Partei Polens im Lichte von Fakten und Dokumenten) und wurde zu einem engen Mitarbeiter von Kwiatkowski.31 Kamiński-Mützenmacher – bis zu seinem vorgetäuschten Tod im Jahr 1933 ein hochrangiger KPP-Aktivist – war zu diesem Zeitpunkt bereits Experte der Informationsabteilung der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums.32 Wahrscheinlich 1936 wurde er Sekretär des INBK und Leiter der Bibliothek.33 Die Büchersammlung des Instituts enthielt vor allem gesellschaftspolitische Werke, darunter Publikationen der klassischen Marxisten (u.a. Karl Marx, Friedrich Engels und Karl Kautsky) sowie der Führer und Theoretiker des Bolschewismus (Wladimir Lenin, Lew Trotzki und Joseph Stalin). Zu den Büchern über Wirtschaft, Soziologie, Geschichte, Theorie des sowjetischen Rechts und der Gesetzgebung, Militär, Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung und Verlagswesen kamen Tausende von Propagandaschriften (z.B. antireligiöse sowjetische Publikationen) und Dokumente des gesellschaftlichen Lebens (Flugblätter, Berichte von Parteitagen der Kommunisten usw.) hinzu. Das Institut verfügte aber auch über eine große Sammlung antikommunistischer und antisowjetischer Publikationen, unter anderem aus der Zeit des polnischsowjetischen Krieges von 1920. Unter den Büchern befand sich auch populäre
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Siehe: Protokół przesłuchania […] [Adama Kellera] z 6 czerwca 1952 r. [Protokoll der Vernehmung des Zeugen Adam Keller vom 6. Juni 1952]. Instytut Pamięci Narodowej, Biuro Udostępniania w Warszawie [Institut für Nationales Gedenken, Offenlegungsstelle in Warschau – im Folgenden IPN]. Sign. 0330/225, S. 141. 30 Ebd.; Protokół przesłuchania […] [Jerzego Krzymowskiego] z 28 sierpnia 1949 r. [Protokoll der Vernehmung von Jerzy Krzymowski vom 28. August 1949]. IPN. Sign. 0330/135. Vol. 2, S. 106. 31 Siehe: Gadomski, Bogdan: Józef Mützenmacher (1903–1947). Biografia agenta [Joseph Mützenmacher (1903–1947). Biographie eines Agenten], Warszawa 2009. 32 Siehe: Protokół przesłuchania […] [Jerzego Krzymowskiego] z 28 sierpnia 1949 r. [Protokoll der Vernehmung von Jerzy Krzymowski vom 28. August 1949.], S. 113–114. 33 Siehe: Protokół przesłuchania […] [Stefana Bakalarza] z 12 lipca 1949 r. [Protokoll der Vernehmung von Stefan Bakalarz vom 12. Juli 194]. IPN. Sign. 01236/1460, S. 90.
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Belletristik mit antikommunistischer Botschaft.34 Außerdem gab es eine große Sammlung von Zeitungen und Zeitschriften,35 eine Sammlung sowjetischer Plakate,36 Fotografien, Archiv- und Museumsstücke.37 Bis 1939 hatte die INBK-Sammlung einen Umfang von rund 48.000 bibliografischen Einheiten erreicht.38 Das INBK sammelte auch interne Studien der kooperierenden Institutionen (der zweiten Abteilungen des polnischen Generalstabs und des Justizministeriums) und einen Teil der archivierten operativen Dokumentation der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums – über die KPP und ihre Aktivisten.39 Nicht zu vergessen sind auch die Informationen über Hunderte von Personen (potenzielle Mitarbeiter des INBK in der antikommunistischen Propagandakampagne), die mithilfe der Regierungsverwaltung ab Ende 1936 oder Anfang 1937 in ganz Polen gesammelt wurden. Die INBK-Sammlung war einer der offiziellen Gründe für die Zusammenarbeit mit den Berliner Anti-Komintern (Gesamtverband deutscher antikommunistischer Vereinigungen e.V.), die 1933 gegründet wurden, um antikommunistische Propaganda innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches zu betreiben.40 Nach Angaben von Jerzy Wojciech Borejsza nahm die Anti-Komintern Anfang 1935 Kontakt mit dem INBK auf. Gleichzeitig vermuteten die Deutschen, dass es sich bei dem Institut um eine fiktive wissenschaftliche Einrichtung handelte, hinter der sich der polnische militärische
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Siehe: Protokół przesłuchania […] [Jerzego Krzymowskiego] z 28 sierpnia 1949 r. [Protokoll der Vernehmung von Jerzy Krzymowski vom 28. August 1949], S. 107. 35 Kwiatkowski, Antoni Wincety: The Autobiography of Priest Antoni Vincenti Kwiatkowski. Antoni Wincenty Kwiatkowski Papers, [Box no. 1]. Collection number: 71013. Repository: Hoover Institution Archives, Stanford University, S. 12. 36 [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Sprawozdanie z pobytu Delegacji Antikominternu w Warszawie. Warszawa 25 maja 1936 r. [Bericht über den Aufenthalt der Anti-KominternDelegation in Warschau. Warschau, 25. Mai 1936.]. Archiwum Akt Nowych w Warszawie [Archiv Neuer Akten in Warschau – im Folgenden AAN]. Sign. 102/I–III, S. 191. 37 [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Memoriał w sprawie prac i stanu Instytutu Naukowego Badania Komunizmu w Warszawie. [1936 r.]. [Memorial über die Arbeit und den Zustand des Wissenschaftlichen Instituts für das Studium des Kommunismus in Warschau]. AAN. MSW (1989), Sign. 1067, S. 9; [A.W. Kwiatkowski]. Sprawozdanie z pobytu, S. 194, 198–199. 38 Miscellaneous correspondence file. Antoni Wincenty Kwiatkowski Papers, [Box no. 2]. Collection number: 71013. Repository: Hoover Institution Archives, Stanford University, S. ###. 39 Protokół przesłuchania […] [Jerzego Krzymowskiego] z 28 sierpnia 1949 r. [Protokoll der Vernehmung von Jerzy Krzymowski vom 28. August 1949], S. 106. 40 Gadomski, Józef Mützenmacher, S. 275.
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Nachrichtendienst verbarg.41 Im April und Mai 1936 statteten sich Delegationen beider Organisationen gegenseitig Besuche ab: in Berlin42 und in Warschau.43 Daraufhin wurde eine Zusammenarbeit beschlossen, die auch den Austausch von Propagandamaterial, Broschüren und Büchern, Presse, Plakaten und Fotos umfasste.44 Auf diese Weise stellten Pater A.W. Kwiatkowski und Kamiński-Mützenmacher den Kontakt zur deutschen Organisation her, den sie auch nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fortsetzten.
Institut für das Wissenschaftliche Studium der Ostfragen in Warschau 1939–1940
Im Oktober 1939 erstattete Kamiński-Mützenmacher der Warschauer Gestapo Bericht; dabei verwies er auf seine Vorkriegskontakte zu Anti-Komintern.45 Es wird vermutet, dass er zu diesem Zeitpunkt zum Kollaborateur der Deutschen wurde.46 Warum hat er das getan? Vielleicht, weil er Jude war und „nicht ins Ghetto zurückgeschickt werden wollte“, wie er seinem Mitarbeiter Stefan Zgliński gestand.47 41 Borejsza, Jerzy Wojciech: Rzym a wspólnota faszystowska: o penetracji faszyzmu włoskiego w Europie Środkowej, Południowej i Wschodniej [Rom und die faschistische Gemeinschaft: über das Eindringen des italienischen Faschismus in Mittel-, Süd- und Osteuropa]. Warszawa 1981, S. 228. 42 [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Sprawozdanie Delegacji Instytutu z pobytu w Berlinie dla zapoznania się z akcją antybolszewicką „Antikominternu“ [Bericht der Delegation des Instituts in Berlin zur Untersuchung der antibolschewistischen „AntiKomintern“-Kampagne]. Archiwum Narodowe w Krakowie [Nationalarchiv in Krakau]. Sign. 29/206/102. 43 [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Sprawozdanie z pobytu, Ebd. 44 [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Memoriał, S. 11. Siehe auch: [Kwiatkowski, Antoni Wincety] Sprawozdanie z pobytu S. 198–199; Protokół przesłuchania [Jerzego Krzymowskiego] z 5 czerwca 1948 r. [Protokoll der Vernehmung von Jerzy Krzymowski, 5. Juni 1948]. IPN. Sign. 0330/135. Vol. 2, S. 48–50. 45 Kamiński-Mützenmacher überbrachte der Warschauer Gestapo ein Autorenexemplar eines unter dem Pseudonym J.A. Reguła veröffentlichten Textes. Dieser Artikel erschien in der Publikation: Ehrt, Adolf, (Hg.): Der Weltbolschewismus. Ein internationales Gemeinschaftswerk über die bolschewistische Wühlarbeit und die Umsturzversuche der Komintern in allen Ländern, Berlin/Leipzig 1936, S. 431–432. Siehe auch: Borodziej, Włodzimierz: Terror i polityka. Policja niemiecka a polski ruch oporu w GG 1939–1944 [Terror und Politik. Die deutsche Polizei und die polnische Widerstandsbewegung in GG 1939–1944], Warszawa 1985, S. 201; Gadomski, Józef Mützenmacher, S. 287. 46 Borodziej, Terror, S. 91, 200–201. 47 Protokół przesłuchania […] [Stefana Zglińskiego] z 25 sierpnia 1951 r. [Protokoll der Vernehmung des Verdächtigen Stefan Zgliński am 25. August 1951.]. IPN. Sign. 0298/186, S. 52.
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Es ist davon auszugehen, dass Kamiński-Mützenmacher von der Gestapo unter anderem den Auftrag erhielt, die Vorkriegsakte („Dossier“) über kommunistische Aktivisten zu rekonstruieren, die von der Informationsabteilung der Sicherheitsabteilung des Innenministeriums geführt wurde – diese Akte verbrannte mit dem Gebäude des Ministeriums bei der Bombardierung im September 1939.48 Kamiński-Mützenmacher überzeugte die Deutschen, dass die Sammlung des INBK, die sich in den Räumlichkeiten des Instituts in der Kiliński-Straße 1 befand, für diesen Zweck nützlich sein könnte. Daher erhielt er am 1. November 1939 die Erlaubnis, sich um diese Büchersammlung zu kümmern. Mit Hilfe von S. Zgliński, einem Beamten der Informationsabteilung aus der Vorkriegszeit, brachte er die Sammlung in eine Wohnung in der Noakowskiego-Straße 4, die ihm von den Deutschen zugewiesen wurde.49 In der Folgezeit „gründete“ Kamiński-Mützenmacher im Einvernehmen mit der Gestapo das Institut für das Wissenschaftliche Studium der Ostfragen, ernannte sich selbst zu dessen Präsidenten und machte S. Zgliński zu dessen Sekretär, um dieser Einrichtung „mehr Seriosität zu verleihen“. Die Kosten des Instituts (über „1000 Zł.“ pro Monat) wurden angeblich von der Gestapo übernommen. Bei Kamiński-Mützenmachers Gästen soll es sich häufig um deutsche Offiziere gehandelt haben, die Bücher, Zeitungen und Pamphlete mitnahmen, sowie um Vorkriegsmitarbeiter des polnischen Innenministeriums und Mitglieder des INBK. Das Institut für das Wissenschaftliche Studium der Ostfragen sollte ein „Zentrum für antikommunistischen Nachrichtendienst“ sein. Auf der Grundlage der gesammelten Informationen erstellte Kamiński-Mützenmacher zusammen mit S. Zgliński für die Gestapo einmal im Monat allgemeine Berichte über die Stimmung in der polnischen Gesellschaft gegenüber Deutschland und der Sowjetunion. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Institut die ihm von den Deutschen gestellten Aufgaben nicht erfüllt hat. Denn der Versuch, ein Dossier der kommunistischen Aktivisten zu rekonstruieren, das unter anderem auf „alte Zeitungen und Fotos“ aus der INBK-Sammlung stützt, konnte keine guten Ergebnisse bei der Identifizierung der 1940 aktiven Personen 48 Protokół przesłuchania […] [Jana Korzeniowskiego] z 12 maja 1952 r. [Protokoll der Vernehmung des Verdächtigen Jan Korzeniowski vom 12. Mai 1952]. IPN. Sign. 0298/107, S. 39. 49 Protokół przesłuchania […] [Leona Berdycha] z 14 stycznia 1952 r. [Protokoll der Vernehmung von Leon Berdych, 14. Januar 1952]. IPN. Sign. 0298/642, S. 10; Protokół przesłuchania […] [Stefana Zglińskiego] z 21 listopada 1949 r. [Protokoll der Vernehmung des Zeugen Stefan Zgliński vom 21. November 1949]. IPN. Sign. 0298/186, S. 4; Protokół przesłuchania […] [Stefana Zglińskiego] z 13 lipca 1951 r. [Protokoll der Vernehmung des Verdächtigen Stefan Zgliński am 13. Juli 1951]. IPN. Sign. 0298/186, S. 12.
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liefern. In der Folge verlor Deutschland das Interesse an dem Institut und stellte die Finanzierung von Kamiński-Mützenmacher ein. Im Sommer 1940 (oder Ende 1940 und Anfang 1941) wurde die Liquidation der Bibliothek und des Instituts angeordnet. Gleichzeitig nahm Kamiński-Mützenmacher mit der Geburtsurkunde des Bruders seiner 1919 verstorbenen Ehefrau Wiktoria Berdych eine neue arische Identität an – Jan Berdych. Bereits am 9. Dezember 1940 reichte er unter dem Namen J. Berdych eine Bewerbung und einen falschen Lebenslauf bei der Direktion der Öffentlichen Bibliothek in Warschau ein. Am 15. Januar 1941 leitete B. Nagel ein Schreiben der Abteilung Schulwesen im Amt des Chefs des Distrikts Warschau an die Direktion der Öffentlichen Bibliothek weiter mit der Anweisung, Berdych ab 16. Januar 1941 einzustellen.
Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek der Hauptstadt Warschau 1941–1944
Berdych-Kamiński wurde in die Abteilung für Bibliologie (Buchwissenschaft) der Öffentlichen Bibliothek versetzt, wo er erst im März 1941 seine Arbeit aufnahm. Im Mai desselben Jahres wurde ein Projekt zur Eröffnung des Sozialmuseums ins Leben gerufen, das seit Juli 1940 von Nagel betreut wurde. In den folgenden Wochen wurde die Idee geboren, die Büchersammlung des Museums mit der des Instituts für Wissenschaftliche Studien des Kommunismus (Institut für Wissenschaftliche Studien des Ostens) zusammenzulegen und in der Öffentlichen Bibliothek eine Fachabteilung einzurichten, die Sammlungen zu kommunistischen und sozialistischen Themen sammelt.50 Diese Idee wurde angeblich von Dr. Ernst Hermann Bockhoff unterstützt,51 der unter anderem mit dem Institut zur Wissenschaftlichen Erforschung der Sowjetunion in Berlin in Verbindung stand52 – offiziell eine private „wissenschaftliche“ Einrichtung, die den Anti-Komintern angegliedert war, in Wirklichkeit aber vom 50
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Przelaskowski, Ryszard: Zarys działalności Biblioteki Publicznej w okresie drugiej wojny światowej [Ein Überblick über die Tätigkeit der Öffentlichen Bibliothek während des Zweiten Weltkriegs], in: Tazbir, Stanisław (Hg.): Z dziejów książki i bibliotek w Warszawie. Warszawa 1961, S. 620. Vor dem Krieg war er Autor Anti-Kominterner Propaganda-Publikationen, z.B.: Bockhoff, Ernst Hermann: Völker-Recht gegen Bolschewismus, Berlin/Leipzig 1937. Nach Angaben von Zamorski arbeitete A.W. Kwiatkowski nach seiner Ankunft in Deutschland im August 1943 wahrscheinlich an diesem Institut, siehe: Zamorski, Kazimierz: Pod anteną Radia Wolna Europa [Unter der Antenne von Radio Free Europe], Poznań 1995, S. 148.
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Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS kontrolliert, zur Jahreswende 1942/43 als unabhängige Einrichtung liquidiert und den Anti-Komintern übertragen wurde.53 Der Beginn dieses Projekts war die Verlegung am 1. August 1941 auf Nagels Befehl – und „mit Wissen der Polizeibehörden“ – Umzug der INBK-Sammlung aus ihren Räumlichkeiten in der Noakowskiego-Straße in einen der Räume der Deutschen Abteilung der Öffentlichen Bibliothek.54 Am 26. August 1941 ordnete A. Schellenberg die Gründung der Sozialabteilung zum 1. September 1941 an. Zusätzlich zu den kombinierten Büchersammlungen des INBK und des Museums sollte es auch „kommunistische und sozialistische“ Werke enthalten, die von der Öffentlichen Bibliothek getrennt waren. Die neue Abteilung hatte die Aufgabe Publikationen zu sozialen Themen zu sammeln, zu speichern, zu organisieren und zusammenzustellen, insbesondere solche, die „Fragen der Arbeitswelt betreffen, unabhängig von ihrer ideologischen Ausrichtung“. Als „wichtigste Sammlung marxistischer Literatur in Warschau“ sollte sie mit Genehmigung der Aufsichtsbehörden ausschließlich für Studien von Wissenschaftlern und Sozialarbeitern genutzt werden.55 Die Sozialabteilung wurde abwechselnd geleitet: bis Mitte Mai 1942 von B. Nagel, bis Oktober 1942 von A. Schellenberg, dann vom stellvertretenden Leiter der Abteilung Schulwesen im Amt des Chefs des Distrikts Warschau H. Fuhr und ab der zweiten Hälfte des Jahres 1943 von Regierungsrat Rudolf Wilpart.56 Berdych-Kamiński wurde Leiter der Abteilung,57 der die Sachberichte in deutscher Sprache dem Amt des Stadtrates und in organisatorischer Hinsicht dem Direktor der Öffentlichen Bibliothek vorlegte.58 53 Mchitarjan, Irina: Das russische Schulwesen im europäischen Exil. Zum bildungspolitischen Umgang mit den pädagogischen Initiativen der russischen Emigranten in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen (1918–1939), Bad Heilbrunn 2006, S. 121–122. 54 Raport Tygodniowy /28.VII–3.VIII 1941 r./ z 4 sierpnia 1941 r. p.o. Dyrektora Biblioteki Publicznej dr R. Przelaskowskiego do Komisarycznego Burmistrza Miasta Warszawy [Wochenbericht /28./.–3.8.1941/ vom 4. August 1941 des R. Przelaskowski an den Bürgermeister des Kommissariats der Stadt Warschau]. ABP. Sign. A. 474/3, S. 66. 55 Berdych, Jan. Opis konstrukcji księgozbioru Działu Społecznego, 4 marca 1942 r. [J. Berdych, Beschreibung des Aufbaus der Büchersammlung der Sozialabteilung, 4. März 1942]. ABP. Sign. A. 576, S. 11. 56 Über Fuhr und Wilpart, siehe: Ignatowicz, Aneta: Tajna oświata i wychowanie w okupowanej Warszawie. Warszawskie Termopile 1944 [Geheime Bildung und Erziehung im besetzten Warschau. Warschauer Thermopylen 1944]. Warszawa 2009, S. 47. 57 Sprawozdanie Miejskiej Biblioteki – Warszawa. Rok sprawozdawczy 1941 [Bericht der Öffentlichen Bibliothek in Warschau, Berichtsjahr 1941]. ABP. Sign. A. 450/2, S. 102. 58 Ebd., S. 32–36.
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Die Sammlungen der Sozialabteilung und seine offiziellen Aktivitäten
Im April 1943 erreichte die Sammlung der Abteilung über 51.000 gezählte Objekte, darunter: über 28.000 aus der Sammlung des INBK (INBZW), über 21.000 aus der Sammlung des Museums, 245 Pakete (ab März 1942) mit Materialien, die sich hauptsächlich auf kommunistische Aktivisten beziehen, die in der II Republik Polen inhaftiert waren, und etwa 1.400 Titel „marxistischsowjetischer“ Werke, die aus der Sammlung der Öffentlichen Bibliothek ausgeschlossen wurden.59 Es wurden etwa 100 Bücher und Broschüren gekauft. Dabei handelte es sich hauptsächlich um deutschsprachige Propaganda, antisowjetische und antisemitische Publikationen, die unter anderem von den Anti-Komintern herausgegeben wurden.60 Die Büchersammlung der Abteilung wurde nicht vollständig inventarisiert. Nur 6.390 bibliografische Titel wurden in das Bestandsbuch aufgenommen. Die Sammlungen der Sozialabteilung wurden nicht von vielen offiziellen Benutzern genutzt. Es handelte sich hauptsächlich um Beamte des deutschen Sicherheitsdienstes (SD),61 der Polizei62 und z.B. der Vertreter des Generalgouvernements aus Krakau.63 Unter den Besuchern der Abteilung bemerkte R. Przelaskowski auch „einige Deutsche aus Berlin“, die „von Zeit zu Zeit“ nach Warschau kamen.64 In Berdych-Kamińskis Berichten werden auch Ausleihen an deutsche Besatzungsinstitutionen65 und Leser aufgeführt, die von deutschen Beamten, die die Abteilung beaufsichtigten,66 oder von der Deutschen
59 Sprawozdanie roczne [kierownika Działu Społecznego] za okres od 1.IV.1942 r. do 31.III.1943 r. [Jahresbericht des Leiters der Sozialabteilung für den Zeitraum 1.4.1942 bis 31.3.1943]. ABP. Sign. A. 576, S. 34. 60 Siehe z.B. Sprawozdanie kierownika Działu Społecznego za czerwiec 1943 r. [Bericht des Leiters der Sozialabteilung für Juni 1943]. ABP. Sign. A. 450/4, S. 68. 61 Sprawozdanie miesięczne kierownika Działu Społecznego za listopad 1941 r. [Monatlicher Bericht des Leiters der Sozialabteilung für November 1941]. ABP. Sign. A. 576, S. 5. 62 Sprawozdanie kierownika Działu Społecznego za sierpień 1942 r. [Bericht des Leiters der Sozialabteilung für August 1942]. ABP. Sign. A. 576, S. 20. 63 Sprawozdanie miesięczne kierownika Działu Społecznego za styczeń 1942 r. [Monatlicher Bericht des Leiters der Sozialabteilung für Januar 1942]. ABP. Sign. A. 576, S. 7. 64 Przelaskowski, Wspomnienia, S. 381. 65 Sprawozdanie kierownika Działu Społecznego za lipiec 1943 r. [Bericht des Leiters der Sozialabteilung für Juli 1943]. ABP. Sign. A. 576, S. 42. 66 Sprawozdanie miesięczne [kierownika Działu Społecznego] za wrzesień 1941 r. [Monatlicher Bericht des Leiters der Sozialabteilung für September 1941]. ABP. Sign. A. 576, S. 1.
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Bibliothek (der Deutschen Abteilung der Öffentlichen Bibliothek)67 vermittelt wurden. Das meiste Material wurde im Mai 1943 an die Abteilung Volksaufklärung und Propaganda im Amt des Chefs des Distrikts Warschau ausgeliehen: Plakate, Transparente, Broschüren, Karten, Proklamationen und Stiche für die antikommunistische Ausstellung, die in Warschau organisiert werden sollte.68
Die Sozialabteilung als Ort von Berdych-Kamińskis Untergrundaktivitäten
Die Quellen geben unterschiedliche Daten für den Beginn von BerdychKamińskis Aktivitäten im polnischen Untergrund an; es könnte bereits im Herbst 1941 gewesen sein.69 Seine konspirative „Karriere“ gewann jedoch erst an „Schwung“, als er die Leitung der Sozialabteilung übernahm.70 Empfohlen unter anderem von Witold Rothenburg-Rościszewski,71 war Berdych-Kamiński ab dem 16. Oktober 1942 in der Sicherheitsabteilung der Abteilung für innere Angelegenheiten der Delegation der Republik Polen für das Land. Dort wurde er Leiter der Abteilung für Ermittlungen und Nachrichtendienste, die sich mit kommunistischen Fällen und nationalen Minderheiten befasste. Die Sozialabteilung war ein Ort der Untergrundaktivitäten von BerdychKamiński.72 Er empfing dort u.a. seine Vorgesetzten, Untergebenen und Infor-
67 Sprawozdanie kierownika Działu Społecznego za maj 1942 r. [Bericht des Leiters der Sozialabteilung für Mai 1942]. ABP. Sign. A. 576, S. 16. 68 Sprawozdanie kierownika Działu Społecznego za maj 1943 r. [Bericht des Leiters der Sozialabteilung für Mai 1943]. ABP. Sign. A. 576, S. 37–38. 69 Protokół przesłuchania … [Stefana Zglińskiego] z 16 lipca 1951 r. [Protokoll der Vernehmung von Stefan Zgliński vom 16. Juli 1951]. IPN. Sign. 0298/186, S. 18–19. 70 Uzupełnienie zeznań do sprawy p. Berdycha Marii Stopczańskiej [Ergänzender Schriftsatz in der Rechtssache Berdych von Maria Stopczańska]. IPN. Sign. 0298/168, S. 17; Streszczenie sprawy M. Mützenmachera vel Redyko [Zusammenfassung der Rechtssache M. Mützenmacher vel Redyko]. IPN. Sign. 01435/2/1, S. 49. 71 Leiter der Abteilung für politische Aufklärung (Spionageabwehr) der Sicherheitsabteilung des Departements für innere Angelegenheiten der Delegation der Republik Polen im Land. Siehe: Kunert, Andrzej Krzysztof: Słownik biograficzny konspiracji warszawskiej 1939–1944 [Biographisches Lexikon der Warschauer Konspiration 1939–1944]. Vol. 1, Warszawa 1987, S. 132–133. 72 Informacja dot. MUTZENMACHERA, Józefa ps. „REDYKO“ vel. KAMINSKIEGO Józefa, Bogusława, BERDYCHA Jana, ROSZKOWSKIEGO Jana. Warszawa, dnia 16 czerwca 1950 r. [Informationen über MUTZENMACHER Józef alias „REDYKO“ a.k.a. KAMINSKI Józef, Bogusław, BERDYCH Jan, ROSZKOWSKI Jan. Warschau, 16. Juni 1950]. IPN. Sign.
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manten.73 Die Abteilung sollte auch die Sitzungen des Büros für Information und Propaganda des Dienstes für die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa)74 abhalten. Maria Stopczańska, Bibliothekarin in der Sozialabteilung, wurde als BerdychKamiński-Verbindungsperson vereidigt.75 Sie kümmerte sich auch um die Untergrundpresse, die an die Adresse der Öffentlichen Bibliothek kam, sie aussonderte und bearbeitete. Dabei handelte es sich um die kommunistische Presse und die „sonstige konspirative Presse“, die zwischen 115 und 130 Titel umfasste.76 In den letzten Monaten des Jahres 1943 wurde M. Stopczańska klar, dass sie nicht wirklich wusste, wer Berdych war – der Mann, um den herum „Menschen starben“.77 Zuerst wurde W. Rothenburg-Rościszewski von der Gestapo verhaftet (6. April 1943). Im März und Mai verhafteten die Deutschen auch andere Mitglieder der der Sicherheitsabteilung des Departements für innere Angelegenheiten der Delegation der Republik Polen im Land. Dies war nur ein Bruchteil von Berdych-Kamińskis verräterischer Agententätigkeit, über die bereits geschrieben wurde.78 Die Verhaftungen im Frühjahr 1943 weckten das Interesse an BerdychKamiński und der Sozialen Abteilung (ihre Ursprünge, Sammlungen und Aktivitäten). Spätestens ab Juni 1943 begann die Spionageabwehr der Heimatarmee (Armia Krajowa) den Fall zu untersuchen.79 Es besteht kein Zweifel 0298/60. Vol. 1, S. 119. Siehe auch: Uzupełnienie zeznań [Ergänzendes Beweismaterial], fol.? 18v. Hier müsste man wohl den Autor fragen, warum die Namen in Versalien sind. 73 Streszczenie sprawy [Zusammenfassung der Rechtssache], S. 66. Siehe auch: Protokół przesłuchania […] [Jana Zborowskiego] z 29 grudnia 1950 r. [Protokoll der Vernehmung des Verdächtigen Jan Zborowski vom 29. Dezember 1950]. IPN. Sign. 0330/175, S. 60; Gadomski, Józef Mützenmacher, S. 318. 74 Streszczenie sprawy [Zusammenfassung der Rechtssache], S. 68; BERDYCH-KAMINSKI Jan [BERDYCH-KAMINSKI, Jan – Information der Spionageabwehr der Heimatarmee (Armia Krajowa) wahrscheinlich von August oder September 1943]. IPN. Sign. 0298/60. Vol. 1, S. 34. 75 Uzupełnienie zeznań [Ergänzendes Beweismaterial], S. 17–8. 76 Protokół przesłuchania […] [Marii Stopczańskiej] z 6 czerwca 1951 r. [Protokoll der Vernehmung von Maria Stopczańska vom 6. Juni 1951]. IPN. Sign. 0298/168, fol.? 39 v.; Zeznanie Marii Stopczańskiej /od momentu poznania p. Berdycha/ wrzesień 1949 r. [Aussage von Maria Stopczańska /aus der Zeit, als sie Herrn Berdych traf/ September 1949]. IPN. Sign. 0298/168, S. 9–10. 77 Uzupełnienie zeznań [Ergänzendes Beweismaterial], S. 18–19. 78 Siehe u.a.: Borodziej, Terror, S. 91–92; Gadomski, Józef Mützenmacher, S. 313–37. 79 Zum Beispiel Berichte (der erste datiert vom 12. Juni 1943) des Heimwehr (Armia Krajowa)-Informanten „Alfred“ über Berdych-Słoński (Józef Bogusław Słoński war eines der literarischen Pseudonyme, die Kamiński vor dem Krieg verwendete). Siehe: Sprawa J. Mitzenmachera [Der Fall von Herrn J. Mitzenmacher]. IPN. Sign. 0298/60. Vol. 1, S. 37.
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daran, dass sich unter den Informanten ein oder mehrere Angestellte der Öffentlichen Bibliothek befanden,80 zu denen Berdych-Kamiński im Allgemeinen kein Vertrauen hatte. Die meisten Bibliothekare betrachteten ihn als „einen vollendeten Schurken, einen deutschen Spion und in der Tat einen hochklassigen Provokateur“81. Laut M. Stopczańska hat erst die Verhaftung von J. Berdych durch die Deutschen diejenigen zum Schweigen gebracht, die keine Sympathie für ihn hatten82 – wie sie nach dem Krieg aussagte: „Die Verhaftung von Berdych hat mich ein wenig beruhigt, dass er kein Deutscher ist. Leider sagten die Leute, es sei eine Fiktion (die Verhaftung), und lange Zeit später war ich mir nicht mehr sicher“83.
„Verhaftung“ von J. Berdych und weiteres Schicksal der Büchersammlung der Sozialabteilung
Da Berdych zunehmend der Zusammenarbeit mit der Gestapo verdächtigt wurde, beschlossen die Deutschen, ihn aus Warschau abzuziehen. Seine Aktivitäten in der Öffentlichen Bibliothek und in der Stadt im Allgemeinen endeten mit seiner fiktiven Verhaftung am 17. November 1943 durch die deutsche Polizei.84 Jadwiga Roszkowska – die vierte und letzte Frau von MützenmacherBerdych-Kamiński, die er am 10. Juli 1943 heiratete und nach der er einen neuen Nachnamen annahm: Roszkowski – erklärte nach dem Krieg, dass sie und ihr Mann mithilfe der Gestapo nach Białystok gingen.85 Nach der angeblichen „Verhaftung“ von Roszkowski-Berdych wurde die nun „überflüssige“ Sozialabteilung versiegelt, und am 28. und 29. Januar 1944 ließ die Polizei vier Lastwagen mit Büchern und Zeitschriften abtransportieren – L. Bykowski schätzte, dass es etwa 19.000 Werke in 20.000 Bänden waren.86 80 81 82 83 84 85
86
BERDYCH-KAMINSKI, Jan.,Vol. 1, S. 33–35. Skierkowska/Przelaskowski, Zapisy, S. 412. Zeznanie Marii Stopczańskiej [Aussage von Maria Stopczańska], S. 14. Uzupełnienie zeznań [Ergänzendes Beweismaterial], S. 18. Przelaskowski, Wspomnienia, S. 391–392. Protokół przesłuchania podejrzanej [Jadwigi Roszkowskiej] z 18 września 1949 r. [Protokoll der Vernehmung der Verdächtigen Jadwiga Roszkowska vom 18. September 1949]. IPN. Sign. 0298/156, fol.? 6v–7; Streszczenie sprawy [Zusammenfassung der Rechtssache], S. 26. Raport służbowy z 31 stycznia 1944 r. p.o. dyrektora Biblioteki Publicznej L. Bykowskiego do Komisarycznego Burmistrza miasta Warszawy [Dienstbericht vom 31. Januar 1944 des stellvertretenden Direktors der Öffentlichen Bibliothek L. Bykowski an den Bürgermeister des Kommissariats der Stadt Warschau]. ABP. Sign. A. 449, S. 101–102.
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Diese Sammlung wurde in die Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag gebracht (tätig 1942–194587) – vielleicht auf Empfehlung von H. Fuhr und mit dem Wissen von Roszkowski-Berdych. Die Quellen geben keine Auskunft darüber, welche Materialien nach Prag gebracht wurden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich dabei hauptsächlich um Publikationen aus den Sammlungen des ehemaligen INBK – zum Kommunismus und zur Sowjetunion – handelte, d.h. um Materialien, die dem Interessenprofil der Reinhard-Heydrich-Stiftung entsprachen. Die wertvollsten Sammlungen des ehemaligen Sozialmuseums, die von der Gestapo übersehen worden waren, verblieben jedoch in der Öffentlichen Bibliothek.88 In den Räumlichkeiten der Abteilung „waren noch alle Broschüren, Fotos und Archivalien sowie ein Teil der zusammengetragenen Zeitschriften vorhanden, insgesamt etwa 17.000 Werke in 18.000 Einheiten“89. In der Zwischenzeit arbeitete Roszkowski-Berdych weiter für die Deutschen, zunächst in Białystok und von Juli 1944 bis zum Ende der deutschen Besatzung in Krakau, wo er unter anderem mit H. Fuhr zusammenarbeitete. Nach Aussage von J. Roszkowska wurde die Abreise ihres Mannes nach Prag damals erwogen.90 Fast ein Jahr später interessierten sich die Deutschen wieder für die Sammlung der Sozialabteilung, die in der Öffentlichen Bibliothek zurückgelassen wurde. Am 5. Dezember 1944 brachten sie eine weitere Ladung von Büchern zum Heydrich-Institut in Prag. Jedoch fanden die Deutschen die restlichen Sammlungen der Abteilung nicht, die im Keller verblieben, wo sie leider bei dem Brand der Bibliothek im Januar 1945 verbrannten.91 Nach dem Krieg machten sich die Mitarbeiter der Öffentlichen Bibliothek auf die Suche nach den Sammlungen der Sozialabteilung, die nach Prag in die Tschechische Republik gebracht worden waren. Bereits im August 1945 reiste eine polnische Delegation mit R. Przelaskowski und Kazimierz Jasiński – einem Aktivisten der Polnischen Kommunistischen Partei, der zwischen 1924 und 1934
87 88 89 90 91
Siehe: Wiedemann, Andreas: Die Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag (1942–1945), Dresden 2000. Przelaskowski, Wspomnienia, S. 392. Siehe: Sprawozdanie z działalności Biblioteki Publicznej m. Warszawy za czas od 15 stycznia do 15 lutego 1944 r. [Bericht über die Tätigkeit der Öffentlichen Bibliothek der Stadt Warschau in der Zeit vom 15. Januar bis 15. Februar 1944.]. ABP. Sign. A. 474/5, fol.? 61v. Zu diesem Thema siehe: Gadomski, Józef Mützenmacher, S. 337–341. Gutry, Notatka o Bibliotece Publicznej.; Przelaskowski, Wspomnienia, S. 392.
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Mitglied der Behörden des Sozialmuseums war,92 nach Prag. Die Sammlungen der Abteilung befanden sich im Thomaskloster – sie machten den Großteil der etwa 10.000 Bände aus polnischen Bibliotheken aus.93 Die Sammlung der Sozialabteilung, die aus Prag zurückgeholt wurde, kehrte 1947 nach Warschau zurück und wurde beim Bildungsministerium in der Öffentlichen Bibliothek von Warschau deponiert.94 Wie viele es genau waren, geben die Quellen nicht an. Es stellen sich Fragen: Was blieb noch übrig von dieser Sammlung? Wo könnten noch Teile der Sammlung sein? Die Nachkriegsgeschichte dieser Sammlung ist so kompliziert, dass sie einen eigenen Artikel verdient. Ein Teil der Publikationen aus der Buchsammlung der Sozialabteilung befindet sich heute in der Abteilung für sozialgeschichtliche Sammlungen der Sejm-Bibliothek in Warschau. Das beweist Kwiatkowskis 1932 in Warschau veröffentlichte Broschüre „Na froncie intelektualnej ofensywy bolszewizmu“ (An der Front der intellektuellen Offensive des Bolschewismus), die ich in der Abteilung für sozialgeschichtliche Sammlungen der Sejm-Bibliothek gefunden habe.95 Dieses Buch trägt den Stempel der Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek. Um herauszufinden, wie viele Publikationen aus der Sozialabteilung sich derzeit in der Sejm-Bibliothek befinden, müsste man eine Provenienzforschung betreiben. Ich habe keine solchen Nachforschungen angestellt, und leider gibt die Sejm-Bibliothek in ihren Katalogen leider nicht die Provenienz der Bücher an. Die Geschichte der Sozialabteilung der Öffentlichen Bibliothek Warschau zeigt, dass die Bibliothekssammlung und ihre Pflege während des Krieges als „Deckmantel“ für Aktivitäten dienen konnte, die nichts mit ihr zu tun hatten – in diesem speziellen Fall unabhängig von der Überzeugung der Deutschen über den Wert und Nutzen der in der Abteilung gesammelten Materialien für die sowjetischen Studien und antikommunistische Propaganda.
92 Szturm de Sztrem, Tadeusz: Instytut Gospodarstwa Społecznego 1920–1944: przyczynek do historii instytucji naukowo-społecznych w Polsce [Institut für Sozialwirtschaft 1920– 1944: ein Beitrag zur Geschichte der wissenschaftlichen und sozialen Institutionen in Polen], Warszawa 1959, S. 235. 93 Sprawozdanie z delegacji ob. D-ra Ryszarda Przelaskowskiego i ob. Jana Piaseckiego do Pragi Czeskiej w sprawie wywiezionych przez Niemców do Czechosłowacji księgozbiorów Polskich [Bericht über die Delegation von Herrn Ryszard Przelaskowski und Herrn Jan Piasecki nach Prag über polnische Büchersammlungen, die von den Deutschen in die Tschechoslowakei deportiert wurden]. ABP. Blatt ohne Sign., S. 3. 94 Przelaskowski, Wspomnienia, S. 397. 95 Katalognummer der Sejm-Bibliothek: B 24950.
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Literaturverzeichnis
Quellen
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Sprawozdanie miesięczne [kierownika Działu Społecznego] za wrzesień 1941 r. ABP. Sign. A. 576. Sprawozdanie miesięczne kierownika Działu Społecznego za listopad 1941 r. ABP. Sign. A. 576. Sprawozdanie miesięczne kierownika Działu Społecznego za styczeń 1942 r. ABP. Sign. A. 576. Sprawozdanie roczne [kierownika Działu Społecznego] za okres od 1.IV.1942 r. do 31.III.1943 r. ABP. Sign. A. 576. Sprawozdanie z delegacji ob. D-ra Ryszarda Przelaskowskiego i ob. Jana Piaseckiego do Pragi Czeskiej w sprawie wywiezionych przez Niemców do Czechosłowacji księgozbiorów Polskich. ABP. Blatt ohne Sign. Sprawozdanie z działalności Biblioteki Publicznej m. Warszawy za czas od 15 stycznia do 15 lutego 1944 r. ABP. Sign. A. 474/5. Wykaz spraw i wniosków, rozważanych na posiedzeniu Magistratu m.st. Warszawy dnia 27 lutego 1934 r. ABP. Sign. 356/1. – Archiwum Narodowe w Krakowie [Nationalarchiv in Krakau] [Kwiatkowski, Antoni Wincety]. Sprawozdanie Delegacji Instytutu z pobytu w Berlinie dla zapoznania się z akcją antybolszewicką „Antikominternu“. Sign. 29/206/102. – Hoover Institution Archives, Stanford University Kwiatkowski, Antoni Wincety. The Auto-Biography of Priest Antoni Vincenti Kwiatkowski. Antoni Wincenty Kwiatkowski Papers, [Box no. 1]. Collection number: 71013. Miscellaneous correspondence file. Antoni Wincenty Kwiatkowski Papers, [Box no. 2]. Collection number: 71013. – IPN: Instytut Pamięci Narodowej, Biuro Udostępniania w Warszawie [Institut für Nationales Gedenken, Offenlegungsstelle in Warschau]. BERDYCH-KAMINSKI Jan. IPN. Sign. 0298/60. Vol. 1. Informacja dot. MUTZENMACHERA Józefa ps. „REDYKO“ vel. KAMINSKIEGO Józefa, Bogusława, BERDYCHA Jana, ROSZKOWSKIEGO Jana. Warszawa, dnia 16 czerwca 1950 r. IPN. Sign. 0298/60. Vol. 1. Protokół przesłuchania […] [Adama Kellera] z 6 czerwca 1952 r. Sign. 0330/225, 141. Protokół przesłuchania […] [Stefana Zglińskiego] z 13 lipca 1951 r. IPN. Sign. 0298/186. Protokół przesłuchania […] [Stefana Zglińskiego] z 21 listopada 1949 r. IPN. Sign. 0298/186. Protokół przesłuchania […] [Jana Korzeniowskiego] z 12 maja 1952 r. IPN. Sign. 0298/107.
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Die janusköpfige Rolle der deutschen Bibliothekare im besetzten Polen 1939–1945 Andrzej Mężyński Abstract Hinter jeder „Umsiedlung“ von Büchern stehen konkrete Menschen, die konkrete Entscheidungen treffen. Man könnte zwar einräumen, dass bei großen historischen Ereignissen, die eine Verlagerung von Kulturgütern (u.a. Bücher) zur Folge haben, wie Kriegen, Besatzungsregimen oder Revolutionen, die Rolle des Individuums weniger wichtig sei. Das stimmt zwar, aber hinter großen historischen Prozessen, die oftmals die bisherigen Eigentumsstrukturen verändern, was fast immer mit dem Raub dieser Kulturgüter (u.a. Bibliotheken) einherging, standen konkrete Menschen, die die Verlagerung der Kulturgüter konzipierten, und zuständige Behörden, die sich ja auch aus einzelnen Entscheidungsträgern zusammensetzten. Mit den Bibliotheken im besetzten Polen befassten sich die aus Berlin delegierten Bibliothekare, die Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen sind.
Die deutschen Bibliothekare tauchten im besetzten Polen nicht sofort auf. Anfangs herrschte völliges Kompetenzchaos. Man war überzeugt, dass sämtliche Kulturgüter im besetzten Polen ins Deutsche Reich überführt werden konnten. Diese Ansicht vertraten die Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Auf Antrag der pseudowissenschaftlichen NS-Organisation „Deutsches Ahnenerbe e.V.“ wurde im RSHA das „Kommando Paulsen“ gebildet, das im Oktober 1939 zwei größere Unternehmungen zum Raub von Kulturgütern im unmittelbar zuvor gegründeten Generalgouvernement (GG) einleitete. Aus dem GG wurden u.a. drei Bibliotheken nach Berlin ausgelagert: Sejm-Bibliothek, Judaistische Bibliothek (bei der Großen Synagoge in Warschau) und Bibliothek des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts.1 Diese drei Bibliotheken sind nie mehr nach Polen zurückgekehrt, obwohl sie die einzigen Bibliotheken (mittlerer Größe) waren, die in ihrer Gesamtheit aus dem besetzten Polen ausgelagert wurden. Bereits bei der Gründung des Generalgouvernements am 26. Oktober 1939 erließen dessen Machthaber das strikte Verbot der Auslagerung von Kulturgütern aus dem GG. Das „Kommando 1 Mężyński, Andrzej: Kommando Paulsen. Październik – grudzień 1939 r. [Kommando Paulsen. Oktober bis Dezember 1939]. Warszawa 1994, S. 18.
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Paulsen“ wurde daraufhin am 30. Oktober aufgelöst, wobei einige Kulturobjekte sogar wieder ins GG zurückgeführt werden mussten. Das betraf auch geraubte Bücher. Man errichtete also eine Art Schutzschirm über den wissenschaftlichen Bibliotheken in Polen. Dabei ergriffen zentrale Institutionen des Deutschen Reiches die Initiative. Dazu gehörte vor allem die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin (PSB) mit Generaldirektor Hugo Andres Krüß an der Spitze. Krüß war zugleich Vorsitzender des „Reichsbeirats für Bibliotheksangelegenheiten“ und fühlte sich als Leiter dieser beiden Einrichtungen für das Schicksal der wissenschaftlichen Bibliotheken in den von Hitler-Deutschland eroberten Ländern Europas verantwortlich. Er vertrat ferner die Ansicht, dass die polnischen Bibliotheken unter die fachliche Verwaltung der Bibliothekare des Deutschen Reiches gestellt werden sollten. Unterstützung bei seiner Tätigkeit erhielt Krüß vom „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ (REM) und dessen zuständigen Referenten, Ministerialrat Rudolf Kummer. Die deutschen Bibliothekare sollten nach deren Vorgaben die Bibliotheksstellen – vor allem die leitenden Positionen – in den vom Dritten Reich eingegliederten oder okkupierten Ländern Europas neu besetzen. Dies betraf die Städte Prag, Krakau, Lublin, Lemberg, Warschau, Posen, Straßburg, Metz und Brüssel. Olaf Hamann, Leiter der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB), hat die im „Jahrbuch der Deutschen Bibliotheken“ diesbezüglich enthaltenen Angaben näher analysiert. Dabei hat er errechnet, dass z.B. im Jahr 1942 in den vom Dritten Reich besetzten Staaten insgesamt 75 wissenschaftliche Bibliothekare aus Berlin tätig waren.2 Allein in Posen waren zehn deutsche Bibliothekare tätig – sechs in der Universitätsbibliothek der neu gegründeten „Deutschen Universität“ und vier in der Raczyński-Bibliothek. Im Generalgouvernement organisierte Krüß die polnischen wissenschaftlichen Bibliotheken völlig neu. In seinem Schreiben vom 23. Februar 1940 teilt er Reichserziehungsminister Bernhardt Rust mit, dass sich in den vom NS-Regime okkupierten Gebieten Polens wertvolle Bestände befänden, insbesondere Handschriften und Inkunabeln, die von der Vernichtung bedroht seien: „Im eigenen deutschen Interesse wie mit Rücksicht auf die Wirkung im neutralen Ausland halte ich es für dringend geboten, dass besondere Maßnahmen zum Schutz und zur Erhaltung dieser Kulturwerte getroffen werden.“3 Diese Auffassung untermauerte Krüß mit zwei von 2 Hamann, Olaf: Deutsche Bibliothekare in den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges okkupierten Gebieten Osteuropas, in: Die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Recherchestand. Probleme. Lösungswege. Marburg 2006, S. 61–90. 3 Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939–1945. Wybór dokumentów źródłowych [Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement 1939–1945.
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Bibliothekaren der Preußische Staatsbibliothek zu Berlin angefertigten Expertisen bezüglich der polnischen Bibliotheken. Kurt Ohly stellte eine (nach Städten geordnete) Liste aller Bibliotheken Polens zusammen, die sich im Besitz von Inkunabeln befanden, während Karl Christ die im ganz Polen aufbewahrten Handschriften-Bestände ausführlich inventarisierte. Die Abhandlungen der deutschen Bibliothekare blieben unvollständig, da diese ausschließlich in Berlin verfasst wurden. Dennoch wurden dabei die Anstrengungen der Autoren ersichtlich, die polnischen Bestände in ein möglichst gutes Licht zu stellen. So betonte man z.B. mit Nachdruck, wie viele Codices und Inkunabeln europäischen Ranges in den polnischen Beständen zu finden seien und dass Polen in diesen Kategorien einem europäischen Land mittlerer Größe gleichkomme. Ohly zog daraus die Schlussfolgerung, dass die „polnischen Bibliotheken […] große und wertvolle Inkunabel Bestände [besitzen]; […] mindestens 15.000, eine Zahl, die dem Inkunabel Besitz der Schweiz gleichkommt und den von Ländern wie Holland, Belgien, Dänemark, Schweden erheblich übertrifft“4. Das Reichserziehungsministerium übernahm die generelle Beaufsichtigung der polnischen wissenschaftlichen Bibliotheken im GG und entsandte zur Überprüfung ihrer Bestände den ersten Direktor der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin, Josef Becker, am 18. April 1940 nach Polen. Nachdem dieser sich über die Lage vor Ort ein Bild gemacht hatte, entwarf er erste Lösungsansätze, die größtenteils zunächst von Berlin und dann auch von den Machthabern im GG akzeptiert wurden. Becker schlug die Bildung eines eigenen Referats für Bibliotheken (spätere endgültige Bezeichnung: „Hauptverwaltung der Bibliotheken“) vor, das innerhalb der Regierungsstrukturen des GG tätig sein sollte. Dessen Leitung sollte der Direktor einer deutschen wissenschaftlichen Bibliothek übernehmen. Ferner sollten zwei weitere wissenschaftliche Bibliothekare aus dem Dritten Reich ins GG gesandt werden – einer nach Krakau, der andere nach Warschau. Beiden sollte es freistehen, politisch unbelastetes polnisches Personal einzustellen. Als Sitz der „Hauptverwaltung der Bibliotheken“ bestimmte man die Bibliothek der Jagiellonen-Universität Krakau. In dieses moderne Gebäude sollten auch andere wissenschaftliche Bibliotheken Krakaus verlegt werden sowie wertvolle Objekte aus anderen polnischen Bibliotheken. Denn nur die JagiellonenBibliothek galt als sicherer Aufbewahrungsort. In Warschau hingegen sollte die dortige Universitätsbibliothek die zentrale Anlaufstelle der bibliothekarischen Arbeiten sein. Beckers Vorschläge wurden wohlwollend aufgenommen, sodass Ausgewählte Quellendokumente], ausgew. u. bearb. v. Andrzej Mężyński u. Mitarb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2003, S. 17. 4 Ebd., S. 18–19.
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Berlin bald darauf die ersten Bibliothekare ins GG delegierte. Deren Kandidaturen sandte Rudolf Kummer vom Reichserziehungsministerium auf dem offiziellen Dienstweg mit der Bitte um Zustimmung seitens des Amtes des Generalgouverneurs an Kajetan Mühlmann.5 Kummer nennt in seinem Schreiben an Mühlmann folgende vier Kandidaten: Gustav Abb (Universitätsbibliothek Berlin), Wilhelm Witte (Universitätsbibliothek Breslau), Ulrich Johanssen und Wolf von Both (Preußische Staatsbibliothek zu Berlin). Die zentrale Gestalt war dabei Gustav Abb, ein prominenter Vertreter des deutschen Bibliothekwesens. Abb fungierte seit 1. Mai 1935 als Direktor der Universitätsbibliothek Berlin und war von 22. Mai 1937 bis 1942 Vorsitzender des Vereins Deutscher Bibliothekare. Er trat als einer der ersten deutschen Bibliotheksdirektoren in die NSDAP ein. Bereits nach seiner Entsendung nach Krakau (23. Juni 1941) berief man ihn zum „Kommissar für die Sicherung der Bibliotheken und die Betreuung des Buchgutes im östlichen Operationsgebiet“. Abb leitete persönlich ein mehrköpfiges Team von Mitarbeitern, begab sich selbst in die eroberten Gebiete im Osten und „sicherte“ die Bibliotheken in Russland und der Ukraine.6 In der Jagiellonen-Bibliothek arbeiteten auch andere deutsche Bibliothekare als Abbs Stellvertreter: Wolf von Both (Preußische Staatsbibliothek zu Berlin) – seit Oktober 1940; Georg Hödt (Universitätsbibliothek Berlin) – 12. September bis 31. Dezember 1940; Ulrich Johanssen (Preußische Staatsbibliothek zu Berlin) – 14. Oktober 1940 bis 1. November 1941; Alfred Bachmann (Universitätsbibliothek Posen) – 4. Oktober 1941 bis 30. Juni 1942; Hans Hofmann (Sächsische Landesbibliothek Dresden) – 20. Juni 1942 bis August 1944. Abgesehen von weiteren Stellvertretern beschäftigte Abb noch zwei deutsche Hilfskräfte, die technische bibliothekarische Arbeiten verrichteten. Abb übernahm die Leitung der „Hauptverwaltung Bibliotheken“ im GG am 1. Juli 1940 und organisierte daraufhin vier Staatsbibliotheken: Krakau, Warschau, Lublin und Lemberg. Diese wiesen insgesamt über 6 Millionen Bände auf und beschäftigten ca. 320–350 Mitarbeiter. Alle diese Bibliothekare stellte Abb selbst nach recht unklaren Bewerbungskriterien ein. Dabei achtete er jedoch sorgfältig darauf, das qualifizierteste Personal zu beschäftigen, das im GG damals zur Verfügung stand. In diesen Bibliotheken – insbesondere in Warschau und Krakau – arbeitete während der Besatzungszeit größtenteils die Elite 5 Vgl. ebd., S. 28–29. Der Wiener Kunsthistoriker Kajetan Mühlmann war im Auftrag von Generalgouverneur Hans Frank offiziell für die Anfertigung eines Bibliotheken-Verzeichnisses und für die Sicherung der „Kunst- und Kulturgüter“ zuständig. 6 Siehe Kurzbiographie Abbs in: ebd., S. 469–470.
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des polnischen Bibliothekwesens der Zwischenkriegszeit. Diese Bibliothekare nutzten aufgrund ihrer eher geringen dienstlichen Belastung im laufenden Bibliotheksbetrieb die Möglichkeit, langfristige Konzepte für die Zukunft des polnischen Bibliothekswesens nach Kriegsende zu entwickeln. Das Bibliothekswesen in Polen wurde nach 1945 gemäß ihren Entwürfen wiederaufgebaut. Unter diesen Bibliothekaren befanden sich Józef Grycz (vor allem im Bildungsministerium tätig), Edward Kuntze (Jagiellonen-Bibliothek), Marian Łodyński (Nationalbibliothek Warschau) und Adam Łysakowski (Direktor des Polnischen Buch-Instituts und des Bibliographischen Instituts der Nationalbibliothek Warschau). Es wäre müßig, nach den Gründen für das Interesse der NS-Behörden an den polnischen wissenschaftlichen Bibliotheken zu fragen, da Polen wie bereits erwähnt keinen Ausnahmefall in Europa darstellte. Das NS-Regime ließ ja zahlreiche Bibliotheken in den eroberten Ländern mit wissenschaftlichen Bibliothekaren aus dem Dritten Reich besetzen. In Bezug auf Polen lautete der oberste Grundsatz, alle von der Vernichtung bedrohten, wertvollen Bestände zu sichern. Die Machthaber des GG machten sich diese Argumentation zu eigen, die Gustav Abb dann vor Ort durch konkrete Maßnahmen umsetzte. Im Juli 1940 teilte er Kummer brieflich mit, dass die staatlichen Bibliotheken Polens das „Buchgut im GG sichern“ und es an die „Studien zum Ostproblem“7 anpassen sollten. An anderer Stelle wies Abb darauf hin, dass die polnischen Bibliotheken im GG der sich dort im Aufbau befindlichen deutschen Wissenschaft und Beamtenschaft zu dienen hatten. Die Aufgaben der staatlichen Bibliotheken im GG beschrieb er in diesem Zusammenhang wie folgt: „Nach wiederholt bekanntgegebener Absicht der Regierung des GG dienen die 4 Staatsbibliotheken dazu, im Gebiet des GG Pflegestätten für die Deutsche Wissenschaft zu errichten und für sie das geeignete Büchermaterial zur Verfügung zu stellen.“8 Laut dem Autor der umfassenden Synthese zur OssolińskiNationalbibliothek Breslau im Zweiten Weltkrieg, Maciej Matwijów, habe Abb als professioneller Bibliothekar konsequent den Standpunkt vertreten, die ihm unterstellten Büchersammlungen ohne Beeinträchtigungen zu erhalten. Daher ließ er keine Verluste zu. Wahrscheinlich war dabei das Gefühl entscheidend gewesen, die berufliche Verantwortung für das weitere Schicksal der Bibliotheksbestände zu tragen9. 7 Biblioteki naukowe, S. 134. 8 Ebd., S. 135. 9 Matwijów, Maciej: Zakład Narodowy imienia Ossolińskich w latach 1939–1946 [Die Ossoliński-Nationalbibliothek 1939–1946], Wrocław 2003, S. 154.
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Auch Johanssen habe unbeirrt daran festgehalten, dass der „oberste Grundsatz“ der deutschen Bibliothekare darin bestehe, die polnischen Büchersammlungen unbedingt zu erhalten, „da die Bücher meist unersetzbar sind“10. Es gab noch einen weiteren Grund für die Erhaltung der polnischen Bibliotheken im GG. Generalgouverneur Hans Frank träumte nämlich davon, nach Kriegsende in Krakau eine große deutsche Nikolaus-Kopernikus-Universität zu gründen. Diese Universität musste sich zwangsläufig auf eine umfangreiche Bibliothek mit reichhaltigen Beständen stützen – eine solche Bibliothek sollte die Jagiellonen-Bibliothek weiterhin bleiben. Die anderen staatlichen Bibliotheken des GG – vor allem Warschau – sollten hingegen als Filialbibliotheken dienen. Abgesehen davon hatte man ihnen noch weitere Funktionen an ihrem angestammten Ort zugedacht. In Lemberg sollten die Ossolińskiund Baworowski-Bibliothek gemeinsam mit den anderen wissenschaftlichen Bibliotheken der Stadt (insgesamt 138 deutsche Mitarbeiter) die Erforschung der Geschichte Galiziens sowie der benachbarten Sowjetunion unterstützen. Die Staatsbibliothek in Lublin, wo außer der Katholischen Universität keine weiteren Hochschulen existierten, sollte den deutschen Beamten in der Stadt und im gesamten Distrikt zu Diensten sein. Deren Leiter, Wassyl Kutschabsky, sah seine Aufgabe darin, der „Ostforschung des Reiches durch die bereits bestehende Literatur zu dienen, und zugleich eine moderne wissenschaftliche Bibliothek zu schaffen, die alle Bedürfnisse sowohl des Distrikts als auch des Generalgouvernements und der Deutschen im GG ersetzt“11. Alle vier Bibliotheken erhielten deutsche Leiter. In Warschau (samt 82 Bibliotheksmitarbeiter) ernannte man Wilhelm Witte zum Kommissarischer Leiter – einen Bibliothekar und Slawisten, der am 12. Juli 1940 von der Universitätsbibliothek Breslau abgeworben worden war. Wie Witte später rückblickend offenbarte, habe er sich deshalb nach Warschau begeben, da er sich als Slawist und Absolvent eines Posener Gymnasiums dazu verpflichtet gefühlt habe. Abbs Stellvertreter in der Jagiellonen-Bibliothek wurde Ulrich Johanssen von der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin. Johanssen musste dazu jedoch zuerst aus der Wehrmacht abgeworben werden, zu der er sich bereits als Freiwilliger gemeldet hatte. Nach Gründung der Staatsbibliothek Lemberg übernahm er am 15. Oktober 1941 deren Leitung, trat jedoch am 15. Oktober 1943 auf ausdrücklichen Wunsch erneut der Wehrmacht bei. Zu seinem Nachfolger 10 Ebd., S. 155. 11 Mężyński, Andrzej: Biblioteka im. Hieronima Łopacińskiego w trudnych dniach okupacji [Die Hieronim-Łopaciński-Bibliothek in den schweren Tagen der Besatzungszeit], in: Bibliotekarz Lubelski, Jg. XLIII, 2000, S. 48.
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ernannte man noch im gleichen Monat Alexander Himpel, der die Bibliothek bis zum Ende der Besatzungszeit leitete. Johanssen wurde von den polnischen Bibliotheksmitarbeitern positiv eingeschätzt. Die Staatsbibliothek Lemberg hatte beträchtliche Bestände und besaß weitverzweigte Strukturen. Sie setzte sich aus den fünf größten Bibliotheken der Stadt zusammen.12 Johanssen erledigte als Direktor nur Personalangelegenheiten und pflegte Kontakte zu auswärtigen Behörden. Die Führung einzelner Abteilungen überließ er hingegen polnischen oder ukrainischen Leitern, deren Kompetenzen er zu schätzen wusste und diese daher auf den in der Zwischenkriegszeit eingenommenen Positionen beließ. Seinem Nachfolger Alexander Himpel fiel die schwierige Rolle zu, Teile der Bestände der Ossoliński-Bibliothek vor der heranrückenden Ostfront nach Krakau zu evakuieren, was letztlich gelang. Seine Zusammenarbeit mit polnischen Bibliothekaren war geradezu vorbildhaft. Die gegenseitigen Kontakte beschrieb Prof. Tadeusz Makowiecki rückblickend mit warmen Worten: Ein schlanker, klein gewachsener Deutscher mit dem Gesicht eines 14-jährigen Jungens – nur mit völlig ergrautem Haar. Er hatte vor der Oktober-Revolution ein Studium an der Universität Petersburg absolviert und sprach mit einem singenden, eleganten Akzent Russisch (wir nannten ihn ‚Sascha‘). In seinen Augen war etwas von der Höflichkeit eines braven Jungen. Im Osten Europas groß geworden, war er der einzige Europäer unter uns. Er berücksichtigte auch andere Auffassungen und erwog alle Entscheidungen auf ihre verschiedenen Aspekte hin. Er sorgte sich wirklich um die Bücher und um sämtliche Kulturgüter. Er fühlte mit uns und drängte sich uns nie auf13.
Die Staatsbibliothek Lublin leitete der aus der Ukraine stammende Bibliothekar Wassyl Kutschabsky, der bislang seit 1937 in der Bibliothek des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel gearbeitet hatte. Da in der Staatsbibliothek fast kein Fachpersonal zur Verfügung stand, musste Kutschabsky vierzig völlig unqualifizierte Bibliothekare anstellen. Darunter befanden sich überwiegend junge Schülerinnen oder Studentinnen. Die Tätigkeit in der Staatsbibliothek rettete sie vor der Deportation zur Zwangsarbeit ins Dritte Reich. Laut den Erinnerungen seiner jungen Mitarbeiterinnen machte Bibliotheksleiter Kutschabsky einen sehr positiven Eindruck: „Er zeichnete sich durch ein sehr ethisches Verhalten, eine persönliche Begegnungskultur und ein außerordentlich 12 Matwijów, Zakład Narodowy, S. 136–141. 13 Makowiecki, Tadeusz: W obronie zbiorów bibliotecznych. Wspomnienie z 1944 r. [Die Verteidigung der Bibliotheksbestände. Eine Erinnerung aus dem Jahr 1944], in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury. Warszawa 1939–1945 [Der Kampf um die Kulturgüter. Warschau 1939–1945]. Bd. 2, Warszawa 1970, S. 260.
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wohlwollendes Verhältnis zu den Mitarbeitern aus, sowohl zu Polen als auch Juden.“14 In der Staatsbibliothek Lublin blühte die Konspiration, was auch Kutschabsky wusste, der einige Bibliothekarinnen sogar vor diesbezüglichen „Reinfällen“ rettete. Sämtliche Äußerungen von deutscher Seite über die Zukunft der polnischen Bibliotheksbestände bestätigten eindeutig, dass der damalige Status quo für provisorisch erachtet wurde und die Machthaber des GG das Kriegsende erwarteten, um die endgültige Entscheidung über die polnischen Kulturgüter und wissenschaftlichen Bibliotheken treffen zu können. Angesichts der herbeigesehnten Entscheidung über den Kriegsausgang bestand die Hauptaufgabe der Bibliothekare in der „Sicherung“ der Bestände. Der Begriff „Sicherung“ zieht sich beinahe endlos durch alle zeitgenössischen Dokumente und Korrespondenzen. Dies bedeutete in der Praxis, dass die in den Gebäuden der staatlichen Bibliotheken aufbewahrten wissenschaftlichen Bücher nicht an andere Orte gebracht werden durften. Die bereits aus den Bibliotheken verlagerten Bestände waren hingegen zurückzuführen. Eben dieser Aufgabe stellten sich Abb und seine Mitarbeiter. Abb interessierte sich auch für die vom „Kommando Paulsen“ verlagerten Bücher und setzte sich letztlich erfolgreich für deren teilweise Rückkehr ein. Er hatte nämlich erfahren, dass sich eine Kiste mit wertvollen Handschriften aus der Zamojski-Bibliothek inzwischen am Sitz des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS in Warschau befand. Nach zahlreichen Mahnungen willigte Reichssicherheitshauptamt-Chef Reinhard Heydrich höchstpersönlich in die Rückführung der Kiste ein. Besonders wichtig war dabei die Wiedererlangung des „Codex Suprasliensis“. Diese älteste bekannte altslawische Handschrift war vom „Kommando Paulsen“ geraubt und mit einem Sonderkurier nach Berlin transportiert worden, wo man sie in der Schatzkammer des RSHA untergebracht hatte. Erst nach wiederholten Bemühungen und unter Berufung auf die Autorität von Hans Frank gelang es Abb, den „Codex Suprasliensis“ für die Zamojski-Bibliothek zurückzugewinnen. Gelegenheiten zur Verteidigung polnischer wissenschaftlicher Bücher gab es natürlich viele, denn die deutschen Bibliotheken hatten bereits seit 1941 während der alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte erste Verluste erlitten. Das Reichsfinanzministerium forderte die Übereignung der polnischen Bibliotheken an das Reichserziehungsministerium und die Aufteilung ihrer Bestände unter den zerstörten deutschen Bibliotheken. Diese Haltung rief Abbs heftigen Widerstand hervor, sodass er eigens nach Berlin fuhr, um die ministeriellen Entscheidungsträger davon zu überzeugen, die Bibliotheksbestände des GG 14 Mężyński, Biblioteka, S. 45.
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nicht zu verringern, da dies „der bisherigen Bibliothekspolitik der Regierung des GG“15 widerspreche. Das Reichserziehungsministerium verzichtete schließlich auf seine Pläne. Daraufhin ging Abb noch einen Schritt weiter und dehnte das Ausfuhrverbot von Büchern aus dem GG sogar auf Dubletten aus. Die deutschen Bibliothekare in Polen richteten sich nach dem Grundsatz, dass die dort existierenden Büchersammlungen ihre Herkunftsbibliotheken nicht verlassen durften. Natürlich war man sich dabei im Klaren, dass die Erhaltung der Bestände der polnischen wissenschaftlichen Bibliotheken gemäß den Imperativen der NS-Ideologie auf sehr zweifelhaften Gründen beruhte. Denn laut dieser Weltanschauung war Polen ein Land ohne eigene Geschichte und kulturelles Erbe – mit völlig wertlosen Bibliotheksbeständen, die keine Erhaltung verdienten. So konnten sicherlich Zweifel laut werden, ob es tatsächlich angebracht war, die lückenhaften Bestände der staatlichen Bibliotheken Polens durch größere Erwerbungen zu ergänzen. Die Aufrechterhaltung der stark bestückten und auch mit neueren Buchtiteln ausgestatteten JagiellonenBibliothek in Krakau konnte man vielleicht noch rational begründen, da dort nach dem Krieg eine deutsche Kopernikus-Universität entstehen sollte und inzwischen bereits das „Institut für Deutsche Ostarbeit“ seine Tätigkeit aufgenommen hatte. Weitaus schwieriger war hingegen die Finanzierung der Staatsbibliothek Lublin zu erklären. Die deutschen Bibliothekare waren sich dieser verzwickten Lage durchaus bewusst. Der intelligenteste von ihnen, Johanssen, beschrieb die damalige Situation nach dem Krieg rückblickend wie folgt: „Die Frage, wem diese Bibliotheken später einmal dienen sollten, war dabei noch keineswegs geklärt, eine Unsicherheit, die dazu führte, dass auf höhere Anordnung die Bibliotheken zunächst einmal nur für Deutsche und für die Polen, die für deutsche Dienststellen arbeiteten, geöffnet waren.“16 Der gleiche Johanssen nannte – zwar erst nach Kriegsende – einen überraschenden Grund für das Verhalten der deutschen Bibliothekare. Demnach standen sowohl der Schutz der wissenschaftlichen Bibliotheken im Generalgouvernement als auch die Organisation und Leitung der Bibliotheken in Krakau, Warschau, Lublin und Lemberg „in Einklang mit dem Berufsethos deutscher Bibliothekare“17. Dieses ebenso verblüffende wie wichtige Bekenntnis erklärt einen der Gründe für die „getarnte“ Betreuung, die der Reichsbeirat, die Preußische Staatsbibliothek zu Berlin und Hugo Andres Krüß dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen in Polen zukommen ließen. Denn diese 15 Biblioteki naukowe, S. 143. 16 Johanssen, Ulrich: Die Hauptverwaltung der Bibliotheken des Generalgouvernements Polen, in: Biblioteki naukowe, S. 359. 17 Ebd., S. 360.
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gingen prinzipiell davon aus, dass die wissenschaftlichen Bibliotheken in den vom Dritten Reich eroberten Ländern – z.B. im „Protektorat Böhmen und Mähren“ – nach den gleichen Grundsätzen tätig sein sollten wie die übrigen Bibliotheken im Reichsgebiet. Sie sollten also über einen eigenen Haushalt verfügen, weitere Bestände ansammeln sowie die bestehenden Gebäude und Räumlichkeiten aufrechterhalten. Unter der Leitung eines deutschen Bibliothekars war dabei ein zahlenmäßig nur leicht reduziertes, aus lokalen Mitarbeitern bestehendes Bibliothekspersonal vorgesehen. Die polnischen Bibliotheken sollten mit teilweise „germanisierten“ Beständen erhalten bleiben. Eben diese Grundsätze verfolgten die ins GG delegierten deutschen Bibliothekare in der festen Überzeugung, diese auch in die Praxis umsetzen zu können – gemäß dem Berufskodex deutscher Bibliothekare. Die polnischen Bibliothekare bewerteten ihre deutschen Vorgesetzten recht unterschiedlich, wobei sie von den für deren Tätigkeit charakteristischen Interdependenzen oftmals gar nichts wussten. Am stärksten drückten Gustav Abb und Wilhelm Witte den polnischen Bibliotheken im GG ihren Stempel auf. Die Kontakte mit diesen beiden Bibliotheksleitern waren überaus intensiv, sodass deren Tätigkeit in den Quellen sehr gut dokumentiert ist. Im Folgenden soll daher das Hauptaugenmerk auf deren Handeln und Kontakte zu polnischen Bibliothekaren gelegt werden. Abb war ein überzeugter Nationalsozialist, sodass alle militärischen Rückschläge des Dritten Reiches im Krieg zugleich auch seine eigenen Niederlagen waren. Nichtsdestotrotz ließ er bei der ersten Besprechung mit den polnischen Mitarbeitern über die Grundlagen der dienstlichen Zusammenarbeit verlauten, dass er von ihnen lediglich persönliche Loyalität erwarte – das Verhältnis „zu Deutschland“ interessiere ihn hingegen nicht.18 Auch der die NS-Ideologie offen befürwortende Johanssen wies darauf hin, dass die polnischen Bibliothekare „zu Deutschland stehen mochten, wie sie wollten“19. Die polnischen Bibliothekare arbeiteten also ohne politischen Druck und – was wichtig ist – ohne „Spitzel“ oder Agenten in ihren Reihen. Daher konnten sie eine beinahe unbegrenzte und intensive konspirative Tätigkeit entfalten. In der Staatsbibliothek Warschau z.B. befand sich unter den ca. hundert auf vier großflächige Gebäude aufgeteilten Mitarbeitern lediglich ein einziger Deutscher – Wilhelm Witte, der als „kommissarischer Leiter“ trotz einer gewissen Lästigkeit in zahlreichen Angelegenheiten seinen Untergebenen gegenüber keineswegs ein „Schnüffelhund“ war. Dies ermöglichte eine breit angelegte konspirative Tätigkeit wie das Abhören von Rundfunkgeräten, das heimliche Kopieren von Texten und vertrauliche Verwahrung 18 19
Biblioteki naukowe, S. 247. Johanssen, Hauptverwaltung, S. 360.
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von Materialien, unter denen sich sogar Waffen befanden. In keiner der vier Staatsbibliotheken wurde im Laufe ihrer knapp fünfjährigen Tätigkeit auch nur eine einzige Anzeige bei der Gestapo wegen verschwörerischer Aktivitäten oder anderer Angelegenheiten erstattet. Lediglich Abb hätte diese Maßnahme fast ergriffen, als Diebe (höchstwahrscheinlich Lagerverwalter) aus „seiner“ Krakauer Bibliothek zahlreiche Bücher entwendeten und diese in großen Mengen an Antiquitätenläden und Privatpersonen verkauften. Aufgrund starker Bedenken verzichtete Abb jedoch letztlich auf eine Anzeige. In seinen nach Kriegsende verfassten „Erinnerungen“ (Tonbandgespräche mit Wilhelm Witte in Koblenz Archiv) versucht Witte bei Leserinnen und Lesern den Eindruck zu erwecken, dass die unter seiner Leitung in Warschau beschäftigten polnischen Bibliothekare so gearbeitet hätten, als ob es nie eine Okkupation gegeben und das polnische Volk in einem freien Staat gelebt hätte. Die damaligen politischen Rahmenbedingungen lässt Witte völlig außer Acht. Außerdem werden die Mitarbeiter in den Memoiren häufig als „polnische Kollegen“ bezeichnet, wobei Witte ein insgesamt sehr heiteres Bild der Zusammenarbeit im Warschauer Bibliothekswesen kreiert. Im Gegensatz zu Abb und Johanssen betrachtete sich Witte zwar generell als Gegner des Nationalsozialismus und trug seine Abneigung gegenüber der NSDAP fast öffentlich zur Schau. Andererseits legte er jedoch ein recht ambivalentes Verhalten an den Tag, da sein Verhältnis zur polnischen Untergrundbewegung von groben Böswilligkeiten und Gehässigkeiten geprägt war. Diesen geradezu manischen Unwillen demonstrierte Witte auch nach dem Krieg. Als Wittes enger Vertrauter Julian Pulikowski, der Leiter der Musik-Abteilung der Warschauer Nationalbibliothek, in seiner Wohnung ausgeraubt wurde (und dabei u.a. seine Schuhe verlor) – der Diebstahl war höchstwahrscheinlich von professionellen Dieben begangen worden –, teilte Witte den Behörden des GG mit, dass der Überfall zweifellos politische Hintergründe gehabt habe: Dr. Pulikowski gilt in den Kreisen der sog. Polnischen Widerstandsbewegung als Verräter, weil er seine Dienstobliegenheiten, auch nach dem Oktober 1939 […] nach wie vor mit vorbildlichem Fleiße und größter Zuverlässigkeit verrichtet hat und noch verrichtet, während die sog. Polnische Widerstandsbewegung von dem in den Ämtern und Dienststellen tätigen ehemaligen polnischen Beamten und Angestellten bekanntlich zumindest passiven Widerstand […] anfordert.20
Pulikowski kam während des Warschauer Aufstandes beim Ausheben eines Panzergrabens im Stadtviertel Żoliborz durch eine deutsche Granate ums Leben. Obwohl Witte davon sicher nichts wusste, stellt er in seinen Memoiren 20
Biblioteki naukowe, S. 145.
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rückblickend einfach fest, dass Pulikowski „zu Beginn des Aufstands von Angehörigen der Widerstandsbewegung erschossen oder jedenfalls ermordet“21 worden sei. Diese schwere, haltlose Anschuldigung war völlig an den Haaren herbeigezogen. Derartige Boshaftigkeiten und Komplexe kennzeichneten Wittes Persönlichkeit, die von Kleinkariertheit, Sturheit und Prinzipienreiterei geprägt war. In den dokumentierten Erinnerungen der polnischen Bibliothekare taucht Witte sowohl als freundliche als auch unerträgliche Gestalt auf. Erstere Umgangsart erleichterte den Alltag der ihm unterstellten Bibliothekare erheblich. Denn Witte stellte zahlreiche amtliche Bescheinigungen über die Tätigkeit in der Staatsbibliothek und familiäre Verbindungen zu Bibliotheksmitarbeitern aus, die die Betreffenden vor der Deportation zur Zwangsarbeit im Reichsgebiet bewahrten. Er unterzeichnete ca. 1000 einzelne Bescheinigungen. Ferner gestattete er eigentlich allen die Benutzung der ihm unterstellten Bestände, obwohl dies offiziell nur Deutschen oder den in den deutschen Institutionen beschäftigten Polen erlaubt war. Hartnäckig, aber letztlich erfolglos unternahm Witte auch Anstrengungen zur Erhöhung der Niedrigen Löhne der Bibliotheksmitarbeiter. Nichtsdestotrotz belasten Witte zwei große Fehlentscheidungen. Zum einen nahm er eine völlig unnötige und letztlich sinnlose Umlagerung der Bestände der Staatsbibliothek Warschau vor. Die Idee dazu war zwar nicht von ihm selbst, sondern von Pulikowski ausgegangen, aber Witte nahm diesen Vorschlag bereitwillig auf und drängte auf seine Realisierung. Die Idee beruhte darauf, die Nationalbibliothek in eine polonistische Archivbibliothek umzugestalten, die ausschließlich ältere polnische Publikationen beherbergte, während die Aufgabe der Universitätsbibliothek im laufenden Erwerb neuer Buchtitel bestehen sollte. Daher ließ Witte sämtliche Sondersammlungen, also Handschriften, Alte Drucke, Graphiken und Musikalien in die KrasińskiBibliothek verlegen. Die konzentrierte Anhäufung dieser Bestände an einem Ort geschah recht unüberlegt, da diese dadurch leicht von einer Bombe oder einem Brand zerstört werden konnte, was nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Oktober 1944 auch geschah. Witte wurde von allen Seiten vor diesem Umzug gewarnt, der erst durch seinen Vorgesetzten Gustav Abb abgebrochen wurde. Dieser war über dieses Vorhaben anfangs nicht in Kenntnis gesetzt worden. Witte verfälschte die für ihn unangenehmen Fakten in seinen Memoiren auf jede mögliche Art. Bezüglich der Umlagerung der Sondersammlungen in die Krasiński-Bibliothek behauptete er einfach, dass diese aufgrund polnischer Entwürfe aus der Zwischenkriegszeit durchgeführt worden sei. Dabei verwies 21
Ebd., S. 338.
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er auf einen 1931 verfassten Aufsatz von Józef Grycz, eines prominenten polnischen Bibliothekars der Nationalbibliothek. Wittes Behauptung ist schlicht unwahr. In besagtem Artikel regt Grycz nämlich lediglich an, die polnischen Bibliotheken gemäß dem Charakter ihrer jeweiligen Bestände in unterschiedliche Spezialgebiete zu unterteilen. Grycz schlägt aber keineswegs vor, einzelne Bestände unter den Bibliotheken auszutauschen oder alle Sondersammlungen der Warschauer Bibliotheken an einem einzigen Ort zu konzentrieren. In seinen 1957 erschienenen Memoiren bezeichnet Witte die gesamte Operation der Umlagerung der Bestände als „Einfall der polnischen Kollegen“, den er lediglich in die Tat umgesetzt habe. Da Grycz bereits 1954 verstorben war, konnte er sich natürlich posthum gegen Wittes freche Behauptung nicht mehr zur Wehr setzen, dass er in seinem Aufsatz von 1931 die große Umlagerung der Sondersammlungen angeblich selbst angeregt habe. Diese wohl wertvollsten Bibliotheksbestände fielen nach dem Warschauer Aufstand bei einem Bombenangriff der Wehrmacht den Flammen zum Opfer. Zeitgenössische Quellen zeugen jedoch vom hartnäckigen, aber aussichtslosen Kampf, den Grycz bis zuletzt um den Verbleib dieser Bestände in ihren Herkunftsbibliotheken mit Witte gefochten hat. Grycz verfasste nämlich ausführliche Denkschriften, die sich auch auf die in der deutschen bibliothekswissenschaftlichen Literatur (u.a. Schriften von Paul Ladewig) vorgebrachten Argumente gegen derartige Umlagerungsaktionen stützen. Ein Motiv Wittes in dieser Frage lässt sich jedoch nicht ignorieren. Er behauptete nämlich, dass die großangelegten Umlagerungen von Büchern dazu gedient hätten, den Machthabern Warschaus zu zeigen, dass die Staatsbibliothek enorme Instandhaltungsarbeiten durchführe und daher auch eine beträchtliche Anzahl von Mitarbeitern (120 Personen) beschäftigt werden müsse. Dies erfordere ein entsprechendes Budget, das seitens der Stadt zu gewährleisten sei. Tatsächlich entließ Witte bis zum Ende der Besatzungszeit keinen einzigen Mitarbeiter, wobei die bereitgestellten Haushaltsmittel den Fortbestand der Bibliothek sicherten und sogar noch Spielraum für umfangreichere Neuerwerbungen boten. Witte lügt jedoch, wenn er in seinen Memoiren behauptet, dass die unterirdischen Räumlichkeiten des Bibliotheksgebäudes während des Warschauer Aufstandes von Bomben zerstört worden seien. Zudem sei das gesamte Gebäude nur deshalb bombardiert worden, weil man damals auf dem Dach ein Maschinengewehr der Aufstandsbewegung aufgestellt habe.22 Seine 22
Zalewski, Wojciech: Conversation with Dr Wilhelm Witte, in: Kühn-Ludewig, Maria (Hg.): Bibliotheksreise nach Warschau und Krakau. Aktuelle Ansichten und Gespräche zur deutsch-polnischen Geschichte, Nümbrecht 2003, S. 111.
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Schuld an der Zerstörung der Sondersammlungen in der Krasiński-Bibliothek hat Witte zeitlebens bestritten. Er erzählte über die Verluste der Warschauer Bibliotheken überhaupt auf eine Weise, die völlig im Unklaren ließ, wer diese Verluste zu welchem Zeitpunkt letztlich verursacht hatte. Witte vermied sogar die Benutzung von Begriffen wie „deutsche Truppen“ oder „Brandkommando“. Die Öffentliche Bibliothek der Hauptstadt Warschau z.B. wurde in den letzten Tagen der NS-Besatzung im Januar 1945 in Brand gelegt. Laut Witte hingegen wurde diese Bibliothek „im Aufstand 1944 oder bei dem ständigen Bombardement zwischen den russischen und deutschen Truppen nach dem Aufstand völlig vernichtet“23. Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Die in den Kellern der Krasiński-Bibliothek aufbewahrten Sonderbestände gingen im Oktober 1944 nach einer gezielten Brandstiftung durch das „Brandkommando“ in Flammen auf. Dies erlebte Witte als einer der ersten Augenzeugen unmittelbar nach dem Erlöschen des Feuers. Die damalige Situation beschrieb er später wie folgt: „Ich watete im Keller knietief durch die Asche von Büchern und Handschriften“24. Er erwähnte dabei jedoch mit keinem Wort, dass er durch verbrannte Bücher stapfte, die er selbst an diesen Ort hatte verlegen lassen. Aber noch viel schlimmer war aus Sicht der polnischen Bibliotheksmitarbeiter, dass Witte nicht genügend Energie aufbrachte, um diese Bestände unmittelbar vor dem Aufstand aus Warschau fortzubringen, obwohl Abb ihm dies nachdrücklich aufgetragen hatte. Witte hingegen äußerte nach dem Krieg seine Zufriedenheit darüber, dass die umgelagerten Sondersammlungen an dem von ihm bestimmten Aufbewahrungsort geblieben waren und er diese dort bis zuletzt unberührt gelassen hatte. Die damaligen polnischen Bibliothekare bewerteten Witte zumeist sehr negativ. Tadeusz Makowiecki z.B. beschrieb ihn rückblickend wie folgt: „Dieser Mensch war weder gut noch klug noch dumm – und was wohl am schwierigsten ist – weder ehrlich noch unehrlich – typisches Mittelmaß, sogar was seine Körpergröße anbetraf. Nach einem Jahr stiller Tätigkeit begann er mit absurden Arbeiten, die möglichst großangelegt und möglichst viele Leute in Anspruch nehmen mussten“25. Laut Makowiecki hatte Witte diese Arbeiten nur initiiert, um selbst nicht wie befürchtet zum Wehrdienst herangezogen zu werden. Aber nicht alle polnischen Mitarbeiter unterzogen Witte einer derart strengen und prinzipiellen Bewertung. Wanda Sokołowska z.B., die während 23 Witte, Wilhelm: Erinnerungen, in: Biblioteki naukowe, S. 335. 24 Ebd., S. 336. 25 Makowiecki, Tadeusz: Wspomnienia Tadeusza Makowieckiego [Erinnerungen von Tadeusz Makowiecki], in: Biblioteki naukowe, S. 422.
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der gesamten Besatzungszeit in der Universitätsbibliothek tätig war, konnte ihn aus der Nähe beobachten und sah dabei seine Sorge um das Wohl der Bibliothekare. Sie bemerkte, wie Witte fiktive Arbeitszeugnisse ausstellte und die gemeinsame Front seiner Untergebenen gegen die deutschen Polizeibehörden aufrechterhielt. Diese Wahrnehmung ihres Vorgesetzten spiegelt sich auch in Sokołowskas nach dem Krieg verfassten Erinnerungen wider: „Im Lichte dieser Fakten, also der Bemühungen um verbesserte Daseinsbedingungen der Mitarbeiter, verblassen die in seinen Verordnungen und Rundschreiben enthaltenen Drohungen.“26
Fazit
Die vorab angestellten Überlegungen lassen sich wie folgt zusammenfassen. Das Gesamturteil über die führende Beteiligung der deutschen Bibliothekare an der Tätigkeit der polnischen wissenschaftlichen Bibliotheken in den Jahren 1939–1945 bleibt weiterhin facettenreich. Diese Bibliothekare wurden als Besatzer in die okkupierten Gebiete Polens sowie in alle anderen vom Dritten Reich eroberten Länder entsandt und dort natürlich auch als solche wahrgenommen. Die polnischen Bibliothekare erkannten trotz allem auch die positiven Seiten des Wirkens ihrer deutschen Vorgesetzten sowie deren Verdienste um die Aufrechterhaltung des Status quo der wissenschaftlichen Bestände bis Kriegsende. Die Staatsbibliotheken Polens bewahrten hinter ihren Mauern über 9 Mio. Bücher auf. Während der gesamten Besatzungszeit waren dort etwa 300 polnische Bibliotheksmitarbeiter beschäftigt, die unter minimaler Aufsicht ihrer deutschen Vorgesetzten verschiedenste Tätigkeiten verrichteten. Diese Konstellation schuf auch geeigneten Spielraum für konspirative Aktivitäten. Die leitenden deutschen Bibliothekare verhielten sich gegenüber ihren polnischen Mitarbeitern insgesamt korrekt, sogar Abb bekundete diesen gegenüber gewisse persönliche Sympathien. Den aus dem Dritten Reich delegierten neuen Dienstherren gelang es, beträchtliche Haushaltsmittel für die Erhaltung der Bibliotheksbestände im GG zu gewährleisten. Die deutschen Bibliothekare waren zwar Abgesandte des Dritten Reiches – also des Aggressor-Staates – auf polnischem Boden. Dennoch versuchten sie auch dort, ihr Berufsethos als Bücherbeschützer weiterhin zu wahren, was ihnen in hohem Maße auch gelang. 26 Sokołowska, Wanda: Dzieje Biblioteki Uniwersyteckiej w Warszawie, 1939–1945 [Die Geschichte der Universitäts Bibliothek in Warschau, 1939–1945], Warszawa 1959, S. 83.
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Meine vorab skizzierten Überlegungen widersprechen stellenweise den gängigen Narrativen der jahrzehntelang vorherrschenden polnischen Historiographie, die jedoch in letzter Zeit zum Glück teilweise korrigiert wurden. Das altbekannte Denkmuster, jeden Deutschen automatisch als „Feind“ zu betrachten, ihn ausschließlich mit negativen Konnotationen zu belegen und dabei die ganze Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen außer Acht zu lassen, darf inzwischen wohl als veraltet gelten. Vielmehr zeigt sich, dass Menschen sogar unter sehr schwierigen Begleitumständen fähig sind, sich anständig zu verhalten. Ihr konkretes Vorgehen weist dabei mehr oder weniger starke Nuancen auf und lässt sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Muster pressen. Bei der Erstellung dieses Referats habe ich jedenfalls mit Freude bemerkt, dass die deutschen Bibliothekare während der NS-Okkupation in Polen die Berufskriterien ihres Stands größtenteils weiterhin erfüllten und sich als Menschen gegenüber ihren polnischen Mitarbeitern insgesamt anständig verhielten. Literaturverzeichnis Hamann, Olaf: Deutsche Bibliothekare in den von Deutschland während des Zweiten Weltkrieges okkupierten Gebieten Osteuropas, in: Die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken. Recherchestand. Probleme. Lösungswege. Marburg 2006, S. 61–90. Johanssen, Ulrich: Die Hauptverwaltung der Bibliotheken des Generalgouvernements Polen, in: Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939–1945. Wybór dokumentów źródłowych [Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement 1939–1945. Ausgewählte Quellendokumente], ausgew. u. bearb. v. Andrzej Mężyński u. Mitarb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2003, S. 356–367. Makowiecki, Tadeusz: W obronie zbiorów bibliotecznych. Wspomnienie z 1944 r. [Die Verteidigung der Bibliotheksbestände. Eine Erinnerung aus dem Jahr 1944] in: Lorentz, Stanisław (Hg.): Walka o dobra kultury. Warszawa 1939–1945 [Der Kampf um die Kulturgüter. Warschau 1939–1945]. Bd. 2, Warszawa 1970, S. 244–265. Ders.: Wspomnienia Tadeusza Makowieckiego [Erinnerungen von Tadeusz Makowiecki] in: Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939–1945. Wybór dokumentów źródłowych [Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement 1939–1945. Ausgewählte Quellendokumente], ausgew. u. bearb. v. Andrzej Mężyński u. Mitarb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2003, S. 419–424. Matwijów, Maciej: Zakład Narodowy imienia Ossolińskich w latach 1939–1946 [Die Ossoliński-Nationalbibliothek 1939–1946], Wrocław 2003. Mężyński, Andrzej: Kommando Paulsen. Październik – grudzień 1939 r. [Kommando Paulsen. Oktober bis Dezember 1939], Warszawa 1994.
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Ders.: Kommando Paulsen. Oktober bis Dezember 1939, Köln 2000. Ders.: Biblioteka im. Hieronima Łopacińskiego w trudnych dniach okupacji [Die Hieronim-Łopaciński-Bibliothek in den schweren Tagen der Besatzungszeit], in: Bibliotekarz Lubelski, Jg. XLIII, S. 41–51. Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939–1945. Wybór dokumentów źródłowych [Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement 1939–1945. Ausgewählte Quellendokumente], ausgew. u. bearb. v. Andrzej Mężyński u. Mitarb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2003. Sokołowska, Wanda: Dzieje Biblioteki Uniwersyteckiej w Warszawie, 1939–1945 [Die Geschichte der Universitäts Bibliothek in Warschau, 1939–1945], Warszawa 1959. Witte, Wilhelm: Erinnerungen, in: Biblioteki naukowe w Generalnym Gubernatorstwie w latach 1939–1945. Wybór dokumentów źródłowych [Wissenschaftliche Bibliotheken im Generalgouvernement 1939–1945. Ausgewählte Quellendokumente], ausgew. u. bearb. v. Andrzej Mężyński u. Mitarb. v. Hanna Łaskarzewska, Warszawa 2003, S. 329–356. Zalewski, Wojciech: Conversation with Dr. Wilhelm Witte, in: Kühn-Ludewig, Maria (Hg.): Bibliotheksreise nach Warschau und Krakau. Aktuelle Ansichten und Gespräche zur deutsch-polnischen Geschichte, Nümbrecht 2002.
Sammeln, um zu zerstören
Die Vernichtung der deutschen und polnischen jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken Nawojka Cieślińska-Lobkowicz Abstract Die öffentlichen wissenschaftlichen jüdischen Bibliotheken entstanden im Gefolge der jüdischen Aufklärung und der daraus hervorgegangenen Judaistik. Sie bildeten die Grundlage dieses neuen Wissensgebiets, das von jüdischen Gelehrten entwickelt wurde. Der Artikel stellt die Geschichte dreier deutschen Bibliotheken dieser Art (eine in Breslau und zwei in Berlin) und vier in Polen (eine in Warschau, zwei in Vilnius und eine in Lublin) zusammen. Nachdem sie von ihrer Gründung bis zur Machtergreifung Hitlers (1933) und – entsprechend – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs (1939) vorgestellt wurden, wird ihr Schicksal während der Jahre der Naziherrschaft beschrieben: geschlossen, beschlagnahmt, zerstört, geplündert von den nationalsozialistischen Ideologen und Institutionen ausgebeutet – alle sieben haben aufgehört zu existieren. Es folgt eine Beschreibung der schwierigen Nachkriegsverteilung der aus diesen Bibliotheken erhaltenen Bände. Der Artikel schließt mit Überlegungen zur Erforschung der Herkunft der geretteten Bücher, die in verschiedenen Sammlungen mehrerer Länder verstreut sind, um die jüdischen Bibliotheken, aus denen sie stammen, vor dem Vergessen zu bewahren.
Juden nennt man oft das Volk des Buches. Seit Jahrhunderten dreht sich ihr Leben um die Tora und den Talmud. Im Talmud gilt nicht nur das Sammeln von Büchern, sondern auch deren Verleih als Wohltätigkeit.1 Die Spuren der ersten jüdischen Bibliothek, die im Wadi Qumran entdeckt wurden, stammen aus der Zeit des Zweiten Tempels von Jerusalem (539 v. Chr.–70 n. Chr.). Im Mittelalter und in späteren Jahrhunderten gab es berühmte Büchersammlungen großer jüdischen Gelehrter und Rabbiner. Auch in Synagogen, Beit ha midrash, Cheders und Yeshivas, befand sich nicht selten eine Fülle von religiöser und rabbinischer Literatur. Sie diente dem männlichen Teil der jüdischen Diaspora, der sie respektvoll, aber zweckorientiert behandelte. Ein Ausdruck davon ist der Ritus der Geniza, den es in keiner anderen Kultur gibt, d.h. eine Art Bestattung heiliger Bücher, die u.a. durch intensiven Gebrauch zerstört wurden. Letzteres 1 Kirchhoff, Markus: Häuser des Buches. Bilder Jüdischer Bibliotheken, Leipzig 2002, S. 13.
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_006
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ging oft mit einer mangelnden Sorge um den Erhaltungszustand selbst der ältesten Handschriften oder alten Drucke einher, was jüdische Historiker und Bibliophile im 20. Jahrhundert beklagten, darunter Szymon Dubnow (1860– 1941) und Majer Bałaban (1877–1942). Jüdische wissenschaftliche Bibliotheken sind jedoch ein Phänomen der Moderne, ebenso wie die späteren öffentlichen Bibliotheken der jüdischen Gemeinden und verschiedener Organisationen. Sie entstanden im deutschen Kulturkreis im Gefolge der Haskala (d.h. der jüdischen Aufklärung) und der aus ihr hervorgegangenen Wissenschaft des Judentums. Sie waren die Grundlage dieses neuen Wissensgebiets, das von jüdischen Gelehrten entwickelt wurde.
Deutschland
Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars, Breslau Die erste Institution, in der eine solche Forschung durchgeführt wurde, war das „Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel’scher Stiftung zu Breslau“ (im Folgenden JTS oder Breslauer Rabbinerseminar). JTS wurde im Jahr 1854 eröffnet – nach fast zwanzig Jahren vergeblicher Versuche, die von Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) initiiert worden waren, einen Lehrstuhl für jüdische Theologie an der Universität Breslau einzurichten. Das programmatische Ziel des Seminars war, die Tradition des jüdischen Denkens mit den Kategorien der modernen Geisteswissenschaften in Einklang zu bringen und die Studierenden in diesem Sinne auszubilden. Es wurde Freiheit der Forschung postuliert, aber „auf der Grundlage eines positiven und historischen Judentums“.2 JTS schuf ein Modell für die höhere rabbinische Ausbildung und wurde zu einem Ausstrahlungszentrum der modernen Orthodoxie in der jüdischen Diaspora. Bis zur Schließung im Jahr 1938 hatten dort mehr als 700 Studenten studiert, oft parallel mit einem Universitätsstudium; etwa 250 von ihnen hatten einen rabbinischen Abschluss erworben. Zu seinen Absolventen gehörten viele bekannte Gelehrte und Rabbiner. Während seines gesamten Bestehens gab das JTS die „Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ heraus, in der die Ergebnisse der akademischen Forschung vorgestellt
2 Pessen, Eugen: Jüdisch-Theologisches Seminar, in: Herlitz, Georg (Hg.): Jüdisches Lexikon: ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. 3, Berlin 1929, S. 466.
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wurden und die einen außerordentlichen Ruf genoss. Außerdem veröffentlichte JTS jedes Jahr einen umfassenden Bericht über seine Aktivitäten.3 Die Bibliothek des Breslauer Rabbinerseminars hat wertvolle Denkmäler der jüdischen Literatur sowie zeitgenössische Literatur zum Judentum und zur jüdischen Geschichte gesammelt. Ihr Grundstock bildete die berühmte Sammlung des Triester Kaufmanns, Gelehrtes, Dichters und Bibliophilen Leon Vita Saraval (1771–1851). Sie enthielt 63 hebräische und sechs nicht hebräische Handschriften, von denen die frühesten im 13. Jahrhundert entstanden sind und aus verschiedensten Teilen Europas, des Orients und Nordafrikas stammten. Sie gehörten allen drei jüdischen Traditionen, der sephardischen, der italienischen und der aschkenasischen, an und verwendeten neben zahlreichen illuminierten Miniaturen und Ornamenten verschiedene Stile und Typen der hebräischen Schrift. Nicht weniger wertvoll waren 48 Inkunabeln, besonders schöne aus Italien, Spanien und Portugal. Dazu kamen noch 1373 hebräische und nichthebräische Altdrucke. Die Saraval Sammlung wurde 1853 von dem Bibliografen und Orientalisten Moritz Steinschneider (1816–1907) katalogisiert und paar Monate vor der Eröffnung des JTS von der Fraenckel-Stiftung erworben.4 Der „spiritus movens“ dieses Vorgangs war der Historiker Heinrich Graetz (1817–1891), einer der bekanntesten Dozenten des Breslauer Seminars, wo er 37 Jahre lang bis zu seinem Tod tätig war. Graetz, der auch Professor an der Breslauer Universität war, kümmerte sich um den professionellen Betrieb der JTS-Bibliothek und ihre Entwicklung. Seit seiner Gründung verfügte das Breslauer Seminar über ein beeindruckendes vierstöckiges Gebäude mit einem Lesesaal und Räumen, die für Bibliothekszwecke eingerichtet wurden.5 Dank der vorgesehenen Mittel für den Ankauf wissenschaftlicher Literatur sowie zahlreicher Schenkungen jüdischer Gelehrten und Bibliophilen zählte die Büchersammlung des Breslauer Seminars Ende der 1930er Jahre mehr als 100 hebräische Handschriften, 50 Inkunabeln und etwa 30.000 (nach anderen Quellen 40.000) Bände. Die wachsenden Bestände der 3 Digitalisierte JTS-Berichte auf der Website Compact Memory der Frankfurter Universitätsbibliothek, siehe Bericht des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung (23.01.2023). 4 Zuckermann, Benedict: Catalog der Bibliothek des Breslauer jüdisch-theologischen Seminars von 190 seltenen hebraeischen Handschriften und 263 verschiedenen Ausgaben der Bibel und ihrer Theile. Zum Gebrauch für Theologen, Orientalisten und Antiquare, Breslau 1876, S. I. 5 Das nicht mehr existierende JTS-Gebäude in der Wallstraße 18 (heute ul.Włodkowica) befand sich in der Nähe der Breslauer Gemeinde und der Synagoge Zum Weißen Storch. Das Gebäude wurde in den 1950er Jahren abgerissen.
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Bibliothek, einschließlich ihrer wertvollsten Sammlungen, wurden jährlich in den JTS-Berichten festgehalten. Dies wird auch durch die Dokumente des teilweise geretteten Archivs des Breslauer Seminars bestätigt, das im „JüdischHistorischen Institut“, kurz ŻIH (Żydowski Instytut Historyczny) in Warschau aufbewahrt wird. Dazu gehört auch ein Katalog hebräischer Handschriften, der von Bernard Weinryb (1900–1982) einige Jahre vor dem Krieg, als er als Bibliothekar am Seminar tätig war, zusammengestellt und 1936 zusammen mit David Loewinger als Typoskript veröffentlicht wurde. Seine zweite von denselben Autoren wissenschaftlich überarbeite Version wurde 1965 herausgegeben.
Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Berlin Im Jahr 1872, fast zwanzig Jahre nach dem Breslauer Rabbinerseminar, wurde die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ (kurz HWJ) gegründet.6 Einer ihrer Gründer und ersten Dozenten war Abraham Geiger, der seit 1870 amtierender Rabbiner von Berlin war. Wie schon in Breslau scheiterten auch in der preußischen Hauptstadt die langjährigen Bemühungen jüdischer Intellektueller um die Einrichtung eines judaistischen Lehrstuhls an der Berliner Universität. Auch in den folgenden Jahren wurde der HWJ zweimal der Hochschulstatus aberkannt. Das erste Mal geschah es in den Jahren 1883–1922, als sie auf die „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ herabgestuft wurde. Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurde sie ein zweites Mal degradiert. Grundlage der Tätigkeit der Berliner HWJ war die in ihrer Satzung verankerte unparteiische, an keine religiöse Ausrichtung gebundene Forschung und Lehre, die das gesamte Spektrum der damaligen Judaistik abdeckte. Das Motto der als Stiftung gegründeten Hochschule war ihre Unabhängigkeit. Dies […] erscheint als eine der wesentlichen Grundlagen für das Gedeihen einer solchen Anstalt, unabhängig von den Staats- und Gemeinde-Behörden, damit auch unabhängig von jeglicher Parteibestrebung, unabhängig von den gespaltenen und vorübergehenden Meinungen, kann sie nur in dem reinen Streben nach wahrer Erkenntnis wahrhaft blühen und für den Fortbestand und Fortentwicklung des Judentums edle Früchte tragen.7
6 1873 wurde in Berlin das Rabbinerseminar für das Orthodoxe Judentum gegründet, 1877 in Budapest die Landesrabbinerschule, 1893 in Wien die Israelitisch-Theologische Lehranstalt. Das Breslauer JTS war ihr Vorbild und ihre Inspiration, ebenso wie für das 1886 in New York gegründete Jewish-Theological Seminary. 7 HWJ-Gründungsaufruf von 1869, Zitat nach Kaufmann, Irene: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872–1942), Berlin 2006, S. 14.
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Unter dieser Prämisse könnte kein amtierender Rabbiner Mitglied des HWJKuratoriums sein und die Lehrstühle sollten gleichzeitig mit Vertretern der konservativen und der liberalen Optionen besetzt werden. Von den Dozenten war wissenschaftliche Kompetenz gefordert; ihre religiösen Ansichten waren Privatsache. Die Studierenden konnten jüdisch oder christlich, männlich oder weiblich sein. Von ihnen wurden keine Gebühren erhoben. Die Programmunabhängigkeit der HWJ bedeutete jedoch eine dauerhafte finanzielle Unsicherheit. Die Zinsen des Gründungskapitals reichten nicht aus. Infolgedessen musste das Kuratorium ständig zusätzliche Mittel von Gönnern und Spendern einwerben, sowohl für die Gehälter der Lehrkräfte als auch für die Stipendienunterstützung der Studenten und ebenso für die Bibliothek, die ein wichtiger Pfeiler der Hochschule war. Trotz Haushaltsschwierigkeiten zählte sie dank Spenden und Nachlässen 21.000 Bände und 115 historische hebräische Handschriften, als die HWJ 1907 in ihre neuen Räumlichkeiten in der Artilleriestraße umzog. Fünfzehn Jahre später, d.h. zum fünfzigjährigen Bestehen, waren es bereits über 35.000 Bände, 1936 sogar fast 60.000.8 Für Franz Kafka, der Ende 1923 und Anfang 1924 Student der Präparandie der HWJ war, stellte sie einen „Friedensort in dem wilden Berlin und in den wilden Gegenden des Innern“ dar.9 „Ein ganzes Haus, schöne Hörsäle, große Bibliothek, Frieden, gut geheizt, wenig Schüler und alles umsonst“.10 In den Jahren der Weimarer Republik war die HWJ das Zentrum des jüdischen Geisteslebens in Berlin. Die Gesamtzahl der Studenten im Jahr 1933 wird auf 600 geschätzt, ohne die freien Studierenden zu zählen.11 Allein im Jahr 1932, in dem die Hochschule ihr sechzigjähriges Bestehen feierte, zählte sie 155 reguläre Studierende, darunter 27 Frauen, sowie zahlreiche freie Studierende, obwohl die akademische Ausbildung von Rabbinern und Religionslehrern – anfangs nur eines ihrer Ziele – nach und nach zu ihrer Hauptaufgabe wurde.12 Der liberale Charakter der HWJ zeigt sich im Fall ihrer Schülerin Regina Jonas (1902–1944), die nach ihrem Diplom als Religionslehrerin 1930 beschloss, eine 8 9
Kirchhoff, Häuser, S. 88. Franz Kafka, Postkarte an Robert Klopstock, Berlin-Steglitz, 19.12.1923, in: Kaufmann, Hochschule, Umschlag S. 2. Die Präpanderie, d.h. der Vorbereitungskurs, diente im ersten Jahrzehnt des Bestehens der HWJ dazu, die mangelnde Allgemeinbildung und die unzureichenden Deutsch-, Latein- und Griechisch-Kenntnisse der Studenten aus Osteuropa (Ostjuden) zu kompensieren. In den 1920er Jahren wurde die Präpanderie wiedereingeführt und ihr Umfang radikal auf das Studium des Hebräischen und der Grundlagen des Judentums geändert, wobei die osteuropäischen Juden davon ausgenommen wurden. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 19. 12 Ronen, Soshana: Die Hochschule für Wissenschaft des Judentums 1872–1942 https://www. hagalil.com/bet-debora/journal/ronen.htm (22.05.2022).
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Smicha, d.h. Ordination als Rabbinerin zu erhalten und zu diesem Zweck eine theoretische Dissertation einreichte, die angenommen wurde.13 In der letzten Phase des Bestehens der HWJ, von der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 bis 1940, immatrikulierten sich 130 weitere Studenten, aber nach und nach gingen sowohl sie als auch die Dozenten ins Exil (solange dies noch möglich war) und die Institution verlor an Bedeutung. Ihre Tätigkeit wurde kurzzeitig 1935 um offene Vorträge und wissenschaftliche Diskussionen von Gelehrten erweitert, die als „Nichtarier“ ihren Arbeitsplatz an Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen im Dritten Reich verloren hatten. Nach den November-Pogromen 1938 war die Hochschule gezwungen, ihre Aktivitäten und Bestände drastisch zu reduzieren. Sie wurde aber damals noch nicht geschlossen im Gegensatz zu dem ein Jahr nach der HWJ gegründeten Rabbinerseminar für das Orthodoxe Judentum in Berlin (in den 1930er Jahren mit einem Bibliotheksbestand von 15.000 Bänden). Beide jüdischen Institute befanden sich im 20. Jahrhundert in der Artilleriestraße in der Nähe der monumentalen Neuen Synagoge und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin in der Oranienburger Straße.14 Bibliothek der Jüdischen Gemeinde, Berlin In der Oranienburger Straße befand sich auch die meistbesuchte Bibliothek der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die 1902 eröffnet wurde. Sie stand jüdischen und nichtjüdischen Lesern zur Verfügung und war eine Ergänzung zu den üblichen öffentlichen Bibliotheken Berlins, die den Großteil des Lesebedarfs der deutschsprachigen Juden abdeckten. Sie verband nach dem Vorbild der New York Public Library ein wissenschaftliches Profil mit einem populären. Im Jahr 1905 wurde Rabbiner Moritz Stern (1864–1939) zu ihrem Bibliothekar ernannt. Die aus der kleinen Büchersammlung des DeutschIsraelitischen Gemeindebundes hervorgegangene Bibliothek wuchs unter Sterns Leitung innerhalb eines Vierteljahrhunderts auf 70.000 Bände an und wurde in den 1930er Jahren zu einer der größten jüdischen Bibliotheken Europas.15 Allmählich erweiterte sich das Profil ihrer Sammlungen, insbesondere der populären Publikationen, angesichts der wachsenden Zahl unter ihren 13
Die Ordination von Jonas fand aufgrund des Todes ihres Mentors Eduard Baneth (1896– 1930) nicht statt. Die HWJ setzte dieses Verfahren nicht fort. Jonas wurde 1935 als erste Rabbinerin ordiniert. Sie starb in Auschwitz. Eine zweite Frau wurde erst 1972 in den USA zur Rabbinerin geweiht. 14 Artilleriestraße, heute Tucholsky Straße. Die HWJ befand sich im Gebäude Nr. 14, das Rabbinerseminar im Gebäude Nr. 31. 15 Verschiedene Quellen geben unterschiedliche Anzahl der Bände in der Bibliothek an: von 48.000 Bänden im Jahr 1927 bis zu 100.000 im Jahr 1938.
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Lesern osteuropäischer Juden (Ostjuden), die Jiddisch sowie Polnisch und Russisch besser als Deutsch sprachen. Die wachsende Nachfrage veranlasste Stern, neun Zweigstellen der Bibliothek in verschiedenen Teilen Berlins einzurichten. Außerdem bereicherte er 1917 ihren Hauptsitz mit einer Kunstsammlung. Der spätere große Kenner der jüdischen Mystik, der Philosoph Gershom Scholem (1897–1982), erinnerte, dass an diese „sehr bedeutende und ausgezeichnet sortierte“ Bibliothek „so halbwüchsige Bursche wie ich sich einschreiben konnten, wenn sie nur einen Zettel von Vater oder Mutter brachten […] Jahrelang habe ich zu den eifrigsten Leser dieser Bibliothek gehört, der ich viel von meiner jüdischen Bildung verdanke“.16
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Unter den Studierenden der jüdischen wissenschaftlichen Einrichtungen in Breslau und in Berlin waren viele Ostjuden.17 Ihre Zahl war jedoch winzig im Vergleich zu den drei Millionen Juden, die innerhalb der Grenzen des ehemaligen polnisch-litauischen Commonwealth (mit der Ausnahme der preußischen Teilung) und ab 1918 im unabhängigen polnischen Staat lebten. In diesen Gebieten verlief die Entwicklung der modernen jüdischen Bibliotheken weitgehend anders als in Deutschland. Einer der Gründe dafür war, dass die überwältigende Mehrheit der einheimischen Juden Jiddisch sprach und der religiösen Orthodoxie angehörte. Ab der Wende zum 20. Jahrhundert wurden massenhaft Volksbibliotheken eingerichtet – insbesondere in der russischen Teilung Polens. Dies war auf das wachsende Nationalbewusstsein innerhalb der jüdischen Gemeinschaft zurückzuführen, das sich sowohl in der Blüte der jiddischen Literatur als auch in der Entstehung und Attraktivität ideologischer und gesellschaftspolitischer Strömungen wie Zionismus, Jiddischismus und Sozialismus des „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds“ (kurz Bund) ausdrückte. Organisationen, die mit diesen Bewegungen in Verbindung standen, betrieben in vielen polnischen Städten und Städtchen (Schtetls) kleine Bibliotheken oder sogar deren Netzwerke, die Scharen der Leser und Unterstützer zusammenbrachten. Nach Angaben des Ministeriums für Religionsbekenntnisse und Volksaufklärung (Ministerstwo Wyznań i Oświecenia Publicznego) gab es 1930 im 16 17
Scholem, Gershom: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt a.M. 1997, S. 40. In der Weimarer Republik waren etwa 25 Prozent der 170.000 bis 200.000 jüdischen Einwohner Berlins osteuropäische Juden.
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Land 748 jüdische Schulbibliotheken, d.h. Bibliotheken, deren Sammlung (schätzungsweise insgesamt über 860.000 Bände) hauptsächlich aus jiddischen und hebräischen Büchern bestand.18 Andererseits gab es nach jüdischen Schätzungen in der Zweiten Republik, wenn man nur Bibliotheken mit einem Bestand von mehr als tausend Bänden berücksichtigt, 251 jüdische Bibliotheken mit einem Gesamtbestand von 1.650.000 Bänden.19 Von dieser Zahl gab es nur drei große öffentliche Bibliotheken mit wissenschaftlichem Charakter: eine in Warschau und zwei in Wilna. Dies war auch ein Profil der Esra-Bibliothek (hebräisch: Hilfe) in Krakau, die etwa 6000 äußerst sorgfältig ausgewählte Bücher hatte. Sie war die erste säkulare judaistische Bibliothek auf polnischem Gebiet. Sie wurde 1899 mit Unterstützung der Krakauer jüdischen Gemeinde von einem Absolventen der Berliner Hochschule für Wissenschaft des Judentums, Rabbiner Abraham Ozjasz Thon (1870–1936), einem zionistischen Aktivisten und von 1919 bis zu seinem Tod Mitglied des Polnischen Sejm, gegründet.20 Straszun-Bibliothek, Wilna Vilnius, manchmal Litauisches Jerusalem genannt, kann als Juwel der jüdischen Bibliothekskultur bezeichnet werden. 1892 in der Nähe der Alten Synagoge eröffnet, war die Straszun-Bibliothek, die älteste öffentliche jüdische Bibliothek weltweit, von Anfang an das wichtigste Zentrum des jüdischen Geisteslebens in der Stadt. Die 7000 Bände umfassende mehrsprachige Büchersammlung ging gemäß dem letzten Willen ihres Gründers Mathias Straszun (1817–1885), eines Gelehrten, Polyglotten und Bibliophilen, in den Besitz der jüdischen Gemeinde über und wurde zur Grundlage der nach ihm benannten 18 Gaca-Dąbrowska, Zofia: Bibliotekarstwo II Rzeczypospolitej, Wrocław 1983, S. 183. Der Tabelle „Bildungsbibliotheken nach Sprache des Buchbestandes“ zufolge machten die jüdischen Bibliotheken 8,8 Prozent aller Bildungsbibliotheken in der Zweiten Republik aus. 19 Shavit, David: Jüdische Bibliotheken in den polnischen Ghettos der NS-Zeit, in: KühnLudewig, Maria/Dehmlow, Raimund (Hg.): Bücher und Bibliotheken in Ghettos und Lagern 1933–1945, Hannover 1991, S. 59. 20 Die im Gebäude der Krakauer jüdischen Gemeinde und der B’nei B’rith-Vereinigung gelagerte Esra-Bibliothek wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 von den Deutschen im Gebäude der Jagiellonen-Bibliothek deponiert und von der damaligen Staatsbibliothek Krakau übernommen. Sie wurden damals auf etwa 3900 Bände geschätzt. In den 1970er Jahren wurden dank der Bemühungen der Jüdischen Sozial- und Kulturgesellschaft (Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów) mehrere Hundert Bände aus Esra ins Museum in der Alten Synagoge in Krakau überführt. Rausz, Monika: Biblioteka i Czytelnia Ezra w Krakowie, in: Kosętka, Halina: Kraków Lwów. Książki-czasopisma-biblioteki, Bd. VII, Kraków 2005, S. 148–157.
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Bibliothek. Die ursprüngliche Sammlung spiegelte den intellektuellen Horizont des Besitzers, sein Interesse an Talmud und Kabala in der grossen Tradition des Wilaner Gaon (1720–1797) und wissenschaftlicher Literatur im Bereich Philosophie, Geschichte und Astronomie wider. 1927 wuchs der Bestand der Straszun-Bibliothek auf 19.000 Bände und Ende der 1930er Jahre auf 30.000 bis 35.000 Bände, davon 80 Prozent hebräische Bücher, hauptsächlich rabbinische, oft von außergewöhnlichem Wert. Ab 1928 übertrug die Wilnaer Universität an sie alle in Hebräisch und Jiddisch erhaltenen Pflichtexemplare. Die Bestände der Straszun-Bibliothek wurden nie katalogisiert. Ihr legendärer Bibliothekar Chajkel Łuński (1881–1942) galt als ihr „lebendiger Katalog“.21 Er muss ein phänomenales Gedächtnis und eine Orientierung besessen haben, mit denen er die über zweihundert Leser bediente, die in der Zwischenkriegszeit täglich den Lesesaal der Bibliothek besuchten. Unter ihnen war 1938/39 die spätere amerikanische Historikerin Lucy S. Dawidowicz (1915–1990), die sich Jahre später erinnerte: You could see the conflict between the worlds of tradition and modernity played out every day in a kind of dumb show in the reading room of the Strashun Library […] Because the library was rich in Talmudic and rabbinic works, it was used by pious Jews for advanced study. But the wealth of its holdings in other areas of Judaica also attracted secular scholars and university students. Consequently, on any day you could see, seated at the two long tables in the reading room, venerable long-bearded men, wearing hats, studying Talmudic texts, elbow to elbow with bareheaded young men and even young women, bare-armed sometimes on warm days, studying their texts.22
YIVO-Bibliothek, Wilna Einen anderen Charakter und ein ganz eigenes Profil hatte die Bibliothek des 1925 gegründeten „Yidisher Wisnszaftlecher Institut“ (Jüdisches Forschungsinstitut), kurz YIVO genannt. Die Idee, das YIVO einzurichten, war Ausdruck der Überzeugung seiner Gründer von der kommenden Zeit der modernen jiddischen Kultur, deren dynamische Entwicklung unter den osteuropäischen Juden sie zu einer Alternative zum traditionellen Judentum gemacht hatte. Die außerordentliche Blüte der jiddischen Literatur und des jiddischen Theaters, die Entwicklung Presse in dieser Sprache sowohl in Osteuropa als auch in der Diaspora der osteuropäischen Juden, vor allem in den USA, und das Aufkommen der jiddischen Bildung führten dazu, dass unter den jüdischen Intellektuellen ein Projekt zur Schaffung einer wissenschaftlichen Institution 21 Kirchhoff, Häuser, S. 50. 22 Dawidowicz, Lucy S.: From that Place and Time. A Memoir 1938–1947, New York/ London 1989, S. 119.
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entstand, die diese Prozesse begleiten sollte. Die Hauptaufgabe von YIVO bestand darin, die „Jiddischkeit“ umfassend zu erforschen und zu dokumentieren. Der Vorläufer und geistiger Förderer des Wilnaer Instituts war ein großer Erforscher der jüdischen Geschichte, Kultur und Sprache und gleichzeitig ein politischer Aktivist und Prediger der jüdischen Autonomie, Simon Dubnow, der bereits 1906 in St. Petersburg die „Jüdische Historisch-Ethnographische Gesellschaft“ gegründet hatte. Der Hauptsitz von YIVO befand sich mit seiner philologischen und ethnografischen Abteilung in Vilnius, einer Stadt, in der Jiddisch nicht nur die Sprache der Massen, sondern auch der jüdischen Elite war. Weitere Zweigstellen gab es in Warschau und Berlin sowie in New York, Paris und Buenos Aires. Eine grundlegende Rolle in der Forschung des Instituts spielten seine Sammlungen: Archiv, Museum und Bibliothek. Sie waren im Gebäude untergebracht, das mit Beiträgen der polnischen und internationalen jüdischen Gemeinschaft errichtet wurde. Es wurde 1935 während des YIVO-Weltkongresses unter der Schirmherrschaft von Albert Einstein, Sigmund Freund und Simon Dubnow eröffnet. Letzterer und Marc Chagall waren Ehrengäste des Kongresses. Lucy Dawidowicz, die 1938 für ein Stipendium aus New York an das Wilnaer YIVO gekommen war, beschrieb Jahre später ihren ersten Besuch im Institutsgebäude, wo sie von dessen Direktor Zelig Kalmanowicz (1881–1944) herumgeführt wurde: We entered an enormous vestibule […] Corridors of the vestibule led to the library stacks, archives, exhibit rooms and a public reading room. This was plainly an institutional building that prided itself on understatement. […] On the main floor, an impressive bibliographical center was housed in a high-ceilinged room with shelves all the way up to the top, layered with neat piles of folders as far as the eye could see. It contained over 220,000 refistered items. We took a look into the library stacks containing some 40,000 books, including rare books. The Press Archive, a separate room, held about 10,000 volumes of Jewish newspapers from many countries and in many languages. Other rooms contained massive archival collections of manuscripts and autographs, of leaflets, pamphlets, and Jewish communal records, some dating back to Vilna’s early Jewish history. […] Upstairs on the second floor were individual study rooms for the research fellows of the Aspirantur, a large conference room and the offices of the YIVO’s executives.23
Zweifellos war die Sammlung des YIVO in Wilna mit ihrem einzigartigen Profil und ihren Ressourcen, die mit keiner anderen vergleichbar waren, eine Art fortlaufendes Forschungslabor, das auf die Zukunft gerichtet und einen neuen
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Weg in der Judaistik einschlug. Bis zum Ausbruch des Krieges waren nur 20 Prozent der Sammlungen des Wilnaer Instituts katalogisiert worden.24 Judaistische Hauptbibliothek, Warschau Als die angesehenste jüdische wissenschaftliche Bibliothek im Vorkriegspolen galt jedoch die Judaistische Hauptbibliothek, GBJ (Główna Biblioteka Judaistyczna), bei der Großen Synagoge in Warschau. Ihr Ursprung geht auf das Jahr 1860 zurück und ist mit dem Warschauer Kreis der Maskilim, d.h. den Anhängern der jüdischen Aufklärung, verbunden. Sie wurde allerdings erst 1879 als Bibliothek der Großen Reformsynagoge in Tłomackie eröffnet, ein Jahr nach der Einweihung des beeindruckenden Sakralbaus. Prediger dieser Synagoge seit 1886 und seit 1904 auch ihr Ehrenbibliothekar war Samuel Poznański (1864–1921), der an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zum Rabbiner geweiht worden war. Angesichts der immer größer werdenden Büchersammlung bemühte sich Poznański um einen neuen Sitz der Bibliothek. Seine Initiative wurde von Mojżesz Schorr (1874–1941), einem Historiker, seit 1923 Rabbiner der Großen Synagoge und ab 1935 Mitglied des polnischen Senats, erfolgreich fortgesetzt. 1936 wurde in unmittelbarer Nähe der Großen Synagoge ein modernes, repräsentatives Gebäude der GBJ eröffnet, das über funktionale Lagerräume, einen Lesesaal mit hundert Plätzen und systematisch geführte Kataloge verfügte. Es wurde, wie Schorr in seiner Eröffnungsrede betonte, „dank der Bemühungen der jüdischen Gesellschaft, mit Unterstützung von Regierungsbehörden, kommunalen und religiösen Einrichtungen“ gegründet.25 Schorr wies auf die symbolische, pädagogische und wissenschaftliche Bedeutung der Bibliothek hin. Er sagte, dass der dort versammelte geistige Schatz der nationalen Schriften, „der als ‚jüdisches Wissen‘ bezeichnet wird, für unsere Generation einen der grundlegenden Faktoren im Prozess unserer nationalen Wiedergeburt darstellt“.26 In diesem Zusammenhang erwähnte er, dass das Gebäude auch „das Institut für Judaistik beherbergen wird, das heute das seriöseste wissenschaftliche
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Borin, Jacqueline: Embers of the Soul. The Destruction of Jewish Books and Libraries in Poland during World War II, in: Libraries & Culture. Journal of Library History 28, 1993, S. 445. 25 Schorr, Mojżesz: Przemówienie inauguracyjne wygłoszone przez Rabina Prof. Dr Mojżesza Schorra, Senatora Rzeczypospolitej na uroczystości otwarcia gmachu Głownej Biblioteki Judaistycznej przy Wielkiej Synagodze w Warszawie dnia 23 kwietnia 1936 roku, Warszawa 1936, S. 2 https://polona.pl (23.1.2023). 26 Ebd., S. 4.
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Forschungszentrum auf dem Gebiet des jüdischen Wissens und die einzige Hochschuleinrichtung in diesem Bereich im Land ist“.27 Schorr, der auch Institut für Judaistik (IfJ) Rektor war, hat seit seiner Gründung 1928 weitreichende und ehrgeizige Ziele für das Institut formuliert, „damit es, zumal die Intensität der wissenschaftlichen Arbeit im deutschen Judentum unter dem Einfluss des neuen politischen Regimes nachgelassen hatte, einen würdigen und verdienten Platz im wissenschaftlichen Wettstreit einnehmen könne.“28 Die eigene Büchersammlung des IfJ war relativ bescheiden, aber die gesamte Hauptbibliothek stand dem Institut zur Verfügung. Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges umfasste sie 40.000 Bände, darunter 150 wertvolle Handschriften, zehn Inkunabeln, viele alte Drucke und zahlreiche Pinkasim sowie rabbinische Literatur und wissenschaftliche Publikationen zu jüdischen Studien. Sie erhielt die Pflichtexemplare aller hebräischen und jüdischen Publikationen, die in Polen veröffentlicht wurden. Eine Übersicht aus dem Jahr 1934 gibt einen Einblick in die Beschaffenheit der Sammlung: von insgesamt 34.700 Bänden waren 6000 auf Jiddisch, 18.460 auf Hebräisch, 500 auf Polnisch und 9740 in anderen Sprachen verfasst.29 Bibliothek der Jeszywas Chachmej, Lublin Unter den jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken im Vorkriegspolen darf die größte religiöse Bibliothek der talmudischen Hochschule „Lubliner Schule der Weisen“ (Jeszywas Chachmej Lublin) nicht fehlen. Ihr Initiator und „spiritus movens“ war Rabbi Yehuda Majer Shapira (1887–1933), Vorsitzender der orthodoxen Partei Agudas Isroel und Mitglied des polnischen Parlaments. Mitte der 1920er Jahre gelang es ihm, im Land und während einer im großen Stil durchgeführten Spendenreise unter den orthodoxen jüdischen Gemeinden Westeuropas und der USA eine große Geldmenge zu sammeln. 1930 wurde das sechsstöckige Mehrzweckgebäude der Lubliner Jeschiwa eröffnet.30 Shapira plante, in der Jeschiwa eine zentrale Thora-Bibliothek einzurichten.31 Auf der 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd. 29 Shavit, Jüdische Bibliotheken, S. 61. Diese Zahlen beziehen sich insgesamt auf die Sammlungen der beiden Warschauer Judaistischen Bibliotheken: der GBJ und der Bibliothek des Instituts für Judaistik. 30 Neben Hörsälen, Bibliothek und Lesesälen beherbergte das Gebäude der Lubliner Jeschiwa eine Synagoge, eine Mikwe, die Wohnung des Rektors, Gästezimmer, ein Internat für 200 Studenten und sogar eine Bäckerei. 31 Kopciowski, Adam: Zagadka księgozbioru lubelskiej jesziwy, 24 kwietnia 2006, in: https:// www.bu.kul.pl/art_10817.html (19.4.2022): „Shapira initiierte das Sammeln von Büchern während seiner Reisen in die Vereinigten Staaten. Den Besuchen des Rabbiners in amerikanischen Städten gingen in der Regel Ankündigungen in den Wohnvierteln der
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Grundlage der hier versammelten Sammlung sollte in Zusammenarbeit zwischen Studenten der Lubliner Jeschiwas und Wissenschaftlern aus aller Welt eine Anthologie der wichtigsten Werke der rabbinischen Literatur entstehen. Der erste Band war in dem Jahr fertig, in dem Shapira starb.32 Der Bibliotheksbestand der Chachmej Jeschiwa, der hauptsächlich rabbinische Literatur und zweifellos viele wertvolle Manuskripte und alte Drucke umfasste, stieg von 12.000–13.000 Bänden im Jahr der Eröffnung auf über 30.000 Bände am Vorabend des Kriegsausbruchs.33
Raub von jüdischen Bibliotheken durch die NS-Regime
Geschlossen, beschlagnahmt, zerstört, geplündert, ausgebeutet – ganz gleich, welcher von diesen Verfolgungen Opfer fielen und unabhängig davon, wie viele Bücher aus ihren Sammlungen überlebt haben – alle betreffenden Bibliotheken haben aufgehört zu existieren. Das ‚Dritte Reich‘ In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, während der Reichspogromnacht, erließ der Chef der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich einen Blitzbefehl an ihn untergeordnete Dienststellen, um „alles Archivmaterial in allen Synagogen und Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinden zu beschlagnahmen
orthodoxen Juden voraus, in denen er sie über seine Pläne informierte, in Lublin eine große Bibliothek einzurichten und zu diesem Zweck wertvolle Drucke zu sammeln. Die größte Büchersammlung (4000 Bände) wurde von dem Philanthropen Benjamin Gut gestiftet. Viele andere amerikanische Juden folgten seinem Beispiel […]. Eine ähnliche Aktion wurde auch in den jüdischen Zentren in Polen durchgeführt. In vielen Städten wurden Bibliothekskomitees gebildet, um Bücher für die Jeschiwa zu sammeln. Ärmere Juden, die sich keine Geldspenden für den Bau der Jeschiwa leisten konnten, spendeten Bücher für den Bedarf der Jeschiwa.“ 32 Kopciowski weist darauf hin, dass „die Studenten [die nur unverheirateten Männer waren] jedoch keinen vollen Gebrauch von der Bibliothek der Jeschiwa machen konnten; alles, was in der Sammlung vorhanden war, ging durch die Hände des Rektors, und er war es, der entschied, was in die Büchersammlung aufgenommen wurde und was die Studenten ausleihen konnten“. Ebd. 33 Die Zahl von 32.000 Bänden im Jahr 1939 wird angegeben von Doroszewski, Jerzy: Uczelnia Mędrców Lublina (Jeszywas Chachmej Lublin) w latach 1930–1939, in: ders./ Radzik,Tadeusz (Hg.): Z dziejów społeczności żydowskiej na Lubelszczyźnie w latach 1918–1939, Lublin 1992. Auf Wikipedia ist von 22.000 Büchern und 10.000 Zeitschriften die Rede.
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und den SD-Stellen zu übergeben“.34 Bibliotheken wurden einbezogen, wenn sie nicht während der laufenden „November-Aktion gegen Judenschaft“ zerstört wurden. In dem fast sofort entbrannten Streit zwischen zwei Reichswürdenträgern, dem Chefideologen der NSDAP, Alfred Rosenberg, und dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, um die Aufteilung der Bibliotheksbeute, gewann letzterer.35 Im Februar 1939 befahl er eine Überprüfung der beschlagnahmten Sammlungen, woraufhin Heydrich im März anordnete, sie im SDHauptamt in Berlin zu konzentrieren. Zuvor wurde an die geschlossenen Bibliotheken ein Fragebogen über den Umfang und die Merkmale ihrer Sammlungen verteilt. Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse wurden in einer Liste von 71 jüdischen Bibliotheken mit einem Gesamtbestand von rund 300.000 Bänden 16 von ihnen als besonders wertvoll eingestuft, darunter zwei in Berlin: die Bibliothek der Jüdischen Gemeinde (55.000) und des Orthodoxen Rabbinerseminars (20.000) sowie zwei in Breslau: die Bibliothek des JüdischTheologischen Seminars (28.000) und der dortigen Gemeinde (10.000).36 Im Breslauer Seminar haben am 23 März 1939 „Drei Beauftragte der Gauleitung […] die selbstständig das versiegelte Dozentenzimmer aufmachten und die Bibliothek besichtigten […] die Bücherverzeichnisse gesichtet und an sich genommen.“37 Vier Monate später „sind durch Beauftragte der Partei die der Bibliothek zugehörigen Bücher – aus den Bibliotheksräumen selbst im 3. Stock, aus den Dozentenzimmern im Erdgeschoss, und auch aus dem Tresor – Handschriften, Erstdrucke – entnommen worden. Aus dem Tresor ist auch, wie der Beauftragte angab, ein Kasten mit Kultusgeräten (Silber) von der Gestapo beschlagnahmt.“38 Ende September desselben Jahres ging der Bestand der JTS Bibliothek – bis auf einen kleinen Teil, der in der örtlichen GestapoZweigstelle verblieb – an das neu eingerichtete Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin.39 Zusammen mit weiteren 15 aus der für Heydrich erstellten 34 Das Blitz-Fernschreiben wurde noch während der Pogrom-Nacht am 10.11.1938 um 1.20 Uhr gesendet. Schroeder, Werner: Beschlagnahme und Verbleib jüdischer Bibliotheken in Deutschland vor und nach dem Novemberpogrom 1938, in: Dehnel Regine (Hg.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2006, S. 32. 35 Über Wettbewerb und Teilung des „jüdischen Materials“ zwischen RSHA und ERR bzw. Institut für Judenforschung/Hohe Schule siehe Rupnow, Dirk: Judenforschung im Dritten Reich. Wissenschaft zwischen Politik, Propaganda und Ideologie, Baden-Baden 2011, S. 116–118. 36 Schroeder, Beschlagnahme, S. 34–35. Auf S. 35 eine Liste von 16 Bibliotheken mit einem Gesamtbestand von 199.300 Bänden. 37 Archiv des Żydowski Institut Historyczny, 1159/14/o.Verf. /23.03.1939. 38 AŻIH 1159/10/o.Verf/ 21.07.1939. 39 Cieślińska-Lobkowicz, Nawojka: Raub und Rückführung der Leon Vita Saraval Sammlung der Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau, in: Dehnel, Regine (Hg.):
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Liste wurden sie Teil der Zentralbibliothek des RSHA, genauer gesagt der „Gegnerbibliothek“, die in seinem Amt VII: Weltanschauliche Forschung und Auswertung entstand. Sie bestand aus vier Abteilungen, die sich jeweils mit einem anderen ‚Feind‘ des Reiches befassten: der Kirche, dem Marxismus, der Freimaurerei und den Juden. Die Judenabteilung war die größte unter ihnen. Die Berliner Hochschule für Wissenschaft des Judentums wurde im Juni 1933 wieder zur Lehranstalt degradiert, versuchte trotz schwerer finanzieller und rechtlicher Schikanen ihre Aktivitäten fortzusetzen. Im Jahr 1938 scheiterte der Versuch, sie nach Cambridge zu verlegen. Im November 1939 wurde die HWJ, wie alle anderen noch bestehenden jüdischen Einrichtungen und Organisationen, in die Reichsvereinigung der Deutschen Juden (RDJ) eingegliedert und ihre Sammlungen in das leerstehende Gebäude des aufgelösten Orthodoxen Rabbinerseminars verlegt. Dass sie damals nicht geschlossen wurde, lag vor allem an dem Vorsitzenden der RDJ, Rabbiner Leo Baeck (1873–1956). Er war ein ehemaliger Student des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau und ab 1912 Dozent an der HWJ. Sie bestand bis Juni 1942, als sie endgültig aufgelöst wurde. Drei Studenten studierten dort bis zum Ende. Zusammen mit Leo Baeck wurden sie 1943 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Ein großer Teil der HWJ-Bibliothek wurde in ihrem Gefolge dorthin gebracht und in die 1942 gegründete Ghettozentralbücherei integriert, deren Bestand auf bis zu 250.000 Bände geschätzt wurde. Dabei handelte es sich um von den Ghettoinsassen beschlagnahmte Bücher, vor allem aber um Sammlungen, die aus deutschen öffentlichen und privaten jüdischen Bibliotheken und 1944 auch aus ungarischen (einschließlich des Rabbinerseminars in Budapest) konfisziert wurden. Generalgouvernement Im besetzten Warschau wurde die Sammlung der Judaistischen Hauptbibliothek bei der Großen Synagoge bereits an der Wende Dezember 1939/Januar 1940 beschlagnahmt. Es wurde von einer vom RSHA beauftragten SS-Einsatzgruppe für organisierten Raub durchgeführt, die nach ihrem Kommandeur Peter Paulsen „Kommando Paulsen“ genannt wurde.40 Die ganze GBJ-Büchersammlung wurde nach Berlin gebracht und in der RSHA-Zentralbibliothek im Gebäude der ehemaligen Großloge der Freimaurer in der Eisenacherstraße eingelagert. Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2006, S. 370. 40 Mężyński, Andrzej: Die Judaistische Bibliothek bei der Großen Synagoge in Warschau und das Schicksal der Bücher aus dem Warschauer Ghetto, in: Dehnel, Regine (Hg.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2006, S. 86–88.
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„Das ist ein Stich ins Herz der polnischen Judenheit, denn diese Bibliothek war unser geistiges Heiligtum, in dem wir in Zeiten der Not Zuflucht fanden. Jetzt ist die Quelle, an der wir unseren Durst nach Tora und den Wissenschaften Lehren stillten, ausgetrocknet“, notierte Chaim Kaplan (1880–1942?) am 25 Oktober 1939 in seinem Warschauer Tagebuch.41 Noch tragischer (und für fast alle jüdischen Bibliotheken im besetzten Polen typisch) war das Schicksal der Bibliothek der Chachmej-Jeschiwa in Lublin. Tora-Rollen und religiöse Bücher wurden von deutschen Soldaten auf den Bürgersteig geworfen und in Brand gesetzt. Am März 1941 berichtete die „Frankfurter Zeitung“, dass das Feuer zwanzig Stunden dauerte und laute Wehklagen der Lubliner Juden von einer herbeigerufenen Militärkapelle und den Freudeschreien der Deutschen Soldaten übertönt würden.42 Der Rest der Jeschiwa Büchersammlung wurde 1940 in die ehemalige Hieronim ŁopacińskiStadtbibliothek verlegt, die zur Deutschen Staatsbibliothek Lublin wurde. Reichskommissariat Ostland Das Schicksal der Straszun-Bibliothek und der YIVO-Sammlungen war nach dem deutschen Einmarsch in Vilnius Ende Juni 1941 besiegelt. Kurz danach kam in die Stadt ein Mitglied des „Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), um sich ein Bild von zu erwartenden Ressourcen zu machen. Dabei handelt es sich um eine 1940 gegründete Sonderorganisation zur systematischen Plünderung von Kulturgütern in den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten. An ihrer Spitze stand Alfred Rosenberg, der von Hitler nach Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete ernannt worden war. Geleitet wurde sie von Johannes Pohl, dem Sprecher der „Judenforschung ohne Juden“, der von 1934 bis 1936 im Auftrag der NSDAP an der Hebräischen Universität in Jerusalem Judaistik studiert hatte. Schon im Juli 1941 verhaftete die Gestapo den Direktor des YIVO unter der mehr als halbjährigen sowjetischen Besatzung, Noah Pryłucki (1882–1941), den Direktor des Shimon An-ski- Museums, Eliyahu Ya’akov Goldschmidt (1882– 1941), und den Direktor der Straszun-Bibliothek, Chajkel Łuński. Sie wurden gezwungen, eine Liste von Handschriften und Inkunabeln aus ihren drei Instituten für den ERR zusammenzustellen. Pryłucki und Goldschmidt wurden unmittelbar nach ihrer Anfertigung ermordet. Łuński kam ins Wilnaer Ghetto. Der Reichtum der Bibliotheken, Büchersammlungen und zeremoniellen Judaika, die sich im Besitz der Synagogen, jüdischer Organisationen und 41 Kaplan, Chaim A.: Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch, Frankfurt a.M. 1967, S. 105. 42 Frankfurter Zeitung, 28.3.1941
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privater Eigentümer in Vilnius und Umgebung befanden, verhinderte deren rasche Auswahl und Ausfuhr ins Reich. Nach Pohls Besuch in der Stadt im Februar 1942 führte der ERR eine groß angelegte Screening-Aktion durch, d.h. die Trennung der jüdischen Bibliothekbestände in für das Reich vorgesehenes Material und den Rest als wertloses Altpapier zum Zermahlen. Im Gebäude der ehemaligen Wilnaer Universitätsbibliothek wurde die Sammlung der Straszun-Bibliothek, die vollständig hierher verlegt worden war, sowie kleinere Sammlungen von einer Gruppe von Ghettoarbeitern sortiert. Sie folgten den Anweisungen von Chajkel Luński, Zelig Kalmanowicz (der YIVO-Direktor bis 1939) und Herman Kruk (1897–1944), der bis zum Ausbruch des Krieges der Leiter der Warschauer Grossen Bibliothek und im besetzten Vilnius ein Gründer der Ghetto Bibliothek war. Sie waren unter Androhung der Todesstrafe gezwungen, diese Selektion zu leiten. Das YIVO-Gebäude diente wiederum als Auswahlpunkt nicht nur für die eigenen Bestände, sondern auch für Büchersammlungen, die teils in Vilnius, teils in Kaunas und anderen Städten konfisziert wurden. Dank Kruk fanden im Frühjahr 1942 zwei Dichter, Szmerke Kaczergiński (1908–1954) und Abraham Sutzkever (1913–2010), ihren Weg hierher. Sie organisierten eine konspirative Gruppe, als „papir brigade“ (Papierbrigade) bekannt, die einen beträchtlichen Teil der YIVO-Sammlungen rausgeschmuggelt und im Ghetto und auf der sogenannten arischen Seite versteckt hat. Nach der Auflösung des Wilaner Ghetto im September 1943 gelang den beiden Dichtern die Flucht zu den sowjetischen Partisanen. Am 15. April 1944 erschien in der „New York Times“ eine Korrespondenz von Ralph Parker aus Moskau. Sie begann mit der Schlagzeile: „Poet-partisan from Vilna Ghetto Says Nazis Slew 77, 000 of 80,000; Lithuanian Jews Fought Back in Their Agony – Gorky and Tolstoy Letters Seized from Germans and Taken to Moscow“. Der Dichter und Partisan war Abraham Sutzkever. So erfuhren Lucy Dawidowicz und Max Weinreich (1894–1964), der YIVO-Mitbegründer und ab 1940 Leiter seiner New Yorker Niederlassung, von der Liquidierung des Ghettos, dem dort organisierten jüdischen Widerstand und der Rettung einiger wertvoller Gegenstände aus YIVO-Sammlungen.43 Der wertvollste Teil der YIVO-Bibliothek wurde jedoch vom ERR an das Institut zur Erforschung der Judenfrage (IEJ) in Frankfurt am Main abtransportiert. Der Rest, schätzungsweise etwa 60 Prozent, wurde von den Deutschen als Makulatur zur Zermahlung geschickt.
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NS-„Judenbibliotheken“ Die Vernichtung jüdischer Büchersammlungen, sei es durch Verbrennung wie in der Chachmej Jeschiwa in Lublin, sei es durch Zermahlen wie in Wilna oder durch Verrotten lassen, war eine Barbarei. Als besondere Ausartung müssen jedoch NS-Aktionen nach dem Motto „Sammeln, um zu zerstören“ angesehen werden, die mit dem eigentlichen Zweck der Beschlagnahme der deutschen und polnischen jüdischen wissenschaftlichen Bibliotheken einherging. Die von ihnen geraubten Sammlungen wurden als Quellenbasis zur Rechtfertigung der Juden- und Judenvernichtung verwendet, zur – laut Rosenbergs Vertrautem Johannes Pohl – „Forschung über Juden ohne Juden“. Die größte Sammlung dieser Art wurde die Bibliothek des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main. Das im März 1941 eröffnete IEJ war die erste Einrichtung der von Rosenberg geplanten Hohen Schule der NSDAP. Bereits ab 1939 wurden geraubte Bücher in der damals gegründeten Zentralbibliothek der Hohen Schule in Berlin gesammelt.44 Das Frankfurter IEJ verfügte über mehr als eine Million Bücher, die größtenteils der ERR im besetzten Westeuropa, UdSSR und Griechenland geraubt hatte. Die Bestände der zweiten dieser niederträchtigen Bibliothekssammlungen, der Gegnerbibliothek des Amts VII RSHA, wird auf bis zu zwei bis drei Millionen Bände geschätzt, die hauptsächlich im sogenannten Altreich, Wien und Generalgouvernement beschlagnahmt wurden. Diese Sammlungen stammten aus öffentlichen und privaten Bibliotheken verschiedener – nicht nur jüdischer – Organisationen, Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen. Zweifelsohne konnte jedoch ihre Judenabteilung aber quantitativ und qualitativ mit der Bibliothek des Frankfurter IEJ mithalten.45 Die dritte in dieser Gruppe war die am wenigsten bekannte Hebräische Bibliothek im Ghetto Theresienstadt.46 Von der Zentralen Ghettobibliothek abgetrennt und für die Insassen unzugänglich, sollte sie eine repräsentative Sammlung hebräischer und jüdischer Schriften sein. Zu diesem Zweck hatte das „Talmudkommando“ die Aufgabe, wertvolle Drucke und Manuskripte aus den Transporten, die Bestände von in Breslau, Berlin, Wien und Budapest beschlagnahmten jüdischen Bibliotheken ins Ghetto brachten, herauszufischen. Das Kommando, das aus zwanzig Rabbinern, 15 Theologen, Historikern und Bibliothekaren bestand, wurde von Otto Muneles (1894–1967) geleitet, der 44
Die Berliner Zentralbibliothek der Hohen Schule wurde noch vor dem Hitlers Erlass vom 29.01.1940 gegründet, der die Hohe Schule als Stätte der „nationalsozialistischen Forschung und Erziehung“ einrichtete. 45 Schidorsky, Library of the Reich Security Main Office; Schroeder, Bibliotheken des RSHA. 46 Bušek, Provenance Research, S.147–148.
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nach dem Krieg der erste Bibliothekar des Jüdischen Museums in Prag war. Bis Anfang 1945 hatte das Talmudkommando die Hälfte der fast 60.000 Bände der Hebräischen Bibliothek katalogisiert. Neben diesen drei Raubmonopolisten gab es auch eine ständige Nachfrage nach jüdischer Literatur von deutschen Universitäten und sogenannten wissenschaftlichen Instituten, die über die „Judenfrage“ forschten, z.B. das 1940 von Generalgouverneur Hans Frank in Krakau gegründete „Institut für Deutsche Ostarbeit“. Zu den erheblichen Nutznießern des Bücherraubs gehörten auch die Preußische Staatsbibliothek, die Universitätsbibliothek in Berlin, die Bayerische Staatsbibliothek und die Reichsuniversität Posen. Wie die „Frankfurter Zeitung“ am 7. März 1941 berichtete, erhielt letztere, die einen Lehrstuhl für das „Studium der jüdischen Geschichte und Sprache“ eingerichtet hatte, 400.000 Bände aus beschlagnahmten jüdischen Bibliotheken in Polen.47 Sie sollten unbedingt „in der Hochschule eine Behandlung finden“ auch wenn es „in wenigen Jahren […] keinen Studenten mehr geben [dürfte], der einen lebendigen Juden gesehen hat“.48 Evakuierung Im Sommer 1943, nach den schweren Bombenangriffen auf Berlin, wurde auf Befehl Himmlers ein Teil der RSHA-Zentralbibliothek, einschließlich der Gegnerbibliothek, nach Niederschlesien und ins Sudetenland evakuiert. Etwa 60.000 Bände aus der Judenabteilung der Gegnerbibliothek wurden ins Ghetto Theresienstadt gebracht. Trotzdem blieben Hunderttausende von geraubten Büchern im Bibliotheksdepot des Amtes VII RSHA in der Eisenacherstraße. Im November desselben Jahres verbrannten die meisten von ihnen im Feuer: u.a. ein großer Teil der Sammlungen der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, der Berliner Jüdischen Gemeinde sowie bis zu 90 Prozent der Bestände der Warschauer Judaistischen Hauptbibliothek. Bereits im Frühjahr 1943 wurde die Sammlung des Instituts zur Erforschung der Judenfrage fast vollständig von Frankfurt am Main ins hessische Hungen abtransportiert. Dazu gehörten Teile der YIVO-Sammlungen und der Straszun-Bibliothek und rund 11.000 Bände aus der Bibliothek des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars, die das IEJ durch Tausch oder Kauf vom Berliner RSHA erworben hatte.
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Apenszlak, Jacob (Hg.): The Black Book of Polish Jewry. An Account of the Martyrdom of Polish Jewry Under the Nazi Occupation, New York 1943, S. 300. Diese Information wurde nie verifiziert. Deutsche Post aus dem Osten, N.F. 13 (1941), nach Rupnow, Judenforschung, S. 130.
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Verteilung geretteter Bücher in der Nachkriegszeit
„Unsere Arbeit neigt sich dem Ende zu. Tausende Bücher werden auf dem Müll landen und jüdische Bücher werden liquidiert. Den Teil, den wir retten können, werden wir mit Gottes Hilfe retten. Wir werden ihn finden, wenn wir als freie Menschen zurückkehren“ – notierte Zelig Kalmanowicz am 23. August 1943 im Wilnaer Ghetto.49 Kalmanowicz, Chajkel Łuński und Herman Kruk erlebten diesen Moment nicht mehr; sie kamen während der Shoah um. Die beiden Dichter Abraham Sutzkewer und Szmerke Kaczerginski überlebten bei den sowjetischen Partisanen. Unmittelbar nach der Befreiung von Vilnius im Juli 1944 begannen sie die im Ghetto versteckten Teile der YIVO-Sammlungen sowie Tausende von Bänden aus seiner Bibliothek, die in der Altpapierfabrik verfielen, zu retten.50 In demselben Monat haben sie das Museum für jüdische Kunst und Kultur als Zufluchtsort für die gefundenen Objekte gegründet. Es war die erste jüdische Einrichtung in der Stadt nach dem Krieg. In den ersten Monaten hat man dort 35.000 Bücher, davon 25.000 auf Jiddisch und Hebräisch, sowie 600 Säcke mit YIVO-Archivmaterial und aus dem Ghetto von Kaunas gesammelt.51 Bald jedoch erklärten die Behörden der Litauischen Sowjetrepublik und die Zentrale in Moskau das Jüdische Museum für ideologisch unerwünscht. Im Frühjahr 1945 wurden Dutzende Tonnen jüdischen Archivmaterials, Bücher und Zeitschriften, die die Deutschen nicht reichzeitig zerstören konnten, unwiderruflich entsorgt. Nachdem sie ihre Illusionen verloren hatten, verließen Sutzkewer und Kaczerginski wie viele Freunde des Museums das sowjetische Vilnius im Rahmen der sogenannten Repatriierung nach Polen, das sie bald in Richtung Westen verließen. Sie hatten im Gepäck einige der geretteten YIVO-Materialien, die schon Mitte 1946 weiter an die New Yorker Zweigstelle des YIVO geschickt werden konnten. Dank Max Weinreichs Bemühungen wurde sie bereits 1943 von den amerikanischen Behörden als legitime Nachfolgerin der von den Deutschen aufgelösten Wilaner YIVO 49
Zitat aus Kalmanowiczs’ Tagebuch nach Fishman, David F.: Embers Plucked from the Fire. The Rescue of Jewish Cultural Treasures in Wilna, in: Rose, Jonathan (Hg.): The Holocaust and the Book. Destruction and Preservation, Boston 2001, S. 72. 50 Ebd., S. 73–75. Sie haben u.a. das Ghetto-Tagebuch von Herman Kruk, Briefe von Sholem Aleichem, Handschriften von Chaim Nachman Bialik, Gemälde jüdischer Maler und sogar Skulpturen von Ilya Ginzburg und Mark Antokolsky gerettet. 51 Das Museum befand sich zunächst in einer Wohnung und dann in dem einzigen nicht von den Sowjets enteigneten Gemeindegebäude in der Straszun-Straße, in dem sich während der NS-Besatzung Büros, Bibliothek und Ghettogefängnis befanden. Das Museum wurde sofort zum Zentrum für alle Angelegenheiten der überlebenden Juden. Es hatte kein eigenes Budget. Es durfte sechs Mitarbeiter einstellen, die wie die beiden Gründer unentgeltlich arbeiteten.
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behandelt. 1948 wurde das Jüdische Museum in Vilnius endgültig von den Kommunisten geschlossen. Seine Bibliothekssammlung hat der Direktor der Litauischen Buchkammer, Antanas Ulpis (1904–1981) vor der Zerstörung gerettet, indem er sie im Keller des ehemaligen Karmeliterklosters versteckte. Während des poststalinistischen Tauwetters wurde sie katalogisiert, aber die Öffentlichkeit erfuhr von ihrer Existenz erst 1988.52 Auch Lublin wurde im Juli 1944 von der deutschen Besatzung befreit. Unmittelbar danach wurde dort die „Jüdische Historische Kommission“ (Żydowska Komisja Historyczna) eingerichtet. Ihre Hauptaufgabe – neben der Sammlung von Zeugenaussagen überlebender Juden – bestand darin, die materiellen Überreste des jüdischen Erbes zu retten. Im Lubliner Museumsgebäude hat man konfiszierte silberne Judaika gefun den, darunter auch die von Opfern des Konzentrationslagers Majdanek. Die Suche nach der Bibliothek der Chachmej Jeschiwa, die von den Deutschen einige Monate vor der Befreiung in Richtung Berlin mitgenommen wurde, verlief hingegen ergebnislos. Die Forscher gehen davon aus, dass die Sammlung vollständig verbrannt sein könnte. Es scheint auch möglich, dass die Rote Armee sie nach Russland mitnahm. Nach anderen Meinungen blieb der weniger wertvolle Teil der Jeschiwa Büchersammlung in der Stadt und verschwand erst nach dem Krieg. Jedenfalls kamen 2007 fünf ihrer Bände in die renovierte Synagoge im in ein Hotel umgewandelten Jeschiwa Gebäude, das 2003 die jüdische Gemeinde in Lublin zurückbekam. Einzelne Bücher mit Jeschiwas Eigentumsstempeln wurden auch in Israel gefunden. Anfang 1945 wurde die inzwischen „Zentrale Jüdische Historische Kommission“, kurz CŻKH (Centralna Żydowska Komisja Historyczna) beim Zentralkomitee der Juden in Polen aus Lublin nach Łódź verlegt. Sie unterhielt Vertretungen in allen Provinzstädten und Büros in den kleineren jüdischen Bevölkerungszentren, die über das ganze Land verstreut waren.53 1947 wurde die CKŻH nach Warschau verlegt und in „Jüdisches Historisches Institut“, kurz ŻIH (Żydowski Instytut Historyczny) umbenannt mit dem Sitz in dem renovierten Gebäude der Judaistischen Hauptbibliothek. Im Gegensatz zur benachbarten Großen Synagoge, die am 16. Mai 1943 nach der Niederschlagung des Ghettoaufstands von den Deutschen in die Luft gesprengt wurde, erlitt dieser Bau relativ wenig Schaden.
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Ebd., S. 75. In Lublin beschäftigte die Kommission nur zwei Personen. Nach dem Umzug nach Łódź und der raschen Einrichtung von Zweigstellen beschäftigte die CŻKH Anfang 1946 bereits mehr als 100 Personen. Die lokalen Zweigstellen der CŻKH arbeiteten bis 1950.
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Das ŻIH hat nicht nur im ganzen Land nach geretteten Judaika gesucht: Bücher, Archive, Kunstwerke und zeremonielle Gegenstände. Die staatlichen Behörden erkannten das Institut als Nachfolger aller jüdischen Sammlungen an, die Ende der 1940er Jahre in den ehemaligen deutschen Depots in Niederschlesien gefunden und auch die, die im November 1946 aus der Tschechoslowakei übergeben worden waren.54 Auf diese Weise wurden die wenigen geretteten Bände der Warschauer Judaistischen Hauptbibliothek aus den RSHA-Depots im ehemaligen Sudentenland an das ŻIH zurückgegeben.55 Gleichzeitig gelangte das Institut aber auch in den Besitz einer nicht unbeträchtlichen Büchersammlung aus dem Breslauer Rabbinerseminar sowie einzelner Bände aus der Berliner Hochschule für Wissenschaft des Judentums und anderen deutsch-jüdischen Bibliotheken. Es ist noch unklar, ob das ŻIH den wertvollsten Teil „seiner“ Breslauer Judaika, über hundert hebräische Manuskripte und Inkunabeln, aus der Tschechoslowakei oder aus Wilkanów (Wölfelsdorf) bei Bystrzyca Klodzka (Habelschwerdt), wo es auch ein RSHA-Repositorium gab, oder vielleicht aus dem ehemaligen Gestapo-Quartier in Kłodzko (Glatz) erhielt.56 Übrigens landete im Warschauer Jüdischen Institut auch eine große Zahl historischer Drucke und Stiche aus der Kunstsammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die in späten 30er Jahren die Preußische Staatsbibliothek übernommen hat. Eine detaillierte Untersuchung der Herkunft dieser Sammlung, die nicht ohne Grund als „zweite Berlinka“ bezeichnet wird, und ihrer Wege von der Beschlagnahmung bis zur Ankunft (vermutlich 1951) in Warschau ist eine Aufgabe, die wie viele andere noch auf ihre Erfüllung wartet.57 Ein kleinerer Teil der Altdruckbestände und neueren Handschriften des Breslauer JTS wurde im Frühjahr 1945 von den Trophäenbrigaden der Roten 54 Strouhalova, Marcela: Hidden or forbidden? Remarkable history of the books stored in the Reserve Collections of the National Library of the Czech Republic, Prag 2017, S. 51. 56 Kisten mit Büchern und später 880 weitere Bände wurden nach Polen geschickt. Die Sendung umfasste auch Bücher aus der Bibliothek des polnischen Sejms und Senats. 55 Mężyński, Judaistische Bibliothek, S. 95, zitiert eine Notiz vom 8.3.1947 aus dem ŻIHArchiv, aus der hervorgeht, dass Bücher aus der Warschauer Judaistischen Bibliothek sich auch in einem Palast bei Bystrzyca Kłodzka befanden. 56 Die letztere: Nosek, Michal: The Collection of Leon Vita Saraval, in: Borák, Mecislav (Hg.): The Lost Heritage of Cultural Assets. The documentation, identification, restitution and repatriation of the cultural assets of WWII victims, Prague 2005, S. 131; Geniewa, Ekaterina (Hg.): Catalogue of Manuscripts and Archival Material of Juedisch-Theologisches Seminar Breslau Held in Russian Depositories, Moskwa 2003, S. 1. 57 Als „Berlinka“ wird eine umfangreiche Sammlung Originalhandschriften aus der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin bezeichnet, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau befindet. Der Verbleib der Bestände ist Gegenstand von Kontroversen zwischen beiden Staaten.
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Armee aus dem tschechischen Mimoń und niederschlesischen Wilkanów (zusammen mit anderen dort erbeuteten Archiven) nach Moskau gebracht und in den Sonderarchiven der UdSSR versteckt.58 Die wertvollsten 37 Handschriften und Inkunabeln des Breslauer Seminars, hauptsächlich aus der Saraval-Sammlung, gelangten jedoch in die Nationalbibliothek in Prag.59 Sie wurden zusammen mit Tausenden Bänden aus der Zentralbibliothek RSHA in vier Schlössern des ehemaligen Sudetenlandes entdeckt.60 Ein Großteil davon wurde identifiziert und 1947–1948 an die westeuropäi schen Länder zurückgegeben, aus denen sie geraubt worden waren. Der Rest, soweit er zum jüdischen Schrifttum gehörte – darunter die Saraval-Sammlung und Bände aus dem Wilnaer YIVO –, wurde dem Jüdischen Museum in Prag übergeben, das vom tschechischen Rat der jüdischen Gemeinden mit der Pflege des jüdischen Erbes beauftragt wurde. Das Prager Museum erhielt ebenfalls ca. 100.000 Bände der Zentralbibliothek des Ghettos Theresienstadt. Darunter gab es Bücher aus der Berliner Hochschule für Wissenschaft des Judentums, dem dortigen Orthodoxen Rabbinerseminar und der Bibliothek der Jüdischen Gemeinde und viele aus privaten Sammlungen. Einige wurden vor 1948, das heißt vor der kommunistischen Machtübernahme, an ihre Besitzer zurückgegeben, andere wurden den jüdischen Gemeinden in der Tschechoslowakei übergeben, die sich im Wiederaufbau befanden. Eine unbekannte Anzahl dieser Bücher erhielt die Nationalbibliothek in Jerusalem.61
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Geniewa, Catalogue, S. 12. Der Katalog enthält 39 Manuskripte und Archivalien aus dem Breslauer JTS, die in der Rudomino-Bibliothek und in verschiedenen Moskauer Archiven aufbewahrt werden. 59 Cieślińska-Lobkowicz, Raub, S. 374; Kawalko, Anna: A Story of Survival: Hebrew Manuscripts and Incunabula from the Saraval Collection in the Manuscriptorium – Digital Library of the Memoriae Mundi Series Bohemica Project, Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 9, 2015 https://www.medaon.de/en/ausgabe/ medaon-9-2015-17/ (12.5.2022). 60 Es waren Schlösser in: Mimoń (Niemes: 256.626 Bände); Novy Falkenburg (Neufalkenburg: 93.624 Bände), Novy Berstejn (Neu Peerstein: 59.927 Bände und 131,865 Archivalien) und Houska (Hauska: ca 95. 000 Bände). Siehe Strouhalova, Hidden, S. 33–51. Auch Grimsted, Patricia: Sudeten Crossroads for Europe’s Displaced Books. The Mysterious Twilight of the RSHA Amt VII Library and the Fate of a Million Victims of War, in: Borák, Mecislav (Hg.): Restitution of Confiscated Art works. Wish or Reality? Documentation, identification and restitution of cultural property of the victims of WWII, Prague 2008, S. 120–177. 61 Über Bemühungen der Nationalbibliothek in Jerusalem und der MFAA-Einheit der USArmee im besetzten Deutschland – darunter Lucy Dawidowicz vom New Yorker YIVO –, aus der Tschechoslowakei jüdische Bücher aus dem Theresienstädter Ghetto und den RSHA-Repositorien in Nordböhmen zu erhalten, Gallas, Elisabeth: Das Leichenhaus der
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Auch Polen übergab 1948 feierlich über 80.000 religiöse Bücher und rabbinische Literatur an den Staat Israel, wofür sich Menachem Mendel Schneurson, Schatzmeister der Hebräischen Universität, erfolgreich eingesetzt hatte.62
Jewish Cultural Reconstruction
Das wachsende Bewusstsein für das Ausmaß der Zerstörung des jüdischen materiellen Erbes im von den Nazis besetzten Europa veranlasste jüdische Intellektuelle in Palästina und den USA, bereits während des Krieges Projekte zur Rettung, Rückgabe und Umverteilung des geretteten Überrests vorzubereiten. In Jerusalem nahm die Kommission für die wiedergefundenen jüdischen Bibliotheken in Europa, die 1945 auf Anregung von Prof. Gershom Scholem an der Hebräischen Universität gegründet wurde, ihre Arbeit in diesem Bereich auf. In den USA leitete ein anderer prominenter jüdischer Wissenschaftler, der Historiker Salo W. Baron (1895–1989), die 1944 gegründete „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ (CEJCR). Sie erstellte die 1946 veröffentlichte „Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis-Occupied Countries“, die als Hilfe bei der Suche nach geraubten und verstreuten jüdischen Sammlungen im Reich und im besetzten Europa dienen sollte.63 Sie enthielt Informationen über fast 700 Bibliotheken, Archive und Judaika-Sammlungen, die den jüdischen Gemeinden und Organisationen sowie privaten Eigentümern gehörten. Kurz nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands begaben sich Vertreter dieser Organisationen, allen voran Scholem und die CEJCR-Geschäftsführerin Hannah Arendt (1906–1975), auf die Suche nach noch vorhandenen jüdischen Sammlungen. Diese wurde in Deutschland und Österreich, aber auch in Polen, der Tschechoslowakei und anderen Ländern durchgeführt. Ein besonderes Problem stellten „heirless“ Kulturgüter, d.h. ohne Eigentümer und deren Erben oder Rechtsnachfolger. Das CEJCR, einer der Gründer der „Jewish Restitution Successor Organisation“ (JRSO), sah sich selbst als Verwahrer dieses
Bücher. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2016, S. 200–207. 62 Schidorsky, Dov: The Salvaging of Jewish Books in Europe after the Holocaust, in: Dehnel, Regine (Hg.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2006, S. 205. Darüber auch Gallas, Leichenhaus, S. 176–178 und 206. 63 Online auf der Website der „Commission for Looted Art in Europe“ (www.lootedart.com). In den Jahren 1947 und 1948 wurden Erweiterungen veröffentlicht: eine Liste jüdischer Zeitschriften und jüdischer Verleger.
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„verwaisten“ jüdischen Kulturguts.64 In den Augen der jüdischen Intellektuellen bedeutete der Holocaust das Ende des jüdischen Lebens in Deutschland und Osteuropa. Die geretteten Judaika aller Art sollten in die jüdische Diaspora außerhalb Europas gehen. Gershom Scholem vertrat zusammen mit dem Überlebenden des Ghettos Theresienstadt, Leo Baeck, die Ansicht, „dass die Bücher mit den Juden, wohin sie auch gehen, gehen wollen“.65 1947 wurde das CEJCR unter dem abgekürzten Namen „Jewish Cultural Reconstruction“ (JCR) in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands als rechtmäßiger Treuhänder für verlassenes (heirless) jüdisches Kulturgut anerkannt.66 In dieser Zone befanden sich die meisten von den Nazis im besetzten Europa verschleppten Kunst- und Kulturwerke. Sie wurden zu einer Reihe von Aufbewahrungsorten (Collecting Points) gebracht, die von Offizieren einer speziellen Einheit der US-Army („Monuments, Fine Arts and Archives“, MFAA) eingerichtet und verwaltet wurden. Eines dieser Depots war das Offenbacher Archivdepot (OAD), das von den Amerikanern in den riesigen Gebäuden des IG-Farben-Konzerns untergebracht wurde. Mehr als drei Millionen Bände (überwiegend aus jüdischem Besitz) sowie Tausende von zeremoniellen Judaika wurden ins im März 1946 eröffnete OAD gebracht. Bis Ende 1947 wurden 2,5 Millionen Bücher und zahlreiche Objekte an ihre Eigentümer in Deutschland oder an ihre Herkunftsländer vor allem in Westeuropa zurückgegeben, die ihrerseits verpflichtet waren, sie an ihre rechtmäßigen Eigentümer auszuhändigen.67 In Bezug auf die osteuropäischen Länder erwies 64 JRSO wurde 1948 in New York von verschiedenen amerikanischen und internationalen jüdischen Organisationen gegründet als Vertreterin des „heirless“ Vermögens von ermor deten Juden und von durch die Nazis aufgelösten jüdischen Organisationen. 65 Scholem, Gershom: Briefe I, 1914–1947, München 1994, S. 316. 66 Über JCR, ihre Ursprünge, Aktivitäten und ihr Konzept der „Wiederherstellung“ der Kultur der europäischen Juden, siehe Gallas, Leichenhaus, S. 77–221. 67 Im OAD leisteten 140 Mitarbeiter eine herausragende Arbeit. Täglich wurden rund 10.000 Bände sortiert und identifiziert. Mehr als 90 Prozent der Bestände wurden restituiert; in Zahlen: Deutschland (Berlin): 700.000; Niederlande: 329.000; Frankreich: 328.000, UdSSR: 232.000; Italien: 225.000; Polen: 25.000, andere vom Deutschen Reich besetzte Länder jeweils weniger als 10.000. Siehe Pomeranze, Seymour J.: Personal Reminiscences of the Offenbach Archival Depot, 1946–1949 Fulfilling International and Moral Obligations, 13.11.1998 https://www.ushmm.org/information/exhibitions/online-exhibitions/ special-focus/offenbach-archival-depot/establishment-and-operation (3.5.2022). Pomeranze war der erste Direktor des OAD (März bis Mai 1946) und wie seine Nachfolger Isaac Bencowitz (Mai bis November 1946) und, bis zur Schließung des OAD im Jahr 1949, Theodore Heinrich, ein Offizier des MFAA. Bencowitz entwickelte ein Identifizierungssystem, das auf Fotografien von Besitzvermerken in Büchern basierte. „Die Fotografien wurden nach Ländern geordnet, und jeder Sortierer war für drei oder vier Exlibris oder andere Besitzvermerke zuständig. Die Bücher und Dokumente wurden auf
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sich dies als viel schwieriger, da die meisten der dort geraubten Sammlungen das Eigentum von Juden waren, die in der Shoah umgekommen waren, oder von aufgelösten und nicht reaktivierten jüdischen Organisationen und Einrichtungen; ganz zu schweigen von dem hier eingeführten kommunistischen System und dem verstärkten Antisemitismus der Nachkriegszeit, der jede Hoffnung auf eine Wiederbelebung des jüdischen Lebens in der Region zunichtemachte. Eine einzigartige Stellung nahmen in diesem Zusammenhang die Wilnaer Sammlungen des YIVO und der Straszun-Bibliothek ein, von denen über 80.000 Bände im OAD identifiziert wurden.68 Denn das YIVO hatte eine offizielle Niederlassung in New York. Max Weinreich, der sie leitete, hatte sich seit 1942 bei amerikanisch-jüdischen Organisationen und dem USAußenministerium über das Schicksal der Wilnaer Instituts-Zentrale und ihrer Sammlungen stetig erkundigt. Fast unmittelbar nach Kriegsende informierte er die US-Behörden darüber, dass der geplünderte Teil der YIVO-Sammlung sich in aus Frankfurt am Main nach Hungen evakuierten IEJ-Beständen befand. Die Kontroverse um die Überführung der YIVO-Sammlung und noch mehr der Straszun-Bibliothek, die ein Eigentum der Wilnaer jüdischen Gemeinde war, in die New Yorker YIVO-Filiale wurde durch die Tatsache verschärft, dass nicht nur die UdSSR, sondern auch Polen Anspruch auf die Rückgabe zumindest eines Teils der Sammlung erhob. Lucy Dawidowicz, die 1947 von Weinreich mit der Identifizierung der Vilnius-Sammlung im OAD beauftragt wurde, schrieb in einem Brief an ihn: There is some Polish major [Karol Estreicher (1906–1984)], who wants all Polish publications (anything published in Poland) to be returned there. Horne [Joseph Horne, Chef Archivar des OAD von 1947 bis 1949] asked me to tell him about Poland and I helped him maintain the opinion he already had, that there is no hope for renewed cultural life in Poland. There may be a Jewish community there, but he feels that no one will ever make use of the material.69
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Förderbänder gelegt, und jeder Sortierer wählte die Bücher mit den ihm zugewiesenen Zeichen aus, so dass sie nach ihrer Herkunft unterteilt werden konnten. Dieses System erwies sich als äußerst wertvoll, da es den Sortierern, die viele osteuropäische Sprachen nicht beherrschten, die Identifizierung der Objekte erleichterte. Die Bücher wurden in 35 Sprachen dokumentiert, und mehr als die Hälfte der 4.000 Exlibris und Besitzvermerke waren osteuropäischen Ursprungs.“ https://web.archive.org/web/20120115151238/http:// www.monumentsmen.com/bio.php?id=17 (3.5.2022). Mehr als zwei Drittel der 4000 Stempel und Marken betrafen jüdische Eigentümer. Gallas, Leichenhaus, S. 56–59. Dawidowicz, Brief an Weinreich 16.2.1947. Zitat nach Gallas, Leichenhaus, S. 57.
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Die Amerikaner erkannten schließlich nicht nur den Rechtsanspruch des in New York ansässigen „YIVO Institute for Jewish Research“ auf die Sammlungen seines ehemaligen Wilnaer Hauptsitzes an, sondern machten es auch zum Rechtsnachfolger der Bücher aus der Straszun-Bibliothek und anderen im OAD identifizierten jüdischen Büchern aus Wilna.70 In zwei Tranchen kamen sie 1948 und 1949 in ihrem neuen New Yorker Zuhause an.71 Lucy Dawidowicz war in Offenbach Zeugin des Abtransports von 420 Kisten mit YIVO-Büchern und Archivmaterial nach New York: That experience was for me like a dream come true. All through the war years I had been obsessed by recurring fantasies that I might find, even rescue, some of my Vilna friends. […] I had, in a very tangible way, rescued a part of Vilna, even if it consisted just of inanimate objects – books, mere pieces of paper, the tatters and shards of a civilization.72
In der Endphase der OAD-Tätigkeit verblieben dort etwa 300.000 nicht identifizierte Bände. Mehr als 80.000 davon – zusammen mit mehreren Hundert Torarollen und mehreren Tausend zeremoniellen Judaika – wurden der JCR von den US-Behörden übergeben. In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren am Ende ihrer Mission spendete die JCR jeweils etwa 40 Prozent davon an Israel (vor allem an die Nationalbibliothek Israels) und die USA (u.a. an die Library of Congress und das Jewish Theological Seminary in New York). Der Rest ging hauptsächlich an jüdische Gemeinden in Lateinamerika.73 In überraschender Weise behandelte die JCR jedoch die 11.000 Bände des Breslauer Rabbinerseminars, die über das RSHA in die Bibliothek des NSInstituts zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt am Main und von dort ins OAD und nach dessen Auflösung ab 1949 in ein Lager in Wiesbaden gelangten.74 Ursprünglich wollte die JCR es je zur Hälfte auf die Nationalbibliothek Israels 70 Die amerikanischen Behörden erkannten den Anschluss der baltischen Staaten an die UdSSR nicht an und gaben daher die von den Deutschen dorthin geraubten Sammlungen nicht zurück, was zu der Entscheidung führte, dem New Yorker YIVO auch alle „verwaisten“ Sammlungen von Vilnius zu übergeben. 71 Laut Pomeranze erhielt das New Yorker YIVO insgesamt 92.000 Bücher und Dokumente von der OAD. 72 Dawidowicz, Lucy S.: What is the Use of Jewish History. Essays, New York 1992, S. 37. 73 JCR spendete auch eine Reihe von Büchern an DP’s-Lager hauptsächlich in Bayern und etwa 8 Prozent an jüdische Gemeinden in Westeuropa. Insgesamt übernahm die JCR die Treuhänderschaft im besetzten Deutschland und verteilte an verschiedene jüdische Organisationen in der ganzen Welt (mit Ausnahme des kommunistischen Blocks) etwa 500.000 Bände und Tausende von Ritualgegenständen. Siehe Gallas, Leichenhaus, S. 15. 74 Ebd., S. 175 und 254; Domhardt, Yvonne: Bibliotheken im Exil. Stationen der Wanderschaft der Bibliothek des Breslauer Rabbinerseminars. Ein Werkstattbericht aus Zürich,
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in Jerusalem und das Jewish Theological Seminary in New York, das 1886 nach dem Vorbild des JTS in Breslau gegründet worden war, aufteilen. Darüber hinaus sollte ein kleiner Teil der vom Erdbeben betroffenen jüdischen Gemeinde in Mexiko-Stadt zugutekommen. Unerwartet stellte jedoch der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) Ende 1949 an Hannah Arendt und Salo Baron Anträge auf die Übergabe der Breslauer OAD-Sammlung, um seine eigene wertvolle Bibliothek zu ergänzen. Trotz des entschlossenen Widerstands von Gershom Scholem kam Arendt den Forderungen aus Zürich nach. Die JCR erklärte sich bereit, fast 6000 Bände aus der Bibliothek des Breslauer Rabbinerseminars in die Schweiz zu überführen, unter der Bedingung, dass sie als unteilbare Sammlung behandelt und ordnungsgemäß aufbewahrt würden. Im April 1950 trafen die Bücher in der Schweiz ein und lege artis ging in den SIG-Besitz über. Fast sofort wurden sie an die drei Gemeinden Zürich, Basel und Genf verteilt.
Jahre später
Gershom Scholem hat wiederholt seine Überzeugung geäußert, dass die Dezimierung, Auflösung und Zerstreuung von Bibliotheksbeständen, die sich über Jahrzehnte angesammelt hatten, was die Zerstörung der Bibliotheken als Wissens- und Erinnerungsspeicher für die Gemeinschaften und Institutionen, denen sie dienten, bedeutete, eine ebenso große Tragödie darstellte wie die Plünderungen. Heute wissen wir, dass am meisten spürbar die Abwesenheit der Leser ist, für die diese Bibliotheken geschaffen wurden, einschließlich derer, denen sie in Zukunft dienen sollten. Denn dies bedeutet einen Bruch im kulturellen Kontinuum, einen Kontextverlust, das Verschwinden der Grundlage für die lebendige Erinnerung. Das Schicksal des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau und der gegenwärtige Zustand der verstreuten Bestände seiner Bibliothek machen dies überdeutlich. Im Warschauer Jüdischen Historischen Institut sind heute weniger als die Hälfte der hundert historischen Handschriften und Inkunabeln der Breslauer Bibliothek erhalten.75 Andere verschwanden aus dem ŻIH unter unbekannten
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in: Dehnel, Regine (Hg.): NS-Raubgut in Museen, Bibliotheken und Archiven. Viertes Hannoversches Symposium, Frankfurt a.M. 2012, S. 154–160. Weil listet 102 Objekte aus.
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Umständen. Einige der wertvolleren JTS-Bände sind in digitalisierter Form auf der ŻIH Website verfügbar, aber unter dem Namen der Zentralen Judäischen Bibliothek des ZIH was historisch falsch und provenienzmäßig irreführend ist. Eine Liste Breslauer Manuskripte und Archivdokumente aus der Moskauer Rudomino-Staatsbibliothek für Ausländische Literatur wurde einmal veröffentlicht, aber wir haben keine Kenntnis von dort aufbewahrten JTSBüchern.76 Die aschkenasische Gemeinde in Mexico City besitzt nur 21 Bände aus mehreren Hundert, die JCR dorthin geschickt hatte. In Basel verkaufte die jüdische Gemeinde im Laufe der Jahre die wertvollsten Exemplare aus ihrer Breslauer Sammlung, um die sie sich 1950 so bemüht hatte. Den Rest übergab sie 2006 in schlechtem Erhaltungszustand und ohne Vorwarnung an die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).77 2017 wurde auch ein Teil der Breslauer Sammlung aus der Bibliothek der jüdischen Gemeinde in Genf nach Zürich gebracht. Derzeit befinden sich rund 3400 JTS-Bände als SIGDepot in der Züricher ICZ-Bibliothek, wo sie restauriert werden sollen. Über die mehr als zweitausend in der Schweiz fehlenden Bände ist nichts bekannt. Die Nationalbibliothek in Prag restituierte im Jahr 2004 34 historische Handschriften und sieben Inkunabeln, hauptsächlich aus der Saraval-Sammlung, an die Jüdische Kultusgemeinde in Wrocław, die übrigens keine Rechtsnachfolgerin der deutschen Jüdischen Gemeinde Breslau ist. Sie wurden dort in der Universitätsbibliothek hinterlegt und sind seitdem nicht im Original zu sehen. Ihre virtuelle Ausstellung als Saraval-Sammlung ist auf der Website des Lehrstuhls für Judaistik der Universität Wrocław zu sehen.78 2017 übergab die Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) der „Stiftung zur Bewahrung des jüdischen Erbes“, FODZ (Fundacja Ochrony Dziedzictwa Żydowskiego) in Polen feierlich 24 Bände aus dem Breslauer Rabbinerseminar, die sie im Zuge der Provenienzrecherche eigener Bestände identifiziert hatte.79 Auch die Staatsbibliothek zu Berlin (SBB-PK) fand JTS-Bücher in ihrem Bestand. Einige scheinen vom RSHA gestiftet worden zu sein, andere kamen nach dem Krieg durch antiquarische Ankäufe.80 Die Anzahl der Breslauer Bände im Warschauer Jüdischen Historischen Institut, in der Nationalbibliothek Israels 76 77
Geniewa, Catalogue, S. 14. Domhardt, Bibliotheken im Exil, S. 160; Heim, Gabriel: Nie über die Bücher gegangen, Tachles, 22. März 2019 https://swissjews.ch/site/assets/files/0/09/925/tachles-bibliothek. pdf (12.5.2022). 78 https://judaistyka.uni.wroc.pl/katedra-judaistyki/biblioteka/kolekcja-saravala/ (12.5.2022). 79 https://www.zlb.de/en/subject-information/special-area/provenienzforschung/ restitutions/jewish-theological-seminary-of-breslau.html (15.2.2023). 80 https://provenienz.staatsbibliothek-berlin.de/ (15.2.2023).
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in Jerusalem, im Jewish-Theological Seminary und im Leo Baeck-Institute in New York sind nicht bekannt. Man könnte alle Dokumente, Manuskripte und Bücher, die in so vielen Bibliotheken und Archiven verstreut sind, zumindest online zusammenstellen, um eine Art virtuelle Gedenkstätte für die zerstörte Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau zu schaffen. Die Frage ist, ob das wirklich jemand will.81 Es gibt auch zwei ermutigende Beispiele. In 1995 und 1996 schenkte Litauen dem YIVO-Forschungsinstitut in New York den digitalisierten Rest der Vorkriegsbibliothek des YIVO in Wilna, der weder von den Nazis noch von den Kommunisten zerstört worden war. Ihr Teil war jahrzehntelang im ehemaligen Karmeliterkloster im sowjetischen Vilnius versteckt. Der zweite Teil wurde 1993 bei der Renovierung des historischen YIVO-Gebäudes entdeckt.82 Heute umfasst die New Yorker „Vilna Collection“ 41.000 Bände aus der StraszunBibliothek, mehr als 6000 Bände in Jiddisch und anderen Sprachen sowie 3000 Zeitschriften aus der Bibliothek des Wilnaer YIVO und 45 laufende Meter der Dokumente aus dessen Archiv. „The Edward Blank YIVO Vilna Online Collections“, die die in New York ansässigen Sammlungen des YIVO Vilna mit den litauischen Sammlungen der litauischen Nationalbibliothek, der Bibliothek der Litauischen Akademie der Wissenschaften und des Litauischen Zentralen Staatsarchivs verbindet, stellt ein hervorragendes Modell der Zusammenarbeit dar, das der Tradition des YIVO aus der Vorkriegszeit würdig ist.83 Möge die vor einigen Jahren an der Fassade des heutigen Jüdischen Historischen Instituts in Warschau rekonstruierte zweisprachige (in Polnisch und Hebräisch) Vorkriegsinschrift Główna Biblioteka Judaistyczna/Judaistische Hauptbibliothek ein Vorbote für eine ähnliche Zusammenarbeit und die dazu führende Provenienzforschung sein. Literaturverzeichnis Apenszlak, Jacob (Hg.): The Black Book of Polish Jewry. An Account of the Martyrdom of Polish Jewry Under the Nazi Occupation, New York 1943. Borin, Jacqueline: Embers of the Soul. The Destruction of Jewish Books and Libraries in Poland during World War II, in: Libraries & Culture. Journal of Library History 28, 1993, S. 445–460. 81 82 83
Siehe https://provenienz.gbv.de/J%C3%BCdischTheologisches_Seminar_Fraenckel% 27scher_Stiftung_(Breslau),_Bibliothek (12.5.2022). Fishman, Embers, S. 75. https://vilnacollections.yivo.org (3.5.2022).
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Three Objects from Max Pinkus’s Dispersed Library Judith Siepmann Abstract This article deals with the private library of the Jewish merchant, Max Pinkus (1857– 1934), which was confiscated and put up for sale by the Nazis in 1936. Founded at the end of the 19th century, it specialized in Silesian history and was known as the ‘Schlesierbücherei’ by researchers from all over the world. Through three rare documents from this destroyed collection, the author reconstructs their journey as objects in time and space as well as the contexts they traverse after the dismantling of the collection and reflects on the evolution of their status and meaning.
When German-Jewish textile manufacturer Max Pinkus from Neustadt in Upper Silesia died in 1934, the “Breslauer Jüdische Gemeindeblatt” published an almost full-page obituary.1 While the article referred to Pinkus’s merits as a key figure in the economic world of Upper Silesia and beyond, as well as his active role in various Silesian-Jewish contexts, the author, Kurt Schwerin, however, focused not least on the deceased’s great personal achievement – his library. “In more than fifty years of collecting”, he wrote, “he created his large ‘Schlesierbücherei’ which by now is famous far beyond the borders of Silesia. […] Scholars from Germany and abroad, poets and students always enjoyed coming there.”2 And Schwerin, who himself had been among those students taking advantage of the richness of the comprehensive Silesian library, closed with a prophesy: “[H]is acts” [sein Wirken] – clearly referring to his library in particular – “will leave traces that won’t disappear.”3 Consisting of around 25.000 volumes, Max Pinkus’s library was indeed considered to be one of the largest and most valuable private collections of its time specializing in Silesian matters and frequented by scholars from all around the world. However, the collection did not outlive its collector for long: 1 Schwerin, Kurt: Zum Hinscheiden von Max Pinkus, in: Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt 8, 1934, p. 2. 2 “Er schuf in mehr als fünfzigjähriger Sammeltätigkeit seine große Schlesierbücherei, deren Ruhm heute weit über die Grenzen Schlesiens hinausreicht. […] Gelehrte des In- und Auslandes, Dichter und Studenten sind immer wieder gern bei ihm eingekehrt.” (ibid., p. 2). 3 “[S]ein Wirken [hinterläßt] Spuren […], die nicht verwischt werden.” (ibid., p. 2).
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_007
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In 1936, the Schlesierbücherei was sold off to different public Silesian institutions under the pressure of National Socialist authorities. A devastating war and massive geopolitical changes in the region after 1945 brought further dispersion and destruction. The fate of the remnants of the library is mostly unclear, the majority of the books seem to be lost. However, individual objects from the library have survived and remain “traces” – though in a different way than Schwerin might have envisioned – as reminders of the impressive collection of Max Pinkus and the world they once belonged to. In my paper, I will focus on the story of three such objects from Max Pinkus’s library that “survived” – each in their own specific way – and are now kept in different contexts in- and outside Europe: The “Privilegienbrief”, a grant of privilege issued by Leopold I, Emperor of the Heilige Römische Reich, King of Hungary, Croatia, and Bohemia, to the Jewish community of Zülz (today’s Polish Biała) in 1699, the copy of an early play by Silesian author Gerhart Hauptmann titled “Liebesfrühling”, a private print from 1881, and, finally, the seven volumes of the “Kayser- und Königl. Das Erb-Herzogthum Schlesien concernirende Privilegia, Statuta und Sanctiones Pragmaticae” including their “Continuation” and the “Register” assembled by the publisher Ferdinand Gottfried Brachvogel, a collection of Silesian legal rulings published between 1713 and 1737. I would like to look at the shifts these objects experienced in space but also the shifts in meaning that came along. What did they stand for in their original setting as part of the Schlesierbücherei for its collector and its users when it still formed an integral unit? How was their meaning overwritten in the Third Reich? And what purpose did and do they serve in the new contexts after 1945, after a devastating war and the horrors of the Holocaust, in libraries and archives with their own agendas and historical narratives? After 1945, all three objects became symbols of loss. What kind of emotions were involved in this sense of loss, both among the heirs, the older son of the collector, Hans Pinkus, in particular, who remained deeply invested in the fate of the collection, as well as in the narrative of the institutions? Finally, what original meaning or memory do the objects nonetheless preserve in their contemporary new setting thus creating a tension between object and place? The Schlesierbücherei of which the three objects represent central sections, originated – as the legend went – from a few old leather-bound-volumes on Silesian history Max Pinkus had acquired in the 1880s with which to decorate his office desk.4 They soon, however, exceeded a bourgeois representative function and raised a deeper interest in Silesian history and culture in their owner. 4 This story is told in various contexts; Schwerin refers to it in his obituary from 1934 (cf. fn. 1).
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While the collection started as a “Liebhaberei”5 – a “pastime” – as he referred to it in retrospect in 1927, it rapidly grew into an extensive and soon also professionally organized library6 which was meant to form a central scholarly institution open to researchers. By the 1920s his collection was known under its programmatic name “Silesians’ library” – ‘Schlesierbücherei’. Max Pinkus was born into a family of textile manufacturers in Neustadt in Upper Silesia in 1857. He belonged to the second generation to already hold Prussian citizenship from birth. Under his leadership, the family’s textile company ‘S. Fränkel’, which had already expanded beyond Silesian borders under his father Josef Pinkus, became one of the most successful internationally operating German textile businesses with connections to the United States, Australia, Japan, South Africa, and several other countries. In Neustadt, Pinkus’s hometown, the company constituted the most important employer. He enjoyed wide recognition as an influential member of Silesian society, was involved in local and regional politics and trade associations, and established, for instance, the only hospital in town. All of this led to his hometown awarding him honorary citizenship in 1927. For many years, he and his family, furthermore, played a leading role in the local Jewish community and held close-knit relations with various Jewish institutions such as the Jewish-theological seminary in Breslau. Pinkus’s Schlesierbücherei fit right into his social and civic engagement in the region.
The “Liebesfrühling”
The section of the library that had grown particularly larger over the years gained a reputation and, from the 1920s on, probably become the most frequented part of the library, was the collection about Silesian author Gerhart Hauptmann. At this point, the Nobel Prize laureate was not only a wellestablished writer in- and outside Germany. He had become a national icon and was considered a hero of the German liberal bourgeoisie, the uncrowned “king of the republic” as Thomas Mann ironically called him on the occasion 5 Staatsbibliothek zu Berlin. Handschriftenabteilung (SBB PK, Handschriftenabteilung), GH Br NL A Max Pinkus, Max Pinkus to Margarete Hauptmann, January 4, 1927. 6 Pinkus’s librarian held contact with various libraries, as, for instance, the Stadtbibliothek Leipzig (the municipal library of Leipzig), which advised him on the newest cataloguingguidelines (cf. SBB PK, Handschriftenabteilung, Nachl. 164 [Max Pinkus], Box 1, Stadt bibliothek Leipzig to Gert Knoche, October 25, 1927).
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of Hauptmann’s 60th birthday in 1922.7 Not only did Pinkus spare no money to build the most comprehensive collection dealing with Hauptmann and his works – which increasingly also included unpublished materials such as manuscripts, galley proofs, and letters of the writer, thus turning it into somewhat of an archival collection – he also developed a close friendship with Hauptmann. For the poet himself, Pinkus’s collection became an important source, a place he could rely on when he was looking for newspaper articles relating to his writing or even for his very own works. The Hauptmann collection at the Schlesierbücherei also bore fruits: In 1922 and again in 1932, Pinkus and Hauptmann-scholar Viktor Ludwig issued a bibliography of Hauptmann’s works which was nearly entirely based on his own collection and read, therefore, almost like the catalogue of the Hauptmann-section of his library. The collection contained numerous rarities. Pinkus was particularly proud of his edition of Hauptmann’s “Liebesfrühling”, a short play in verse which the nineteen-year-old poet had written on the occasion of his older brother’s wedding in 1881. It had been his very first work in print and published in limited numbers, only for the wedding guests – a simple edition, yet, as Hauptmann recalled in 1937, done “in a quite pleasant form.”8 While the play didn’t reach a larger audience, Hauptmann nonetheless considered its “publication” to be – at least in retrospect – a crucial moment in his life as a writer, describing it, in his memoir, as “the big step out of the night into the light.”9 The volume was, hence, valuable for its rarity but also special due to the meaning it carried for the development of one of Germany’s most famous contemporary writers. Pinkus had acquired the little volume from Johanna (“Lotte”) Hauptmann10, the older sister of the poet who had been providing him with materials on her brother and his writings over the years. Not even Hauptmann himself possessed the play, as it turned out: In summer 1929, Margarete Hauptmann, his wife, asked whether Pinkus was willing to issue a transcript of the play for the
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Mann, Thomas: Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag [1922], in: Essays II. 1914–1926, ed. by Hermann Kurzke i.a., Frankfurt a.M. 2002, pp. 514–559, here: p. 515. “Denn es war mir […] gelungen, das Werkchen […] in einer recht angenehmen Form vervielfältigen zu lassen.” (Hauptmann, Gerhart: Das Abenteuer meines Lebens, Berlin 1937, p. 95). “der große Schritt aus der Nacht zum Licht” (Ibid.). Cf. Baron, Arkadiusz: Ponownie na tropach prudnickiej Biblioteki Śląskiej Maxa Pinkusa” [Once more on the trail of the Max Pinkus Silesian Library in Prudnik], in: Studia niemcoznawcze 61, 2018, pp. 147–224, here: p. 165, fn. 43.
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poet’s personal collection.11 Triggered by Margarete Hauptmann’s request, and with the permission of the author, Max Pinkus decided to issue fifty facsimilereprints of the “Liebesfrühling” at his own expense, skillfully carried out by his textile-company’s in-house print shop. The reprints that came out in the fall of 1929 were primarily meant for the author himself, his friends, and for Pinkus’s personal use, but also to be passed on to Hauptmann-researchers and selected German libraries. Carl F. W. Behl, a Berlin-based collector of Hauptmann’s works and ardent researcher of the poet’s work, was one of the lucky recipients. Not only was the play meant to enrich Behl’s collection, but Pinkus’s gift also included the gentle invitation to turn it into an object of research. Every recipient, Pinkus stressed in his letter to Behl, was certainly also permitted to write – and publish – about it.12 One of the libraries that received a reprint of the “Liebesfrühling” was the Deutsche Bücherei in Leipzig (German Library) – an institution that together with the Preußische Staatsbibliothek in Berlin (Prussian State Library) increasingly fulfilled the role of a (not yet officially existing) German national library. The director of the Stadtbibliothek Breslau (municipal library of Breslau), Josef Becker, had passed on a copy to the Deutsche Bücherei (following the explicit request of Pinkus) and the library in Leipzig didn’t fail to thank Pinkus for “thinking of our special aspiration in respect to [collecting] private prints [in the German language].”13 The facsimiles had turned out so well that they could barely be distinguished from the original. However, a small yet well-placed note had been added to each volume clearly stating its origin: “Published as a private print in an edition of 50 copies [1929]. Carried out by the printing shop of the company S. Fränkel, Neustadt O.-S. after the probably [last] single still existing original copy owned by Kommerzienrat Max Pinkus. […]”14
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Leo Baeck Institute New York (LBI NY), Pinkus family collection, 6/8, Margarete Hauptmann to Max Pinkus, July 4, 1929. 12 Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), A: Behl, Carl Friedrich Wilhelm/Gerhart Hauptmann Archiv, Materialsammlung 84, File 1, Max Pinkus to Carl Friedrich Wilhelm Behl, December 4, 1929. 13 “Ich möchte nicht verfehlen, Ihnen zugleich im Auftrage der Direktion der Deutschen Bücherei unseren besonderen Dank dafür zum Ausdruck zu bringen, daß Sie auch in diesem Falle wieder an unsere besonderen Bestrebungen auf dem Gebiet des Privatdrucks gedacht haben.” (SBB PK, Handschriftenabteilung, Nachl. 164 [Max Pinkus], Box 1, Deutsche Bücherei Leipzig to Max Pinkus, March 4, 1930). 14 “Als Privatdruck in einer Auflage von 50 Stück erschienen [1929]. Hergestellt in der Fabrikdruckerei der Firma S. Fränkel, Neustadt O.-S. nach dem wahrscheinlich als einziges noch existierenden Original aus dem Besitz von Kommerzienrat Max Pinkus.
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The goal of issuing this reprint was hence meant to make this unknown play more accessible and to advance research on a work of Hauptmann that had failed to raise scholarly attention due to its lack of availability. Yet it seemed to also fulfill the purpose of marking Pinkus’s own contribution to the research on Gerhart Hauptmann and in a larger sense to German culture as a whole.
The “Privilegienbrief”
The Schlesierbücherei also contained a comprehensive collection of materials on Jewish-Silesian history, secondary literature15 as well as several scripts, charters and deeds. Pinkus’s connection to Markus Brann, a central figure of Silesian-Jewish historical research and head of the Jewish Theological Seminary in Breslau who was also responsible for the seminary’s library helped fill his shelves, as the two were frequently exchanging books.16 The grant of privilege, the “Privilegienbrief” by Kaiser Leopold I from 1699, also belonged to the documents pertaining to Silesian-Jewish matters. Besides a large collection of valuable Jewish ritual objects – many of them of Silesian provenance – which Max Pinkus had inherited from his father and kept on tending to, it was this letter for the community of Zülz that especially drew scholarly attention. Max Pinkus did not initially own the document. As the leading member of the Jewish community of Neustadt, he served as the trustee of its belongings for many years. When the nearby shrinking community of Zülz dissolved and merged with Neustadt in 1914, its community archive and collection of ritual objects came into the possession of the community of Neustadt. As its custodian, Pinkus had obviously quite far-reaching control over the way the community’s possessions were handled. While the ritual objects remained in the synagogue, he made sure that the library of the Zülz community was given to Markus Brann’s Jewish Theological Seminary in Breslau and the community archive to the Central Archive of the German Jews, the “Gesamtarchiv” in Berlin. However, one object that was clearly part of the community archive […]” (Hauptmann, Gerhart: Liebesfrühling. Ein lyrisches Gedicht, Neustadt OS. 1929 [1881], n. p.). 15 Kurt Schwerin, for instance, mentioned in an article about the Schlesierbücherei published a few months before Pinkus’s passing that the collection also included a nearly comprehensive collection of all works on Silesian-Jewish history (cf. Schwerin, Kurt: Max Pinkus Schlesienbuecherei, in: Central-Verein-Zeitung, March 8, 1934). 16 Cf. the correspondence between Markus Brann and Max Pinkus (LBI NY, Pinkus family collection, 4/1).
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remained in Neustadt, yet not with the community itself: the “Privilegienbrief” was not just any document but a highly important one for Silesian-Jewish history and was, as it seems, considered to be way too valuable and meaningful to be kept in the shelves of the synagogue’s library. However, it was also too precious to be given away to Berlin and was placed, instead, under the safeguard of Max Pinkus. It is not clear how the decision came about but the document was at some point, presumably between 1926 and 1928, given to Max Pinkus – possibly meant as a natural addition to his comprehensive collection of Silesian materials. In an inventory of the privately-owned archival collections in Neustadt in Upper Silesia written by historian and archivist Erich Graber and commissioned by the Historische Kommission für Schlesien (Silesian Historical Commission) in 1928, which also listed the belongings of Max Pinkus, Pinkus’s ownership was officially documented – the grant of privilege, it said, had been “a gift of the Neustadt Jewish community.”17 Zülz belonged to only two communities in Silesia that had defied expulsion and had been in the region ever since the late middle ages, early modern times. Even though a hundred years before the Kaiser had already issued a ruling that allowed the Jews of Zülz to remain in their hometown, only the “Privilegienbrief” created a safe legal basis for the Jews in Zülz, gave them a certain amount of economic security by adjusting custom duties to those of Christian citizens and permitting them to sell at yearly and weekly fairs around Silesia. Despite some setbacks, it was a big step toward the solid establishment of the Jewish community in Zülz and, in general, the continuity of Jewish presence in Silesia. The “Privilegienbrief” was therefore frequently consulted and referred to by scholars of Silesian Jewish history, such as Markus Brann and Israel Rabin who both taught at the Jewish Theological Seminary in Breslau. In 1929 the “Privilegienbrief” was presented to a larger Jewish as well as non-Jewish audience for the first time. It was displayed in the first exhibition of the Jewish Museum in Breslau about Jews in the history of Silesia.18 Max Pinkus himself played an important role in the museum, not only as a founding member and board member but also because he provided a significant number of the exhibited pieces. The “Privilegienbrief” as well as several of his 17
“Geschenk der Synagogengemeinde zu Neustadt an Herrn Kommerzienrat Pinkus in Neustadt.” (Graber, Erich: Die Inventare der nichtstaatlichen Archive Schlesiens, vol. 33: Neustadt OS., Breslau 1928, p. 95). 18 The carefully edited catalogue of the exhibition included also numerous illustrations of objects – several of which belonged to Max Pinkus (cf. Hintze, Erwin: Katalog der vom Verein “Jüdisches Museum Breslau” in den Räumen des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer veranstalteten Ausstellung Das Judentum in der Geschichte Schlesiens, Breslau 1929).
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ceremonial objects were on display. The exhibition consisted of two parts: it presented Silesian Jewish ritual objects arranged according to holidays, but also the historical context these objects belonged to, and the history of Silesian Jewry until 1812 when the Prussian Jews and hence also the Silesian Jews had gained substantial civil rights. The exhibition aimed at presenting a successful German-Jewish symbiosis and integrated their story into a more comprehensive and larger Silesian history. The “Privilegienbrief” contained the basic narrative of the exhibition: a long and continuous entanglement of Jewish and non-Jewish history in Silesia, a participation of Jews in Silesian economy and culture, for which the “Privilegienbrief” from 1699 had laid the groundwork. The letter had deep emotional value for the Jewish-Silesian community as a whole as it was documenting the pre-history of emancipation in Silesia. But as a document that especially related to trading rights, it also bore a personal meaning for the textile manufacturer and businessman Max Pinkus. Besides, there were family connections to the community of Zülz, meaning his ancestors had directly benefitted from the Kaiser’s ruling in 1699. But it went beyond that. With his contributions and participation in society, economy, and cultural life, Max Pinkus could, furthermore, consider himself an integral and important part of German society and culture, enjoying in a way the fruits of the struggle for civil rights that the Jews of Zülz had fought for. His life seemed to be the culmination of the history of emancipation, to have fulfilled the idea of a German-Jewish symbiosis. The letter, therefore, was symbolically linked to his own success. It was not just his own – yet never, it seems, explicitly expressed – self-perception. In an obituary Kurt Schwerin wrote on Max Pinkus for the “Central-Verein-Zeitung,” he honored Pinkus’s personality as the ultimate “synthesis of Germanness and Jewishness” – “die Synthese von Deutschtum und Judentum.”19
The “Käyser- und Königl., das Erb-Herzogthum Schlesien concernirende Privilegia, Statuta und Sanctiones Pragmaticae”
While the “Liebesfrühling” and the “Privilegienbrief” both have their very specific history of use and appreciation, the seven volumes of “Privilegia, Statuta und Sanctiones Pragmaticae”, the so-called Brachvogel-volumes, named after its editor and publisher, which comprised the laws of the numerous 19
Schwerin, Kurt: Kommerzienrat Max Pinkus, Neustadt, gestorben, in: Central-VereinZeitung, June 28, 1934, n. p.
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Silesian duchies under Habsburg rule, don’t hold an individual story as part of the Schlesierbücherei.20 They belonged, however, to the largest section of the library, the section on Silesian history and culture. Interestingly, the “Brachvogel” was considered to be not only essential to general Silesian history but to Jewish-Silesian history as well. Several laws listed here referred to the Jewish inhabitants and reflected the ups and downs of the pre-emancipation era – pertaining to matters of residency, trade, customs, property, etc. In a way, it complemented the story of the “Privilegienbrief”, as it likewise showed the entanglement of Jewish and non-Jewish Silesian history. When Israel Rabin came on a longer visit to Neustadt for his research on Silesian Jewry in 1926, he took a look at the Judaica of the Zülz-community as well as the “Privilegienbrief” both of which Pinkus could give access to personally, he also certainly took advantage of the vast materials the Schlesierbücherei offered. It is not unlikely that he also consulted Pinkus’s “Brachvogel”-volumes, which he very much relied on in his work on the Silesian-Jewish fight for civil rights, “Vom Rechtskampf der Juden in Schlesien (1582–1713),”21 published the following year. The library as a whole reflected, as these three examples show, its owner’s self-perception as a proud member of German society. Pinkus considered his collection as an institution that was meant to be an essential contribution to German and Silesian culture and by that also to define what constituted Silesia as a cultural space. He perceived the region whose national “belonging” – Polish or German – was heavily fought over as a distinctly German, yet also German-Jewish, space. The Jewish and non-Jewish materials in his collection, therefore, represented to him a natural unit. The “Privilegienbrief”, the “Liebesfrühling” and the “Brachvogel” belonged together: They just told different aspects of the same overarching story, the story of Silesia.
The Dispersion of the Library
The sale of the library to public German institutions under National Socialist pressure in 1936 marked the end of this joint narrative, the beginning of its dispersion, and the inception of the three objects’ separate paths.
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The volumes list laws spanning from 1272 to 1729. Rabin, Israel: Vom Rechtskampf der Juden in Schlesien (1582–1713), in: Bericht des jüdischtheologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung 1926/27, pp. 1–84, pp. I–XX.
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While the “Liebesfrühling” and the “Brachvogel”-volumes were both among the objects that were sold off, the “Privilegienbrief” remained in the safe of the textile company that the son of Max Pinkus, Hans Pinkus, had taken over in 1925 when Max Pinkus had increasingly focused on his library. He had also inherited his father’s Judaica collection from which many objects had been on display in 1929 along with the “Privilegienbrief” as well as a valuable collection of Silesian arts and crafts. The two collections were kept separately yet showed connections as works of some Silesian goldsmiths appeared in either one of them. The Breslau-born goldsmith Gottfried Wilhelm Hoensch (ca. 1756–1811), for instance, had been the caster of a silver bowl and a candelabra from Pinkus’s Silesian collection as well as of a Torah shield that was kept among Pinkus’s Judaica.22 After the November pogroms in 1938 Hans Pinkus was arrested, his business “Aryanized” and he was only released under the condition that he would leave the country immediately. While already in Northern Ireland he tried to organize the transfer of his belongings from abroad – including his two inherited collections that were equally dear to him. However, the Nazi authorities seemed to have no interest in giving permission to transfer either collection – yet for different reasons. The Judaica collection was not to be taken abroad, because, as the auditor, Arnold Stehlik, whom Pinkus had hired to conduct the transfer of his possessions to Britain – a complicated bureaucratic act which entailed countless regulations – dryly explained in February of 1939, “they are made from silver.”23 The collection of Silesian arts and crafts, on the other hand, was to be “sold” to different museums and a private collector. 35 pieces were, furthermore, put on the “Verzeichnis der national wertvollen Kunstwerke”24 – the “list of artwork valuable to the [German] nation” – which prohibited a relocation to a place outside of Germany. What had been considered equally valuable – pieces from both collections had been celebrated as masterpieces – and as complementing each other, was now ripped apart: while one was reduced to its mere metal value, no longer perceived as part of a Silesian context, the other one was given additional meaning as a nationally significant cultural asset. Pinkus fought for both collections vehemently – writing letters, trying to negotiate with authorities partly mediated by his auditor 22 Hintze, Erwin: Die Breslauer Goldschmiede, Breslau, 1906, p. 88. 23 LBI NY, Pinkus family collection, 13/1a, Arnold Stehlik to Hans Pinkus, February 19, 1939. 24 See, for instance, Obenaus, Maria: Für die Nation gesichert? Das “Verzeichnis der national wertvollen Kunstwerke”; Entstehung, Etablierung und Instrumentalisierung 1919–1945, Berlin/Boston 2016.
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and accountant –, however, he eventually understood that his quest for saving at least his Silesian collection was bound to be lost. In July 1939, he agreed to give up his Silesian collection under the condition that other possessions including the Judaica collection would be allowed to be taken out of the country.25 And indeed, the export ban for his Judaica was lifted and the objects sent to Britain. In a letter from August 1939 to Bernhard Brilling, a friend from Breslau who had emigrated to Palestine and been intimately familiar with Pinkus’s collection as a member of the Jewish museum in Breslau, he not only reported on the successful rescue of his Judaica but also referred to the “Privilegienbrief”. He still hoped that “the original deed from Zülz could be successfully sent along”26 and be integrated into his salvaged belongings in Belfast. In another letter from 1958 to the Leo Baeck Institute – now from the post-war perspective – he reported that he had attempted to smuggle the grant of privilege past the Czech border out of the country.27 Yet his hopes and efforts had been in vain: The “Privilegienbrief”, document of Jewish-Silesian tradition, symbol of a Silesian-Jewish success story, a document which in many ways, had complemented the Judaica-collection, had stayed behind in Neustadt. Here, the trace of the original document seems to be lost, and the story of its fate remains unknown. However, being well aware of its significance for Jewish history, Pinkus had apparently taken a photograph of the “Privilegienbrief” which he had kept among his personal belongings and carried with him into exile in Northern Ireland. It stayed with him until 1957, when the New York branch of the Leo Baeck Institute, which had been founded by German-Jewish emigrants only a few years before, approached him.28 The institution was in the process of 25 “Once I will have received every piece that has yet to be sent as part of the possessions packed for moving as well as all carpets and Judaica – without having to pay any further dues! –, I will be willing to give the 492 pieces of art to the five respective museums but naturally not to the private collector. (“An dem Tage, an dem sämtliches noch rückständiges Umzugsgut […] [mir] zugeht, ferner sämtliche noch rückständigen Teppiche und Judaica und zwar ohne jede Golddiskont- oder sonstige Abgabe […], bin ich bereit, die […] 492 Stücke den 5 einschlägigen Museen natürlich nicht dem Privatsammler geschenkweise zu überlassen.”) (LBI NY, Pinkus family collection, 13/1a, 452–455, Hans Pinkus to Hans Stephan [Hans Pinkus’s accountant], July 29, 1939). In as late as October 1939, the silverobjects from the Judaica collection made it to Belgium and finally arrived with Pinkus in Belfast in early 1940. 26 Jüdisches Museum Frankfurt (JMF), Sammlung Bernhard Brilling, 1175,2, Hans Pinkus to Bernhard Brilling, August 9, 1939. 27 LBI NY, Institutional Archives, AR 230, 62/45, Hans Pinkus to Margaret T. MuehsamEdelheim, June 7, 1958. 28 About the Leo Baeck Institute, its founding and its early years see, for instance, Nattermann, Ruth: Deutsch-jüdische Geschichtsschreibung nach der Shoah. Die Gründungs- und
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establishing an archive on German-Jewish history and was interested in materials pertaining to the textile business of the Pinkus family. Pinkus gladly handed over many of his documents and books to the Leo Baeck Institute – and would continue to do so for over two decades. Among the first materials he sent was the copy of the “Privilegienbrief”, the only document he specifically referred to in the letter that followed the first batch.29 Two months later, in another letter to the Leo Baeck Institute he again mentioned the document, asking whether the institute was familiar with the deed from Zülz30 – seemingly trying to make sure the document would receive proper appreciation. It became clear once again that even as a copy the document remained important to him. In his letters to the Leo Baeck Institute, Pinkus also told about his return to Western Germany and his plan to reestablish his former textile business, hoping to restart life in Germany that had ended in 1938. His fight for restitution, however, as he reported, had turned out to be deeply frustrating, often bringing him to the brink of despair. Not only the fact that his lost factory was now located in Poland made his restitution claims more complicated, but he also felt that antisemitic tendencies among German bureaucrats obstructed his cause. To him it became increasingly clear that the possibility of reintegrating into German society or regaining the recognition of his former social status seemed no longer feasible.31 While the donation of materials referring to his family itself already had an emotional dimension for him, the “Privilegienbrief” as a legal document, however, seemed to have gained another layer of meaning. While it had stood for a successful history of emancipation, for Hans Pinkus who had survived the Holocaust in exile, the document acquired now a symbolic value of what had been lost, a painful reminder of the rights once granted, then denied and against all hopes, he felt, not restored after 1945. Even though Pinkus had willingly separated from many materials to send them to New York, stating explicitly that he was no longer eager to own them, he nonetheless decided to ask the institute for one favor. In May 1963, a bit more than a year before his final Frühgeschichte des Leo Baeck Institute, Essen 2004 and Hoffmann, Christhard (ed.): Preserving the legacy of German Jewry. A history of the Leo Baeck Institute; 1955–2005, Tübingen 2005. 29 Ibid. 30 LBI NY, Institutional Archives, AR 230, 62/45, Hans Pinkus to Margaret T. MuehsamEdelheim, August 22, 1958. 31 After his failed attempt to reestablish a textile business in Augsburg, he decided to return to Britain in 1964 where he died in 1977. While he settled in England he nonetheless remained closely connected to Germany as the letters he exchanged with friends and former employees reflect.
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return to his British exile, he told Bernhard Brilling that he was planning to ask the institute for a personal copy from the archive – a copy of the photograph of the “Privilegienbrief.”32 Like Pinkus, the Leo Baeck Institute’s founders had established their institute with the conviction that Jewish life in Germany was over. Establishing branches in the US, Israel, and Britain disconnected from the original geographical space of their object of research was a conscious decision. The culture of German Jewry had turned, as also Hans Pinkus now felt, into something that no longer needed this geographical place; it had become an object of memory. While in Max Pinkus’s library the “Privilegienbrief” had been used to highlight the deep roots of Jews in their Silesian Heimat and a successfully shared Silesian history, where the location at the heart of Upper Silesia was meaningful, in the context of the institute, the document became part of the narrative of an eventually failed “German-Jewish symbiosis” and therefore was no longer bound to its place. The original place to which the document referred no longer had any consequential meaning. The fact that the “Privilegienbrief” merely survived as a photograph and not as the original document gains its own meaning in this context: not only does it stand for the larger destruction and loss of Jewish culture, but the photograph itself manifests an act of commemoration at the time it was taken as a way of preserving its existence if only as a reflection of the original. The Schlesierbücherei was sold in 1936 by the heir, the younger son of the collector, Klaus Pinkus, who had already fled Germany. The “Liebesfrühling” was moved, as part of the Hauptmann collection, to the Staats- und Universitätsbibliothek zu Breslau (State and University Library of Breslau). Hans Pinkus, who saw his father’s name and the memory of his contributions to society and culture vanish in Nazi Germany, had tried to find a buyer outside of Germany – especially for the Hauptmann collection. “We have already turned to England,” he reported to Frederick W. Heuser, professor for German literature at the Columbia University in New York, “where there is an interest [to purchase it] and I also asked Prof. Reichart33 whether in America there might be potential buyers for this […] collection which is probably never again to be found.” He feared not only the material but the non-material appropriation of the library, foreseeing with the obliteration of his father’s name also 32 Jewish Museum of Frankfurt a.M., Papers of Bernhard Brilling, 1162, Hans Pinkus to Bernhard Brilling, May 10, 1963. 33 Another Hauptmann-researcher at the University of Michigan who had just like Heuser been in close contact with Max Pinkus and had used his Schlesierbücherei during his visits to Germany.
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the reframing and misuse of his library. “[P]erhaps also the evaluation of the large yet to be organized material [of the collection] won’t be conducted as my father would have thought it would.”34 And indeed, after 1936, the origins of the collection were no longer mentioned, while in exhibitions and publications on Hauptmann the objects – not least the “Liebesfrühling” – were often used to shape an image of Hauptmann that was no longer compatible with that of the representative of the Weimar Republic and the image of him as the champion of liberal thought. Hauptmann himself also didn’t refuse to be officially integrated into the new German cultural narrative by taking part in events and accepting the honors of high Nazi officials.35 It is still not clear what exactly happened to the Hauptmann collection during and immediately after the war. As the librarian Jan Hübner from the State and University Library of Breslau reported shortly after the war,36 it belonged to those materials that had been evacuated to the Silesian countryside in the early 1940s. Due to this transfer, it had been saved from destruction: In the course of numerous attacks on Breslau at the end of the war, the state and university library had been hit by bombs several times and lost large parts of its collections. It seems like the Hauptmann collection never returned – at least in its entirety – to Breslau that would then become Polish Wrocław. There were, however, speculations that it had been taken by so-called Russian “trophy hunters”: “Doubtlessly,” Fred B. Wahr, another Hauptmann-scholar from the University of Ann Arbor, wrote to Frederic. W. Heuser, “the Pinkus collection in Breslau has been moved to Russia – or is gone with the wind.”37 Others 34 “Man hat sich bereits nach England gewandt, wo Interesse vorliegt und ich habe auch Herrn Professor Reichart gefragt, ob sich in Amerika wohl Interessenten für diesen ganzen und, wie Ihnen bekannt sein dürfte, wohl kaum wieder zusammen zu bekommenden Komplex vorhanden sind […]. […] ich fürchte, […] dass vielleicht auch die Auswertung des grossen noch ungesichteten Materials nicht so sein würde, wie es sich mein Vater gedacht hat und wohl auch Hauptmann wünschen würde.” (Col. Un., Frederick W. J. Heuser Papers, Box 9, Hans Pinkus to Frederick W. Heuser, January 21, 1935). 35 About Hauptmann’s role during the National Socialist years see, for instance, Sprengel, Peter: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich, Berlin 2009. Hauptmann’s 75th and 80th birthdays in 1937 and 1942 included official and public celebrations. When in 1933, Hauptmann set up the swastika flag at his summerhouse in Hiddensee, many Jewish emigrants from Germany were well aware and several expressed shock and disappointment. 36 University Library of Wrocław, Akc 1878/11, Hübner, Jan: Die ehemalige Staats- und Universitätsbibliothek, January 25 1946, 4. 37 Columbia University, Frederick W. Heuser Papers, Box 2, Fred B. Wahr to Frederick Heuser, November 26, 1945.
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suspected at least parts to have ended up in Prague, as a dissertation claimed in 1962.38 However, there is no certainty. Until today the whereabouts are debated – two Polish scholars, for instance, try to follow the traces of the collection to Russia (the Russian State Library in Moscow) and the Czech Republic and investigate the possibility that small parts of the Hauptmann collection returned to Wrocław.39 When the Berlin-based auction house of Gerd Rosen announced it was selling one of the rare first editions of Hauptmann’s “Liebesfrühling” referencing Max Pinkus in its catalogue in April 1951,40 Hans Pinkus started investigating, as C.F.W. Behl reported to Margarete Hauptmann, hopeful the copy might turn out to be the one from his father’s dispersed collection and give more information about the entire Hauptmann-materials.41 Unfortunately, there is no information about the outcome of Pinkus’s inquiry. Yet the fact that Pinkus seems to have taken it upon himself to travel to Berlin for this specific volume reflects not only his continuous attachment to Hauptmann but also his hope to regain at least part of what had been lost – even if only a single copy as a symbol, a representative of the collection as a whole.42 In April 2004, a copy of the “Liebesfrühling” from 1881 was bought by the Staatsbibliothek zu Berlin (State Library of Berlin) containing inlays that strongly suggest a connection to the copy Hans Pinkus chased after in 1951.43 One of the inlays mentioned in the auction catalogue from 200444 was a newspaper clipping from April 1951 which referred to the auction of Gerd Rosen. It 38 Kleinholz, Hartwig: Gerhart Hauptmanns szenisches Requiem Die Finsternisse. Interpretation, Köln 1962, p. 28. 39 Baron, Ponownie na tropach; Kuczyński, Krzysztof A.: Gdzie jest Schlesierbucherei Maxa Pinkusa? Tropami wielkiej książnicy niemieckiej o Śląsku [Where is Max Pinkus’ Schlesierbücherei? In the footsteps of the great German library about Silesia], in: Studia niemcoznawcze 59, 2017, pp. 45–74. 40 Rosen, Gerd: Versteigerung XV, 3. u. 4. April 1951, Katalog, Berlin 1951, p. 51. 41 SBB PK, Handschriftenabteilung, Nachl. Margarete Hauptmann 260, Behl, Carl F. W. Corresp. 1300, file 3, Carl F.W. Behl to Margarete Hauptmann, May 26, 1951. 42 Pinkus’s hope to find at least fragments from his father’s library, especially the Hauptmann collection, didn’t stop here. In 1954, Pinkus was told the collection had been in Polish possession and was supposed to be brought to East-Berlin – an information that should turn out to be false. Pinkus, however, was excited and took instant action: “I have immediately asked my brother,” he wrote to Margarete Hauptmann, “to give me a mandate to lead any negotiations that might occur.” (“Ich habe mich sogleich von meinem Bruder bevollmächtigen lassen, allfällige Verhandlungen für ihn zu führen.”) (SBB PK, Handschriftenabteilung, Nachl. Margarete Hauptmann 260, Pinkus, Hans Corresp. 1649, Hans Pinkus to Margarete Hauptmann, December 3, 1954). 43 The volume was given the call number 50 MA 30959. 44 Bassenge, Gerda: Die Werke von Theodor Fontane und Gerhart Hauptmann in Erst- und Gesamtausgaben, bibliophilen Drucken, Widmungsexemplaren, Sekundärliteratur und Autographen, 23. April 2004, Katalog, Berlin 2004, p. 44.
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mentions Max Pinkus – though without making any assumptions about the provenance of the copy – naming him as the only known owner and the only one having been fully aware of its value. Another inlay listed in the auction catalogue from 2004 is a letter by Max Pinkus from 1931 “referring to the facsimile print”45, as the catalogue states, which draws an even closer connection between the book and its potential former owner. The letter is also explicitly mentioned in the auction catalogue from 195146, therefore identifying it as the volume Hans Pinkus hoped to be his father’s. The question that remains nonetheless unclear is whether it is indeed the volume from Pinkus’s library. Either way, Pinkus’s own copy keeps its presence leaving a trace even if merely as a memory. The fact that the book is now kept at the Staatsbibliothek zu Berlin adds another layer of meaning. The institution holds its own complex history that also has a connection to the Schlesierbücherei. The Staatsbibliothek zu Berlin was one of the institutions that particularly benefitted from confiscated Jewish books during the Nazi years.47 While the Schlesierbücherei didn’t belong to the libraries seized by the institution, its first director Josef Becker, an expert of Silesian literature, had taken, however, active part in its sale, even appearing on the day the Pinkus-collection was officially removed from its original home in Neustadt. As mentioned before, he had also passed on the facsimile print of the “Liebesfrühling” from 1929 to the Deutsche Bücherei at Max Pinkus’s personal request when he had still been the head of the municipal library in Breslau. So as one can see, on the surface, the “Liebesfrühling” seems like a simple addition to an institution that holds the Hauptmann papers as well as Hauptmann’s library but at a closer look a much more complex story emerges, creating a tension between the object and what seems to be its neutral, innocent repository. Another small detail about the book becomes symbolically significant: One of the inlays, the handwritten letter by Max Pinkus, the only document attached to the book that draws a direct personal line to him, has been lost.48 45 Ibid. 46 The auction catalogue from 1951 refers to the inlay as a “(hand-)written attachment of Max Pinkus (from January 26, 1931), in which he talks about ‘the probably only remaining original copy [from 1881] which is in my possession’.” (“Beiliegt ein Schreiben von Max Pinkus [vom 26.1.1931] in dem er von ‘dem wohl einzig erhaltenen, in meinem Besitz befindlichen Original’ spricht.” [Rosen, Versteigerung XV, p. 51]). 47 Cf. Briel, Cornelia: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945, Berlin 2013. 48 An email by the State Library to me from February 20, 2020, confirmed that “according to an internal note in our catalogue the letter [mentioned in the auction catalogue from 2004] constitutes the following: it is a handwritten letter from Max Pinkus to Johannes Prinz, Cape Town, from January 26, 1931. Unfortunately, the letter is currently not to be
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It is – presumably due to this loss – unlike the other inlays, the aforementioned newspaper article and an excerpt from an unknown auction catalogue,49 no longer listed in the library’s electronic catalogue accessible to readers.50 The provenance of the book, therefore, becomes more unclear or less “legible” and hence the traces of Pinkus’s possible possession, it seems, are yet again disappearing. While in 1936 the “Liebesfrühling” was sold to Breslau, the “Brachvogel”volumes belonged to the section that was to become part of the Oberschlesische Landesbücherei, the State Library of Upper Silesia in Ratibor. This institution established in 1927, had started out with a modest collection of regional literature – the field they intended to particularly focus on – and significantly gained from the materials it received from the Schlesierbücherei. Here the appropriation and overwriting of the objects became particularly visible: Not only did the library systematically erase Max Pinkus’s name – it was, for instance, no longer publicly mentioned while former owners of other donated or acquired book collections were still referred to –, but it also used the collection to serve as a narrative of Silesia that had little to no connection with Max Pinkus’s vision of his home region. The library supported an image of a German Silesia that was primarily ethnically defined and had no room for its Jewish-Silesian inhabitants. With the beginning of World War II, the Upper Silesian state library, furthermore, fulfilled its function in the justification of the annexation of Eastern European lands, of the expulsion, persecution, and murder of Polish but especially Jewish citizens.51
found – neither with us [in the department of historical prints] nor with the manuscript department – where I inquired again.” (“Laut einem internen Vermerk in unserem Katalog handelte es sich bei dem Brief um folgendes: Mit einem hs. Brief von Max Pinkus an Prof. Johannes Prinz, Cape Town, vom 26.01.1931. Leider ist der Brief derzeit weder bei uns noch in der Handschriftenabteilung aufzufinden – ich habe nochmals aktuell nachgefragt.”) 49 This item is not mentioned in the auction catalogue from 2004 and might have been added at a later point in time. 50 The State Library of Berlin notes in its online catalogue: “previous owner: unknown | inlay: note | description: in the front of the volume, a newspaper clipping about the volume can be found as well as an excerpt from an auction catalogue (unknown source); the person that added the inlays is unknown.” [“Vorbesitz: NN | Einlage: Zettel | Erläuterung: Im vorderen Vorsatz liegender Zeitungsausschnitt zum vorliegenden Band, sowie ein Ausschnitt aus einem Antiquariatskatalog [unbekannter Herkunft]; wer der Einleger war, ist nicht bekannt” (https://stabikat.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=385370997 [accessed: October 22, 2022]). 51 The library’s location was step by step moved to the east: In 1938 it opened in Beuthen (today’s Bytom) and in December 1939, shortly after the invasion of Poland was relocated to occupied Katowice.
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The “Brachvogel”-volumes, even though clearly part of the batch meant for Ratibor, didn’t end up in the Landesbücherei but were given to the municipal archive of nearby Gleiwitz. The reasons are unknown but it is possible that the Landesbücherei – even though short on Silesian materials – was already in possession of the seven volumes “Privilegia, Statuta und Sanctiones Pragmaticae.” Unlike Breslau or Katowice (to where the Landesbücherei was moved in 1939), Gleiwitz was mostly spared from destruction by bombs, and the materials remained in the archive of the city throughout the war and even beyond, when Gleiwitz became Gliwice.52 The exact circumstances are unknown, but in 1995 the books were bought by the Stiftung Kulturwerk Schlesien in Würzburg from an antiquarian bookshop in Wunsdorf (Lower Saxony, Germany) and integrated into its library on Silesian matters. Just like the Leo Baeck Institute, the Kulturwerk had been established in the early 1950s, yet had its own distinct post-war history.53 The founders were socalled “Vertriebene”, those Germans that had been expelled from the Eastern regions that had become Polish after 1945. Many of them had been active members of Silesian cultural life and, also after 1933, enthusiastically continued their work in most cases embracing the official agenda as members of the National Socialist Party. After the war, many Germans in the Federal Republic of Germany had little interest in dealing with the past and the crimes that had been committed by Germans, but among the “Vertriebene”-associations the sentiment of “forgetting” was particularly strong. While often ignoring the crimes against humanity that had been committed against Poles and especially against Jews in Silesia, they were focused on the loss they had experienced themselves and what they perceived as a violation of human rights: Their own expulsion from Silesian lands. In the narrative of these “Vertriebene,” the lost war in 1945 became the decisive experience, whereas the year 1933 was not really perceived as a rupture of any kind but, on the contrary, rather a form of continuity.
52 The Oberschlesische Landesbücherei was partly evacuated during the war but partly also destroyed. Many of the remaining books and the books that returned after 1945 from their evacuation places were eventually integrated into today’s Biblioteka Śląska in Katowice. They still hold some parts of the Pinkus collection (cf. https://sbc.org.pl/dlibra/ collectiondescription/488 [accessed: October 22, 2022]). 53 About the background of the Kulturwerk and its founders see, for instance, Haubold-Stolle, Julia: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und in Polen, Osnabrück 2008, pp. 383–396.
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Even though the “Brachvogel”-volumes were integrated into the library years later, when the Kulturwerk’s founders had mostly passed away and the institution had started to modify its approach to Silesian history, they still became part of its tradition and its story of loss and injustice that was quite different from the narrative of loss that the “Privilegienbrief” in the Leo Baeck Institute, for instance, displayed. However, the volumes continue to tell a more complex story than the narrative they have been placed into – by their physical presence and the signs and traces they still display. The stamp of the crossed-out German archive of Gleiwitz right next to the partly erased stamp of the Polish archiwum Gliwice together with the Würzburg Kulturwerk-stamp reflect the changes the Silesian region and its population underwent after 1945. But in combination with the bookplate of Max Pinkus that shows the large and impressive textile factory of the Pinkus family in Neustadt behind the female weaver in traditional Silesian garb, they mirror a more specific Silesian-Jewish history at the same time. These volumes are, as part of a larger collection and as the use of the bookplate implies, reminders of the history of dispersion and destruction – both of Max Pinkus’s library and more generally of the Silesian-Jewish population. In this way, the books acquire a relationship of tension with the history of the place they are kept in, running counter to and resisting the narrative and memory they – or at least were once meant to – serve. The three objects that were presented here, have undergone different fates and experienced multiple kinds of appropriation and overwriting, but all of them remain traces, reminders of their origin, which tell the story of their collector and his world, while simultaneously telling the story of this world’s destruction, a story of dispersion and of loss – through their paths of survival, but also through their form of survival, be it only as a photograph, as a (only possibly) original with telling inlays, or as the original object in which its fate is visibly inscribed. Bibliography
Consulted Archives
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Literature
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Teil II Wechselnde Kontexte: Die Migration von Büchern und Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg
Aus vielen protestantischen Ländern zusammengetragen Flugschriften zum Reformationsjubiläum 1617 in Lodz Cora Dietl Abstract Der Beitrag stellt einen Sammelband von Flugschriften vor, die zum 100. Jahrestag der lutherischen Reformation im Jahr 1617 gedruckt wurden, als Beispiel für die nicht immer leicht in allen Einzelheiten zu rekonstruierende „Bibliomigrancy“. Die Flugschriften, die aus mehreren protestantischen Ländern zusammengetragen wurden, überschritten mehrfach politische Grenzen, wurden kriegsbedingt oder durch Verkauf in Bibliotheksbestände aufgenommen oder herausgenommen und sind heute Teil der 1945 gegründeten Sammlung Alter Drucke der Universitätsbibliothek Lodz.
„Chur- und Fürstlich-Pfälzische, Brandenburgische, Sächsische, Hessische und Pommerische Jubel-Predigten“ liest man auf dem Rücken eines Bands in der Sammlung der Alten Drucke der Universitätsbibliothek Lodz (UB Lodz, Sign. 1007293–308). Gemeint ist das Jubiläum des sogenannten Thesenanschlags Luthers, das erstmals 1617 gefeiert wurde. In den Beständen einer Universitätsbibliothek, die erst 1945 gegründet worden ist, würde man einen solchen Band nicht unmittelbar erwarten, und doch ist dieses Buch kein Einzelfall, vielmehr hat die Sammlung der Alten Drucke in Lodz eine außergewöhnliche und letztlich unwillkürlich hergestellte neue Konsistenz. An ihr und am Fall der „Jubel-Predigten“ möchte ich im Folgenden nachzeichnen, welche Zufälle die Buchmigration oft prägen und wie schwer es ist, sie im Einzelnen zu rekonstruieren. Bevor ich allerdings auf den Band eingehe, seien zunächst die Lodzer Sammlung der Alten Drucke sowie ihr derzeitiger Erschließungsstand vorgestellt.
Die Sammlung der Alten Drucke in Lodz
Die Universitätsbibliothek Lodz (BUŁ) wurde unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, am 11. Februar 1945, gegründet, noch vor der Lodzer Universität selbst.1 Die ersten Bestände der BUŁ bildeten „sichergestellte“ 1 Vgl. Bartnik, Dorota/Piestrzyński, Tomasz: Zwischen Tradition und Modernität. Zur Geschichte der Universitätsbibliothek in Lodz, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, © Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_008
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Bücher aus öffentlichen Institutionen und Privatwohnungen in Lodz und Umgebung.2 Ab Juni 1945 kamen weitere „Sicherstellungen“ deutscher Bücherbestände im polnischen Staatsgebiet hinzu. Dabei handelt es sich der Sache nach um Beschlagnahmungen, die aber in der Tat den Effekt einer Sicherung der Bestände und ihrer Bewahrung vor Plünderungen und Zerstörung hatten. Betroffen waren u.a. Teile der ausgelagerten Büchersammlungen der Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin,3 der Berliner Hochschule für Musik, verschiedener Berliner Gymnasien und der Berliner Stadtbibliothek, außerdem Teile deutscher Gymnasialbibliotheken u.a. aus Koszalin (Köslin) und Szczecin (Stettin) sowie privater Adelsbibliotheken aus ehemals deutschen Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen angeschlossen worden waren.4 Die deutschen Buchbestände wurden zum Teil von der Rote Armee in die Sowjetunion gebracht, v.a. in die Nationalbibliothek in Sankt Petersburg und die Staatsbibliothek in Moskau; der Großteil aber wurde durch polnische Behörden verteilt und mehreren polnischen Bibliotheken zugewiesen: der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau, den Bibliotheken der Universität und der Naturwissenschaftlichen Universität in Lublin, der Adam Mickiewicz Universität in Posen, der Universität Warschau, des Masureninstituts in Allenstein (Olsztyn), der Mikołaj Kopernik Universität in Thorn (Toruń) und schließlich der Universität Lodz.5 In die BUŁ gelangten auf diesem Wege u.a. ca. 13.000 Bände aus Schloss Plathe sowie Teile der Sammlung der Grafen Hochberg aus Hochweiler, der Stadtbibliothek Stettin, der Majoratsbibliothek zu Carolath-Beuthen und der
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Lodz 2018, S. 29–43; Dietl, Cora: Bücherwege. Deutsche Frühdrucke des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, in: Jašina-Schäfer, Alina/Wingender, Monika (Hg.): Kulturelle Kontakt- und Konfliktzonen im östlichen Europa. Abschlusskonferenz des gleichnamigen thematischen Netzwerks in Gießen, Wiesbaden 2020, S. 45–59; Bartnik, Dorota/ Piestrzyński, Tomasz: Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Lodz, in: Dietl, Cora u.a.: Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2022, S. 9–16. Vgl. Fabian, Bernhard (Hg.): Handbuch deutscher historischer Buchbestände, Hildesheim 1999, http://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Lodz (20.02.2023). Vgl. Gortat, Jakub: Drucke des 16. Jahrhunderts aus der Preußischen Staatsbibliothek in der Universitätsbibliothek Lodz, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2018, S. 97–107. Vgl. Fabian, Handbuch; Bartnik/Piestrzyński, Tradition, S. 29–30; Dietl, Bücherwege, S. 45; Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 19. Vgl. Gortat, Drucke, S. 99–100.
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von-Wallenberg’schen Bibliothek Landeshut in Schlesien.6 Zu den „Sicherstellungen“ kamen Schenkungen hinzu, u.a. vom Verband Polnischer Patrioten in Lemberg und von polnischen Familien aus Vilnius. Im akademischen Jahr 1946/47 belief sich die Zahl der Lodzer Buchbestände insgesamt bereits auf 320.000 Bände, darunter 250.000 Bände aus der sogenannten sichergestellten Sammlung und 12.000 Alte Drucke (d.h. Drucke aus dem 15. bis 18. Jahrhundert).7 Durch Schenkungen, Tausch und antiquarischen Ankauf ist die Sammlung der Alten Drucke mittlerweile auf über 28.000 Bände erweitert worden. Sie ist in einem eigenen Zettelkatalog verzeichnet8 und wird getrennt von den neueren Beständen aufbewahrt. Den kleinsten Teil davon (23 Bände) bilden die Inkunabeln.9 Rund 4000–4500 Bände stammen aus dem 16. Jahrhundert. Etwa ein Drittel hiervon (1275 Bände) ist in deutscher Sprache verfasst, etwa die Hälfte in lateinischer Sprache, der Rest v.a. in italienischer Sprache, aber auch auf Französisch, Englisch, Polnisch und in anderen Sprachen.10 Das Verhältnis zwischen den Sprachen verschiebt sich in den folgenden Jahrhunderten geringfügig; aus dem 17. und 18. Jahrhundert sind noch etwa 5500 deutschsprachige Bände in der Sammlung erhalten.11 Bedingt durch die Sammelschwerpunkte der Bibliotheken, aus denen „sichergestellte“ Bestände nach Lodz gelangten, aber auch bedingt durch die Verteilung der Bestände zwischen den polnischen Bibliotheken, haben sich drei Sammlungsschwerpunkte der Germanica in Lodz herausgebildet: Sie liegen im Bereich der Leichenpredigten,12 der Medizinschriften13 und v.a. der reformatorischtheologischen Literatur inklusive Bibelübersetzungen.14
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Vgl. Fabian, Handbuch; Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 10. Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Tradition, S. 30; Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 10. http://katalog.lib.uni.lodz.pl/# (20.02.2023). Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Tradition, S. 35; Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 12. Ergebnis der Auswertung des Zettelkatalogs durch Heinrich Hofmann; vgl. Dietl, Bücherwege, S. 46. 11 Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 13. 12 Vgl. Dietl, Cora: Leichenpredigten, in: dies. u.a. (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2022, S. 81–83. 13 Vgl. Gortat, Drucke aus des 16. Jahrhunderts aus der preussischen Staatsbibliothek in der Universitätsbibliothek Lodz, S. 105; Kubisiak, Małgorzata: Neue Medizin, in: Dietl, Cora u.a. (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2022, S. 168–183. 14 Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 13.
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Eine Erschließung der Bestände nach aktuellen bibliografischen Standards erfolgt nach und nach seit 2003:15 Nachdem bereits 1999 die Polonica (ca. 20 Prozent der Sammlung)16 von der UB Lodz erfasst und in den OPAC eingespeist worden waren, untersuchten Carola Hilmes (Frankfurt am Main) und Małgorzata Kubisiak (Lodz) die deutsche Reiseliteratur der Aufklärungszeit in den Lodzer Beständen.17 Ein von 2016 bis 2018 von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien (BKM) gefördertes Kooperationsprojekt zwischen der Universität Gießen (Cora Dietl) und der Universität Lodz (Małgorzata Kubisiak) hat es ermöglicht, dass die 1275 deutschsprachigen Drucke aus dem 16. Jahrhundert nicht nur vollständig in den OPAC und NUKAT aufgenommen worden sind, sondern dass die einzelnen Bände auch in einem Printkatalog ausführlicher beschrieben und dabei insbesondere die Benutzerspuren erfasst werden konnten.18 In den Jahren 2020 bis 2022 wurden schließlich 400 „Pomeranica und Prussica“, d.h. aus dem Bestand pommerscher oder preußischer Bibliotheken nach Lodz gelangte deutschsprachige Drucke aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bibliothekarisch erfasst, konserviert und digitalisiert,19 wiederum als Kooperationsprojekt zwischen Gießen und Lodz, finanziert durch das polnische Ministerium für Bildung und Wissenschaft.20 Die „Chur- und Fürstlich-Pfälzischen, Brandenburgischen, Sächsischen, Hessischen und Pommerischen Jubel-Predigten“ werden im Lodzer Katalog je einzeln aufgeführt. Die BUŁ folgt damit nicht nur der Systematik des Vorbesitzers, der Schlossbibliothek Plathe, in deren Zettelkatalog die Texte ebenfalls einzeln aufgeführt sind, sondern sie respektiert damit insbesondere die getrennte Entstehung der einzelnen Teile der Buchbindereinheit. Das verbindende Element zwischen diesen Schriften ist der Druckanlass: das Reformationsjubiläum 1617.
15 Vgl. Dietl, Bücherwege, S. 46–47; Ososiński, Tomasz: Vorwort, in: Dietl, Cora u.a. (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2022, S. 5–6; Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 14–15. 16 Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 13. 17 Hilmes, Carola/Kubisiak, Małgorzata: Deutschsprachige Reiseliteratur des achtzehnten Jahrhunderts in Lodz, in: Aus dem Antiquariat 5, 2003, S. 319–342. 18 Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz. Katalog der Bestände, erstellt von Jakub Gortat u.a., 2 Bde., Lodz 2020. 19 https://bcul.lib.uni.lodz.pl/dlibra/ (20.02.2023). 20 Vgl. Bartnik/Piestrzyński, Sondersammlungen, S. 14.
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Eine Sammlung von Schriften zum Reformationsjubiläum 1617
Die frühe Reformationsgeschichte kennt eine Reihe von Reformationsjubiläen.21 Der Anstoß zur Feier eines Jubiläums des „Thesenanschlags“ am 31. Oktober 1617 ging von Professoren der Universität Wittenberg aus. Sie stellten im März 1617 einen Antrag auf Genehmigung der Feier eines „primus Jubilaeus christianus“ am 31. Oktober 1617 beim sächsischen Oberkonsistorium.22 Kurz darauf regte der reformierte Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die Feier eines Gedenktages im Rahmen der Protestantischen Union an, als einen politischen Akt des gemeinsamen Bekenntnisses zur Reformation.23 Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen genehmigte alsdann nicht nur das Fest an der Universität, sondern er ordnete auch eine landesweite dreitägige Jubiläumsfeier nach dem Vorbild hoher kirchlicher Feiertage an, um damit das Seinige dazu zu tun, die protestantischen Kräfte gegenüber dem wiedererstarkenden Katholizismus zu einen und um die führende Position Sachsens auf der Seite des „rechten“ Glaubens zu reklamieren.24 Andere protestantische Länder schlossen sich dem sächsischen Vorbild an und erließen nun ihrerseits Festordnungen für das Jubelfest: Vorgeschrieben wurden die Lesungstexte für Donnerstag 30. Oktober, Freitag 31. Oktober und Samstag 1. November 1617.25 Diese variierten von Land zu Land. Grundsätzlich aber behandeln alle Lesungstexte die Befreiung des Volkes Gottes oder die Bestrafung der von Gott Abgefallenen sowie die Rückkehr Gottes in sein Haus. Auch am Sonntag vor und am Sonntag nach dem Fest sollten die Predigten auf das Fest bzw. auf Luthers Auseinandersetzung mit dem Ablasswesen Bezug nehmen. Die Festpredigten, Festreden und andere für das Fest verfasste Schriften wurden als Gedenkschriften gedruckt, in der Regel als Flugschriften geringen Umfangs, die günstig zu erwerben waren und daher eine entsprechend hohe Absatzzahl erreichen konnten. Solche Jubiläumsschriften sind in dem 21 Vgl. Wendebourg, Dorothea: Vergangene Reformationsjubiläen. Ein Rückblick im Vorfeld von 2017, in: Schilling, Heinz (Hg.): Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, Berlin u.a 2015, S. 261–281; Dietl, Cora: Reformationsjubiläum 1617 in Stettin. Heinrich Kielmanns Komödie Tetzelocramia, in: Cezary Lipiński, Cezary/Brylla, Wolfgang (Hg.): Die Reformation 1517. Zwischen Gewinn und Verlust, Göttingen 2020, S. 91. 22 Flügel, Wolfgang: „Und der legendäre Thesenanschlag hatte eine ganz eigene Wirkungsgeschichte“. Eine Geschichte des Reformationsjubiläums, Berliner Theologische Zeitschrift 28, 2011, S. 30; Wendebourg, Reformationsjubiläen, S. 282–283; Dietl, Reforma tionsjubiläum, S. 92. 23 Wendebourg, Reformationsjubiläen, S. 263–264; Dietl, Reformationsjubiläum, S. 92. 24 Wendebourg, Reformationsjubiläen, S. 264–265; Dietl, Reformationsjubiläum, S. 92. 25 Dietl, Reformationsjubiläum, S. 95–96.
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in Lodz erhaltenen Band gesammelt. Die Bindung mit schlichtem Einband aus gekalktem Schweinsleder stammt offensichtlich aus dem 17. Jahrhundert. Ein nicht identifizierter, verwischter Bibliotheksstempel auf dem Deckblatt des ersten Textes in der Sammlung scheint sich auf den gesamten Band zu beziehen; die weiteren Druckschriften im Band tragen keine Stempel, sie waren also vermutlich nicht vor der Bindung bereits im Besitz einer Bibliothek. Der Stempel zeigt einen viergeteilten Schild; im oberen rechten Feld ist eine Henne zu erkennen; die Tiere in den anderen Feldern könnten Hunde oder Löwen sein. Die Schildträger sind vermutlich zwei Löwen, obgleich ihre Gesichter eher an wilde Männer erinnern. Auch wenn das Wappen bislang nicht identifiziert werden konnte, so handelt es sich deutlich um ein Adelswappen, was zu dem gekalkten Einband passt. Der Einband ist, wie bereits erwähnt, handschriftlich mit „Chur- und Fürstlich-Pfälzische, Brandenburgische, Sächsische, Hessische und Pommerische Jubel-Predigten“ beschriftet, in einer Hand des späten 17. Jahrhunderts. Die Tatsache, dass selbstverständlich von dem Jubiläum gesprochen wird, spricht für eine protestantische Adelsbibliothek – und bestätigt, dass der Band vor dem zweiten Reformationsjubiläum 1717 gebunden worden ist. Eine Sammlung verschiedener Schriften zum Reformationsjubiläum vermag die im Fest intendierte Einheit der protestantischen Länder zu demonstrieren und könnte daher theoretisch in jedem protestantischen Land angelegt worden sein. Die Auswahl und Reihung der Schriften aber könnte einen Hinweis auf den Sammler geben, eventuell auch die Nennung der einzelnen Schriften im Inhaltsverzeichnis. Auf dem vorderen Vorsatzblatt des Sammelbandes findet sich ein handschriftliches Inhaltsverzeichnis in einer zeitgenössischen Hand. Es nennt folgende Titel: 1. Abrahami Sculteti niwe Jahrs Predigt26 2. Abrahami Sculteti Jubeljahrs predigt27 3. Christopheri Adolphi Jubeljahrs predigt zu Frankenthal gehalten28
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Abraham Scultetus: Newe Jahrs Predigt: Das ist / Historischer Bericht / wie wunderbarlich Gott der Herr die verschienene hundert Jahr, seine Kirche reformirt, regiert / vnd biß daher erhalten. Amberg: Johann Schönfeld 1617 (VD17 23:635970W). Abraham Scultetus: Evangelische JubelJahrs Predig: Zu Heidelberg den 2. Novembris Anno 1617. in der Kirchen zum H. Geist gehalten. Amberg: Johann Schönfeld 1618 (VD17 39:130617M). Christopherus Adolphi: Jubilæi Evangelici Auspicatoria, Oder / Evangelischen Jubeljahrs Einleitungs Predigt: Auß dem LVII. Psalm: Gehalten / zu Franckenthal am 1. November Anno M.DC.XVII. Frankfurt: Jonas Rosa 1617 (VD17 1:075021X).
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4.
Hundertjähriges Zeitregister der Evangelischen Jubelfreude / Alterum initium Chronologiae additum […] Heinrichus D. Eckhardi29 5. Intimatio Academiae Francofurtanae30 6. Alberti Graweris zwo predigten von der reformation D. Lutheri31 7. D. Heinrici Eckhardi 3 Jubelpredigten zu Altenburg gehalten32 8. Josephi Clauderi oratio secularis33 9. Christophori Schleupneri vier Jubelpredigten zu Beyreuth34 10. Danieli Angelocratoris zwo Jubelpredigten zu Marburg35
29 HundertJähriges Historisches ZeitRegister / Der Evangelischen JubelFrewde / Entgegen gesetzt Deß Meyntzischen Jesuwiders schimpfflichen Jubiliren. Erstlich Durch die Schüler der ChurPfältzischen Schulen zu Newhauß in Lateinischer Sprach beschrieben / Itzt aber In Deutsche Sprach vbergesetzt vnd Nachgedruckt. Berlin: Georg Runge 1618 (VD17 23:274660Y). 30 Tobias Magirus: Ad Sacra Votiva Deo ter Optimo Maximo, pro luce sui Evangelii ê tenebris Papisticis ante seculum per Martinvm Lvthervm primùm in Germania eruta, Serenissimi Principis Electoris Brandenburgici assensu ac voluntate gratis animis publicè persolvenda. Frankfurt/Oder: Friedrich Hartmann 1617. 31 Albert Grawer: Zwo Christliche Predigten Von der recht Göttlichen Reformation D. Martini Lutheri, vnd zugleich von dem Zustande der Kirchen vor derselben Reformation vnter dem Bapstumb. Jena: Heinrich Rauchmaul 1614 (VD17 23:245254V). 32 Heinrich Eckhard: Drey FestPredigten / Deren die Eine Von der Witwenschafft der Kirchen Gottes in Vorjahren; vnd vom fall des Römischen Babels handelt. Die Andere Erhebliche Motiven anzeiget / warumb das Euangelische häufflein sich von dem Bapstumb abgesondert habe. Die Dritte Berichtet / auß was vrsachen alle fromme hertzen der Evangelischen Lutherischen Lehre günstig seyn sollen. In wehrendem Evangelischen JubelFest / theils in der Fürstl. Schloß- theils in beyden StadtKirchen zu Altenburg den 31. Octob. 1. vnd 2. Novemb. des 1617. Jahrs gehalten / Vnd Sampt der Instruction, beneben einem Indice Chronologico etlicher denckwürdigen vnd mehrertheils zum Religionswesen gehörigen händel des nechstabgewiechenen Seculi in Druck verfertiget Altenburg in Meißen: Henning Grosse 1618 (VD17 12:207509N). 33 Joseph Clauder: Oratio Secvlaris De Inculta Et Horrida Superioris Pontificiæ; Excvltaqve & floridâ nostræ Lutheranæ ætatis Latinitate: recitata in schola Altenbvrgensi prid. Non. Novemb. Anno Christi MDCXVII. Altenburg: Johann Grosse 1618 (VD17 12:139734W). 34 Christoph Schleupner: Vier Predigten / Vom Steigen vnd Fallen Des Papsts zu Rom / Auch was bey jetzigem zustand der Päbstischen Religion zu besorgen. Am Evangelischen JubelFest zu Beyreuth gehalten / Anno 1617. Leipzig: Abraham Lamberg und Caspar Klosemann 1618 (VD17 1:072707E). 35 Daniel Angelocrator: Zwo Predigten / In dem auß Christlicher Freyheit beliebten vnd angestelten Jubel-Jahr / nach Christi Geburt 1617. zu Marpurg gehalten / Eine auff den Bethtag am 3. Januarii / auß dem 26. Cap. Jeremiæ / Zur Warnung vnd Besserung / Ob gleich 100. Jahr das Reich Gottes in vielen Landen durchs Evangelium gepredigt vnd erbauwet / daß dannoch Gott an kein Volck oder Ort mit seinem Wort gebunden sey. Die Ander / Sontags am 2. Novembris / auß dem 66. Psalm zur Dancksagung / daß Gott durch die Evangelische Hall-Jahrs Posaune einen Sieg nach dem andern gegeben hat / vnd ferner vmb Beystandt zu bitten. Marburg: Johannes Saur 1617 (VD17 1:075062F).
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11.
M. Hartmanni Braun pfarrhern zu Grünberg 2 predigten36 [von jüngerer Hand ergänzt: „12. M. Hartmanni Braun pfarrhern zu Grünberg 2. An-Predigt“37] 12. [13.] M. Maximiliani Ritters pastoris zu Laupach in der Graffschaft Solms38 13. [14.] Pommerisch Jubelfeier39 14. [15.] Bartholdi Krakewitz oratio secularis40 15. [16.] Der herrn Reussen Evangelisch Jubelfest41 Die Schriften – Predigten, Reden, Festbeschreibungen, Festordnungen und ein doppeltes Zeitregister, d.h. eine Liste von Daten, an denen wichtige Errungenschaften der Reformation zu feiern sind – sind zunächst regional sortiert, beginnend mit der Kurzpfalz und Pfalz (Nr. 1–4), dann das brandenburgische Frankfurt/Oder (Nr. 5), Sachsen (Nr. 6–8), Franken (Schleupner in Bayreuth), Hessen (Nr. 10–13), Pommern (Nr. 14–15) und schließlich Thüringen bzw. das Vogtland (Nr. 16). Auffällig ist, dass die Pfalz und die Kurzpfalz nicht sauber voneinander getrennt sind: Scultetus war in Heidelberg, also in der Kurpfalz tätig, Adolph in Frankenthal in der Pfalz; das Zeitregister stammt wiederum aus dem kurpfälzischen Neuhaus. Offensichtlich war dem Sammler nicht an
36 Hartmann Braun: Seclvm Claræ Lvcis Evangelicæ, Oder / Das gnädige IvbelIahr / Deß gereinigten Evangelii. [s.l.]: [s.n.] 1617 (VD17 12:120741N). 37 Hartmann Braun: Martinvs Lvther Angelvs Dei. Oder Lvther / Der allenthalben Wolbekanter schöner Evangelischer fliegender Engel. Beschrieben Apoc. 14. vers. 6. Gießen: Kaspar Chemlin 1618 (VD17 12:120743C). 38 Maximilian Ritter: Jubilæum Lutheranum, Das ist: Lutherisches JubelJahr / Von heiligem Leben vnd heilsamer Lehr / weiland deß Ehrwürdigen vnd Hocherleuchten Herrn Doctoris Martini Lutheri, gottseliger Gedächtnis / aus sein eigen Tomis vnd andern Schrifften ordentlich zusammen bracht. Gießen: Kaspar Chemlin 1618 (VD17 12:120745T). 39 Daniel Cramer: Feyrliche Begängnus des Hochpreißlichen Ersten Evangelischen JubelJahres / wie dasselbe Auff des Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd Herrn Herrn Philippi II. Hertzogen zu Stettin Pommren / etc. vnsers gnedigen Fürsten vnd Herrn / gnedigen Befehl vnd Christliche Anordnung / in I. F. G. HäuptStadt zu Alten Stettin (wie dann auch nichts minder im gantzen Lande) gehalten worden […]. Alten Stettin: Samuel Kellner 1617 (VD17 23:635101Q). 40 Barthold von Krakewitz: Oratio Secularis De Quatuor Insignibus Dei Beneficiis, In Ecclesiam Et Scholas, Seculo Evangelico Superiori, Collatis. Greifswald: Hans Witte und Lorenz Segebald 1617 (VD17 3:600620R). 41 Mediatio pia ivbilæi Lvtherani. Evangelisches Jubelfest. Wie solches auff gnädigen Befehlich vnd Verordnung Derer Wolgebornen gesampten Herrn Reussen / Herrn von Plawen / Herrn zu Gräitz / Crannichfeldt / Gera / Schläitz vnd Lobenstein. In allen deren Herrschafften Kirchen / auff den 31. Octobr. 1. vnd 2. Novembr. dieses 1617. Jahrs angestellet. Vnnd zu Christlicher Nachfolge anderer reinen Lutherischen Kirchen / mit Erklärung vnd Abhandlung Göttliches Worts / Christlichen Lobgesängen / Gebetlein / vnd andern Ceremonien abgefeyret werden soll. Gera: Johann Spies 1617 (VD17 3:312276C).
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einer trennscharfen Unterscheidung zwischen der Kurzpfalz und der Pfalz gelegen. Die Titel im Inhaltsverzeichnis stimmen nicht genau mit dem überein, was jeweils auf dem Titelblatt steht. Zum Teil sind nicht alle Orte, an denen die Predigten gehalten wurden, so, wie sie auf dem Titelblatt genannt werden, im Inhaltsverzeichnis aufgeführt. Das betrifft Scultetus aus Heidelberg, Grawer aus Jena, Clauder aus Altenburg und Krakewitz, den Superintendenten von Pommern. Zum Teil werden auch die Autoren nicht genannt: Bei Nr. 5 ist der Autor Tobias Magirus durchaus auf dem Titelblatt aufgeführt und der Titel im Inhaltsverzeichnis „intimatio“, also „Mitteilung“ der Universität Frankfurt, weicht deutlich von dem auf dem Titelblatt ab: „Ad Sacra Votiva Deo ter Optimo Maximo, pro luce sui Evangelii ê tenebris Papisticis ante seculum per Martinvm Lvthervm primùm in Germania eruta, Serenissimi Principis Electoris Brandenburgici assensu ac voluntate gratis animis publicè persolvenda. Rector Academiæ Francofurtanæ M. Tobias Magirus Log. Profess. P. Cives Academicos et omnes literarum ac veræ fidei amantes humaniter invitat“. Hier erfahren wir den Gegenstand der Feier, nämlich die Befreiung von der Finsternis durch Luther. Der Widmungsträger, nach dessen Regel die Feier erfolgt, wird ausdrücklich genannt: der Kurfürst von Brandenburg. Benannt werden außerdem der Autor und seine Position an der Universität: Er ist Rektor und Professor für Logik, also gerade kein Theologe, und fällt, wenn man dies hervorhebt, aus der Sammlung heraus. Der Verfasser der „Pommerisch Jubelfeier“ (Nr. 14), Daniel Cramer, wird zwar auch auf dem Titelblatt nicht genannt, doch ist das Titelblatt weit informativer als der kurze Eintrag im Inhaltsverzeichnis: „Feyrliche Begängnus des Hochpreißlichen Ersten Evangelischen JubelJahres / wie dasselbe Auff des Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd Herrn Herrn Philippi II. Hertzogen zu Stettin Pommren / etc. vnsers gnedigen Fürsten vnd Herrn / gnedigen Befehl vnd Christliche Anordnung / in I.F.G. HäuptStadt zu Alten Stettin (wie dann auch nichts minder im gantzen Lande) gehalten worden. Auff hochgedachten I.F.G. gnädiges begehren / Jedermänniglich zu nutz / Zumahl aber der lieben Posteritet zur gedächtnus / in den Truck gegeben.“ Der Titel gibt unmissverständlich an, dass der Druck die Jubiläumsfeier nach den Vorgaben Philipps II. von Pommern enthält. Im Inhaltsverzeichnis scheint nur das Land zu interessieren. Der Titel des letzten Texts in der Sammlung ist anders gekürzt: „Mediatio pia ivbilæi Lvtherani. Evangelisches Jubelfest. Wie solches auff gnädigen Befehlich vnd Verordnung Derer Wolgebornen gesampten Herrn Reussen / Herrn von Plawen / Herrn zu Gräitz / Crannichfeldt / Gera / Schläitz vnd Lobenstein. In allen deren Herrschafften Kirchen / auff den 31. Octobr. 1. vnd 2. Novembr.
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dieses 1617. Jahrs angestellet. Vnnd zu Christlicher Nachfolge anderer reinen Lutherischen Kirchen / mit Erklärung vnd Abhandlung Göttliches Worts / Christlichen Lobgesängen / Gebetlein / vnd andern Ceremonien abgefeyret werden soll“ wird knapp zusammengefasst als: „Der herrn Reussen Evangelisch Jubelfest“. Vielleicht bedingt durch die zahlreichen Ländereien der Grafen Reuß, vielleicht aber auch durch ein besonderes Interesse an diesem Grafenhaus, wird hier anders als im Fall der „Pommerisch Jubelfeier“ oder auch im Fall der „Intimatio Academiae Francofurtanae“ nicht auf den Namen, sondern auf die geografische Einordnung verzichtet. Eventuell ist dies ein Indiz dafür, dass die Sammlung im Umfeld der Grafen Reuß angelegt worden ist. Ihr Wappen weist zumindest eine entfernte Ähnlichkeit mit dem auf dem Bibliotheksstempel auf: viergeteilt mit zwei Kranichen und zwei Löwen. Die Reihung der Texte im Band wäre dann als eine Steigerung zu sehen, von der reformierten Kurpfalz und Pfalz (zwischen denen der Sammler nicht wirklich einen Unterschied macht) über die Kernländer der Reformation bis hin zum eigenen Land. In Thüringen konnte auch Albert Grawer aus Jena (Nr. 6) so bekannt sein, dass man seinen Ort nicht extra nennen musste, und hier konnte man auch ein Interesse an Hessen haben, das in der Sammlung außerordentlich reich bedacht ist.
Gipfelpunkt der Sammlung? Die „Meditatio“
Der Text der „Meditatio“ beginnt nach einem Zitat von Psalm 100,1, „Iubilate Deo omnis terra, iubilate sine fine“ – dieser Psalm ist nicht in der Festordnung von Sachsen,42 aber in Pommern43 für das Reformationsfest vorgesehen – mit einem Blick auf Exodus 18, d.h. auf Jethros, des Priesters von Midian, freudige Reaktion auf die Kunde von der Befreiung des Volkes Israel durch Moses. Moses vergleicht er mit Martin Luther, dem „auserwählten Rüstzeug Gottes“ (Aijr), der das Volk Gottes aus der Gefangenschaft des Papsttums befreit habe. Daher solle man so wie Jethro Gott für die Tat Luthers danken.
42
Vgl. Leppin, Volker: „… das der Römische Antichrist offenbaret und das helle Liecht des Heiligen Evangelii wiederumb angezündet“. Memoria und Aggression im Reformationsjubiläum 1617, in: Schilling, Heinz (Hg.): Konfessioneller Fundamentalismus. Religion als politischer Faktor im europäischen Mächtesystem um 1600, München 2007, S. 117–118. 43 Philipp II. von Pommern-Stettin: Unsere von Gottes gnaden Philipsen / Hertzogen zu Stettin Pommern […] Bevehl vnnd Ordnung/ welcher gestalt in unsern Fürstenthümern unnd Landen / das Christliche Evangelische Jubilæum sol gehalten / vnnd begangen werden. Alten Stettin: Kellner 1617 (VD17 3:600618V).
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Vnnd eben zu dem Ende haben auch die Wolgebohrnen gesampten Herren Reussen / Herrn von Plawen / Herrn zu Gräitz / Crannichfeldt / Geraw / Schläitz vnd Lobenstein / vnsere gnädige Landes Herrn / zu Christlicher Nachfolge benachbarter anderer reiner Lutherischen Kirchen / solennem festivitatem Iubilæam, ein Evangelisches Jubelfest in den Reussischen Kirchen gnädig angeordnet. (Aiijv = 6).
Wie dies gefeiert werden soll, will der Text dem Leser erklären. Unter der Überschrift „Ordo et Intimatio Ivbilaei Lutherani“ (Aiiijr=7) werden dann abwechselnd die Vorschriften genannt, welche Lesungstexte, welche Lieder, welche Predigtinhalte vorgesehen sind, Predigtsummarien präsentiert, aber auch konkrete Formulierungen für Gebete vorgegeben. Ausformuliert ist auch die Ankündigung des Jubelfestes, die am Sonntag, dem 26. Oktober, stattfinden soll: Vor 100 Jahren sei aufgrund von Gottes besonderer Gnade, heißt es, die „Evangelische JubelPosaun“ (7) erklungen, als Martin Luther seine 95 Thesen „öffentlich an der SchloßKirchen Thür angeschlagen“ (8), die Christen vor dem antichristlichen Ablasshandel gewarnt und das Licht des Evangeliums wieder erleuchten lassen hat (8). Zum Dank hierfür sei „[…] fast in allen reinen Lutherischen Kirchen / zu bezeugen Christlicher Andacht / diese hundertjährige Zeit / als ein recht Evangelisches JubelJahr / vnnd Annus secularis abzufeyren verordnet“. (8) Das rein Lutherische fällt hier auf. Diese Ordnung ist nicht von dem Geiste getragen, sämtliche evangelischen Kirchen mitnehmen zu wollen. Betont werden im Folgenden auch das Sakrament des Abendmahls und die Beichte, die an allen drei Feiertagen (Freitag, Samstag und Sonntag) von der „gnädigen lieben Obrigkeit“ (9) angeordnet worden seien. Die Vorschriften für die Feiertage sind sehr detailliert und bei den Vorschriften für die Musik jeweils zweigeteilt: In den Städten sollen lateinische Psalmen und Hymnen gesungen und viel mit Instrumentalmusik gearbeitet werden, in den Dörfern sind Luthers Verdeutschungen von Psalmen und Hymnen vorgesehen. Es handelt sich hierbei durchweg um Lieder zu Gottes Lob, zum Dank für die Befreiung durch Gott, oder um Bitten für Frieden, Sendung des Geistes oder die Gnade Gottes. Noch markanter sind die Lesungstexte. Am 30. Oktober ist Ex 15,1–22 vorgeschrieben, d.h. das Jubellied über den Untergang des Pharaos und seiner Truppen. Am 31. Oktober bis 2. November sind jeweils Gottesdienste am Morgen und am Mittag vorgesehen, bei denen einmal die erste, einmal die zweite Lesung ausgelegt wird. Am 31. Oktober sind dies 2 Thess 2 (die Ankündigung des Antichrist) und Reg 6,14–7,7 (der Abfall der Aramäer von Gott und die Belagerung von Samaria). Am 1. November sind das der 89. Psalm (über Gottes Treue gegenüber den Seinen und seine Strafe seiner Feinde) sowie 2 Reg 7,1–17 über die Flucht der Belagerer Samarias. Am
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Sonntag, 2. November, sollen dann zwar die üblichen Lesungstexte des 20. Sonntags nach Trinitatis gelesen werden (Mt 22), die Predigt aber soll sich dem Abschluss von 2 Reg 7 widmen, die Predigt am Nachmittag wiederum 2 Thess 2. Die Belagerung von Samaria (freilich zu deuten auf die Bedrängnis Deutschlands durch den Papst) und die Ankündigung des Antichrist (wiederum zu deuten auf den Papst) und die Konzentration auf die Erlöserfigur Luthers stehen klar im Zentrum dieser Festvorschrift. Legt man die Vorschriften für Sachsen und Pommern daneben, fallen markante Unterschiede und Ähnlichkeiten auf: In Pommern sind am 31. Oktober Lk 10,17–22 (Christi Ankündigung des Sturzes Satans) und 2 Thess 2,1–12 vorgeschrieben, am 1. November Lk 2,49–51 (der zwölfjährige Christus im Tempel: Man möge erkennen, was sein Haus ist) und 1 Tim 4,1–5 (eine Prophezeiung des Abfalls vieler vom Glauben). Wo in Plauen die Belagerung und die Befreiung der Bedrängten und damit die Opferperspektive im Vordergrund steht, ist in Pommern der Ton aggressiver: Der Sturz des Papstes und die Heimkehr Gottes in sein Haus bilden hier den Kern der Lesungen und der Predigten, die von Daniel Cramer vollständig überliefert sind: Nr. 14 in der vorliegenden Sammlung.44 In Pommern ist auch nicht vorgesehen, dass am 2. November noch einmal die Lesungstexte der anderen Tage ausgelegt werden; vielmehr legt Cramer Mt 22,1–14 aus: die Parabel vom Königlichen Hochzeitsfest. Cramer bezieht die Parabel auf diejenigen, die auch nach hundert Jahren nicht die Errungenschaften der Reformation erkannt hätten und daher das Jubelfest nicht zu begehen wüssten (Jiiijr) – wie die verstockten „Papisten“. Nur am 31. Oktober unterscheiden sich die Vorschriften in Sachsen von denen in Pommern: In Sachsen sind Ps 76 und Dan 11,36–45 vorgeschrieben, d.h. die Erhebung des tyrannischen Königs gegen Gott und die harte Bestrafung der Feinde Gottes durch den strengen Richtergott. Auch wenn sich Plauen und Pommern bei 2 Thess 2 überschneiden – einem Lesungstext, den viele Länder vorschreiben, so fällt doch auf, dass von den zwei Ordnungen, die in der Sammlung stehen, die pommersche näher an der sächsischen Vorlage liegt und streitbarer ist als die der Grafen von Plauen, die sich am Ende der Sammlung, die mit reformierten Texten beginnt, als ausgesprochen lutherisch bekennt. Die Texte aus den anderen Ländern in der Sammlung enthalten keine Festordnungen. Die den Predigten zugrunde liegenden Bibelstellen sind aber beachtenswert. Scultetus legt in seiner Predigt zum 2. November 2 Reg 23 aus: den Befehl Josias, alle Kultbilder Baals zu verbrennen. Dies ist einer der Texte,
44
Vgl. auch Dietl, Reformationsjubiläum.
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die den Bildersturm rechtfertigen sollten, den Luther ablehnte.45 Auch die hessischen Predigten in der Sammlung basieren auf tendenziell aggressiveren Texten: Die Jubeljahrspredigt „Martinvs Lvther Angelvs Dei“ des Grünberger Pfarrers Hartmann Braun46 legt Offb 14,6–7 aus: das Erscheinen eines apokalyptischen Engels, der das ewige Evangelium verkündet und zu Gottesfurcht aufruft. Diesen Engel deutet Braun gleich zu Beginn der Predigt als ein Abbild Luthers, der das Evangelium wieder erschallen lasse, was die Notwendigkeit einer Abkehr vom „Götzenkult“ der Papstkirche verdeutliche. Das ist gut lutherisch, aber im Ton auch etwas anders als die moderaten Töne in der Ordnung aus Plauen. Aus Plauener Perspektive wäre es sicherlich sinnvoll, den Band so zusammenzubinden, dass am Ende die eigene, ruhigere Position steht. Andernorts wäre die „schwache“ Position als Abschluss des Bands vielleicht etwas störend. Die Länder der Grafen Reuß sind nicht auf dem Rücken des Bandes genannt. Auch dies könnte ein Indiz für eine Herkunft des Bands aus dem thüringischen Vogtland sein, wenn gerade das Fremde genannt werden sollte und nicht das quasi selbstverständliche Eigene. Ein Beweis dafür, dass der Band im Umkreis der Herren Reuß entstanden ist, ist damit allerdings bei Weitem nicht erbracht. Der Ort der Entstehung muss, solange der Bibliotheksstempel nicht identifiziert werden kann, offenbleiben.
Teil einer Pommern-Sammlung: Bibliothek Schloss Plathe
Der Sammelband trägt auf dem Rücken und im vorderen Innendeckel die Signatur III.C., IV.B.5. 33.IV.13 der Bibliothek Schloss Plathe in Pommern. Das Exlibris von Plathe (ebenfalls im vorderen Innendeckel) ist zur Hälfte vom Exlibris der BUŁ überklebt. – Ein beachtlicher Anteil der Alten Drucke in der Universitätsbibliothek Łodz stammt aus der ehemaligen Bibliothek von Schloss Plathe in Hinterpommern (heute Płoty).47 Die oft auch als „Pommersche Bibliothek“ bezeichnete Bibliothek Schloss Plathe war um 1750 vom preußischen Kammerherrn Friedrich Wilhelm von
45
Vgl. Berns, Jörg Jochen: Umrüstung der Mnemotechnik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfindung, in: ders./Neuber, Wolfgang (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400–1750, S. 41. 46 Vgl. hierzu auch Dietl, Cora: Feste und Jubiläen, in: dies. u.a. (Hg.): Religion, Reim und Regiment. Germanica der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2022, S. 68–69. 47 Vgl. Fabian, Handbuch.
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der Osten (1721–1786) angelegt worden.48 Er hatte einige literarische Werke aus Blücher’schem Besitz übernommen, die juristische Bibliothek seines Großvaters Egidius Christoph von der Osten,49 hinzu kamen die Bibliothek seiner Ehefrau Charlotte Henriette von Liebeherr50 sowie Kopien von pommerschen Handschriften aus der Sammlung ihres Vaters, die Friedrich Wilhelm für seine Bibliothek anfertigen ließ.51 Durch reiche Ankäufe und durch das eigene Verfassen von Historiografie erweiterte er die Sammlung.52 Seine Sammelschwerpunkte lagen u.a. im Bereich der pommerschen Landesgeschichte, der lutherischen Reformation und v.a. der Schriften Johannes Bugenhagens sowie im Bereich der Gelegenheitsschriften, v.a. der Leichenpredigten, die er zu Sammelbänden zusammenbinden ließ.53 Die Anlage des Sammelbands der Flugschriften zum Reformationsjubiläum würde in sein Sammelprofil passen; im frühesten erhaltenen Katalog der Bibliothek Schloss Plathe von 1756 allerdings ist der Band nicht enthalten54 und der Band ist offensichtlich früher zusammengebunden worden. Fünf Generationen lang blieb die Bibliothek Schloss Plathe im Familienbesitz und wurde stetig ausgebaut und modernisiert; Zukäufe orientierten sich an den Interessen der jeweiligen Generation, die protestantische Theologie und Pommern blieben aber Sammlungsschwerpunkte. Der letzte Besitzer der Bibliothek Schloss Plathe war Karl Graf von Bismarck-Osten (1874–1952), ein Großneffe des Reichskanzlers Otto von Bismarck. In den 1930er Jahren erweiterte er die Sammlung der Bibliothek durch den gezielten Erwerb von Drucken aus der Reformationszeit.55 Zugleich legte er einen Zettelkatalog an, der heute online zugänglich ist.56 In ihm sind die Druckschriften in dem hier untersuchten Sammelband je einzeln aufgeführt – in der Abteilung III.C: 48
Vgl. Bismarck-Osten, Karl Graf von: Die Bücherei zu Schloss-Plathe, in: Unser Pommerland 16, 1931, S. 290–294; Starck, Paul: Die Kirchen. Die Präparanden-Anstalt. Die Schule, in: Grawitz, Artur (Hg.): Plathe in Pommern. Die Geschichte einer Deutschen Landstadt, Hamburg 1966, S. 65–100; Bismarck-Osten, Ferdinand Graf von: Die Sammlung zu Schloss Plathe und ihr Begründer Friedrich-Wilhelm von der Osten (1721–1786), in: Baltische Studien 62, 1967, S. 63–72; de Senarclens, Vanessa: Teile einer verstreuten Büchersammlung aus dem 18. Jahrhundert. Die Bibliothek Schloss Plathe und ihre Benutzer, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2018, S. 120. 49 Sie sind i.d.R. gekennzeichnet mit „E.C.V.D.O. 1683“. Vgl. Starck, Kirchen, S. 96. 50 de Senarclens, Teile, S. 125. 51 Bismarck-Osten, F., Sammlung, S. 147. 52 Starck, Kirchen, S. 95; de Senarclens, Teile, S. 119. 53 Starck, Kirchen, S. 96–98; de Senarclens, Teile, S. 123. 54 Ich danke Vanessa de Senarclens für diese Information. 55 de Senarclens, Teile, S. 126; Dietl, Bücherwege, S. 50. 56 http://www.bismarck-osten.com/zettelkatalog (20.02.2023).
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Kirchengeschichte. Die „Meditatio“, die im Inhaltsverzeichnis „Der herrn Reussen Evangelisch Jubelfest“ genannt ist, ist im Zettelkatalog zweimal aufgeführt: als „Meditatio“ und als „Jubelfest“. Damit nimmt Karl von Bismarck-Osten Rücksicht auf die Formulierung im handschriftlichen Inhaltsverzeichnis und zugleich auf den gedruckten Titel. An anderer Stelle aber greift er ins handschriftliche Inhaltsverzeichnis korrigierend ein. Die oben erwähnte jüngere Hand ist als seine Hand zu identifizieren: Er trennt die zwei Predigten Hartmanns, die der Vorbesitzer des Bands zusammen erwähnt, da sie getrennt gedruckt worden sind. Die beiden Titel sind auch im Zettelkatalog getrennt aufgeführt. Indem er die Schriften zwar einzeln im Katalog aufführt, den Sammelband aber als solchen bewahrt, erweist Karl der Sammlung innerhalb seiner Sammlung besonderen Respekt, sei es wegen der alten Bindung, sei es wegen des Werts der Zusammenstellung der Texte. Im Gegensatz zur Behandlung dieses Bands sind die von Friedrich Wilhelm von der Osten in Sammelbänden gebundenen Leichenpredigten unter Karl von Bismarck-Osten auseinandergenommen, jeweils einzeln gebunden und mit Bleistift beschriftet worden.57 Vielleicht reflektiert der Respekt gegenüber dem Sammelband auch einen Respekt gegenüber dem adeligen Haus, in dessen Besitz der Band zuvor war. Das Haus Reuß von Plauen – sollte der Band tatsächlich in einer seiner Bibliotheken aufbewahrt worden sein – trennte sich 1647 in die Linien Gera, Schleiz, Lobenstein und Saalburg; die verschiedenen Linien starben im 18. bis 19. Jahrhundert aus, was jeweils Gelegenheiten für Buchverkäufe geboten hätte.58 Die beiden prominenten Texte aus Pommern im Sammelband, v.a. die Rede des Barthold von Krakewitz, eines Sohnes Katharinas von Osten,59 wären Anlass genug gewesen, den Band in die Sammlung der Familie von Osten auf Schloss Plathe aufzunehmen, ganz abgesehen von Karl von Bismarck-Ostens besonderem Interesse an der Reformation. Am Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es Karl von Bismarck-Osten, Teile der Bibliothek vor dem Eintreffen der Roten Armee im März 1945 zu evakuieren – v.a. Urkunden, Karten, Gemälde und Handschriften.60 Die größten Teile der Bibliothek, nämlich die gedruckten Bücher, verblieben in Plathe. Im Herbst wurden sie von den polnischen Behörden „sichergestellt“. Ein Teil von ihnen gelangte in die Universitätsbibliothek Lodz.61 57 58 59
Vgl. Dietl, Leichenpredigten. Vgl. Gehrlein, Thomas: Das Haus Reuß. 2 Bde., Werl 2015. Vgl. Pyl, Theodor: Krakewitz, Barthold von, in: Allgemeine Deutsche Biographie 17, 1883, S. 25. 60 Bismarck-Osten, F., Sammlung, S. 70; de Senarclens, Teile, S. 126. 61 Fabian, Handbuch.
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Das derzeitige Ende einer Buchwanderung
Der Sammelband ist zwar aus verschiedenen Ländern zusammengetragen, aber seine thematische Einheit wurde als so stark empfunden, dass die Integrität der Sammlung bei mindestens zweimaligen Besitzerwechsel bewahrt worden ist. Andere Sammelbände wurden im 19./20. Jahrhundert auseinandergenommen, dieser aber blieb erhalten, auch wenn die Bibliothekskataloge in Lodz und Plathe die Einzelteile des Bands separat aufführen. Mit der Aufnahme in die Sammlung der Alten Drucke in der UB Lodz steht der Band jetzt in einem neuen Sammlungskontext, der seitens der Institution weder adelig noch protestantisch ist, der aber aufgrund der Zufälle der Zusammenstellung der Sammlung durchaus in sich schlüssig ist. Literaturverzeichnis
Frühdrucke und Textausgaben
Adolphi, Christopherus: Jubilæi Evangelici Auspicatoria, Oder / Evangelischen Jubeljahrs Einleitungs Predigt: Auß dem LVII. Psalm: Gehalten / zu Franckenthal am 1. November Anno M.DC.XVII. Frankfurt: Jonas Rosa 1617 (VD17 1:075021X). Angelocrator, Daniel: Zwo Predigten / In dem auß Christlicher Freyheit beliebten vnd angestelten Jubel-Jahr / nach Christi Geburt 1617. zu Marpurg gehalten / Eine auff den Bethtag am 3. Januarii / auß dem 26. Cap. Jeremiæ / Zur Warnung vnd Besserung / Ob gleich 100. Jahr das Reich Gottes in vielen Landen durchs Evangelium gepredigt vnd erbauwet / daß dannoch Gott an kein Volck oder Ort mit seinem Wort gebunden sey. Die Ander / Sontags am 2. Novembris / auß dem 66. Psalm zur Dancksagung / daß Gott durch die Evangelische Hall-Jahrs Posaune einen Sieg nach dem andern gegeben hat / vnd ferner vmb Beystandt zu bitten. Marburg: Johannes Saur 1617 (VD17 1:075062F). Braun, Hartmann: Martinvs Lvther Angelvs Dei. Oder Lvther / Der allenthalben Wolbekanter schöner Evangelischer fliegender Engel. Beschrieben Apoc. 14. vers. 6. Gießen: Kaspar Chemlin 1618 (VD17 12:120743C). Ders.: Seclvm Claræ Lvcis Evangelicæ, Oder / Das gnädige IvbelIahr / Deß gereinigten Evangelii. [s.l.]: [s.n.] 1617 (VD17 12:120741N). Clauder, Joseph: Oratio Secvlaris De Inculta Et Horrida Superioris Pontificiæ; Excvl taqve & floridâ nostræ Lutheranæ ætatis Latinitate: recitata in schola Altenbvrgensi prid. Non. Novemb. Anno Christi MDCXVII. Altenburg: Johann Grosse 1618 (VD17 12:139734W). Cramer, Daniel: Feyrliche Begängnus des Hochpreißlichen Ersten Evangelischen JubelJahres / wie dasselbe Auff des Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd
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Herrn Herrn Philippi II. Hertzogen zu Stettin Pommren / etc. vnsers gnedigen Fürsten vnd Herrn / gnedigen Befehl vnd Christliche Anordnung / in I. F. G. HäuptStadt zu Alten Stettin (wie dann auch nichts minder im gantzen Lande) gehalten worden […]. Alten Stettin: Samuel Kellner 1617 (VD17 23:635101Q). Eckhard, Heinrich: Drey FestPredigten / Deren die Eine Von der Witwenschafft der Kirchen Gottes in Vorjahren; vnd vom fall des Römischen Babels handelt. Die Andere Erhebliche Motiven anzeiget / warumb das Euangelische häufflein sich von dem Bapstumb abgesondert habe. Die Dritte Berichtet / auß was vrsachen alle fromme hertzen der Evangelischen Lutherischen Lehre günstig seyn sollen. In wehrendem Evangelischen JubelFest / theils in der Fürstl. Schloß- theils in beyden StadtKirchen zu Altenburg den 31. Octob. 1. vnd 2. Novemb. des 1617. Jahrs gehalten / Vnd Sampt der Instruction, beneben einem Indice Chronologico etlicher denckwürdigen vnd mehrertheils zum Religionswesen gehörigen händel des nechstabgewiechenen Seculi in Druck verfertiget Altenburg in Meißen: Henning Grosse 1618 (VD17 12:207509N). Grawer, Albert: Zwo Christliche Predigten Von der recht Göttlichen Reformation D. Martini Lutheri, vnd zugleich von dem Zustande der Kirchen vor derselben Reformation vnter dem Bapstumb. Jena: Heinrich Rauchmaul 1614 (VD17 23:245254V). HundertJähriges Historisches ZeitRegister / Der Evangelischen JubelFrewde / Entgegen gesetzt Deß Meyntzischen Jesuwiders schimpfflichen Jubiliren. Erstlich Durch die Schüler der ChurPfältzischen Schulen zu Newhauß in Lateinischer Sprach beschrieben / Itzt aber In Deutsche Sprach vbergesetzt vnd Nachgedruckt. Berlin: Georg Runge 1618 (VD17 23:274660Y). Krakewitz, Barthold von: Oratio Secularis De Quatuor Insignibus Dei Beneficiis, In Ecclesiam Et Scholas, Seculo Evangelico Superiori, Collatis. Greifswald: Hans Witte und Lorenz Segebald 1617 (VD17 3:600620R). Magirus, Tobias: Ad Sacra Votiva Deo ter Optimo Maximo, pro luce sui Evangelii ê tenebris Papisticis ante seculum per Martinvm Lvthervm primùm in Germania eruta, Serenissimi Principis Electoris Brandenburgici assensu ac voluntate gratis animis publicè persolvenda. Frankfurt/Oder: Friedrich Hartmann 1617. Mediatio pia ivbilæi Lvtherani. Evangelisches Jubelfest. Wie solches auff gnädigen Befehlich vnd Verordnung Derer Wolgebornen gesampten Herrn Reussen / Herrn von Plawen / Herrn zu Gräitz / Crannichfeldt / Gera / Schläitz vnd Lobenstein. In allen deren Herrschafften Kirchen / auff den 31. Octobr. 1. vnd 2. Novembr. dieses 1617. Jahrs angestellet. Vnnd zu Christlicher Nachfolge anderer reinen Lutherischen Kirchen / mit Erklärung vnd Abhandlung Göttliches Worts / Christlichen Lobgesängen / Gebetlein / vnd andern Ceremonien abgefeyret werden soll. Gera: Johann Spies 1617 (VD17 3:312276C). Philipp II. von Pommern-Stettin: Unsere von Gottes gnaden Philipsen / Hertzogen zu Stettin Pommern […] Bevehl vnnd Ordnung/ welcher gestalt in unsern
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Fürstenthümern unnd Landen / das Christliche Evangelische Jubilæum sol gehalten / vnnd begangen werden. Alten Stettin: Kellner 1617 (VD17 3:600618V). Ritter, Maximilian: Jubilæum Lutheranum, Das ist: Lutherisches JubelJahr / Von heiligem Leben vnd heilsamer Lehr / weiland deß Ehrwürdigen vnd Hocherleuchten Herrn Doctoris Martini Lutheri, gottseliger Gedächtnis / aus sein eigen Tomis vnd andern Schrifften ordentlich zusammen bracht. Gießen: Kaspar Chemlin 1618 (VD17 12:120745T). Schleupner, Christoph: Vier Predigten / Vom Steigen vnd Fallen Des Papsts zu Rom / Auch was bey jetzigem zustand der Päbstischen Religion zu besorgen. Am Evangelischen JubelFest zu Beyreuth gehalten / Anno 1617. Leipzig: Abraham Lamberg und Caspar Klosemann 1618 (VD17 1:072707E). Scultetus, Abraham: Evangelische JubelJahrs Predig: Zu Heidelberg den 2. Novembris Anno 1617. in der Kirchen zum H. Geist gehalten. Amberg: Johann Schönfeld 1618 (VD17 39:130617M). Ders.: Newe Jahrs Predigt: Das ist / Historischer Bericht / wie wunderbarlich Gott der Herr die verschienene hundert Jahr, seine Kirche reformirt, regiert / vnd biß daher erhalten. Amberg: Johann Schönfeld 1617 (VD17 23:635970W).
Forschungsliteratur
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Cora Dietl
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Das Buch und seine (weiteren) Leben
Die Wanderung eines Buches aus der Lodzer Universitätsbibliothek (Wittenberg, Stettin, Friedrichswalde, Lassehne, Landeshut, Lodz) 1599–1945 Tomasz Ososiński Abstract Die 1945 gegründete Lodzer Universitätsbibliothek besitzt heute etwa 28.000 alte Stücke, darunter 21 Inkunabeln. Die meisten Bestände kamen direkt nach dem Krieg in Lodz an, aus den ehemaligen deutschen Sammlungen aus Preußen, Pommern und Schlesien. Aus den pommerschen Gebieten kam eine sehr interessante Privatsammlung hinzu: die Bibliothek von Peter Kameke (1541–1614), die sich ursprünglich in der kleinen Kirche in Lassehne (Łasin) befand. Ein Buch aus dieser Sammlung wird in diesem Beitrag auf seine Provenienzen hin geprüft und seine Wanderung durch verschiedene Bibliotheken im Laufe der Jahrhunderte rekonstruiert. Dabei wird überlegt, welche unterschiedlichen Funktionen das Buch in verschiedenen Epochen erfüllte.
Die Lodzer Universitätsbibliothek
Nach dem Krieg stand die polnische Regierung vor der riesigen Aufgabe, das polnische Bibliothekswesen neu zu organisieren.1 Polen erlitt auf diesem Gebiet sehr schwere Verluste: Viele polnische Bestände wurden vernichtet, vor allem die Bibliotheken in Warschau wurden von den Deutschen fast vollständig niedergebrannt. So verlor u.a. die polnische Nationalbibliothek fast alle alten Bestände. Gleichzeitig gab es auf dem neuen polnischen Territorium nach 1945 viele Bücher, die zurückgelassen waren, ohne klare Besitzer. Diese Sammlungen mussten davor bewahrt werden, in alle Himmelsrichtungen verstreut zu werden. Es ging um die Bücher aus verschiedenen polnischen Privatbibliotheken und deutschen Sammlungen, die sich nach dem Krieg auf einmal in den polnischen Gebieten befanden. Diese „verlassenen und verstoßenen
1 Vgl. Mężyński, Andrzej: Z dziejów bibliotek w Polsce. Od średniowiecza do 1989 roku, Warszawa, 2017; Nowicki, Ryszard: Zabezpieczanie księgozbiorów po II wojnie światowej w Polsce, w: Napis Seria XI 2005, https://rcin.org.pl/ibl/Content/56550/PDF/WA248_68660_PI-2795_nowicki-zabezpiecz.pdf. (10.3.2023).
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_009
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Tomasz Ososiński
Güter“ (mienie opuszczone i porzucone2) stellte man zunächst vor Ort sicher, um sie dann in den Jahren 1947–1949 an größeren Lagerstellen (solche befanden sich in Katowice, Gdańsk, Poznań, Kraków, Szczecin und Wrocław) zu versammeln und von da an verschiedenen Bibliotheken in Polen zu übergeben, die über die erforderlichen Aufbewahrungsmöglichkeiten verfügten. Auf die Weise kamen auch viele Bücherbestände nach Lodz. Die Lodzer Universität wurde 1945 gegründet und bedurfte einer eigenen Bibliothek. Diese wurde anhand der übernommenen Bestände geschaffen. Für viele Bücher, besonders für die deutschsprachigen, interessierte man sich aber in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg kaum. Und das obwohl sich darunter sehr bedeutsame Stücke befanden, z.B. viele Inkunabeln und wertvolle Ausgaben aus dem 16. Jahrhundert, die später schon aus bibliographischen Gründen Interesse erweckten (besonders interessierten sich die Forscher seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts dafür). Darüber hinaus enthalten sie oft interessante Provenienzen und können auch als Material zur Forschung dienen, welche unterschiedliche Rollen die Bücher im Laufe der Jahrhunderte spielten. Die Lodzer Universitätsbibliothek besitzt heute etwa 28.000 alte Stücke, darunter 21 Inkunabeln. Die meisten Bestände kamen direkt nach dem Krieg an. Schon im Juni 1945, nachdem man eine entsprechende Erlaubnis vom Bildungsministerium bekommen hatte, begann man aus verschiedenen Orten in Pommern und Schlesien Bücher direkt nach Lodz zu bringen. So beförderte man nach Lodz die Bestände der Bibliothek der Familie Bismarck-Osten aus Plathe/Płoty (13.000 Stücke), des Grafen Hochberg aus Hochweiler/Wierzchowice, der Bibliothek aus Radem/Radzim (12.000 Stücke), aus Altmarrin/ Mierzyn (100.000 Stücke), aus Parsow/Parsow, Sommerfeld/Lubsko (1139 Stücke), Köslin/Koszalin, Küstrin/Kostrzyn, Hirschberg/Jelenia Góra, Leobschütz/ Głubczyce und Breslau/Wrocław. Auf verschiedenen Wegen kamen die Bücher aus den ehemaligen deutschen Sammlungen aus Preußen (Gymnasiumsbibliothek zu Königsberg, Stadtbücherei Elbing), Pommern (Stadtbibliothek Stettin) und Schlesien (Freistandesherrliche Majorats-Bibliothek zu Warmbrunn, Majorats-Bibliothek zu Carolath, Königliche Katholische Gymnasiumsbibliothek Groß-Glogau) nach Lodz. Es fanden sich in Lodz auch Bände aus der Preußischen Staatsbibliothek Berlin (die am Ende des Krieges von den Deutschen teilweise nach Schlesien ausgelagert wurde) und aus der Stadtbibliothek Berlin. 2 Nowicki, Zabezpieczanie, S. 278.
Das Buch und seine (weiteren) Leben
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Ein bedeutender Teil stammte aus den ehemaligen polnischen Bibliotheken, die nach 1945 sichergestellt wurden: der Familien Czartoryski, Potocki, Sanguszko, Taczanowski, Zamoyski u.a. Es ging um Adelsbibliotheken, die nach dem Krieg nicht mehr den vorherigen Besitzern gehören konnten. Schließlich gab es viele Bände aus ehemaligen Klosterbibliotheken. Aus diesen drei Quellen (Kloster-, Adels- oder ehemalige deutsche Bibliotheken) kamen jeweils unterschiedliche Bücher. Aus den Klosterbibliotheken stammen vorwiegend theologische Bücher, meistens lateinisch, aus den polnischen Adelsbibliotheken französische und polnische Literatur, aus den ehemaligen deutschen hauptsächlich deutsche und lateinische Werke. Die meisten alten Drucke in der Universitätsbibliothek in Lodz sind deutschsprachig und auch die deutschen Provenienzen sind am häufigsten. Insgesamt kann man nur etwa ein Fünftel der Bestände als Polonica bezeichnen und nur 2500 Bände stammen aus polnischen Druckereien. Es gibt darunter aber wichtige Ausgaben von Jan Haller, Hieronim Wietor oder Maciej Wirzbięta.3
Die Bibliothek von Peter Kameke
Aus den pommerschen Gebieten kam eine sehr interessante Privatsammlung nach Lodz: die Bibliothek von Peter Kameke (1541–1614). Die Bestände befanden sich ursprünglich in der kleinen Kirche in Lassehne (heute: Łasin), wo Kameke um 1600 eine Art Familienmausoleum mit einer Büchersammlung einrichtete. Nach Lodz gelangten die Bücher aller Wahrscheinlichkeit nach nicht direkt, sondern über andere Bibliotheken und Lagerstellen (infrage kommt hier vor allem die Bibliothek in Landeshut, heute: Kamienna Góra). Der Besitzer der
3 Zu der Geschichte und den wichtigsten Beständen der Universitätsbibliothek in Lodz vgl.: Bartnik, Dorota/Piestrzyński, Tomasz: Historia Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego. Między tradycją a nowoczesnością [Zwischen Tradition und Modernität. Zur Geschichte der Universitätsbibliothek in Lodz], in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Nieznane skarby. Germanika XVI-wieczne w zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego [Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź], Łódź 2018, S. 29–60. Vgl. auch: Dylik, Zygmunt S.: Biblioteka Uniwersytecka w Łodzi w pierwszym okresie istnienia, in: Życie Szkoły Wyższej 7–8, 1980, S. 99–110; Andrzejewski, Jerzy: Piśmiennictwo niemieckie w zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego, in: BIBIK Biuletyn Informacji Bibliotecznych i Kulturalnych Wojewódzkiej i Miejskiej Biblioteki Publicznej w Łodzi, 4/32, 2005, S. 4–5. skany.wbp.lodz.pl/pliki/bibik/bibik_32/bibik_32.pdf (3.3.2022).
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Tomasz Ososiński
Sammlung, Peter Kameke (Kamecke, Kamke),4 war ein pommerscher Adliger5 und Berater der Herzöge von Pommern. Er entstammte einer alten pommerschen Familie und hielt sich seit seiner Jugend am Hofe der pommerschen Herzöge auf. Er bekleidete in Pommern verschiedene Ämter, war u.a. Oberhofmarschall, Geheimer Rat, Hofkämmerer und Schlosshauptmann,6 reiste aber auch viel herum: Er besuchte Dänemark, Frankreich, England, die Türkei, Italien und war auch in Palästina. Die genauen Daten der Reisen sind schwer zu rekonstruieren. In Palästina war er wahrscheinlich zwischen 1574 und 1578 und besuchte damals Jerusalem, Bethlehem und reiste entlang des Flusses Jordan.7 Es ging teilweise um diplomatische Missionen, teilweise um Bildungsreisen, die damals genauso wichtig wie die Universitätsbildung waren und für Prestige sorgten. So bediente sich Kameke noch viel später der Symbole, die seine Palästina-Reise bezeugten: Auf der Grabplatte, die er kurz vor dem Tod machen ließ, finden sich das Jerusalemer Kreuz und ein halbes Rad mit dem Schwert – ein Zeugnis, dass er Jerusalem und die Katarinenkapelle in Bethlehem besuchte (diejenigen, die den Sinai erreichten, hatten das Recht auf das volle Rad mit einem goldenen Schwert). Von der Wichtigkeit der PalästinaReisen zeugt auch die Tatsache, dass in dem relativ kurzen Lobgedicht auf Kameke, das von Johann Luder verfasst wurde, diesen – Luder spricht von dem 4 Zum Lebenslauf von Peter Kameke vgl.: Ososiński, Tomasz: Peter Kameke i jego księgozbiór (Peter Kameke und seine Bibliothek), in: Dietl/Kubisiak, Nieznane skarby, S. 147–172; Kameke-Cratzig, Fritz von: Beiträge zur Geschichte der Familie von Kameke, Köslin 1892; Kościelna, Joanna: Peter Kamecke. Digitalversion http://www.pomeranica.pl/wiki/Peter_ Kamecke (5.10.2022); Kościelna, Joanna: Pomorzanie w Ziemi Świętej (do końca XVI w.). Rekonesans badawczy, in: Stargardia 10, 2015, S. 131–148.; Jestrzemski, Dagmar: Katharina von Alexandrien, die Kreuzritter und ihre Heilige, Berlin 2010. 5 Zur Familiengeschichte von Kameke vgl.: Simiński, Rafał: Kontakte der Familie von Kameke mit dem Deutschen Orden in Preußen um die Wende vom 14. bis zum 15. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Funktionierung der Ritterelite des Herzogtums Pommern-Stolp im Grenzraum von Pommern und dem Deutschordensstaat, in: Studia Maritima 26, 2013, S. 5–28; KamekeCratzig, Beiträge; Zedlitz-Neukirch, Leopold Freiherr von: Neues preußisches Adels-Lexicon: oder genealogische und diplomatische Nachrichten von den in der preußischen Monarchie ansässigen oder zu derselben in Beziehung stehenden fürstlichen, gräflichen, freiherrlichen und adeligen Häusern, Bd. 3, Leipzig 1837, S. 64–67; Rymar, Edward: W krainie cystersów i rodu Kamyków, czyli teren gminy Będzino w wiekach średnich (do XVI wieku), in: Chludziński, Andrzej (Hg.): Gmina Będzino. Z dziejów dawnych i nowych, Pruszcz Gdański 2009; Sauer, Eberhard: Der Adel während der Besiedlung Ostpommerns (der Länder Kolberg, Belgard, Schlawe, Stolp) 1250–1350, Stettin 1939; Berghaus, Heinrich: Kurze Nachrichten über das Geschlecht von Kameke, in: ders. (Hg.): Landbuch des Herzogtums Pommern und des Fürstentums Rügen, Bd. 1, Anklam 1867, S. 572–576. 6 Kameke-Cratzig, Beiträge, S. 44. 7 Kościelna, Joanna: Pomorzanie, S. 137.
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zweimaligen Aufenthalt – ziemlich viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde („… hic quia non aulae saltem … deditus … fuit, sed veterem Syriam sacra bis monumenta locorum reliquias Solymum lustrat …“ [dieser war nicht am Hof tätig, sondern besichtigte zwei Mal das alte Syrien und die heiligen Denkmäler von Jerusalem]).8 Das Jerusalemer Kreuz finden wir auch in den Notizen Kamekes, die er in seinen Büchern machte.9 Für seine Dienste als Berater wurde er von den Herzögen, vor allem von Herzog Johann Friedrich (1542–1600), dem er recht nahestand, oft beschenkt, so dass sich in seiner Hand mit der Zeit eine Reihe von Gütern ansammelte. Seine guten Kontakte mit dem Herzog bestätigen zeitgenössische Historiker: Joachim von Wedel und Johann Micraelius nennen ihn einstimmig sogar das herzogliche Faktotum.10 Der Herzog hatte sich angeblich auf Kamekes Anraten um 1583 in Friedrichswalde (Polesie) ein Jagdschloss bauen lassen, das eine seiner liebsten Residenzen wurde, in der er auch diplomatische Treffen abzuhalten pflegte.11 Von den vielen Gütern, die Kameke besaß, war ihm das Familiengut Lassehne das liebste. Hier richtete er als der letzte Spross des Geschlechts lange vor seinem Ableben eine Art Familien-mausoleum ein. Schon gegen 1600 ließ er die Lassehner Kirche renovieren und darin einen neuen Barockaltar bauen. 1611 erfolgte eine weitere Verschönerung. In dem Kircheninventar aus diesem Jahr ist zu lesen, dass sich über der Stifterloge ein Porträt von Herzog Johann Friedrich befand, daneben ein Porträt von Luther und eine Genealogie der pommerschen Herzöge und auf der gegenüberliegenden Wand Porträts von Herzogin Erdmute, der Frau von Johann Friedrich, und von Melanchthon hingen. Im Laufe der Zeit scheint Kameke auch der Kirche seine Büchersammlung übergeben zu haben, was wahrscheinlich auch als eine Art Verschönerung der Ausstattung galt. In den letzten Jahren seines Lebens ließ er auch ein Gewölbe unter der Kirche errichten, dessen Eingang sich neben dem Altar befand. 1613 ließ er seine Grabplatte gießen und sie in die Kirche hängen. Außerdem befand
8
Das Gedicht befindet sich auf dem gedruckten Schenkungsexlibris Kamekes, von dem noch die Rede sein wird. 9 Ososiński, Peter Kameke, S. 161. 10 Micraelius, Johannes: Johannis Micraelii Antiquitates Pomeraniae, Oder Sechs Bücher Vom Alten Pommerlande (…), Stettin-Leipzig 1723., S. 352. 11 Wedel, Joachim von: Hausbuch des Herrn Joachim von Wedel auf Krempzow Schloss und Blumberg erbgesessen (…), hg. von Julius von Bohlen, Tübingen 1883, S. 291; vgl. auch Kościelna, Joanna: Z dziejów rezydencji myśliwskiej księcia Jana Fryderyka w Podlesiu (Friedrichswalde), in: Stargardia IX, 2014, S. 128.
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sich in der Kirche ein steinernes Grabdenkmal von seinen Eltern.12 In der Kirche wurde schließlich 1615 auch er selbst begraben.13 Die Bücher, die er sammelte und die zunächst an verschiedenen Orten aufbewahrt wurden,14 kamen auch mit der Zeit nach Lassehne. Diese Wanderungen kann man teilweise anhand von Provenienzen verfolgen. Die nach Lassehne übergebenen Bücher versah Kameke mit eigenhändigen Einträgen und später mit den gedruckten Exlibris.15
Provenienzmerkmale der Bücher
Diese Sammlung besaß jedoch auch andere Provenienzmerkmale, von denen hier vor allem die Einbände thematisiert werden müssen. Es handelt sich um Pergamentumschläge mit geprägten Initialbuchstaben: „P[eter] K[ameke] D[er] A[lte] V[on] D[er] L[assen]“, versehen mit einem Jahresdatum. Der älteste dieser Einbände stammt aus dem Jahr 1603, daher ist es nicht ausgeschlossen, dass gerade in diesem Jahr, aus dem auch die gedruckte Schenkungsurkunde für die Lassehner Kirche stammt, eine einheitliche Bindung der Büchersammlung begann. Kameke starb 1614 und die Büchersammlung verblieb vermutlich noch für lange Zeit in dem Familienmausoleum in Lassehne. Schon bevor sie 1945 endgültig zu existieren aufhörte, wurden manche Bände verstreut. Ein Band Kamekes, der heute in Lodz aufbewahrt wird, die „Chronik der Geschichte von Braunschweig und Lüneburg“, befand sich schon vor dem Krieg in der Bibliothek in Landeshut (Kamienna Góra).16 Wir wissen nicht viel von diesen Wegen, es ist auch nicht bekannt, ob die Bücher Kamekes 1945 direkt aus Lassehne oder bereits aus anderen Orten nach Lodz kamen. Die Bücher Kamekes, die heute in Lodz aufbewahrt werden, sind mit Sicherheit nur ein Teil seiner Sammlung aus Lassehne. Andere Bestandteile der Büchersammlung Kamekes kamen bei antiquarischen Auktionen in Polen auf. 1993 und 2000 wurden 12 Ososiński, Peter Kameke, S. 167–168. 13 Die Kirche wurde nach 1945 abgerissen, die Grabplatte befindet sich heute in der Marienkirche in Köslin. 14 U.a. in Glien (Glinna) (Kościelna, Pomorzanie, S. 140). 15 Mehr zu den Exlibris vgl.: Ososiński, Peter Kameke, S. 154–155. 16 BUŁ 1020281–2 enthält zwei Drucke: Bünting, Heinrich, Das Ander Theil der Braunschweigischen Chronica, gehet auff das Land Lüneburg …, Magdeburg 1596 und: Engel, Andreas, Holsteinische Chronica: Darinnen ordentliche Warhaftige Beschreibung der Adelichen Geschlechter …, Wittenberg 1596.
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von der Nationalbibliothek in Warschau (die seit einigen Jahren versucht, alle auf dem Markt erscheinenden und für die polnische Kultur wichtigen Bücher zusammenzubringen) zwei Objekte, ein gedrucktes Exlibris und ein Sammelband mit zwei historischen Chroniken, erworben.17
Der Weg eines Buches
In der Lodzer Universitätsbibliothek befinden sich insgesamt über zwanzig Bände, die im Besitz von Peter Kameke waren. Darunter ist einer von den Provenienzen her besonders interessant. Unter der Signatur 1021842 wird ein in Wittenberg von Lorenz Schwenck herausgegebenes Buch, das Kirchenlieder und liturgische Texte in deutscher und lateinischer Sprache enthält, aufbewahrt: „KirchenGesenge Latinisch vnd Deudsch […] zusamen gebracht. Vnd jtzund erstlich auff diese Form im Druck ausgegangen“, Wittenberg: Lorenz Schwenck; in Verlegung Samuel Selfischs d.Ä., 1573. Der Band enthält Besitzereinträge, aufgrund derer man die Wege des Buches von der Druckerei bis zum heutigen Aufbewahrungsort weitgehend nachvollziehen kann. Informationen über ehemalige Besitzer liefert schon der Ledereinband: Auf dem Vorder- und Rückdeckel befindet sich als Plattenprägung das Wappen der Herzöge von Pommern [Abb. 8.1]. Auf dem Vorderdeckel befindet sich darüber hinaus die eigenhändige Unterschrift von Peter Kameke (oberhalb und unterhalb des Wappens) [Abb. 8.2]: „Peter Kamke Der Altte Von Der Lassen Achatii vnd krystine Borken Einziger sohn.“ Weitere Informationen über die Geschichte des Buches stehen auf dem Vorsatzblatt, aus einem handschriftlichen Dokument [Abb. 8.3] erfährt man, welcher pommerscher Herzog das Wappen auf dem Einband anbrachte. Für den 19. Februar 1599 ist die Übergabe des Bandes von Herzog Johann Friedrich an Peter Kameke bezeugt: „Der Durchleuchtig Hochgeborne Furst vnd Herr Herr Johansz Friderich Hertzog zu Stettin Pommern […] mein gnediger Furst vnd Herr Hatt […] Peter Kameken […] gegenwerttiges Kirchengesangbuch […] verehret […].“ 17
1993 hat die Nationalbibliothek bei der Auktion des Antiquariats Logos ein gedrucktes Exlibris Kamekes erworben (Sign. BN SD XVII.4.11609), im Jahre 2000 dagegen bei der Auktion von Desa Unicum ein aus Annales Marchiae Branderburgicae […] Durch M. AndreamAngelvm […], Frankfurt/Oder 1598 und Lifflendische Churlendische Chronica […] verfasset vnd gestellet Durch Salomon Henning […], Leipzig 1594 bestehendes Accedit (Sign. BN SD XVI.F.1017–1019).
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Tomasz Ososiński
Abb. 8.1
Das Wappen der Herzöge von Pommern, vorderer Einband, BUŁ 1021842.
Abb. 8.2
Die eigenhändige Unterschrift von Peter Kameke auf dem Einband (Abschnitt), BUŁ 1021842.
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Ein weiterer handschriftlicher Eintrag im Band weist darauf hin, was mit dem Buch nach dessen Übergabe an Peter Kameke im Jahre 1599 geschehen ist. Auf dem hinteren Vorsatzblatt befindet sich ein von ihm eigenhändig unterzeichnetes Dokument [Abb. 8.4], aus dem wir erfahren, dass Kameke das Buch zu Ostern, d.h. am 11. April des gleichen Jahres, der Kirche in Lassehne geschenkt hat: „[…] Will Also dies Buch zu einer Ewigen Gedechtnus in die Lassensche Kirchen auff den Altar geben haben […].“ Das Dokument wurde in dem herzoglichen Schloss in Friedrichswalde ausgestellt, wohin Kameke das Buch wahrscheinlich, nachdem er es in Stettin erhalten hatte, brachte.
Abb. 8.3 Karte hinzugefügt vor dem Titelblatt (der Text betrifft die Übergabe des Buches von Herzog Johann Friedrich an Peter Kameke), BUŁ 1021842.
Ein weiteres interessantes Provenienzzeugnis aus der Zeit ist auch das in dem Buch enthaltene Autograf von Kameke, das sich unter dem Schenkungsdokument von Ostern 1599 befindet. Da steht ein Abschnitt aus dem Trauergebet „Ach Herr sei du mein Zuversicht“, ein anderer aus dem 143. Psalm und der Vers: „O Her du sei mir armen Sunder gnedich vnd wirst nichtt mer von mir furdern als du mir geben hast etc.“
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Abb. 8.4
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Das Dokument, das die Übergabe des Buches von Kameke an die Kirche in Lassehne bezeugt, mit der eigenhändigen Unterschrift versehen, darunter das Autograf von Kameke mit dem Abschnitt des Gebetes und des Psalms, hinterer Deckel, BUŁ 1021842.
Die Schenkung wird auch durch ein anderes dem Buch beigefügtes und vor das Titelblatt gesetztes Dokument bestätigt: das gedruckte Schenkungs-Exlibris [Abb. 8.5], mit dem Kameke die meisten der nach 1603 an die Kirche von Lassehne übertragenen Bücher versah. Das in Folioformat gedruckte Exlibris enthielt die deutschsprachige Schenkungsurkunde des Besitzers und ein vom herzoglichen Beamten Johann Luder verfasstes lateinisches Lobgedicht auf Kameke, das schon erwähnt wurde. Das Exlibris gab es übrigens in mindestens zwei Versionen: mit dem Tagesdatum 10. Februar 1603 und (wohl eine spätere
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Abb. 8.5 Die gedruckte Schenkungsurkunde von Peter Kameke, die die Übergabe des Buches an die Kirche in Lassehne bezeugt, Karte hinzugefügt vor dem Titelblatt, BUŁ 1021842.
Fassung) ausschließlich mit dem Jahresdatum ohne die letzte Ziffer (160.). In dem besprochenen Buch findet sich die erste Version.18 Nach 1603 befand sich das Buch sicherlich eine Zeit lang in Lassehne. Seine weiteren Wege in den folgenden Jahrhunderten lassen sich kaum eruieren, genauso wie die Wege der ganzen Büchersammlung. Endgültig zerstreut wurde sie gegen Ende des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit, als die Kirche in Lassehne, in der die Bücher aufbewahrt waren, abgerissen wurde. Vielleicht ist auch der vorliegende Band über Landeshut nach Lodz gekommen, so wie manch andere – obwohl keine direkten Spuren darauf hinweisen. [Abb. 8.6] Der Weg des Buches ist an sich schon interessant und liefert Informationen über historische Kontexte und Ereignisse. Zwar ist das Buch keine Chronik, sondern eine Liedersammlung, doch es wurde durch seine Provenienzen zu einer Art Minichronik der pommerschen Geschichte. Außer der Geschichte dokumentieren die Provenienzen aber noch etwas anderes: die verschiedenen 18
Die zweite Version gibt es u.a. bei: BUŁ 1020259.
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Abb. 8.6 Die Wanderung des Buches: Wittenberg, Stettin, Friedrichswalde (heute: Polesie), Lassehne (heute: Łasin), Landeshut (heute: Kamienna Góra), Lodz.
Zwecke, denen das Buch diente. Denn ein Buch besitzt außer seinem Inhalt noch einen Umschlag, der oft sogar in den Vordergrund tritt und eine führende Rolle übernimmt. Er lenkt auf sich die Aufmerksamkeit der Leser und entscheidet so oft über das Schicksal des Buches, nicht die Worte, die darinstehen. So war es auch in diesem Fall. Als Kameke 1599 das Buch von Herzog Johann Friedrich von Pommern-Stettin geschenkt wurde, war das nicht so sehr eine Ermunterung zur Lektüre der Kirchenlieder, sondern vielmehr ein Zeichen der Gnade und der guten Beziehungen. Das Buch (als ein wertvolles Objekt, mit den Attributen des Herzogs ausgestattet) war also auch eine Art Staatsauszeichnung, was man heute mit einem Verdienstkreuz vergleichen könnte. Danach wurde das Buch erneut in das Familienmausoleum nach Lassehne gebracht – und dabei ging es wiederum nicht so sehr um den Inhalt (obwohl Kirchenlieder tatsächlich gut zu einer Kirche passten) als um den materiellen Wert des Druckes. Es war in dem Moment vor allem ein Artefakt, ein Element der Luxusausstattung des eigenen Raumes – wie ein Kunstwerk oder ein originelles, schwer zu erstehendes Möbel. So war es zu Lebzeiten von Kameke: Das Buch erzählte nicht nur mit den Buchstaben, d.h. mit dem Text selber, sondern nahm auch am Leben der Gesellschaft als ein materielles Objekt teil. Vielleicht waren diese Aspekte sogar wichtiger als die Lektüre. Noch drei Jahrhunderte später war es aber nicht viel anders. Als man das Buch nach dem Zweiten Weltkrieg nach Lodz brachte, ging es ja auch nicht um seinen Inhalt, sondern um seinen Status als ein Artefakt deutscher Abstammung, das in erster Linie eine gewisse geschichtliche Gerechtigkeit wiederherstellen sollte. Die Deutschen hatten während des Zweiten Weltkrieges viele polnische Bücher, z.B. in Warschau, zerstört, und deswegen mussten dann alte deutsche Bücher in die polnischen Bibliotheken gebracht werden. Gleichzeitig diente das Buch als ein wertvolles Objekt mit vielen anderen einer gewissen Legitimierung der neuen Universität in Lodz,
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die erst nach dem Krieg entstand, und erhöhte den Rang ihrer Bibliothek. Für die inhaltlichen Aspekte oder sogar die Provenienzen interessierte man sich zuerst gar nicht. Da in der neuen Bibliothek Platzmangel herrschte, wurden die Bücher nach ihrem Format in die Regale gestellt. Es fehlte auch an kompetentem Personal, weshalb die Bücher erst allmählich signiert und katalogisiert wurden. Und die deutschen Drucke waren nach dem Krieg auch nicht von großer Wichtigkeit.19 Das Buch wanderte also als Prunkgegenstand von einem Ort zum anderen. Und vielleicht ist es auch kein Zufall, dass das Buch aus dem herzoglichen Besitz in die Bibliothek eines Adligen kam, um schließlich in einer Universitätsbibliothek zu landen. Denn der materielle Wert des Buches wurde mit der Zeit immer geringer. Und die Rolle, die das Buch in der Gesellschaft spielte, wurde dementsprechend immer kleiner. Der Anteil des Buches an den menschlichen Geschäften war nach 1945 überhaupt nicht vergleichbar mit der Bedeutung, die ihm um 1600 Peter Kameke zugemessen hatte. Nach dem geschäftigen Leben steht es heute in den Regalen der Bibliothekmagazine, die für es eine Art Altersheim bedeuten, und kaum jemand interessiert sich für sein jetziges Schicksal. Geht man aber auf es ein, kann es richtig ins Erzählen kommen: spannende Geschichte und unbekannte Tatsachen. Literaturverzeichnis Andrzejewski, Jerzy: Piśmiennictwo niemieckie w zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego, in: BIBIK Biuletyn Informacji Bibliotecznych i Kulturalnych Wojewódzkiej i Miejskiej Biblioteki Publicznej w Łodzi 4/32, 2005, S. 4–5. skany.wbp.lodz.pl/ pliki/bibik/bibik_32/bibik_32.pdf (3.3.2022). Bartnik. Dorota/Piestrzyński, Tomasz: Historia Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego. Między tradycją a nowoczesnością [Zwischen Tradition und Modernität. Zur Geschichte der Universitätsbibliothek in Lodz], in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Nieznane skarby. Germanika XVI-wieczne w zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego [Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź], Łódź 2018, S. 29–60. 19 Jabłkowska, Joanna: Garść wspomnień. O początkach projektu [Erinnerungen. Die Vorgeschichte des Projekts], in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Nieznane skarby. Germanika XVI-wieczne w zbiorach Biblioteki Uniwersytetu Łódzkiego [Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź], Łódź 2018, S. 24–25.
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Die Frage nach der Nützlichkeit der nach 1945 gesicherten deutschen Buchbestände am Beispiel der Bibliotheken der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń Wiesław Sieradzan Abstract Gegenstand dieses Beitrags ist die Frage nach der Nützlichkeit der ehemaligen deutschen Büchersammlungen, die infolge der Sicherungsmaßnahmen auf den Gebieten des ehemaligen Vor- und Hinterpommerns und Ostpreußens nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bibliotheken der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń gelangt sind. Diese Maßnahmen, in deren Rahmen die deutschen Bücher massenweise in geordneter Form herbeigeschafft wurden, begannen 1945 und wurden Anfang der 1950er Jahre abgeschlossen. Sie führten zur Schaffung eines bedeutenden Teils der organisierten Sammlungen, die für die 1945 gegründete Nikolaus-Kopernikus-Universität so dringend benötigt wurden. Aufgrund ihrer Eigenart und vor allem der Sprache konnten sie einerseits zwar Lücken in der polnischen Literatur nicht ausfüllen, trugen aber andererseits auf dem Gebiet vieler wissenschaftlicher Disziplinen zur Schaffung von äußerst wertvollen Grundlagen im Bereich der Forschung und Didaktik bei. Aufgrund des aktuellen Forschungsstandes verweise ich auf die Vorteile, die sich aus dem Zugang zu den oben genannten, gesicherten Buchbeständen im Bereich der Geschichts- und Germanistikforschungen ergeben, wie auch auf eine Art Unbrauchbarkeit dieser Büchersammlungen.
Materielle Grundlage der im Titel dieses Beitrags umrissenen Fragestellung bildet hauptsächlich die durchgeführte Recherche zur Geschichte der Bibliotheken des Instituts für Geschichte und Archivkunde sowie des Lehrstuhls für Germanistik an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń. Auf andere Bibliotheksbestände dieser Universität wird hierbei aufgrund des langsamen Forschungsfortschritts nur noch fragmentarisch eingegangen. Der Ausgangspunkt zur Beantwortung der Frage, ob diese aus Deutschland kommenden Bibliotheksbestände nützlich waren oder nicht, muss die Erinnerung an die offensichtliche und zum größten Teil bereits erforschte Problematik der Verluste polnischer Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg sein. Diese Verluste waren riesig und wurden allein in Bezug auf wissenschaftliche und Fachbibliotheken
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_010
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auf über fünf Millionen Bände geschätzt.1 Nicht zu vergessen sind auch Verluste an Büchersammlungen infolge der Einbuße des Ostteils des polnischen Territoriums an die UdSSR, die nur teilweise zurückgewonnen werden konnte.2 Unter diesen Umständen war nach dem Krieg das Auffüllen der Bibliotheksregale mit beliebigen Beständen von grundlegender Bedeutung und unerlässlich für das wiederauflebende Bildungswesen und wissenschaftliche Einrichtungen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, ist es erwähnenswert, dass trotz Schwierigkeiten in der Nachkriegszeit viele neue Universitäten gegründet wurden (Toruń, Łódź, Lublin, Wrocław), in denen meistens der Aufbau von Buchbeständen von Grund auf erforderlich war. Die früher in der Zweiten Polnischen Republik (1918–1939) bestehenden Universitäten, Institute, Museen und Bibliotheken erlitten große Verluste, insbesondere die in Warschau. Es ist somit nicht verwunderlich, dass der angenommene Grundsatz, wonach alle Büchersammlungen innerhalb der von den Alliierten auf der Potsdamer Konferenz in August 1945 festgesetzten Grenzen in das Eigentum des polnischen Staates zu übernehmen seien, eine Notwendigkeit war, obwohl für die ehemaligen Eigentümer sicherlich schmerzhaft.3 Vermutlich war man sich auch darüber im Klaren, dass ein großer Teil der neuen Buchbestände kein angemessener Gegenwert für die erlittenen Verluste darstellte. Die polnischen Behörden versuchten auch auf verschiedene Art und Weise die während des Krieges aus Polen geraubten Bücher wiederzugewinnen. Ihre Rückforderung ist noch nicht abgeschlossen, aber es ist auch schwer, die Tatsache zu übersehen, dass es eigentumsrechtliche Probleme gibt, z.B. in Bezug auf die sogenannten Berlinka bzw. Greifswalder oder Königsberger Sammlungen, die während und nach dem Krieg auf polischen Territorium verlagert wurden. 1 Mężyński, Andrzej (Hg.): Straty bibliotek w czasie II wojny światowej w granicach Polski z 1945 r. Wstępny raport o stanie wiedzy, Teil 1–3, Warszawa 1994. 2 Wróbel-Lipowa, Krystyna: Dobra polskie kultury narodowej otrzymane z ZSRR w latach 1945–1956, in: Rocznik Lubelski 25/26, 1983/1984, S. 158–166. 3 In den Ostgebieten, die bereits vom PKWN (Polnisches Komitee für Nationale Befreiung) verwaltet wurden, wurde schon 1944 eine organisierte Aktion zum Schutz der Büchersammlungen vorgenommen. Siehe: Okólnik Resortu Oświaty w sprawie zabezpieczania bibliotek i zbiorów bibliotecznych [Rundschreiben des Bildungsministeriums zur Sicherung von Bibliotheken und Bibliotheksbeständen], Nr. Bbl. IV-W-2195/44, Lublin, 29.11.1944, Amtsblatt des Ministeriums für Volksbildung, 1944, Nr. 1–4, Pos. 32. Die Eigentumsfrage wurde durch den Erlass vom 8. März 1946 über verlassene und ehemals deutsche Landgüter im Art. 2, Ziff. 1 entschieden. Sämtliches Vermögen des Deutschen Reiches und der ehemaligen Freien Stadt Danzig sowie der Staatsbürger des Deutschen Reiches und der ehemaligen Freien Stadt Danzig bis auf Personen polnischer oder anderer Staatsangehörigkeit, die von Deutschen verfolgt wurden, wurde kraft Gesetzes Eigentum der polnischen Staatsfinanzen(https://www.prawo.pl/akty/dz-u-1946-13-87,16778983.html).
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Bei den nach oder am Ende des Krieges neu gegründeten polnischen Universitäten, wie Toruń, Łódź, Lublin, Wrocław, müssen daher der Besitz und die Nutzung von nach 1945 zerstreuten Buchbeständen als unabdingbare Voraussetzung für deren Existenz und Funktionstüchtigkeit angesehen werden. Die Anfänge der Toruńer Alma Mater waren sehr schwierig. Der berühmte Mediävist Prof. Karol Górski schrieb in seine Autobiografie, dass „die Universität aus dem Nichts entstand“4, und der erste Rektor der NikolausKopernikus-Universität, Prof. Ludwik Kolankowski, beschrieb ihre Anfänge als „hoffnungslos“.5 Der Erlass des Ministerrates vom 24. Juli 1945 über die Gründung der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń sah eine Lehranstalt mit zwei Fakultäten vor, und zwar der geisteswissenschaftlichen (zusammen mit der Abteilung für Bildende Künste) und der mathematischnaturwissenschaftlichen. Bald führten Bemühungen der Behörden der neuen Universität zur Gründung am 5. November 1945 der Fakultät für Jura und Wirtschaft und dann, am 24. Januar 1946, zur Umwandlung der Abteilung für Bildende Künste in eine eigenständige Fakultät für Bildende Künste. Für eine so strukturierte Universität mussten nun Buchbestände für die Hauptbibliothek und zahlreiche Lehrstuhlbibliotheken beschafft werden, was zum großen Teil Erkundungsreisen von Forschern und Bibliothekaren in die Gebiete des ehemaligen Ost- und Westpreußens und sogar nach Hinterpommern erforderlich machte.6 Einer der Hauptforscher war Jerzy Serczyk, der 2004 seine Erinnerungen zu diesem Thema auf Deutsch verfasste.7 Es waren aber auch andere Protagonisten involviert, wie Leonid Żytkowicz, Józef Mossakowski, Kazimierz Ślaski, Henryk Baranowski, aber auch Irena Janosz-Biskupowa, Wacław Odyniec und Karol Górski sowie Tadeusz Grudziński. Der Prozess der Sicherung der verfallenden, ehemaligen deutschen Sammlungen und ihrer Verbringung an Forschungs-, Bibliotheks- und Museumszentren war, wie bekannt, keine spontane Aktivität, 4 Górski, Karol: Autobiografia naukowa, in: Sieradzan, Wiesław (Hg.): Homines et Historia, Toruń 2003, S. 75f. 5 Sieradzan, Wiesław: Ludwik Kolankowski 1882–1956. W pięćdziesiątą rocznicę śmierci, Toruń 2006, S. 55. 6 Sieradzan, Wiesław: Książki Bernharda Schmida (1872–1947) w Bibliotece Instytutu Historii i Archiwistyki Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, in: Folia Toruniensia 9–10, 2009– 2010, S. 61; Szturo, Grzegorz: Księgozbiory poniemieckie w powiecie morąskim w latach 1945–1947. Sprawozdania z archiwum Biblioteki Uniwersyteckiej w Toruniu, in: Okolice Ostródy Nr.? 2013, S. 93–104. 7 Serczyk, Jerzy: Suche nach Büchern im ehemaligen Süd-Ostpreußen in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – Erinnerungen eines polnischen Bibliothekars, in: Walter, Axel E. (Hg.): Königsberger Buch- und Bibliotheksgeschichte Köln/Weimar/Wien 2004, S. 483–494. Siehe auch: Serczyk, Jerzy: Minęło życie, Toruń 1998.
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sondern eine Folge von politischen und administrativen Entscheidungen der polnischen und sowjetischen Behörden. Deren Einzelheiten wurden während einer Konferenz festgelegt – auf Initiative der Obersten Bibliotheksdirektion [Naczelna Dyrekcja Bibliotek] am 15.–16.01.1946 in Danzig organisiert. Die Universitätsbibliothek in Toruń wurde von Dr. Stefan Burhardt vertreten.8 Nach der Verbringung der Bücher unter sehr schwierigen Bedingungen per Bahn oder mit LKWs wurden sie in zwei Sammelstellen in Toruń gelagert, wo die sogenannte Komplettierung stattfand. Insgesamt wurden hier nach Schätzungen von S. Burchardt und L. Kolankowski9 ca. 300.000 Volumina gesammelt. Bohdan Ryszewski10 schätzt ihre Zahl sogar auf 600.000 Bände. Die Differenz in den Schätzungen von S. Burchardt und L. Kolankowski ergibt sich wahrscheinlich daraus, dass B. Ryszewski die Anzahl aller nach Toruń verbrachten Bücher, noch vor Auswahl, Komplettierung und Bearbeitung, angegeben hat. Wenn diese Annahme stimmt, würde dies davon zeugen, dass ein großer Teil der gesammelten Bücher sich als unbrauchbar herausstellte. Dazu gehörten die sogenannten Dubletten sowie NS-Propaganda- und populäre Bücher. Unter den im ehemaligen Ostpreußen sowie in Pommern gesicherten Büchern befanden sich ebenfalls nutzlose Titel, hauptsächlich aus dem Bereich der NS-Propaganda, Schulbücher und billige Liebesromane. Später wurden die aussortierten Bücher hauptsächlich in das damalige Gebäude der Hauptbibliothek in der ul. Chopina verlegt, jedoch, wie S. Burchardt schreibt, gelangte ein beträchtlicher Teil davon in die Lehrstuhlbibliotheken sowie in die Książnica Miejska [Stadtbibliothek] und den kleineren Rest erhielten andere Bibliotheken außerhalb von Toruń.11 Leider fehlt bis heute eine umfassende Erarbeitung der genauen Provenienz der herbeigeschafften Bestände, insbesondere der in den Fakultätsbibliotheken der Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaften und Bildenden Künste. Bereits bekannt ist jedoch, dass der größte Teil des anfänglichen Buchbestandes des Lehrstuhls für Geschichte und auch der Germanistik auf diese Weise entstanden ist. Unter den Personen, die sich um den Aufbau der Toruńer Germanistikbibliothek besonders verdient gemacht haben, ist Gustaw Foss
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Serczyk, Suche nach Büchern, S. 13, 21. Sieradzan, Wiesław: Historia i znaczenie zbiorów Katedry Filologii Germańskiej Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu – depozyt w Bibliotece Uniwersyteckiej, in: Folia Toruniensia 14, 2014, S. 43; Serczyk, Suche nach Büchern, S. 487, 493. Ryszewski, Bohdan: Działalność Biblioteki Uniwersyteckiej w Toruniu na rzecz regionu, in: Kalembka, Sławomir (Hg.): Miejsce Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w nauce polskiej i jego rola w regionie, Toruń 1989, S. 105f. Ebd., S. 20.
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(1907–1956) zu nennen, Germanist und Linguist aus Wilna (Vilnius),12 Dozent an der Universität Poznań in den Jahren 1952–1956. Er promovierte 1947 an der Nikolaus-Kopernikus-Universität mit einer Abhandlung mit dem Titel „Die niederdeutsche Mundart des Lipnoer Landes“, bei Prof. Dr. Eugeniusz Słuszkiewicz13. Zu den Gründern der zu besprechenden Bibliothek gehörte bestimmt auch der damalige Assistent, Andrzej Z. Bzdęga (1927–2003)14, der Autor des heute noch nützlichen „Wörterbuchs schwierigerer deutscher Wörter in den Akten von Königlich Preußen“15, 1959 in Toruń herausgegeben. In gewissem Maße durften von ihnen die gesicherten Bücher auch zur Ausarbeitung der oben genannten Arbeiten benutzt worden sein. Im Hinblick auf die Problematik der Nutzbarkeit von Büchersammlungen ehemalige deutscher Provenienz gibt es ein positives Beispiel zur Geschichte und Funktion von Büchern ost- und westpreußischer und pommerscher Provenienz aus der Bibliothek des Instituts für Geschichte und Archivkunde der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń [Thorn]; jetzt Bibliothek des Collegium Humanisticum. Sie gingen in den Besitz der oben genannten Bibliothek nach der Schließung des letzten Toruńer Sammelstelle am 31. Dezember 1949 über. Am Rande ist übrigens eine kaum bekannte Begebenheit zu erwähnen, als auf einer Nebengleisanlage bei Toruń ein ganzer Zug mit Sammlungen des ostpreußischen Denkmalpflegers entdeckt 1945 wurde. Die dort gefundenen Filme und Fotos ostpreußischer Denkmäler wurden dann an das Institut für Kunst der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, an das Staatsarchiv und Museum für Ermland und Masuren in Olsztyn [Allenstein] verteilt. 2006 kam es zur Veröffentlichung dieser, insbesondere im Kontext der Kriegsverluste sowie der Nachkriegssorge für Baudenkmäler äußerst wertvollen fotografischen Sammlungen des ehemaligen Konservatoren-Amtes in Königsberg auf einer CD-ROM mit dem Titel: „Ostpreußen. Dokumentation einer historischen Provinz“ [2006]. Das Projekt kam mit finanzieller Unterstützung der Zeit-Stiftung Ebelin Gerd Bucerius Hamburg zustande. Auch in der Bibliothek des Collegium Humanisticum befinden sich vereinzelte Bücher mit dem Stempel „Conservator d. Kunstdenkmäler Provinz Ostpreußen“. Wie in der Universitätsbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität, im 12 Bzdęga, Andrzej: Zmarli: Gustaw Foss, in: Sprawozdania Poznańskiego Towarzystwa Przyjaciół Nauk 1, 1956, S. 159f. 13 Pracownicy nauki i dydaktyk Uniwersytetu Mikołaja Kopernika 1945–1994. Materiały do biografii, Toruń 1995, S. 204. 14 Ebd., S. 129. 15 Bzdęga, Andrzej: Słownik trudniejszych wyrazów niemieckich w Aktach Stanów Prus Królewskich, Toruń 1959.
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Pommernkundlichen Lesesaal – Czytelnia Pomorzoznawcza –, besteht auch hier ein großer Teil der Bestandes aus Büchern der Stadtbibliothek Königsberg, die aus dem Gut Ponary [Ponarien] und Budniewo [Bauditten] bei Morąg [Mohrungen] 1946 nach Toruń verbracht wurden.16 Darunter verdienen zwei Ordner mit Inauguraldissertationen aus verschiedenen Fakultäten der Königsberger Albertina aus dem19. und 20. Jahrhundert Aufmerksamkeit. Diese Bücher bildeten, abgesehen von einigen wenigen Schenkungen und Ankäufen, den Auftakt zum Aufbau einer wertvollen Sammlung von Geschichtsbüchern und ermöglichten vielen Forschenden, auch denen? aus Deutschland, einen sehr komfortablen Zugang zu zahlreichen, und auch seltenen wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Zeitschriften und Quellenveröffentlichungen. Sie trugen auch nach dem Krieg zur Entstehung der „Toruńer Geschichtsschule“ bei, deren Hauptgegenstand die Erforschung der Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen, aber auch des Königlich Preußens, des Herzogtums Preußen und der Neumark bildet. Diese in der polnischen Geschichtsschreibung vor dem Zweiten Weltkrieg gerade aufgenommenen Forschungen konnten sich nun dank dieser Sammlungen sehr gut entfalten, was unter anderem von Michael North in seinem Werk „Geschichte der Ostsee“17 gewürdigt wurde, indem er auf den bahnbrechenden Charakter der Monografie „Polska w zlewisku Bałtyku“ [Polen im Einzugsgebiet der Ostsee] von Karol Górski verwies, die den polnischen Standpunkt zum Ort und zur Rolle dieses Gebietes für Polen vertritt. Der Mediävist K. Górski, der sich zum Spezialisten von internationalem Rang für die Geschichte des Deutschen Ordens, Kirchengeschichte, christliche Spiritualität und Ständevertretungen über die Jahre entwickelte, war der erster Wissenschaftler, der diese Sammlungen umfassend nutzte. Noch in seiner Studierstube im Collegium Maius der Nikolaus-Kopernikus-Universität analysierte er einen Teil davon im Kontext seiner Arbeiten, unter anderem an der Monographie von Malbork [Marienburg] und an der berühmten, in viele Sprachen übersetzten „Geschichte des Deutschen Orden“.18 Die Zusammenführung und Sicherung dieser Büchersammlung unterschiedlicher Provenienzen an einem Ort, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um eine Ausarbeitung oder eine Quellenedition handelte, machte und macht die erwähnte Bibliothek zu einem (nicht nur regional) hervorragenden Ort für die Erforschung 16 Strutyńska, Maria: Struktura proweniencyjna zbioru starych druków Biblioteki Uniwersyteckiej w Toruniu. Przewodnik po zespołach. Problemy badawcze i metodologiczne, Toruń 1999; Szturo, Księgozbiory poniemieckie, S. 97–103. 17 North, Michael: Historia Bałtyku, Warszawa 2018, S. 16. 18 Górski, Karol: Dzieje Malborka, Gdańsk 1973; ders.: Zakon Krzyżacki a powstanie państwa pruskiego, Wrocław 1977.
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der Geschichte von Pommerellen und Preußen, d.h. des ehemaligen deutschen Ostens. Die Erfassung dieser Büchersammlung unter einer übergreifenden Signatur mit einer thematischen Zuordnung ermöglichte dem Verfasser dieses Beitrags einen relativ einfachen Zugriff darauf und eine detaillierte Analyse der Provenienz von Büchern anhand von Exlibris, Supralibros, Siegeln oder handschriftlichen Unterschriften. Daraus lässt sich zunächst schließen, dass sie aus etwa 100 wissenschaftlichen Zentren (einschließlich der Technischen Hochschule Gdańsk [Danzig19], aus Schulen, Verwaltungs-, Gerichts- und Privateinrichtungen, aus Gebieten von Greifswald und Szczecin [Stettin] im Westen bis hin nach Königsberg und Insterburg im Osten. Das Vorhandensein von Büchern aus Greifswald mag etwas überraschend sein, aber wie bekannt, wurden die Bücher dieser mittelalterlichen Hanseund Universitätsstadt nach dem Krieg in Pęzino (Pansin), Kreis Stargard (Pommern), gefunden und vom Marschall G.K. Schukow der polnischen Regierung übereignet.20 Diese (nicht dominierende) Gruppe umfasst Bücher von so bekannten Adelsgeschlechtern wie von Krockow, von Stojentin, von Zitzewitz-Muttrin,21 von Lettow-Vorbeck oder von Bismarck aus Varzin. Ohne auf eine detaillierte Beschreibung dieser gut erhaltenen und solide gefertigten Bücher einzugehen, konnten darunter Bücher aus privaten Buchsammlungen von Forschern zur Geschichte des Deutschen Reiches und Altpreußens sowie von Denkmalpflegern identifiziert werden. Dazu gehören die Bücher von Hans Schmauch aus Braniewo [Braunsberg], von Eugen Brachvogel, Ernst v. d. Oelsnitz aus Malbork [Marienburg] und Königsberg, von R. Reicke aus Königsberg, von C. Steinbrecht, dem berühmten westpreußischen Denkmalpfleger des 19. und. 20. Jahrhunderts, und vor allem von Bernhard Schmid aus Malbork [Marienburg]. Die Marienburger Büchersammlung ist übrigens die umfangreichste. Die Bücher, die sich auf der Malbork [Marienburg] befanden, darunter die Sammlung des „Vereins für die Herstellung und Ausschmückung der Marienburg“, wurden wahrscheinlich zusammen mit der Privatsammlung des Konservators Bernhard Schmid bis März 1945 in seiner Dienstvilla, „Steinbrechts Haus“, in der Vorburg und im sogenannten Pfaffenturm gelagert, und dann in das unbeschädigte Gebäude des Landratsamtes dieser Stadt verlegt.22 Es 19 Marienburger Archiv Hamburg, Schmid, Bernhard, Geschichte der Marienburg 1922– 1945, S. 5. 20 Strutyńska, Struktura proweniencyjna, S. 17f. 21 Ebd., S. 29. 22 Siuciak, Aleksandra: Książki Towarzystwa Odbudowy i Upiększania Zamku Malborskiego w zbiorach Biblioteki Muzeum Zamkowego w Malborku (Studia Zamkowe, Bd. 3), Malbork 2009, S. 97.
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wird geschätzt, dass trotz Zerstörungen am Schloss und in der Stadt Malbork [Marienburg] noch etwa 10.000 Bücher erhalten geblieben sind.23 In Bezug auf die Bibliothek des letzten Konservators der Malbork [Marienburg] gelang es dem Verfasser, über 200 Bücher ausfindig zu machen, die zweifellos zu seiner privaten Büchersammlung gehörten. Wahrscheinlich befinden sich noch mehr seiner privaten Bücher im Bestand der oben erwähnten Bibliothek. Eine solche Hypothese lässt unter anderem eine Vielzahl von Büchern oder Ausarbeitungen zu, die zwar keine Autographe oder irgendwelche Stempel tragen, deren Thematik aber mit dem Interessengebiet von Bernhard Schmid übereinstimmt bzw. dieselben Signaturreihen in einzelnen Regalen aufweisen. Rätsel werfen auch die von ihm verfassten Bücher auf, die meistens von B. Schmid nicht signiert oder mit einem Exlibris versehen sind, weil er um die Jahrhundertwende dessen sogenannte Abiturversion nicht mehr verwendete, und eine andere Signierung ist uns nicht bekannt. Geht man davon aus, dass sie auch sein Eigentum waren, dann würde seine in verschiedenen Bibliotheken gesicherte Büchersammlung auf über 300 Objekte anwachsen.24 Im Zusammenhang mit der Privatsammlung von B. Schmid, die überwiegend in der Bibliothek des Collegium Humanisticum der UMK aufbewahrt wird, ist ein Umstand ausdrücklich hervorzuheben. Die B. Schmid gehörenden Bücher sind ein Zeugnis einer überaus ausgebauten, geradezu einmaligen und beeindruckenden Werkstatt dieses Konservators, Architekten und Historikers, der bei Rekonstruktion der Marienburg einer tiefgehenden Archivrecherche viel mehr wert als sein Vorgänger Conrad Steinbrecht beimaß.25 Dies sollte der Absicht einer originalgetreuen historischen Rekonstruktion einzelner Gebäude dienen. Übrigens wurde die Methode nicht von ihm erfunden, denn bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert wurden bei der Restaurierung der Malbork [Marienburg] jene Quellen verwendet, die vom Marienburger Pfarrer Ludwig Häbler (1768–1841) und darüber hinaus auch vom Königsberger Professor Johannes Voigt (1786–1863) gesammelt worden waren. Schmid hat 23 Mierzwiński, Mariusz: Zamek Malborski w latach 1945–1960 (Studia Zamkowe, Bd. 1), 2004, S. 25; Jakubowska, Bogna: Rola i znaczenie Muzeum Zamkowego w przemianach społeczno-kulturalnych ziemi malborskiej, S. 92f. (maschinegeschriebenes Manuskript im Schlossmuseum in Marienburg). 24 Sieradzan, Wiesław: Verlorenes Kulturerbe? Leben und Werk des Konservators von Westpreußen Bernhard Schmid (1872–1947), Toruń 2019, S. 196–217. 25 Sieradzan, Wiesław: Die Werkstatt des deutschen Denkmalpflegers Bernhard Schmids (1872–1947) in Marienburg, in: Kurilo, Olga (Hg.): Mobilität und regionale Vernetzung zwischen Oder und Memel: Eine europäische Landschaft zusammensetzen, Berlin 2011, S. 195–208.
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sich eine Methode erarbeiten müssen, um Ergebnisse seiner eigenen Forschungen festzuhalten. Zahlreiche von den nachfolgend genannten Büchern, die in der Bibliothek des Collegium Humanisticum der Toruńer Universität aufbewahrt werden, sind eben ein Beweis dafür. Er behandelte ein Buch oder einen historischen Beitrag als eine Art „Datenbank“ und versah sie mit Notizen über die für ihn interessanten Fragestellungen. Er setzte auch öfter eine von sich selbst verfasste Indexierung am Ende von Büchern ein, um schnell eine für ihn interessante Passage zu finden. Er nutzte leere Seiten in einigen Bänden und füllte sie mit zahlreichen Ausfertigungen aus Quellen und Literatur. Trotz des Verlusts eines Teils seiner Bibliotheksbestände im Königsberger Archiv im Jahr 1944 scheint es, dass keine der oben erwähnten Quellenausfertigungen, bis auf vereinzelte Ausnahmen, die keine herkömmliche Karteikartenform hatten, unbekannte oder verlorene Quellen enthalten würden. Darüber hinaus legte er einzelnen Büchern oft und in großer Zahl Ausschnitte aus Königsberger, Danziger, Elbinger oder Marienburger Zeitungen bei, was nun für weitere Forschungen von großer Bedeutung sein könnte, wenn man die Verluste an journalistischen Quellen aus diesen Städten infolge der Kriegshandlungen, insbesondere in den Jahren 1944 und 1945, bedenkt. Die vorstehenden Ausführungen zusammenfassend, ist noch einmal die frühere und aktuelle wissenschaftliche Nutzbarkeit der zu besprechenden Büchersammlung hervorzuheben, die leider nicht die gesamte Bibliothek von B. Schmid, sondern deren schwer abzuschätzenden Bruchteil darstellt. Ein großer Teil davon wurde nämlich während der Kämpfe zwischen russischen und deutschen Truppen um die Malbork [Marienburg] zwischen Ende Januar und Anfang März 1945 nicht nur zerstreut, sondern auch zerstört. Auch andere Bücher zu pommerellisch-preußischen Fragestellungen, welche in die Bestände der Universitätsbibliothek, der Bibliotheken der Fakultät für bildende Künste und der Jurafakultät der Nikolaus-Kopernikus-Universität gelangten, haben ihre Nutzbarkeit bewiesen bzw. beweisen immer noch. Sie bildeten unter anderem die Grundlage für die Entwicklung der „Toruńer Schule“ der Kunsthistoriker, die deutsche Bücher zur Erforschung der Kunstgeschichte im Deutschordensstaat (Marian Arszyński, Elżbieta Pilecka), Königlich Preußen (Piotr Birecki, Michał Woźniak) und Herzogtum Preußen (Piotr Birecki) nutzen. Nicht wegzudenken sind dabei nämlich bereits im 19. Jahrhundert massenhaft entstandene Monographien der Städte in diesem Gebiet, ungeachtet ihrer etwas veralteten Struktur und einer spezifischen Betrachtungsweise der Nationalitätenfragen. Selbst die nach 1933 erschienenen Monografien wurden nicht vernichtet und im Rahmen der Forschung kritisch berücksichtigt. Die Toruńer Historiker und Konservatoren waren es eben, die sich mit Denkmalverzeichnissen von Ostpreußen und Westpreußen von
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der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vertraut machten. Dagegen standen Rechtshistoriker (Zbigniew Zdrójkowski, Krystyna Kamińska, Krystyna Zielińska) Quellenveröffentlichungen und Monografien über Entstehung und Entwicklung des Kulmer Rechts zur Verfügung, das eine Variante des Magdeburger Rechts darstellt, welches Grundlage für Gründungen von Dörfern und Städten nicht nur im oben genannten Gebiet, sondern in ganz Mittel- und Osteuropa bildete.26 Eines der interessanteren Teile der Bestände der Universitätsbibliothek in Toruń ist die dort unlängst deponierte Dauerleihgabe der Bibliothek des Germanistiklehrstuhls, die im folgenden Abschnitt behandelt wird. Deren Entstehung ist untrennbar mit der Geschichte des Lehrstuhls selbst verbunden, der seit über 50 Jahren Germanisten ausbildet. Bereits seit Anbeginn der Universität war geplant, einen Lehrstuhl für Germanistik innerhalb der Philosophischen Fakultät einzurichten.27 Trotz Personalmangels wurde intensiv daran gearbeitet, eine wissenschaftliche Werkstatt für zukünftige Studierende und wissenschaftliche Mitarbeiter in Form einer umfangreichen wissenschaftlichen Bibliothek zu schaffen. Der Bücherbestand der Hauptbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität und zahlreicher Bereichsbibliotheken ist zu einem großen Teil das Ergebnis von Erkundungsreisen der Nachwuchswissenschaftler, zunächst in die Gebiete des ehemaligen Ost- und Westpreußens und dann sogar nach Vorpommern.28 Die Bestände der damaligen Bibliothek des Seminars für Deutsche Philologie der Nikolaus-Kopernikus-Universität wurden auch durch Ankäufe von Dubletten aus anderen Zentren und Einrichtungen der UMK bzw. durch Schenkungen von Privatpersonen und antiquarischen Ankäufen bereichert. Allerdings spielte diese Form der Bücherbeschaffung in der Zeit bis 1949 eine geringe Rolle. Die erhaltenen Inventarbücher zeigen, dass der Lehrstuhl 1949 etwa 8000 Volumina hatte.29 Doch im Zusammenhang mit der Migration der Büchersammlungen nach dem Krieg sei auch daran erinnert, dass die Toruńer Germanistik das Schicksal anderer Neuphilologien teilte und 1952 liquidiert wurde. Der Lehrstuhl für Romanische Philologie wurde mit seiner Ausstattung nach Krakau, das Institut für Indogermanische Sprachwissenschaft nach Warschau und Lehrstühle für Deutsche Philologie und Psychologie 26 Zdrójkowski, Zbigniew (Hg.): Studia Culmensia Historico-Juridica czyli Księga Pamiątkowa 750-lecia Prawa Chełmińskiego, Bd. I–II, Toruń 1988–1990. 27 Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, R-15, S. 2, Rozporządzenie Ministra Oświaty z dnia 20 XII 1945 r. w sprawie utworzenia katedr i zakładów naukowych w Uniwersytecie Mikołaja Kopernika w Toruniu. Siehe auch R-18, S. 54. 28 Sieradzan, Książki Bernharda Schmida, S. 61; Szturo, Księgozbiory poniemieckie, S. 93–104. 29 Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, 1/1140, Nr. 1–3.
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nach Posen verlegt.30 Dort, an der Adam-Mickiewicz-Universität, wurden die Toruńer Bestände vom Seminar für Deutsche Philologie, Sprachwissenschaftliche Abteilung, und dann für ca. 20 Jahre von der Sprachwissenschaftlichen Bibliothek des Germanistiklehrstuhls übernommen. Der neue Germanistiklehrstuhl in Toruń wurde erst 1969 wieder gegründet. Das Germanistikstudium konnte dann 1972 neu aufgenommen werden.31 Am Anfang der Neugründung des Lehrstuhls musste dessen Bibliothek von Grund auf geschaffen werden. Ihre Eröffnung erforderte die Rückforderung der nach Poznań [Posen] übergebenen Bücher. Diesen Bemühungen war nur zum Teil ein Erfolg beschieden, denn die Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań [Posen] hat bis heute die gesamte Dauerleihgabe nicht zurückgegeben. Wie sich aus den im Archiv der Hauptbibliothek der Nikolaus-KopernikusUniversität aufbewahrten Quellen ergibt, betrug der gesamte Bücherbestand am 25. August 1952 nach Abzug der Ausschussexemplare 8335 Bände. Nach der behördlichen Entscheidung, die Bücher nach Poznań zu übergeben, entstand jedoch ein Dilemma in den Behörden der Universität und der Fakultät für Geisteswissenschaften – sollten alle Bücher wirklich in die Hauptstadt von Großpolen verbracht werden? Es wurde entschieden, einen gewissen Teil der nach dem Zweiten Weltkrieg so mühevoll gesicherten Bände in Toruń zu belassen. Gemäß diesem Standpunkt ordnete der Rektor der NikolausKopernikus-Universität, Prof. Antoni Basiński, an, dass sich Magister Andrzej Bzdęga damit befassen solle.32 Im Zuge der im Herbst 1952 aufgenommenen Aktivitäten wurde ein Teil des Bücherbestandes mit ca. 3600 Signaturen, die 5223 Bände ausmachten, nach Poznań überführt, der Rest (3111 Bände) wurde in der Hauptbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität deponiert.33 Aus dem Schreiben des Dozenten Dr. habil. Eugeniusz Klin an die Leitung der Hauptbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität vom 16. Juni 1970 geht hervor, dass, noch bevor die „Posener Dauerleihgabe“ zurückgegeben wurde, im Lehrstuhl bereits 4500 Bände gesammelt wurden. Zu erinnern sei hier, dass Bücher in den Jahren der Volksrepublik Polen oft Gegenstand von Tausch, Verkauf und Verlust waren. In den ursprünglichen Bücherbestand flossen Bücher bis zur Liquidierung des Lehrstuhls ein, hauptsächlich als Ergebnis der Sicherung von Büchersammlungen (Meistens aus Bildungseinrichtungen) vom westpommerschen Białogard [Belgard] und, insbesondere ab 1949, von der 30 Bełkot, Jan: Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu w latach 1945–1985, Toruń 1986, S. 79. 31 Ebd., S. 89. 32 Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, BU-713, S. 22. 33 Ebd., S. 40.
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Technischen Hochschule Danzig. Eine weitere Quelle der Bücherbeschaffung waren Liquidationsämter in Bydgoszcz [Bromberg] und Grudziądz [Graudenz], deutsche Gymnasien in Chojnice [Konitz], Chełmno [Kulm], Nakło [Nakel] sowie die Staatliche Büchersammelstelle in Koszalin [Köslin] und das Referat für Kunst und Kultur des Kreisamtes in Malbork [Marienburg]. Der Aufbewahrungs- und Ausleihort der Büchersammlung war die Bibliothek des Lehrstuhls für Germanistik, der sich im zweiten und teilweise im dritten Stock des Collegium Maius an der ul. Fosa Staromiejska 3 unter nicht allzu komfortablen Bedingungen befand. Sie nahm im Oktober 1972 ihr Betrieb auf. Der Bücherbestand umfasste damals 8600 Volumina und wuchs jährlich um etwa 1100 Bücher.34 Nach der Fertigstellung des Collegium Humanisticum wurde die Lehrstuhlbibliothek wegen der begrenzten Möglichkeiten, die vorhandenen Büchersammlungen von Historikern, Pädagogen und Neophilologen zu verlagern, so aufgeteilt, dass die (bis auf einige wenige Ausnahmen) neuere Büchersammlung (ca. 17.000) in die neue Lehrstuhlbibliothek kam, und der ältere Teil (über 7000 Bände), vom ersten Band des neuen Inventars, wurde als Dauerleihgabe dieser Einrichtung ins Lager der Hauptbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität ohne die Möglichkeit des freien Zugangs (sogenannter beschränkter Zugang) übergeben. Die Dauerleihgabe des Germanistiklehrstuhls in der HB der UMK umfasst, wie erwähnt, Signaturen von 1 bis 5680.35 Im Hinblick auf das Vorhandensein von mehrbändigen Veröffentlichungen beläuft sich die gesamte Dauerleihgabe auf 7627 Bände.36 Die zu besprechende Büchersammlung ist zwar zahlenmäßig bedeutend, aber thematisch nicht homogen. Schon ihr Entstehungsweg, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem durch Sicherung ehemaliger deutscher Bestände sowie Ankäufe und Schenkungen, musste sich auf ihre Vielfalt und Provenienz auswirken. So umfasst die Sammlung gattungsmäßig deutsche Prosa und Lyrik mit besonderer Berücksichtigung der Autoren des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gefolgt von kritischen Ausarbeitungen zur deutschen Literatur und Wörterbüchern der deutschen Sprache, darin ihre verschiedenen Dialekte (hauptsächlich Mittelhochdeutsch). Die letztgenannten durften dank dem Interessengebiet des bereits erwähnten Dr. Gustaw Foss, einem Spezialisten für Plattdeutsch, Eingang in die Büchersammlung gefunden haben. Die deutsche Literatur von ihren Anfängen im Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert wird durch mehrbändige gesammelte Werke verschiedener prominenter und 34 35 36
Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, BU-0334. Sieradzan, Historia i znaczenie zbiorów, S. 46. http://www.bu.umk.pl/bazy-horizon#http://www.bu.umk.pl/horizon/stats.html (8.4.2014).
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allgemein bekannter Autoren wie Bruno Apitz, Clemens Brentano, Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff, Theodor Fontane, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Johann Gottfried von Herder, Johann Ludwig Uhland, Heinrich von Kleist, Wilhelm Raabe oder Friedrich Schiller vertreten. Die Dauerleihgabe der Bibliothek des Lehrstuhls für Germanistik ist ein Bestand, der im Ergebnis der Verteilung und Verlagerung der Buchbestände nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Insofern weist er typische Merkmale Sammlungen dieser Provenienz auf. Von Zufälligkeit kann hier jedoch nicht gesprochen werden, da es sich bei der fraglichen Dauerleihgabe im Grunde genommen um eine bewusste Auswahl von Fachpublikationen im Bereich der deutschen Literatur aus einer riesigen Masse „ehemals deutscher“ Buchsammlungen handelt, die nach dem Zweiten Weltkrieg gesichert und in Toruń deponiert wurden. Der Zweck, dem diese Bücher dienen sollten, begleitete unübersehbar die Phase ihrer Suche, Komplettierung und Auswahl. Zweifellos lässt sich in der Dauerleihgabe die Vielzahl von Stellen ausmachen, von denen aus die Bibliotheksbestände verteilt wurden. Geografisch gesehen handelt es sich um ein Gebiet von Greifswald im Westen bis hin nach Königsberg im Osten und von Danzig und Słupsk [Stolp] im Norden bis nach Dzierżoniów [Reichenbach], Świdnica [Schweidnitz] und Wrocław [Breslau] im Süden. In dieser Gruppe von Büchern aus ehemaligen deutschen Adelshäusern, die einen sehr großen Teil der gesicherten Sammlungen in Toruń (BG UMK) ausmachen, findet man kleine Überreste der Bibliotheken des Geschlechts von Bismarck aus Warcino [Varzin]37 sowie eines anderen pommerschen Adelsgeschlechts – von Puttkamer aus Pęzino [Pansin]. Die durchgeführte Recherche zeigt, dass keine Dominanz eines bestimmten Zentrums in dieser Gruppe erkennbar ist, von dem aus die Zerstreuung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte. Augenfällig ist jedoch eine relativ große Anzahl von Volumina, wenn auch kleiner als im ursprünglichen Inventarbuch, aus der Bibliothek der 1904 gegründeten Technischen Hochschule Danzig. Zunächst trug sie bis zum Ende des Ersten Weltkriegs den Namen „KöniglichPreußische Technische Hochschule zu Danzig“ und dann (1922–1939) „Technische Hochschule der Freien Stadt Danzig“38. In ihrer Struktur gab es eine Fakultät für Allgemeine Wissenschaften mit dem Geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl. Er hatte neben dem oben erwähnten Germanistikseminar auch ein 37
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Serczyk, Jerzy: Ebd., S. 490. Er machte auf die relativ wenigen Bücherfunde in diesem Familiensitz aufmerksam, indem er schrieb: „Wir sind dorthin ein wenig zu spät gekommen, um die gesamte dort befindliche Hausbibliothek retten zu können, weil die Herrschaftssitze von der siegreichen Roten Armee mit besonderer Vorliebe ausgeplündert wurden.“ Ruhnau, Rüdiger: Technische Hochschule Danzig: 1904–1984, Stuttgart 1985.
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„Historisches Seminar“. Nach 1945 gelangten viele Bücher vom letztgenannten Seminar – meistens mit einem allgemeingeschichtlichen Charakter – in die Bibliothek des Instituts für Geschichte (jetzt Institut für Geschichte und Archivkunde der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń). Derzeit werden diese Bücher in der Geisteswissenschaftlichen Bibliothek im Collegium Humanisticum aufbewahrt. In dem zu besprechenden Teil der Bestände der Hauptbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität befinden sich auch Reste der Büchersammlung des sogenannten Deutschen Seminars der Technischen Hochschule Danzig, die reich an Büchern zur deutschen Literatur war. In dem Teil der Büchersammlung, der heutzutage in der HB der UMK des Germanistiklehrstuhls deponiert ist, ziehen die von der Schlossbauverwaltung in Marienburgstammenden Volumina die Aufmerksamkeit auf sich.39 Zum Zwecke der Wiederherstellung der ehemaligen Ordensburg wurden insbesondere während der sogenannten szientistischen Restaurierung, nämlich in der Zeit um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts, schriftliche Quellen und eine Büchersammlung zusammengetragen, die verschiedene, aus Sicht der durchzuführenden Restaurierungsarbeiten wichtige Fragestellungen behan delten. Sie bezogen sich insbesondere auf die Geschichte Pommerellens, des Deutschordensstaates in Preußen, aber auch auf die Kunst-, Architekturund Archäologiegeschichte. Die Marienburger Provenienz lässt sich noch im Zusammenhang mit mehreren anderen Büchern nachweisen. In erster Linie handelt es sich um einen kleinen Teil der Privatbibliothek des vorgenannten letzten deutschen Konservators der Marienburg im Bestand der Dauerleihgabe. Im Zusammenhang mit dessen Büchersammlung stehen mindestens drei Bände, darunter zwei, die ein Geschenk Walther Ziesemers (1882–1951), Professor an der Albertus-Universität Königsberg, Gründer und Leiter des Instituts für Heimatforschung, eines bekannten Germanisten und Historikers waren.40 Er war darüber hinaus auch Quelleneditor und Literaturhistoriker. 1935 und 1938 erhielt B. Schmid von ihm die ersten Bände des „Preußischen Wörterbuchs“, an dem der Königsberger Professor über 20 Jahre gearbeitet hatte, aber infolge des Zweiten Weltkriegs nicht fertigstellte.41 Sie wurden sorgfältig gebunden und mit Supralibros von B. Schmid (Sign. J/5625) versehen. Die Bekanntschaft des Marienburger Konservators mit dem erwähnten Königsberger Professor hat eine längere Geschichte. Die beiden wohnten Anfang des 20. Jahrhunderts 39 Siuciak, Aleksandra: Biblioteka Muzeum Zamkowego w Malborku, in: Forum Bibliotek Medycznych 6, 2013, Nr. 1, S. 238–265. 40 Er war von 1933 bis 1940 Mitglied der NSLB. Siehe Klee, Ernst: Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a.M. 2007, S. 683. 41 Riemann, Erhard: Geprägt von Arbeitsenergie und Zähigkeit, in: Das Ostpreußenblatt 25, 1982, S. 10.
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in Marienburg. In dieser Stadt arbeitete nämlich seit 1895 Ziesemers Vater Johannes als Lehrer am Lehrerseminar (vorher in Lubawa [Löbau]) in Westpreußen.42 Laut Rainer Zacharias unterhielt er enge Kontakte sowohl zu C. Steinbrecht als auch zu B. Schmid.43 Während seiner späteren Besuche in Königsberg traf der Marienburger Konservator oft auf diesen herausragenden Kenner der deutschen Geschichte und Literatur. Keinen Zusammenhang mit der Büchersammlung des Professors an der Albertus-Universität Königsberg Albertina hat ein Buch, dessen Provenienz sich aus seiner während seines Studiums in Berlin geknüpften Bekanntschaft mit Gustav Roethe, dem berühmten Professor für Germanistik, einem Kenner der deutschen Literatur des Mittelalterserklären ließe. Er wurde 1859 in Grudziądz [Graudenz] geboren und starb 1926 im österreichischen Bad Gastein. Er war 1923/24 sogar Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Das Buch trägt jedoch das Eigentumszeichen der Technischen Hochschule Danzig und wurde wahrscheinlich nach dem Tod des Autors erworben. Das zweite Buch des Marienburger Konservators, aufgefunden in der Bibliothek des Lehrstuhls für Germanistik (Dauerleihgabe in der BU der UMK in Toruń, Sign. J/5416) ist das Fremdwörterbuch „Neuestes vollständiges Fremdwörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der in der heutigen deutschen Schrift- und Umgangssprache gebräuchlichen fremden Wörter mit genauer Angabe ihres Ursprungs, ihrer Rechtschreibung, Betonung und Aussprache“, herausgegeben von Ludwig Kiesewetter, das in der sechsten Auflage 1877 in Glogau (Głogów) bei dem Verlag Carl Flemming erschienen ist. Anhand des Eintrags des Vaters von B. Schmid, Gustav Schmidt,44 auf der Vortitelseite dieses Lexikons kann man das verwickelte Itinerarium (Migration) dieses Volumens nachvollziehen. Das Buch durfte zuerst auf unbekanntem Wege bzw. direkt über die Tante von Bernhard Schmid, Henriette Franziska Emma Schmid,45 in den Besitz der Familie Schmid gekommen sein. Nach ihrem Tod 42 Peters, Jörg: Walther Ziesemer (1882–1951), in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr. 29, 1994, S. 203. Siehe: König, Christoph/Wägenbaur, Birgit (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 3, Berlin 2003, S. 2099. 43 Zacharias, Rainer: Bernhard Schmid (1872–1947), Preußischer Landeskonservator und Baumeister der Marienburg, in: Jähnig, Bernhart/Michels, Georg (Hg.): Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen. Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag gewidmet von den Mitgliedern der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Lüneburg 2000, S. 704. 44 Sieradzan, Wiesław: Friedrich Wilhelm Gustav Schmid (13.4.1826–16.2.1922), preussischer Offizier, Bücherliebhaber, in: Rocznik Grudziądzki 26, 2018, S. 260–275. 45 Sieradzan, Wiesław: Związki ostatniego konserwatora zabytków Prus Zachodnich – Bernharda Schmida (1872–1947) i jego rodziny z Grudziądzem, in: Rocznik Grudziądzki 20, 2012, S. 203–222.
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gelangte es als Teil des Erbes an deren Bruder Gustav Schmid, der es nach Kolberg brachte, wo er mit seiner Frau Anna Ida Ernestina Julie, geborene von der Oelsnitz, lebte. Dann, im Mai 1918, gelangte das Buch nach Marienburg in die Privatsammlung von B. Schmid, der es bei einem Buchbinder aus Marienburg einbinden ließ. Es blieb bei ihm bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, um dann nach Toruń zu kommen. Die vorstehenden Feststellungen bestätigen zweifellos die These, dass die zu besprechende Büchersammlung nicht nur eine interessante Provenienz hat, die oft mit Eigentumsmarken in Form von schönen Exlibris oder Supralibros dokumentiert wird, sondern vor allem von erheblicher Bedeutung für Germanisten ist. Sie kann nämlich ein wertvolles wissenschaftliches Hilfsmittel für die sprachwissenschaftliche und historische Forschung (Geschichte Deutschlands und Skandinaviens) sein. Ungeachtet der oben genannten Erkenntnisse birgt sie immer noch viele Rätsel in sich, die mithilfe verfügbarer historischer Quellen schwer zu lösen sind. Sie regt zum Nachdenken an, über komplizierte, aber manchmal auch schwer nachvollziehbare Wege der Verbringung privater und institutioneller Buchbestände nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Übergabe als Dauerleihgabe an die Universitätsbibliothek ist sicherlich eine Folge der schwindenden Bedeutung dieser Büchersammlung für die heutigen Forscher der deutschen Sprache und Kultur, einschließlich Studierender und wissenschaftlicher Mitarbeiter. Es ist nur zu hoffen, dass diese Sammlung doch ihre Benutzer findet, die ihre Bedeutung zu würdigen wissen und sie vor dem Vergessen bewahren. Die Recherche des Verfassers im Hauptlager dieser Bibliothek, wo in vielen Regalen zahlreiche, mit Eigentumszeichen vieler prominenter pommerellischer und preußischer Adelsgeschlechter (z.B. zu Dohna-Schlobitten) versehene Ausgaben deutscher Lyrik und Prosa des 19. und 20. Jahrhundert stehen, legt die Vermutung nahe, dass sie sich keines besonderen Interesses bei Lesern erfreuen. Dies ist ein Beispiel für die heutzutage geringe Nutzbarkeit dieser Sammlungen, die Lücken in Bezug auf die während des Zweiten Weltkriegs verloren gegangene polnische Literatur nicht zu schließen vermögen. Literaturverzeichnis
Archivmaterial
Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, R-15, S. 2, Rozporządzenie Ministra Oświaty z dnia 20 XII 1945 r. w sprawie utworzenia katedr i zakładów naukowych w Uniwersytecie Mikołaja Kopernika w Toruniu. Archiwum Uniwersytetu Mikołaja Kopernika w Toruniu, BU-713.
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Wiesław Sieradzan
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Polish Books in German Public Libraries During the Second World War. The Examples of the Gdańsk City Library (Danziger Stadtbibliothek) and the Polish Gymnasium in Gdańsk (Gimnazjum Polskie w Gdańsku) Dagmara Binkowska Abstract Sometimes the migration of books takes place without displacement: history changes around them, putting libraries in a different political situation and modifying the interpretative context of their collections. The value of their contents may change linguistically, but also according to the ideological needs of the political leaders. In such times, the role of the librarians as the guardians of the library is important: to a large extent, it is up to them to decide who is authorised to get a book – who may be trusted with the knowledge. Those employed in large, ‘historical’ libraries with centuries of scholarly traditions are entrusted the liberty of collecting the writings labelled ‘rebellious’, ‘sacrilegious’ or ‘politically incorrect’, intended in an exclusive manner for ‘properly’ educated people, capable of giving them an adequate interpretation. Such was the case of the Gdańsk Library during World War II. It was founded in 1596 as “Bibliotheca Senatus Gedanensis”, in a city where the German and Polish influences have always been encountering one another. As the Gdańsk Library reflected the world around it, from the outbreak of the Second World War books from looted local collections were brought to the institution, resulting in the paradoxical situation of an official German protection over several hundred books in a locally banned Polish language, allowing them to survive during the war, albeit in an entirely new context.
After the First World War, the affiliation of Gdańsk – the prominent city on the Baltic coast – became a matter of dispute between Poland and Germany. The League of Nations, trying to balance between two areas of influence and two cultures, offered a compromise which did not satisfy either side. On January 10th 1920, according to the terms of the Treaty of Versailles ending the war, the city was separated from Germany. On November 15th 1920, it was officially declared an autonomous city-state under the name of the Free City of Danzig (German: Freie Stadt Danzig, Polish: Wolne Miasto Gdańsk) under the supervision of the League of Nations, with the High Commissioner of the League of Nations as its highest authority, German as the official language and
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_011
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Polish as an auxiliary one. It also had its own constitution, parliament, senate, anthem and passports. The Free City comprised the district (powiat) of the city of Gdańsk, with some surrounding areas: in total 1,952 km², including 59 km² of port waters.1 It was dominated by German inhabitants: Poles represented 9 to 13% of the population, namely 37 to 40 thousand persons, including Polish citizens of the Free City and citizens of the Republic of Poland.2 The League of Nations formally secured their minority privileges, including the right to have schools with Polish as a teaching language – a matter particularly important for the citizens of Polish origin: when the war ended and Poland regained its independence at the end of the year 1918, there were no Polish schools in what used to be the former Prussian partition.3 The Free City gave its Polish citizens the opportunity to openly cultivate their national identity, including the education of children in their own language. Educational institutions were therefore necessary and the matter became urgent – with the growing number of Polish officials and citizens moving to Gdańsk from patriotic but also for economic reasons. This historical introduction is important to understand the context in which the Polish Gymnasium – an institution gathering around itself Polish speaking citizens in the interwar Gdańsk – was established, and what it meant for the Polish community residing in the Free City. On May 10th 1920, the Senate of the Free City opened an elementary school for Polish children. The authorities refused to fund a secondary one, deciding that its obligations towards the minority were fulfilled and the parents could either move their children to German high schools, or send them to Poland. It became clear that the Gymnasium could only be established as a private institution.4 To achieve this, Polish activists formed the ‘Polish Educational Society in Gdańsk’ (Polska Macierz Szkolna w Gdańsku), an organization which in November 1921 took on itself all the formalities required to bring the desired institution to life. On December 12th, 1921, the Polish side received from the Senate a document 1 Romanow, Andrzej (1999). “Zmiany obszaru gminy miejskiej Gdańska w latach 1920–1945” Edmund Cieślak, ed. Historia Gdańska. Vol. IV/2. Sopot: Wydawnictwo Lex, 7. 2 Ibid., Sopot: Wydawnictwo Lex, 30. The number spans are connected with differences in population throughout the twenty years of the Free City’s existence, as well as its various areas, from the main city to the rural surroundings. 3 Dzienis, Helena (2019). “Gimnazjum Polskie Macierzy Szkolnej w Wolnym Mieście Gdańsku (1922–1939)” Janusz Dargacz, Katarzyna Kurkowska, eds. Historie gdańskich Dzielnic. Vol. 2. Gdańsk: Muzeum Gdańska, p. 380. 4 Ibid., p. 380–381.
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officially authorizing the opening of a secondary school which admitted children of Polish officials permanently employed in Gdańsk, the children of Polish citizens permanently residing in Gdańsk and children of the citizens of the Free City whose origin or mother tongue was Polish. The Senate maintained control over the school, with the reservation that the ‘Polish Educational Society in Gdańsk’ could not demand from the authorities of the Free City any funding to maintain the institution. Financial difficulties stood therefore at the very origins of the project, as in 1920, after the end of the Polish-Bolshevik war, the Ministry of the Treasury in Warsaw refused to pay the promised subsidy due to the financial difficulties of the state.5 The need to overcome this obstacle mobilized the Polish community in Gdańsk. The activists decided to use all possible means to achieve their goal, making it clear how important it was not only objectively, but also personally. A huge help came to the institution of the gymnasium from the influential writer Stanisław Przybyszewski, who had connections in both Polish and German intellectual circles. In the years 1920–1924, he was employed at the railway directorate in Gdańsk, residing in the neighbouring town of Sopot (German: Zoppot). By allocating the fund raised to celebrate the 30th anniversary of his literary work for the purposes of the Gymnasium, he appealed to the intellectual and cultural circles in Poland to follow his footsteps.6 The response was very successful. Larger and smaller amounts of money began to flow in from various parts of Poland – government and municipal institutions, banks, schools and private persons, cultural and educational societies, publishing companies and bookstores. Many were sending material gifts such as furniture, teaching aids and books, which became the nucleus of the future library of the Gymnasium.7 Spring 1922 marks the historical event in the local history, namely the beginning of the first school year at the Polish Gymnasium.8 The school was mixed gender, with nine classes, which were reduced to eight after the educational reform from 1936. In 1934, the first matricular examination was carried out, supervised by the authorities of the Senate of the Free City.9 On May 18th, 1935, the Gymnasium was re-named after the recently deceased Polish national hero Marshall Józef Piłsudski, one of the fathers of the regained Polish independence 5 Ibid., p. 381. 6 Przybyszewski, Stanisław (1922). “Najpiękniejszy sen jubilata. Gimnazjum polskie w Gdańsku”. Gazeta. Dziennik Gdański nr 10, 1. 7 Dzienis,) Gimnazjum Polskie, p. 380. 8 Gliński, Mirosław and Jerzy Kuliński (2019). Kronika Gdańska. Vol. 1. Gdańsk: Muzeum Gdańska, p. 413. 9 Dzienis, Gimnazjum Polskie, p. 390–391.
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(Gimnazjum Polskie Macierzy Szkolnej imienia Józefa Piłsudskiego),10 underlining patriotic tendencies among the staff and the direction of education they intended to keep in the city where Nazi influence was rampant. The teaching was given in Polish, with obligatory German lessons for practical reasons. In the two youngest grades, all textbooks were in Polish, while the ones used for German lessons were bilingual. It is worth noting that teaching German was not easy due to the difference in levels between the students: some of the children had attended German schools first, while other came from Polish families and did not know the language at all. Much emphasis was placed on the natural sciences, geography, and the economic relationship of Gdańsk with Poland and Germany.11 In historical studies, the emphasis was on the history of Poland, that of Gdańsk and their historical connections, while teaching Polish was meant to make the students identify with Polish as their mother tongue and love its literature. The library of the Gymnasium, with its regularly enlarged collections, was organized to serve both students and their teachers. The books on the shelves were purchases and gifts from private persons, schools, universities, and Polish institutions. Stanisław Przybyszewski tended to put a discrete pressure on potential donors by publicly addressing concrete people and institutions, for instance the famous booksellers from Lviv, Bernard Połaniecki and Alfred Altenberg, or the respectable Warsaw publishing house held by the family Arct.12 In response to the appeal of the writer, dozens of fiction and non-fiction titles were offered by one publishing house Gebethner and Wolff – for patriotic reasons but also with the opportunity to advertise subtly for their house – as Przybyszewski warmly thanked the donors in the press, noting that the declared ‘several dozen’ books testify to the noble modesty of the donor, who sent many more!13 In a similar manner, he gave his thanks for the seventy books donated by the Polish Teachers Association (Stowarzyszenie Nauczycielstwa Polskiego) from Vilnius.14 A long and diverse list of donors shows how much importance the Polish library in the Free City held for all Poles, not only the group residing in Gdańsk. It was more than a collection of books for the Polish youth, more than a patriotic manifesto even: it marked the historical presence of the Polish element in multicultural and multilingual Gdańsk. It was also, 10 Ibid., p. 405. 11 Ibid., p. 386. 12 Linkner, Tadeusz (2015) Publicystyka Stanisława Przybyszewskiego w Wolnym Mieście Gdańsku. Gdańsk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, p. 119. 13 Przybyszewski, Stanisław (1922). “O ‘Nasz Dom’. Introibo”. Gazeta Gdańska nr 138, p. 1–2. 14 Przybyszewski, Stanisław (1922) “Witajcie!”. Gazeta Gdańska nr 92, p. 1.
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as Przybyszewski implied, the starting point for a much wider project, which was that of acquainting the German inhabitants of Gdańsk with the culture of their Polish neighbours through the Polish literature, theatre and art, and achieving an agreement on the ‘way of cultural equalization’.15 The library held separate collections: the Professors’ Library (Biblioteka Profesorska) and Students’ Library (Biblioteka Uczniowska). In 1939, it numbered over 22,000 volumes, mostly in Polish, but also in the English, German and French languages,16 constituting a significant collection for all Poles in Gdańsk. The glorious development ended abruptly on September 1st, 1939 with the outbreak of the Second World War, when Gdańsk and the whole region of Pomerania were incorporated into the Reich. It is important to emphasize at this point that legally Gdańsk was not occupied. Unlike The General Governorate for the Occupied Polish Region (Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete/Generalne Gubernatorstwo), which incorporated the capital Warsaw and limited and controlled, but accepted public use of the Polish language in Gdańsk, as in all the Reich, small talks in Polish in the streets were penalized. The appearance of any official press in Polish, even censored, was out of question, and things like bilingual Polish-German public advertisements – accepted in the occupied capital – were simply forbidden. The most important aspect regarding the question of books follows the outbreak of the war. Books and magazines from immediately liquidated Polish institutions, such as the Polish Gymnasium in Gdańsk, as well as private collections of Polish intellectuals from all regions, were confiscated immediately in the first days of September 1939 and successively transferred to Gdańsk City Library (Danziger Stadtbibliothek), where the specialists decided about their fate. The City Library – known today as Polish Academy of Sciences Gdańsk Library (Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska)17 – has been operating practically continuously since its foundation in 1596. From 1935 informally and nominally from 1939 until the end of the Second World War, the duties of its 15 Przybyszewski, Stanisław (1922) “Droga do pojednania”. Gazeta Gdańska nr 109, 1. 16 Dzienis, Gimnazjum Polskie, p. 404. 17 The library formally joined the net of the Polish Academy of Sciences and adopted the name of the mother institution as a part of its own in 1955. After being put under Polish management in 1945, it existed initially as Municipal Library in Gdańsk (Biblioteka Miejska w Gdańsku); see: M[eller], B[eata] (2017). “1955 Powołanie Biblioteki Gdańskiej Polskiej Akademii Nauk” Aleksander Baliński, Anna Frąckowska, Maria Otto, eds. Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, p. 203.
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director were performed by Hermann Hassbargen, a doctor in philosophy and a historian.18 Post-war memoirs of Marian Pelczar mention Hassbargen’s notable hostility towards Polish scholars, for instance towards Professor Stanisław Kot from the Jagiellonian University, visiting the Library in 1938.19 Władysław Pniewski, teacher of the Polish Gymnasium, was not permitted to take photographs of the front pages of the 17th and 18th century books for students of Polish, printed in Gdańsk – Pniewski’s book about the Polish language in the historical Gdańsk, which came out in 1938, was therefore missing the illustrative material.20 The students of professor Roman Pollak from the University in Poznań likewise were not allowed to search the library catalogues for Polish prints.21 It is not a surprise that in the introduction to the first library report from the war period Hassbargen declared being ready and happy to perform ‘new tasks’, showing he was far from the ‘scholar beyond borders’ type and even less of a political rebel, following an anti-Polish course already before 1939.22 A selection of the books brought to the institution after the outbreak of the war took place under his supervision. Most of the literary works were rejected (and most possibly thrown out). However, the policy was different with regard to scientific and popular scientific works – they were carefully monitored by specialists, assessing their relevance for German researchers. Several hundred works, mainly in Polish, were neither thrown away nor hidden, but officially included in the library collection. The librarians provided them with reference numbers and intended for normal disclosure, after dividing the works into different sections depending on the subject matter. Apparently, the language did not prevent the Polish books from being considered as potentially useful, albeit in a different context. In a grotesque fulfilment of Przybyszewski’s wishes for ‘cultural equalization’ and acquainting the Germans with Polish history and
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P[inkiewicz, P[aweł] (2017). “1935. Dyrektor Hermann Hassbargen” Aleksander Baliński, Anna Frąckowska, Maria Otto, eds. Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, p. 169. 19 Pelczar, Marian (1968). “Wspomnienia z pierwszego roku pracy w Bibliotece Gdańskiej 1945–1946”. Libri Gedanenses. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, p. 32–33. The name of the visiting professor, not mentioned in the original memoir, was supplemented orally by Maria Pelczar, director of the library in the years 1998–2010 and daughter of Marian Pelczar; see: Binkowska, Dagmara (2018). “Biblioteka Miejska w Gdańsku (Danziger Stadtbibliothek) w latach 1905–1945”. Libri Gedanenses XXXV, p. 26. 20 [Nowak, Zbigniew] (1998). “Z dziejów Biblioteki”. Maria Babnis, Zbigniew Nowak, eds. Bibliotheca Senatus Gedanensis 1596–1996. Dzieje i zbiory. Gdańsk: Wydawnictwo Gdańskie, p. 35–36. 21 Ibid., p. 36. 22 Binkowska, Biblioteka Miejska w Gdańsku, p. 25.
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works of art, the books were to be used by German scholars and citizens interested about a country which was supposedly considered as non-existent. The provenance file of the Gdańsk Library, created after 1945, shows the sources of the origin of library acquisitions from the 19th- and the first half of the 20th centuries, other than regular purchases. Cancelled library stamps allow us to trace the original institutions that the books once belonged to. They document Hassbargen retaining 706 titles from the old collections of the Polish Gymnasium – the number may be larger, as we do not know whether the file is complete and cannot say for sure whether it really captures all the books the Library took over. Anyway, this approximated number allows us to make an estimation of the thematic profile of the library collections taken over from the Gymnasium in 1939. It shows what was interesting for the German librarians enough to ignore the language of the issue and keep the Polish book for the future researchers of the Third Reich. The aforementioned provenance file confirms that out of 706 titles, 596 were in Polish, 73 – mainly devoted to regional history – in German, 35 in French and 2 in English. The prevailing number of Polish books in the looted collection is significant, as regardless of the war going on, their content was considered relevant. When deciding on assigning individual books to specific sections, Hassbargen followed the systematic catalogue introduced in the Library in 1900, developed by the then director, Dr Otto Günther, who was trying to modernize the institution. The catalogue met the conditions of the categorization of fields of knowledge adopted at its time. It included twenty-three main sections, in accordance with the German standard of the period signed with successive capital letters of the alphabet, where each main section contained subcategories marked with small letters of the alphabet, narrowing the thematic scope of the book collection included in them.23 Examples of the titles enable to roughly show what the German librarians were interested in: 34 books – 29 in Polish – were added to the library section marked Fb, standing for the theory of education and upbringing. One title is very moving: “Jak kochać dziecko” (“How to Love a Child”) by Janusz Korczak,24 a famous Polish pedagogue of Jewish origin. We can only speculate if the anonymous Polish-reading person going through the piles of the looted books was aware of this fact: they were, however, able to estimate the pedagogical value 23 24
B[inkowska], D[agmara] (2017). “1900 (1) Nowy katalog systematyczny” Aleksander Baliński, Anna Frąckowska, Maria Otto, eds. Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, p. 159. Korczak, Janusz (1929). Jak kochać dziecko. Internat. Kolonje letnie. Dom sierot. WarszawaKraków: Wydawnictwo J. Mortkowicza. Shelf-number: Fb 1495/10 8°.
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of the book and to save it in a German library, while the author was sent to die in the Treblinka extermination camp in 1942. An interesting example of a different kind is the 65 books placed in the Dm section, standing for the studies of Slavic and Baltic literature. Selected Polish-language literary monographies, like one on a renaissance writer Jan Kochanowski,25 were acceptable, especially when its author, like Stefan Adam Schmidt, had a German-sounding name. Nobody had anything against neutral classics and a modern edition of Ignacy Krasicki’s “Satires”26 – ironic poems from the second half of the 18th century, criticizing Polish customs, clergy and politics leading to the country’s downfall. A famous Polish comedy play from 1838 – “Zemsta” (“Revenge”) by Aleksander Fredro27 – was considered politically correct. The knowledge about Polish literary life of the first decades of the twentieth century, albeit twisted in a grotesque way and far from the idealistic concepts of the cosmopolite cross-cultural exchange Przybyszewski wrote about, helped to make a narrow selection of modern authors interested rather in universal than patriotic topics. One of them was the poet Leopold Staff,28 a respected translator of German literature. It is possible that his achievements in this field, which included introducing the Polish-speaking audience to the works of Friedrich Nietzsche, influenced the decision to let the author’s own poetic works stay on the shelves of the City Library. Historical novels and poems referring to the part of Polish history that was shared with Germany were definitely a thing of interest to German scholars, regardless of the political allusions hidden between the lines. This policy saved a copy of Józef Ignacy Kraszewski’s “Brühl”,29 as every educated German librarian recognized the name of the 18th-century Polish-Saxon diplomat and strategist. Perhaps the biggest surprise among the titles selected by Hassbargen is a student edition of a narrative poem “Grażyna” by Adam
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Schmidt, Stefan Adam (1934). Jan Kochanowski. Lwów: Państwowe Wydawictwo Ksiażek Szkolnych. Shelf-number: Dm 3460 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82500. Krasicki, Ignacy (1922). Satyry. Ze wstępem i objaśnieniami. Warszawa: Wydawnictwo M. Arcta. Shelf-number: Dm 3517 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82481. Fredro, Aleksander (1929). Zemsta. Komedja w czterech aktach Jan Nepomucen Miller, ed. Warszawa: Instytut Wydawniczy “Bibljoteka Polska”. Shelf-number: Dm 3175/2a 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82472. Staff, Leopold (1922). Gałąź kwitnąca. Warszawa: Instytut Wydawniczy “Bibljoteka Polska”. Shelf-number: Dm 4156/3 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82820. Kraszewski, Józef Ignacy (1929). Brühl. Czasy saskie. Warszawa: Wydawnictwo M. Arcta. Shelf-number: Dm 3547 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82511.
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Mickiewicz,30 widely regarded as Poland’s greatest poet and a principal figure in Polish Romanticism – a period known for its rebellious undertones, present especially in the literature of the partitioned Poland. The plot was probably known to every child educated in Polish schools in the interwar Gdańsk as well as it is nowadays: Grażyna, a mythical Lithuanian duchess from the times of the Polish-Lithuanian Commonwealth, puts on a male armour and leads an army against the forces of the medieval Order of the Teutonic Knights, dying in the battle, but – as the author openly says – setting an example of bravery for her husband, who preferred to make a pact with the Order. For the German intellectuals going through the text, the Teutonic Knights – a historical military order of German origin – were probably the most important part of the story. Regardless of the Polish view on them and the hidden call to fight for independence, German patriotism was obviously satisfied with the portrayal of the Order as a powerful force, moreover – actually winning at the end of Mickiewicz’s story. Fiction concerning Pomerania and Gdańsk was of special interest to the staff, who decided to keep Maria Konopnicka’s book “W Gdańsku” (“In Gdańsk”),31 as well as Deotyma’s “Panienka z okienka” (“Maiden in the Window”),32 a sentimental historical novel set in the 17th-century Gdańsk. Collecting books on the history of the region was in line with the concept expressed in 1905 by the aforementioned director Günther that the role of the City Library, apart from the protection of its historical collections, was primarily to collect publications on the broadly understood history of the city and the region. He assumed that the Library should collect all humanistic writings from the area of West Prussia.33 However, seeing it primarily as a scientific library, he was generally against collecting fiction. This policy was modified by his successor, Hassbargen, who decided to include in the Library also a certain number of modern fiction works, not for entertainment though, but for scientific research – it is worth noting that due to the Polish language, the books were legally unavailable anywhere else in the region. The change in the status of the City in September 1939 modified the interpretative context of the books completely. A little bit of Polish history and culture 30 Mickiewicz, Adam (1928). Grażyna. Powieść litewska Józef Tretiak introd., Henryk Życzyński ed. Kraków: Krakowska Spółka Wydawnicza. Shelf-number: Dm 3698 8°. 31 Konopnicka, Maria (1924). W Gdańsku. Warszawa: Gebethner i Wolff. Shelf-number: Dm 3467 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82504. 32 Deotyma (Jadwiga Łuszczewska) (1935). Panienka z okienka. Starodawny romansik. Warszawa: Dom Książki Polskiej Spółki Akcyjnej. Shelf-number: Dm 3623/4 8°, after 1945 recatalogued under the shelf-number I 82406. 33 Binkowska, Biblioteka Miejska w Gdańsku, p. 9.
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was acceptable, as long as it did not contradict the ideology of German superiority. The titles meant to build a sense of national identity in the students of the Gymnasium and to give their professors a sense of connection with Polish cultural life, were turned into source texts of foreign philology, of interest only for a narrow group of researchers. Books the knowledge of which before the outbreak of the war united the Polish-speaking elites, were degraded to scholarly curiosities of little importance. It is interesting to note that in 1945, when the control over the Library was taken over by Polish authorities, the books almost immediately returned to their original educational function, serving the post-war Polish students. Before the publishing institutions could start to work once again, they had the special value of the example of not so many Polish volumes preserved in the region; moreover – thanks to the German librarians, in quite a good condition. A selected part of the Gymnasium’s collection which was meant to instil in its students an interest in the broadly understood region and to provide them with knowledge about the Polish-German history of the city in which they live, was added to the O section, standing for the former Prussian provinces. The City Library had obviously many books on German lands, but additions were always appreciated and a few books went to the subsection Oa (East and West Prussia) and Ob (East Prussia), 15 to Oc (West Prussia) and 26 to the section Od, referring to Gdańsk. As much as the collection of the few centuries old City Library on local history was far superior in number than the one belonging to the Polish Gymnasium, there were always prints – in various languages – the institution lacked, published sometimes in a very small circulation and far from Gdańsk. The city’s ties with Poland were obviously a topic to be studied in future, therefore a green light was given to Polish scholarly monographies like “Gdańsk, Polska a Niemcy” (“Gdańsk, Poland and Germany”) by Stanisław Sławski,34 “Historja Polskiej Królewskiej Poczty w Gdańsku od roku 1654 do roku 1793 spisana na podstawie niemieckich źródeł historycznych” (“History of the Polish Royal Postal Service in Gdańsk from the Year 1654 to 1793, According to German Historical Sources”) by Kazimierz Lenartowicz,35 “Gdańsk za czasów Stanisława Leszczyńskiego (1704–1709, 1733–1734)” (“Gdańsk in the Times of King Stanisław Leszczyński …”) by Alfons Wodziński,36 or, valuable 34 Sławski, Stanisław (1926). Gdańsk, Polska a Niemcy. Poznań: Stanisław Sławski (selfpublishing). Shelf-number: Od 87 4°, 3 in. 35 Lenartowicz, Kazimierz (1924). Historja Polskiej Królewskiej Poczty w Gdańsku od roku 1654 do roku 1793 spisana na podstawie niemieckich źródeł historycznych. Gdańsk: editor unknown. Shelf-number: Od 100/1 4°, 18 in. 36 Wodziński, Alfons (1929). Gdańsk za czasów Stanisława Leszczyńskiego (1704–1709, 1733– 1734). Kraków: Skład Gł. w Księgarni Gebethnera i Wolffa. Shelf-number: Od 5083 8°.
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for specialists, “Ex-librisy gdańskie” (“Gdańsk Bookplates”) by Kazimierz Reychmann.37 It is worth reminding that these pre-1945 books about various, often narrow aspects of Gdańsk and Pomeranian history, are today the things most frequently asked for by readers and used by librarians in scholarly work. Published in a small number of copies, of which only a few, if not often one only survived the war, constitute now a valuable part of the collection of the Gdańsk Library of the 19th and the first half of the 20th century. Providing material for the scholars interested in the past, the librarians had in their minds the duty to provide the citizens of Gdańsk with the books capable of giving them a deeper insight into the present as well: two dozen books supplemented the collections in the field of political sciences (Ka), politics (Kb), social sciences (Kc) and political economy (Kd). The year 1945, with Poland forced to join the block of countries controlled by the Soviet Union, was once again a change in their interpretative context. The value of modern books, which could be used to support the thesis that the Polish-speaking intellectuals concentrated around the Polish Gymnasium in Gdańsk were ‘deeply interested’ in socialist movements and communism, rose highly. Assumptions that the readers of these books were clearly aiming for a closer relationship with the USSR made the end of the war a starting point to once again re-interpret the history of the city according to political needs. 28 titles enriched the library section devoted to universal history (M). According to German specialists, there was nothing controversial in Polishlanguage works on ancient (Mb) and medieval (Mc) history, and therefore several volumes were declared potentially valuable – a book like Włodzimierz Dzwonkowski’s “Podręcznik historyi średniowiecznej” (“Handbook of Medieval History)”38 could, after all, provide some information on Polish-German historical ties. The subsection dedicated to the history from the 16th century to the year 1914 (Md) was enlarged by a few books describing moments when German military forces influenced the history of other countries – like German troops in 1527, talked about by Zdzisław Morawski in his “Sacco di Roma” (“Sack of Rome”),39 and the role of the Prussian army in the Battle
37 Reychmann, Kazimierz (1929). Ex-librisy gdańskie. Warszawa: Kazimierz Reychmann (self-publishing). Shelf-number: Od 19668 8°. 38 Dzwonkowski, Włodzimierz (1923). Podręcznik historii średniowiecznej do użytku szkół średnich. Warszawa: Wydawnictwo M. Arcta. Shelf-number: Mc 347 8°. 39 Morawski, Zdzisław (1923). Sacco di Roma. Z ośmioma rycinami. Kraków: Krakowska Spółka Wydawnicza. Shelf-number: Md 2850/2 8°.
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of Valmy in Adam Szelągowski’s “Rewolucja francuska 1789–1793” (“French Revolution 1789–1793”).40 What must have truly interested the German librarians in the collection of the Gymnasium were the monographs on the recent First Word War. Rafał Czeczott’s “Wojna morska na Bałtyku 1914–1918” (“Naval War in the Baltic Sea”)41 and Włodzimierz Dzwonkowski’s “W ogniu armat” (“Under Cannon Fire”)42 enriched the subsection Me with the point of view of Polish historians and soldiers, often fighting in the German army. Today, the value of the collections from section N, covering European countries with ethnic studies, prehistory, history, history of culture, economy and sociology, administration and religious history, differs from what it was in 1939: with time passing, the data – although still valuable – refers more and more to the world that used to be, past instead of present. It is where the German librarians of the City Library placed in bulk the part of the Gymnasium’s collection, which they did not separate into smaller sections. This part, almost entirely in Polish, includes 493 titles out of the already mentioned total of 706: that is over two thirds of the books looted from the Polish Gymnasium. Hassbargen’s staff took symbolically a few books about Germany and Austria, concluding that their content would be less rich and secondary to the collections of the City Library. 65 books collected by the Poles enriched the shelves alongside the books on Russia and Baltic lands (Nk). What is interesting, the section absorbed the books on the history of Warsaw (!) – Wiktor Gomulicki’s “Opowiadania o starej Warszawie” (“Short Stories about Old Warsaw”)43 as one example among 16 titles – treating it not as a Polish city, but as a Russian one (!), probably deliberately referring to the 19th-century state of things during the partitions of Poland and ignoring its later regained independence. The subsection Nl, distinguishing Poland in the group of ‘foreign’ countries, has received as many as 378 titles more than half of all the books taken over from the Gymnasium centred around the history, culture and geography of Poland. Although the books were almost exclusively in Polish – the language forbidden on Gdańsk streets – the specialists treated them as a valuable 40 Szelągowski, Adam (1934). Rewolucja francuska 1789–1793. Lwów: Nakładem Filomaty. Shelf-number: Md 10885 8°. 41 Czeczott, Rafał (1935). Wojna morska na Bałtyku 1914–1918. Warszawa: Wydawnictwo Ligi Morskiej i Kolonialnej. Shelf-number: Me 6948 8°. 42 Dzwonkowski, Włodzimierz (1914). W ogniu armat. Wrażenia naocznego świadka z linii bojowej w Opolszczyźnie Lubelskiej (sierpień-listopad 1914). Warszawa: Księgarnia E. Wende i Spółka. Shelf-number: Me 12600 8°. 43 Gomulicki, Wiktor (1913). Opowiadania o starej Warszawie. Vol. 1–2. Warszawa: Składy Główne. E. Wende i Spółka. Shelf-number: Nk 11958/10 8°.
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resource of information about the country from the past. Specialized monographies on narrow topics, such as Franciszek Kamocki’s on Polish vexillology44 and Marian Gumowski’s on numismatics45 had universal value, regardless of the language of the editions. No matter the political situation, the position of the mountains and the sea does not change and the utility of studies devoted to Polish geography, including popular handbooks like Konstanty Bzowski’s “Geografja Polska” (“Polish Geography”),46 was obvious, reducing what used to be an element of patriotic education to a collection of pure facts. The approach to Polish history, once forming the centre of the gymnasial collection, was selective. A once supposedly large number of books was reduced to a few monographs – for instance: Joachim Lelewel’s “Dzieje Polski” (“History of Poland”) from 1829,47 ending with the partitions and not having the ability to mention the independence regained in 1918. Letters of the romantic poet Juliusz Słowacki48 and memoirs of the aforementioned Stanisław Przybyszewski49 could be accepted, not as a courtesy towards Polish culture though, but out of the knowledge about both artists being deeply immersed in the cosmopolitan cultural circles of their time. In Przybyszewski’s case, his friendship with August Strindberg, Carl Ludwig Schleich, Richard Dehmel, Edvard Munch and many others was a strong argument to respect his writings. Several selected biographies of Polish historical and contemporary figures survived as well: it was pointless to deny the existence of Jan Śniadecki, a mathematician, astronomer and philosopher active at the turn of the 18th and 19th centuries,50 or forget Marshall Józef Piłsudski who died in 1935.51 The latter is particularly interesting when it comes to studying the influence of politics 44 Kamocki, Franciszek (1917). O proporcach, banderach, sztandarach i kokardach. Warszawa: Franciszek Kamocki (self-publishing). Shelf-number: Nl 1199 8°. 45 Gumowski, Marian (1924). Monety polskie. Warszawa: Marian Gumowski (selfpublishing). Shelf-number: Nl 1370 8°. 46 Bzowski, Konstanty (1921). Geografja Polski. Podręcznik szkolny dla młodzieży w wieku powyżej 15 lat. Z licznemi rysunkami i mapkami. Kalisz: Skład Główny w Księgarni M. Arcta. Shelf-number: Nl 767/4 8°. 47 Lelewel, Joachim (1829). Dzieje Polski: Joachim Lelewel potocznym sposobem opowiedział, do nich dwanaście krajobrazów skreślił. Warszawa: editor unknown. Shelfnumber: Nl 4082 8°. 48 [Słowacki, Juliusz] (1899). Listy Juliusza Słowackiego Leopold Méyet, ed. Vol. 1–2. Lwów: Księgarnia Polska. Shelf-number: Nl 2982 8°. 49 Przybyszewski, Stanisław (1930). Moi współcześni. Vol. 2. Warszawa: Instytut Wydawniczy “Bibljoteka Polska”. Shelf-number: Nl 2787 8°. 50 Straszewski, Maurycy (1875). Jan Śniadecki: jego stanowisko w dziejach oświaty i filozofii w Polsce. Kraków: Akademia Umiejętności. Shelf-number: Nl 2986 8°. 51 Pomarański, Stefan (1934). Józef Piłsudski: życie i czyny. Warszawa: Księgarnia Gustawa Szyllinga. Shelf-number: Nl 2750 8°.
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on the interpretative context of a book: after 1945, in Polish Gdańsk, pre-war books about Piłsudski were drawn reluctantly, as they glorified the fact that the co-father of Polish independence also won the war with the Bolsheviks in 1920, which was quite awkward with Poland being incorporated into the communistic bloc. In general, pre-1939 books about the Second Polish Republic (1918–1939) are all an interesting example of interpretative changes according to the needs of the political authorities. Works educative for the patriotic circles before September 1939, later during the war valuable for the Germans as a source of knowledge about the enemy’s politics, in the years 1945–1989 became controlled by Polish pro-communistic authorities as a source of knowledge perhaps not forbidden, but with a strictly limited access, provided to the ‘trusted researchers’ only. A notable exception were the studies proving Poland’s historical rights to the Baltic Sea, similar to Romuald Balaweder’s “Polska ma dostęp do morza” (“Poland Has Access to the Sea”)52 as the issue was brought up by the Polish side again after the end of the war, the monographs referring to the question were put on a pedestal after 1945. To sum up – it can be said that seven hundred and possibly more books, mostly Polish-language ones, were taken over in September 1939 from the liquidated Polish Gymnasium by the City Library, but it can also be said that thanks to the librarians a few hundreds of books survived. Taken out of the institutional context, physically ‘migrating’ within just one city, on a distance of less than an hour’s walk, after the changes of its political status, they were ending up in completely different countries: ‘moving’ from the Free City of Gdańsk to the Third Reich, then back to Poland. In just ten years, their interpretive context has changed several times. Before 1939, their value was based mostly on language and being a source of knowledge for people who wanted to cultivate their Polish identity. After the outbreak of the war, they became valuable as a source of knowledge about the country incorporated into the Reich. After 1945, they became a testimony to the presence of Poland in the Free City of Gdańsk, evidence of the city’s complicated history. Bibliography Binkowska, Dagmara: “1900 (1) Nowy katalog systematyczny”, Aleksander Baliński, Anna Frąckowska, Maria Otto, eds: Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska 2017, p. 158–159. 52
Balawelder, Romuald (1939). Polska ma dostęp do morza. (Wisłą do Bałtyku). Warszawa: editor unknown. Shelf-number: Nl 13645 8°.
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Binkowska, Dagmara: “Biblioteka Miejska w Gdańsku (Danziger Stadtbibliothek) w latach 1905–1945”, Libri Gedanenses XXXV, 2018, p. 7–39. Dzienis, Helena: “Gimnazjum Polskie Macierzy Szkolnej w Wolnym Mieście Gdańsku (1922–1939)”, Janusz Dargacz, Katarzyna Kurkowska, eds. Historie gdańskich Dzielnic. Vol. 2. Gdańsk: Muzeum Gdańska, 2019, p. 379–408. Gliński, Mirosław / Kuliński, Jerzy: Kronika Gdańska. Vol. 1. Gdańsk: Muzeum Gdańska, 2019. Linkner, Tadeusz: Publicystyka Stanisława Przybyszewskiego w Wolnym Mieście Gdańsku. Gdańsk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdańskiego, 2015. Meller, Beata: “1955 Powołanie Biblioteki Gdańskiej Polskiej Akademii Nauk”, in: Baliński, Aleksander/ Frąckowska, Anna / Otto, Maria eds.: Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, 2015, p. 202–203. Pelczar, Marian: “Wspomnienia z pierwszego roku pracy w Bibliotece Gdańskiej 1945– 1946”, Libri Gedanenses. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, 1968, p. 7–34. Pinkiewicz, Paweł: “1935. Dyrektor Hermann Hassbargen” in: Baliński, Aleksander/ Frąckowska, Anna / Otto, Maria eds.: Kronika Biblioteki Gdańskiej 1596–2016. Gdańsk: Polska Akademia Nauk Biblioteka Gdańska, 1968, p. 168–169. Przybyszewski, Stanisław: “Najpiękniejszy sen jubilata. Gimnazjum polskie w Gdańsku”. Gazeta. Dziennik Gdański nr 10, 1. Gdańsku”. Gazeta. Dziennik Gdański, 1922, nr 10, 1. Idem: “O ‘Nasz Dom’. Introibo”. Gazeta Gdańska 1922, nr 138, 1–2. Idem: Przybyszewski, Stanisław “Witajcie!”. Gazeta Gdańska, 1922, nr 92, 1. Romanow, Andrzej: “Zmiany obszaru gminy miejskiej Gdańska w latach 1920–1945” Edmund Cieślak, ed.: Historia Gdańska. Vol. IV/2. Sopot: Wydawnictwo Lex, 1999, p. 7–13.
Teil III Geschichte der Verluste aus deutscher Perspektive
Der Verweis ‚Kriegsverlust‘ in Bibliothekskatalogen Vanessa de Senarclens Abstract Der Verweis „Standort: Kriegsverlust“ unter den Titel des Buches wird bis heute in verschiedenen Variationen im digitalen Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin (StaBiKat) gegeben, um die Nutzer darüber zu informieren, dass das Buch nicht verfügbar sei. Der Verweis bewirkt auch, vielleicht unabsichtliches, leises Gedenken der Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Der Artikel analysiert das lexikalische Feld des Buchverlusts in der Verwaltungssprache der deutschen Bibliotheken sowie seine historische Entwicklung seit dem Kriegsende, über den Fall der Berliner Mauer hinweg bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Noch achtzig Jahre nach dem Krieg hält sich der Verweis „Kriegsverlust“ hartnäckig. Vom Zettelkatalog bis hin zum Digitalkatalog wird er weitervererbt, trotz aller Versuche, ihn zu tilgen. „Kriegsverlust“ bezeichnet Trauerobjekte, die – so das Fazit des Artikels – als solche das Ferment eines gemeinsamen europäischen Erbes bilden könnten. Aus dem Gedenken der Kriegsverluste in beiden Ländern sollten Forschungsverbunde und Partnerschaften zwischen deutschen und polnischen Bibliotheken angestoßen werden.
In seinem Essay „De Bibliotheca“ stellt sich Umberto Eco eine ideale Bibliothek vor und skizziert in dialektischer Absicht zunächst das dazugehörige Gegenmodell. Seine Beschreibung der „perfekt alptraumhaften“ Bibliothek in 21 Punkten beginnt wie folgt: Die Kataloge müssen so weit wie möglich unterteilt werden: Es ist größte Sorgfalt darauf zu verwenden, den Buchkatalog vom Zeitschriftenkatalog und diese beiden vom Sachkatalog zu unterscheiden, ohne die neu erworbenen Bücher und die älteren Anschaffungen zu vergessen. Wenn möglich, sollte die Schreibweise der beiden Kataloge (Neuerwerbungen und Altbestand) unterschiedlich sein: ‚Fantasie‘ mit einem F, aber bei Altbestand mit PH; ‚Tschaikowski‘ bei Altbestand mit C und bei Neuerwerbungen auf französische Art mit TCH.1
Als ich 1997 mit einem Dissertationsprojekt über Montesquieus Geschichtsschreibung von London nach Berlin zog, sagte man mir in einem ermutigenden Ton: „Du wirst sehen, was das 18. Jahrhundert angeht, ist Berlin großartig, man findet alles.“ Die Stadt sei eine Fundgrube dank des Preußens der Aufklärung, 1 Eco, Umberto: Die Bibliothek, München 1987, S. 15.
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_012
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eines Land, in dem sowohl verbotene Schriften als auch ihre Verleger und Autoren (Voltaire, der Marquis d’Argens, Francesco Algarotti, Julien Offray de La Mettrie, Pierre Louis de Maupertuis) willkommen waren. Und – in gewissem Sinne – war es auch so. Theoretisch waren alle Bücher verfügbar. Die Kataloge waren Fundgruben, in denen man alle Titel der Aufklärungsliteratur fand, bis hin zum obskursten pornografischen Revolutionslibell oder erlesenen geografischen Beschreibungen Chinas und Tibets. Wovor mich jedoch niemand warnte, war, dass die Kataloge der Staatsbibliothek zu Berlin in der Praxis dem von Umberto Eco beschriebenen „Albtraum“ ziemlich genau entsprachen. Man wollte über das 18. Jahrhundert forschen, aber man war zunächst mit den totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts konfrontiert, samt Millionen von Opfern, zerstörten Städten und in alle Winden verstreute Büchersammlungen. 1992, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, waren die beiden Bibliotheken – im Osten Unter den Linden im ehemaligen Monumentalbau des Kaiserreichs (1914), im Westen in dem von Hans Scharoun entworfenen genialen Raum (1978) – zu einer einzigen Institution zusammengeführt worden.2 Sie arbeiteten jedoch weiterhin mit parallelen, unvollständigen und teilweise widersprüchlichen Katalogen. Sie hielten an sich plausible Informationen bereit, die jedoch beim Abgleich nicht miteinander vereinbar waren. Als Benutzer musste man mit Deduktionen vorgehen, Querverweise wagen und ganz sicher Ausdauer beweisen. In der Potsdamer Straße gab es einen provisorischen „Alten Alphabetischen Katalog bis 1984“, und einen „Provisorischer Altbestandskatalog bis 1892“, der die 1,2 Millionen Bücher katalogisierte, die während des Krieges in den Westen Berlins evakuiert worden waren.3 Für die Bücher aus dem 18. Jahrhundert, die mich vornehmlich interessierten, musste man, in einem zweiten Schritt, den „Alt Realkatalog“ konsultieren, nämlich 2164 in Leder gebundene, vier Kilo schwere Foliobände, die nach der Systematik des 19. Jahrhunderts organisiert waren.4 Sie befanden sich aber physisch nur 2 Siehe dazu den Ausstellungskatalog: „Jetzt wächst zusammen …“. Eine Bibliothek überwindet die Teilung. Ausstellung Deutsche Staatsbibliothek. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. 11. November 1991 bis 11. Januar 1992, Berlin 1991; siehe auch Jammers, Antonius: Die Entwicklung der Staatsbibliothek zu Berlin nach ihrer Vereinigung, in: Spitzer, Gabriele (Hg.): Die Staatsbibliothek Unter den Linden. Ein Kolloquium in der Staatsbibliothek zu Berlin am 11 Juni 1997, Frankfurt a.M. 1997. 3 Hartwig, Franziska: Wie kommen die Karteikarten in den StaBiKat? Die Retrokonversion des Alten Alphabetischen Zettelkataloges, in: Bibliotheksmagazin 2, 2006, S. 10. 4 Schochow, Werner: Zur Geschichte des Realkataloges der preußischen Staatsbibliothek, in: Berliner Staatsbibliothek und ihr Umfeld: 20 Kapitel preußisch-deutscher Bibliotheksgeschichte, Frankfurt a.M. 2005, vor allem S. 95–105. Siehe auch den Link: https:// staatsbibliothek-berlin.de/recherche/kataloge-der-staatsbibliothek/alter-realkatalog-undhistorische-systematik (8.2.2022).
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im Haus Unter den Linden. Eine Mikrofiche-Version war allerdings in der Potsdamer Straße verfügbar, dank eines Geräts, das bei der Benützung Geräusche wie ein Rasenmäher machte. Seltsamerweise wurden die drei Millionen Bände der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek nach dem Krieg erstmal als verloren betrachtet. Die Bibliothekare waren vorrangig mit der „Kennzeichnung der Kriegsverluste bzw. des nach dem Zweiten Weltkrieg vorhandenen oder ergänzten Vorkriegsstandes“ beschäftigt.5 Alles war verloren, bis auf das, was „vorhanden“ war. Diese Bücher wurden bei den Nachkriegsrevisionen mit einem Rotstifthaken markiert. Dies betraf Millionen von Büchern; sie konnten bestellt und unter Aufsicht gelesen werden. Um Montesquieu im Original zu lesen, musste man im idiosynkratrischen Jargon der Staatsbibliothek die „Häkchen-Probe“ machen.6 Der rote Haken im Osten bestätigte den Glücksfall des Nichtverlustes, die Heimkehr des Buches nach dem Krieg, seine Verfügbarkeit.
„Kriegsverlust möglich“
Bei der Suche eines Buches im elektronischen Katalog der Staatsbibliothek – dem StaBiKat – kann man unter dem Bucheintrag bei der Rubrik „Standort“ bis heute mit den Warnhinweis „Kriegsverlust“, „Kriegsverlust möglich“ oder „Bestand erfragen: Kriegsverlust möglich“ konfrontiert werden.7 Vor allem wenn es sich um ein älteres Buch handelt. Das zusammengesetzte Wort – Krieg und Verlust mittels Genitiv miteinander verbunden – wird definiert als das, was aufgrund eines Krieges verloren ging und immer noch verloren ist. Grammatikalisch bestimmt das erste Wort – der Krieg – das zweite Wort – den Verlust. Diese Bezeichnung betrifft Bücher aus den Sammlungen der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek (PSB), die zwischen 1941 und 1945 zum Schutz 5 „Die Preußische Staatsbibliothek hatte im Jahre 1942 einen Bestand an Druckschriften von 3.030 410 Bänden […] es wird geschätzt, dass zum 31.12.1946 rund 800.000 Bände wieder im Haus Unter den Linden vorhanden waren.“ Kittel, Peter: Die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und ihre Alter Realkatalog, Berlin 1994, S. 17. 6 „In Zeiten zweier deutscher Staaten war es eine große Hilfe, den Alten Realkatalog (ARK), der physisch zu etwa vier Fünfteln ins Haus Unter den Linden zurückgekehrt ist, als Mikrofiche-Ausgabe auch ‚im Westen‘ zur Hand zu haben, weist er doch mittels auf den Katalog angebrachter ‚Haken‘ die im Haus Unter den Linden gesicherten Standorte nach. Für das Haus Potsdamer Straße leistet dies der so genannte RK, der Realkatalog des Altbestands“. Jacobs, Andrea: Kriegsverlust möglich. Die Revision des Altbestands in der Staatsbibliothek, Bibliotheksmagazin 2, 2006, S. 14. 7 2006 las man diese Warnung noch in 1,7 Millionen von Fällen, siehe Jacobs, Kriegsverlust möglich, S. 13.
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vor den Bombenangriffen auf die Hauptstadt Berlin in den Osten – Schlesien und Pommern – verlagert worden waren.8 Diese Bezeichnung macht Platz für das Ungewisse, das Mögliche, für eine laufende Suche und für eine immer noch unvollendete Geschichte, die auf das letzte Wort wartet. Ein E-Mailaustausch vom März 2022 mit Michaela Scheibe, der Stv. Leiterin der Abteilung Handschriften und Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin, bestätigt diesen Eindruck: „Die Angaben werden laufend aktualisiert, sobald wir ein Buch zurückbekommen oder ein verstelltes Exemplar wiederauftaucht, wird der Standort angepasst.“9 Diese Terminologie hat eine Geschichte, aber sie entlehnt sich auch einer Metaphorik. Man spricht im Zusammenhang mit Buchverlust oft von „Zersplitterung“, von „Zerstreuung“, aber auch von verletzten Körpern, deren Teile abgeschnitten sind. Ein verbliebenes Buch wird manchmal als ein „Torso“ beschrieben, wenn die dazugehörenden Bände „spurlos“ verschwunden sind. Während Kunstwerke oft als „verschollen“ bezeichnet werden, betrachtet man Bücher eher in Bezug auf ihre Materialität: Sie sind „verlegt“, „verloren gegangen“, eigenhändig von den Nationalsozialisten „angezündet“ und „verbrannt“.10 Ihre Asche bildet den Nährboden der Botanik,11 das Leder ihrer Einbände wird von Mäusen gefressen. Bei den Verlagerungen, die sie schützen sollten, indem sie in die Landschaften Schlesiens oder Pommerns, aber auch nach Westen in die Salzbergwerke gebracht wurden, erlitten sie allerlei für Büchersammlungen eher untypische Schäden: Sie wurden vom Salz der 8
Siehe Kittel, Peter: Bestände aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek in Polen, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXIX, 1992, S. 113–149. Das Standardwerk zum Thema Verlagerungsgeschichte der Staatsbibliothek zu Berlin bleibt Schochow, Werner: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung. Berlin/New York 2003. 9 Laut einer E-Mail vom 18.3.2022 von Michaela Scheibe, Stv. Leiterin der Abteilung Handschriften und Historische Drucke Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. 10 In dem Ausstellungskatalog der Staatsbibliothek von 1992 liest man sogar von einem Brand, von den Nationalsozialisten angestiftet: „Während des Zweiten Weltkrieges hatte man nicht nur Handschriften, Bücher, und Zeitschriften aus der Preußischen Staatsbibliothek ausgelagert, auch die Kataloge versuchte man an sicheren Orten vor Kriegszerstörungen zu bewahren. […] Die 3644 Foliobände des Alphabetischen Bandkataloges kamen in das Kalkbergwerk Rüdersdorf bei Berlin. Dort wurden sie kurz vor Kriegsende von der SS angezündet und völlig zerstört.“ AK [Ausstellungskatalog] „Jetzt wächst zusammen …“, S. 30. Über diesen Brand konnten keine weiteren Informationen gewonnen werden. 11 So die traurige Feststellung von Werner Schochow über ausgelagerte Bücher in Schlesien, die von einer Tieffliegerattacke getroffen sind: „Zurück bleibt eine ausgedehnte Aschenschicht auf der sich in den späteren Jahrzehnten die Botanik breitmacht.“ Schochow, Bücherschicksale, S. 106.
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Bergwerke,12 in denen sie gelagert wurden, zersetzt, oder, noch abrupter, „fielen beim Verladen in Kähne ins Wasser.“13 Mit der Wortwahl des Buchverlusts konzentriert man sich mal auf den Gegenstand, mal auf die Leere, die sein Verlust bewirkt. Man spricht dann von „Bibliothekslücken“. Entsprechende Katalogkarten dokumentieren diese und nehmen die leeren Plätze ein. Es gibt auch „Lückenkarteien“, die eigentlich das Gegenteil bezeichnen, sie verweisen auf vorhandene Bücher, die aber keinen Katalogeintrag haben.14 Und dann gibt es noch die Bücher, die unerwartet wie reumütige Teenager plötzlich wieder zu Hause auftauchen, die „zurückgekehrten Bücher“ oder „Rückkehrer“15. Schließlich sind da noch nicht zurückgekehrte Bücher, auf die mit wachsender Ungeduld gewartet wird, ob sie wieder „auftauchen“. Man müsse, so liest man im „Jahresbericht der Staatsbibliothek zu Berlin preußischer Kulturbesitz 2006“, endlich die „Kriegsfolgen beseitigen“, um auf der Grundlage einer genauen Bestandsaufnahme „Klarheit über tatsächliche Kriegsverluste herzustellen.“16
Die Katastrophe
Der Begriff „Katastrophe“ taucht erst 1947 in einem Aufsatz mit dem Titel „Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Krieg“ von Georg Leyh auf.17 Auf der ersten Seite stellt der Autor fest: „Es ist eine Katastrophe, die in der Geschichte der Bibliotheken und in der Geschichte der Wissenschaften keinen Vergleich kennt.“18 Der Begriff der Katastrophe, den Leyh auch im 12 „In den Salinen drang der feine Salzstaub selbst in die Kirsten.“ Leyh, Georg: Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Krieg, Tübingen 1947, S. 11. 13 „Es war unvermeidlich, dass schon beim Abtransport unverpackter Bestände Verluste eintraten. Bücher fielen ins Wasser beim Verladen in die Kähne, sie fielen aus den Eisenbahnwaggons und gerieten unter die Räder. Ganze Waggons sind unterwegs verschollen.“ Leyh, Bibliotheken, S. 11. 14 Kittel, Staatsbibliothek, S. 11. 15 Schneider-Kempf, Barbara: Restitution, Rückkehrer, in: Jahresbericht 2010 der Staatsbibliothek zu Berlin preußischer Kulturbesitz, S. 18. 16 Schneider-Kempf, Barbara: Noch immer nötig: Kriegsfolgen beseitigen und Klarheit über tatsächliche Kriegsverluste herstellen, in: Jahresbericht 2006 der Staatsbibliothek zu Berlin preußischer Kulturbesitz, S. 6–7. Siehe auch: Hamann, Olaf: Auf Büchersuche, in: Mitteilungen SBB PK, N.F. 10, 2001, Nr. 1., S. 130–149. Siehe auch Voigt, Gudrun: Die kriegsbedingte Auslagerung von Beständen der Preußischen Staatsbibliothek und ihre Rückführung. Eine historische Skizze auf der Grundlage von Archivmaterialen, Hannover 1995. 17 Leyh, Bibliotheken, S. 5. 18 Ebd., S. 5.
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Untertitel verwendet, klingt hier wie ein unausweichliches Naturphänomen, eine Kalamität, ohne klaren Agenten, ohne politischen Kontext, ohne erklärbare Kausalität: „Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken sind durch einen verantwortungslos angestifteten, ohne jede Rücksicht auf die Lebensbedingungen der europäischen Kultur hartnäckig durchgeführten und verlorenen Krieg auf das Schwerste getroffen.“19 Dieser erste Aufsatz nach dem Krieg macht die Isolation der deutschen Bibliotheken innerhalb Europas deutlich. Die Perspektive des Autors bleibt dezidiert national.20 Er verliert kein Wort über polnische oder russische Bibliotheken, die durch die Schreckenstaten des Nazi-Regimes zerstört wurden, und konzentriert sich ausschließlich auf die deutschen Verluste, die in seiner Rede oft mit den Verlusten für die „Wissenschaft“ verschmelzen. Wer war der Autor dieser Aufsatz? Georg Leyh (1877–1968) war Germanist und Bibliothekar, der in der Zwischenkriegszeit wichtige Führungspositionen in verschiedenen Universitätsbibliotheken in Posen, Berlin, Rom, Göttingen und Breslau bekleidete. Seine Beförderung zum Leiter der Preußischen Staatsbibliothek wurde aus politischen Gründen verhindert, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Er schrieb gegen die Dummheit der Propaganda und positionierte sich schon 1936 als Kritiker.21 1937 kündigte er seinen Posten als Direktor des „Vereins Deutscher Bibliothekare“ und weigerte sich, der NSDAP beizutreten. Er konnte sich dennoch während des Krieges und bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1947 als Leiter der Universitätsbibliothek Tübingen halten.22 Seine Verwendung des Begriffs „Katastrophe“, um den Zustand der deutschen Bibliothek nach dem Krieg zu kennzeichnen, erinnert an eine dramatische Handlung, die wie im Schema der antiken Tragödie dem Ende entgegeneilt; die Katastrophe ist die entscheidende Wendung zum Schlimmsten. Wann tritt sie nach Leyhs Auffassung ein? In einem weiteren im Jahr 1957 erschienen Aufsatz versucht er, die Geschichte der deutschen Bibliotheken von der Katastrophe 19 Ebd. 20 „Man suchte sich an die Macht des Geistes zu klammern als eine Art Selbstschutz gegen die anbrandenden Wogen der Zerstörung.“, Ebd., S. 13. 21 Hütte, Mario: „Herzlich grüßend und Heil Hitler!“ – Der Briefwechsel der Bibliothekare Georg Leyh und Karl Preisendanz während der Zeit des Nationalsozialismus, Stand: 14.9.2021, S. 26–29. https://doi.org/10.26205/opus-3090 (13.3.2022). 22 Siehe auch, Babendreier, Jürgen: Diskurs als Lebensform. Georg Leyh und seine Schrift „Die Bildung des Bibliothekars“, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte, Bd. 35, 2010, S. 81–97, aber auch Ders.: Ausgraben und Erinnern. Raubgutrecherche im Bibliotheksregal, in: Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Göttingen 2008, S. 28–31.
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her nachzuvollziehen. Er betitelt ihn „Epilog: Katastrophe und Wiederaufbau“.23 Er zeigt, dass die Katastrophe schon lange vor dem Krieg begonnen hatte, mit der Entstehung des von ihm als „der autoritäre Staat“24 bezeichneten Deutschlands im Jahr 1933. Dieser machte die Bibliothek zu einem Instrument seiner Politik und raubte Bibliothekaren und Lesern ihre Freiheit des Denkens. Leyh betrachtete dies als eine „Mechanisierung des geistigen Lebens.“25 Ab 1933 leerten sich die deutschen Bibliotheken, Bücher wurden verboten oder verbrannt, für das Ausland unzugänglich gemacht.26 Die barbarischen „Kriegshorden“ führten unweigerlich zum „Zusammenbruch“.27 „Der Gipfel der Unkultur war erreicht. Die Wissenschaft wurde politisch organisiert.“28 1943 schreibt er an einen Kollegen in Berlin: „Geschichte, und immer nur Geschichte studieren – das ist das einzige Mittel, um diese Welttragödie, in der wir mitten drin strecken, ertragen zu können“.29 Für diesen konservativen, idealistischen Patrioten begann das Desaster der deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken mit der Einmischung der Politik und dem Ende der Unabhängigkeit der Bibliothekare. Wie Jürgen Babendreier notiert: „Nach 1945 gilt die Erinnerung der Bibliothekare ihren zerstörten Gebäuden, ihren verbrannten Büchern und den Folgen der Bücher- und Bibliotheksvernichtungen […] Sie zählen sich innerhalb der Gruppe der Verlierer zu den wehrlosen Opfern einer Katastrophe.“30
23
Leyh, Georg: Die deutschen Bibliotheken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: Handbuch der Bibliothekswissenschaft, Bd. 3: Leyh, Georg (Hg.): Geschichte der Bibliotheken, Wiesbaden, 1957, vor allem: Epilog: S. 469–473. 24 Leyh, Bibliotheken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, S. 469. 25 „Die Mechanisierung des geistigen Lebens auf den Bibliotheken, das Klappern mit der tauben Nuss, ist die besondere Berufsgefahr.“ […] Jede Generation muss sich diese Wahrheit von neuem erwerben, um sie zu besitzen, Das große ihm anvertraute geistige Kapital wird der Bibliothekar nur dann fruchtbringend verwerten, wenn er, getragen von einer hohen Auffassung seiner spezifisch bibliothekarischen Pflichten, zugleich eine wissenschaftliche Persönlichkeit darstellt.“ Ebd., S. 468. 26 Ebd., S. 475. 27 Ebd., S. 473. 28 Ebd., S. 471. 29 „Geschichte, und immer nur Geschichte studieren, das ist das einzige Mittel, um diese Welttragödie, in der wir mitten drin strecken, ertragen zu können. Welche Tragödie liegt über der deutschen Geschichte! Die schauerlichen Abgründe, über die wir hinweg müssen, werden erst in den kommenden Generationen ganz erkannt werden, wenn der historische Abstand gewonnen ist u. die Memoiren u. das Archiv zu sprechen anfangen.“ Brief an Preisendanz von 15.3.1943 (UB HD Bl. 118) zitiert von Hütte, „Herzlich grüßend“, S. 52. 30 Siehe Babendreier, Ausgraben und Erinnern, S. 28.
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Die Trümmer beseitigen
Die Nachkriegszeit war geprägt von der Teilung Deutschlands und auf Bibliotheksebene von zwei durch Stacheldraht getrennte Institutionen, die das Erbe der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek für sich beanspruchten. In der DDR erschien 1956 der erste Aktivitätsbericht unter dem Titel „ZehnJahresbericht der Deutschen Staatsbibliothek, 1946–1955“.31 Die gemeinsame Anstrengung galt laut dem Bericht der „Beseitigung“, der „Instandsetzung“32, aber auch der „Säuberung der vorhandenen Bücherbestände von faschistischer und militaristischer Literatur“, also sowohl ganz konkret die Räumung des Schutts wie auch metaphorisch die Entfernung der Nazi-Propaganda aus den Bücherbeständen.33 Ein Organ in Leipzig übernahm die Aufgabe, Listen von auszusondernden Büchern zu erstellen. Sie bildeten eine „Sperrbibliothek“: „Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verstand es sich von selbst, dass die nationalsozialistische und militaristische Literatur aus den Bücherbeständen aller Art entfernt werden musste“.34 Die Arbeit des Bibliothekars wurde in dem Bericht wie die eines Baustellentechnikers beschrieben: Er sei derjenige, der aufräume, transportiere, Schäden beseitige und den Verkehr ermögliche. Es wurden neue Inventare erstellt. In diesem Zusammenhang entstand die Praxis der „roten Anhakung“, um die Bücher zu markieren, die den Krieg überdauert hatten. Man erfand auch die oben genannte „Lückenkartei“. Der Krieg wird in dem Bericht zwar als „mörderisch“ bezeichnet, aber aus dem Text ist nicht ersichtlich, dass er weitergehende politische oder historische Reflexion ausgelöst hat. Der Krieg sei Ursprung des Tatsächlichen, den der Bibliothekar bewältigen müsse. Er habe keine Akteure, keine Genealogie, sondern nur Auswirkungen. 1962 werden in einem zweiten Bericht aus der Bibliothek der DDR die Kriegsverluste auf 1,8 Millionen beziffert und der Bundesrepublik zugeschrieben, die diese beschlagnahmt habe:
31 Zehn-Jahres-Bericht der Deutschen Staatsbibliothek (1946–1955), Berlin 1956. 32 Ebd., S. 7. 33 Der Bericht beginnt wie folgt: „Als der mörderische Krieg am 8. Mai 1945 ein Ende gefunden hatte, wurde bereits am 17. Mai dem Magistrat von Berlin durch den sowjetischen Stadtkommandanten, Generaloberst Bersarin, der Auftrag erteilt, auch die Forderung des geistigen Lebens in seinen Aufgabenbereich einzubeziehen. […] Hatten sich schon im gleichen Monat zunächst 150 Mitarbeiter aus ihren Kellern in der Staatsbibliothek … um die Schuttmassen aus den umliegenden Straßen […] zu beseitigen.“, Ebd., S. 7. 34 Zehn-Jahres-Bericht der Deutschen Staatsbibliothek, S. 36.
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Fünfzehn Jahre nach Kriegsende sind 1.8 Millionen Bände, das heißt mehr als die Hälfte des seinerzeit ausgelagerten Bibliothekseigentums, […], darunter der größte Teil der Handschriften, Inkunabeln und Autographen, noch nicht zurückgekehrt. […] Dabei handelt es sich nicht etwa um Bestände, die durch Kriegseinwirkungen vernichtet wurden, sondern vielmehr um die Teile der Bibliothek, die auf Betreiben der Adenauer-Regierung in der Westdeutschen Bibliothek in Marburg widerrechtlich zurückgehalten werden.35
Werner Schmidt, der Autor, fährt fort, indem er die „Skrupellosigkeit“ und die „Hochstapelei“36 der Bonner Republik anprangert. Die in Berlin entwendeten Bücher seien in einem erbärmlichen Zustand, gestapelt „in feuchten Schlössern“. Aus der Perspektive der Bibliothekare aus dem Osten habe das „kapitalistische“, „imperialistische“ Westdeutschland keinen Sinn für die deutsche Kultur und ihre wissenschaftlichen Traditionen: Er beklagt die Umlagerung der Bücher „[…]in das Marburger Schloss in völlig unzulänglichen Räumen“; sie seien dort „gestapelt und damit Großteil dem Verderb preisgegeben.“37 Dieser Bericht erwähnt auch die polnischen Bibliotheken – allerdings nicht wegen der einst ausgelagerten deutschen Bücher, die sich dort im Zuge des Potsdamer Abkommen auf polnischem Gebiet befinden, sondern wegen der Bücher, die vom Naziregime, genauer gesagt vom Einsatzstab Rosenberg, dezimiert wurden: Beträchtlich sind aber auch die Schäden, die durch Vernichtung von Kulturgütern beim Überfall auf Polen und später in unvergleichlich größerem Ausmaß in der Sowjetunion von der Hitlerbarbarei angerichtet wurden […] Wie im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nachgewiesen wurde, hatte Hitler angeordnet, Bibliotheken und kulturelle Einrichtungen in den von den deutschen Truppen besetzten Ländern planmäßig zu durchsuchen und das Material aus diesen Instituten zu beschlagnahmen. Diese räuberische Tätigkeit wurde auf ausdrücklichen Befehl vom Einsatz Rosenberg […] ausgeübt.38
Demnach wurde das Bibliotheksdesaster von westdeutschen Akteuren verursacht und, wie dieses Zitat zeigt, wurde daraus abgeleitet, dass die Bibliothek im Ostteil der Stadt mit den Folgen dieser „räuberischen Tätigkeit“ nichts zu tun habe.
35 Schmidt, Werner: Die Verlagerung der Bestände im Zweiten Weltkrieg und ihre Rückführung, Deutsche Staatsbibliothek 1661–1961. I. Geschichte und Gegenwart, Leipzig 1961, S. 77. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Schmidt, Verlagerung, S. 78.
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Die „lädierten Bücherhaufen“ in Marburg
Im Westen gründete die Bundesrepublik 1949 die „Westdeutsche Bibliothek“, die 1957, zum Ärger der DDR, den Namen „ehemalige preußische Staatsbibliothek“ annahm, 1963 den Namen „Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz“ und schließlich 1968 „Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz“.39 Allein die Namensentwicklung für die West-Berliner Bestände manifestiert einen allmählichen Anspruch auf das preußische Kulturerbe. Dieser wurde noch deutlicher durch den Umzug der Bestände von Marburg nach West-Berlin, in das von Hans Scharoun zu diesem Zweck im Jahr 1977 errichtete Gebäude. Martin Cremer beschreibt die Arbeit der Nachkriegsinstitution rückblickend (1987) wie folgt: Man stand einem zu großen Teil lädierten Bücherhaufen gigantische Unordnung und große Ungewissheit über die Bestände gegenüber. In einer zeittypischen Wiederaufbauleistung machte eine davongekommene Generation den Versuch, die zerstörte Welt […] zu ihrem Teil wieder etwas in Ordnung zu bringen.40
Die Generation, die überlebt hat, oder, wie Cremer schreibt, die „davon gekommen ist“, muss die Aufgaben des Herkules bewältigen: Ordnung in die Haufen beschädigter und zerstörter Bücher bringen. Auf der Ebene der Funktionsweise der Institutionen berichtet Antonius Jammer von der Standardantwort, die Bibliothekare in West und Ost geben mussten: Nein, wir haben das Buch nicht, das Sie suchen. Es könnte sich in dem „anderen Haus“ befinden, mit dem wir aber nicht sprechen …41
Das „Schicksal“ der Bücher
Kurz vor dem Fall der Mauer trat dann ein Bibliothekar auf den Plan, der die historische Forschung zu diesem Thema über die deutsche Wiedervereinigung hinaus dominieren sollte: Werner Schochow. Er wurde 1986 vom Generaldirektor der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Ekkehart Vesper) beauftragt, die Evakuierung der Sammlungen während und nach dem Krieg zu beschreiben, mit dem Ziel, ihre „Rückführung“ oder ihre 39 40 41
Voigt, Kriegsbedingte Auslagerung, S. 54–57. Cremer, Martin: Einmal Berlin Marburg, in: Hausmitteilungen der Universitätsbibliothek Marburg, 1987, S. 158. (Zitiert von Schochow, Bücherschicksale, S. 222–223.) Jammer, Die Entwicklung der Staatsbibliothek zu Berlin, S. 38.
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„Wiederzusammenführung“ in Berlin zu ermöglichen.42 Der Begriff des Schicksals etabliert sich und, in Folge seiner Monografie, auch dauerhaft: „Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung dargestellt aus den Quellen“, 2003 erschienen. Bücher haben ein obskures Schicksal und die Rolle des Bibliothekars ist es zu versuchen, dieses zu erhellen. Schochow berichtet von einer typischen Diskussion, die er im Laufe seiner Forschung sehr oft mit polnischen Bibliothekarskollegen geführt habe und als „Ausgangslage“ beschreibt: A: Please, have you any books form the Berlin State Library? B: Why do you want to know this? A: I am trying to find the truth of what really happened to the books after the last war. My aim is to make a true record of the current location and states of the books from Berlin, as far as possible. B: Oh, I see that is another point! Let me think how I can help you.43
Dieser Dialog veranschaulicht mehrere Aspekte der Suche nach verlorenen Büchern während des Krieges. Auf deutscher Seite (A) die historische Forschung, verbunden mit einer existenziellen Suche nach der Wahrheit – find the truth/ true record – vor dem Hintergrund von Lügen, Gerüchten und Unklarheiten. Drängende Anfragen gemischt mit Sorge über den „Zustand der Bücher“, für die man sich weiter verantwortlich fühlt. Auf der polnischen Seite (B) verfliegt das Misstrauen schnell und die Bereitschaft zu helfen steigt, als es nicht mehr um rechtliche Fragen, sondern um die Geschichte geht.44
Verloren oder vorhanden?
Drei Jahre nach dem Fall der Mauer, 1992, schließen sich die beiden Institutionen unter dem Namen „Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz“ zusammen. Die Arbeit an den Katalogen beginnt von neuem. Man kehrt zu den Vorkriegskatalogen zurück, vergleicht und konvertiert. Als eines der wichtigsten Ziele der neuen Institution wird von Direktor Peter Kittel Folgendes genannt: die „Kennzeichnung der Kriegsverlust bzw. des nach dem Zweiten 42 43 44
Schochow, Von den Kriegs- und Nachkriegsschicksalen, S. 1. Schochow, Bücherschicksale, S. 103. Schochow betont auch, dass Historiker und Bibliothekare, denen das Buch und das kulturelle Erbe am Herzen lägen, immer in der Lage seien, sich über die Politik hinaus zu verständigen. Bücherschicksale, S. 113.
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Weltkrieg vorhandenen oder ergänzten Vorkriegsbestandes.“45 1995 erscheint der Katalog zu einer von der Staatsbibliothek organisierten Ausstellung mit dem Titel: „Verlagert, verschollen, vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek“, herausgegeben von Ralf Breslau. Der Katalog bekundet eine Treue zu den Büchern, die nicht zurückgekehrt sind und die immer noch vermisst werden: „Allerdings fehlen noch immer die zahlreichen bedeutendsten Bestände, welche nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch nicht nach Berlin zurückgekehrt sind.“46 Das Leitmotiv der Aufstellung bleibt das „Schicksal“ der Bücher. Die Bände, die sich in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau befinden, werden über die Jahre aufgelistet.47 Aber das Schicksalhafte, das bei der Geschichte diese Bücher nachhallt, wird mit den 300.000 Bänden in Verbindung gebracht, deren Verbleib noch immer ungeklärt ist.48 Das Ungewisse, der „unbekannte“ Standort der Bücher, die „spurlos“ verschwunden sind, wiegt schwerer als das Schicksal derer, die in Krakau sind. Der Katalog hat im Ton etwas von einer Litanei: Er betont die Verletzungen, die Leere, „die schmerzlichen Lücken“, die „nachhaltige“ Beschädigung der deutschen Sammlungen,49 er ruft aber auch dazu auf, Lösungen zu finden.
Mitteilungen und andere Nachrichten
In den folgenden Jahrzehnten, vor allem in den Jahresberichten der 2000er Jahre, wird der Ton weniger emotional, eher juristisch und abstrakt. Man verlässt das Register der beschwörenden Barockfugen – Tod, Chaos, Zerstörung – und bezeichnet in einer Verwaltungssprache den Verlust als Auswirkung eines abstrakten Phänomens: die „kriegsbedingte Verlagerung von Beständen“, „kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter“ oder auch „Bibliotheksgutes“ oder die „entzogenen Kulturgüter“. Man referiert auf das verlorene Buch fast ausschließlich mittels einer Metonymie: Das Buch steht für die Kultur insgesamt. In einer Mitteilung der Staatsbibliothek zu Berlin aus dem Jahr 2001 erwähnt Olaf Hamann die „Maßnahmen der Rückführung kriegsbedingt verlagerter 45 46
Siehe Kittel, Staatsbibliothek, S. 17. Breslau, Ralf (Hg.): Verlagert, verschollen, vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995. 47 Döhn, Helga: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin: Autographenkatalog auf CD-ROM, Wiesbaden 2007. 48 Breslau, Verlagert, verschollen, vernichtet, S. 10. 49 Ebd., S. 11.
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Kulturgüter.“50 Tabellen der gesuchten Werke, die nach Jahrhunderten geordnet sind, systematisieren das Ausmaß der Verluste.51 Die Forderungen werden flankiert von Verweisen auf das Völkerrecht und auf die glückliche Rückgabe von Sammlungen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien – „Georgien setzt ein Zeichen“52 – und Armenien. Die sensationelle Rückgabe des Archivs der Sing-Akademie zu Berlin aus Kiew in Jahre 2000 wird in diesem Kontext nicht erwähnt. Allerding gehört das Archiv der Sing-Akademie einem privaten Verein und nicht der Staatsbibliothek.53 Bezüglich Russland und Polen ist die Bilanz nüchtern. Nach der Euphorie über die Wiedervereinigung und dem ersten Austausch mit Russland macht der Bibliothekar keinen Hehl aus seiner Enttäuschung hinsichtlich der Verlustbilanz.54 Die Sprache wird immer technischer: Es gehe darum, Klarheit zu schaffen und Unordnung zu beseitigen. Manchmal wird auch auf das „geltende internationale Recht“ hingewiesen.55 Im Jahresbericht 2006 schreibt die damalige Direktorin Barbara SchneiderKempf offenbar zunehmend entnervt: „Noch immer nötig: Kriegsfolgen beseitigen“56 und bezieht sich damit auf die Überarbeitung des Katalogs und insbesondere auf den Begriff „Kriegsverlust möglich“: Die Bibliothekare – stets unterstützt von zwölf Hilfskräften, die von der Agentur für Arbeit vermittelt werden – gleichen jetzt die elektronischen Katalogeinträge ‚Kriegsverlust möglich‘ mit den in den Regalen vorgefundenen Bänden direkt ab. In kürzester Zeit können so die Katalogdaten eindeutig umgewandelt werden in ‚ausleihbar‘ oder ‚Kriegsverlust‘ – ein klares Plus für die Benutzbarkeit des Altbestandes und damit die Zufriedenheit der Benutzer.57
50 51 52 53
Hamann, Olaf: Auf Büchersuche, Mitteilungen SBB (PK), NF. 10, 2011, S. 13. Ebd., S. 144. Ebd., S. 131. Dazu siehe Fischer, Axel/Kornemann, Matthias: Mythen und Legenden: Die Restitution des Archivs der Sing-Akademie zu Berlin, in: The Archive of The Sing-Akademie zu Berlin. Catalogue, Berlin/New York 2009, S. 111–214. 54 „Der Runde Tisch deutscher und russischer Bibliothekare Ende 1992 machte die unterschiedlichen Positionen beider Staaten deutlich und zeigte, wie stark das Thema von Emotionen geprägt ist“. Hamann, Auf Büchersuche, S. 140. Über die deutsch-polnische Zusammenarbeit und auch Schwierigkeiten siehe Jammers, Antonius: Die Zusammenarbeit der Staatsbibliothek zu Berlin mit polnischen Bibliotheken. Die Beziehungen der Berliners Staatsbibliothek nach Polen. Reflexionen zur Zeit- und Bestandsgeschichte, Berlin 1997, S. 10–23. 55 Hamann, Auf Büchersuche, S. 130. 56 Jahresbericht Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz, 2006, S. 6. 57 Ebd.
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Die Kriegsverluste zu beseitigen, scheint im Kern die Anstrengung zu beinhalten, Ordnung zu schaffen und aufzuräumen. Kriegsverlust und Kriegsfolge werden zu einer technischen organisatorischen Angelegenheit gemacht für „die Zufriedenheit des Benutzers“, der damit nicht mehr tangiert werden soll.
Und wie sieht es jetzt aus, achtzig Jahre nach dem Ende des Krieges?
Neben der Suche nach den fehlenden Bänden wird seit ca. 2010 an der Staatsbibliothek systematischer nach der Herkunft von Büchern geforscht, die, wie es heißt, auf „Umwegen“58 in die Depots gelangt sind. Mit dem Betriff „Umwege“ wird euphemistisch die Enteignung von jüdischen Familien, Freimaurerlogen oder von Gegnern des NS-Regimes, einschließlich der Widerstandsgruppe rund um Graf Stauffenberg bezeichnet. Eine Arbeitsgruppe mit dem Titel „Transparenz schaffen“ wurde 2010 gebildet, um die systematische Aufarbeitung des NS-Raubguts vorzunehmen.59 Durch Bücher, die den Opfern des Holocausts gehörten, sah sich die Bibliothek mit ihrer Rolle als Institution während des Nazi-Regimes konfrontiert und gab im Zuge dessen im Jahr 2014 einen Sammelband heraus mit dem Titel: „Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung. Die Preußische Staatsbibliothek und das deutsche Bibliothekswesen 1933–1945“.60 Allerdings findet das Thema der polnischen geplünderten Bibliotheken unter den Kommando Paulsen keine Beachtung.61 Dieses Geschehen hat in Polen dank der Arbeit von Andrzej
58 Siehe Jahresbericht 2010, S. 19. 59 Ebd., S. 17. 60 Saur, Klaus G./Hollender, Martin (Hg.): Selbstbehauptung – Anpassung – Gleichschaltung – Verstrickung. Die Preußische Staatsbibliothek und das deutsche Bibliothekswesen 1933– 1945, Frankfurt a.M. 2014. Siehe auch Brandendreier, Ausgraben und Erinnern und Briel, Cornelia: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945, Berlin 2013. 61 Olaf Hamann behandelt das Thema polnische Bibliotheken im nur Allgemeinen und notiert die katastrophalen Folgen der Nazi-Ideologie in den östlichen Ländern: „Die Betrachtung der slawischen Völker als „Untermenschen“ wirkte sich hier dramatisch für die Bibliothekssammlungen aus: Was soll man auch für den Umgang mit materiellen
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Me̜żyński eine große Beachtung gefunden, in Deutschland wissen hingegen nur wenige Menschen davon.62 Gibt es möglicherweise noch polnische Bestände in deutschen Bibliotheken, die aus diesen Plünderungsaktionen resultieren? Eine offizielle Antwort seitens der Staatsbibliothek zu Berlin steht noch aus. Wie geht man als Institution im Kontext angebrachter Selbstkritik mit den eigenen Verlusten um? Wie kann man zwischen den beiden Rollen dieser Institutionen, als enteignete und enteignende, als zurückgebende und Rückgabe fordernde wechseln? Die Jahresberichte vollziehen dieses Kunststück in der Distanz, die die Sprache der Verwaltung verleiht. In den „Mitteilungen“ und „Jahresberichten“ geht es abwechselnd zwischen „Forschung zu NS-Raubgut“ und „Erschließung kriegsbedingt verlagerter Bestände der Bibliothek“ hin und her. Die „Rückkonvertierung“ der Karteikarten in eine elektronische Datenbank konfrontierte die Bibliothekare erneut mit der Bezeichnung „Kriegsverlust möglich“. Es betraf 2006 immerhin noch 1,7 Millionen Bücher im StaBiKat.63 Eine Überarbeitung wurde in Angriff genommen, mit dem Ziel, den Vermerk durch einen endgültigeren Hinweis zu ersetzen. Die Initiative stand unter dem oben zitierten Motto der Direktorin Schneider-Kempf „Kriegsfolgen beseitigen“. Diese Überprüfungsarbeit ist nun abgeschlossen. Und doch ist die Bezeichnung „Kriegsverlust“ geblieben, die sich als unüberwindlich erwies. Seit Ende 2018 und dem Abschluss des großen Revisionsprojektes zum Altbestand der Staatsbibliothek wurden viele Vermerke „Kriegsverlust möglich“ (für alle Bände, deren Standort nicht geprüft war) aus dem Katalog getilgt und spezifiziert mit „Kriegsbedingt verlagert, gegenwärtiger Standort bekannt“64 oder „Kriegsverlust, Standort unbekannt“.65 Bei gesichertem Verbleib in Polen wird
Gütern von Bevölkerungsgruppen erwarten, wenn schon diese Bevölkerung selbst mehrheitlich als minderwertig angesehen wird“: siehe Hamann, Olaf: Raub, Zerstörungen und Verlagerungen von Bibliotheksgut im Krieg. eine europäische Perspektive. In Saur, Klaus G./Hollender, Martin (Hg.): Selbstbehauptung, S.231–251, hier 243. 62 Me̜żyński, Andrzej: Kommando Paulsen. Organisierter Kunstraub in Polen 1942–1945, aus dem Polnischen übersetzt von Armin Hetzer, Köln 2000. 63 Hartwig, Wie kommen die Karteikarten in den StaBiKat?, S. 13. 64 Laut einer E-Mail von Michaela Scheibe von 24.3.2021, Leiterin (komm.) der Abteilung Historische Drucke Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, betrifft es „über 6000 Titel“. 65 Laut der gleichen Quelle betrifft es 684.000 Titel.
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der Hinweis gegeben: „Kriegsbedingt verlagert. Gegenwärtiger Standort.“66 Allerdings betrifft dies nur wenige Bände – im März 2021 lediglich 4970.67 In der Perspektive eines Buch- und Kulturhistorikers wäre es wünschenswert, wenn in solchen Fällen nicht nur der Name der polnischen Bibliothek erscheinen, sondern auch eine Vernetzung der deutschen und polnischen Kataloge angestoßen würde.68 Statt allein auf den Verlust der Bücher hinzuweisen, könnte konstruktiv und zukunftsorientiert auf die Verfügbarkeit der Bücher in Bibliotheken des Nachbarlands verwiesen werden. So könnte man aus der StaBiKat in Berlin die Verfügbarkeit des Buches in polnischen Bibliotheken prüfen und ein konstruktives Netz über die tragische historische Beziehung der beiden Länder knüpfen. Ich möchte in diesem Sinn den Kunsthistoriker Andrzej Tomaszewski zitieren, der viele Jahre über „das gemeinsame Kulturerbe“ nachgedacht und geschrieben hat. Er betrachtet es als Basis für den Aufbau Europas jenseits starrer juristischer Paragraphen:
66 Bei letzterem handelt es sich ausschließlich um den Hinweis auf die „Biblioteka Jagiellońska Kraków“, mit der die Staatsbibliothek seit längerer Zeit arbeitet und kürzlich im Projekt der Edition der Amerikanischen Reisetagebücher von Alexander von Humboldt erfolgreich kooperierte: Siehe Erdmann, Dominik/Weber, Jutta: Nachlassgeschichten – Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau, in: HiN: Internationale Zeitschrift für HumboldtStudien XVI, 31, 2015, S. 58–77 aber auch Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek Bibliotheca Iagellonica. Fontes et Studia 37, Krakau 2019, Einführung, S. V–VIII. Die Zusammenarbeit zwischen der Staatsbibliothek und der Bibliothek in Krakau fing allerdings schon Ende der 1970 Jahre mit der Erstellung von Listen an, dazu Kittel, Bestände aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek in Polen, S. 116–117. 67 Email von Michaela Scheibe, 24.3.2021. Eine Suche im online-Katalog Stabikat der Staatsbibliothek zu Berlin mit Suchschlüssel „Standort/ Hauskennung“ = 4 (Kriegsverlust) ergab am 8. Mai 2023 734.140 relevante Treffer; mit Suchschlüssel: Standort/ Hauskennung“ = 8 (Kriegsbedingt verlagert) 19.192 Treffer. Besitzstempel | Staatsbibliothek zu Berlin (staatsbibliothek-berlin.de). 68 Es sollten auch gemeinsame Forschungsprojekte im Bereich Provenienzforschung initiiert werden, wie Jakub Gortat mit seiner Arbeit zu den Beständen der Staatsbibliothek in Lodz, dazu siehe: Gortat, Jakub: Drucke des 16. Jahrhundert aus der Preußischen Staatsbibliothek in der Universitätsbibliothek Lodz, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2018, S. 97–108. Die Reihe „Studien zu kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern“, die von der Kulturstiftung der Länder und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz herausgegeben werden, wurde 2005 ins Leben gerufen. Der erste Band erschien 2019 bei Böhlau unter dem Titel: „Raub und Rettung. Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“ mit einem Vorwort von Hermann Parzinger. Dieser bezieht sich auf den deutsch-russischen Museumsdialog, der 2005 in Berlin initiiert wurde.
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Infolge von politischen Grenzverschiebungen ändert ein Kulturdenkmal seine Staatsangehörigkeit. Es wird zum heimatlosen Kulturerbe (‚le patrimoine expatrié‘). Ist aber die ortsansässige Bevölkerung vertrieben oder exterminiert worden, wird das Denkmal als Kulturerbe ohne Erben (‚le patrimoine en déshérence‘) eingestuft“. Deutsche und Polen verbindet das gleiche tragische Schicksal ihrer Kulturgüter. Beide Länder haben ihre jeweiligen Ostgebiete verloren und so sind die mit diesem Boden verwachsenen Denkmäler sowohl zum heimatlosen wie zum erblosen Kulturerbe geworden.69
Auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Linie geht es mit den Büchern um Verlustund Trauergeschichten. Sie könnten kulturwissenschaftliche Kooperationen und Verflechtungen anstoßen, im Rahmen derer das gemeinsame europäische Erbe erzählt wird.70 Literaturverzeichnis Babendreier, Jürgen: Diskurs als Lebensform. Georg Leyh und seine Schrift „Die Bildung des Bibliothekars“, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 35, 2010, S. 81–97. Ders: „Ausgraben und Erinnern. Raubgutrecherche im Bibliotheksregal“, in: Alker, Stefan/Köstner, Christina/Stumpf, Markus (Hg.): Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte Göttingen 2008. Breslau, Ralf (Hg.): Verlagert, verschollen, vernichtet … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995. Briel, Cornelia: Beschlagnahmt, erpresst, erbeutet. NS-Raubgut, Reichstauschstelle und Preussische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945, Berlin 2013 Cremer, Martin: Einmal Berlin Marburg, in: Hausmitteilungen der Universitätsbibliothek Marburg, 1987. Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2018. Döhn, Helga: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin: Autographenkatalog auf CD-ROM, Wiesbaden 2007. 69 Tomaszewski, Andrzej: „Kulturgüter – Kulturerbe – Kulturbesitz“, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXXVIII, Berlin 2001 (2002), 38, S. 167–173, hier: S. 168. 70 In ihrem programmatischen Aufsatz von 2017 mit dem Titel „Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe“ plädiert Bénédicte Savoy für einen offenen Umgang mit der Provenienz kunsthistorischer Objekte auf ihren Wegen im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts in die europäischen Sammlungen. Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018.
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Vanessa de Senarclens
Eco, Umberto: Die Bibliothek, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 1987 (erster Druck: De Bibliotheca, Milano 1981). Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek, Bibliotheca Iagellonica. Fontes et Studia 37, Krakau 2019. Erdmann, Dominik/Weber, Jutta: Nachlassgeschichten – Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau, in: HiN: Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien XVI, 31, 2015, S. 58–77. Fischer, Axel/Kornemann, Matthias: Mythen und Legenden: Die Restitution des Archivs der Sing-Akademie zu Berlin, in: The Archive of The Sing-Akademie zu Berlin. Catalogue, Berlin/New York 2009, S. 111–214. Gortat, Jakub: Drucke des 16. Jahrhundert aus der Preußischen Staatsbibliothek in der Universitätsbibliothek Lodz, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Lodz, Lodz 2018, S. 97–108. Hamann, Olaf: Auf Büchersuche, in: Mitteilungen SBB PK, N.F. 10, 2001, Nr. 1, S. 130–149. Hartwig, Franziska: Wie kommen die Karteikarten in den StaBiKat? Die Retrokonversion des Alten Alphabetischen Zettelkataloges, in: Bibliotheksmagazin 2, 2006, S. 10. Hütte, Mario: „Herzlich grüßend und Heil Hitler!“ – Der Briefwechsel der Bibliothekare Georg Leyh und Karl Preisendanz während der Zeit des Nationalsozialismus, Stand: 14.9.2021, S. 26–29. https://doi.org/10.26205/opus-3090 (13.3.2022). Jacobs, Andrea: Kriegsverlust möglich. Die Revision des Altbestands in der Staatsbibliothek, in: Bibliotheksmagazin 2, 2006, S. 14. Jammers, Antonius: Die Entwicklung der Staatsbibliothek zu Berlin nach ihrer Vereinigung, in: Spitzer, Gabriele (Hg.): Die Staatsbibliothek Unter den Linden. Ein Kolloquium in der Staatsbibliothek zu Berlin am 11. Juni 1997, Frankfurt am Main 1997. Ders.: Die Zusammenarbeit der Staatsbibliothek zu Berlin mit polnischen Bibliotheken. Die Beziehungen der Berliner Staatsbibliothek nach Polen. Reflexionen zur Zeit- und Bestandsgeschichte, Berlin 1997. „Jetzt wächst zusammen … Eine Bibliothek überwindet die Teilung“. Ausstellung Deutsche Staatsbibliothek. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. 11. November 1991 bis 11. Januar 1992, Berlin 1991. Kittel, Peter: Die Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz und ihre Alter Realkatalog, Berlin 1994. Ders: Bestände aus der früheren Preußischen Staatsbibliothek in Polen, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz XXIX, 1992, S. 113–149. Leyh, Georg: Die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken nach dem Krieg, Tübingen 1947.
Der Verweis ‚Kriegsverlust‘ in Bibliothekskatalogen
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„Behalten Sie alles von meiner Hand, da Sie, glaube ich, die Schwachheit haben, unleserliche Autographe zu bewahren“
Der „Nachlass Alexander von Humboldt“ in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau Dominik Erdmann Abstract Der heute in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau verwahrten Nachlass Alexander von Humboldt zeigt, wie sich die Nachlassgeschichte von Handschriftensammlungen bedingend auf ihren Wert als historische Quelle auswirkt. Sie bestimmt maßgeblich mit, wie weitreichend die Schlussfolgerungen sein können, die Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen aus diesen Quellen ziehen können. Der Beitrag erörtert daneben, inwiefern die kriegsbedingte Verlagerung dieses ‚Nachlassteils‘ zusammen mit den sogenannten Berlinka für die gegenwärtigen polnisch-deutschen kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen fruchtbar gemacht werden könnten, indem, jenseits der Diskussion von Restitutionsfragen die Nachlässe als ein gemeinsames europäisches Kulturerbe verstanden werden, das der Wissenschaft und Öffentlichkeit mehr als 100 Jahre, nachdem sie in öffentliche Institutionen gelangten, zugänglich gemacht werden sollte.
Alexander von Humboldts handschriftliche Hinterlassenschaft ist heute weltweit in zahllose Archive, Bibliotheken und Privatsammlungen verteilt.1 Sein Nachlass lässt sich im Singular nicht fassen. Dieser Umstand ist selbstredend dadurch bedingt, dass Humboldt eine ausufernde Korrespondenz zu verschiedenen Briefpartnerinnen und -partnern unterhielt. Während sich ihre Briefe an Humboldt (inklusive ihrer Beilagen) in den von ihm hinterlassenen Papieren finden, sind die Briefe von ihm in den Nachlässen und Sammlungen seiner Korrespondenzpartnerinnen und -partnern verwahrt. Aus deren Besitz gehen die Schriftstücke auf ihre Erben über, die die Dokumente entweder 1 Vgl. hierzu: Erdmann, Dominik/Weber, Jutta: Nachlassgeschichten. Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau, in: HiN – Alexander von Humboldt Im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien 16/31, 2015, S. 60–79. (https://doi.org/10.18443/223).
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_013
Der Nachlass Alexander von Humboldt in Krakau
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selbst bewahren, sie einer öffentlichen Institution anvertrauen oder veräußern, wodurch sie in andere Privatsammlungen zu weiteren Dokumenten und in andere Kontexte gelangen. Die Geschichte von nachgelassenen Papieren ist oftmals von solchen Zirkulationen geprägt, wobei die Bewegungen und auch die veränderten Kontexte, in denen sich die Dokumente befinden, Auswirkungen auf ihre Bedeutung haben. Das trifft selbst dann zu, wenn die Papiere in öffentliche Sammlungen und Archive gelangen. Der Anspruch der Zeitlosigkeit, der mit dem Begriff und dem Selbstverständnis des Archivs verbunden ist und der für den Wert von Archiven als historische Quelle eine hohe Bedeutung hat, erweist sich bei genauem Hinsehen als eine Illusion.2 Schon bei ihrer Aufnahme ins Archiv sind die Dokumente Transformationen unterworfen, die nicht immer nachvollziehbar dokumentiert sind und die den Quellenwert der Papiere beeinflussen. Dabei kann es sich um normgeleitete Handlungen handeln, wie die systematische Organisation von Nachlässen entlang abstrakter Regelwerke. Oder aber um notwendige konservatorische Maßnahmen, beispielsweise die Umlagerung der Papiere in archivtaugliche Verpackungen. Neben solch regelgeleitetem Vorgehen sind Nachlässe und Sammlungen aber auch Zufallsereignissen ausgeliefert, durch die sie ihre Besitzerinnen und Besitzer und den Ort ihrer Aufbewahrung wechseln oder ganz in ihrem Bestehen gefährdet sind. Diese Geschichte der Objekte, ihre Provenienz, lässt sich in manchen Fällen rekonstruieren. Dabei zeigt sich, dass die Überlieferungsgeschichten sich auch auf die inhaltliche Bedeutung der Objekte erstreckt. In vielen Fällen sind die Geschichten aber gar nicht recherchiert, aufgeschrieben und bekannt, weshalb eine adäquate Beurteilung des Quellenwertes vieler kulturhistorischer Objekte nicht gewährleistet ist. Um genau solche Aspekte wird es mir im Folgenden gehen. Dabei nehme ich insbesondere den heute in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau liegenden „Nachlass Alexander von Humboldt“ und seine Geschichte in den Blick.3 Er ist Teil der sogenannten Berlinka, einer großen Sammlung von Handschriften, die während des Zweiten Weltkriegs aus Sicherheitsgründen aus der damaligen Preußischen Staatsbibliothek, der Vorgängereinrichtung der heutigen Berliner Staatsbibliothek, nach Niederschlesien ausgelagert wurde.4 In den Berlinka befinden sich noch weitere Nachlässe und Sammlungen, die Humboldtiana 2 Vgl. hierzu nach wie vor: Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. 3 Vgl. hierzu: Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek, Krakau: Księgarnia Akademicka 2019. 4 Vgl. hierzu: Schochow, Werner: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung, Berlin/NewYork 2003.
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enthalten. Unter ihnen die umfangreiche Autographensammlung von Karl August Varnhagen von Ense und die alte Sammlung Autographa, die beide in die Handschriftenabteilung gelangten, als die Preußische Bibliothek noch als Königliche Bibliothek bezeichnet wurde. Im Rahmen meiner Ausführungen zur Geschichte und Provenienz des Humboldt-Nachlasses gehe ich auf die Humboldtiana dieser bis heute nur unzureichend erschlossenen Sammlungen näher ein.
Die „Kollektaneen zum Kosmos“ und der „Nachlass Alexander von Humboldt“ in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau
Um seine Bücher5 und Artikel6 zu schreiben, bediente sich Humboldt einer umfangreichen Sammlung von Notizen, Zeitungsausschnitte, Karten, Artikeln, Zeichnungen, Manuskripten und Briefen.7 Diese „Kollektaneen zum Kosmos“, die für Humboldt die Funktion eines Zettelkastens erfüllten, bewahrte er in seiner Berliner Zeit in seinem Arbeitszimmer, in einem eigens angefertigten Regal, in 13 kleinen und großen Pappkästen auf. Drei von ihnen sind auf dem Aquarell seines Arbeitszimmers von Eduard Hildebrandt rechts im Vordergrund zu sehen (Abb. 12.1). Die „Kollektaneen zum Kosmos“ sind weitgehend geschlossen überliefert und befinden sich heute in der Berliner Staatsbibliothek. Dafür verantwortlich ist letzten Endes Humboldt selbst. In seinen Testamenten hatte er verfügt, dass dieser Teil seines Nachlasses der Berliner Sternwarte übergeben werden sollte, um dort weiterhin Wissenschaftlern zugänglich zu sein. Von dort gelangten sie 1932 in die Preußische Staatsbibliothek. Was seine „Kollektaneen zum Kosmos“ angeht, hatte Humboldt folglich ein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein. Was seine weiteren Papiere betrifft, von denen heute ein Großteil in der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau liegt, ist dies nicht durchweg der Fall. Bei den dort in 15 Kästen (die in Krakau als ‚Bände‘ bezeichnet werden) aufbewahrten gut 11.000 Blatt an Dokumenten handelt es sich nur zu einem Teil um einen ‚echten‘ Nachlass. Der Nukleus 5 Vgl. hierzu: Leitner, Ulrike/Fiedler, Horst: Alexander von Humboldts Schriften Bibliographie der selbständig erschienenen Werke, Berlin 2000. 6 Sie liegen seit 2019 erstmals vollständig in der Berner Humboldt-Ausgabe Sämtliche Schriften analog und digital zugänglich vor. Vgl.: Lubrich, Oliver/Nehrlich, Thomas (Hg.): Sämtliche Schriften – Berner Ausgabe, München 2019. https://humboldt.unibe.ch/index.html (15.2.2023). 7 Vgl. hierzu: Erdmann, Dominik: Alexander von Humboldts Schreibwerkstatt. Totalansichten aus dem Zettelkasten [erscheint Anfang 2024].
Der Nachlass Alexander von Humboldt in Krakau
Abb. 12.1
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Alexander von Humboldt in seinem Arbeitszimmer. Lithografie nach einem Aquarell von Eduard Hildebrandt aus dem Jahr 1848. „Ein treues Bild meines Arbeitszimmers als ich den zweiten Theil des Kosmos schrieb“, behauptete Humboldt über das Bild. (bpk-Bildagentur/Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz).
dieser Sammlung stammt unmittelbar aus Humboldts Hinterlassenschaft. Es handelt sich bei ihnen um seine Papiere zur Statistik von Mexiko und Kuba und einige Dokumente zum Thema Sklaverei. Humboldt hatte diese Papiere zuletzt in einer der Schubladen seines Schreibtisches aufbewahrt. Am 18. August 1854 verfügte er, dass „[d]ieses Manuscript und alle in diesem Schubfach liegende zum Theil von mir unbenutzten Materialien zur Statistik von Mexico und Cuba […] nach meinem Tode dem Bibliothekar Geh. Rath Pertz übergeben werden (sollen), mit Bitte sie bewahren zu lassen. Ich möchte nicht daß dieselben verbrannt würden.“8 Genau 14 Jahre später, am 18. August 1868, übergab Hermann von Humboldt, der jüngste Sohn Wilhelm von Humboldts, die Papiere der Königlichen Bibliothek in drei extra zu diesem Zweck angefertigten Kästen, die mit der 8 SNM/DLA, A: Humboldt 62.2298, Verschiedenes, Testament und testamentarische Verfügungen, ohne Foliierung.
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Aufschrift „Alexanders von Humboldts Vermächtnis 18. August 1854“ und der entsprechenden römischen Nummerierung versehen sind. Die Dokumente in diesen Kästen werden heute als Band 1–3 des „Nachlass Alexander von Humboldt“ geführt und waren bis zu ihrer Katalogisierung und Restaurierung im Jahr 2016 in dem Zustand erhalten, in dem sie 1868 der Bibliothek übergeben worden waren. Die damalige Schenkung wurde noch von einem Manuskript des US-amerikanischen Ethnologen und Diplomaten Albert Gallatins über die Bevölkerungszahl und die Sprachen der indigenen Bewohner Nordamerikas begleitet. Dieses Manuskript wird als Band 4b der Krakauer Sammlung geführt.9 Gallatin überreichte Humboldt das 1823 angefertigte Manuskript in Paris, wohl in der Absicht, dass dieser es publiziere. Das passierte nicht und später schrieb Gallatin selbst einen ausführlichen Artikel zu dem Thema. Humboldt behielt das Manuskript dennoch, wie er auf dem Vorsatz schreibt, „als Autograph eines berühmten Diplomaten und Staatsmannes“. Gegenüber dem zeitgenössisch aufkommenden Handschriftenkult,10 dem wir heute einen Gutteil der in den entsprechenden Gedächtnisinstitutionen aufbewahrten Autographen verdanken, war Humboldt offensichtlich nicht unempfänglich. Ab Band 5 stammen die Dokumente des Krakauer Nachlassteils aus der umfangreichen Humboldt-Sammlung von Eduard Buschmann. Seit Anfang der 1830er Jahre war er Humboldts Faktotum. Buschmann schrieb sämtliche Manuskripte Humboldts ab, bereitete sie für den Versand an den Cotta-Verlag vor, korrigierte die Druckfahnen, recherchierte Bücher, übersetzte Texte und erfüllte weitere unverzichtbare Aufgaben für Humboldts Schreibarbeit. Buschmann wurde von Humboldt für diese Arbeiten nicht nur mit Geld entlohnt. Er erhielt zum Dank auch regelmäßig seine Werkmanuskripte als Geschenk, nachdem sie gesetzt und gedruckt waren. Das geht beispielsweise aus einer Randbemerkung eines Briefes vom 22. September 1853 hervor, in dem es eigentlich um die Publikation des ersten (und einzig erschienenen) Bands der „Kleineren Schriften“ geht. Humboldt notiert dort: „Behalten Sie alles von meiner Hand, da Sie, glaube ich die Schwachheit haben, unleserliche Autographe zu 9
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Wegen der zusätzlichen Bezeichnung „b“ wurde lange Zeit vermutet, dass es auch einen Band 4a im „Nachlass Alexander von Humboldt“ gebe. Ein solcher konnte aber weder bei der Katalogisierung noch bei der Durchsicht der Akzessionsjournale der Königlichen Bibliothek nachgewiesen werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen Verzeichnungsfehler der bei der Akzessionierung der Sammlung gemacht wurde. Vgl. hierzu: Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin 2015. Vgl. auch: Spoerhase, Carlos: Postume Papiere. Nachlass und Vorlass in der Moderne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68/6, 2014, S. 502–511.
Der Nachlass Alexander von Humboldt in Krakau
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bewahren.“11 Seine Werkmanuskripte hielt Humboldt (entgegen beispielsweise dem Gallatin-Manuskript) für nicht an sich aufbewahrenswert. Nicht allen seinen Handschriften maß er also dieselbe Bedeutung bei. Aber er wusste natürlich auch, dass er die Manuskripte treuen Händen übergab. Buschmann sammelte alles, was er von Humboldt erhalten konnte, ordnete es und trug auf diese Weise eine der größten Sammlungen mit Handschriften Humboldts zusammen. Mit ihr betrieb er eine regelrechte Nachlasspolitik, auf die ich im Folgenden näher eingehe. Die Papiere, die heute als Band 5 der Krakauer Sammlung geführt werden, gelangten 1869 in die Königliche Bibliothek und wurden dort dem schon vorhandenen ‚echten‘ Nachlass angereiht. Es handelt sich um die Originalhandschriften aller fünf Bände zum „Kosmos“. Buschmann hatte sie auf die eben beschriebene Art von Humboldt als Geschenk erhalten. Zehn Jahre nach dessen Tod verschenkte Buschmann sie wiederum an Wilhelm I., der sie der Bibliothek übergab (Abb. 12.2).
Abb. 12.2
11
Der Kasten mit den fünf Bänden der Manuskripte Humboldts zu seinem Kosmos, wie er von Wilhelm I. der Königlichen Bibliothek übergeben wurde. Bis zur Restaurierung im Jahr 2016 befanden sich die Dokumente in dem hier dargestellten Zustand. Foto: Anna Rychter, Jagiellonische Bibliothek.
Nachl. Alexander von Humboldt, Bd. 14/2, Bl. 188.
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Diese Schenkung ist Teil einer größeren Kampagne Buschmanns, mit der er beabsichtigte, die verschiedene Textstufen von Humboldts Lebenswerk „Kosmos“ an zentralen Orten seines Lebens und Wirkens unterzubringen. Begonnen hatte er damit bereits 1866. Damals übergab er die von ihm angefertigten und später von Humboldt mit zahlreichen Ergänzungen und Korrekturen versehenen Abschriften des „Kosmos“ dem französischen Kaiser Napoleon III. Sie befinden sich heute in der Bibliothèque nationale de France.12 Buschmann rief mit dieser Schenkung in Deutschland einen Sturm der Entrüstung hervor. Die „Berliner National-Zeitung“ protestierte im „Namen des Nationalen Anstandes“13 gegen derartige Schenkungen. Das Satiremagazin „Kladderadatsch“ macht sich am 4. März 1866 in einer rassistischen „ethnologischen Studie“ über „den Buschmann“14 lustig. Noch 1873 wurde Buschmann in den „Briefen deutscher Bettelpatrioten an Luis Bonaparte“,15 der deutschen Übersetzung der von Henri Bordier ein Jahr zuvor herausgegebenen Schmähschrift „L’Allemagne aux Tuileries“ scharf angegriffen. Buschmann ließ sich davon aber nicht beeindrucken, sondern kündigte weitere Schenkungen ins Ausland an. So wollte er die korrigierten Druckfahnen des „Kosmos“ dem mexikanischen Kaiser Maximilian I. überreichen. Diese Schenkung kam wegen dessen gewaltsamer Absetzung und Hinrichtung allerdings nicht zustande. Mit der Kampagne war Buschmann einer der Ersten, der so etwas wie eine Nachlasspflege für Humboldt betrieb und sich so um sein posthumes Ansehen kümmerte. Ganz uneigennützig tat er dies aber nicht. Kurz nachdem er die Kosmos-Manuskripte Wilhelm I. übergeben hatte, erhielt er von ihm zu Beginn des Jahres 1870 das „Kreuz der Ritter des Königlichen Hausordens von Hohenzollern“ verliehen.16 Die Druckfahnen des Kosmos blieben in Buschmanns Humboldt-Sammlung und kamen nach seinem Tod 1880 auf Umwegen 1893 in die Königliche Bibliothek. Es ist der umfänglichste Teil der heutigen Krakauer Sammlung, der in den Bänden 6–14 aufbewahrt wird. Bei ihnen handelt es sich um eine bunte Mischung aus eben jenen Druckfahnen, aber auch Manuskripten, Korrespondenzen und einem weiteren kleinen ‚echten‘ Nachlassteil Humboldts. Denn Buschmann hatte, als weiteren Dank für seine langjährigen Dienste, 12 13 14
Vgl. Bibliothèque nationale de France. Département des manuscrits. Allemand 232–236. N.N., [Ohne Titel], in: Erstes Beiblatt zu Nr. 104 der National-Zeitung vom 3.3.1866. Die Zeitungsausschnitte finden sich in Buschmanns Personalakte. Vgl.: Acta Betreffend den Bibliothekar, Prof. Dr. Buschmann (1831–). SBB PK IIIA, Acta I, 7f, Nr. 70. 15 Becker, Bernhard: Briefe deutscher Bettelpatrioten an Louis Bonaparte, Braunschweig 1873, S. 335. 16 Vgl. hierzu: N.N., [Ohne Titel], in: Literarisches Centralblatt für Deutschland, 7 (1870), Sp. 182.
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von Humboldt den Kasten 10 der „Kollektaneen zum Kosmos“ als Erbe zugesprochen bekommen. Der Kasten fehlt folglich auch in der Berliner Zählung der „Kollektaneen“, was für die Forschung so lange ein Rätsel war, bis der Inhalt des Kastens 10 in der Krakauer Sammlung nachgewiesen werden konnte. Der Kasten enthielt Humboldts Materialsammlungen zur Fertigstellung seines letztendlich Fragment gebliebenen „Examen critique de l’histoire de la géographie du Nouveau continent et des progrès de l’astronomie nautique aux XVe et XVIe siècles“.17 Unter den Dokumenten befinden sich einige herausragende Stücke, zum Beispiel auch die Lithografie der Unterschrift von Martin Waldseemüller aus dem Matrikel der Universität Freiburg. Mit ihr gelang es Humboldt, das Rätsel um die Identität des ‚Hylacomylus‘ zu lüften, von dem er annahm, dass er dem neu entdeckten Weltteil den Namen Amerika gab. Humboldt hatte den Freiburger Historiker Heinrich Schreiber zu Nachforschungen im Archiv der Universitätsbibliothek veranlasst, der die Unterschrift dort ausfindig machte und Humboldt am 29. Mai 1836 mit einem Begleitschreiben zusandte. Humboldt hatte zwar unrecht die Namensgebung Amerikas Martin Waldseemüller zuzuschreiben. Es war vielmehr dessen Kollege Martin Ringmann gewesen, der den Namen Amerika erstmals in der 1507 erschienenen „Cosmographiae Introductio“ nannte, der Schrift die Waldseemüllers Globus und die Weltkarte „Universalis cosmographia secundum Ptholomaei traditionem et Americi Vespucii aliorumque lustrationes“ begleitete. Dennoch hatte Humboldt mit seinem „Examen critique“, in dem er seine Recherchen über Waldseemüller publizierte, die damals maßgebliche und für eine längere Zeit gültige Entdeckungsgeschichte Amerikas vorgelegt. Auch das historische Fach beherrschte Humboldt in allen Facetten. Zu den einst in Kasten 10 liegenden Papieren gehörten daneben Manuskripte und Zeichnungen, die Humboldt zur Herstellung der Atlanten seines Reisewerks benutzte (Abb. 12.3). In Krakau sind diese Papiere heute auf mehrere Kästen verteilt. Ob bereits Buschmann sie neu ordnete oder ob dies erst nach deren Übernahme durch die Königliche Bibliothek geschah, wissen wir nicht mit Bestimmtheit. Allerdings hatte Buschmann die Angewohnheit, die Papiere, die durch seine Hände gingen, nach systematischen Gesichtspunkten zu sortieren. Das trifft beispielsweise auch auf die Manuskripte und Druckfahnen der „Kleineren Schriften“ und der dritten Ausgabe der „Ansichten der Natur“ sowie die nahezu eintausend Briefe und Kurzmitteilungen zu, die Humboldt ihm geschrieben hatte 17 Alexander von Humboldt, Examen critique de l’histoire de la géographie du Nouveau continent et des progrès de l’astronomie nautique aux XV e et XVIe siècles, 5 Bde., Paris 1836–1839.
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Abb. 12.3
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Humboldts Materielaien zur Herstellung der Karten seines „Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du nouveau continent“ im Zustand vor der Restaurierung im Jahr 2016. Foto: Anna Rychter, Jagiellonische Bibliothek.
und die Buschmann fein säuberlich in beschriftete Umschläge verpackte. Er hat insgesamt betrachtet dadurch einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Ordnung der Dokumente und damit ihre Rezeption genommen. Allerdings ist diese bis heute weitgehend ausgeblieben. Der Krakauer Nachlassteil ist schon aufgrund seiner Geschichte erst spät in den Fokus der Forschung geraten. Die Edition des Briefwechsels zwischen Buschmann und Humboldt steht beispielsweise nach wie vor aus. Sie würde spannende und ganz neue Einsichten in Humboldts Arbeitsweise geben, etwa dazu, welche Bücher er sich wann von der königlichen Bibliothek durch Buschmann liefern ließ. Als Buschmann 1880 starb, versuchte seine Witwe Bertha Buschmann über einen längeren Zeitraum hinweg die Humboldt-Sammlung ihres Mannes zu veräußern. Sie hatte damit einige Schwierigkeiten. Bei der Versteigerung des Nachlasses ihres Mannes blieben Humboldts Papiere einfach liegen, was Bände über den Wert von Humboldt-Handschriften und die Humboldt-Rezeption im ausgehenden 19. Jahrhundert spricht. Letztlich gelangte die Humboldt-Sammlung Buschmanns auf bis heute nicht ganz geklärtem Weg in die Königliche Universitätsbibliothek. Als diese ihre Handschriftenbestände unter dem Direktorat Wilhelm Ermans 1893 an die Königliche Bibliothek abgab, waren darunter auch die Papiere aus Buschmanns Nachlass.
Der Nachlass Alexander von Humboldt in Krakau
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Dort wurden die Papiere den bereits vorhandenen Humboldtiana (die bereits beschriebenen Bände 1–5 der Krakauer Sammlung) angereiht. Der sogenannte „Nachlass Alexander von Humboldt“ in Krakau ist demnach eine nach und nach gewachsene Sammlung unterschiedlicher Herkunft mit einem ebensolchen Quellenwert. Während sich aus den Kästen 1–4 noch Rückschlüsse auf Humboldts Nachlassbewusstsein und aus der Ordnung der Papiere zugleich auf seine Arbeitsweise ziehen lassen, spiegeln die übrigen, durch Buschmanns Hände gegangenen Dokumente viel eher den säkularen Reliquienkult des Bildungsbürgertums de 19. Jahrhunderts wider, der sich der Aufwertung des handschriftlichen verdankt, auf die ich bereits zu sprechen kam. Doch die Geschichte geht noch weiter. Seinen heutigen Umfang erhielt der „Nachlass Alexander von Humboldt“ erst durch einen historischen Zufall, die Auslagerungen der Bestände der Handschriftenabteilung der Preußischen Staatsbibliothek während des Zweiten Weltkriegs. Diese begannen kurz vor Kriegsbeginn, lange bevor Bomben auf Berlin fielen. Unter den allerersten Objekten, die in den Panzerkeller des Reichswirtschaftsministeriums gebracht wurden, waren indes keine Humboldtiana, sondern ausschließlich so erlesene Handschriften wie beispielsweise das Manuskript des „Lieds der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben und ähnliches. Humboldts Nachlass wurde erst ab 1841, zusammen mit den anderen Handschriftenbeständen der Bibliothek, an verschiedene Orte außerhalb Berlins verbracht. Die Auslagerung erfolgte bewusst dezentral, um einen Totalverlust zu vermeiden. Im Westen und Osten des damaligen Deutschen Reichs und der besetzten Gebiete wurden dafür 29 Depots ausfindig gemacht. Mit einem der letzten Sammeltransporte verließ der „Nachlass Alexander von Humboldt“ die Bibliothek. Damals erst wurde der 1884 erworbene, seither in der Bibliothek separat aufgestellte Briefwechsel Humboldts mit dem Kartografen Heinrich Berghaus zum „Nachlass Alexander von Humboldt“ gelegt. Er wird heute in Krakau als Band 15 geführt. Im Oktober und November 1941 erreichte der Transport Schloss Fürstenstein (Zamek Książ) in Schlesien. Auf Anordnung der Breslauer Gauleitung wurden die Kisten, in denen sich neben der Humboldt-Sammlung auch die Sammlung Autographa und die Autographensammlung von Karl August Varnhagen von Ense befanden, im Juli 1944 in die Abteikirche der Benediktinerabtei Grüssau (Pocysterskie Opactwo w Krzeszowie) umgelagert. Bis zum Sommer 1946 lagen die Berlinka auf der Empore der Klosterkirche. Beim Durchzug der Roten Armee wurden sie nicht entdeckt. Später wurden sie nach Krakau gebracht. Bis in die 1970er Jahre war der Verbleib der so genannten ‚Berlinka‘ im Westen ungewiss. Erst dann mehrten sich Hinweise darauf, dass sie sich in der Jagiellonischen Bibliothek befänden. Ab den 1980er Jahren wurden die Bestände
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schrittweise zugänglich gemacht und, wie der „Nachlass Alexander von Humboldt“, später teilweise katalogisiert.
Der Nachlass Karl August Varnhagen von Enses und die Sammlung Autographa in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau
Doch keineswegs alle Bestände der Berlinka sind in derselben Weise und vor allem so umfänglich katalogisiert, wie der „Nachlass Alexander von Humboldt“. Das trifft vor allem auf die umfängliche und für die Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts enorm bedeutsame Autographensammlung Karl August Varnhagen von Enses zu. Seit Anfang 2020 werden unveröffentlichte Briefe und Werkmanuskripte von Schriftstellerinnen, die sich in der Sammlung Varnhagen befinden, in einem deutsch-polnischen Kooperationsprojekt erschlossen und erforscht.18 Damit ist ein Anfang gemacht. Allerdings bleiben bei solch einer Erschließung von Teilbeständen, deren Finanzierung den Konjunkturen des Wissenschaftsbetriebs unterworfen ist, viele Dokumente außen vor. Das betrifft oftmals die ‚kleinen Namen‘, die Personen, deren Leben und Schaffen heute nicht mehr bekannt ist. Gerade solche Namen gilt es aber im Interesse einer Kulturgeschichte, die an Diversität interessiert ist, zu heben. Dasselbe Problem betrifft im Falle der Varnhagen-Sammlung aber auch so prominente Personen wie Humboldt. Der Umfang der Papiere, die aus seiner Hand stammen und sich in der Sammlung Varnhagen befinden, ist nach wie vor unbekannt, da sie keineswegs alle unter seinem Namen zu finden sind. Noch prekärer ist die Situation bei den Dokumenten anderer Autoren, die durch Humboldts Hände gingen und von ihm Varnhagen als Geschenk für seine Sammlung übergeben wurden. Auch sie lassen sich in vielen Fällen identifizieren und würden, so sie erschlossen wären, Einblicke in bisher unbekannte Kontakte geben, die Humboldt unterhielt. Die Sammlung Varnhagen Die Sammlung Varnhagen19 wurde der Königlichen Bibliothek 1872 von der Nichte und Erbin Karl Augusts Varnhagen von Enses, Ludmilla Assing, 18 Vgl. hierzu das Kooperationsprojekt „Schriftstellerinnen aus der Sammlung Varnhagen – Briefe, Werke, Relationen“ der Bauhaus-Universität Weimar und der JagiellonenUniversität Krakau. https://www.uni-weimar.de/de/medien/professuren/medienwissenschaft/archiv-und-literaturforschung/projekte/dfg-projekt-sammlung-varnhagen/ (16.2.2023). 19 Vgl. zum Folgenden auch: Weber, Jutta: Die Sammlung Varnhagen, in: Kittelmann, Jana (Hg.) im Auftrag der Stiftung Fürst-Pückler-Museum Park und Schloss Branitz: Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau, Dresden 2015, S. 185ff.
Der Nachlass Alexander von Humboldt in Krakau
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testamentarisch vermacht. Sie entsprach damit dem letzten Willen ihres Onkels. Vornehmlich umfasst die Sammlung Briefe von Adligen, Politikern, Militärs, Wissenschaftlern und Schriftstellern aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.20 Varnhagen konzentrierte sich jedoch, wie bereits angedeutet, nicht auf die großen Namen allein. Sein Sammelprinzip war geradezu demokratisch. In seiner selbstgewählten Funktion als Chronist seiner Zeit sammelte Varnhagen alle Autographen, denen er habhaft werden konnte. Humboldt war einer seiner Lieferanten. Die Sammlung Varnhagens ist indes strenggenommen nicht nur die seine. Nachdem Varnhagen von Ense im Oktober 1858 gestorben war, hütete und vermehrte seine Nichte dessen Nachlass. Neben ihrer eigenen Manuskriptund Briefsammlung verleibte sie der Sammlung Varnhagen den Nachlass des 1870 verstorbenen Schriftstellers Apollonius von Maltitz und später noch den äußerst umfangreichen Nachlass des 1871 verstorbenen Fürsten Hermann von Pückler Muskau ein. Assing, die 1880 in Florenz verstarb, vermachte die Sammlung der Königlichen Bibliothek. Als sie im darauffolgenden Jahr dort ankam, bestand die Sammlung aus drei Abteilungen: „Autographen, Manuskripte und allerlei Drucke“ sowie ein großes „Museum für Handschriften“, wie Ludwig Stern, der damalige Leiter der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek schrieb.21 Stern war derjenige, der die Sammlung erstmals im Überblick verzeichnete und dabei neu ordnete. Bis heute ist sein 1911 verfasster Katalog der Einzige, der über den Inhalt der Sammlung im Überblick Auskunft gibt. Allerdings hatte er weder die Zeit noch den Raum, sie vollständig zu verzeichnen. Bis heute ist daher nicht genau klar, wie umfangreich die Sammlung Varnhagen ist und welche Handschriften genau sich in ihr verbergen. Daher kommt es immer wieder zu überraschenden Funden, so auch im Briefwechsel zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Alexander von Humboldt. Obgleich Humboldt sich posthume Veröffentlichungen unter seinem Namen verbat, wurde der Briefwechsel von Assing kurz nach seinem Ableben im Frühjahr 1860 publiziert.22 Humboldt hatte guten Grund, die Publikation zu untersagen, denn die Briefe an Varnhagen enthielten etliche Pikanterien 20
21 22
Vgl. Gatter, Nikolaus: „… sie ist vor allem die meine …“. Die Sammlung Varnhagen bis zu ihrer Katalogisierung, in: Gatter, Nikolaus (Hg.): Wenn die Geschichte um die Ecke geht. Almanach der Varnhagen Gesellschaft, unter Mitarbeit von Feldheim, Eva/Viehoff Rita (AVG 1, 2000), Berlin 2000, S. 239ff. Stern, Ludwig: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Berlin 1911. Vgl. Assing, Ludmilla (Hg.): Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense: aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagens Tagebüchern und Briefen Varnhagens und Anderen an Humboldt, Leipzig 1860.
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Abb. 12.4
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„Album Amicorum“ von Karl August Varnhagen von Ense mit seinem ‚Bekanntschaftsmosaik‘ von ihm hergestellt aus zugeschnittenen Visitenkarten. SBB-PK, Slg. Varnhagen 60.
und zum Teil scharfe Urteile über Personen der höchsten Adelskreise. Für Ludmilla Assing kam der Skandal, den die Publikation auslöste, mit Sicherheit nicht überraschend. Womöglich hatte sie ihn sogar kalkuliert. Ob sie damit gerechnet hatte, schlussendlich wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und in Preußen steckbrieflich gesucht zu werden, ist indes unklar. Ab 1862 lebte sie jedenfalls in Florenz, wo sie vor der Haft in Sicherheit war, zu der sie im gleichen Jahr in Abwesenheit verurteilt wurde. Indes hatte Assing noch nicht einmal alle Briefe Humboldts an Varnhagen publiziert. Und auch in jene, die 1861 gedruckt wurden, hatte sie mildernd eingegriffen, was sich allerdings nur anhand der Autopsie der Autographen in der Sammlung Varnhagen feststellen lässt. Der bis heute häufig zitierte Briefwechsel zwischen Humboldt und Varnhagen von Ense liegt demnach weder komplett noch in einer Weise ediert vor, die den gewohnten quellenkritischen Maßstäben genügen kann. Eine Neuedition dieses Briefwechsels ist ein Desiderat der Humboldt- und der Varnhagen-Forschung, zumal sich noch an anderer Stelle Briefe Varnhagens und Abschriften aus seiner Hand von Humboldtbriefen finden, die Assing nicht zugänglich waren und bis heute nur in den Archiven überliefert sind. Die Gründe, die Assing dazu veranlasst haben, bestimmte Briefe aus dem ihr zugänglichen Briefwechsel auszulassen, sind ungeklärt. Tat sie dies auf Wunsch ihres Verlegers Brockhaus? Oder aus Pietät, um die Personen, deren Namen gestrichen sind, zu schützen? Man weiß es nicht. Was überrascht ist
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aber, dass sie ausgerechnet zwei Briefe Humboldts an Varnhagen aus dem Revolutionsjahr 1848 nicht edierte. Die einzigen, die aus diesem Jahr in der Varnhagen-Sammlung überliefert sind. Unter ihnen befindet sich ein anonymer Brief an Humboldt, der auf den 11. März 1848 datiert ist. Als Beilage enthält er einen Auszug aus der „Deutschen Londoner Zeitung“ mit Ferdinand Freiligraths „Februar Strophen“, die mit dem Gedicht „Im Hochland fiel der erste Schuß“ anheben. Humboldts Kommentar über die Zusendung fiel überaus nüchtern aus. In dem Billett, mit dem zusammen er Varnhagen das Gedicht zusandte, ist zu lesen: „Die Rep[ublik] erhöht nicht die Dichtergabe. Ich erhielt dies anonym durch die Post. Freiligr[ath] selbst aber ist wohl in Paris. Behalte Sie die Elendigkeit theurer Freund!“23 Dieses Schreiben ist ein weiterer Beleg, wie Humboldt sich „in der Zeit der deutschen Revolution einer eindeutigen Positionierung“24 entzog. Und Dokumente wie dieses von Assing nicht publizierte Billett werfen die Frage auf, wie Humboldt sich in nicht-öffentlichen Kreisen zu den revolutionären Ereignissen verhielt. Auch diese Frage ist bis heute nur unzureichend geklärt. Die Sammlung Autographa Neben der Sammlung Varnhagen befindet sich unter den Berlinka auch die ehemalige Autographensammlung der Preußischen Staatsbibliothek. Sie ging aus verschiedenen privaten Autographensammlungen und Briefnachlässen hervor, die von der Bibliothek im Laufe des 19. Jahrhundert erworben wurden. Und auch hier liegen umfangreiche Handschriftenbestände aus der Feder Humboldts. Nach dem Erwerb der einzelnen Sammlungen wurde deren individuelle Ordnung aufgelöst und die Briefe, Manuskripte und anderen Schriftstücke auf die alphabetisch geordnete Sammlung Autographa verteilt. Die historischen Ordnungen der einzelnen Sammlungen lassen sich daher heute nur noch über zeitgenössisch verfasste Kataloge rekonstruieren, insofern solche damals geschrieben wurden. Ludwig Stern wollte die sehr umfangreiche Sammlung Autographa durch einen gedruckten Katalog verzeichnen. Dazu kam es nicht und erst Anfang der 2000er Jahre wurde diese Arbeit in Angriff genommen. Zwischenzeitlich existiert ein Katalog, jedoch nur in Form einer CD-ROM.25
23 Alexander von Humboldt an Karl August Varnhagen von Ense o.O., 11.3.1848. Kraków, Biblioteka Jagiellońska, Sammlung Varnhagen (SV), 90. 24 Daum, Andreas W.: Alexander von Humboldt, München 2019, S. 112. 25 Vgl. Döhn, Helga: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin, Autographenkatalog auf CD-ROM, Berlin 2005.
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Die Sammlung Radowitz in der Sammlung Autographa Eine der Sammlungen, die in der Sammlung Autographa aufgegangen ist und über die ein zeitgenössischer Katalog verfasst wurde,26 ist diejenige des preußischen Generalleutnants und Diplomaten Josef Maria von Radowitz. Wie die Sammlung Varnhagen enthielt auch sie Humboldt-Handschriften, von denen einige direkt aus dessen Besitz stammen. Neben eigenhändigen Briefen handelt es sich dabei vor allem um Zeichnungen und Manuskripte. Abermals lässt sich anhand dieser Dokumente Humboldts ausgeprägtes Nachlassbewusstsein konstatieren. Ein Beispiel, an dem dies besonders deutlich wird, ist ein Ausschnitt aus einem seiner amerikanischen Reisejournale, welches er Radowitz für seine Sammlung übergab. Wiederholt hatte Humboldt aus seinen Tagebüchern einzelne Seiten oder Abschnitte herausgetrennt. In vielen der Anfang der 1850er Jahre in Leder gebundenen Bücher fehlen diese Seiten heute. In einigen Fällen liegen sie ihnen in Form von Loseblattsammlungen bei, und befinden sich somit heute in der Berliner Staatsbibliothek. In anderen, wie im Falle des an Radowitz übergebenen Manuskripts, nicht. Denkbar ist, dass Humboldt die Seiten heraustrennte, um die in ihnen enthaltenen Informationen zu einem Thema gemeinsam auszuwerten. Neben einem solchen auf die Herstellung seiner Texte bezogenen praktischen Vorgehen lässt sich aber auch beobachten, dass Humboldt Tagebuchteile und andere Dokumente bewusst an befreundete Autographensammler verschenkte. Dies geschah mit Sicherheit nicht nur, um den Beschenkten eine Freude zu machen. Humboldt versuchte mit solchen Geschenken vielmehr seinen Nachruhm zu steuern. Im Fall des Tagebuchausschnitts in der Sammlung Radowitz lässt sich dies an einer Randnotiz belegen, die Humboldt in der linken oberen Ecke des ersten Blattes notierte. Die dunklere Tinte, in der die Bemerkung geschrieben ist, lässt vermuten, dass Humboldt sie zur einem späteren Zeitpunkt verfasste als das Manuskript. Das geht auch aus dem Inhalt der Notiz hervor, in der Humboldt auf dessen Entstehungsbedingungen Bezug nimmt. Humboldt schrieb das Manuskript auf seiner Überfahrt von Südamerika nach Mexiko im Jahr 1803. Ohne diese Angaben müsste ein späterer Leser sie umständlich aus dem
26 Im Falle der Autographensammlung von Radowitz verfügen wir etwa über einen sehr detaillierten Katalog, aus dem sich die ehemalige Tektonik der Sammlung ableiten lässt. Vgl. Hübner-Trams, Christian Wilhelm: Verzeichniss der von dem verstorbenen Preussischen General-Lieutenant J. von Radowitz hinterlassenen Autographen-Sammlung, 3 Bde., Berlin 1864.
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Inhalt rekonstruieren (sofern dies überhaupt möglich ist). Humboldt verortete das Manuskript damit konkret in Raum und Zeit und verknüpfte es mit einer für seine Biografie und für seine Wissenschaftsauffassung prägendsten Erfahrungen: seiner Amerikareise. Das Manuskript, das anderenfalls nur von einigen astronomischen Ortsbestimmungen handeln würde, wird so zu einem auratischen Dokument einer bis heute legendären Reise, zu einer Art Minimalbiografem.27 Humboldt wusste sehr genau um diese Wirkung unikaler Schriftzeugnisse. Bei anderen Stücken, die Radowitz von Humboldt erhielt, ging er indes nicht ganz so subtil vor. Das war aber auch nicht immer nötig. Bei seinem ersten Reisetagebuch, das auf der gemeinsam mit Georg Forster unternommenen Englandreise entstanden war, konnte er auf solche Zusätze beispielsweise verzichten, da die Umstände der Reise schon zu seinen Lebzeiten hinlänglich aus Forsters Reisebeschreibung bekannt waren.28 Die Sammlung Autographa enthält indes noch weitere Humboldtiana außerhalb der Papiere der ehemaligen Sammlung Radowitz. Unter diesen auch Humboldts Briefwechsel mit seinem Kammerdiener und Haupterben Johann Seifert und dessen Frau. Die Briefe geben einen Einblick in die Alltagsorganisation im Hause Humboldts in der Oranienburger Straße 67, wo Humboldt ab 1842 bis zu seinem Tod wohnte. Sie bilden eine weitere Dimension des Umgangs mit Humboldt-Handschriften und Memorabilia ab. Seifert hatte von Humboldt zu dessen Lebzeiten den größten Teil seiner beweglichen Habe geschenkt bekommen. Damit besaß er im ausgehenden 19. Jahrhundert faktisch eine der bis heute größten und, was die Verschiedenartigkeit der Objekte anbelangt, reichhaltigsten Humboldt-Sammlungen. Wie seine Handschriften wurde aber auch sie bald weltweit zerstreut. Von der Schenkung ausgenommen waren nur die wissenschaftlichen Papiere, die Manuskriptkarten und Tagebücher, die im Besitz der Familie bleiben sollten. Im Wesentlichen waren dies die „Kollektaneen zum Kosmos“, die Papiere der Bände 1–4b der Krakauer Sammlung, die Tagebücher und einige weitere Papiere, die sich bis heute bei den Nachfahren seines Bruders befinden (und von denen niemand außer ihnen so genau weiß, um was für Papiere es sich handelt). Seifert verfolgte zunächst den Gedanken, die geerbten Stücke geschlossen zu verkaufen. Auch der Preußische Staat wurde angefragt, konnte sich unter dem Eindruck des bereits geschilderten Skandals im Briefwechsel Humboldt-Varnhagen aber 27
28
Vgl. Erdmann, Dominik/Jaglarz, Monika: Präsente vom Süden des Äquators – Zu einem Ausschnitt aus Alexander von Humboldts amerikanischem Reisejournal in der Sammlung Radowitz, in: Bibliotheksmagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 12/34, 2017, S. 39–42. Vgl. hierzu: Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, 3 Bde., Berlin 1791–1794.
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nicht zu einem Ankauf entschließen. So kam es nie dazu, dass Humboldt – wie andere ‚Klassiker‘ – eine Gedenkstätte am Ort seines Schaffens erhielten. Seifert verkaufte einen Teil des sogenannten Kunst-Nachlasses ab 1860 in einer Auktion. Die Objekte wurden in alle Welt verstreut und der Verbleib vieler von ihnen ist unbekannt. Die Bibliothek Humboldts konnte Seifert geschlossen verkaufen. Sie ging jedoch bei einem Lagerhausbrand kurz vor ihrer Versteigerung bei Sotheby’s in London nahezu vollständig verloren. Einige Hundert Bücher überstanden den Brand und wurden später verkauft. Vor einigen Jahren tauchte eines dieser Bücher in einer amerikanischen Online-Auktion auf. Es befindet sich mittlerweile in der Sammlung historischer Drucke der Berliner Staatsbibliothek. Von den überaus interessanten Handexemplaren von Werken Humboldts, die bereits vor dem Brand nach Amerika verkauft wurden, fehlt jede Spur. Unter diesen befindet sich sich ein Handexemplar des „Kosmos“, das wahrscheinlich viele Korrekturen und Ergänzungen enthält. Es zu finden, dürfte einer der nächsten Meilensteine der Humboldt-Forschung sein – so diese Bücher noch irgendwo existieren. Seifert behielt allerdings auch einige Humboldt-Memorabilia und verschenkte diese bei Gelegenheit an verschiedene Personen, nicht ohne die Echtheit der Objekte in zuweilen recht sentimental verfassten Anmerkungen zu bestätigen. Wie das damals üblich war produzierte auch er auf diese Art säkulare Reliquien Humboldts. Seifert sorgte sich aber noch auf eine weitere Weise um dessen Nachlasspflege und seinen Nachruhm. Nachdem er das Wohnhaus in der Oranienburger Straße, das Humboldt nicht gehörte, verlassen musste, zog er nach Tegel in die Nähe des Schlosses, in dem Humboldt aufgewachsen war und in dessen Park er auf dem Familienfriedhof bestattet ist. Seifert betätigte sich dort als Fremdenführer zum Grab Humboldts und zeigte gern die Reste seiner Sammlung. Humboldt hatte seinerseits seine Familie darum gebeten, Seifert ein paar „Kubikfuß“ Erde zur Verfügung zu stellen, in der dieser sich begraben lassen könne. Noch in der Nachwelt wollte Humboldt mit jenen zusammen sein, mit denen er gelebt hatte. Dazu kam es nicht, denn seitdem die Familie erfahren hatte, dass Seifert als Universalerbe eingesetzt war, war das Verhältnis zwischen ihnen zerrüttet. Was aus Seiferts übrigen Sammlung geworden ist, ist bis heute nicht klar. Offenbar hat der Amerikareisende und Schriftsteller Balduin Möllhausen, der eine der Töchter Seiferts geheiratet hat, einige Stücke erhalten. Mit ihm pflegte Humboldt in den letzten Jahren seines Lebens einen engen Umgang. Bei seinen Urenkeln sind noch heute Humboldtiana zu finden, aber diese haben mit den Berlinka natürlich nichts zu tun. Sie sind nur ein weiterer Beweis, dass Humboldts Nachlass in alle Welt zerstreut ist. Und sie zeigen, auf welch verschlungenen Wegen die Objekte und Handschriften
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aus seinem Besitz durch Raum und Zeit reisen und wie sich dabei mehr und mehr Geschichten an sie anlagern. Geschichten, die sich auf die Bedeutung auswirkt, die diesen Objekten zugeschrieben wird und die uns womöglich mehr sagt über unseren Umgang mit solchen Zeugnissen einer an sich längst vergangenen Vergangenheit, als über sie selbst. Für die Berlinka bleibt dennoch zu hoffen, dass sie – genau wie der „Nachlass Alexander von Humboldt“ – zukünftig vollständig katalogisiert und bestenfalls auch digitalisiert werden. Die unmittelbare Wirkung auf die Forschung und öffentliche Wahrnehmung, die durch so ein Vorgehen erreicht werden kann, lässt sich erahnen, wenn man sich die vielen Veranstaltungen des HumboldtGedenkjahres 2019 und die nachfolgende Humboldt-Rezeption vor Augen führt. Streng genommen ist sie aber auch ein moralisches Gebot. Es ließe sich dafür das Datum des 24. Februar 2022 anführen. Es geht, mit den Worten Karl August Varnhagen von Enses gesprochen, aber auch einfacher und direkter: „Genug der Träume! Ein Wort von Autographen!“ Literaturverzeichnis Assing, Ludmilla (Hrsg.): Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense: aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagens Tagebüchern und Briefen Varnhagens und Anderen an Humboldt, Leipzig 1860. Benne Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit, Berlin 2015. Bernhard Becker: Briefe deutscher Bettelpatrioten an Louis Bonaparte, Braunschweig 1873. Bordier, Henri-Leonard: L’Allemagne aux Tuileries, 1850–1870. Collection de documents tirés du cabinet de l’Empereur, Paris 1872. Daum, Andreas W.: Alexander von Humboldt, München 2019. Döhn Helga: Die Sammlung Autographa der ehemaligen Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin, Autographenkatalog auf CD-ROM, Berlin 2005. Erdmann, Dominik / Jaglarz, Monika: Der Nachlass Alexander von Humboldt in der Jagiellonen-Bibliothek, Krakau 2019. Erdmann, Dominik / Jaglarz Monika: Präsente vom Süden des Äquators – Zu einem Ausschnitt aus Alexander von Humboldts amerikanischem Reisejournal in der Sammlung Radowitz, in: Bibliotheksmagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München, 12/34 (2017), S. 39–42. Erdmann, Dominik / Weber, Jutta: Nachlassgeschichten. Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka
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Jagiellońska Krakau, in: HiN – Alexander Von Humboldt Im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 16/31 (2015) S. 60–79 (https://doi.org/10.18443/223). Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002. Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, 3 Bände, Berlin 1791–1794. Gatter, Nikolaus: „… sie ist vor allem die meine …“. Die Sammlung Varnhagen bis zu ihrer Katalogisierung, in: Nikolaus Gatter (Hg.): Wenn die Geschichte um die Ecke geht. Almanach der Varnhagen Gesellschaft, Berlin 2000. Hübner-Trams, Christian Wilhelm: Verzeichniss der von dem verstorbenen Preussischen General-Lieutenant J. von Radowitz hinterlassenen AutographenSammlung, 3 Bde., Berlin 1864. Humboldt, Alexander von: Examen critique de l’histoire de la géographie du Nouveau continent et des progrès de l’astronomie nautique aux XVe et XVIe siècles, 5 Bde., Paris 1836–1839. Leitner, Ulrike / Fiedler, Horst: Alexander von Humboldts Schriften Bibliographie der selbständig erschienenen Werke, Berlin 2000. Lubrich, Oliver / Nehrlich, Thomas (Hrsg.): Sämtliche Schriften – Berner Ausgabe, München 2019. Schochow, Werner: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung. Zerstörung. Entfremdung. Rückführung, Berlin/ New-York 2003. Spoerhase, Carlos: Postume Papiere. Nachlass und Vorlass in der Moderne, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 68/6 (2014) S. 502–511. Stern: Ludwig: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin, Berlin 1911. Weber, Jutta: Die Sammlung Varnhagen, in: Jana Kittelmann (Hg.): Briefnetzwerke um Hermann von Pückler-Muskau, Dresden 2015.
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek: damals, heute und vielleicht in der Zukunft Petra Figeac Abstract Wenn man von Bibliomigration spricht, müssen die Rabbinica der Staatsbibliothek zu Berlin erwähnt werden, denn diese große Büchersammlung migrierte infolge des Zweiten Weltkriegs vollständig von ihrem Berliner Stammhaus Unter den Linden über Schloss Fürstenstein (Zamek Książ) und Kloster Grüssau (Krzeszów) in Schlesien nach Krakau, wo sie bis heute aufbewahrt wird. Die historischen Kataloge sind jedoch in Berlin. Um beide zusammengehörige Teile virtuell wieder zu vereinen, wäre ein deutsch-polnisches Digitalisierungsprojekt ein großer Fortschritt. Die Beschreibung der Rabbinica-Sammlung und ihre „Reise“ sind Ziel der folgenden Ausführungen.
Der Sammelbegriff „Rabbinica“ ist von jeher problematisch. Er wird gebraucht für die Schriften des Judentums seit dem Schriftgelehrten Esra (5. Jahrhundert), auf den eine Neuordnung des religiösen Lebens nach der babylonischen Gefangenschaft zurückgeht. Im 19. Jahrhundert wird der Begriff im Gründungsmanifest der Wissenschaft des Judentums von Leopold Zunz (1794–1886) verwendet: „Etwas über die rabbinische Literatur“ ist die kleine Schrift von 1818 betitelt, die die Grundlage für die Bewegung bildet, die sich die wissenschaftliche Erforschung des Judentums zum Ziel gesetzt hat und die Geschichte des Judentums im 19. Jahrhundert in Deutschland, besonders aber in Berlin, entscheidend prägte. Schon Zunz sieht den Begriff kritisch und schreibt in einer Fußnote: „Man müßte unter dieser Bezeichnung nur solche Schriften verstehen, deren Verfasser oder deren Inhalt rabbinisch ist; und im Grunde hat Rabbi, das die Höflichkeit jedem ertheilt, weniger zu bedeuten als Doctor. Warum nicht neuhebräische oder jüdische Litteratur?“1 In unserem Kontext ist dann auch der Begriff so weit zu verstehen, nämlich als jüdische Literatur, jedoch wurde das Wort „Rabbinica“ auf die Bände des Berliner Sachkataloges gedruckt, sodass sich im Bibliothekskontext der Begriff Rabbinica-Sammlung für diese Bücher des Judentums einbürgerte. 1 Zunz, Leopold: Etwas über die rabbinische Literatur: Nebst Nachrichten über ein altes und bis jetzt ungedrucktes hebräisches Werk. Berlin 1818, S. 2.
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Die Rabbinica-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin
Um unsere Thematik im Kontext der Bibliomigration zu verstehen, müssen wir auf die Geschichte der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz kurz eingehen.2 Die Staatsbibliothek ist eine Barockgründung. Sie wurde 1661 von Friedrich Wilhelm, dem Großen Kurfürsten (1620–1688), als Churfürstliche Bibliothek zu Cölln an der Spree gegründet. Im Gründungsbestand gab es bereits Hebraica3 und zahlreiche Bücher in fremden Sprachen. Das erste Domizil der Bibliothek war der Apothekenflügel des Berliner Schlosses, das im Krieg zerstört und nun mit großer Medienresonanz wiederaufgebaut wurde. Der Aufbau erfolgte nicht wirklich historisch und so wurde der Apothekenflügel nicht wiederhergestellt. Die königliche Bibliothek vergrößerte sich und um 1784 zog sie in ein neues Gebäude, in die sogenannte Kommode, am heutigen Bebelplatz, gegenüber der heutigen Humboldt-Universität. In diesem Haus begann die Blütezeit der Bibliothek, die auch vom Aufschwung der Berliner Wissenschaftslandschaft im 19. Jahrhundert und der damaligen FriedrichWilhelms-Universität profitierte. Wichtige Sammlungen aus nahezu allen Bereichen kamen an die Bibliothek, beispielsweise 1817 die Bibliothek Diez4, die Hamilton-Handschriften 18845 oder im Bereich der Orientalistik neben 2 Die wichtigsten einschlägigen Werke zur Gesamtgeschichte der Bibliothek sind immer noch: Paunel, Eugen: Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation während der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung 1661–1871, Berlin 1965; Festschrift Deutsche Staatsbibliothek 1661–1961, 2 Bde., Leipzig 1961, deren zweiter Band eine Bibliografie der früheren Literatur enthält, und der reich bebilderte Band, der u.a. von Werner Schochow herausgegeben wurde: 325 Jahre Staatsbibliothek in Berlin (1986). Über aktuelle Entwicklungen und zahlreiche spezielle Veröffentlichungen informiert das zusammen mit der Bayerischen Staatsbibliothek herausgegebene Bibliotheksmagazin: Bibliotheksmagazin | Staatsbibliothek zu Berlin (staatsbibliothek-berlin.de) (Dieser Link und alle folgenden abgerufen am 28.2.2023). 3 Ein prominentes Beispiel für Hebraica im Gründungsbestand ist die sogenannte Rösel-Bibel, ein vierbändiger großformatiger Tanakh (Tora, Neviim – Propheten, Ketuvim – Schriften) [also das Alte Testament] mit Mikrografien, dem typisch jüdischen Buchschmuck. Dieses Werk wurde von einer Frau Rösel dem großen Kurfürsten geschenkt, wie eine jiddische Inschrift in der Handschrift zeigt; das Geschenk erreichte die Bibliothek allerdings erst 1692, also vier Jahre nach dem Tod des Kurfürsten. Vgl. Werner, Petra (Hg.): Kitwe-jad – Jüdische Handschriften. Restaurieren – Bewahren – Präsentieren [Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 4. Juli 2002–17. August 2002], Berlin 2002, S. 27 (Nr. 4). 4 Zu Diez vgl. jüngst: Rauch, Christoph/Stiening, Gideon (Hg.): Heinrich Friedrich Von Diez (1751–1817). Freidenker – Diplomat – Orientkenner, Berlin/Boston 2020. Die Bibliothek Diez enthält viele Orientalia, die orientalischen Handschriften werden in der Orientabteilung aufbewahrt, die Drucke in der Abteilung Handschriften – Historische Drucke. 5 Vgl. Kirchner, Joachim: Die Hamilton-Handschriften. Zur Geschichte einer berühmten Sammlung, in: Das Sammlerkabinett 3, 1924, S. 1–7.
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vielen anderen die Sammlung Petermann und die Sammlung Sachau6, die über 300 syrische Handschriften enthält. Im Bereich der hebräischen Handschriften ist die Erfurter Handschriftensammlung zu nennen, auf die später noch kurz eingegangen wird. Der Alte Realkatalog In diese Hochzeit der Bibliothek fällt die Einrichtung des sogenannten Alten Realkataloges (ARK). „Realkatalog“ wird ein Katalog genannt, der nach einer sachlichen Systematik und nicht nach Alphabet klassifiziert. Die Arbeiten begannen 1841 durch Dr. Julius Schrader (1808–1898). Schrader war Naturwissenschaftler und fing in der Königlichen Bibliothek als Hilfsarbeiter an. Seine Hauptarbeit bestand darin, die bisher nach unterschiedlichen Formaten getrennten Verzeichnisse in ein einziges, nach inhaltlichen Kriterien geordnetes Verzeichnis zu überführen und die Systematik zu verfeinern. Dazu wurde der Bücherbestand „verzettelt“, um dann nach sachlichen Kriterien geordnet zu werden. Aufgrund dieser geordneten Zettel wurden dann Bandkataloge angefertigt. Die Vergabe der Signaturen erfolgte nun systematisch, was den bis heute unschlagbaren Vorteil einer sachlichen Aufstellung der Bücher im Magazin hat. Schrader begann mit den Katalogen Zoologie und Botanik und stellte bis 1842 für beide Gebiete einen je drei Bände umfassenden Realkatalog her. Die Bände enthielten einen Index zur besseren Benutzbarkeit. Am 21. August 1842 legte Schrader dem damaligen Oberbibliothekar Georg Heinrich Pertz (1795–1876) einen Bericht vor, in welchem die Ausarbeitung eines neuen Realkataloges gefordert wurde, der sich in der Systematik im großen und ganzen dem alten Kataloge anschließen, aber nicht durch einfaches Abschreiben des alten Kataloges, sondern auf Grund eines Zettelkataloges hergestellt werden sollte. Mit der Anfertigung der neuen Kataloge sollte erst begonnen werden, nachdem der ganze Bücherbestand verzettelt war.7
Im Zuge der Neuordnung wurde das für den Altbestand gültige Signaturensystem eingeführt: eine Komposition von Einfach- und Doppelbuchstaben mit einer anfangs höchstens vierstelligen, in der Systematik nicht fortlaufenden Zahl (z.B. Ey 2111 – ein Beispiel aus dem Bereich der Rabbinica). Signiert wurde also nach dem Realkatalog; die in der Systematik angelegten Signaturen wurden dann auf die Zettel des alphabetischen Kataloges nach und nach 6 Sachau, Eduard: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliotheken, 23. Bd.: Verzeichniss der syrischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 1. und 2. Abtheilung, Berlin 1899. Die Handschriften werden zurzeit digitalisiert und in der Datenbank Qalamos beschrieben. 7 Ebd., S. 147.
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übertragen. Nach den Musterkatalogen von Schrader folgte die Geschichte, die Klassische Philologie, deutsche Literatur, Theologie, Jurisprudenz. Die Arbeit des Verzettelns erreichte 1859 einen Abschluss, nur die Rabbinica, für die ein besonderer Sachverstand nötig war, wurden erst 1863 verzettelt. Die Reinschrift der Bände erfolgte durch die Kustoden oder auch durch Wissenschaftler, Teile des Rabbinica-Kataloges hat Moritz Steinschneider (1816–1907) geschrieben.
Abb. 13.1
Die Erschließung der Rabbinica-Sammlung
Die Katalogbände der Rabbinica-Sammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek
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Die Rabbinica-Sammlung war also erschlossen durch die ARK-Systematik, die auf Universalität ausgerichtet war und das „Weltwissen“ klassifizierte. Nach den Buchstabengruppen A–Az Allgemeines – Wissenschaftskunde – Literaturgeschichte – ordneten die Buchstaben B–E die Theologie, unter der auch die Rabbinica subsumiert wurden: die genaue Signaturenspanne der Rabbinica ist Eu 59 – Ez 29163. Das Buch mit der Signatur Eu 59 ist ein Sammelband, der Gedichte unter anderem auch von Moses Mendelssohn, dem Begründer der jüdischen Aufklärung, enthält. Dementsprechend beginnt die Systematik mit den Miszellanbänden (Eu 59 – Eu 74), der Literatur zum Babylonischen (Eu 108 – Eu 1110/100) und Jerusalemer Talmud (Eu 1120 – Eu 1351), den Gebeten (Eu 1402 – Eu 3999; Eu 6610 – Eu 6690), den Anonyma (Eu 4002 – Eu 6510) und der großen Gruppe der einzelnen Autoren (Autores), bei denen Primär- und Sekundärliteratur unter dem Namen vereint sind (Ev 70 – Ex 6345).8 Ab der Signaturengruppe Ey beginnen die sogenannten Judaica mit einer Übersichtseintragung zu Bibliografien, Katalogen, Literaturgeschichte, Enzyklopädien, Biografischen Sammlungen und Biografien einzelner Personen, eine Sonderstelle (Ey 4618 – Ey 4627) erhielten das Jüdische Theater und die Jüdische Presse (Ey 4999 – Ey 5000/100). Die Zeitschriften finden sich unter Ey 5008 – Ey 5380/120, die Sprachkunde, insbesondere zu Neuhebräisch findet sich unter Ey 5730 – Ey 6093, Jiddisch unter Ey 7024 Ey 7302. Die Signaturengruppe Ez bietet weiterhin Judaica bzw. das Schrifttum über die Juden in nachbiblischer Zeit. Ez beginnt mit einem Alphabet der gesammelten Schriften einzelner Autoren, bevor die politischen Schriften, Schriften zur Emanzipation etc. klassifiziert werden (Ez 500 – Ez 14487/510), wobei die Geschichte der Juden in den einzelnen Staaten aufgelistet wird. Danach werden Schriften zur Religion, Politik und Kultur eingeordnet (Ez 14600 – Ez 20300) mit Spezialeinträgen beispielsweise zur jüdischen Arbeiterbewegung. Die Religionsgeschichte (Ez 14670 – Ez 20300) enthält Untereinträge zur Glaubenslehre, Moral, Philosophie, Lehrbücher für Schulen, Polemik, Apologetik, Emanzipation allgemein; es gibt auch eine Untereinteilung zu Zeremonien, Kultus und der Exegese. Es folgen Sachstellen zur Kulturgeschichte (Ez 21100 – Ez 21614/520), dem Eid more judaico (Ez 21854 – Ez 22005),9 Sekten und Parteien (Ez 22150 – Ez 22943/270), der Kabbala, dem Chassidismus und der Mystik (Ez 23320 – Ez 23656), den Abschluss bilden das Rabbiner- und Gemeindewesen (Ez 23800 – Ez 24426), das Unterrichtswesen (Ez 25000 – Ez 25389/5), 8 Vgl. den umfangreichen Eintrag zu Moses Maimonides Ex 1656 – Ex 1968. 9 Der Eid „More Judaico“ – Judeneid, musste bei Streitigkeiten mit Nichtjuden geleistet werden, erst im März 1869 wurde er in Preußen abgeschafft. Moritz Steinschneider war übrigens von 1860 bis 1869 für die Gemeinde als „jüdischer Gelehrter“ in diesen Angelegenheiten tätig.
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Vereine (Ez 25695 – Ez 25939/500), Predigten (Ez 25945 – Ez 26949/10), Schönwissenschaftliche Literatur (Ez 27800 – Ez 28629/200) und Biografien, Genealogie und schließlich Verschiedenes (Ez 28808 – Ez 29163). In dieser Systematik verbergen sich 24.786 Titel nach der Zählung im Online-Katalog der Staatsbibliothek.10 Die zahlenmäßig größte Gruppe sind die „Autores“ des Rabbinica-Teils mit 10.240 Titeln, eine bedeutende Einzelgruppe im Teil der Judaica ist die „Politische Geschichte“ mit 3782 Titeln. Dies mag als Übersicht über die systematische Klassifizierung der Rabbinica-Sammlung genügen. Die Spitzenstücke der Sammlung Die damalige Königliche Bibliothek sammelte im 19. Jahrhundert universell. Die eben dargestellte Systematik der Rabbinica-Sammlung gibt einen Eindruck von der inhaltlichen Vielfalt der in der Bibliothek gesammelten Literatur. Gewichtet man die hebräischen Drucke der Sammlung nach Erscheinungsjahren, fällt mit einer Gesamtzahl von ca. 947 Titeln die überaus starke Vertretung von Titeln des 16. Jahrhunderts auf, das 17. Jahrhundert zählt ca. 905 Titel, das 18. Jahrhundert 2376, das 19. Jahrhundert 6463 und das 20. Jahrhundert 6049 Titel.11 Bei den Drucken des 16. Jahrhunderts sind die frühen italienischen SoncinoDrucke12 und Drucke aus Konstantinopel druckgeschichtlich besonders erwähnenswert, weil dort die ersten hebräischen Bücher erschienen und sich in diesen Gebieten zunächst die Zentren des Buchdruckes entwickelten. Die Königliche Bibliothek besaß beispielsweise unter der Signatur Ew 364 einen sehr frühen Konstantinopler Druck von 1505 des Bibelexegeten und Philosophen Don Isaak ben Judah Abrabanel (1437–1508).13 Er schrieb das 10 Vgl. ARK-online (März 2022). 11 Die Zählweise erfolgt auf Basis der konvertierten alphabetischen Altbestandskataloge AK heb I und AK Or II (Hebräisch). Dabei verbergen sich hinter den Zahlen Titel, nicht Bände, mehrbändige Werke haben jeweils eine eigene Gesamttitelaufnahme, die mitgezählt wird. Außerdem können selbstverständlich mehrere Werke in einem Band gesammelt sein (Stand des Zahlenmaterials März 2022). 12 Zur hebräischen Druckgeschichte vgl. den immer noch lesenswerten Artikel von Cassel, David/Steinschneider, Moritz: Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel, in: Ersch & Gruber, Sec. 2.27, 1851, S. 21–94; viele Informationen zu den Exemplaren finden sich in den Werken von Heller, Marvin J.: The seventeenth century Hebrew book. An abridged thesaurus. 2 Bde., Leiden u.a. 2011; Ders.: The sixteenth century Hebrew book. An abridged thesaurus. 2 Bde. Leiden u.a. 2004. Die Transliterationen der hebräischen Titel folgen Marvin Heller, zur leichteren Lesbarkeit, nicht der Transliteration im Bibliothekskatalog. 13 Da die Bücher nicht mehr in Berlin sind, kann keine Autopsie erfolgen, d.h. eine Prüfung am Buch selbst ist aufgrund der Bestandsverlagerung nicht möglich. Die Exemplare können nicht mit letzter Gewissheit zugeschrieben werden.
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Werk „Zevah pesah“14, ein Kommentar zur Haggada, im April 1496 in Monopoli im Königreich Neapel. Das Buch ist eines der ersten in Konstantinopel gedruckten Werke überhaupt. Drucker waren David und Samuel ibn Nahmias. Der Kommentar zur Haggada wurde zusammen mit „Nahalat Avot“ (Erbteil der Väter) und „Rosh Amanah“ (Haupt des Glaubens) veröffentlicht. Es dürfte auch Einzeldrucke der Werke gegeben haben. Unter weiteren zahlreichen Drucken aus Konstantinopel des 16. Jahrhunderts15 ist das „Sefer ha-Mitzvot“ von Moses ben Maimon-Rambam (1135–1204) zu erwähnen, das die 613 Mitzvot, die Gebote, auflistet, außerdem das Werk „Amudei Golah“ (Säulen der Diaspora), auch bekannt unter dem Titel „Semak“16 von Isaac ben Joseph von Corbeil, gedruckt 1510 in Konstantinopel, ebenfalls bei David und Samuel ibn Nahmias, ein wichtiges Werk der Halacha, des jüdischen Rechts. Was die frühen italienischen Soncino-Drucke betrifft, so fanden sich in der Rabbinica-Sammlung zum Beispiel das Buch „Sefer ha-Rokeʾah“ des Eleazer ben Judah aus Worms, gedruckt 1505 bei Gershom Soncino im italienischen Fano. Im Katalog der Staatsbibliothek wird das Werk als „Der Gewürzkrämer“ übersetzt, Marvin Heller gibt „the Perfumer“ an.17 Der Titel leitet sich von der Zahl 308 ab (Buchstabe Resch = 200, Buchstabe Qof [K] = 100 und Buchstabe Ḥet, bzw. Chet = 8), was demselben Zahlenwert entspricht wie der Vorname des Verfassers Eleazer. Jeder hebräische Buchstabe hat einen Zahlenwert und im Bereich der jüdischen Buchkunde spielt diese Art von Abkürzungen eine große Rolle, sowohl bei den Kolophonen als auch bei der Titelgebung. „Sefer ha-Rokeʾah“ ist ebenfalls ein Werk der Halacha. Es ist auch das erste hebräische Buch überhaupt, das mit einem Titelblatt versehen ist.18 Ein weiterer erwähnenswerter italienischer Soncino-Druck19 der Berliner Sammlung ist das Buch „Kuzar“ bzw. „Sefer ha-Kuzari“ des Judah ben Samuel 14 Die Transliteration der Titel von Heller ist etwas gewöhnungsbedürftig, im bibliothekarischen Kontext würde man ḥ, also h mit Unterpunkt setzen, im „normalen“ Sprachgebrauch natürlich „Pessach“. 15 Eine Katalogrecherche im AK heb I, dem ersten alphabetischen Katalog der Rabbinica, ergibt erstaunliche 60 Treffer. Die Zahlen in diesem Artikel beruhen auf Recherchen im Bibliothekssystem PICA des Gemeinsamen Bibliotheksverbund (GBV), Suchabfrage hier war: f znm dor? and not znm (dor39? or dor40?) and vlo Konstantinopel and jhr 1500– 1599 (Stand März 2022). 16 Sefer mitsvot katan – SM“K – Semak. Dieses Werk ist nicht zu verwechseln mit dem SM“G – SeMaG: Sefer mitsvot gadol „großes Buch der Gesetze“ von Moses ben Jakob aus Coucy (1250 vollendet). 17 Vgl. Heller, Sixteenth century, S. 11. 18 Ebd. 19 Weitere wichtige Werke wären auch die Ew 3254 Shaʾrei Teshuvah von Jonah ben Abraham Gerondi, das der Berliner Katalog von 1501–1506 ansetzt, gedruckt in Fano. Vgl. Heller,
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Halevi (ca. 1075–1141), gedruckt 1506 in Fano ebenfalls von Gershom Soncino. Das Buch ist das bedeutendste philosophische Werk des jüdischen Poeten und Philosophen, der in Tudela bzw. Toledo, jedenfalls in Spanien, geboren wurde und in Ägypten starb. Der Autor hatte es auf Arabisch geschrieben, es wurde vom berühmten Übersetzer Judah ibn Tibbon (ca. 1120–ca. 1190) ins Hebräische übersetzt. Es verteidigt den jüdischen Glauben in der Form eines Dialoges zwischen einem heidnischen König und drei Philosophen, die die drei Religionen vertreten. Am Ende nehmen der König und sein Volk das Judentum als ihre Religion an. Ebenfalls vorhanden waren in der Berliner Sammlung der Soncino-Druck aus Pesaro von 1507: „Beʾur al ha-Torah“ (Erklärung zur Tora)20, ein wichtiger Torakommentar des R. Bahya ben Asher ben Hlava (Rabbenu Bahya, 13. Jahrhundert) und unter der Signatur Eu 108 drei Traktate des „Talmud Bavli“, laut des Berliner Kataloges ebenfalls von Soncino in Pesaro gedruckt.21 Soweit mögen die angeführten Beispiele genügen, um einen Eindruck vom großen Reichtum an frühen Drucken der Berliner Rabbinica-Sammlung zu bekommen. Doch nicht nur die frühen Spitzenstücke hebräischer Druckkunst waren vorhanden, sondern natürlich auch die Drucke aus dem Umfeld der Wissenschaft des Judentums, der bereits oben erwähnten geistesgeschichtlichen Richtung, die im 19. Jahrhunderts versuchte, die Erforschung des Judentums nach wissenschaftlichen Kriterien ihrer Zeit zu vertiefen; eine ihrer Hauptdisziplinen waren die historische Philologie und die Quellenkunde.22 Das 19. Jahrhundert ist in der Sammlung mit über 6400 Titeln vertreten, ebenso umfasste das 20. Jahrhundert (bis zu den Katastrophen der Shoa und des Zweiten Weltkrieges) knapp über 6000 Titel. Beispielhaft mögen die Werke eines der Hauptvertreter dieser Strömung, Moritz Steinschneider, genannt werden. Die Hauptschriften waren alle vorhanden, auch das folgende eher seltene Werk, das 1852 in Berlin gedruckt wurde, war unter der Signatur Ew 2820 verfügbar: „Ermahnungsschreiben des Jehuda ibn Tibbon an seinen Sohn Samuel, des Moses Maimonides an seinen Sohn Abraham und Sprüche der Weisen. Sixteenth century, S. 23 und Eu 3224: Selihot, nach dem Berliner Katalog Fano 1503–1505? (Bußgebete, nach deutschem Ritus) [Hebr.], Heller, Sixteenth century, S. 13. 20 Die Soncino-Drucke sind sehr selten, das erwähnte in Pesaro gedruckte Werk ist beispielsweise im größten deutschen Verbundkatalog (GBV) – außer der Kriegsverlust-Ausgabe der Staatsbibliothek – nicht nachzuweisen. 21 Diese Ausgabe müsste näher untersucht werden, da nicht klar ist, wie die Teile untereinander zusammenhängen. 22 Die Systemstelle des Alten Realkataloges der Sprachkunde umfasst immerhin 328 Einträge.
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Zu Ehren des siebenzigsten Geburtstags seines verehrten Vaters, Herrn Jacob Steinschneider in Prossnitz aus Bodleianischen Handschriften zum ersten Mal herausgegeben, mit einer deutschen Charakteristik und biographischen Skizze begleitet von M. St. …“ [mit einem hebräischen Titel]. Ebenfalls enthielt schon allein die „alte Sammlung“ (Alphabetischer Katalog [AK] Heb I – Titel bis 1909) mehr als 400 hebräische Titel aus Berlin, mit Verlagen wie Julius Sittenfeld, A. Asher oder früher der Jüdischen Freischule und der Orientalischen Druckerei, wichtige Buchzeugen für das Leben der Juden in Berlin. All diese Werke ließen sich systematisch im Rabbinica-Teil des Alten Realkataloges finden. „Rabbinica“ ist hier, wie bereits erwähnt, ein Bibliotheksbegriff, der dadurch geprägt war, dass er als „Überschrift“ auf den Bänden des Alten Realkataloges stand, auch auf den Bänden, die wir heute unter dem Begriff „Judaica“ subsumieren würden. Die „Rabbinica“ sind dabei die genuin jüdischen Werke; die Bibel, die auch von christlichen Gelehrten bearbeitet wurde, ist bei der Theologie zu finden. Die Rabbinica-Sammlung umfasst 13 Katalogbände und drei Indexbände, die die Titel erschließen. Als Besonderheit gibt es noch einen von Moritz Steinschneider angefertigten Index der hebräischen Titel in hebräischer Schrift. Die Transliteration der hebräischen Konsonantenschrift ist nicht immer eindeutig, so bot dieser bewährte Index eine gute Arbeitshilfe. Wer war Moritz Steinschneider, der diese umfassende Rabbinica-Sammlung im 19. Jahrhundert mit offensichtlich kundiger Hand aufgebaut hat?23 Moritz Steinschneider wurde 1816 in Prossnitz in Mähren geboren, dem heutigen Prostejov.24 Sein Vater Jakob (1782–1856), dem er das oben erwähnte Werk „Ermahnungsschreiben“ gewidmet hat, war ein Vertreter der Haskala in Mähren, ein Teil des heutigen Tschechiens. Im Haus des Vaters verkehrte auch Steinschneiders Onkel Gideon Brecher (1797–1873), ihm verdanken wir beispielsweise eine kritische Ausgabe des „Kuzari“25, das Werk, das uns 23
Die Systematik des Realkatalogs wurde sicherlich nach Steinschneider weiterentwickelt. Bei einer Bibliothekssystematik, die ja keinen Autor kennt, ist der Anteil der jeweiligen Bearbeiter nicht genau zu bestimmen. 24 Moritz Steinschneider hat bis heute keine wissenschaftliche Bibliografie. Für eine erste Orientierung zum Leben und Werk vgl. Figeac, Petra: Moritz Steinschneider: 1816–1907. Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie, Berlin 2007. Als weiterführende Literatur sind Freudenthal, Gad/Leicht, Raimund (Hg.): Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the emergence of the science of Judaism in nineteenth-century Germany, Leiden u.a. 2012 zu nennen, die aus einer Konferenz 2007 an der Staatsbibliothek zu Berlin hervorgegangen sind. 25 Ew 2492: Judah ben Samuel Halevi: Sefer ha-Kuzari. Prag: Landau, 1838–1840.
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Abb. 13.2
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Moritz Steinschneider bei seiner Arbeit am Realkatalog. SBB SPK-Berlin, Porträtsammlung.
auch schon als früher Soncino-Druck begegnet ist.26 Moritz Steinschneider ging zum Studium nach Wien und Leipzig, verbrachte sein Gelehrtenleben hauptsächlich in Berlin, wo er 1907 starb. Er hinterließ zahlreiche Schriften zur Arabistik, Judaistik und Bibliografie, vor allem seine eigene Zeitschrift „Hebraeische Bibliographie. Blätter für neuere und ältere Literatur des Judenthums, zugleich eine Ergänzung zu allen Organen des Buchhandels“, die von 1858 bis 1882 bei Asher in Berlin erschien und das zentrale Rezensionsorgan war, in dem die Informationen zur Literatur der Wissenschaft des Judentums gesammelt wurden. Steinschneiders Hauptwerk auf dem Gebiet der Bibliografie27 ist der berühmte Katalog der Bodleiana in Oxford „Catalogus librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana“28. Durch die Vermittlung des Buchhändlers Adolf Asher (1800–1853), bekam Moritz Steinschneider den Auftrag, die hebräischen Bücher der Bibliothek des Prager Oberrabbiners und Mährischen Landesrabbiner David ben Abraham Oppenheimer (1664–1736) zu 26 Ew 2484. 27 Sein wissenschaftsgeschichtliches Hauptwerk trägt den Titel „Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher“ (1893). 28 Steinschneider, Moritz: Catalogus librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana, Berlin 1852–1860.
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katalogisieren. Diese berühmte Bibliothek galt als eine der umfangreichsten im Bereich der Hebraica und wurde 1829 nach Oxford verkauft, in Berlin hatte sich trotz der Bemühungen von Leopold Zunz (1794–1886), einem der Gründungsväter für die Wissenschaft des Judentums und Steinschneiders lebenslanger Mentor, keine Bibliothek gefunden, die bereit gewesen wäre, die Bibliothek anzukaufen,29 eine große Enttäuschung für die junge Wissenschaft in Berlin. Steinschneider war gezwungen, seinen Quellen nach Oxford hinterher zu reisen und er verbrachte in den 50er Jahren seine Sommer in Oxford. Mit der Berliner Bibliothek und deren Büchersammlung war Steinschneider seit er im Februar 1846 um die Zulassung zum Lesesaal gebeten hatte, besonders verbunden. Seit 1869 war er auch offiziell als Mitarbeiter angestellt und verbrachte – bis kurz vor seinem Tod – jeden Mittwoch in der Bibliothek. Obwohl er nie als Beamter oder gar Kurator bzw. Kustos voll angestellt gewesen ist, eine Stellung, die er vermutlich auch nie angestrebt hätte, ist er in der Bibliothek als Berater hochgeschätzt worden. Durch seine gute Verbindung zum Buchhändler Adolf Asher, der im europäischen Maßstab die Bibliotheken bediente und auch Lieferant der Königlichen Bibliothek war, hat er sicher Einfluss auf Auswahl, evtl. sogar auf die Preisgestaltung30 der angeschafften Bücher gehabt. Steinschneider ist es gewesen, der die Rabbinica-Sammlung zuerst katalogisierte, der bei der Systematik mitarbeitete und sie prägte. Abschließend sei eine Doppelseite aus dem Rabbinica-Teil der besprochenen Systematik des Alten Realkatalogs abgebildet: Sie zeigt die Signaturengruppe Ey – Bereich Literaturgeschichte. Die verzeichneten Werke gehören quasi zu den Urschriften der jüdischen Literaturgeschichte: Das Werk „Jüdische Literatur“ von Moritz Steinschneider, das zuerst 1850 in der Enzyklopädie „Ersch und Gruber“ erschien31 und schon 1857 ins Englische übersetzt wurde (Ey 630) ist dort eingetragen. Die Ausgabe Ey 630a weist darauf hin, dass die ursprüngliche 29 Auch die königliche Bibliothek wollte die Sammlung nicht erwerben, genauere Archivstudien zu diesem Thema stehen noch aus. 30 So führt Gregor Pelger in seiner Arbeit über Wissenschaft des Judentums in Englischen Bibliotheken im Kontext der Erwerbungen des Britischen Museums aus, „[d]ass Steinschneider im Auftrag von Ashers Firma zumeist die Preise festlegte, […].“ (Pelger, Gregor: Wissenschaft des Judentums und englische Bibliotheken. Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahrhundert, Berlin 2010, S. 270). In der Berliner Bibliothek dürfte dies auch der Fall gewesen sein, zumal er mit der Bibliothek enger verbunden war. 31 Steinschneider, Moritz: Jüdische Literatur, in: Ersch & Gruber, Sec. 2.27, 1850, S. 357–471. Eigenartigerweise wird im Realkatalog für den Band 27 das Jahr 1849 gegeben, der Band erschien laut Titelblatt aber 1850 (Sektion 2). Die Bleistifteintragung 1838 weist auf das Erscheinungsjahr von Steinschneiders Erstling: Belaiss, Abraham (1838), Sefer Beʾer laḥai roʾi, für das er Übersetzungen angefertigt hatte.
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Abb. 13.3
Eine Doppelseite des Realkatalogs.
Ausgabe verloren war und neu beschafft wurde. Der rote Haken ist das Zeichen, dass die Ausgabe im Haus 1 – Unter den Linden nach dem Krieg noch oder wieder vorhanden war.32 Auf der linken Seite ist unter Ey 631 die hebräische Übersetzung des Werkes von 1897 vermerkt, die später in Israel durchaus einflussreich war, handelte es sich doch bei Steinschneiders Werk um eine der ersten auf Quellen basierte Literaturgeschichte der Wissenschaft des Judentums.
32
Als die Gesamtrevision der Bibliothek noch nicht abgeschlossen war, mussten diese roten Haken im Realkatalog gesucht werden, es war ein mühsames Verfahren, das die Kriegsverluste deutlich ins Bewusstsein rückte. Nachdem man – oft nach einer langen Odyssee in den Katalogen – endlich die bibliografischen Angaben eines Werkes hatte, musste man im Bereich der Rabbinica enttäuscht fast immer das Fehlen des roten Hakens feststellen, der zeigt, dass das Werk nicht mehr vorhanden war. Im Haus 2 – Potsdamer Straße gab es einen Standortkatalog des Altbestandes, der Werke, die in den Westen gelangt waren. Nun ersetzen elektronische Nachweise die Prozedur, im Bereich der Rabbinica bleibt aber die Enttäuschung über die Ausschrift „Kriegsverlust“ weiterbestehen.
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek
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Das Umfeld der Rabbinica-Sammlung – die hebräischen Handschriften
In der Königlichen Bibliothek klassifizierte Moritz Steinschneider nicht nur die Rabbinica, sondern baute auch die Sammlung der hebräischen Handschriften auf und katalogisierte sie.33 Die Rabbinica stehen im Kontext dieser mit über 500 Handschriften wichtigen Sammlung, die kurz vorgestellt werden soll.34 Die wissenschaftliche Erforschung der Handschriften geschah mit Hilfe der reichhaltigen im Alten Realkatalog verzeichneten Forschungsliteratur. Obwohl die hebräischen Druckschriften und Handschriften der Rabbinica sich aufeinander beziehen, sind die Sammlungen heute getrennt. Die Drucke sind in Krakau, während die im Krieg ausgelagerten Handschriften nach Stationen in Tübingen und Marburg wieder in Berlin sind. Abgesehen von einigen Stücken, die im Gründungsbestand vorhanden waren, wurde die Handschriftensammlung parallel zur Rabbinica-Sammlung, vor allem im 19. Jahrhundert aufgebaut. Auch was die Provenienz betrifft, gibt es Überschneidungen: Der Ankauf von mehr als 3000 Druckbänden aus dem Nachlass des Dr. Moses Pinner (1882) schloss auch 23 mss. ein: Fol. 1260-67, Qu. 671-700, Oct. 353-57, worunter Fol. 1267 (N. 255) mehr als 50 Gelegenheitsgedichte u. dgl. aus den vornehmsten jüdischen Familien Berlin’s an den Grenzen des vorigen und des jetzigen Jahrh. zählt.35
Die Pinner-Bücher dürften in Krakau sein,36 die Handschriften sind jedoch in der Staatsbibliothek zu Berlin, ein konkretes Beispiel für die Zerrissenheit des Bestandes einer Provenienz. Die berühmteste hebräische Handschrift der Berliner Sammlung ist der „Hamilton-Siddur“, eine Pergamenthandschrift, die an den Anfang des 14. Jahrhunderts zu datieren ist und aufgrund ihrer besonders gestalteten Buchstaben Berühmtheit erreichte. Auch sie wurde ausgelagert und wanderte über Marburg schließlich in den 60er Jahren wieder nach WestBerlin in die Orientabteilung der Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz. 33 Der Katalog ist in zwei Teilen erschienen: Steinschneider, Moritz: Die HandschriftenVerzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 2. Bd. Verzeichnis der hebräischen Handschriften. Mit 3 Tafeln. Berlin 1878. [Abth.1] und Ders.: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 2. Bd. Verzeichnis der hebräischen Handschriften. Berlin 1897 [Abth. 2]. 34 Die Handschriften werden zurzeit in einem Projekt katalogisiert und in der Datenbank Qalamos nachgewiesen. 35 Steinschneider, Abth. 2, S. III. 36 Eine genaue Prüfung steht noch aus.
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Abb. 13.4
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Doppelseite aus dem Siddur, Hamilton 288, SBB-PK, Orientabteilung. Kitve-Yad. Jüdische Handschriften: Restaurieren – Bewahren – Präsentieren. Jüdische Kultur im Spiegel der Berliner Sammlung. Berlin 2002, S. 94–95.
Dies soll zur Einordnung des Umfeldes der Rabbinica-Sammlung auf dem Gebiet der Handschriften genügen, die natürlich auch Rabbinica im weitesten Sinne des Wortes sind. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Handschriften und Büchern wurde auch durch die kundig aufgebaute Theologieabteilung erleichtert und ermöglicht, worauf hier nicht eingegangen werden kann. Die Bücher der Theologie sind nicht in Krakau, auch dies ein Beispiel dafür, dass der Rabbinica-Sammlung der Kontext verloren ging und eine virtuelle Rekonstruktion für die Forschung große Vorteile hätte.
Das Schicksal der Sammlung im Dritten Reich
Die bisher behandelten Bestände und Ereignisse sind alle mit dem Gebäude der „Kommode“ am heutigen Bebelplatz verbunden. Die Bibliothek blühte Ende des 19. Jahrhunderts auf und sie bekam schließlich 1914 einen spektakulären Neubau an dem Prachtboulevard Unter den Linden. Die Einweihung 1914 fand am Vorabend des Ersten Weltkrieges statt und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges sollte die Geschichte des Gebäudes und seiner Bestände
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek
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prägen: Die Bewegung von mehr als drei Millionen Bänden und über 700.000 europäischen, orientalischen und Musik-Handschriften aus den Sondersammlungen37 war eine der größten Bibliomigrationsgeschichten Europas im 20. Jahrhundert. Das Wissen über die Auslagerungsgeschichte verdanken wir vor allem den Recherchen Werner Schochows (1925–2020), der sich auch besonders für Judaica interessierte, hatte er doch schon seine Dissertation im Bereich des Judentums geschrieben.38 Das auf umfangreiche Archivstudien aufbauende Standardwerk zur Auslagerungsgeschichte der Staatsbibliothek ist das 2003 erschienene Buch „Bücherschicksale“, das hier die Grundlage bildet.39 Werner Schochow teilt die Auslagerungsgeschichte in drei Perioden ein: Die erste Phase begann schon 1939. Aufgrund einer ministeriellen Warnung wurden Zimelien in das Kellergeschoss des Reichswirtschaftsministeriums verbracht, den sogenannten Panzerkeller. Wahrscheinlich schaffte man damals auch die berühmte aus der Erfurter Handschriftensammlung stammende Bibel Erfurt 1 dorthin.40 Sie war mit einem Gewicht von 50 kg pro Band sicher schwierig zu evakuieren. Die Riesenbibel wurde im Keller bei einem Bombenangriff durch Löschwasser schwer beschädigt, gelangte nach dem Krieg ins Haus Unter den Linden und nach der Wiedervereinigung wurde die Restaurierung begonnen, die noch nicht abgeschlossen ist.41 Diese genuin jüdische 37 Schochow, Werner: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung, Zerstörung, Entfremdung, Rückführung, dargestellt aus den Quellen, Berlin 2003, S. 3. 38 Schochow, Werner: Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte ihrer Organisationsformen unter besonderer Berücksichtigung der Fachbibliographie, FU Berlin, phil. Diss. 1961, 2., überarb. u. erw. Ausgabe, Berlin 1969. 39 Schochow, Bücherschicksale. 40 Die Bibel war Teil der 15 Bände starken Erfurter Handschriftensammlung, die oben als Erwerbung des 19. Jahrhunderts kurz erwähnt wurde. Die jüdischen Handschriften, die infolge eines Pogroms 1349 in christliche Hände kamen und somit „überlebten“, sind einzigartig: Die im Reichswirtschaftsministerium gerettete Bibel ist die größte weltweit bekannte hebräische Pergamenthandschrift, Bibel Erfurt 2 hat einzigartige Mikrografien, von den vier Torarollen gehört eine zu den größten und am besten erhaltenen Rollen, eine andere gehört weltweit zu den ältesten. Teile der Sammlung kamen nach der Auslagerung über Marburg wieder nach Berlin, andere blieben in Berlin und kamen in die Bibliothek Unter den Linden. Jetzt ist die Sammlung wieder vereint. Umfassende Informationen über die Sammlung finden sich bei Anett Martini: Projektbeschreibung • Die hebräischen Handschriften der „Erfurter Sammlung“ als kulturhistorische Zeugen jüdischen Lebens im Mittelalter • Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften (fu-berlin.de). 41 Den ersten Teil der Restaurierung dokumentiert ausführlich der Band Bispinck, Julia: Erste Schritte der Restaurierung der hebräischen Bibel „Erfurt I“ (2002) [Ausstellung und Katalog: Julia Bispinck, unter Mitarb. der Restauratoren der Staatsbibliothek zu Berlin], Berlin 2002.
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Handschrift überlebte also das Dritte Reich im Keller eines Ministeriums der Nationalsozialisten. In dieser ersten Phase wurden die wertvollsten Bestände gesichert. Wir wissen zum Beispiel, dass die orientalischen Handschriften ins Kloster Banz nach Oberfranken, ins Kloster Beuron und in das Schloss Fürstenstein in Niederschlesien gebracht wurden. In dieser Zeit gab es noch minutiös geführte Verlagerungslisten und professionelle Bücherkisten. Der Transport erfolgte mit Lastwagen. Im Frühjahr 1941 wurde das Bibliotheksgebäude erstmalig von Brandbomben getroffen, weshalb weitgehende Auslagerungen geplant wurden. Die zweite Phase begann im Sommer 1942 und dauerte bis zum Sommer 1943. Nun wurden vor allem Druckschriften gepackt, auch Rara waren dabei. In dieser Phase wurden ebenfalls noch sorgfältige Listen geführt. Auslagerungsorte waren Hessen und Sachsen, aber auch Chorin in der Nähe Berlins und eben Schlesien. Die Rabbinica-Sammlung (ca. 14.000 Bände) wurde in der zweiten Welle nach Schloss Fürstenstein (Zamek Książ) in Schlesien 1943 ausgelagert, von dort kam sie ins Kloster Grüssau (Krzeszów). Die Umlagerung erfolgte am 2. Juli 1944. Die dritte Evakuierungsphase kündigte sich mit der zunehmenden Bom bardierungsgefahr für Berlin Ende August 1943 an. Nun wurde die Gesamträumung der Preußischen Staatsbibliothek angeordnet, es waren zu der Zeit noch zwei Drittel des Bestandes im Gebäude. Der Benutzungsbetrieb der Bibliothek wurde nun eingestellt, nachdem er vorher mühsam aufrechterhalten worden war. 1943/44 wurde der Ihne-Bau Unter den Linden schwer beschädigt. In dieser Zeit standen keine Bücherkisten mehr zur Verfügung, das Personal fehlte, der Transport erfolgte per Schiff. Die letzten Bestände verließen im März 1945 Berlin. Insgesamt waren die Bestände nun auf 30 Verlagerungsorte verteilt. Den Krieg überstanden die meisten Depots unversehrt, nicht aber die chaotische Nachkriegszeit mit ihren Plünderungen und Erschwernissen. Man kann von Glück sagen, dass die Rabbinica-Sammlung im Kloster Grüssau (Krzeszów) den Weg nach Krakau gefunden hat: Die Bücherkisten werden von der polnischen Miliz zwar schon am 29. August 1945 auf der Kirchenempore entdeckt, doch wartet die polnische Verwaltung den Abzug der Roten Armee noch ab, ehe sie den Abtransport des gesamten Depots in die Wege leitet. Er erfolgt wenige Monate nach Ausweisung der deutschen Mönche (12. Mai 1946). Das Ziel ist Krakau.42
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Schochow, Bücherschicksale, S. 65.
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Geschichte der Sammlung nach dem Zweiten Weltkrieg Die Rabbinica-Sammlung ist also seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Krakau. Was geschah mit den anderen ausgelagerten Beständen, die ebenfalls Teil der Migrationsgeschichte sind? Ein Teil gelangte wieder ins Haus Unter den Linden. Was aber war das Schicksal der Bestände im Westen? In Banz? In Beuron? Ihre Situation war komplizierter, denn das Mutterhaus der Staatsbibliothek lag ja in Ostberlin. Die „Deutsche Staatsbibliothek“ (Berlin-Ost), die von 1946 bis 1954 den Namen „Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek“ führte, erhob Anspruch auch auf diese Bücher und Handschriften, den aber die Westalliierten zurückwiesen. Die orientalischen Handschriften konnten zunächst zum Teil in der Universitätsbibliothek Tübingen benutzt werden und wurden im sogenannten Tübinger Depot verwaltet. Diese Bezeichnung findet sich noch in älteren Handschriftenkatalogen, z.B. bei Julius Assfalg.43 Die in den Westen gelangten Druckschriften wurden in Marburg konzentriert und von der „Westdeutschen Bibliothek“ betreut. Ab 1962 wurde sie dann Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ab 1967 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz genannt. Die Bestände wurden also unter das Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gestellt, die – vereinfacht gesagt – die ehemaligen Schätze des untergegangenen preußischen Staates verwaltet. Die Bestände sind zwar nach der Wiedervereinigung zusammengeführt, aber die Migrationsgeschichte lässt beträchtliche Lücken: So ist die früher bedeutende Rabbinica-Sammlung heute in Berlin „nur“ noch ein Bibliothekskatalog, ein integraler Teil des Alten Realkataloges, der ja den gesamten Bestand systematisch erschloss. Die meisten Katalogbände haben sich über den Zweiten Weltkrieg erhalten, stehen physisch jetzt im Haus Unter den Linden und wurden gemeinsam mit der ganzen Systematik in einem großen Projekt online verfügbar gemacht.44 Der gesamte Altbestand der königlichen Bibliothek ist also im OPAC systematisch nach seiner ursprünglichen Klassifikation durchsuchbar, für historische Recherchen oft ein großer Vorteil, für die Rabbinica schwierig, weil die spannende systematische Recherche in vielen Fällen die Ausschrift „Kriegsverlust“ ohne jede weitere Information nach sich zieht. Das Titelmaterial für die Systematik der Rabbinica liefern zwei Konversionsprojekte der Orientabteilung, die aufgrund der Sprachkompetenz inhaltlich zuständig ist. Die beiden Kataloge sind einmal der Katalog AK I 43
Assfalg, Julius: Syrische Handschriften. T. [1] Syrische, karšunische, christlich-palästinen sische, neusyrische und mandäische Handschriften (KOHD 5.1), Stuttgart 1963, S. 254. 44 Krems, Heike: Vampire oder Volapük. Wir bieten Treffer zu jedem Thema aus dem Altbestand, in: Bibliotheksmagazin 1, 2018, S. 75–80. ARK Sachkatalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (staatsbibliothek-berlin.de).
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heb,45 der zweite Katalog – ebenfalls in der Orientabteilung aufbewahrt – ist der sogenannte Katalog und AK Or II, für die Rabbinica-Sammlung ist der hebräische Teil maßgeblich.46 Die hebräischen Titel sind nach dem Transliterationssystem der Preußischen Instruktionen umschrieben, das von den heutigen Standards erheblich abweicht, weshalb eine alphabetische Suche erschwert ist.47 Zurzeit läuft im Fachinformationsdienst (FID) Frankfurt am Main ein Projekt, das es erlaubt, retrospektiv die alten Titelaufnahmen mit der Originalschrift anzureichern (Revrit).48 Die Staatsbibliothek beteiligt sich mit dem Titelmaterial der beiden hebräischen Kataloge und hat die ersten ca. 6000 Titel eingespielt, die nun sicher mit der Originalschrift gefunden werden können. Das leichtere Retrieval des historischen Titelmaterials führt nun öfter zu den einst vorhandenen Titeln und lassen die Ausschrift „Kriegsverlust“ nur noch schmerzhafter erscheinen. Nach einer bis in die 70er Jahre dauernde Phase des Schweigens, in welcher die Existenz der Berliner Rabbinica nicht erwähnt wurde,49 veröffentlichte Krzysztof Pilarczyk 2011 seinen Katalog „Judaików – Starych Druków“, der die Titelaufnahme von 3407 Rabbinica enthält, vor allem die Bestände des 16. bis 18. Jahrhunderts. Diese Daten wurden von der Staatsbibliothek fast vollständig mit dem Standorthinweis Krakau versehen, allerdings nur mit einem Pauschalverweis, nicht mit einer Verknüpfung zum jeweiligen Werk. In Krakau ist die Rabbinica-Sammlung Teil der sogenannten Berlinka. Auch die Werke des 19./20. Jahrhunderts sind heute katalogisiert.50 Wir haben die Situation, dass ein Buch in zwei Katalogen nachgewiesen ist, ein Abgleich beider Systeme ist ein Desiderat, nur dieser Abgleich würde zutage fördern, wie viele Bücher wirklich Kriegsverlust sind.
45 Er wurde ab ca. 2003 konvertiert und erhielt die Katalogkennung d-or. Der Katalog weist handschriftliche Katalogkarten im DIN-A5-Format auf. Neben den hebräischen Titeln gibt es aus historischen Gründen auch noch Javanisches Titelmaterial, das herausgerechnet werden muss, wenn nummerische Katalogrecherchen angestrengt werden. 46 Für dieses Projekt gibt es eine ausführliche Erfassungsanweisung. Die Katalogkennung für den hebräischen Teil ist RE. 47 So wird beispielsweise Yod mit j, nicht mit y transliteriert. 48 FID Jüdische Studien – (uni-frankfurt.de). 49 Vgl. hierzu Jaglarz, Monika/Jaśtal, Katarzyna (Hg.): Bestände der Ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin in der Jagiellonen-Bibliothek. Forschungsstand und -perspektiven, Berlin u.a. 2018, S. 20: „Bis Ende der 70er Jahre des 20. Jhs. haben die polnischen Behörden die Präsenz der Bestände in Polen verschwiegen.“ Zu diesem Themenkreis vgl. auch: Die Beziehungen der Berliner Staatsbibliothek nach Polen. Reflexionen zur Zeit- und Bestandsgeschichte, Wiesbaden 1997. 50 Berlinka XIX–XX w. – Biblioteka Jagiellońska Uniwersytetu Jagiellońskiego.
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek
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In der Staatsbibliothek sind heute nur noch knapp über 1000 RabbinicaTitel vorhanden, es sind kaum wertvolle Werke darunter, eher Nachkäufe und Lesesaalwerke, da der Lesesaalbestand nicht nach Grüssau (Krzeszów) ausgelagert wurde.
Zukünftige Herausforderungen und Projektideen
Ein großes Digitalisierungsprojekt51 in einer deutsch-polnischen Kooperation, das sich auch um die Provenienzrecherche kümmert, was idealerweise autoptisch (Autopsie) geschehen sollte, d.h., man katalogisiert mit dem Buch selbst in den Händen, wäre ein großer Heilungsversuch für die Sammlung, von der beide Seiten profitieren könnten. Ziel eines solchen Projektes wäre der definitive Abgleich der Bestände und die digitale Verfügbarkeit der gesamten Rabbinica-Sammlung, die durch das online-Projekt des Alten Realkatalogs komplett systematisch erschlossen ist. Während die Staatsbibliothek ihre wertvollen hebräischen Handschriften über den Krieg retten konnte, befinden sich die Rabbinica heute nicht mehr in der Bibliothek, so wie das jüdische Kulturgut durch die deutsche Barbarei überhaupt ein besonders schweres Schicksal traf. Jedes einzelne der in Krakau geretteten Bücher verdient Beachtung, Recherche und qualitativ hochwertige Digitalisierung, nicht nur aufgrund seines Textes, der häufig gerade für Werke aus dem 19. Jahrhundert schon online vorhanden ist, sondern aufgrund seiner besonderen Provenienz. Es ist dabei ebenfalls zu beachten, dass es sich bei Werken, die in den 40er Jahren angeschafft wurden, auch um NS-Raubgut handeln könnte. Bei der Katalogisierungsarbeit für die Digitalisate wäre eine Zusammenarbeit mit der National Library of Israel und der „Bibliography of the Hebrew Book“ angezeigt, um unikales Material zu identifizieren und mit den entsprechenden Einträgen zu versehen. Die gerade im Bereich der Rabbinica häufig im Bibliothekskatalog erhaltene Ausschrift „Kriegsverlust“ macht uns immer auf das Unwiederbringliche aufmerksam, sie legt den Finger in die Wunde und zeigt, wie nachhaltig zerstörerisch Kriegseinwirkungen sind, die Leistungen ganzer Generationen 51 Es wurden erfolgreich schon Digitalisierungsprojekte durchgeführt, z.B. die Digitalisierung der Ostasiatica: Berlin-Kraków Project: The Virtual Reconstruction of the Old East Asia Collection of the Prussian State Library – CrossAsia Themenportal und die Digitalisierung des Humboldt-Nachlasses, vgl. PORTAL – Alexander von Humboldt Portal (staatsbibliothek-berlin.de).
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zunichtemachen. Dies heißt gerade im Bibliothekswesen und im digitalen Zeitalter nicht, dass wir nicht eine Heilung mit unseren Mitteln versuchen könnten. Die Digitalisierung ersetzt nie die Originale, aber genaue Hinweise über den Verbleib der Bücher und ihre digitale Verfügbarkeit wären der Beginn einer Lösung, die nur in Kooperation erfolgen kann. Wir sollten versuchen, vom „Kriegsverlust“ zum „Kooperationsgewinn“ zu gelangen. Literaturverzeichnis ARK-online: ARK Sachkatalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (staatsbibliothek-berlin.de) https://ark.staatsbibliothek-berlin.de/ (28.2.2023). Assfalg, Julius: Syrische Handschriften. T. [1] Syrische, karšunische, christlichpalästinensische, neusyrische und mandäische Handschriften (KOHD 5.1), Stuttgart 1963. Belaiss, Abraham: Sefer Beʾer laḥai roʾi: kolel masekhet derekh erets ṿe-tokhaḥat musar, Wien 1838. Berlinka XIX–XX w. – Biblioteka Jagiellońska Uniwersytetu Jagiellońskiego. https:// bj.uj.edu.pl/berlinka/baza#ber_top (28.2.2023). Berlin-Kraków Project: The Virtual Reconstruction of the Old East Asia Collection of the Prussian State Library – CrossAsia Themenportal https://themen.crossasia.org/ berlin-krakow/?lang=en (28.2.2023). Bibliotheksmagazin | Staatsbibliothek zu Berlin (staatsbibliothek-berlin.de) https:// staatsbibliothek-berlin.de/en/about-the-library/publications/bibliotheksmagazin (28.2.2023). Bispinck, Julia: Erste Schritte der Restaurierung der Hebräischen Bibel „Erfurt I“ (2002) [Ausstellung und Katalog: Julia Bispinck, unter Mitarb. der Restauratoren der Staatsbibliothek zu Berlin], Berlin 2002. Cassel, David/Steinschneider, Moritz: Jüdische Typographie und jüdischer Buchhandel, in: Ersch & Gruber, Sec. 2.27, 1851, S. 21–94. Die Beziehungen der Berliner Staatsbibliothek nach Polen. Reflexionen zur Zeit- und Bestandsgeschichte, Wiesbaden 1997. Ederer, Walter/Schochow, Werner (Hg.): 325 Jahre Staatsbibliothek in Berlin. Das Haus und seine Leute, Wiesbaden 1986. Festschrift. Deutsche Staatsbibliothek 1661–1961, 2 Bde., Leipzig 1961. Figeac, Petra: Moritz Steinschneider: 1816–1907. Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie, Berlin 2007. Freudenthal, Gad/Leicht, Raimund (Hg.): Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the emergence of the science of Judaism in nineteenth-century Germany, Leiden u.a. 2012.
Die Rabbinica-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek
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Heller, Marvin J.: The seventeenth century Hebrew book. An abridged thesaurus. 2 Bde., Leiden u.a. 2011. Heller, Marvin J.: The sixteenth century Hebrew book. An abridged thesaurus. 2 Bde. Leiden u.a. 2004. Jaglarz, Monika/Jaśtal, Katarzyna (Hg.): Bestände der Ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin in der Jagiellonen-Bibliothek. Forschungsstand und -perspektiven, Berlin u.a. 2018. Kirchner, Joachim: Die Hamilton-Handschriften. Zur Geschichte einer berühmten Sammlung, in: Das Sammlerkabinett 3, 1924, S. 1–7. Krems, Heike: Vampire oder Volapük. Wir bieten Treffer zu jedem Thema aus dem Altbestand, in: Bibliotheksmagazin 1, 2018, S. 75–80. Paunel, Eugen: Die Staatsbibliothek zu Berlin. Ihre Geschichte und Organisation während der ersten zwei Jahrhunderte seit ihrer Eröffnung 1661–1871, Berlin 1965. Pelger, Gregor: Wissenschaft des Judentums und englische Bibliotheken. Zur Geschichte historischer Philologie im 19. Jahrhundert, Berlin 2010. Pilarczyk, Krzysztof: Katalog judaików – starych druków w zbiorach Biblioteki Jagiellońskiej w Krakowie z dawnej Pruskiej Biblioteki Państwowej w Berlinie: z faksymiliami wybranych elementów opisanych druków, Kraków 2011. PORTAL – Alexander von Humboldt Portal (staatsbibliothek-berlin.de) https:// humboldt.staatsbibliothek-berlin.de/ (28.2.2023) Projektbeschreibung • Die hebräischen Handschriften der „Erfurter Sammlung“ als kulturhistorische Zeugen jüdischen Lebens im Mittelalter • Fachbereich Geschichtsund Kulturwissenschaften (fu-berlin.de) https://www.geschkult.fu-berlin.de/e/ erfurter_sammlung/projekt/projekbeschreibung/index.html (28.2.2023). Qalamos. https://www.qalamos.net/content/index.xed (28.2.2023). Rauch, Christoph/Stiening, Gideon (Hg.): Heinrich Friedrich Von Diez (1751–1817). Freidenker – Diplomat – Orientkenner, Berlin/Boston 2020. Revrit. FID Jüdische Studien – (uni-frankfurt.de) https://www.ub.uni-frankfurt.de/ judaica3/revrit.html (28.2.2023). Richler, Benjamin: Steinschneider’s Manuscripts, in: Freudenthal, Gad/Leicht, Raimund (Hg.): Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the emergence of the science of Judaism in nineteenth-century Germany, Leiden u.a. 2012. S. 301–318. Roloff, Heinrich: Aufstellung und Katalogisierung der Bestände, in: Festschrift. Deutsche Staatsbibliothek 1661–1961, 2 Bde., Leipzig 1961, S. 130–174. Sachau, Eduard: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliotheken, 23. Bd.: Verzeichniss der syrischen Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 1. und 2. Abtheilung, Berlin 1899. Schochow, Werner: Deutsch-jüdische Geschichtswissenschaft. Eine Geschichte ihrer Organisationsformen unter besonderer Berücksichtigung der Fachbibliographie, FU Berlin, phil. Diss. 1961, 2., überarb. u. erw. Ausgabe, Berlin 1969.
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Ders.: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung, Zerstörung, Entfremdung, Rückführung, dargestellt aus den Quellen, Berlin 2003. Steinschneider, Moritz: Jüdische Literatur, in: Ersch & Gruber, Sec. 2.27, 1850, S. 357–471. Ders.: Catalogus librorum Hebraeorum in Bibliotheca Bodleiana, Berlin 1852–1860. Ders.: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 2. Bd. Verzeichniss? der hebräischen Handschriften. Mit 3 Tafeln. Berlin 1878. [Abth.1]. Ders.: Die Handschriften-Verzeichnisse der Königlichen Bibliothek zu Berlin. 2. Bd. Verzeichniss der hebräischen Handschriften. Berlin 1897 [Abth. 2]. Ders.: Die hebraeischen Uebersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des Mittelalters, meist nach handschriftlichen Quellen. Gekrönte Preisschrift der Académie des Inscriptions, Berlin 1893. Verlagert, verschollen, vernichtet. … Das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek [Red. und Gestaltung: Ralf Breslau], Berlin 1995. Voigt, Gudrun: Die kriegsbedingte Auslagerung von Beständen der Preußischen Staatsbibliothek und ihre Rückführung: eine historische Skizze auf der Grundlage von Archivmaterialien, Hannover 1995. Werner, Petra (Hg.): Kitwe-jad – Jüdische Handschriften. Restaurieren – Bewahren – Präsentieren [Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 4. Juli 2002–17. August 2002], Berlin 2002. Zunz, Leopold: Etwas über die rabbinische Literatur: Nebst Nachrichten über ein altes und bis jetzt ungedrucktes hebräisches Werk. Berlin 1818.
Die Bibliothek der Danziger Naturforschenden Gesellschaft als Beispiel für das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter Gilbert H. Gornig Abstract Hinsichtlich der Zuordnung von Kulturgütern lassen sich im Völkerrecht einige Prinzipien unterscheiden, die sich teilweise auch in völkerrechtlichen Verträgen wiederfinden. Das Konzept der nationalen Zuordnung von Kulturgütern, dem vor allem wirtschaftlich arme Länder mit hohem Kulturgutaufkommen anhängen, hat zum Inhalt, dass Kulturgut, welches aus einem Land oder Kulturkreis hervorgeht, grundsätzlich auch in diesem verbleiben soll. Kulturgüter sind aber in der Regel nur schwer einer Nationalität bzw. einem Volk zuzuordnen. Zuallererst ist entscheidend, ob das Objekt trotz fremden Ursprungs rechtmäßig erworben wurde, also beispielsweise der ordnungsgemäße Ankauf eines ausländischen Objekts durch ein Museum oder einen Staatsangehörigen vorliegt. Ist das der Fall, stellt sich die Frage der nationalen Zugehörigkeit nicht. In der UNESCO-Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übertragung von Kulturgut vom 14. November 1970 wird eine besondere Verbindung zu einem Staat gefordert, wenn dieses Kulturgut seinem kulturellen Erbe zugerechnet werden soll. Das ist bei einem Kulturgut der Fall, das entweder von Staatsangehörigen eines Staates oder innerhalb der Grenzen eines Staates von ausländischen Staatsangehörigen oder staatenlosen Personen, die innerhalb des Gebiets wohnen, geschaffen wurde (nationaler Schöpfungsakt), das innerhalb des nationalen Gebiets gefunden wurde, das mit der Zustimmung der zuständigen Behörden des Ursprungslandes von archäologischen, ethnologischen oder auch naturwissenschaftlichen Missionen erworben wurde (rechtmäßiger Erwerb im Ausland), das Gegenstand eines vereinbarten kulturellen Austausches war, das als Geschenk empfangen wurde oder mit der Zustimmung der zuständigen Behörde vom Ursprungsland rechtmäßig gekauft wurde (Erwerb im Inland). Da Art. 4 der UNESCOKonvention keine Rangfolge für die einzelnen Verbindungen erkennen lässt, kann es Situationen geben, in denen also zwei oder mehrere Staaten zur selben Zeit das nationale Kulturgut für sich beanspruchen. Nach dem Common-Heritage-Prinzip hingegen werden Kunst und Kulturgut als das gemeinschaftliche Erbe der Menschheit verstanden und auch Ansprüche hierauf begründet. Kulturgüter, also auch Bücher, gehören zum Erbe der Menschheit, sodass jeder Staat verpflichtet ist, jedes Kulturgut zu schützen, egal, wem es zugewiesen ist. Jeder Staat ist somit Treuhänder gegenüber der gesamten Menschheit für das in seinem Herrschaftsbereich befindliche © Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_015
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Kulturerbe. Von Staaten im Besitz wertvollen fremden Kulturguts wird die Frage des Aufbewahrungsortes des Kulturgegenstandes daher gerne unter Berufung auf das Common-Heritage-Prinzip als gegenstandslos hingestellt.
Geistesgeschichtliche und naturwissenschaftliche Entwicklung ab dem 18. Jahrhundert
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte sich angesichts des Aufschwungs der modernen Naturwissenschaften, der Physik, Chemie und Biologie, der großen Entdeckungen in Mathematik, Mechanik und Astronomie sowie der neuen Erkenntnisse des Naturrechts sowie des Staats- und Völkerrechts das Interesse der Bürger an den neuen Erkenntnissen nachhaltig bemerkbar gemacht. Die Folge war die Bildung von literarischen, patriotischen und gelehrten Gesellschaften. Diese Gesellschaften sind eine Begleiterscheinung der europäischen Aufklärung und zugleich Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins des Bürgertums. In keinem anderen Zeitalter spielten literarische, philologische und allgemeingelehrte Auseinandersetzungen dann eine so starke Rolle wie im 18. Jahrhundert. Die Resultate der Entdeckungen und Forschungen und deren Verbreitung blieben nicht einem abgeschlossenen, elitär-wissenschaftlichen Kreis vorbehalten, sondern interessierte auch die neue soziale Schicht des Bürgertums, des allmählich wachsenden gebildeten Mittelstandes. Für die Vermittlung der Erkenntnisse bedurfte es neuer Kommunikationsformen, und hierzu gehörten in erster Linie die Gesellschaften und Sozietäten, in denen Vorträge über die Forschungsergebnisse gehalten, aber auch Experimente vorgeführt wurden. Neben die älteren, zumeist literarisch ausgerichteten Freundschaftskreise traten bald naturphilosophisch bzw. naturwissenschaftlich orientierte Vereinigungen, die nicht nur von Wissenschaftlern und Lehrern besucht wurden, sondern auch bei der gebildeten Mittelschicht auf Zuspruch stießen. Die offizielle Universitätslehre fühlte sich noch einem traditionellen Wissenschaftsverständnis verpflichtet, das die neuen experimentellen Verfahren, Methoden und Instrumentarien nicht akzeptierte. Zudem wurde auf die nicht akademisch ausgebildeten und außerhalb von Universitäten wirkenden Gelehrten despektierlich heruntergeschaut. Deren Erkenntnisse wurden nicht anerkannt oder gar ins Lächerliche gezogen. Hinzu kam, dass auch unter der Beeinflussung der mächtigen, immer schon fortschrittsfeindlichen Priesterschaft man neuen Erkenntnissen zurückhaltend gegenüberstand.1 1 Vgl. auch Letkemann, Peter: Danziger Naturforschende Gesellschaft. Societas Physicae Experimentalis, Geschichte, in: http://www.danzigernfg.com/geschichte.html (8.7.2022).
Die Bibliothek der Danziger Naturforschenden Gesellschaft
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Naturforschende Gesellschaft in Danzig Entstehung und Aufbau: In Danzig wirkte sich der politische und wirtschaftliche Niedergang der Stadt im 18. Jahrhundert ungünstig auf das Geistesschaffen aus. Es ist aber der selbstbewussten Danziger Bürgerschaft zu verdanken, dass die Rechts-, Geschichts- und Naturwissenschaften ihre kontinuierliche Pflege erfuhren. Bereits 1670 hatte der Arzt und Naturforscher Israel Conradi (1634–1715) den erfolglosen Versuch unternommen, eine Forschungsvereinigung in Danzig zu gründen. Im Jahr 1720 folgten ihm einige Gelehrte und riefen eine „Societas literaria“ zusammen, in der sie „curieuse Materien aus der Historie, Jurisprudenz, Moral, Physik, Mathematik, Literatur und anderen Wissenschaften“2 behandeln wollten, doch nach wenigen Jahren löste sich das Unternehmen wieder auf. Erst im dritten Anlauf gab es einen dauerhaften Erfolg bei der Schaffung einer Gelehrten Gesellschaft in Danzig zu verzeichnen. Hauptinitiator war der Privatgelehrte Daniel Gralath3 (1708–1767), dem es gelang, am 7. November 1742 eine Reihe gelehrter Männer seiner Heimatstadt für die Errichtung einer naturforschenden Gesellschaft zu gewinnen. Er schlug eine „Societas physicae experimentalis“ vor. Ziel der Gesellschaft sollte es sein, in einer größeren Gemeinschaft wissenschaftliche Versuche zu veranstalten, die dem Einzelnen wegen der hohen Kosten für Apparate und Material versagt waren. Im ersten Jahr hatte der Verein insgesamt 14 Mitglieder. Nachdem bis Jahresende 1742 weitere Mitglieder4 geworben, ein Lokal gefunden, die ersten Apparate beschafft und die Statuten entworfen waren, fand am 2. Januar 17435 die konstituierende Sitzung statt, auf der neun Persönlichkeiten die „Naturforschende Gesellschaft 2 Ebd. 3 Gralath (1708–1767) war ein wohlhabender Kaufmannssohn, der nach Studien in Halle und Marburg seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen konnte. Er wurde später Ratsherr und Bürgermeister. Die Wissenschaft von der Reibungselektrizität stand damals in Blüte und hatte auch Gralath in ihren Bann gezogen, was sicher nicht ohne Einfluss auf den Sozietätsgedanken gewesen sein mag. Er war mit der Tochter des Stadtsekretärs Jacob Theodor Klein (1685–1759) verheiratet, eines ebenfalls hochgeachteten Naturforschers, der mit dem Beinamen „Gedanensium Plinius“ geehrt wurde. Vgl. Letkemann, Peter: Naturforschende Gesellschaft zu Danzig, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hg.): Ostdeutsche Gedenktage 1993. Persönlichkeiten und historische Ereignisse, Bonn 1992, S. 238. 4 Es waren Jacob Theodor Klein, Staatssekretär und Biologe; David Kade, Erster Direktor der Gesellschaft; Heinrich Kühn, Professor der Mathematik; Heinrich Wilhelm von Rosenberg, Subsyndikus; Michael Christoph Hanow, Professor der Philosophie; Paul Swietlicki, Theologe; Adrian Gottlieb Söhner, Gerichtsherr; Daniel Gralath, Privatlehrer; Friedrich-August Freiherr Zorn von Plobsheim, Privatgelehrter. 5 Vgl. Kämpfert, Hans-Jürgen: Zur Gründung der naturforschenden Gesellschaft in Danzig vor 250 Jahren, in: Unser Danzig. Mitteilungsblatt des Bundes der Danziger, Nr. 1/2 v. 20. Januar 1993, S. 20ff.
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zu Danzig“ (NFG), wie sie von Anfang an hieß, aus der Taufe hoben; im Laufe des Jahres traten weitere Personen hinzu. Sie erwuchsen aus den geistig führenden Kreisen der Stadt: Professoren des Akademischen Gymnasiums, Ärzte, Geistliche, Juristen, Privatgelehrte und städtische Beamte.6 In den Anfangssitzungen wurden organisatorische Fragen gelöst. So wurde etwa als Ziel der Gesellschaft festgelegt, Untersuchungen aus dem Bereich der experimentellen Physik durchzuführen.7 Allerdings sollten auch andere Naturwissenschaften, die sich deskriptiver Methoden bedienten, Berücksichtigung finden. So kamen 1872 die anthropologische Sektion dazu, 1876 die medizinische Sektion, 1887 der Westpreußische Fischereiverein, 1916 die Sektion für den mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, 1921 der Westpreußische Botanisch-Zoologische Verein, die astronomische und kosmische Sektion im gleichen Jahr, 1922 die Geografie und die Geologie, 1926 die Vereinigung für Strahlenkunde und die Sektion Natur- und Forstschutz.8 Um die aufwendigen Arbeiten durchführen zu können, mussten die Mitglieder eine sehr hohe einmalige Aufnahmegebühr9 und Jahresbeiträge entrichten.10 In die Gesellschaft wurden nur akademisch Gebildete aufgenommen. Als spiritus rector war Daniel Gralath zugleich einer der eifrigsten und erfolgreichsten Experimentatoren der Gesellschaft. Seine Verdienste in der Elektrizitätslehre bestanden in der Verbesserung der sogenannten Leidener Flasche und in Grundlagenforschungen zum Messen und Speichern der elektrischen Kraft. Zur Übernahme des Direktorats fand er sich nur einmal bereit (1755), und bezeichnend war das Thema seiner Antrittsrede: „Über die Beteiligung der Herren, welche in Danzig das Regiment geführt haben, an wissenschaftlichen Bestrebungen.“11 Nur die Naturwissenschaften konnten also mit der Gründung der „Naturforschenden Gesellschaft“ im Jahr 1743, eine der ältesten im deutschen Sprachraum, einen festen Stützpunkt errichten, der für die folgenden zwei Jahrhunderte mit Erfolg wirken sollte. Entwicklung: Die seit 1747 vorgenommenen Aktivitäten verursachten hohe Kosten, sodass die Vereinigung häufig in Geldnöte geriet und sich 1755 sogar 6 7
8 9 10 11
Vgl. Letkemann, Naturforschende Gesellschaft, S. 238ff. Szukalski, Jerzy: Towarzystwo Przyrodnicze w Gdansku w 250. rocznice zalozenia [Die Naturforschende Gesellschaft in Danzig – Zum 250. Jahrestag ihrer Gründung], in: Gdanskie Towarzystwo Naukowe, Towarzystwo Przyrodnicze w Gdansku. W. 250. rocznice zalozenia, Gdansk 1993, S. 7ff. Kämpfert, Zur Gründung, S. 22. Ebd., S. 21; Szukalski, Towarzystwo Przyrodnicze S. 7ff. Vgl. Kämpfert, Zur Gründung, S. 21; Letkemann, Naturforschende Gesellschaft, S. 240. Vgl. Letkemann, Naturforschende Gesellschaft, S. 240.
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an einer Brüsseler Lotterie (erfolglos) beteiligte. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts setzte ein Verfall ein, der methodisch bedingt war: Zu viel Aufwand bei den Versuchen, geringe Beteiligung, Mangel an herausragenden Köpfen und eine Verlagerung der Themen bereiteten der Gesellschaft erhebliche Schwierigkeiten.12 Erst als die Stadt Danzig sich auf ihre früheren fruchtbaren Beziehungen zur Gesellschaft besann, trat ein Wandel ein. Der neue, selbstbewusste Oberbürgermeister Leopold von Winter setzte 1862 eine Statutenänderung durch, wonach fortan jeder interessierte Bewohner Danzigs als Mitglied zugelassen war und die Gesellschaft jetzt die oberste Zweckbestimmung erhielt, „die Naturwissenschaften nach allen Richtungen hin und unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse der Provinz zu fördern und zur Erweiterung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse unter den Bewohnern der Provinz beizutragen“ – der bisher eng geschlossene Kreis trat aus dem Schatten elitärer Gelehrsamkeit und öffnete sich dem Publikum. Die Zahl der Mitglieder schnellte von 46 auf 382 (1882) und erreichte vor dem Ersten Weltkrieg mit 417 einheimischen und 142 auswärtigen Mitgliedern einen vorläufigen Höchststand.13 Bereits 1845 hatte die Gesellschaft ihren Sitz in dem hochaufragenden Renaissancebau an der Mottlau neben dem Frauentor genommen, auf dessen Turm später eine Drehkuppel errichtet wurde. In der langen Liste der in- und ausländischen Gäste muss Alexander von Humboldt genannt werden, der im September 1840, den neuen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. auf dessen Huldigungsreise nach Königsberg begleitend, in Danzig als Gast der Vereinigung weilte und mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet wurde. Im Jahr 1869 stiftete die Gesellschaft ein Humboldt-Stipendium zur Unterstützung naturwissenschaftlicher Arbeiten, insbesondere zur Förderung des Nachwuchses.14 Die für die laufende Tätigkeit der Gesellschaft und die Vervollständigung der Bibliothek erforderlichen finanziellen Mittel stammten aus Mitgliedsbeiträgen, deren Höhe sich in Abhängigkeit von der wirtschaftspolitischen Lage änderte, sowie aus Nachlässen15. Zahlreiche Stiftungen und Vermächtnisse führten zu einer wesentlichen Verbesserung der finanziellen Situation der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig. Es waren finanzielle Zuwendungen, die zum einen für Stipendien, Preise und Anschaffungen verwendet wurden, 12 13 14 15
Vgl. ebd. s.o. Vgl. Letkemann, Naturforschende Gesellschaft, S. 241ff. Vgl. ebd., S. 242ff. Die bedeutendsten dieser Nachlässe waren: Balthasar Hagemeister (600 Taler), Johann Samuel Verch (4500 Taler), Johann Karl Schubert (1200 Taler), Michel Ch. Hanow und Nathanael Mathaeus von Wolf (beide je 4000 Taler), Dr. Ernst Kayser (73.758 Mark).
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zum anderen erfolgten aber auch Sachspenden wie Möbel, wertvolle Bücher oder sogar kleine Bibliotheken von Mitgliedern und Gönnern und bedeutende naturwissenschaftliche Sammlungen von Mineralien, Tieren, Vogeleiern und Bernstein.16 Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die Gesellschaft ihre Treffen ein, zumal viele Mitglieder aus der Stadt vertrieben wurden. Die am 19. Februar 1994 wiederbelebte Danziger Naturforschende Gesellschaft e.V. führt den Zweck der 1743 gegründeten „Naturforschenden Gesellschaft in Danzig“ entsprechend deren Satzung fort und übernahm ihren Gesellschaftszweck, nämlich die Erforschung der Natur. Sie fördert die Naturwissenschaften in allen ihren Richtungen, unter besonderer Berücksichtigung der Vertreibungslage des Danziger Staatsvolkes und der Westpreußen, widmet sich aber auch zunehmend geschichtlichen und rechtlichen Fragen.17
Bücher der Naturforschende Gesellschaft in Danzig
Büchersammlungen: Immer wieder wurden natürlich der Gesellschaft auch Bücher vermacht, sodass sich der Bestand stetig mehrte. Die Bibliothek18 enthielt zahlreiche Erstdrucke aus Danzig, wissenschaftliche Reihen aus verschiedenen Städten Europas sowie viele mit Kupferstichen reich illustrierte Werke der Naturgeschichte.19 Der deutsche Gelehrte Johann III. Bernoullis20 16 Kämpfert, Zur Gründung, S. 21. 17 Nach Auffassung Polens bestand die Naturforschende Gesellschaft zu Danzig formell bis zum Jahre 1936, dann wurde sie endgültig aufgelöst und im Jahre 1956 eine Nachfolgegesellschaft gegründet, die wissenschaftliche Gesellschaft „Gdanskie Towarzystwo Naukowe“. Es wird im polnischen Schrifttum davon ausgegangen, dass das Werk der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig von dieser Gesellschaft fortgeführt wird, vor allem von den Abteilungen biologisch-medizinische Wissenschaften, mathematischphysikalische Wissenschaften und Wissenschaften von der Erde. Die Gesellschaft besteht unter ihrem heutigen Namen seit 1956 und knüpft auch an die 1922 in Danzig gegründete Gesellschaft der Freunde von Wissenschaft und Kunst (heute: Towarzystwo Przyjaciól nauki i sztuki) an, die zu den führenden Kulturinstitutionen in der Freien Stadt Danzig gehörte. Von Mitgliedern oder einem aktiven Vereinsleben dieser polnischen Nachfolgegesellschaft ist aber nichts bekannt. 18 Jankowska, Lubomira: Biblioteka Towarzystwa Przyrodniczego w Gdansku (Die Bibliothek der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig), in: Gdanskie Towarzystwo Naukowe, Towarzystwo Przyrodnicze w Gdansku. W. 250. rocznice zalozenia, Gdansk 1993, S. 81ff. 19 Vgl. Szukalski, Towarzystwo Przyrodnicze, S. 7ff. 20 Johann III. Bernoulli (* 4.11.1744 in Basel; † 13.7.1807 in Berlin) war ein Schweizer Astronom und Mathematiker. Johann III. war der älteste Sohn von Johann II. Bernoulli und ein Enkel von Johann I. Bernoulli aus der Familie Bernoulli.
Die Bibliothek der Danziger Naturforschenden Gesellschaft
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schreibt in seinen Reiseerinnerungen, die 1778 unter dem Titel „Reisen durch Brandenburg, Pommern, Preußen, Curland, Russland, Polen in den Jahren 1777 und 1778“ herausgegeben wurden, dass die Bibliothek der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig „zahlenmäßig nicht sehr groß, aber dafür sehr ausgesucht“ sei. Die Bibliothek der Gesellschaft21 befand sich seit 1846 im Haus Frauengasse 24. Die eigenen wissenschaftlichen Leistungen finden sich festgehalten in der langen Reihe der bereits 1747 einsetzenden Schriften und Einzelwerke und künden von der intensiven Beschäftigung mit fast allen Erscheinungen der Natur, des Lebens und der geistigen Evolution. In den Jahren 1747 bis 1945 erschienen die Schriften der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig mit wissenschaftlichen Abhandlungen. Insgesamt wurden 48 wissenschaftliche Werke herausgegeben. Allein in den Jahren 1864 bis 1934 erschienen 20 Bände, jeder von ihnen umfasste vier Hefte.22 Im Jahre 1926 hatte die Gesellschaft 326 deutsche und 254 ausländische Zeitschriften abonniert. Um die finanziellen Verluste, hervorgerufen durch Krieg und Inflation, zu mindern, verkaufte die Gesellschaft für 13.000 Gulden Doppelstücke aus ihrer Bibliothek.23 Kurz nach dem 200. Stiftungsfest endete mit der Zerstörung Danzigs 1945 das so erfolgreiche Wirken dieser mit dem Geistesleben der Stadt untrennbar verbundenen Körperschaft. Viele unschätzbare Werte gingen dabei verloren. Das zerstörte Haus am Mottlau-Ufer wurde nach Kriegsende wieder aufgebaut und beherbergt heute das Danziger Archäologische Museum. Leihgaben der Gesellschaft: Nach der Gründung des Westpreußischen Provinzialmuseums in Danzig überließ die Naturforschende Gesellschaft am 2. Juli 1880 ihre sämtlichen naturwissenschaftlichen und archäologischen Sammlungen dem Provinzialverband der Provinz Westpreußen zum Zwecke der Benutzung für das 1879 errichtete Provinzialmuseum.24 Im Jahre 1923 übergab die Naturforschende Gesellschaft etwa 30.000 Bände ihrer überaus wertvollen Bibliothek aus alter Zeit der 1904 gegründeten Technischen Hochschule (TH) in Danzig.25 Die Technische Hochschule, die selbst auf Initiative der Gesellschaft im Jahre 1904 gegründet worden war, war verpflichtet, den Bestand zu mehren und zu pflegen. Das Eigentum daran behielt aber 21 22 23 24 25
Vgl. Janokowska, Biblioteka, S. 81ff. Vgl. Szukalski, Towarzystwo Przyrodnicze, S. 7ff. Vgl. Kämpfert, Zur Gründung, S. 22. Letkemann, Naturforschende Gesellschaft, S. 242. Vgl. Kämpfert, Zur Gründung, S. 22; Jankowska, Biblioteka, S. 81ff.; Szukalski, Towarzystwo Przyrodnicze, S. 7ff.
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weiterhin die Gesellschaft.26 Diese Modalitäten wurden in einem eigenen Vertrag niedergelegt. Schicksal der Bücher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Nach verschiedenen Phasen des Florierens und der Stagnation stellte das Ende des Zweiten Weltkrieges und das damit verbundene Ende der Freien Stadt Danzig auch das Ende der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig dar, deren Bestände größtenteils zerstört wurden. Das Haus der Naturforschenden Gesellschaft neben dem Frauentor an der Mottlau aus dem Jahr 1598 wurde wieder aufgebaut und beherbergt heute das polnische archäologische Museum mit zahlreichen Exponaten aus altem deutschen Besitz. Der Turm des Hauses trägt allerdings nicht mehr die Sternwartekuppel. Einige Bände der Bibliothek der Gesellschaft haben das Ende des Zweiten Weltkrieges überstanden. Viele Kulturgüter Danzigs wurden allerdings in die späteren westlichen Besatzungszonen bzw. in das Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland transferiert. Sie wurden ausgelagert, um sie vor Zerstörungen durch Kriegseinwirkungen, verursacht durch Bombenangriffe der Westalliierten und durch polnische und russische Truppen, zu schützen. Im Übrigen waren die Bücher nicht aus Polen verlagert worden, sondern aus Danzig, das seit 1920 ein deutscher Kleinstaat war. Einige der Bände, die durch einen Vertrag zwischen der Naturforschenden Gesellschaft und der Freien Stadt Danzig der Technischen Hochschule Danzig zum Gebrauch und zur Pflege und Mehrung zur Verfügung gestellt wurden, wurden durch private Initiative des Danziger Hochschullehrers Prof. Dr. Dr. Witt vor Kriegseinwirkungen gerettet. Es handelt sich hierbei um 853 Exemplare, die durch einen Vertrag der Stadt Bremen in Obhut gegeben wurden. Im Jahr 1947 wurden die Bücher mit jährlicher Kündigungsklausel zur treuhänderischen Verwaltung und Nutzung der Bremischen Universitäts-, später Staats- und Universitätsbibliothek übergeben. Privateigentümer blieb ausdrücklich die Naturforschende Gesellschaft. Die in Danzig verbliebenen Bücher sind bis auf 138 Exemplare der Zerstörung der Stadt Ende März 1945 durch die Besetzer zum Opfer gefallen oder verschleppt worden. Es war zu hören, dass das Archiv der Technischen Hochschule (TH) Danzig, zu dessen Beständen auch gut 30.000 Bände der NFG-Bibliothek gehören, über das thüringische Schmalkalden nach Sankt Petersburg, damals Leningrad, gelangt sei, wo es sich bis heute befinde. Die in Bremen aufbewahrten Bücher waren zumindest einsehbar. Zwei der wertvollsten Folianten wurden 1993 ohne Berücksichtigung der Eigentums26
§§ 1 und 3 des Vertrages.
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verhältnisse vom bremischen Bürgerschaftspräsidenten im Zuge der Städtepartnerschaft der beiden ehemaligen Hansestädte und ganz allgemein zur Förderung der Völkerfreundschaft an den Danziger Bürgermeister übergeben und damit veruntreut. Diese Bände wurden also ohne Klärung der Eigentumsverhältnisse an Polen ausgehändigt.27 Es waren: Conrad Gessners „Historiae Animalium“, 1620 in Frankfurt gedruckt und dem Kaiser Ferdinand gewidmet, sowie Christian Mentzels „Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herren Friedrich Wilhelm. Dem Großen Kurfürsten“. Die übrigen Bestände wurden ausgesondert und zum Abtransport nach Polen verpackt. Dass es dazu zunächst nicht kam, dafür sorgte der Einspruch der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. Im Innenministerium war man der Ansicht, dass sich das Problem nicht durch einseitige Freigebigkeit der Freien Hansestadt Bremen lösen lasse. Wem auch immer die Bücher gehören mögen,28 Eigentum Bremens seien sie jedenfalls nicht, sagte die Bundesregierung und verwies auf ihre Kompetenzen im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik.29 Von der Bibliothek der Gesellschaft, die 1923 der Danziger Technischen Hochschule übergeben wurde, ist heute nur noch ein geringer Teil erhalten.30 Ein Verzeichnis der von den Kriegsereignissen verschont gebliebenen und heute in der Hauptbibliothek der Technischen Hochschule Danzig befindlichen Bücher und Zeitschriften aus der Bibliothek der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig ist abgedruckt in der Schrift „Towarzystwa Przyrodniczego w Gdansku“.31 Aus diesem Verzeichnis ist erkennbar, dass Titel in polnischer Sprache nicht vorkommen.32 Der polnische Verein sollte auch die sich in Bremen befindenden Bücher des alten Vereins erhalten. Es wurde ebenfalls in Betracht gezogen, dass der ehemaligen Technischen Hochschule Danzig, die mittlerweile zur Technischen Universität Danzig aufgewertet worden ist, die Bücher übergeben werden könnten. Das ist dann durch Bremen geschehen, obwohl die Bundesregierung damit nicht einverstanden war, da die Rechtslage noch nicht geklärt war.
27 28 29 30 31 32
Vgl. Januszajtis, Andrzej: Danzig – nach 50 Jahren, in: Zeitschrift der Danziger Katholiken, Heft 1, 1995, S. 5. Dazu vgl. Gornig, Gilbert: Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939/45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig. Ein Rechtsgutachten, Köln 1999. Wefing, Heinrich: Depositum Danzig: Gehören mehr als achthundert Bücher in der Universitätsbibliothek Bremen nach Polen?, in: FAZ vom 19.3.1999, S. 43. Vgl. Szukalski, Towarzystwo Przyrodnicze, S. 7ff. Fn. 9. Towarzystwo Przyrodnicze w Gdansku, S. 81ff. Gornig, Schicksal, S. 147ff.
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Im Jahr 1993 wurde in Lübeck die Naturforschende Gesellschaft Danzig neu gegründet. Sie nahm mit der bereits 1956 in Danzig gegründeten Naturforschenden Gesellschaft Kontakt auf. Seither gab es mehrere gemeinsame Veranstaltungen der Schwestervereine.33 Im Herbst 1999 wurde im Rahmen des vierten gemeinsamen Symposiums eine Kooperationserklärung34 zwischen den beiden Nachfolgeinstitutionen der Naturforschenden Gesellschaft verabschiedet. Mit der Kooperationserklärung sollte auch die Bücherfrage geklärt werden. Getreu dem Gedanken, zuerst an den Leser und Forscher zu denken, waren sich die Vertreter beider Gesellschaften einig, das vorhandene Material in Deutschland sowie in Danzig zugänglich zu machen. Damit war auch die Bundesregierung einverstanden, die diese Reprivatisierungslösung begrüßte, um einen Streit zu verhindern. Eigentumsfrage: Es stellt sich nun die Frage, wer Eigentümer derjenigen Vermögensgegenstände der Naturforschenden Gesellschaft ist, die noch in Danzig verblieben sind, sowie derjenigen Vermögensgegenstände der Naturforschenden Gesellschaft, die sich heute bereits in der Bundesrepublik Deutschland befinden. Da bei rechtmäßiger Einverleibung der Freien Stadt Danzig durch Polen, also im Falle einer Staatensukzession, das Privatvermögen unberührt bleiben müsste, gilt dies erst recht bei der hier vorliegenden völkerrechtswidrigen Einverleibung.35 Zudem hatte eine Erbin des letzten auffindbaren Mitglieds der alten Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig und damit auch Erbin des Vermögens der Gesellschaft ihren Anspruch der 1994 wiederbelebten Danziger Naturforschenden Gesellschaft übertragen. Die letztlich aber komplizierte Eigentumsfrage, die Fragen des Völkerrechts und des deutschen und polnischen zivilen und öffentlichen Rechts aufwirft, soll aber hier nicht weiter thematisiert werden. Das Problem wurde nämlich mit einem modus vivendi gelöst.36 Die technische Universität Danzig behält die Bücher, die ihr in rechtswidriger 33 Unterdessen sind bereits 14 Bände „Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur“ unter der Herausgabe von Gilbert H. Gornig erschienen. Vgl. http://www. danzigernfg.com/tagungsbaende.html (9.7.2022). 34 Dazu Gornig, Gilbert (Hg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur (Societas Physicae Experimentalis, Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 4), Lübeck 2000, S. 156ff. 35 Dazu Gornig, Gilbert H.: Das Schicksal Danzigs. Erster Weltkrieg und Versailler Friedensvertrag, in: Danziger Neueste Nachrichten. Danziger Zeitung, 1. Quartal 2020, S. 15ff.; ders.: Das Schicksal Danzigs. Erster Weltkrieg und Versailler Friedensvertrag, in: Danziger Neueste Nachrichten. Danziger Zeitung, 2. Quartal 2020, S. 12f.; ders.: Danzig. Eine völkerrechtlich abschließende Regelung steht noch aus, https://secure.avaaz.org/de/petition/ Gerechtigkeit_fuer_Danzig (26.4.2023). 36 Vgl. auch Anhang in Gornig, Deutsch-polnische Begegnung, S. 164.
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Weise von Bremen ausgehändigt wurden, gesteht aber zu, nicht Eigentümer zu sein. Es handelt sich bei den Büchern um ausschließlich deutschsprachige Literatur, die im Wissenschaftsbereich in Deutschland größere Dienste leisten könnte als im nun polnisch-sprachigen Danzig, zumal die Bücher auch auf die deutsche Geschichte Bezug nehmen und nichts mit Polen zu tun haben.
Zuordnung der Kulturgüter im Allgemeinen
Allgemein: Die Problematik der Zugehörigkeit von Kulturgütern, zu denen auch Bücher gehören, ist in den letzten Jahren weltweit diskutiert worden. Die Überlegungen, die zur Kunst als Kulturgut angestellt werden, lassen sich auch auf Bücher übertragen.37 Kulturgegenstände gehören natürlich zuerst dem Erzeuger, dem Künstler, dem Autor oder demjenigen, dem sie rechtmäßig übereignet wurden. Kulturgüter sind nämlich eine Ware, mit der Handel getrieben werden kann. Eigentumsübertragungen dürfen daher erfolgen. Es gibt aber Fälle, in denen die Eigentumsverhältnisse unklar sind oder das Kulturgut unter Verletzung von Gesetzen außer Landes gebracht wurde. Auch in Fällen der Staatensukzession ist häufig die Frage der Zugehörigkeit von Kulturgütern umstritten. Hinsichtlich der Zuordnung von Kulturgütern lassen sich im Völkerrecht einige Prinzipien unterscheiden, die sich teilweise auch in internationalen Verträgen wiederfinden.38 37 Für Archive bestehen Sonderregelungen, die hier nicht weiter behandelt werden. Sie gehören grundsätzlich dem Land, dem sie gewidmet sind und zu dessen Bürgern sie Auskunft geben. Im Falle der Staatennachfolge gilt einheitlich, dass der Teil der Staatsarchive, der für die normale Verwaltung des Nachfolgegebietes notwendig ist, vom Vorgängerstaat auf den Nachfolgestaat übergeht. Nach dieser Regelung sind Archive schon dann an den Nachfolgestaat zu übergeben, wenn sie diesen bloß betreffen. Man spricht hier vom „Betreffsprinzip“. Das „Provenienz-Prinzip“ verlangt, dass Archivalien unter Wahrung des Registraturzusammenhangs entsprechend ihrer Herkunft aus einer bestimmten Behörde aufbewahrt werden. Es geht also um Sammlungen von Dokumenten, die ursprünglich an Adressaten wie etwa Dienststellen im Nachfolgegebiet gerichtet waren. 38 Vgl. dazu Gornig, Gilbert: Wem gehört der Pergamon-Altar? Völkerrechtliche Diskussion der Forderungen Griechenlands auf Rückgabe von Kulturgütern, in: ders./Schiller, Theo/ Wesemann, Wolfgang (Hg.): Griechenland in Europa, Frankfurt a.M. u.a. 2000, S. 61ff.; ders.: Der internationale Kulturgüterschutz, in: ders./Horn, Hans-Detlef/Murswiek, Dietrich (Hg.): Kulturgüterschutz – internationale und nationale Aspekte, Berlin 2007, S. 17ff.; ders.: Der Begriff des Kulturguts – rechtlich gesehen, in: ders./Rafael, Angel Manuel (Hg.): Kulturgüter. Eine interdisziplinäre Betrachtung. – Cultural Assets. An Interdisciplinary View (Schriftenreihe Europäische Studien, Bd. 1), Marburg 2011, S. 11ff.; ders.: Begründung und Rechtsgrundlagen des internationalen Kulturgüterschutzes, in: ders./Rafael, Angel
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Zuordnung nach der Zugehörigkeit zu einer unbeweglichen Einrichtung: Eine Formel für die Zuordnung beweglicher Kulturgüter stellt auf die Zugehörigkeit zu einer auf dem Territorium belegenen unbeweglichen öffentlichen Einrichtung als deren wesentlicher Bestandteil bzw. Zubehör ab.39 In diesem Fall vermittelt die Belegenheit der unbeweglichen Sache die territoriale Zuordnung der beweglichen Sachgüter. Dieser Verteilungsmodus führt zur Verpflichtung des Vorgängerstaats, Kulturgüter, also auch Bücher, vor der Übergabe des Territoriums dort zu belassen bzw. im Falle der bereits erfolgten Entfernung zurückzuerstatten. Prinzip des Zusammenhaltens von Sammlungen von universalem Rang: Besondere Bedeutung erlangte bei der Auseinandersetzung um die Habsburgischen Sammlungen nach dem Ersten Weltkrieg das Prinzip des Zusammenhaltens von Sammlungen von universalem Rang.40 Ungarn beanspruchte nach dem Prinzip des Ausgleichs im Falle der Staatensukzession einen Anteil der Wiener Sammlungen. Dies wurde von Österreich strikt abgelehnt.41 Österreich machte das Prinzip geltend, dass gewachsene Sammlungen einen Organismus darstellten, der nicht auseinanderzureißen sei. Dieses Prinzip setzte sich dann auch weitgehend durch. Ungarn konnte sich nur bezüglich einiger Gegenstände unter Berufung auf das Prinzip des nationalen Erbes durchsetzen. Unter Berufung auf das Prinzip des Zusammenhaltens von Sammlungen von universalem Rang gelang es also Österreich, die Forderung nach Aufteilung der Habsburger Bestände abzuwehren.42 Manuel (Hg.): Kulturgüter. Eine interdisziplinäre Betrachtung. – Cultural Assets. An Interdisciplinary View(Schriftenreihe Europäische Studien, Bd. 1), Marburg 2011, S. 117ff.; ders.: Rückgabe von Kulturgütern, in: ders. (Hg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur (Societas Physicae Experimentalis. Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 13), Marburg 2018, S. 181ff.; ders.: Kunstraub und Raubkunst, in: Hilpold, Peter/Raffeiner, Andreas/Steinmair, Walter (Hg.): Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte und Solidarität in Österreich und in Europa. Festgabe zum 85. Geburtstag von Professor Heinrich Neisser, einem europäischen Humanisten, Wien 2020, S. 1459ff.; ders.: Staatlicher Kunstraub in Friedenszeiten, in: Hilpold, Peter/Raffeiner, Andreas/Steinmair, Walter (Hg.): Österreich und die EU im Umbruch – eine Nachlese zur Festschrift für Heinrich Neisser, Wien 2022, S. 301ff. 39 Vgl. O’Connell, Daniel P.: State Succession in Municipal Law and International Law, vol. 1, Cambridge 1967, S. 204. 40 Vgl. Turner, Stefan: Die Zuordnung beweglicher Kulturgüter im Völkerrecht, in: Fiedler, Wilfried (Hg.): Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, Berlin 1991, S. 85, 93f. 41 Tietze, Hans: L’accord austro-hongrois sur la répartition des collections de la maison des Habsbourg, in: Mouseion 23–24, 1933, S. 92ff. 42 In Art. 1 der österreichisch-italienischen Ausführungskonvention zum Vertrag von Saint Germain (Martens, G. Fr. de/Triepel, Heinrich [Hg.]: Nouveau Recueil Général de Traité,
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Nationale Zuordnung: Das Konzept der nationalen Zuordnung von Kulturgütern,43 dem vor allem wirtschaftlich arme Länder mit hohem Kulturgutaufkommen anhängen, hat zum Inhalt, dass Kulturgut, welches aus einem Land oder Kulturkreis hervorgeht, grundsätzlich auch in diesem verbleiben soll. Kulturgüter sind aber in der Regel nur schwer einer Nationalität bzw. einem Volk zuzuordnen. Gehört ein von einem Chinesen in den USA zu einem aztekischen Symbol bearbeiteter Bernstein nach China, in die USA, nach Mexiko oder an die Samlandküste nach Russland? Es stellt sich ferner die Frage, ob unter Umständen auch ausländische Werke als nationale Kulturgüter qualifiziert werden können. So differenziert beispielsweise das deutsche Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts gegen Abwanderung vom 6. August 195544 nicht nach den Ursprüngen eines Objekts. Es kann also auch ein in fremden Ländern entstandenes Kunstwerk nationales Kulturgut sein. Die Nofretete45 und der Pergamon-Altar46 sind bekannte Beispiele für diese Zuordnungsproblematik. Ähnlich schwierig gestaltet sich die Umsetzung einer Repatriierung der Kulturgüter. Beispiele hierfür sind die Elgin-Marbles47 und ebenfalls die troisième série, vol. XIX, Göttingen 1928, S. 682ff.) kommt das Prinzip der Erhaltung organisch gewachsener Zusammenhänge von Kulturgütern klar zum Ausdruck. Italien erkennt darin die Zweckmäßigkeit an, eine Zerstreuung von Kulturgütern zu vermeiden. Der Art. 11 § 1 b i. V. m. § 7 des Vertrags von Riga vom 18.5.1921 (Martens, G. Fr. de/Triepel, Heinrich (Hg.): Nouveau Recueil Général de Traité, troisième série, vol. XIII, Göttingen 1924, S. 141ff.) sah die Rückführung der aus Polen nach Russland und der Ukraine nach dem 01.01.1772 exportierten Kulturgüter vor. Diese Rückführung sollte unterbleiben, wenn sie zur Schädigung von Sammlungen „d’une importance scientifique universelle“ führten. Ausgenommen war auch hier wieder ein Objekt „intimément lié à l’histoire et à la culture de la Pologne“. Es wird damit die gleiche Regelung getroffen wie im österreichisch-ungarischen Ausführungsabkommen. 43 Jaeger, Andrea: Internationaler Kulturgüterschutz, Köln 1993, S. 2f. 44 Das Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung vom 6.8.1955 verpflichtet die Länder, das nationale Erbe vor der Abwanderung zu bewahren. Danach sind Kunstwerke und anderes Kulturgut einschließlich Bibliotheksgut, deren Abwanderung einen wesentlichen Verlust für den deutschen Kulturbesitz bedeuten würde, und Archive archivalische Sammlungen, Nachlässe und Briefsammlungen mit wesentlicher Bedeutung für die deutsche politische Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in ein „Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes“ bzw. „Verzeichnis wertvoller Archive“ einzutragen. Text: BGBl. 1955 I, S. 501ff. 45 Mussgnug, Reinhard: Wem gehört Nofretete?: Anmerkungen zu dem deutsch-deutschen Streit um den ehemals preußischen Kulturbesitz, Berlin u.a. 1977, S. 7ff. 46 Gornig, Pergamon-Altar, S. 61ff. 47 Dargestellt, in: Hugger, Heiner: Rückführung nationaler Kulturgüter und internationales Recht am Beispiel der Elgin Marbles, in: JuS 1992, S. 997ff.; vgl. Knott, Hermann: Der Anspruch auf Herausgabe gestohlenen und illegal exportierten Kulturguts, BadenBaden 1990, S. 136.
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Nofretete48 wie der Pergamon-Altar49. Schwer lösbare Probleme bestehen, wenn es um das Schicksal von Kulturgütern aus ehemaligen Kolonien,50 aus von einer Staatensukzession betroffenen Gebieten oder aus Regionen, hinsichtlich derer ein Bevölkerungsaustausch vorgenommen wurde, geht. Gehört das Kulturgut einem Staat oder einem Volk bzw. Stamm? Wohin soll es verbracht werden, wenn ein Stamm in mehreren Staaten beheimatet ist, was Folge der meist willkürlichen Grenzziehungen auf dem afrikanischen Kontinent sein konnte. Möglicherweise stehen sich hier sogar nationale Zuordnung und Kulturgüterschutz unversöhnlich gegenüber.51 Für die Bestimmung der nationalen Zugehörigkeit eines Kulturguts fehlen einheitliche Kriterien. Jedenfalls gehören nur diejenigen Objekte, die die Qualität eines Kulturguts aufweisen und auf besondere Weise mit dem Staat verbunden sind, zum nationalen Kulturerbe. Diese besondere Verbindung mit dem Staat („genuine connection“) kann sich aus verschiedenen Faktoren ergeben: Der Bezug zu einem Staat kann bestimmt werden – durch die Person des Künstlers, nämlich dessen Staatsangehörigkeit, dessen Lebensort, dessen aktuellem Aufenthalt, der Dauer des Aufenthaltes, – durch den typischen Charakter des Kunstwerks, – durch die Erschaffungsstätte, – durch die Herkunft des verwendeten Materials,52 – durch den Fund auf dem Territorium des Schutzstaates, etwa bei einer archäologischen Grabung, – durch die Zugehörigkeit zu einer unbeweglichen Sache, – durch den Ursprung oder die Herkunft des Kulturguts (Prinzip des „district d’origine“), – durch das kulturelle Erbe (Prinzip des „patrimoine intellectuel“). Mit dem Terminus „district d’origine“, Ursprungs- oder Herkunftsland, wird festgestellt, dass die auszuliefernden Güter sich auf dem betreffenden Territorium befanden und von dort weggebracht wurden. Es handelt sich bei dem „district d’origine“ also nicht um den Entstehungsort. Im Schrifttum wird von 48 49 50 51
Mußgnug, Nofretete, S. 7ff. Gornig, Pergamon-Altar, S. 61ff. Fechner, Frank: Rechtlicher Schutz archäologischen Kulturguts, Berlin 1991, S. 101. Streinz, Rudolf: Internationaler Schutz von Museumsgut, Berlin 1998, S. 163; vgl. auch: Schorlemer, Sabine von: Internationaler Kulturgüterschutz, Berlin 1992, S. 313ff. 52 Vgl. Jaeger, Internationaler Kulturgüterschutz, S. 11; aufgezählt auch in der UNESCOKonvention 1970, Art. 4, auch in: Jayme, Erik: Neue Anknüpfungsmaximen für den Kulturgüterschutz im internationalen Privatrecht, in: Dolzer, Rudolf/Jayme, Erik/Mußgnug, Reinhard (Hg.): Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes, Heidelberg 1994, S. 42ff.; Jayme, Erik: Kunstwerk und Nation: Zuordnungsproblem im internationalen Kulturgüterschutz, Heidelberg 1991, S. 14ff.
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der „Bindung der Kulturgüter an ihren Herkunftsboden“53 gesprochen.54 Nach dem Prinzip „patrimoine intellectuel“ wird als Herkunftsterritorium das Gebiet angesehen, das – nach Abwägung mit den Interessen der Bewohner des von der Auslieferung betroffenen Territoriums – mit dem Kulturgut am engsten verbunden ist. Im Schrifttum wird von der „Idee der Bindung von Kulturwerten an ihr Ursprungsgebiet, dessen Erbe sie bilden“55, gesprochen. Der Begriff des „patrimoine intellectuel“, des kulturellen Erbes eines Gebiets, wird in den Ausführungskonventionen zu den Pariser Vorortverträgen konkretisiert.56 Auch in der UNESCO-Konvention über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übertragung von Kulturgut57 vom 14. November 1970 wird eine besondere Verbindung zu einem Staat gefordert, wenn dieses Kulturgut seinem kulturellen Erbe zugerechnet werden soll. Hier kann die besondere Verbindung („connection test“) auf fünffache Weise zustande kommen (Art. 4). Einem Staat gehört das Kunstwerk, – das entweder von Staatsangehörigen eines Staates geschaffen wurde oder innerhalb der Grenzen des Staates von ausländischen Staatsangehörigen oder staatenlosen Personen, die innerhalb des Gebiets wohnen, geschaffen wurde (nationaler Schöpfungsakt), 53
Vgl. Engstler, Ludwig: Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, Berlin/Bonn 1964, S. 251. 54 Art. 192 des Vertrags von Saint Germain enthält eine Restitutionsverpflichtung hinsichtlich aller seit dem 1.6.1914 aus den zitierten Gebieten entfernten Kulturgütern, sofern sie nicht von Privaten erworben wurden. Art. 196 bezieht sich auf künstlerische, archäologische, wissenschaftliche und historische Objekte, die Bestandteil der Habsburgischen Sammlungen waren und über die im Vertrag von Saint Germain keine anderen Regelungen getroffen wurden. Über die so abgegrenzten Objekte sollten Vertragsverhandlungen stattfinden mit dem Ziel der Rückführung, „dans leurs districts d’origine“. Betroffen sind solche Gegenstände, „qui devraient appartenir au patrimoine intellectuel des districts cédés“. 55 Engstler, Bindung, S. 243. 56 In Art. 5 der österreichisch-italienischen Ausführungskonvention zum Vertrag von Saint Germain (Martens/Triepel, Nouveau Recueil, vol. XIX, S. 682ff.) wird ein im Einzelnen durch Sachverständige zu beurteilender gegenseitiger Austausch von Kulturgütern vereinbart. Grundsätzlich sollen sämtliche Kulturgüter im öffentlichen Besitz restituiert werden, die aus den an Italien abgetretenen Gebieten stammen. Die frühere Belegenheit reicht jedoch als Zuordnungskriterium allein nicht aus. Ausgenommen sollen gemäß Art. 5 II Ziff. 3 nämlich etwa jene Gegenstände sein, die ihrem Ursprung nach nicht zum historischen und kulturellen Besitz Italiens und der an Italien abgetretenen Provinzen gehören. Damit wird verlangt, dass es sich um Objekte handeln müsse, die von Anbeginn ihrer Existenz an zum historischen und kulturellen Besitz Italiens gehörten. Ursprung meint hier tatsächlich die Entstehung, nicht bloß die frühere Belegenheit der Sache. 57 Text: Bundestags-Drucksache (BT-Drs.) VI/3511; United Nations Treaty Series (UNTS), vol. 823, S. 231; International Legal Materials (ILM), vol. 10 (1971), S. 289ff.
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– das innerhalb des nationalen Gebiets gefunden wurde (Fund auf nationalem Territorium), – das mit der Zustimmung der zuständigen Behörden des Ursprungslandes von archäologischen, ethnologischen oder auch naturwissenschaftlichen Missionen erworben wurde (rechtmäßiger Erwerb im Ausland), – das Gegenstand eines vereinbarten kulturellen Austausches war (Austausch), – das als Geschenk empfangen wurde oder mit der Zustimmung der zustän digen Behörde vom Ursprungsland rechtmäßig gekauft wurde (Erwerb im Inland). Die erste Kategorie knüpft an die Personalhoheit des Staates an, die zweite an die Gebietshoheit. In den übrigen Fällen liegt eine Willenseinigung vor, die es erlaubt, dem Staat das entsprechende Kulturgut als sein Erbe zuzurechnen.58 Eine Zeitangabe, wie lange ein Objekt mit einem Land in Verbindung gewesen sein muss, fehlt. Alle diese Kriterien geben allerdings keineswegs eine eindeutige Auskunft über die Zugehörigkeit eines Kulturguts zu einem bestimmten Staat. So kann es Probleme geben, wenn eine Person vorübergehend in einem fremden Staat lebt und dort Kunstwerke schafft. Es kann daher möglich sein, dass sowohl der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Künstler hat, das Werk beansprucht als auch der Staat, in dem das Kunstwerk geschaffen wurde. Die Personalhoheit und die Gebietshoheit stehen damit in Konkurrenz. Da Art. 4 der UNESCO Konvention keine Rangfolge für die einzelnen Verbindungen erkennen lässt, kann es Situationen geben, in denen also zwei oder mehrere Staaten zur selben Zeit das nationale Kulturgut für sich beanspruchen. Art. 17 Abs. 5 der UNESCOKonvention von 1970 sieht lediglich vor, dass die UNESCO auf Ersuchen von mindestens zwei Parteien des Übereinkommens, zwischen denen eine Streitigkeit über die Durchführung des Übereinkommens entstanden ist, ihre „guten Dienste“59 anbietet, um die Kontroverse beizulegen.
58 59
Vgl. hierzu auch von Schorlemer, Internationaler Kulturgüterschutz, S. 61f. Mit dem Begriff „Gute Dienste“ werden im Bereich des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen diplomatische Initiativen eines Drittlandes oder einer anderen neutralen Institution bezeichnet, deren Ziel die Beilegung eines internationalen Konfliktes zwischen verschiedenen Ländern ist, ohne selbst Stellung zu nehmen oder zu vermitteln.
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Gerechter Ausgleich nach Billigkeit
Nicht alle Güter lassen sich nach den verschiedenen im Schrifttum vorgeschlagenen und in der Praxis teilweise umgesetzten Grundsätzen zuordnen. In diesem Fall muss ein gerechter Ausgleich nach Billigkeit getroffen werden.60 Beim Prinzip des billigen Ausgleichs ist bemerkenswert, dass sachenrechtliche Kategorien herangezogen werden. So hat Hugo Grotius61 die Ansicht vertreten, gemeinen Zwecken Dienliches werde entweder anteilsmäßig aufgeteilt oder gemeinsam verwaltet. Und Max Huber62 vertrat die Auffassung, dass die betroffenen Objekte Miteigentum von mehreren Nachfolgestaaten werden sollten. Aus dem Miteigentum ergebe sich dann entweder Liquidation oder Fortsetzung der Eigentümereigenschaft. Internationale Ebene Wegen der Schwierigkeit der Lösung des Problems der nationalen Zuordnung zeigt das Prinzip des Common Heritage of Mankind einen anderen Weg auf. Nach dem Common-Heritage-Prinzip werden Kunst und Kulturgut als das gemeinschaftliche Erbe der Menschheit verstanden und auch Ansprüche hierauf begründet.63 Diese Ansicht teilen in erster Linie am Kunsthandel Beteiligte, ferner Staaten, die Kulturgut importieren möchten, und Staaten, die in Kolonialzeiten und Kriegszeiten erworbenes Gut nicht herausgeben wollen. Der Begriff stammt aus dem Recht des Tiefseebergbaus. Das Prinzip hat sich völkerrechtlich auch für andere Bereiche außerhalb nationalstaatlicher Hoheitsgebiete durchgesetzt (Hohe See, Weltraum, Antarktis) und ist daher nicht ohne Weiteres auf ein Kunstwerk übertragbar.64 Er wird dennoch in den Debatten der UNO und ihren Sonderorganisationen – teils in leichter Abweichung – verwendet, wenn es um den Schutz von Kulturgut geht.65 Die Zielrichtung des Begriffs bleibt gleichwohl unklar,66 auch ist die Entnationalisierung durch 60 Auch in der Konvention von 1983 über die Staatennachfolge hat der auf der Billigkeit beruhende Gedanke des gerechten Ausgleichs Eingang gefunden. 61 De iure belli ac pacis liber II, 9, § 10. 62 Vgl. Huber, Max: Die Staatensuccession, Berlin 1898, S. 76. 63 Gornig, Gilbert: Das Common Heritage-Prinzip und der Kulturgüterschutz, in: ders. (Hg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur (Societas Physicae Experimentalis. Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 11), Marburg 2012, S. 33ff. 64 Dargestellt bei Jayme, Kunstwerk und Nation, S. 14. 65 Paech, Norman/Stuby, Gerhard: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2001, S. 797. 66 Ebd., S. 798.
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Erklärung zum Weltkulturerbe67 nicht ganz unproblematisch. Jedenfalls ist zuzugeben, dass es bei einer Straftat an einem Kulturgut keine Rolle spielt, ob das Kulturgut aus dem einen oder anderen Staat stammt. Kulturgüter, also auch die Bücher, gehören zum Erbe der Menschheit, sodass jeder Staat verpflichtet ist, jedes Kulturgut zu schützen, egal, wem es zugewiesen ist. Jeder Staat ist somit Treuhänder gegenüber der gesamten Menschheit für das in seinem Herrschaftsbereich befindliche Kulturerbe. Von Staaten im Besitz wertvollen fremden Kulturguts wird die Frage des Aufbewahrungsortes des Kulturgegenstandes daher gerne unter Berufung auf das Common-HeritagePrinzip als gegenstandslos hingestellt.
Schlussgedanken
Bücher gehören zu den wichtigsten Kulturgütern der Menschheit. Diese aufzubewahren, zu pflegen und zu schützen ist eine Aufgabe aller privaten oder staatlichen Bibliotheken der Welt. Heute ist es im Rahmen der Digitalisierung eigentlich nicht mehr so wichtig, wo sich die Bücher befinden, soweit sie digital zugänglich sind. Das Buch in der Hand, in dem man blättern und Anmerkungen anbringen kann, wird aber niemals von einem Bildschirm in der Hand oder auf dem Tisch verdrängt werden. So ist es naheliegend, ein Buch in erster Linie68 dem Land zuzuweisen, in dem die Sprache des Buches gesprochen wird, da es nur dort seinen Sinn erfüllen kann, nämlich zu erfreuen, zu bilden, zu bereichern. Literaturverzeichnis Engstler, Ludwig: Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, Berlin/Bonn 1964. Fechner, Frank: Rechtlicher Schutz archäologischen Kulturguts, Berlin 1991. Gornig, Gilbert: Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939/45 am Beispiel der Naturforschenden Gesellschaft zu Danzig. Ein Rechtsgutachten, Köln 1999. Ders. (Hg.): Deutsch-polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur (Societas Physicae Experimentalis, Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, Bd. 4), Lübeck 2000. 67 68
Jayme, Kunstwerk und Nation, S. 13. Es sei denn, es soll als fremdsprachliche Literatur erbauen.
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Gilbert H. Gornig
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Teil IV Virtuelle und literarische Rekonstruktionen
Bibliomigrancy und Digimigrancy
Sächsische kriegsbedingt verlagerte Drucke und Handschriften in Polen – wie verändern die Digitalisate die Sicht auf die Originale? Konstantin Hermann Abstract Tausende von Drucken und Handschriften wurden im Zweiten Weltkrieg aus dem Gebiet des heutigen Freistaats Sachsen in die Gebiete jenseits der Oder und Neiße verbracht. Dort wurden sie nach 1945 durch polnische Einrichtungen gesichert und inventarisiert. Für die deutsche Forschung Jahrzehnte nur schwer zugänglich, bietet die Digitalisierung und freie Zugänglichkeit neue Möglichkeiten der wissenschaftlichen Nutzung. Diese kriegsbedingt verlagerten Werke, um die Jahrzehnte ein politischer Streit währte, der bis heute nicht beigelegt ist, stehen aus deutscher Sicht weiterhin im Eigentum der Einrichtungen, wo sie bis vor 1945 aufbewahrt wurden, während polnische und russische Institutionen das Eigentum für sich reklamieren. Die Digitalisierung der kriegsbedingt verlagerten Werke ermöglicht die freie Zugänglichkeit, ohne die Rechtsaspekte zu thematisieren. Die digitale Bereitstellung verändert jedoch auch die Sicht und die Bedeutung des Originals, deren endgültige Konsequenz noch nicht abzusehen ist.
„Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut“. Eine Begriffsbestimmung
Zu Beginn dieser Thematik bedarf es der Erklärung eines Begriffs: „Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut“, eine der Wortschöpfungen, die in der deutschen Sprache merkwürdig euphemistisch, verunklarend oder technisch daherkommen. „Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut“ bezieht sich z. B. auf Bücher, Gemälde und andere Kulturgüter, die vor 1945 durch deutsche Institutionen wie Museen, Bibliotheken und Archiven meist aufgrund der Luftkriegsgefahr in ländliche Regionen aus den Depots und Magazinen herausgenommen, abtransportiert und eingelagert wurde. Die Auslagerungsorte waren zumeist Schlösser und Burgen oder größere Gasthöfe. Das am 1. Januar 2015 gegründete Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste stellt den Begriff der kriegsbedingt verlagerten Kulturgüter in einen Zusammenhang mit dem Terminus
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_016
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„Beutegut“ oder „Beutekunst“.1 Dieses Wort wird meist mit den sowjetischen Trophäenkommissionen in Verbindung gebracht, die in der Sowjetischen Besatzungszone systematisch Sammlungen durchsuchten und Kulturgut in die Sowjetunion verbrachten. Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut, das sich heute in polnischen Einrichtungen befindet, wurde meist aus Einrichtungen westlich der Oder und Neiße aufgrund der Luftkriegsgefahr in die Gebiete östlich dieser beiden Flüsse verbracht. Dort verlieben sie nach Aufgabe der Gebiete und Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung 1945.2 In Polen fand damit im Unterschied zu den sowjetischen Trophäenkommissionen keine aktive Plünderung deutscher Sammlungen statt, sondern es wurde das aus polnischer Sicht herrenlos gewordene Kulturgut gesichert, da dieses sich nun auf dem polnischen Territorium befand,3 während die besitzenden Einrichtungen, die in den Grenzen des heutigen Deutschlands bestanden oder noch bestehen, keinen Zugriff mehr darauf hatten. Zwischen beiden beschriebenen Phänomenen sollte differenziert werden: Das eine ist die aktive Aneignung fremden Kulturguts, das andere die Übernahme vorhandenen Kulturguts. Rechtlich betrachtet besteht jedoch zumindest aus deutscher Sicht derselbe Sachverhalt, der von widerrechtlicher Aneignung spricht. Auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone vollzog sich etwas Vergleichbares mit der „Schlossbergung“. Dieser Begriff kennzeichnet die Übernahme des Inventars von Schlössern und Herrenhäusern, deren Eigentümer durch die Bodenreform enteignet wurden oder geflohen sind.4 Hunderttausende von Büchern, Gemälden, Stichen, Möbeln usw. waren „herrenlos“ geworden und wurden durch die einschlägigen Einrichtungen wie Bibliotheken und Museen übernommen. Auf Basis des 1994 verabschiedeten, des meist sogenannten Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes (EALG) müssen diese Stücke an die Eigentümerfamilie zurückgegeben werden, während die in der Bodenreform enteigneten Immobilien davon ausgenommen sind.5 1 https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Geschichte/Index.html;jsessionid=9DE07E36F7A3F7683326F93D75E13BE6.m1 (Alle in diesem Text genannten Links wurden im Februar 2023 geprüft). 2 Siehe die Definition: https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Grundlagen/ Wichtige-Begriffe/Index.html. 3 In diesem Text wird der Einfachheit halber vom Besitzerwechsel der deutschen Ostgebiete im Jahr 1945 geschrieben, gleichwohl die völkerrechtlich gültige Abtretung erst 1990 erfolgte. 4 Für Sachsen siehe z.B.: Rudert, Thomas/Lupfer, Gilbert: Die „Schlossbergung“ in Sachsen als Teil der Bodenreform 1945/46 und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, in: Dresdener Kunstblätter 56, 2012, S. 114–122. 5 https://www.gesetze-im-internet.de/ealg/BJNR262400994.html.
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In der deutschen Fach-Öffentlichkeit wird demnach mit zwei Begriffen operiert, von denen der eine absolut wertend ist („Beutekunst“), während der andere („kriegsbedingt verlagertes Kulturgut“) sehr technisch und neutral anmutet. Der Begriff „Schlossbergung“ suggeriert sogar etwas Positives und ist damit vergleichbar mit dem polnischen Begriff der „gesicherten Sammlungen“. Mittlerweile wird auch in Deutschland der Terminus des kriegsbedingt verlagerten Kulturguts bisweilen kritisch auf einschlägigen Konferenzen diskutiert, wenn auch bisher anscheinend nicht publiziert. Er löst auch bei den östlichen Nachbarn gewisse Reaktionen und Emotionen hervor, da er die Eigenschaft des Interims in sich birgt. Es wurde, so suggeriert der Begriff, quasi ein Gegenstand vorübergehend an einen anderen Ort verlagert und der Gegenstand wartet nur darauf, dass er nach Hause, in die ehedem bestandsbesitzende Institution zurückkehrt.6 Die Praxis hingegen ist bekanntlich nicht, dass sich kriegsbedingt verlagertes Kulturgut aus Deutschland seit 1942/45 nicht mehr in den Einrichtungen befindet, sondern woanders, in Polen und Russland vorzugsweise bleibt. Die Geschichte kennt Beispiele langer Interims und da Geschichte immer offen ist, wie uns besonders der 2022 erfolgte Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine – abgesehen von der bereits 2014 erfolgten Besetzung der Krim – wieder schmerzlich verdeutlicht, weiß keiner, wie es mit diesen Kulturgütern weitergeht – in historischen Dimensionen der nächsten Jahrhunderte gedacht. Rückgaben kriegsbedingt verlagerter Bestände durch Polen und die Sowjetunion hat es vor allem aus politischen Gründen gegeben. Erinnert sei hier lediglich an die Rückgabe von Kunst in die DDR durch die Sowjetunion in den Jahren 1955 bis 1958. Es ist trotz dieser Rückgaben davon auszugehen, dass sich z.B. noch vier Millionen deutsche Kulturgüter im heutigen Russland befinden. Um dies zu verdeutlichen, sei an die Verluste der Sächsischen Landesbibliothek (heute Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) erinnert, die ungefähr 200.000 Bände aus dem 16. bis 20. Jahrhundert sowie 1.600 Inkunabeln verlor, die heute in Russland aufbewahrt werden. Die Universitätsbibliothek Leipzig geht davon aus, dass etwa 43.000 Bände, darunter eine der Gutenberg-Bibeln, Briefe des Erasmus von Rotterdam u.a. in Russland sind. Es sind bisweilen die Herzstücke ganzer Sammlungen in die Sowjetunion verbracht worden, so die Sammlung der Bücher des sächsischen Hofbuchbinders Jakob Krause: Von den 1165 vorhandenen, durch Krause oder seine Mitarbeiter eingebundenen Bücher, die
6 Zusammenfassend siehe https://www.bundestag.de/resource/blob/481348/d1a951e8d3419a7fedc0a90009283090/WD-10-129-10-pdf-data.pdf.
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1945 noch vorhanden waren, können heute in der SLUB Dresden lediglich noch 182 aufbewahrt werden, da sich der große Rest in Russland befindet.7 Es handelt sich bei den kriegsbedingt verlagerten Werken nicht nur um einfache Gegenstände, sondern um Kulturgut mit all seiner Bedeutung und Aufladung. Mit Kultur ist immer auch eine Bedeutung verbunden, ein Anspruch, der im Fall des „kriegsbedingt verlagerten Kulturguts“ die ganze Angelegenheit weiter verkompliziert. Diese Debatten wird z.B. über die nach 1945 in die Sowjetunion verbrachten Maschinen und Eisenbahngleise nicht geführt, bei denen es sich um eine Art „Verbrauchsmaterial“ handelt. Allerdings, diese ironische Bemerkung sei gestattet, wird sich diese Sichtweise verändern, wenn die auch in Deutschland inzwischen sehr populär gewordenen Industriekultur im Zeitalter der Restaurierung von Dampflokomotiven und Kesselanlagen dieses Thema für sich entdeckt, falls diese Maschinen überhaupt noch existieren. Als Industriekulturgut würde so mancher vielleicht auch auf alte Kesselanlagen und Maschinen Ansprüche erheben. Der Begriff „Kultur“ macht die Diskussion und Verhandlung um Eigentum und Zugänglichmachung des kriegsbedingt verlagerten Kulturguts also nicht einfacher, da dem Begriff „Kultur“ häufig eine enge Beziehung zur Nation, zum Volk, zu Traditionen, Selbstverständnis und Deutungshoheit innewohnt. Wer solches Kulturgut hat, bestimmt also nicht zuletzt auch Sichtweisen, abgesehen von rein praktischen Themen wie der Nutzung und Veröffentlichung. Dieses Thema der Sichtweisen und der Bedeutung für das Selbstverständnis eines Landes oder Volkes findet sich auch in den Diskussionen um den Status der aus den Kolonien verbrachten Kulturgüter und ist in seiner Dimension nicht zu unterschätzen.
Handlungsmöglichkeiten
Zweifellos haben die Institutionen, in deren Händen sich die Kulturgüter befinden, eine stärkere Position als diejenigen, die diese Gegenstände nicht mehr haben, auch wenn geltend gemacht werden kann. Eine Durchsetzung dieses Rechtsanspruchs ist nicht möglich; eine Verhandlung darüber derzeit ausgeschlossen. Dies hat mehrere Konsequenzen, unter anderem diese, dass solches Kulturgut nicht ins Ausland für Ausstellungen verschickt werden kann, da eine Beschlagnahme droht. Es bieten sich mehrere Optionen. Beide Einrichtungen können auf den jeweiligen Rechtsauffassungen bestehen und Gespräche über Rückgabe oder 7 https://www.slub-dresden.de/entdecken/seltene-und-wertvolle-drucke/jakob-krausebaende.
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Zugänglichmachung ablehnen. Eine der beiden Einrichtungen kann auf das Eigentum verzichten, was praktisch unmöglich ist. Oder beide verständigen sich, ohne die Eigentumsfrage zu erörtern, auf Zugänglichmachung der Kulturgüter. Dies setzt vor allem das Einverständnis der Institutionen voraus, die das Kulturgut heute verwahren. Für die deutsche Seite stellte sich die Situation lange so dar, dass es sich bei Handschriften, Drucken, Gemälden usw. um Kulturgut mit all seiner Bedeutung, die ihm beigemessen wird, handelt und das sich in einem anderen Land befindet, aber das deutsche Eigentumsrecht bestehen bleibt. Bilaterale Gespräche darüber gab es, besonders nach 1990 und nach der Entstehung des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs,8 aber lange beharrte die deutsche Seite auf der Position, dass die Einrichtungen, in denen sich das kriegsbedingt verlagerte Kulturgut befand, nur im Sinne einer Bewahrung und Nutzung damit arbeiten könnten, aber alles darüber hinaus, was in die Rechte eingriff, davon ausgeschlossen war.9 Ausgeschlossen waren deshalb lange Zeit Maßnahmen wie gemeinsame Katalogisierung oder Digitalisierung. Mit dieser Haltung sind freilich viele Chancen verpasst worden, die an der grundsätzlichen Situation nichts geändert, aber sie doch verbessert hätten, zumal es mit dem seit 2009 bestehenden Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog ein Austauschgremium zu diesen Fragen gab.10 Diese Chancen gab es tatsächlich. (Aufgrund der deutlich geringeren kriegsbedingt verlagerten Bestände in Polen gab es hier keinen vergleichbaren Gesprächskreis.) Zu erinnern sei an die russischen Versuche 2009, als die Allrussische Staatliche M.-I.-Rudominobibliothek für ausländische Literatur in Moskau Kontakt mit deutschen Bibliotheken aufnahm. Ziel war es, die Bestände gemeinsam zu katalogisieren bzw. sollten entsprechende bibliografische Daten der kriegsbedingt verlagerten Werke geliefert werden. In den deutschen Bibliotheken waren die alten Kataloge mit den vielen Informationen noch vorhanden. Es geschah seitens der deutschen Bibliotheken allerdings nicht viel Konkretes, zumal auch die politische Seite keine Öffnungsabsicht erkennen ließ. Diese Passivität war für die russischen Partner deutlich genug 8
https://www.preussischerkulturbesitz.de/fileadmin/user_upload_SPK/documents/ presse/pressemitteilungen/2015/151111_6_Pressedossier_10_Jahre_DRMD_Endfassung_11. Nov.pdf. 9 Siehr, Kurt: Beutekunst – kriegsbedingt verlagertes Kulturgut. Völkerrechtliche und international privatrechtliche Aspekte des Streits um deutsches Kulturgut in Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in: Heinrich Becker (Hg.): Schattengalerie – Symposium zur Beutekunst. Forschung, Recht und Praxis, Aachen 2010, S. 163–180. 10 Siehe: https://www.preussischer-kulturbesitz.de/schwerpunkte/kooperationen/deutschrussischer-bibliotheksdialog.html.
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und bedeutete für die deutsche Seite, in jahrelangen Verhandlungen erst zehn Jahre später die Türen wenigstens einen Spalt für kleine Projekte aufsperren zu können, für die 2009/10 die russische Seite ein großes Scheunentor geöffnet hatte, durch das jedoch keine deutsche Einrichtung hindurchging. Die Signale aus der Politik waren in den 2000er Jahren eindeutig und bezogen sich auf die auf deutscher Seite vertretene Rechtsposition: Das verlagerte Kulturgut sei deutsches Eigentum und deshalb verfügten die deutschen Einrichtungen darüber und niemand anderes, auch wenn das praktisch nicht durchgesetzt werden kann. Es verhält sich damit ein wenig wie das Titularkönigreich von Jerusalem: praktisch wertlos seit 800 Jahren, aber ein großer Titel, der irgendwann vielleicht konkrete Bedeutung zurückerlangen könnte im Sinne der bekannten Sentenz, dass der Ausgang der Geschichte immer offen ist. Doch wie lange sollte gewartet werden? Vielleicht lag diese Haltung an der prolongierten Sicht der Erlebnis- und Nachkriegsgeneration oder an der zu juristischen Sichtweise, die in solchen praktischen Fragen selten weiterhilft. Durch die Digitalisierung und die damit verbundenen Möglichkeiten virtueller Zusammenführungen von Sammlungsgut ändert sich diese Situation, die vor allem durch die Frage der Nutzung und Nutzungsmöglichkeiten und Vergabe der Rechteinformationen am Digitalisat geprägt ist, fundamental. Es entsteht mit der Digitalisierung ein Abbild des gedruckten Buches, aber ohne die Kreation von Gedanken, dem wissenschaftlichen Austausch und dem Schreibprozess. Die Ähnlichkeit bezieht sich eigentlich nur auf den technischen Prozess der Veröffentlichung und der Katalogisierung. Es bestehen also damit zwei Versionen eines Buches: die analoge Form und die digitale. Die digitale Form ist hierbei das originalgetreue Abbild und wird durch die beigegebenen Metadaten beschrieben. Es drückt dadurch die Bindung an eine Institution aus, an die besitzende und an Provenienzen, falls nachgewiesen oder im Buch ersichtlich. Was dann allerdings kaum mehr ersichtlich ist, ist die Wanderung des Buches im digitalen Format. Auf welchen Servern es gespeichert wird, wer es liest, bleibt im Regelfall unbekannt, außer es wird in der Wissenschaft oder anderen Bereichen rezipiert und in allen möglichen Kontexten bis hin zur touristischen Vermarktung verwendet. Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, dass besonders Archive mit ihren unikalen Materialien großen Wert darauf legen, die Verbindung Digitalisat-Metadatenbeschreibung bei Handschriften mit dem Nachweis der Herkunft unauflöslich zu lassen. Damit wird der Zweck verfolgt, auch ohne Quellenangabe anhand der im Bild gespeicherten Daten immer zu gewährleisten, dass die besitzende Einrichtung genannt bleibt. Doch es können auch diese Daten geändert werden. So muss allen bewusst sein, dass Digitalisate quasi ein Eigenleben haben, sobald sie veröffentlicht sind.
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Digitalisat, Digitalität und Erinnerung
Die zentrale Frage lautet, welchen erinnerungsgeschichtlichen Wert noch das Original hat und welchen Veränderungen es unterliegt, wenn Digitalisate von ihm weltweit abrufbar sind. Und nicht nur das: Sind die Digitalisate auch veränder- und kombinierbar, wenn die Lizenzen es zulassen? Wenn der Urheber seit mehr als 70 Jahren tot ist, fallen die Digitalisate unter Public Domain Mark 1.0, da das Urheberrecht erloschen ist. Anders als bei bisherigen gedruckten Editionen sind die Möglichkeiten der Weiterverwendung digitaler Dateien fast unbegrenzt, bis hin zu Anwendung Künstlicher Intelligenz. In Bezug auf die Möglichkeiten der Digitalisierung war es ein wichtiger Teil der Argumentation, bei den kriegsbedingt verlagerten Werke zu versuchen, über die Katalogisierung und Darstellung des Eigentums in den Katalogisaten zu bestimmen, was praktisch jedoch keinen Erfolg hatte, da die Einrichtungen, in denen dieses Kulturgut liegt, natürlich selbst bestimmten, wie damit umgegangen wurde.11 Die Digitalisierung und digitale Präsentation kriegsbedingt verlagerter Werke war nach der Katalogisierung ein weiterer wichtiger Punkt des Versuchs, nochmals auf Basis des Eigentumsanspruchs Einfluss darauf zu nehmen, ob dieses Kulturgut digitalisiert werden dürfe. Auch diese Initiative war nicht von Erfolg gekrönt. Die deutschen Institutionen hatten nur die Wahl, die digitale Veröffentlichung zu dulden oder daran mitzuwirken, ohne den Eigentumsanspruch zu negieren oder zu verletzen. Aufgrund der Open Access-Veröffentlichung historischer Werke wie Drucke und Handschriften und der freien Zugänglichkeit mussten neue Aspekte in die Diskussion einfließen. Dazu dürfen auch Debatten zum Welteigentum von Kulturgütern nicht außer Acht gelassen werden, Diese lassen die bisherige nationalstaatlich geprägte Auseinandersetzung über Eigentumsrechte mindestens diskussionswürdig erscheinen. Konsequent weitergedacht: Das Original unterliegt eigentumsrechtlichen Beschränkungen und Vorbehalten, die digitale Kopie, besonders als Public Domain, ist wirklich Weltkulturgut. Abschriften und Mikroverfilmungen gaben und geben nicht das Medium in der realen Wirklichkeit wieder wie das Digitalisat. Auch der Einwand, das Digitalisat sei einfach nur eine weitere Form der Vervielfältigung, greift zu kurz, wenn die hundertmal mehr Möglichkeiten des Digitalisats mit Abschriften 11
Siehe zur Debatte beispielhaft: Raulff, Ulrich: Der Wert des Originals (https://www.kulturstiftung.de/der-wert-des-originals/#:~:text=Das%20Original%2C%20so%20lehrt%20 der,ihre%20virtuellen%20Zweitformen%20%C3%BCberhand%20nehmen); Knoche, Michael: Was ist ein Digitalisat? (https://biblio.hypotheses.org/3599); Ceynowa, Klaus: Vom Wert des Sammelns und vom Mehrwert des Digitalisaten (https://www.degruyter. com/document/doi/10.1515/bfp-2015-0042/html?lang=de).
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oder Mikrofilmen verglichen werden. Durch diese Möglichkeiten birgt das Digitalisat erstmals als Kopie die Chance eines Eigenlebens, für das das Original noch weniger gebraucht wird als beispielsweise bei Abschriften. Mittels TEI-Codierung werden neue Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen Texten, Datenbanken u.a. geschaffen. Digitalisate werden Teile virtueller Forschungsumgebungen, durch Künstliche Intelligenz zu neuen, beim Original kaum vorstellbaren Möglichkeiten der Beforschung, des Vergleichs und der Fragestellungen entwickelt. Und zudem kann ein produzierter Volltext oder eine digitale Edition nach allen Regeln der Kunst ebenfalls weit mehr als bisherige Kopien vom Mikrofilm, Faksimile oder als gedruckte Edition. Der Einwand, man habe es also mit dem Digitalisat lediglich mit einer weiteren Form der Vervielfältigung zu tun, die dasselbe sei wie eine bessere Abschrift, ist nicht stichhaltig, wie mehrfach herausgearbeitet wurde.12 Jenseits der Debatten um Originalität, den Wert des Originals, ist anzunehmen, dass die objektungebundene Information in neuen Zusammenhängen zukünftig das Leitmedium sein wird.
Die Digitalisierung kriegsbedingt verlagerten Kulturguts in Sachsen
Der Freistaat Sachsen unterhält seit 2015 ein gut ausgestattetes und auf Nachhaltigkeit ausgelegtes Programm zur Digitalisierung von Drucken und Handschriften aus Einrichtungen des sächsischen Kulturerbes (Bibliotheken, Museen, Archive).13 Das Programm wird inzwischen auch von anderen Bundesländern nachgeahmt. Mit jährlich 2,75 Millionen EUR, davon weit mehr als eine reichliche Million direkt für diese Retrodigitalisierung (der Rest des Geldes für Personal, Archivierung der digitalen Dateien und Kauf von E-Books), steht genügend Geld zur Verfügung. Das Landesdigitalisierungsprogramm für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsen, wie es offiziell heißt, wird von der SLUB koordiniert und durchgeführt. Die Intention des Programms ist, vor allem kleineren Kulturerbeeinrichtungen zu ermöglichen, Kulturgut zu digitalisieren, die Digitalisate zu archivieren und zu präsentieren. Mit großem Erfolg: Bisher konnten weit mehr als 15 Millionen Digitalisate von 12
Siehe u.a. die Begriffsklärung: Sahle, Patrick: Digitales Archiv – digitale Edition. Anmerkungen zur Begriffsklärung (https://www.google.com/search?q=digitale+edition+unterschied+zu+gedruckter+text&rlz=1C1GCEB_enDE978DE979&oq=digitale+edition+unterschied+zu+gedruckter+&aqs=chrome.1.69i57j33i160l3.10672j0j7& sourceid=chrome&ie=UTF-8). 13 https://sachsen.digital/das-programm.
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Drucken, Handschriften, grafischen Medien und Fotografien erstellt werden. Die Seitenzugriffe bewegten sich im Jahr 2022 bei knapp 4,8 Millionen; die Zahl der Besucher bei mehr als 176.000. Nachdem die erste Laufzeit des Programms 2015/16, das immer parallel und damit zweijährig zu dem sächsischen Staatshaushalt läuft, beendet war, kam 2017 in einem der Gespräche zwischen dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und der SLUB das Thema der „kriegsbedingt verlagerten“ Werke und ihrer Digitalisierung auf. Dass dieser Schritt erfolgte, ist in seiner Bedeutung kaum zu ermessen. Da zur Universitätsbibliothek Wroclaw/ Breslau aus früheren Jahren Beziehungen bestanden14 und bekannt war, dass dort Drucke und Handschriften aus sächsischen Einrichtungen, besonders aus der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften Görlitz (OLB), aufbewahrt werden, wurde zunächst der Kontakt mit der UB aufgenommen. Dies wurde freundlich erwidert. Die UB Breslau informiert auch auf ihren Webseiten über die sichergestellten Bestände.15 Am 24. Januar 2018 fuhren aus der OLB Karin Stichel und aus der SLUB Simone Georgi und ich zur UB Breslau. Die Reise wurde dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland vorher angekündigt. Verdeutlicht wurde der polnischen Seite durch die SLUB, dass es sich um ein Gespräch auf Arbeitsebene handele mit dem Ziel der Digitalisierung kriegsbedingt verlagerter Bestände aus Mitteln des LDP. Liebenswürdig empfingen uns die Direktorin der Universitätsbibliothek Breslau, Frau Grazyna Piotrowicz, und die Leiterin der Sammlung des Altbestands, Frau Ewa Pitak. Es war ein wunderbares, sachliches und offenes Gespräch über die bestehenden Möglichkeiten. Die Stellung zur Rechts- und Eigentumsfrage am Kulturgut hatten beide Seiten vorher ausgeklammert, um das Gespräch nicht von vornherein unmöglich zu machen. Wir erhielten danach eine Führung durch die Bibliothek und das Digitalisierungszentrum. Wir Deutschen waren der Annahme, dass auch die polnische Seite das Thema der Digitalisierung in erster Linie politisch sehen würde. Umso wohltuender war es, dass die polnischen Kolleginnen es sehr unkompliziert machten. Ein Verständnis und eine Verständigung waren schnell hergestellt. In dem Gespräch am 24. Januar konnten wir uns schnell auf die Vertragsmodalitäten einigen und so kam es nach einigen Wochen zum Abschluss eines ersten Vertrags, der seitdem jedes Jahr verlängert wird. Ermutigt durch dieses Projekt konnte der Autor im März 2022 mit der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau einen weiteren Vertrag 14 Durch die Digitalisierung der jüdischen Machsor-Handschrift, von der ein Band (nicht kriegsbedingt verlagert) sich in der UB Breslau, der andere an der SLUB befindet. Siehe: https://www.slub-dresden.de/entdecken/handschriften/machsor-mecholl-haschana. 15 https://www.bu.uni.wroc.pl/de/bestaende/sichergestellte-bestaende.
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zur Digitalisierung kriegsbedingt verlagerter Werke abschließen. Diese lieferte im Jahr 2022 zwei Festplatten mit Digitalisaten „kriegsbedingt verlagerter“ Werke aus der Oberlausitz, darunter der seit 1945 schmerzlich vermisste Band des handschriftlichen Reisetagebuchs des Adolph Traugott von Gersdorf aus dem Jahre 1783. Im Rahmen des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs gelang es, Ende 2019 einen Vertrag mit der Russischen Staatsbibliothek zur Digitalisierung von Musikalien aus dem Besitz der Sächsischen Landesbibliothek zu schließen, dem ein kleineres weiteres Projekt folgte.16 Die Zusammenarbeit mit den polnischen Bibliotheken gestaltete sich stets vorbildlich und eng. Bitten um Digitalisierung von Drucken sächsischen Inhalts, die in Deutschland nicht überliefert sind, an die Nationalbibliothek in Warschau waren nach zwei bis drei Wochen erledigt und die Drucke online; das polnische Nationalarchiv antwortete ausführlich noch am nächsten Tag der Anfrage. Inzwischen sind auch weitere Bibliotheken und Archive in Polen nach „kriegsbedingt verlagerten“ Werken durch die SLUB gefragt worden. So wird deutlich, dass auf diesem Wege der Sammlungsbestand vor 1945 durch die Digitalisate freilich nicht wiederhergestellt, aber doch eine große Annäherung erreicht werden kann. Durch diese Arbeit an der Digitalisierung ist eine transnationale, gelebte Arbeitskultur entstanden, die für die Nutzerinnen und Nutzer der Digitalisate wertvoll ist und die spätere Generationen noch ebenso dankbar erkennen werden. Präsentiert werden die Digitalisate sowohl in den polnischen Einrichtungen als auch auf den Webseiten der SLUB.17 In den Metadaten jedes Digitalisats wird der Eigentümer des Originals angegeben. Dies bedurfte weiterer Abstimmungen mit der UB Breslau (und seit 2022 auch der JB Krakau), da die Wünsche der drei beteiligten Einrichtungen – UB Breslau, SLUB Dresden und Oberlausitzische Bibliothek Görlitz – berücksichtigt werden mussten. Für die deutsche Seite durfte aufgrund der Rechtsauffassung keine Vokabel in den Metadaten erscheinen, die diese Rechtsauffassung beeinträchtigt; die UB Breslau wollte ebenso berechtigt dargestellt wissen, dass die Bücher sich rechtmäßig in ihrer Bibliothek befinden. Die drei Partner entwarfen eine „Konkordienformel“, salomonisch angelegte Metadaten, die jedoch die Geschichte der „kriegsbedingt verlagerten“ Bestände widerspiegeln. So ist in den Metadaten der SLUB vermerkt: „seit 1945 UB Breslau/Wroclaw, Provenienz Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der 16
https://blog.slub-dresden.de/beitrag/2018/11/18/von-dresden-nach-moskau-undzurueck-kriegsbedingt-verlagerte-werke-aus-der-slub-werden-digitalisiert. Die Digitalisierung erfolgte in zwei Teilprojekten und wurde aus dem Landesdigitalisierungsprogramm finanziert. 17 https://sachsen.digital/sammlungen.
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Wissenschaften“ (und folgend die Altsignatur). Diese Beschreibung stellt den Fakt dar, ohne auf die Eigentumsfrage einzugehen. Bei den Urhebern des Digitalisats werden die UB Breslau und die SLUB gemeinsam genannt. Die UB Breslau benennt den Herkunftsort als Provenienz in den Metadaten. Aus Breslau sind in dem Projekt mittlerweile 920 Handschriften und Inkunabeln Görlitzer Provenienzen (Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, dem Ratsarchiv, der Milichschen Stadtbibliothek usw.) digitalisiert.18 Auf Sachsen.digital, der Präsentationsseite des Landesdigitalisierungsprogramms,19 sind sie ebenso zu finden wie in den Digitalen Sammlungen der Universitätsbibliothek Breslau.20 Die Menge der noch zu digitalisierenden Handschriften und Drucke ist trotz der bereits vorgenommenen Arbeiten weiterhin groß, zumal durch die Kolleginnen und Kollegen in Breslau noch weitere Handschriften und Inkunabeln ermittelt werden konnten, von denen auf deutscher Seite unbekannt war, dass sie überhaupt noch existieren.
Recherche und Nachweis von kriegsbedingt verlagertem Kulturgut
Am nachvollziehbarsten ist es, die Bedeutung vor allem der landeskundlichen Handschriften anhand von einschlägigen Beispielen verdeutlichen, die einen bedeutenden Teil des schriftlichen Gedächtnisses der Oberlausitz, also Ostsachsens, darstellen. Ein guter Teil des geschichtswissenschaftlichen Herzens der Oberlausitz befindet sich also seit 1945 in Polen. Welchen Wert sie haben, zeigt die Einschätzung des Präsidenten der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, Dr. Steffen Menzel, der über die bisher digitalisierten Bestände aus Görlitz (heute UB Breslau) schreibt: In der Tat sind darunter besonders wertvolle Handschriften, die nun wieder zugänglich sind. Ich kannte viele bisher nur als Zitate aus der älteren Literatur (Jecht, v. Boetticher, Knothe usw.), jetzt kann ich sie wieder einsehen und benutzen! Und so geht es sicher vielen Historikern! Also ein riesiger Gewinn für die Forschung.21
Der Verlust 1943/45 bis heute wurde erst 70 Jahre später mit Hilfe der Digitalisierung zumindest teilweise kompensiert. Die Nachkriegszeit, so wissen 18 Stand 20.2.2023. 19 https://sachsen.digital/sammlungen/kriegsbedingt-verlagerte-bestaende-goerlitzerprovenienzen-seit-1945-in-der-ub-breslau-wroclaw. 20 Der Link auf die digitalen Sammlungen der UB Breslau: https://www.bibliotekacyfrowa. pl/dlibra?language=en. 21 Schreiben Dr. Steffen Menzel an den Verfasser, 23.4.2021.
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wir auch aus anderen Kontexten, ging also bei diesem Thema auch erst jetzt zu Ende, wenn die Frage nach dem Eigentum der Drucke und Handschriften ausgeklammert wird. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Bemühungen zur Ermittlung der Aufbewahrungsorte von deutscher Seite nach 1990 nicht so intensiv vorangetrieben wurden, wie es möglich gewesen wäre. Dazu passt auch, dass die UB Breslau zum Beispiel Bücher aus der Milichschen Stadtbibliothek schon vor längerer Zeit digitalisiert hatte, dies aber in Deutschland nicht bekannt war, sondern erst durch die Kooperation mit der UB Breslau erkannt wurde. Welches gedruckte Schriftgut (z.B. Inkunabeln) sich in Breslau befand, war u.a. durch die Nachweise in den gedruckten Katalogen seit den 1950er Jahren bekannt. Diese Kataloge hat dann die Oberlausitzische Bibliothek der Wissenschaft für Recherchen genutzt und die an der UB Breslau erhaltenen und bekanntgewordenen Handschriften für die eigene Arbeit dokumentiert. Mit der Möglichkeit der schnellen und unkomplizierten Finanzierung der Digitalisierung bekamen die Anfragen in polnischen Bibliotheken natürlich eine ganz andere Wirkmacht als die bloße Bitte um Recherche nach „kriegsbedingt verlagerten“ Werken. Über die Görlitzer Verluste aus der Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, dem Ratsarchiv oder auch der Kulturhistorischen Sammlungen (vormals Kunstsammlungen und andere Sammlungen) informieren verschiedene Publikationen.22 Jasper von Richthofen, der Direktor der Sammlungen, hat zum Beispiel über die Kriegsverluste der Naturkundlichen und kulturhistorischen Sammlungen publiziert.23 Ausgang jeder Kenntnis über die Verluste sind die historischen Inventare und Kataloge. 500 mittelalterliche Urkunden des Ratsarchivs zählen immer noch zum Totalverlust 1945, aber nicht auszuschließen ist, dass noch Einzelstücke in Sammlungen auftauchen. Richard Jecht hat Anfang des 20. Jahrhunderts einen Zettelkatalog für die Urkunden des Ratsarchivs anfertigen lassen, der bis heute das wichtigste Auskunftsmittel über den ursprünglich vorhandenen Bestand ist. Das Görlitzer Ratsarchiv gehörte vor 1945 zu einem der am besten erhaltenen Archive in Deutschland, da es vorher kaum Kriegsverluste erleiden musste. Allerdings macht es Jecht der heutigen Generation von Archivaren und Bibliothekaren nicht einfach. Er war gleichzeitig Ratsarchivar und Sekretär der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften und hat 22 https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Oberlausitzische_Bibliothek_Der_Wissenschaften_(Goerlitz). 23 Siehe allgemein: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland: Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Köln 2017. Dazu auch: Richthofen, Jasper von: Die Görlitzer Sammlungen. Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 24, 2017, S. 301–305.
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als solcher zwischen beiden Sammlungen Archivalientausche vorgenommen, die seiner Überzeugung nach richtig waren. So kamen Archivalien aus dem Ratsarchiv in das Archiv der Oberlausitzischen Gesellschaft und umgekehrt und dies teils unter Vergabe neuer Signaturen und Archivalien-Nummern für die Handschriften. Ist es schon für die deutschen Kollegen in Görlitz schwierig, dies nachvollziehen zu können, muss das umso mehr für die polnischen Kollegen gelten. So wurden durch die polnischen Kollegen in Deutschland verloren geglaubte Bände aus der Milichschen Stadtbibliothek gefunden, besonders der Formate 4° und 8°. Darunter sind auch die sogenannten Urkundenbücher des Ratsarchivs, die unter Rudolf Jecht aus der Milichschen Bibliothek in das Ratsarchiv als Varia überführt wurden und von den polnischen Kollegen unter der Milichschen Signatur katalogisiert wurden und nicht unter der des Ratsarchivs. Die Nachvollziehbarkeit der Wanderung der Bücher kann also durch solche Unklarheiten, konkret durch vergebene Signaturen, erschwert oder sogar unmöglich werden. Die polnischen Kollegen nahmen die ursprüngliche Signatur der Milichschen Bibliothek zur Katalogisierung als Grundlage, während die deutschen Kollegen nach der letzten bekannten Signatur, der des Ratsarchivs suchten. 80 Prozent der Görlitzer Sammlungsbestände allgemein gehören zu den Kriegsverlusten; ob sie physisch vernichtet wurden oder nicht, ist häufig nicht bekannt.24 Naturgemäß, aufgrund der geografischen Lage, befinden sich in polnischen Bibliotheken vor allem Drucke und Handschriften aus Görlitz und Umgebung bzw. aus dem „Reichenauer Zipfel“, der das einzige Territorium Sachsens war, der 1945 von Gebietsabtrennungen an Polen betroffen war. Die Auslagerungen aus sächsischen Einrichtungen begannen 1942/43 mit dem Archivgut, das in das Stift Joachimstein gelangte (bei Radmeritz). Nach der Unterzeichnung des Vertrags über die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ 1950 arbeiteten beiden Staaten, DDR und Polen, an einem Archivalienaustausch, der 1961/62 dazu führte, dass Görlitz 21.174 Archiveinheiten zurückerhielt. Das älteste Stadtbuch Görlitz’ von 1350 zum Beispiel verblieb aber wohl in Lauban in einer Filiale des Breslauer Staatarchivs. Bisher verschollen ist Nicolaus Günzels Chronik von Görlitz (um 1420) nebst anderen chronikalischen Aufzeichnungen aus der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften Görlitz (Signatur L. I. 262) wie manches andere auch. Aber vieles konnte inzwischen aufgefunden werden oder wurde in Deutschland bekannt, dass es in polnischen Einrichtungen überliefert ist. 24
Richthofen, Jasper von: Kriegsverlust und Beutekunst. Der schwierige Umgang mit kriegsverlagerten Kulturgütern am Beispiel des Kulturhistorischen Museums Görlitz Görlitzer Magazin 23, 2010, S. 67–78, hier S. 67.
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„Bibliomigrancy“
Wird an die Geschichtsforschung der Oberlausitz gedacht, fallen die Namen Bartholomäus Scultetus, Johann Gottlieb Kloß, Johann Carl Otto Jancke, Alfred Zobel, Gustav Köhler, Richard Jecht und andere. Die letzten beiden waren die Bearbeiter des von 1851 bis 1928 herausgegebenen „Codex diplomaticus Lusatiae superioris“, also der Urkunden der Oberlausitz. Er stellt eine besondere Form der „Bibliomigrancy“ dar, da sie nicht nur einen, sondern einen doppelten Verlust beinhaltet. Es handelt sich um die fehlenden 500 Urkunden des Mittelalters, die noch den Bearbeitern des „Codex diplomaticus“ zur Verfügung standen, ebenso wie die Abschriften des 18. Jahrhunderts dieser Urkunden durch Johann Gottlob Zobel. Diese Abschriften gelangten in die Milichsche Stadtbibliothek Görlitz. Von dort wurden sie im Zweiten Weltkrieg auf das Gebiet des heutigen Polen verlagert, wo sie 1948 in der UB Breslau katalogisiert wurden. Andere Verzeichnisse Zobels tragen den Stempel der Oberlausitzischen Gesellschaft. Seit 1945 lagen beide, die Urkunden selbst und die Abschriften nicht mehr vor. In der Ausgabe „Regesten Kaiser Friedrichs III.“ von 1998 hieß es deshalb, dass beide nicht mehr eingesehen werden könnten, da sie zu den Kriegsverlusten zählen würden.25 Die erhaltenen Abschriften stellen damit eine äußerst wertvolle Quelle dar. Es gab aber auch andere Kriegsverluste, die allerdings im Folgenden keine Verluste waren, sondern ebenso „Migrancy“ von Büchern im Krieg. Wie so oft gibt es immer Verluste durch die Ausleihe von Handschriften und Drucken, was früher besonders für Gelehrte häufig zwischen den Bibliotheken praktiziert wurde (und heute undenkbar ist). 1945 wurde in Görlitz die schon erwähnte Handschrift auf die Verlustliste gesetzt: „Einige Bemerkungen aus einer Reise im Harz in der Gesellschaft meiner Frau und Herrn von Meyer“ [1788 oder 1794; über Leipzig, Halle, Dessau, Magdeburg, Göttingen und Kassel] mit Abbildungen und meteorologischen Daten“. So lauten die Angaben aus der Jagiellonen-Bibliothek Krakau. Einen Verfasser nennen die polnischen Kataloge nicht. Es handelt sich jedoch bei der Handschrift um eine lange gesuchte aus dem Bestand der Bibliothek der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften. Dieses Manuskript ist nämlich der vierte Band des Reisejournals des Traugott Adolph von Gersdorf, das 1942 nach Breslau verliehen wurde und dessen Spur sich in den Kriegs- und Nachkriegswirren verlor. Andere Bände befinden sich noch in Görlitz. „Es ist schon lange danach gesucht worden, auf Krakau ist bisher noch keiner gekommen. Das nährt die Hoffnung, dass vielleicht auch der verschollene Band des Briefwechsels Gersdorfs 25 Eibl, Elfie-Marita: Die Regesten Kaiser Friedrichs III., Wien/Weimar/Köln 1998, S. 12.
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(Band IV L–Q) auftauchen könnte.“26 So hieß es nach Bekanntwerden seitens der Oberlausitzischen Gesellschaft, dass auch in Krakau Provenienzen sächsischer Bibliotheken liegen. In der Jagiellonen-Bibliothek Krakau wurden nicht nur Bestände aus Görlitz gefunden, sondern auch solche aus dem Stift Joachimstein, dem Kaiser-Friedrich-Museum in Görlitz, der Kirchenbibliothek Radmeritz und der Bibliothek v. Schindel im Schloss Schönbrunn/Niederschlesien u.a.m. Bei den beiden letzteren Sammlungen ist klar, wie sie geborgen wurden: Sie befanden sich in Kirchen und Schlössern östlich der Neiße. Zur „Bibliomigrancy“ gehört jedoch auch, dass Bücher, ohne dass sie bewegt werden, ihre „Staatsangehörigkeit“ wechseln. Görlitz gehörte von 1815 bis 1945 zu Preußen und nicht zu Sachsen. Es ist also komplizierter als es auf den ersten Blick aussieht, besonders für die polnischen Bibliothekare. Es handelt sich um eine staatsbürgerschaftliche Migration von Menschen und Büchern, ohne den Ort je verlassen zu müssen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass erst die Nationalsozialisten 1934 eine deutsche Staatsbürgerschaft einführten; vorher gab es nur die Staatsbürgerschaften der deutschen Gliedstaaten wie Preußen, Sachsen, Bayern usw. Diese „Migration an demselben Ort“ ist besonders für die polnischen Einrichtungen bei der Berücksichtigung der Provenienzen wichtig, da die kriegsverlagerten Handschriften und Drucke aus dem preußischen und nicht sächsischen Gebiet stammten. Aus der Jagiellonen-Bibliothek Krakau ist eine weitere Form der Bibliomi grancy zu verzeichnen, die allerdings keine kriegsbedingt verlagerten Werke ist, dennoch Bibliomigrancy beschreibt. Die Jagiellonen-Bibliothek hatte im 19. Jahrhundert, als die Dresdner Königliche Öffentliche Bibliothek, also die heutige SLUB, und Leipziger Universitätsbibliothek Dubletten aussonderten,27 unter diesen die fehlenden Polonica aus dem 17. und 18. Jahrhundert gekauft und in ihren Bestand aufgenommen. Die Bücher „wanderten“ von Dresden und Leipzig nach Krakau. Bei der erbetenen Recherche nach „kriegsbedingt verlagerter“ Literatur wies die Jagiellonen-Bibliothek extra und freundlicherweise auf diese Bücher hin, ohne dass dies angefragt war. Denn es stellte sich heraus, dass einige der Titel, die im 19. Jahrhundert als Dubletten ausgesondert wurden, durch Verluste im Zweiten Weltkrieg – die Leipziger und die Dresdner Bibliotheken erlitten Bombentreffer – nicht mehr vorhanden waren, so dass sie nur noch in Krakau existierten und zwar mit den gelöschten Stempeln der beiden deutschen Bibliotheken. Durch die Digitalisierung kehren diese Du bletten quasi wieder heim an ihren ursprünglichen Standort, verbleiben als 26 27
Schreiben Dr. Steffen Menzel an den Verfasser, 23.4.2021. Siehe u.a.: Sander, Torsten: Die Auktion der Dubletten der kurfürstlichen Bibliothek 1775 bis 1777. Ein Beitrag zur Geschichte des Buchauktionswesens, Dresden 2006.
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Originale aber in Polen. „Bibliomigrancy“ und „Digimigrancy“ können also in ganz vielversprechender Beziehung stehen, wie diese Beispiele zeigen.
Die „Digimigrancy“ und ihre Objekte
Jahrhunderte in Görlitz, wurden die dargestellten originalen Bestände 1943 verlagert und gelangten dann an die heutigen Standorte (und bisweilen zurück wie die 1961/62 nach Görlitz zurückgebrachten Archivalien). Abgesehen von Fragestellungen an das physische Buch, die anhand des herkömmlichen Digitalisats nicht beantwortet werden können, oder Fragen, die erst die zukünftige Wissenschaft in ihrem Erkenntnisfortschritt stellen kann, soll das Thema „Bibliomigrancy/Digimigrancy“ im Verhältnis zum Original aufgegriffen werden. Letztere ist im eigentlichen Sinne Datamigrancy, da Digitalisate nichtkörperliche Daten sind. Besonders bei kriegsverlagerten Werken, um die jahrzehntelang Auseinandersetzungen über das Eigentum geführt wurden und die nach Ansicht Deutschlands noch nicht geklärt sind, ist die Frage virulent, in welchem Verhältnis Provenienz, Eigentum und Inhalt zur Information der Texte in diesen Büchern und Handschriften selbst stehen. Wie weit die Entkopplung des physischen Mediums Buch von der Information, die in ihm ist, sich vollziehen kann, zeigt Google Books. Nur die wenigsten interessiert, aus welcher Bibliothek der Druck stammt. Zwar handelt es sich „nur“ um Drucke und nicht um Handschriften, was, abgesehen von dem grundsätzlichen Unterschied des Medientyps, auch hinsichtlich der Volltextfähigkeit derzeit noch Unterschiede mit sich bringt. Macht die automatisierte Volltexterkennung von Handschriften weiter solche Fortschritte wie in den letzten Jahren und werden sie in virtuelle Forschungsumgebungen eingebunden, ist es nur eine Frage der Zeit, wann das Thema Loslösung und Trennung von Medium und Information auch für Handschriften virulent wird. Sinken damit die Handschriften zu bloßen musealen Objekten herab, wie es bei der Verfilmung historischer Tageszeitungen geschah? Oder wird es weiterhin einen starken Zug zum Original geben, wie bisweilen gemeint wird? Wer kennt keine Bibliotheken, in denen die großformatigen Zeitungsbände nach der Verfilmung als nicht mehr benutzbar in den Magazinen blieben und sie keiner mehr bestellen kann? Auch für die Digitalisierung werden bei historischen Tageszeitungen die Filme genutzt und nicht die Originale. Kurzum: Welchen Wert hat das Original noch? Nicht zuletzt besteht auch ein Problem, das von den Generationen unterschiedlich betrachtet wird. Die „digital natives“, die um das Jahr 2000 geborene Generation, die daran gewöhnt sind, Informationen irgendwoher
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zu nehmen, aus welcher Ecke der Welt auch immer, werden zwangläufig eine andere Auffassung zum physischen Besitz der Informationsträger, also Bücher und Handschriften, entwickeln. Dieser Generation fehlt auch die emotionale Beziehung zum Zweiten Weltkrieg, da sie erst auf die Welt kam, als die „Erlebnisgeneration“ zum Beispiel in der eigenen Familie schon abgetreten war. Für die erlebnis- und noch emotional gebundene Generation steht die Bindung des verlagerten Bestandes oft im Vordergrund, während die nachfolgende Generation möglicherweise eher den Nutzungsaspekt des Digitalisats in den Vordergrund stellt; eventuell auch aufgrund der mehr als nun fast 80 Jahre währenden erfolglosen Bemühungen um eine Rückkehr der Bestände. Immerhin sind Handschriften und Drucke aus ihren historisch gewachsenen Beziehungen gerissen worden. Aber auch hier wird die Digitalisierung zumindest virtuelle Abhilfe schaffen. Es muss deutlich gesagt werden: Bibliotheken, Archive und Wissenschaft sind zunächst froh, die jahrzehntelang vermissten Handschriften und Drucke digital nutzen zu können, auch wenn der Wunsch besteht, die Originale wieder an den historischen Orten im Kontext der analogen Sammlung zu sehen, also im nichtbibliothekarischen Sinne autopisch. Alle sind realistisch genug zu wissen, dass eine Rückgabe zumindest auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist. Die Digitalisierung war der entscheidende Impetus für diesen Bewusstseinswandel. So lange die Nutzung an die physische Fessel des Buches gebunden war, an die Reisen ins Ausland zur Nutzung, gewissermaßen abhängig zu sein davon, dass das Buch dann auch genutzt werden darf, so lange war das Bestehen auf die physische Rückgabe der „kriegsbedingt verlagerten“ Drucke und Handschriften ohne wirkliche Alternative. Von den Fesseln der Physis befreit, ortsund zeitunabhängig nutzbar, verlor das Original seinen Wert insofern, als dass die Nutzung nun auf anderem Wege und immer möglich war. Dem Original kommt damit die vorrangige Eigenschaft der Nutzung abhanden und es wird beschränkt auf seine Funktion als Kulturgut. Die Nutzung kriegsbedingt verlagerten Kulturguts unterscheidet sich damit nicht von der Nutzung anderer retrodigitalisierter Quellen. Die Bindung zwischen Kulturgut und Eigentümer scheint jedoch von der Digitalisierung nicht verändert zu werden, zumindest nicht kurzfristig. Dieses entscheidende Thema, was bis hin zu Anwendungen der Künstlichen Intelligenz reicht, könnte lediglich spekulativ und im Vergleich mit anderen Digitalisaten vertieft werden, da solche Anwendungen bei den Digitalisaten kriegsbedingt verlagerter Werke noch nicht existieren. Der Ausblick darauf sollte jedoch unbedingt genannt werden, da er der wesentliche Schritt über alle bisherigen Möglichkeiten hinaus ist und wir die Perspektivenbei anderen Digitalisaten deutlich erkennen.
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Das Digitalisat als Träger eines lebendigen Kommunikationsnetzwerks
Immer weniger werden zukünftig in Forschung und Citizen Science das Bild eines Buchs als TIFF oder JPG relevant sein, sondern die daraus erstellten Volltexte. Immer mehr wird die Beziehung Eigentümer – Digitalisat – Rezeption aufgelöst. Spätestens dann, wenn aus dem Buch ein automatisch generierter Volltext wird, hat die Entkopplung stattgefunden. Vielleicht nicht für die Eigentümereinrichtung, aber für die Leserinnen und Leser, die Stichwörter im Internet suchen, zu einem Volltext gelangen und diesen verwenden. Und dies nicht nur bei Drucken, sondern auch zunehmend bei Handschriften, wenn die Handschriften-OCR weiter optimiert wird.28 Und der bloße Volltext ist nicht das Ende, aufgrund der Lizenz Public Domain Mark 1.0 bei urheberrechtsfreien Werken unterliegen diese Texte keinem Schutz. Sie können von jedem verändert, „geremixed“ (mit Teilen oder ganzen anderen Texten, Bildern, Tönen usw. kombiniert) und kommerziell verwendet werden. Und dies ist ein entscheidender Unterschied und eine große Erweiterung der bisherigen editorischen Rezeption. Ist die digitale Kopie des Buches wie dargestellt tatsächlich nur im Prinzip vergleichbar, findet die Kreation neuer Texte, der gesamte Forschungskreislauf am Text statt, nachgelagert bei dem Umgang mit den Digitalisaten. Dieser Umgang reicht von bloßer Rezeption bis hin zu vollständig neuen Kompilationen und Textbearbeitungen, sodass der Ursprungstext nur noch als Grundlage zu bezeichnen ist. Was hieraus entstehen wird, können wir noch gar nicht abschätzen und wird in zwanzig Jahren Thema eigener Tagungen sein. Einen kleinen, bisweilen spielerischen Eindruck kann bei der Programmierung von Apps bei Hackathons gewonnen werden, bei denen aus Digitalisaten völlig neue Anwendungen entstehen. Mit Anwendungen, virtuellen Forschungsumgebungen, gespeist aus Volltexten und Anreicherungen, sind Editionen mehr zu vergleichen. Wie bereits geschildert, führt die Digitalisierung zur Trennung von Medium und Information, zumal wenn die Informationen weiterverarbeitet werden und zum Beispiel durch OCR, Digital Humanities usw. einen neuen Werkcharakter ausbilden; schon fast ein eigenständiges Werk. Nicht mehr das Buch ist das Objekt der Migration, sondern die Informationen als Datensets. Sowohl bei der Entstehung und nach der Veröffentlichung als auch bei der Arbeit mit den Digitalisaten des originalen Buches entstehen jeweils
28 Die SLUB nutzt dafür die freie Software Larex. Siehe: https://github.com/OCR4all/ LAREX.
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neue, lebendige Kommunikationsnetzwerke. Wissenschaft und/oder Bürgerwissenschaft transkribieren, taggen, edieren, verknüpfen mit anderen Informationen – es werden sogar neue Werke mit eigenem Werkcharakter mit einer „Schöpfungshöhe“ entstehen, wie es im Deutschen heißt. Auch die Möglichkeiten der Zugänglichkeit, der Popularisierung, ändern sich damit. Nicht unbedingt der Text steht dabei im Vordergrund, sondern die Einbettung in andere Korpora aller Art bis hin zu Apps, die bisweilen sogar spielerisch solche Inhalte weitergeben und dafür werben. Wir können also auf die Digimigrancy der nächsten Jahrzehnte gespannt sein. Literaturverzeichnis Burgemeister, Burghard: Zu praktischen Fragen der Rückführung des deutschen Bibliotheksgutes, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 1993, Sonderheft 56, S. 86–104. Deinert, Mathias/Hartmann, Uwe: Enteignet, entzogen, verkauft. Zur Aufarbeitung der Kulturgutverluste in SBZ und DDR, Berlin/Boston 2022. Eibl, Elfie-Marita: Die Regesten Kaiser Friedrichs III., Wien/Weimar/Köln 1998. Hamann, Olaf/Jacobs, Stephanie: Kriegsbedingt verlagertes Kulturgut und die Chancen digitaler Sammlungsrekonstruktionen. Bestände aus Moskau und Leipzig finden im Netz zusammen, in: Gutenberg-Jahrbuch 95, 2020, S. 27–38. Hartmann, Uwe: Kulturgüter im Zweiten Weltkrieg. Verlagerung-Auffindung-Rückführung, Magdeburg 2007. Richthofen, Jasper von: Kriegsverlust und Beutekunst. Der schwierige Umgang mit kriegsverlagerten Kulturgütern am Beispiel des Kulturhistorischen Museums Görlitz, in: Görlitzer Magazin 23, 2010, S. 67–78. Rudert, Thomas/Lupfer, Gilbert: Die „Schlossbergung“ in Sachsen als Teil der Bodenreform 1945/46 und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, in: Dresdener Kunstblätter 56, 2012, S. 114–122. Sander, Torsten: Die Auktion der Dubletten der kurfürstlichen Bibliothek 1775 bis 1777. Ein Beitrag zur Geschichte des Buchauktionswesens, Dresden 2006.
Links Deutsches Zentrum Kulturgutverluste – Wichtige Begriffe (Februar 2023) https://sachsen.digital/sammlungen (Februar 2023) https://sachsen.digital/sammlungen/kriegsbedingt-verlagerte-bestaende-goerlitzerprovenienzen-seit-1945-in-der-ub-breslau-wroclaw (Februar 2023)
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https://www.slub-dresden.de/entdecken/handschriften/machsor-mecholl-haschana (Februar 2023) https://www.kulturgutverluste.de/Webs/DE/Stiftung/Geschichte/Index.html;jsessionid=9DE07E36F7A3F7683326F93D75E13BE6.m1
Von der Bücherwand in den Zettelkatalog
Wie Teile einer romantisch-komparatistischen Büchersammlung des 19. Jahrhunderts an Bibliotheken in Polen gelangten Theresa Mallmann Abstract Der Schriftsteller Ludwig Tieck (1773–1853) besaß eine berühmte, abertausend Bände umfassende Privatbibliothek. Während Tiecks romantisches Oeuvre weiterhin rezipiert wird, geriet seine 1849 in einer großen Auktion verkaufte Büchersammlung weitgehend in Vergessenheit. Durch die Versteigerung wurde die Einheit der Bibliotheca Tieckiana aufgelöst und im Fall mancher Bände eine „Migrationsgeschichte“ eingeläutet, die sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erstrecken sollte. Die Rekonstruktion der Verkaufsgeschichte von Tiecks Bibliothek gewährt nicht nur einen Einblick in ein bis dato unbeleuchtetes Kapitel europäischer Buchhandelsgeschichte, sondern ermöglichte es auch, Teilbestände der Sammlung an polnischen Bibliotheken zu ermitteln und die enthaltenen Besitzspuren von Tieck und weiteren Vorbesitzern zu dokumentieren. Erstmals seit ihrem Verkauf 1849 konnten diese Bücher durch die Erfassung in einer Datenbank in ihrem ursprünglichen Kontext – einer Schriftstellerbibliothek aus dem Zeitalter der Romantik – sichtbar gemacht werden. Bei der Autopsie der Bände wurden auch Exemplarspezifika wie Widmungen, Besitzvermerke und Marginalien dokumentiert. Die enthaltenen Lesespuren Tiecks erlauben Rückschlüsse auf die Lektüre- und Arbeitspraxis eines komparatistisch orientierten Herausgebers, Autors und Übersetzers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch die Provenienzgeschichte vieler Bände konnte im Zuge der Autopsie ermittelt werden. Im Fall der Teilbestände von Tiecks Bibliothek, die in diesem Beitrag behandelt werden, mündet sie im heutigen Polen. Die beiden Pfade, auf denen Bücher Tiecks an polnische Bibliotheken gelangten, können als typische „Bibliomigrationsrouten“ von Deutschland nach Polen bezeichnet werden. Ihre Standort- und Besitzwechsel sind aufs Engste mit der Geschichte der beiden Länder im 20. Jahrhundert verwoben und illustrieren ein Stück deutsch-polnische Bibliotheksgeschichte.
Die Bibliotheca Tieckiana vor ihrer Zerstreuung
1773 als Sohn eines Seilermeisters in Berlin geboren, zählte Tieck zu den prominentesten Köpfen der Romantik in Deutschland. Als einer der ersten freien Schriftsteller bediente er den zeitgenössischen Buchmarkt mit einer regen © Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_017
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Novellenproduktion, war in den Jahren 1825 bis 1842 als Dramaturg am Dresdner Hoftheater beschäftigt und unterhielt einen berühmten Salon, in dem sich Gäste aus ganz Europa einfanden. Seine Vorleseabende am Dresdner Altmarkt zählten zu den „Sehenswürdigkeiten“ der Stadt und wurden in einem Atemzug mit der Sixtinischen Madonna in der Dresdner Gemäldegalerie genannt.1 Zudem war Tieck bei seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als Büchersammler bekannt. „Hörte er, daß irgendwo ein seltenes Buch, besonders eine uralte Shakespeare-Ausgabe zu kaufen sei, dann ließ er Besuche, Arbeiten, Theaterproben – Alles im Stich […] und zahlte mit der ihm eigenen Sorglosigkeit in Geldsachen, was ihm für das geliebte Buch abverlangt wurde“2, so erinnert sich die Schauspielerin Karoline Bauer an Tiecks Bibliomanie. 1841 übersiedelte Tieck von Dresden nach Berlin und trat dort in den Dienst Friedrich Wilhelm IV. Gemeinsam mit den Brüdern Grimm, Friedrich Schelling und weiteren Künstlern und Gelehrten bildete Tieck in der Zeit des Vormärz ein Zentrum der Altromantik und konservativen Gelehrsamkeit um den preußischen König. Im Gegenzug sicherte dieser Tiecks finanzielles Auskommen im Alter mit einer großzügigen Pension ab. Trotz dieser Besoldung – Tieck erhielt ab 1841 jährlich einen Betrag von 1000 Talern – entschloss er sich im Jahr 1849 zum Verkauf seiner zu diesem Zeitpunkt etwa 17.000 Bände umfassenden Bibliothek. Was den 76-jährigen Autor zu dem drastischen Schritt motivierte, sich von seiner über Jahrzehnte zusammengetragenen Sammlung zu trennen, bleibt im Dunkeln. Fakt ist, dass die tiecksche Privatbibliothek unter den Augen ihres einstigen Besitzers versteigert wurde. Als Auktionator trat der Berliner Antiquar Adolf Asher (1800–1853) auf. Vom 18. Dezember 1849 bis zum 10. Januar 1850 wurden die Bücher öffentlich versteigert und an Bibliotheken und Einzelpersonen aus ganz Europa verkauft. Die materielle Einheit von Tiecks Sammlung wurde durch die Auktion endgültig aufgelöst. Von 2014 bis 2023 bemühte sich ein Forschungsprojekt an der Universität Wien um die Rekonstruktion von Tiecks Bibliothek, um diese zwar nicht als materielle, jedoch als virtuelle Einheit in Form einer Datenbank wiederherzustellen.3 Wichtigstes Hilfsmittel bei der Rekonstruktion ist der 362 Seiten umfassende Auktionskatalog, der anlässlich der Versteigerung unter dem Titel 1 Vgl. Jameson, Anna: Visits and sketches at home and abroad, with tales and miscellanies now first collected. Vol. I, London 1835, S. 149. 2 Bauer, Karoline: Verschollene Herzensgeschichten. Nachgelassene Memoiren von Karoline Bauer. Bearbeitet von Arnold Wellmer. Bd. 3, Berlin 1831, S. 477–478. 3 FWF-Projekt „Ludwig Tiecks Bibliothek“ (P 26814 und P 32038, Projektleitung: Prof. Achim Hölter, Laufzeit: 1.10.2014 bis 30.9.2023, https://complit.univie.ac.at/ueber-uns/forschungdissemination/projekte/ludwig-tiecks-bibliothek/), Datenbank: https://tieck-bibliothek.univie.ac.at (31.1.2023).
Von der Bücherwand in den Zettelkatalog
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„Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck qui sera vendue a Berlin le 10. Décembre 1849 et jours suivants par MM. A. Asher & Comp.“ (Berlin: Trowitzsch, 1849) veröffentlicht wurde. Auf 362 Druckseiten sind in dem Katalog 7930 Losnummern angeführt, die meist genau einen Titel umfassen. Der Katalog ist in sechs große Sektionen gegliedert, die umfangreichste Kategorie „A. Langue et Litérature [sic!]“ umfasst dabei die Literatur von elf Sprachund Kulturräumen. Aus dem Katalog lässt sich ablesen, dass Tiecks Sammlung primär literarischen, dann historiografischen Charakter hatte, daneben aber auch über wissenschaftliche Begleitkategorien aus den Sektionen Literaturgeschichte und Theater verfügte. Zudem werden Detailinformationen zu einzelnen, besonderen Titeln geliefert, so etwa zum Bindungszusammenhang, zu enthaltenen Marginalien und Widmungen.4 Abb. 16.1 Los 1627 im „Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck“ (Berlin 1849, S. 65) mit Angaben zur Seltenheit des Titels.
Tiecks Tätigkeit als literarischer Vermittler, Übersetzer und Herausgeber spiegelt sich ebenso wie sein literarisches Werk in den Schwerpunkten seiner Sammlung wider. Sie umfasste das, was er und seine Zeitgenossen als „Weltliteratur“ verstanden oder zu verstehen begannen. Besonders prominent war die Literatur des Elisabethanischen Zeitalters vertreten, Tieck besaß etwa Exemplare der 2nd, 3rd und 4th Folio von Shakespeares Dramen ebenso wie wertvolle Erstausgaben von dessen Zeitgenossen. Neben der altenglischen Literatur galt sein Sammlungsinteresse Originaldrucken Spanischer Dramen aus dem „Siglo de Oro“, die er systematisch im Antiquariatsbuchhandel erwarb und durch Tauschgeschäfte mit anderen Sammlern erlangte. Auch die deutsche Literatur der Frühen Neuzeit war mit Ausgaben von Martin Opitz, Andreas Gryphius und Hans Sachs prominent in seiner Bibliothek vertreten. Anhand der Zusammensetzung von Tiecks Bibliothek, die sich dem Auktionskatalog entnehmen lässt, und anhand der Einsicht in Exemplare aus seiner Sammlung wird deutlich, dass Tieck beim Sammlungsaufbau zwei bibliophile Haltungen miteinander verschränkte. Sein Sammeleifer richtete sich auf historische Drucke und Originalausgaben. Hier waren materielle Aspekte wie Alter, 4 Zum Katalog der Bibliotheca Tieckiana vgl. Hölter, Achim/Ferstl, Paul/Mallmann, Theresa: Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck (1849). Genese, Rezeption, Bestände, in: Hölter, Achim/Schmitz, Walter (Hg.): Ludwig Tieck. Werk – Familie – Zeitgenossenschaft, Dresden 2021, S. 171–214.
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Zustand und Seltenheit ausschlaggebende Kriterien für den Erwerb. Daneben besaß er jedoch auch eine enorme Menge an Werken, die er aus primär inhaltlichen Gründen erwarb und als Grundlage seiner schriftstellerischen, literaturhistorischen und übersetzerischen Tätigkeit nutzte. Neben einer mehr auf die Materialität der erworbenen Exponate abzielenden Sammelleidenschaft galt diese zweite eher ideelle Seite seiner Bibliophilie – insbesondere im Fall der Elisabethanischen Literatur – dem Erwerb einschlägiger zeitgenössischer Editionen und Übersetzungen, theoretischer Abhandlungen, Wörterbüchern und Nachschlagewerken. Umfangreiche Unterstreichungen, Notizen und Randbemerkungen sind in unzähligen dieser Werke als Zeugen seiner Lektürepraxis erhalten. Dass die British Library 1849 zahlreiche marginalienreiche Bände aus Tiecks Besitz erworben hat – darunter wertvolle Ausgaben aus den drei genannten Sammlungsschwerpunkten wie Tiecks stark annotiertes Shakespeare-Arbeitsexemplar –, ist der Tieck-Forschung bereits seit Langem bekannt. Weitere Aufbewahrungsorte wie die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), die Bibliothèque royale de Belgique (KBR) in Brüssel oder die Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) in Weimar wurden erst in den vergangenen Jahren ermittelt. Insgesamt sind aktuell 23 Bibliotheken als Bestandshalter von Büchern tieckscher Provenienz bekannt, die die Bücher entweder im Jahr 1849/50 direkt aus der Auktion erwarben oder an die Bücher Tiecks über spätere Zwischenstationen gelangten. Rund 5000 Bände aus Tiecks Sammlung lassen sich an diesen Standorten lokalisieren. Die Autopsie dieser Bände erlaubte vielfach nicht nur Rückschlüsse darauf, welche Wege die Bücher nach der Auktion in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert zurücklegten, sondern ergab auch einen Überblick über die Bezugsquellen, aus denen Tieck Bücher erhielt. So ließen sich neben den heutigen Standorten vielfach auch Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer, Antiquariate im In- und Ausland, über die Tieck Bücher bezog, sowie Auktions- und Buchhandelskataloge, die er konsultierte, ermitteln.5 Die „Bibliomigrationsrouten“ einzelner Exemplare aus Tiecks Bibliothek lassen sich somit gut zurückverfolgen, reichen bisweilen ins 17. Jahrhundert zurück und münden im 21. Jahrhundert in die heutigen Aufbewahrungsorte der Bände. Manches Mal endeten die Wege, die Tiecks Bücher nach ihrem Verkauf zurücklegten, im heutigen Polen. Wie sie dorthin gelangten, soll im Folgenden dargestellt werden.
5 Eine Übersicht der Provenienzspuren und ermittelten VorbesitzerInnen von Büchern Tiecks findet sich unter https://tieck-bibliothek.univie.ac.at/provenienzspuren-in-buechern-tiecks (31.1.2023).
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Die Zerstreuung von Tiecks Bibliothek
Zu den Käufern bei der Auktion zählten einige der großen europäischen Bibliotheken der Zeit. Neben Großkunden wie der British Museum Library und weiteren öffentlichen Bibliotheken erwarben auch zahlreiche bibliophile Einzelpersonen Bücher aus Tiecks Sammlung, darunter etwa der Schweizer Schriftsteller Edward Dorer-Egloff, der russische Sammler Sergey Alexandrovich Sobolevsky sowie Goethes Schwiegertochter Ottilie von Goethe. Im Fall der Buchbestände tieckscher Provenienz, die sich heute an polnischen Bibliotheken befinden, stellte der Verkauf in der Auktion nicht den Endpunkt der Reise dar, die diese Bücher zurücklegten, sondern führte sie nur zu Zwischenstationen. Wenig überraschend ist der erneute Besitzwechsel im 20. Jahrhundert, der die Bücher an ihre heutigen Aufbewahrungsorte in Polen führte, in beiden Fällen auf Ereignisse im Zuge des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen. Einmal war es die Königliche Bibliothek Berlin, die im Winter 1849 eine Reihe von Büchern aus der Tieck-Auktion erwarb. Von dort gelangten die Bücher durch Bestandsauslagerungen im Zweiten Weltkrieg in Depots auf polnischem Territorium und in den Nachkriegsjahren weiter an mehrere polnische Bibliotheken. Der zweite Pfad, auf dem Bücher Tiecks nach Polen gelangten, führt aus der Auktion in die Schlossbibliothek des Grafen Yorck von Wartenburg im schlesischen Klein Oels und von dort als „sichergestellte Sammlung“ an die Universitätsbibliothek Breslau sowie weitere öffentliche Bibliotheken in Polen und Russland.
Zu den Tieck-Beständen der Preußischen Staatsbibliothek in Polen
Neben den bereits genannten Bibliotheken zählte die Königliche Bibliothek zu Berlin, die spätere Preußische Staatsbibliothek, zu einem der größeren Kunden bei der Auktion 1849. In ihrem Akzessionsjournal sind im Februar 1850 108 Titel in knapp 300 Bänden, die aus der Versteigerung erworben wurden, verzeichnet.6 Zudem ging nach Tiecks Tod 1853 seine Sammlung wertvoller Spanischer Dramen aus dem „Siglo de Oro“ in den Besitz der Königlichen Bibliothek über, die weitere 110 Bände mit 1546 Originaldrucken umfasste,7 6 Vgl. Akzessionsjournal der Kgl. Bibliothek Berlin, 1850, S. 278–291, Akz.nr. 88719–88903. 7 Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GeSta), Sig. I. HA Rep. 76, Vd Sekt. 31 Nr. 39 Band 1, Ankauf einer Sammlung spanischer Theaterstücke aus der Bibliothek des Geheimen Hofrats Dr. Tieck und Übergabe dieser Sammlung an die Königliche Bibliothek in Berlin nach dem Tod des Dr. Tieck, 1849–1853.
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sowie einzelne Bände der begehrten „Comedias nuevas, escogidas de los mejores ingenios de España“8 und eine kostbare auf Velin gedruckte zeitgenössische Ausgabe von Camões’ Lusiaden9. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die Preußische Staatsbibliothek die größte wissenschaftliche Bibliothek und eine der wichtigsten kulturellen Einrichtungen Deutschlands dar. Im Zweiten Weltkrieg verlagerte sie ihre wertvollen Sammlungen, um ihre Bestände vor der Zerstörung durch die alliierten Bombardements des nationalsozialistischen Berlin zu schützen. Zunächst fanden Verlagerungen innerhalb des Berliner Stadtgebiets statt, ab 1941 wurden Buchbestände in Depots außerhalb Berlins verbracht. Bis 1944 wurden so rund drei Millionen Bände in Bücherkisten aus Berlin evakuiert und gemeinsam mit anderen Kulturgütern in Schlössern, Klöstern, Gutshöfen, Kirchen und Stollen eingelagert.10 Insgesamt zwölf solcher Depots befanden sich auf Territorium, das nach 1945 von polnischen Behörden übernommen wurde. Die Bestände in fünf dieser Aufbewahrungsorte wurden geplündert oder vernichtet, einige von der Trophäenkommission in die Sowjetunion verbracht.11 Wie anderes deutsches 8
BT (BT bezeichnet hier und im Folgenden die Losnummer im Katalog der Bibliotheca Tieckiana) 2789, Madrid 1652–1704, vgl. GeStA, Sig. I. HA Rep. 76, Vd Sekt. 31 Nr. 39 Band 1, Bl. 2. 9 BT 2468: Camões, Luiz de: Os Lusiadas, Paris 1817, 2” Xm 3195, Kriegsverlust der Preußischen Staatsbibliothek, https://stabikat.de/DB=1/XMLPRS=N/PPN?PPN=136608272 (31.1.2023). 10 Zu den Auslagerungen aus der Staatsbibliothek vgl. Breslau, Ralf (Red.): Verlagert, verschollen, vernichtet …: das Schicksal der im 2. Weltkrieg ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 1995; Schochow, Werner: Bücherschicksale. Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek. Auslagerung – Zerstörung – Entfremdung – Rückführung, Berlin/New York 2003 und Voigt, Gudrun: Die kriegsbedingte Auslagerung von Beständen der Preußischen Staatsbibliothek und ihre Rückführung. Eine historische Skizze auf der Grundlage von Archivmaterialien, Hannover 1995. 11 Ab 1945 bildete die Sowjetunion Trophäenbrigaden, die sich um die Wiedererlangung von Objekten, die als Beutegut aus der Sowjetunion verbracht worden waren, aber auch generell um die Ausforschung und Beschlagnahmung von Archiv-, Museums- und Bibliotheksbestände bemühten. Um die erlittenen Kulturgutverluste zu kompensieren und materielle Werte zu beschaffen, wurden zahlreiche deutsche Kulturgüter aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands aus ihren einstigen Sammlungskontexten entfernt und in die Sowjetunion verbracht. Aktuell werden noch etwa 3,6 Millionen Bücher aus deutschen Bibliotheken auf dem Gebiet der Russischen Föderation vermutet. Vgl. Staatsministerium für Kultur und Medien: Rückführung von „Beutekunst“, https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/bundeskanzleramt/ staatsministerin-fuer-kultur-und-medien/kultur/rueckfuehrung-von-beutekunst (31.1.2023). Zur Verbringung von Bibliotheksbeständen durch die Trophäenbrigaden vgl. Schochow, Bücherschicksale, S. 248–253 und Kolasa, Ingo: Sag mir wo die Bücher sind … Ein Beitrag zu „Beutekulturgütern“ und „Trophäenkommissionen“, in: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 42, 1995, S. 339–364.
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und polnisches Bibliotheksgut, das am Ende des Zweiten Weltkriegs auf polnischem Territorium zurückgelassen worden war, wurden die restlichen Bücher aus den schlesischen und pommerschen Depots der Staatsbibliothek von den Behörden beschlagnahmt. Herrenlose Buchbestände, die auch als „sichergestellte Sammlungen“ bezeichnet wurden, wurden von der polnischen Regierung zu Staatseigentum erklärt, gesammelt und im Auftrag des Bildungsministeriums auf mehrere polnische Bibliotheken verteilt, um die großen Lücken in den Beständen der alten und auch neu gegründeten wissenschaftlichen Bibliotheken zu füllen.12 Die deutschen Besatzer hatten im Zuge der brutalen Unterwerfung Osteuropas in der Sowjetunion und in Polen oftmals nicht auf Raub und Beschlagnahmung von Kulturgütern, sondern auf deren Vernichtung abgezielt. Dies war Teil der auf deren Auslöschung ausgerichteten deutschen Kriegsführung gegen die slawischen Nationen. Als eine Art Kompensationsleistung für die erlittenen Verluste an Kulturgütern wechselten in den Jahren nach 1945 bedeutende Büchermengen ihren Standort.13 Umgangssprachlich werden die Bibliotheksgüter aus den Depots der Preußischen Staatsbibliothek, die zusammen mit anderen deutschen Kulturgütern in den Nachkriegsjahren identifiziert und als eine Art Ersatzrestitution für die eigenen Kulturgutverluste übernommen wurden, in Polen als „Berlinka“ bezeichnet.14 Den prominentesten Teil der „Berlinka“ – darunter Originalpartituren Mozarts und Beethovens sowie Autografen deutscher Geistesgrößen wie Luther, Goethe und Schiller, erhielt die Jagiellonische Bibliothek (BJ) in Krakau ab 1947. Auch den Universitätsbibliotheken in Lublin, Poznań, Toruń, Warschau und Łódź sowie der des Masureninstituts in Olsztyn wurden 12
Vgl. Bibliotheken in Berlin, in: Fabian, Bernhard (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter Kükenshöner, Hildesheim 2003 https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Bibliotheken_In_Berlin (31.1.2023). Im Fall Schlesiens ergab sich aus der Distribution der „sichergestellten Sammlungen“ eine Konzentration der vielfältigen historischen Bestände der Region auf die Universitätsbibliothek Wrocław. 13 Große Teile der Sammlungen polnischer Bibliotheken fielen der antislawischen Zerstörungswut der Nationalsozialisten zum Opfer. So wurden die Bestände der polnischen Nationalbibliothek von Sondertruppen in Brand gesteckt, was eine Zerstörung von ca. 90 Prozent der Handschriften und 60 Prozent der Alten Drucke sowie aller Inkunabeln und Polonica des 16. bis 18. Jahrhunderts zufolge hatte. Vgl. Biblioteka Narodowa/ Nationalbibliothek, in: Fabian, Bernhard (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter Kükenshöner, Hildesheim 2003, https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Nationalbibliothek (Warschau) (31.1.2023). 14 Vgl. dazu Gortat, Jakub: ‚Berlinka‘. Ein besonderer deutsch-polnischer Erinnerungsort, in: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen 2017, S. 105–128. https://doi.org/ 10.18778/2196-8403.2017.05.
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Bestände aus der Staatsbibliothek zugewiesen.15 Unter den ausgelagerten Büchern dürfte sich auch ein großer Teil der von Tieck erworbenen Bände befunden haben. Da deren Signaturen in den historischen Katalogen der Staatsbibliothek überliefert sind und auch dokumentiert ist, in welche Depots welche Signaturgruppen gelangten, lässt sich zurückverfolgen, ob die Bände sich heute noch oder wieder im Bestand der Staatsbibliothek befinden bzw. wohin sie verlagert worden sein könnten.16 Gegenwärtig führt die Staatsbibliothek 286 der 418 aus der Auktion erworbenen Bände in ihrem Online-Katalog als „Kriegsverluste“, darunter etwa eine mit Marginalien Tiecks versehene Ausgabe des zweiten Bandes von Samuel Brydges 1815 in nur 200 gedruckten Exemplaren erschienener Sammlung „Archaica“17 sowie eine seltene Erstausgabe von Cervantes’ „Novelas exemplares“18.
Abb. 16.2
Heutiger Eintrag im Stabikat zu Los 2528, das von der Kgl. Bibliothek Berlin aus der tieckschen Auktion erworben wurde, mit Standortangabe „Kriegsverlust“ (Quelle: https://stabikat.de/DB=1/XMLPRS=N/ PPN?PPN=448428040, Stand: 31.01.2023).
15 Zu den Verlagerungen der Staatsbibliothek ins heutige Polen vgl. Gortat, Jakub: Drucke des 16. Jahrhunderts aus der Preussischen Staatsbibliothek in der Universitätsbibliothek Lodz, in: Dietl, Cora/Kubisiak, Małgorzata (Hg.): Unbekannte Schätze. Germanica des 16. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Łódź, Łódz 2018, S. 97–107. 16 Für eine Übersicht der Auslagerungsorte und Signaturgruppen vgl. Schochow, Bücherschicksale, S. 295–300. 17 BT 1627: Egerton Brydges, Samuel: Archaica containing a reprint of scarce old English prose tracts with prefaces, critical and biographical. Vol. II, London 1815. Im Akzessionsverzeichnis der Staatsbibliothek Berlin mit der Akzessionsnummer 88759 enthalten, Ze 4150-2., im Stabikat als Kriegsverlust gekennzeichnet. 18 BT 2528: Cervantes Saavedra, Miguel de: Novelas Exemplares, Madrid 1613. Im Akzessionsverzeichnis der Staatsbibliothek Berlin mit der Akzessionsnummer 88814 enthalten, Sig. Xl 2392, im Stabikat als Kriegsverlust gekennzeichnet.
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Von den 110 Bänden mit Spanischen Dramen, die aus Tiecks Nachlass an die Königliche Bibliothek gelangten, sind nur drei Bände in Berlin erhalten. Zwei weitere dieser Bände finden sich heute im Bestand der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau. Die beiden Adligate enthalten handschriftliche Eintragungen Tiecks und werden unter ihren alten Signaturen aus der Preußischen Staatsbibliothek geführt. Die Bände stehen der wissenschaftlichen Gemeinschaft bereits in digitaler Form weltweit zur Verfügung.19 Von den verbleibenden 105 Adligatbänden, die an der Berliner Staatsbibliothek überwiegend der Signaturgruppe „Xk“ zugeordnet gewesen sein dürften, fehlt in Krakau ebenso wie an der Universitätsbibliothek Łódź jede Spur, was die Vermutung nahelegt, dass dieser Teil der ausgelagerten Tieckiana nach Russland gelangt sein könnte.20 Dafür befinden sich zwölf Bände der „Comedias nuevas“ (BT 2789), die ebenfalls in diese Signaturgruppe fallen, heute in Krakau.21 Auch wenn die rund 400 Bände mit Provenienz Ludwig Tieck nur einen winzigen Ausschnitt der aus Berlin ausgelagerten Bestände darstellen, können sie als repräsentative Stichprobe angesehen werden, die den Grad der Zerstreuung, der Zerstörung und der heutigen Lokalisierbarkeit der Bestände der Preußischen Staatsbibliothek nach dem Zweiten Weltkrieg abbildet. Dies ist gerade auch der Fall, weil die von Tieck erworbenen Titel aus verschiedenen Sach- und Signaturgruppen stammten und damit an unterschiedliche Auslagerungsorte verbracht worden sein dürften. Letztlich konnten 19 der 418 Bände aus Tiecks Besitz in Polen ermittelt werden, was knapp fünf Prozent der ursprünglich in Berlin vorhandenen Tieckiana entspricht. Diese „Berlinka“ tieckscher Provenienz haben an der Universitätsbibliothek Łódź22 und 19 Im Zuge des transnationalen Forschungsprojekts „Fibula“ wurden romanische Handschriften aus der Berliner Staatsbibliothek in den Beständen der Jagiellonischen Bibliothek Krakau erschlossen, darunter die beiden Adligate Tieckscher Provenienz: Hisp. Quart 78, http://info.filg.uj.edu.pl/fibula/en/content/hisp-quart-78 (enthält am Schmutzblatt ein Inhaltsverzeichnis von Tiecks Hand, Tinte) und Hisp. Quart. 77, http://info.filg. uj.edu.pl/fibula/en/content/hisp-quart-77 (enthält am Schmutzblatt einen Eintrag Tiecks sowie ein handschriftliches Inhaltsverzeichnis) (31.1.2023). 20 Werner Schochow gibt als Auslagerungsort der Signaturgruppe Xi-Xq Schloss Parsow in Pommern im heutigen Parsowo an, von wo Bücher nach Krakau und Łódź, aber auch nach Moskau gelangt sein dürften. Vgl. Schochow, Bücherschicksale, S. 131–132 u. S. 300. 21 Die Signaturen Xk 1713, Xk 1719, Xk 1725, Xk 1731, Xk 1737, Xk 1743, Xk 1748, Xk 1753, Xk 1768, Xk 1781, Xk 1787, Xk 1661 finden sich in einer von der Jagiellonischen Bibliothek erstellten Auflistung mit dem Titel „Early Printed Books from the former Prussian State Library in Berlin now in the Jagiellonian Library in Krakow“. Auflagengleiche Bände wurden nachweislich von der Königlichen Bibliothek Berlin von Tieck erworben. 22 BT 7038: Oulton, Walley Chamberlain: The history of the theatres of London. 2vol, London 1796, Łódź – Biblioteka Uniwersytetu Łódzkiego, 1016745; BT 7111: Bourbon de Conti, Armand de: Traité de la comedie et des spectacles, Paris 1667, UB Łódź, 1016244; BT 3637: Coltellini, Agostino: Endecasyllabi Fidentiani, Florenz 1641–1652, 2 Bde. UB Łódź,
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an der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau einen neuen Aufbewahrungsort gefunden. Von fünf der tieckschen Erwerbungen der späteren Staatsbibliothek ist wiederum anzunehmen, dass sie sich heute an der Russischen Staatsbibliothek (RSB) in Moskau befinden.23 Dies entspräche weiteren 1,2 Prozent der Tieckiana der Staatsbibliothek. Letzte Gewissheit, ob die Bände nicht nur den Stempel der Preußischen Staatsbibliothek, sondern auch eine zum Auktionszeitpunkt passende Akzessionsnummer auf dem Vorderspiegel aufweisen, wäre durch eine autoptische Überprüfung vor Ort noch zu liefern.
Graf Yorck von Wartenburg als Käufer von Tiecks Bibliothek
Eine sehr viel größere Anzahl von Büchern aus Tiecks Besitz gelangte nicht über die Preußische Staatsbibliothek, sondern über die Majoratsbibliothek Klein Oels der Familie Yorck von Wartenburg an weitere polnische Bibliotheken. Das Adelsgeschlecht Yorck von Wartenburg zählte zu den bekanntesten deutschen Adelsfamilien des 19. Jahrhunderts. Während der politisch-militärische Ruhm der Familie maßgeblich auf der Unterzeichnung der Konvention von Tauroggen durch Ludwig Yorck von Wartenburg am Ende von Napoleons Russlandfeldzug 1812 gründete, taten sich die Mitglieder der nachgeborenen Generationen eher durch ihre liberale Geisteshaltung und ihr kulturelles und philosophisches Interesse hervor. Ab 1814 bewohnte die Familie das Gut Klein Oels in der Nähe von Breslau. Ludwig Yorck von Wartenburg (1805–1865), der zweite Majoratsherr auf Klein Oels und jüngste Sohn des gleichnamigen preußischen Generalfeldmarschalls, verkehrte in den 1820er Jahren in den 1016106; BT 3606: Casti, Giovanni Battista: Il Poema Tartaro, S.l. 1796, 2 Bde. UB Łódź, 1016917. 23 BT 4991: Centellas, Joachin de: Les voyages et conquestes des roys de Portugal ès Indes d’Orient, Éthiopie, Mauritanie d’Afrique et Europe […]. Paris 1578, Rossijskaja Gosudarstvennaja Biblioteka Moskva (RSL), MK Paris Ongoys 1578 8° (https://search.rsl.ru/ en/record/01002761162); BT 6442: Strabo: La prima [et la seconda parte] della geografia di Strabone. Venedig/Ferrara 1562–1565, RSL, MK Venezia Franceschi Senese 1562–1565 4° (https://search.rsl.ru/en/record/01002783762); BT 6506: Le Tocsain contre les massacreurs et auteurs de confusions en France, Reims 1577, RSL, MK [Basel] S. t. 1577 8° (https://search.rsl.ru/ru/record/01002784274); BT 5334: Giambullari, Pierfrancesco: Historia dell’Europa, Venezia 1516, RSL, MK Venezia Franceschi 1566 4° (https://search.rsl.ru/ ru/record/01002776866); BT 5785: Manolesso, Emilio Maria: Historia nova, Padova 1572, RSL. MK Padova Pascati 1572 4° (https://search.rsl.ru/ru/record/01002779431). Alle genannten Titel sind (Stand 31.1.2023) im OPAC der Russischen Staatsbibliothek (RGB) mit dem Provenienzvermerk „Staatsbibliothek zu Berlin-Preussischer Kulturbesitz. Печать: Ex Biblioth. Regia Berolinensi.“ versehen und stammen ursprünglich mit großer Wahrscheinlichkeit aus Tiecks Bibliothek.
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intellektuellen Kreisen des Berliner Vormärz und machte dort Bekanntschaft mit Tieck und dessen Umfeld. Nachdem er 1829 die Majoratsherrschaft in Klein Oels übernommen hatte, widmete er sich dem Aufbau seiner Schlossbibliothek.24 Der Graf war hochgebildet und kulturell interessiert und machte das Schloss zu einem Treffpunkt für Gelehrte und Künstler und zu einem Ort des Austauschs zwischen Adel und Bürgertum. Der Grundstein für die Schlossbibliothek wurde durch Bücher aus dem Besitz Tiecks gelegt. Bereits 1836, also mehr als ein Jahrzehnt vor der Versteigerung von Tiecks Bibliothek, erwähnen Tieck und seine inoffizielle Lebensgefährtin Henriette von Finckenstein in zwei Briefen an Friedrich von Raumer ein Angebot des Grafen Yorck, Tiecks Büchersammlung zum Preis von 6000 Reichstalern zuzüglich einer Rente für Tiecks Töchter in Form einer halbjährlichen Verzinsung zu erwerben.25 Zu einer Einigung scheint es zu diesem frühen Zeitpunkt jedoch nicht gekommen zu sein, verkaufte Tieck seine Bibliothek doch drei Jahre später, am 8. Juni 1839, an seinen Verleger Heinrich Brockhaus. Dieser zahlte den bereits von Yorck gebotenen Preis von 6000 Reichstalern ebenfalls zuzüglich einer jährlichen Rente, wobei die Bücher bis zu Tiecks Tod in dessen Haushalt verbleiben sollten. Die Höhe des von Yorck gebotenen Betrags dürfte somit nicht der Grund für das Nichtzustandekommen des Verkaufs an den Grafen in den 1830er Jahren gewesen sein. Am 25. Februar 1849 verkaufte Tieck seine Bibliothek dann erneut, diesmal zum Pauschalpreis von 7000 Talern an den Berliner Buchhändler Adolf Asher. Durch eine Intervention von Tiecks Freund Friedrich von Raumer gelang es, einen Skandal zu vermeiden und den illegalen doppelten Verkauf an Brockhaus und Asher nachträglich zu legitimieren.26
Kaufvertrag 1852, Bücherverzeichnis und posthume Überstellung der Bibliothek nach Klein Oels
Von Seiten Yorcks sind rund um den Auktionszeitpunkt keine weiteren Versuche überliefert, die Bibliothek zu erwerben. Es liegt jedoch ein mit 15. Mai 1852 datierter Kaufvertrag zwischen Tieck und Yorck vor, in dem festgehalten ist, dass Tieck drei Jahre nach der Auktion seiner ersten Bibliothek eine zweite Büchersammlung an den Grafen Yorck verkaufte – wiederum zum Preis von 24 Vgl. Brakelmann, Günter: Peter Yorck von Wartenburg. 1904–1944. Eine Biographie, München 2012, S. 15–16. 25 Vgl. Henriette von Finckenstein an Friedrich von Raumer, Dresden, 4.11.1836 und Ludwig Tieck an Friedrich von Raumer, Dresden, 11.11.1836. 26 Vgl. Hölter, Achim: Tiecks Bibliothek, in: Stockinger, Claudia/Scherer, Stefan (Hg.): Ludwig Tieck. Leben – Werk – Wirkung, Berlin/Boston 2011, S. 316.
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Abb. 16.3 Die beiden Stempel der Majoratsbibliothek Klein Oels (Foto: Theresa Mallmann).
6000 Talern. Teil des Vertrags war die Abmachung, dass die Bücher zum Nießbrauch bis zu Tiecks Tod in dessen Haushalt verblieben, jedoch bereits ab Kauf mit dem yorckschen Stempel versehen wurden. „[M]indestens 10000 einzelne Bände, Hefte und Manuscripte“ enthalte die von Tieck für Yorck zusammengetragene Bibliothek, so die an dieser Stelle gegebenen Informationen zu deren Umfang. Zudem war Tieck vertraglich dazu verpflichtet, einen Katalog über „[s]ämmtliche verkaufte[n] Gegenstände“27 zu erstellen. Die Übergabe dieses Verzeichnisses erfolgte am 15. August 1852. Im begleitenden Brief Tiecks ist von 11.458 Bänden die Rede, die Tiecks Sekretär Dammas in einem für Yorck erstellten Katalog erfasst habe. Knapp acht Monate vor seinem Tod übergab Tieck das Verzeichnis mit dem Wunsch an Yorck: […] daß Ihnen diese Bücher Freude machen und Sie nicht schon zu viele derselben besitzen. Die Spanische kleinere sowie die Italienische größere Sammlung sollen Sie wahrscheinlich überraschen und Ihnen das größte Vergnügen machen sowie auch sehr vieles Bedeutende sich bei den Engländern, Franzosen
27
Kaufvertrag zwischen Tieck und Yorck, Berlin, 15. Mai 1852, zit. n. Zeydel, Edwin/Matenko, Percy/Fife, Robert Herndon (Hg.): Letters of Ludwig Tieck. Hitherto Unpublished. 1792– 1853. New York/London 1937, S. 550. Das Original des Kaufvertrags zwischen Tieck und Yorck ist heute nicht mehr ermittelbar. Ein Abdruck des Vertrags findet sich in dem vom US-amerikanischen Germanisten Edwin H. Zeydel in den 1930er Jahren edierte Briefwechsel zwischen Tieck und Yorck. Zeydel war, so scheint es, selbst nach Klein Oels gereist, um die Briefe einzusehen.
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und Deutschen befindet. […] Mögen Sie eine ähnliche Freude haben, wie ich bei dieser Sammlung genossen habe.28
Tatsächlich dürfte der Erwerb der Bücher durch Yorck für Tieck einen ökonomischen und bibliophilen Glücksfall dargestellt haben. Die Übereinkunft mit dem Grafen ermöglichte es Tieck, seiner Bücherleidenschaft auch nach dem großen Verkauf seiner Bibliothek 1849 weiterhin nachzukommen. Im Auftrag und mit den finanziellen Mitteln Yorcks konnte er nach der Trennung von seiner ersten Büchersammlung sukzessive eine neue, zweite Bibliothek aufbauen, die erst nach seinem Tod in den Besitz Yorcks übergehen sollte.
Tieck als Käufer der eigenen Bibliothek
Stellt schon der illegale Doppelverkauf der Sammlung an Brockhaus sowie an Asher ein Kuriosum in der Buchhandelsgeschichte dar, so führte eine offenbar im Vorfeld der Auktion 1849 zwischen Tieck und Yorck getroffene Vereinbarung zu einer weiteren höchst ungewöhnlichen Konstellation: Tieck trat bei der Versteigerung seiner eigenen Bibliothek als Käufer auf, indem er Bücher aus seinem Besitz für den Grafen zurückkaufte. Belegt wird dies durch zwei annotierte Exemplare des Auktionskatalogs – vermutlich Firmenexemplare des Antiquariats Asher –, in denen umfangreich Käufernamen und Verkaufspreise notiert sind.29 Unter den darin neben den einzelnen verkauften Losen aufgeführten Namen von Bibliotheken, Kommissionären und Einzelkäufern findet sich wiederholt auch der Name „Tiek“. Abb. 16.4 Annotiertes Exemplar des Auktionskatalogs Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck (Berlin 1849) mit „Tick“ als Käufernamen, S. 81 (Exemplar in Privatbesitz, Bibermühle, Schweiz – Sammlung Heribert Tenschert).
28 L. Tieck an Yorck v. Wartenburg, Berlin, 15. August 1852, ebd., S. 552. 29 „Catalogue de la bibliothèque célèbre de M. Ludwig Tieck“, Berlin 1849. Exemplare in Privatbesitz, Bibermühle, Schweiz – Sammlung Heribert Tenschert und Mamaroneck, NY – Sammlung Dr. Roland Folter.
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Insgesamt ist dies bei mehr als 800 der insgesamt 7930 Katalognummern der Fall. Tieck kaufte also mehr als zehn Prozent seiner eigenen Bücher im Zuge der Auktion zurück. Unter diesen „Rückkäufen“ finden sich alte und seltene Titel aus dem 15. und 16. Jahrhundert ebenso wie eine große Anzahl von Editionen des 17. und 18. Jahrhunderts aus dem romanischen Sprachraum. Es sind jedoch auch geläufigere Titel aus dem 18. und 19. Jahrhundert und aus nahezu allen Sparten des Kataloges darunter. In der Berichterstattung der zeitgenössischen Presse wird weder erwähnt, dass Tieck selbst als Käufer auftrat, noch dass er dies im Auftrag Yorcks tat. Es lässt sich also mutmaßen, dass die Gebote des Käuferduos Tieck/Yorck eher diskret eingereicht wurden. Welche Titel es darüber hinaus in den Jahren nach 1849 waren, die Tieck aus anderen Quellen für Yorck erwarb, ist kaum rekonstruierbar. Das im Brief Tiecks an Yorck vom 15. August 1852 erwähnte umfangreiche Verzeichnis all dieser Bücher ist nicht erhalten. Einzelne Erwerbungen Tiecks für Yorck aus den Jahren 1850 bis 1853 lassen sich über Briefe Tiecks an Buchhändler nachvollziehen. So dokumentieren etwa 27 Briefe an den Braunschweiger Buchhändler Eduard Leibrock zahlreiche Bestellungen von spanischen Dramen aus dem „Siglo de Oro“.30 Nach Tiecks Tod wurden alle Bücher nach Klein Oels überstellt, Meldungen dazu finden sich Mitte Mai 1853 in diversen deutschen Zeitungen, der Wortlaut ist dabei überwiegend der gleiche: „Der Graf Yorck von Wartenburg hat den größten Theil der Bibliothek, welche Ludwig Tieck hinterlassen, käuflich erworben und solche bereits in Klein-Oels, wo derselbe schon eine reiche Büchersammlung besitzt, aufstellen lassen.“31 Nach dem Erwerb der tieckschen Bücher wuchs die Schlossbibliothek in Klein Oels kontinuierlich weiter. Die nachfolgenden Generationen trugen zur Erweiterung der Bestände um frühe philosophische und religiöse Erstausgaben, um Werke der deutschen Klassik und um Neuerscheinungen bei. Auch die Grafik- und Bildersammlung wurde durch Erwerbungen im In- und Ausland permanent vergrößert.32 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zählte die Klein Oelser Schlossbibliothek zu den bedeutendsten und größten preußischen Adelsbibliotheken ihrer Zeit. Einen Einblick in die Atmosphäre auf dem Gut, aber auch in die dortige Bibliothek gewähren die Erinnerungen von 30
Niedersächsisches Landesarchiv, NLA WO 298 N, Briefe an den Hofbuchhändler Eduard Leibrock in Braunschweig [verstorben 7.3.1873], insbesondere von Ludwig Tieck, 19.6.1850 – Juni 1852, Nr. 328. 31 Leipziger Zeitung, 15.05.1853, S. 2429. 32 Ein Teil der Grafik- und Kupferstichsammlung musste infolge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren verkauft werden, vgl. den Katalog Nr. 176 des Leipziger Auktionshauses C. G. Boerner, Leipzig 1932.
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Joachim Ringelnatz, der ab 1912 als Bibliothekar in Klein Oels mit der Katalogisierung der yorckschen Buchbestände betraut war: Im Salon war Rauchs Büste des Generalfeldmarschalls Yorck von Wartenburg aufgestellt. Dessen Sohn hatte die Tiecksche Bibliothek erworben, die der Grundstock zu der umfassenden Bücherei war, für die ich nun arbeiten sollte. Im Arbeitszimmer stand Philologie, im Speisezimmer Deutsch, im Musikzimmer Geschichte. Der größte Bücherraum, die Remise genannt, enthielt unten im Saal Italienisch, Kunst, Naturgeschichte, Rechts- und Staatswissenschaft und Zeitschriften, oben auf der Galerie Französisch, Englisch und Yorcksche Bibliothek. Dann gab es im Korridor des zweiten Stockes noch Familiensachen. Und im Gewölbe, das gleichzeitig Billardsaal war, fand man spanische Literatur und bibliophile Seltenheiten.33
Einen auszughaften Einblick in die Bestände der Majoratsbibliothek erlaubt der rein alphabetisch sortierte Katalog „Graf Yorck von Wartenburgsche Fideicommiss-Bibliothek Klein-Oels“34 aus dem Jahr 1874. Sieben Exemplare dieses Kataloges sind heute noch ermittelbar.35 Sie stellen die einzige verfügbare Dokumentation der Bestände der Schlossbibliothek nach deren Zerstreuung im 20. Jahrhundert dar.
Distribution der Bestände der Majoratsbibliothek Klein Oels nach 1945
Ein knappes Jahrhundert nach der Tieck-Auktion, im Jahr 1945, umfasste die Fideikomiss-Bibliothek mehr als 100.000 Bände. Ihr Schicksal lag zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr in den Händen der Familie Yorck. Peter Graf Yorck von Wartenburg – der Urenkel des mit Tieck befreundeten Ludwig – zählte neben Helmuth James Graf von Moltke und dessen Frau Freya zum Führungszirkel 33 Ringelnatz, Joachim: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Bd. 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 275–276. 34 Graf Yorck von Wartenburgsche Fideicommiss-Bibliothek Klein-Oels. Alphabetischer Catalog. I. Abtheilung. Breslau, Datierung 1874. Über Erstellung, Auflage und Verbreitung dieses Kataloges ist kaum etwas bekannt. Ein weiterer undatierter handschriftlicher „Katalog zur Graf Yorck von Wartenburgschen Bibliothek in Klein Oels“, vermutlich ebenfalls aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, wird zudem im Staatsarchiv Wrocław aufbewahrt: Archiwum Panstwowe we Wroclawiu, Sig. 82/157/0/153. 35 Preußische Staatsbibliothek, RLS Dr 5159, Biblioteka Narodowa Warschau Sig. 194.594, Sig. 6.970 und Sig. Podr.SD V.1/9, Biblioteka Jagiellońska Krakau Sig. 316839 II und Sig. 576568 II, Biblioteka Główna Uniwersytetu Pedagogicznego w Krakowie.
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des Kreisauer Kreises.36 Er war Teil des bürgerlich-militärischen Widerstandsnetzwerks gegen die NS-Führung und wurde nach dem missglückten HitlerAttentat vom 20. Juli im August 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet. Seit 2002 erinnert eine Gedenktafel auf dem Schlosshof von Klein Oels an Peter Yorck und seine dissidente Haltung vor dem Volksgerichtshof. Sein älterer Bruder Paul und weitere Angehörige wurden in Sippenhaft genommen, in Konzentrationslagern und Gefängnissen inhaftiert und das Gut Klein Oels durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt. Paul Graf Yorck war Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen, wo er im April 1945 von der Roten Armee befreit wurde.37 Was genau mit der Schlossbibliothek nach dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 geschah, ist schwer rekonstruierbar, ebenso wenig lassen sich klare Angaben dazu machen, ob und in welchem Umfang Bücher aus der Bibliothek zerstört wurden. Gesichert ist, dass nur ein kleiner Teil der Bibliothek von ca. 800 Bänden im Besitz der Familie Yorck verblieb. Er wurde auf Initiative von Paul Yorck von Wartenburg zu Kriegsende in die Orangerie des Schlosses des Grafen Schaffgotsch im oberschlesischen Warmbrunn und von dort Ende Januar/Anfang Februar 1945 mit der Bahn in den Westen gebracht.38 Diese Bücher befinden sich bis heute im Privatbesitz der Familie, darunter auch etwa 800 Spanische Dramen in knapp 100 Bänden, die den enthaltenen Besitzeinträgen zufolge von Tieck für Yorck erworben wurden und im Zuge der Erforschung von Tiecks Bibliothek bereits gesichtet werden konnten.39 Am einstigen Familiensitz in Klein Oels in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien finden sich keine Spuren der früheren Besitzer mehr. Das Gebäude beherbergt heute ein Institut für Pflanzenzucht und Wohnungen für dessen Mitarbeiter. Der Bibliothekssaal mit Galerie, bei Ringelnatz als „die Remise“ bezeichnet, existiert noch, die einst wohl dort befindlichen Regale wurden jedoch in einen anderen Teil des Schlosses verbracht.
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Vgl. Ullrich, Volker: Der Kreisauer Kreis, Reinbek 2008, S. 12–33. Vgl. Brakelmann, Wartenburg, S. 274. Vgl. Suchmeldung „Wartenburg, Paul Graf Yorck von“, LostArt-Datenbank des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste, https://www.lostart.de/de/verlust/person/wartenburgpaul-graf-yorck-von/541344 (31.1.2023). Dank geht an Wulf von Moltke und seine Familie für die freundliche Unterstützung der Recherchen in Neureichenau und Berlin.
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Abb. 16.5
Ehemaliger Bibliothekssaal im Schloss Klein Oels mit der von Ringelnatz erwähnten Galerie (Foto: Paul Ferstl, 2022).
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Teilbestände der Majoratsbibliothek in Russland
Mit der Verordnung Nr. 55 „über die Festlegung der westlichen Staatsgrenze Polens und die Jurisdiktion der polnischen Verwaltung“ wurde am 20. Februar 1945 festgelegt, dass der Teil Schlesiens, dem Klein Oels angehörte, polnisches Territorium werden sollte.40 Ebenfalls im Februar erging die Direktive Nr. 50 des Militärrats der Ersten Weißrussischen Front, die dazu anwies, dass Kunstgegenstände, die kein NS-Raubgut waren und nicht in den Zuständigkeitsbereich der Trophäenkommission fielen, den polnischen Verwaltungsbehörden zu übergeben seien. Dies geschah jedoch nicht mit allen Kulturgütern, so wurden im Frühjahr 1945 noch drei Eisenbahnwaggons mit Kunstgegenständen, darunter auch Bücher aus Schlesien, in die UdSSR verbracht.41 Laut Wulf von Moltke hatte Paul Yorck nach Kriegsende den russischen Generalstabschef Schukow über die Bibliothek informiert und ihn gebeten, die Klein Oelser Kunstschätze sicherzustellen.42 Wie und wann Teile der Bibliothek in die Sowjetunion gelangten, ob die sowjetische Trophäenkommission sie dorthin verbringen ließ oder ob dies auf inoffiziellen Umwegen geschah, ist nicht rekonstruierbar. Zweifelsfrei fest steht hingegen, dass sich eine größere Anzahl von Büchern mit dem yorckschen Stempel heute an Bibliotheken in Russland befindet. Die Bücher aus der Schlossbibliothek Klein Oels sind gut zu identifizieren, weisen sie doch meist auf dem Titelblatt, seltener auch auf dessen Rückseite einen ovalen Stempel mit dem Wortlaut „Gr. York Kl. Oels“ oder „Graf Yorck Klein Oels Majoratsbibliothek“ auf. Bücher mit diesem Stempel finden sich heute in der Zentralen öffentlichen Majakowski-Stadtbibliothek in St. Petersburg und in der Allrussischen M. I. Rudomino-Staatsbibliothek für Ausländische Literatur in Moskau und sind dort mit entsprechenden Angaben zur Provenienz in den Onlinekatalogen erfasst.43 Einzelne Titel mit dem Stempel Yorcks waren von diesen Bibliotheken seit dem Ende der 1950er 40 Beschluß des Staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR über die Festlegung der westlichen Staatsgrenze Polens, 20.2.1945. 41 Vgl. Subkow, Nikolai u.a.: Bücher aus der Privatsammlung der Grafen Yorck von Wartenburg in russischen Bibliotheken, Moskau 2012, S. 43. 42 Vgl. Moltke, Wulf von: Einführung, in ebd. S. 37. 43 Im Katalog der Zentralen öffentlichen Majakowski-Stadtbibliothek in St. Petersburg (http://base.pl.spb.ru/) ist der Besitzstempel auf den Titelblättern der Bücher aus der Schlossbibliothek in der Form „Пометки владельца коллекции: Штамп на тит. л.: Gr. YORK || Kl. OELS“ vermerkt, darunter die Signaturen Англ J 76, Англ S 53, Исп F 69, Итал B 22, Итал C 76, Итал П P 51, Нем 83.3(4Гем)4 U 21, Нем K 65, Нем S 60, Нем T 54, Фр 63.3(4Герм) M 74 mit Provenienz Tieck/Yorck von Wartenburg. Auch die beiden Titel Ungern-Sternberg, Wilhelm: Geschichte des Goldes (Dresden 1835) und Hahn-Hahn, Ida: Gedichte (Leipzig 1835) mit dieser Provenienz befinden sich im Bestand, sind jedoch nicht im OPAC erfasst.
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Jahre im russischen Antiquariatsbuchhandel erworben worden. Ab 2009 wurden die Bücher zum Forschungsgegenstand der Initiative „Deutsch-Russischer Bibliotheksdialog“.44 Erst dieser „Dialog“ zwischen deutschen und russischen Bibliotheken regte zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Beständen der Majoratsbibliothek und ihrer Geschichte an. Nach den beispiellosen Raub- und Vernichtungszügen der Deutschen im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion hatte es auch nach Ende des Kalten Krieges noch fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis sich deutsche und russische Bibliothekarinnen und Bibliothekare zusammenfanden, um kriegsbedingt verlagerte Sammlungen zu katalogisieren, öffentlich zugänglich zu machen und dauerhaft zu bewahren. Im Fall der Klein Oelser Bibliothek war ein umfang- und bilderreicher Katalog der in Moskau und St. Petersburg aufbewahrten Bücher aus der Majoratsbibliothek Produkt dieser Bemühungen.45 Einige Jahre lang konnten zumindest die St. Petersburger Bestände yorckscher Provenienz auch online über eine Datenbank ausgelesen werden. Ob es dem Stillstand des deutschrussischen Austauschs über kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter infolge der Krimannexion 2014 geschuldet ist oder einem Mangel an Ressourcen, dass die entsprechende Suchmaske bereits seit längerer Zeit nicht mehr abrufbar ist, ist ungewiss.46 Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ab Februar 2022 wurden Forschungskooperationen zwischen westlichen und russischen Institutionen weitgehend eingestellt.47 Auch der Dialog zwischen deutschen und russischen Bibliotheken und Museen wurde bis auf Weiteres auf Eis gelegt.48 Im OPAC der Allrussische M. I. Rudomino-Staatsbibliothek für Ausländische Literatur (https://catalog.libfl.ru/) ist unter „Eigentümer (Person)“/ „Владелец (Персона)“ „Yorck-Wartenburg (Grafen von)“ vermerkt. Die Suche liefert 40 Treffer mit entsprechenden Provenienzvermerk, vgl. https://catalog.libfl.ru/Search/Results?lookfor= Yorck-Wartenburg+%28Grafen+von%29&type=AllFields&limit=50&sort=relevance (31.1.2023), darunter die Signatur R VII.A 1312 mit Provenienz Tieck/Yorck (http://catalog. libfl.ru/Record/REDKOSTJ_35717). 44 https://www.preussischer-kulturbesitz.de/schwerpunkte/kooperationen/deutschrussischer-bibliotheksdialog.html (31.1.2023). 45 Subkow u.a., Privatsammlung. 46 Die letzte vollständig archivierte Version in der Wayback Machine des Internet Archive stammt vom 30.5.2015, vgl. https://web.archive.org/web/20050707080658/http://www. libfl.ru/restitution/york/york.html (31.1.2023). 47 Vgl. u.a. https://www.bmbf.de/bmbf/shareddocs/kurzmeldungen/de/2022/03/weiterezusammenarbeit-mit-russland-belarus.html, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/ wissen/forschung/2139678-Wie-der-Krieg-die-Wissenschaft-beeintraechtigt.html, https://www.focus.de/wissen/natur/ukrainekrieg-folgen-auch-fuer-die-wissenschaft_ id_68905124.html, https://taz.de/Deutsch-russische-Zusammenarbeit/!5872696/ (31.1.2023). 48 Vgl. den entsprechenden Hinweis auf der Website der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zum Deutsch-Russischen-Bibliotheks- und Museumsdialog, wie FN 44 und https://
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Die in Russland befindlichen Bestände aus der Yorck-Bibliothek sind für die überwiegend im deutschsprachigen Raum angesiedelte Tieck-Forschung damit in weite Ferne gerückt. Dies ist bedauerlich, wird doch beinahe auf den ersten Blick in den Katalog der russischen Yorck-Bestände anhand der abgedruckten Besitzeinträge und Widmungen ersichtlich, dass ein erheblicher Teil der in Russland befindlichen Bücher von Ludwig Tieck stammt. Gleiches gilt für die weitaus größeren Teile der Klein Oelser Bibliothek, die auf polnischem Staatsgebiet verblieben.
Heutige Standorte von Büchern aus der Bibliothek Klein Oels in Polen
Wie die „Berlinka“ tieckscher Provenienz aus der Berliner Staatsbibliothek sind auch die Tieck-Bestände innerhalb der Majoratsbibliothek Klein Oels gut geeignet, um die Distribution sichergestellter historischer Buchbestände in den Nachkriegsjahren in Polen zu illustrieren. Auch sie wurden ab dem Frühjahr 1945 von den Behörden sichergestellt und auf verschiedene polnische Bibliotheken verteilt. Mehrere Tausend Bände aus der Schlossbibliothek gelangten an die geografisch nächstgelegene Bibliothek, die Universitätsbibliothek in Wrocław. Neben Letzterer beantworteten zehn weitere polnische Bibliotheken im Jahr 2020 eine Anfrage nach Büchern mit dem Klein Oelser Stempel mit einer positiven Auskunft.49 Meist sind nur Einzelbände mit entsprechender Provenienz in den jeweiligen historischen Beständen bekannt. www.preussischer-kulturbesitz.de/schwerpunkte/kooperationen/deutsch-russischermuseumsdialog.html (7.3.2023). 49 Eine größere Anzahl von Büchern aus der Majoratsbibliothek wird an der Jagiellonischen Bibliothek in Krakau aufbewahrt, an der Biblioteka Kornicka (BK-PAN, Kurniker Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften) finden sich sieben Titel (darunter BT 6394, Bd. 2), am Ossoliński-Institut Wrocław sechs Titel, an der Biblioteka Publiczna m. st. Warszawy (Öffentliche Bibliothek der Hauptstadt Warschau) drei Titel, an der Polnischen Nationalbibliothek (BN) mindestens ein Titel, nämlich der bereits erwähnte Auktionskatalog 1849. Mindestens ein weiterer Klein Oelser Band befindet sich auch an der Biblioteka Główna Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego w Warszawie (Hauptbibliothek der Kardinal-Stefan-Wyszyński-Universität in Warschau), an der Biblioteka Poznańskiego Towarzystwa Przyjaciół Nauk (Bibliothek der Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften) ein Titel (BT 7742), an der Biblioteka Śląska Katowice (Schlesische Bibliothek Kattowitz) ein Titel, an der Książnica Pomorska (Pommersche Stanislaw-Staszic-Bibliothek Stettin) ein weiterer Titel (BT 7171, Bd. 5), der über eine Abteilung der Universitätsbibliothek Warschau in Bialystok bezogen wurde. An der Universitätsbibliothek Warschau (BUW) selbst werden wiederum drei Bände einer Zeitschrift mit dem yorckschen Stempel aufbewahrt. Ich danke den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren vor Ort für die Recherchen und die freundliche Auskunft.
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Eine Erfassung von Provenienzmerkmalen ist nur im zeit- und ressourcenaufwendigen autoptischen Verfahren möglich, in dem nicht nur die bibliografischen Angaben zu vorhandenen Büchern aufgenommen werden, sondern in dem jedes einzelne Exemplar auch auf seine individuellen materiellen Besonderheiten wie Besitzeinträge, Widmungen und Marginalien überprüft wird. Eine solche Bestandserschließung ist an keinem der polnischen Standorte bislang systematisch vorgenommen oder gar abgeschlossen worden, daher können die entsprechenden Auskünfte zu Beständen mit Yorck-Provenienz nur bedingt als zuverlässig oder repräsentativ für den Gesamtbestand angesehen werden.
Bücher aus Klein Oels an der Universitätsbibliothek Wrocław
Auch große Teile der umfangreichen und wertvollen historischen Bestände der Universitätsbibliothek Wrocław, an die der weitaus größte bekannte Anteil der Yorck-Bibliothek sowie weitere „sichergestellte Sammlungen“ gelangten, sind nur mit den bibliografischen Basisdaten in digitalisierten Zettelkatalogen erfasst.50 Informationen zur Provenienz fallen allenfalls bei der Durchsicht der gescannten Titelblätter ins Auge, lassen sich jedoch nicht systematisch auslesen. Laut Auskunft der Bibliothek waren im Jahr 2017 knapp 6000 Drucke aus Klein Oels im Bestand bekannt. Älteren Angaben aus den 1960er Jahren zufolge soll „ein Zehntel“ der Schlossbibliothek an die Universitätsbibliothek Wrocław gelangt sein.51 Bei einem angenommenen Umfang von ca. 120.000 Bänden im Jahr 1945 entspräche das gut 12.000 Bänden. Von den etwa 800 Titeln, die Tieck aus der Auktion seiner Bibliothek 1849 für Yorck zurückkaufte und die sich auf Basis der Angaben aus dem Auktionskatalog gut recherchieren lassen, sind rund 300 Titel in knapp 700 Bänden heute in Wrocław nachweisbar. Reihen, die im tieckschen Versteigerungskatalog noch vollständig angeboten wurden, sind dabei oftmals nur mehr lückenhaft vorhanden, was darauf schließen lässt, dass die Überstellung der Bände an die Universitätsbibliothek über Zwischenstationen und in ungeordneten Bahnen erfolgte.52 50 Eine Übersicht der digitalisierten Kataloge findet sich unter https://www.bu.uni.wroc. pl/de/kataloge/digitalisierte-kataloge. Die Yorck-Bestände sind überwiegend im „Fotokatalog der so genannten Null-Signaturen“ zu finden: https://www.bu.uni.wroc.pl/de/ kataloge/digitalisierte-kataloge-nullen-katalog (31.1.2023). 51 Vgl. Gründer, Karlfried: Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen, Göttingen 1970, S. 15. 52 Im Fall von Tobias Smoletts „The History of England“ (BT 6394, 8vol. Basel 1794) finden sich etwa mehrere Bände der Reihe an der Universitätsbibliothek Wrocław (Bd. 3–8, 035463), ein Einzelband, der ebenfalls den yorckschen Stempel trägt, jedoch auch an
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Von der Wissenschaft wurden die Bestände aus Klein Oels an der UB Wrocław bislang kaum zur Kenntnis genommen, dabei finden sich interessante und seltene Exponate darunter.53 Exemplarisch sollen abschließend die Objektbiografien zweier Titel aus dem 17. Jahrhundert geschildert werden. Unter Berücksichtigung des „Doppelcharakters des Buches“54, nämlich ihrer inhaltlich-intellektuellen und ihrer materiellen Dimension einschließlich aller Besitz- und Lesespuren, sind diese Bücher als Zeugen einer europäischen Lesekultur von der Frühen Neuzeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anzusehen. Die Akteure, die zu ihrem Erhalt über die Jahrhunderte und zu ihrer „Migration“ von England nach Deutschland und schließlich nach Polen beitrugen, haben sich wortwörtlich in die beiden Bücher eingeschrieben. Die Rückverfolgung der enthaltenen Besitzspuren gibt Aufschluss über einzelne Sammler und Buchhändler, die zum literarischen Transfer zwischen den Herkunftsländern und -schichten der Vorbesitzer beigetragen haben. Beide Titel fügen sich klar ins Profil von Tiecks Sammlung mit ihrem Schwerpunkt auf früher Englischer Literatur ein. So wird als Los Nr. 2273 im tieckschen Auktionskatalog William Smiths „The Hector of Germany“55 angeboten, ein 1615 in London erschienenes Stück des um 1550 geborenen britischen Herolds William Smith, der von 1571 bis 1591 in Nürnberg lebte.56 Der Band enthält Spuren des Exlibris sowie einen Dublettenstempel der Bridgewater Library. Diese Privatbibliothek der Familie Egerton stellt eine der ältesten Sammlungen früher Englischer Literatur dar, die bis ins 20. Jahrhundert bestand und aus der das Buch offenbar ausgesondert wurde.57 Der handschriftliche Besitzeintrag eines Thomas Jolley gibt Aufschluss über einen weiteren Vorbesitzer des Bandes: Die
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der Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Kórnik (Bd. 2, Biblioteka Kórnicka, 154194), während der Verbleib des ersten Bandes gänzlich unbekannt ist. Zur Distribution von Einzelbänden aus Reihen an andere Bibliothek kam es offenbar häufiger. Beiträge liegen lediglich zu den für die Romanistik interessanten Beständen aus Klein Oels vor, vgl. Baczyñska, Beata/Losada Palenzuela, José Luis: Libros españoles en el fondo antiguo de la Universidad de Wroclaw, in: Lobato, María Luisa/Matito, Francisco Domínguez (Hg.): Actas de los Congresos de la Asociación Internacional Siglo de Oro VI (2002). Tomo II, S. 1195–1202. Vgl. Messerli, Alfred: Leser, Leserschichten und -gruppen, Lesestoffe in der Neuzeit (1450–1850): Konsum, Rezeptionsgeschichte, Materialität, in: Rautenberg, Ursula (Hg.): Buchwissenschaft in Deutschland: Ein Handbuch, Berlin/New York 2010, https://doi-org. uaccess.univie.ac.at/10.1515/9783110211924, S. 444. BT 2273: Smith, William: The hector of Germany. Or The Palsgrave, Prime Elector. London 1615, UB Wrocław, 017637. Kathman, David: William Smith, „The Freeman’s Honour“, and the Lord Chamberlain’s Men, in: Knutson, Roslyn L./McInnis, David/Steggle, Matthew (Hg.): Loss and the Literary Culture of Shakespeare’s Time, Cham 2020, S. 166–167. Die Sammlung wurde 1917 en bloc von der Huntington Library angekauft und befindet sich heute in Kalifornien. Vgl. https://researchguides.huntington.org/bridgewater (31.1.2023).
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Bibliothek Jolleys, über den kaum mehr bekannt ist, als dass er eine riesige Büchersammlung besaß, wurde in einer Reihe von Auktionen in den Jahren 1843 bis 1855 bei Sotheby verkauft. Der Titel ist im vierten Teil des Versteigerungskataloges als Nr. 883 nachweisbar.58 Vermutlich erwarb ein Kommissionär den Band im Jahr 1844 aus der Auktion im Auftrag Tiecks, von dem er ein knappes Jahrzehnt später nach Klein Oels gelangte.
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Titelblatt von Los 2273: William Smith: The hector of Germany, London 1615, UB Wrocław, Sig. 017637 mit dem yorckschen Stempel (Foto: Theresa Mallmann).
Catalogue of the fourth portion of then extensive, singularly curious and valuable library of Thomas Jolley, Esq. F.S.A. comprising the third division of the extensive assemblage of the works of the early English poets, old English dramatists, with other rare and curious books, London 1844, S. Leigh Sotheby & Co, 10.–16.06.1844, S. 70, Nr. 883.
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Den vielleicht prominentesten Fund innerhalb der Tieck-Bestände in Wrocław stellt Los Nr. 1965 aus dem Auktionskatalog dar. Von dieser 1632 unter dem Titel „Sixe Court Comedies“59 erschienenen ersten Sammlung der Stücke des Renaissance-Dramatikers John Lyly sind nur wenige Exemplare erhalten. Der Worldcat nennt nur eine Handvoll bestandshaltende Bibliotheken, das nur im dortigen Zettelkatalog erfasste Exemplar in Wrocław ist nicht darunter. Eine eindeutige Identifikation des Buches als Exemplar aus Tiecks Besitz ermöglicht eine Angabe im Auktionskatalog 1849, die den Band als große Seltenheit ausweist. So wirbt der Katalog damit, dass der Band aus dem Besitz Oliver Cromwells stamme. Tatsächlich beinhaltet das Exemplar den Bleistifteintrag eines „F. G. Waldron“ auf dem Schmutzblatt, der da lautet: „This Volume belonged to Oliver Cromwell / The opposite Ms. is his Autograph: I had it out of the Library of my most dear friend M. Samuel Paterson“. Auf der Vorderseite des Schmutzblattes findet sich denn auch ein Besitzeintrag, der dem puritanischen Revolutionär zugeschrieben werden könnte.
Abb. 16.7 Autograph Oliver Cromwells in John Lyly: Sixe Court Comedies (London 1632), UB Wrocław, Sig. 037383 (Foto: Theresa Mallmann).
Eine abschließende und sichere Identifikation von Cromwells Autogramm liegt nicht vor, doch selbst wenn es sich hierbei um eine – beabsichtigte oder versehentliche – Fehlzuschreibung handeln sollte, ist die Provenienzkette, die dem Band durch handschriftliche Einträge und Stempel eingeschrieben ist, doch für sich bemerkenswert. Vor Tieck reicht sie von Cromwell (1599– 1658) über Samuel Paterson (1728–1802)60, einem Buchhändler, Auktionator 59 BT 1965: Lyly, John: Sixe Court Comedies, London 1632, UB Wrocław, Sig. 037383. 60 Paterson, Samuel, in: Dictionary of National Biography, 1885–1900, vol. 44, S. 22–23.
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und Autor, zu Francis Godolphin Waldron (1744–1818)61, dem Verfasser der Anmerkung auf dem Schmutzblatt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Tieck das Buch von Waldron, der als Schriftsteller, Schauspieler sowie als Herausgeber und Buchhändler tätig war, während seiner Englandreise 1817 erwarb. Spätestens mit Tieck fand der Band schließlich seinen Weg aufs europäische Festland und kam nach Tieck über Graf Yorck an die UB Wrocław. Auch jenseits solcher handschriftlichen Zeugnisse ihrer Vorbesitzer sind die Bücher, die aus den Bibliotheken Tiecks und Yorcks stammen, als materielle Zeugen einer sich verändernden Lesekultur und wechselnder historischer Gegebenheiten zu betrachten. Die Bände tragen Spuren ihrer Vorbesitzerinnen und Vorbesitzer in Form von Besitzeinträgen, Marginalien und Anstreichungen. Sie bezeugen das sich verändernde Interesse an Texten und dem Besitz von Büchern als Forschungsgegenständen ebenso wie als Träger symbolischen Kapitals. Die durch Yorck von Wartenburg von Tieck erworbenen Bände gelangten zwischen 1849 und 1853 als Prestigeobjekte einer umfassenden Adelsbibliothek in Klein Oels an einen Ort des liberalen Denkens, an dem sich Adel und Bürgertum begegneten. 1849 wurden die Bücher durch die Auktion aus dem Sammlungskontext einer romantischen Schriftstellerbibliothek entfernt und in einen neuen Zusammenhang überführt, um dann im Zuge des Zweiten Weltkrieges noch ein weiteres Mal in andere Sammlungen verbracht zu werden. Seit dem Zweiten Weltkrieg fristen sie – auch aufgrund ungeklärter Restitutionsfragen – in den Depots mancher Bibliotheken ein eher unbeachtetes Randdasein. Als Male ihrer Orts- und Funktionswechsel tragen sie die Stempel ihrer Vorbesitzer in sich. Mit der historischen Distanz und den Mitteln der Digitalisierung wurde, so ist zu hoffen, mit der Datenbank „Ludwig Tiecks Bibliothek“ ein neuer Ort geschaffen, an dem die Geschichte dieser Bücher und ihrer Vorbesitzer transparent gemacht wird. Literaturverzeichnis
Briefe und Archivalien
Akzessionsjournal der Kgl. Bibliothek Berlin, 1850, S. 278–291, Akz.nr. 88719-88903. Archiwum Panstwowe we Wroclawiu, Sig. 82/157/0/153, Katalog zur Graf Yorck von Wartenburgschen Bibliothek in Klein Oels. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Sig. I. HA Rep. 76, Vd Sekt. 31 Nr. 39 Bd. 1, Ankauf einer Sammlung spanischer Theaterstücke aus der Bibliothek des 61
Waldron, Francis Godolphin, in: Dictionary of National Biography, 1885–1900, vol. 59, S. 27–28.
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Geheimen Hofrats Dr. Tieck und Übergabe dieser Sammlung an die Königliche Bibliothek in Berlin nach dem Tod des Dr. Tieck, 1849–1853. Henriette von Finckenstein an Friedrich von Raumer, Dresden, 4.11.1836, in: Baillot, Anne (Hg.): Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, http://www.berliner-intellektuelle.eu/ manuscript?HvF-an-FvR_1836-11-04 (31.1.2023). Kaufvertrag zwischen Ludwig Tieck und Graf Yorck von Wartenburg, Berlin, 15.5.1852, zit. n. Zeydel, Edwin/Matenko, Percy/Fife, Robert Herndon (Hg.): Letters of Ludwig Tieck. Hitherto Unpublished. 1792–1853. New York/London 1937, S. 549–551. Leipziger Zeitung 15.5.1853, S. 2429. Ludwig Tieck an Friedrich von Raumer, Dresden, 11.11.1836, in: Baillot, Anne (Hg.): Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800. Berlin: Humboldt-Universität zu Berlin, http://www.berliner-intellektuelle.eu/manuscript?LT-an-FvR_1836-11-11 (31.1.2023). Ludwig Tieck an Graf Yorck von Wartenburg, Berlin, 15.8.1852, zit. n. Zeydel, Edwin/ Matenko, Percy/Fife, Robert Herndon (Hg.): Letters of Ludwig Tieck. Hitherto Unpublished. 1792–1853. New York/London 1937, S. 552. Niedersächsisches Landesarchiv, NLA WO 298 N, Briefe an den Hofbuchhändler Eduard Leibrock in Braunschweig [verstorben 7.3.1873], insbesondere von Ludwig Tieck, 19.6.1850–Juni 1852, Nr. 328.
Forschungsliteratur
Baczyñska, Beata/Losada Palenzuela, José Luis: Libros españoles en el fondo antiguo de la Universidad de Wroclaw, in: Lobato, María Luisa/Matito, Francisco Domínguez (Hg.): Actas de los Congresos de la Asociación Internacional Siglo de Oro VI (2002). Tomo II, S. 1195–1202. Bauer, Karoline: Verschollene Herzensgeschichten. Nachgelassene Memoiren von Karoline Bauer. Bearbeitet von Arnold Wellmer. Bd. 3, Berlin 1831. Biblioteka Narodowa/Nationalbibliothek, in: Fabian, Bernhard (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter Kükenshöner, Hildesheim 2003, https://fabian.sub.uni-goettingen.de/ fabian?Nationalbibliothek(Warschau) (31.1.2023). Bibliotheken in Berlin, in: Fabian, Bernhard (Hg.): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa. Digitalisiert von Günter Kükenshöner, Hildesheim 2003 https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Bibliotheken_In_Berlin (31.1.2023). Boerner, C. G.: Die Sammlung Graf Yorck von Wartenburg. Deutsche Kupferstiche und Holzschnitte des XV. und XVI. Jahrhunderts […] Versteigerung: Montag und Dienstag, den 2. und 3. Mai 1932. (Katalog Nr. 176), Leipzig 1932.
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Theresa Mallmann
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The Autobiography of Josef Popper-Lynkeus Michael Hagner Abstract Books have always been threatened, but no century was more devastating for the written word than the twentieth. Books in public and private libraries were confiscated, displaced or destroyed, and their owners were killed or dispossessed and forced to emigrate. Only recently have public institutions been dedicated to researching the provenance of these books and, in some cases, ensuring they are restituted to the heirs of their former owners. However, an unknown number of books have survived incognito in private collections or circulated on the international antiquarian market. Given the historical thinning of memory traces, it is even more important to bring books out of the shadow; to clarify their provenance and recall the history of those who wrote, owned or circulated these books. In this paper, I present one such case involving a book from my own library.
In his recently published book on the Ringelblum Archive of the Warsaw Ghetto, Georges Didi-Huberman reflects on the role of this archive for our time: “The history of others will never cease to teach us something about our own, however explosive and singular it may be. Today we need to reread Emanuel Ringelblum to perhaps understand what is happening in other times and places.”1 Undoubtedly, the story of the foundation and partial rescue of this particular archive is highly explosive and singular because Ringelblum and his collaborators collected personal documents to keep alive the memory of the ghetto’s inmates, who lived in ever-increasing despair. For Didi-Huberman, the tireless activity of those facing death is the “prime example of a politics of memory that has detached itself from the perspective of one’s own life or death.”2 This perspective will always remain singular, but the idea of collecting as much as possible “because nothing is insignificant in this history” is not only valid in the face of the devastation of the Warsaw Ghetto. Indeed, wherever 1 Didi-Huberman, Georges: Zerstoben. Eine Reise in das Ringelblum-Archiv des Warschauer Ghettos, Göttingen 2022, p. 104. 2 Ibid., p. 68. Didi-Huberman refers in this context to the diarists and memoirists in the Warsaw Ghetto, but of course the politics of memory apply to everyone else involved in this work.
© Brill Schöningh, 2024 | doi:10.30965/9783657791750_018
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people and their cultural assets are threatened, the work of collecting their personal testimonies, pictures, letters and manuscripts – and today we must add data files and hard disks – which have often been handed down only for accidental reasons, is an expression of a politics of memory that constantly renews its sensitivity to the threats posed to people and their cultural assets. The history of books and libraries under assault also belongs in this context. As Richard Ovenden recently reminded us, books have always been threatened, but no century was more devastating to the written word than the twentieth.3 Books in public and private libraries were confiscated, displaced or destroyed, and their owners were killed or dispossessed and forced to emigrate. Many of these books ended up at the stake; others were absorbed into public libraries and archives. Only recently have public institutions been dedicated to researching the provenance of those books and, in some cases, ensuring they are restituted to the heirs of their former owners.4 However, what of the unknown number of books that have survived incognito in private collections or been circulated on the international antiquarian market? This is a huge, confusing field, but given the historical thinning of memory traces it is even more important to bring books out of the shadow; to clarify their provenance and recall the history of those who wrote, owned or circulated these books. Researching their history on the basis of antiquarian catalogues, book auctions and individual antiquarian bookshops is a laborious – though not hopeless – undertaking. In an article on the legendary Zurich antiquarian Theo Pinkus, historian Erich Keller plausibly argued that Pinkus gathered his enormous book holdings in part from the libraries of Jewish emigrants who were officially forced to leave Switzerland and move to America from 1940 onwards.5 So far, we know very little about such books, collectors, emigrants and antiquarian booksellers. There are certainly differences in size between important book collections of famous authors such as Karl Wolfskehl or Stefan Zweig, which are regarded as part of the cultural heritage and researched at considerable expense, and the sometimes dingy, forgotten small items frequently considered less relevant.6 The varied features of these neglected objects reveal the 3 Ovenden, Richard: Burning the Books: A History of the Deliberate Destruction of Knowledge, Cambridge/MA 2020. 4 See Alker, Stefan/Bauer, Bruno/Stumpf, Markus (eds.), NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken, Berlin 2017. 5 Keller, Erich: Der totale Buchhändler. Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 26, 2018, pp. 126–148, p. 135. 6 Wolfskehl’s library is being virtually reconstructed at the Deutsches Literaturarchiv Marbach. See https://www.dla-marbach.de/bibliothek/projekte/die-bibliotheken-von-karl-wolfskehl/
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circumstances of their journeys from printers, publishers and bookshops into the hands of different owners and their migration from one place to another. For example, foxing, paper tearing, brittleness of the binding and other forms of decay, dedications, name entries, underlining, marginal notes, slips of paper and newspaper cuttings inserted into the book, bookmarks, and bookplates all represent fragments of a history that can tell us something not only about the contents of the book but also about those who worked with it at some point in their lives. They acquired the book, owned it, read it or didn’t read it, packed it up during a voluntary or forced move and sent it on its way – perhaps they gave it away, sold it under precarious conditions or simply lost it. The point is not whether each individual case – a book, an author or a copy – necessarily has a story to tell; at times, such a case may simply remain a blur, leaving us unable to discern anything further. However, we should remember what Jacob Burckhardt recommended to the beginners of the study of history: “One must seek and want to find; one must believe that in all rubble lie buried gems of knowledge, be it of general value, be it of individual value for us.”7 In this context, the “general” and the “individual” should not be understood as mutually exclusive alternatives. Playing around with the basic idea of “microstoria” 100 years in advance, Burckhardt was willing to take “the individual for a general”, as long as the historian remained open to correction, contextualisation and contrast. These cues are also useful for the history of the book: To go in search, to snoop around, to look closely and to be attentive for stories hidden in inconspicuous books that may help to understand what happened “in other times and places.” For what is or is not significant can only be judged after it has been more closely examined. In the historical context of colonial objects, Bénédicte Savoy called for the “study of the major translocations of cultural objects”, adding that “one must always pay special attention to their historical, political, cultural, ideological, and symbolic conditions, and thus to the particularities of each individual case.”8 For Savoy, the elaboration of these particularities is directed to the question of whether there is a case for possible restitution, virtuelle-rekonstruktion-der-bibliothek-wolfskehl-in-kiechlinsbergen-1937/. (all Internet sources were accessed 9 March 2023). Cf. also Jessen, Caroline: Der Sammler Karl Wolfskehl, Berlin 2018. On Zweig see the project of the Literaturarchiv Salzburg: https://www.stefanzweig. digital/archive/objects/context:szd/methods/sdef:Context/get?mode=about&locale=de. Cf. also Matthias, Stephan/Matuschek, Oliver: Stefan Zweigs Bibliotheken, Dresden 2018. 7 Burckhardt, Jacob: Über das Studium der Geschichte, in: idem, Werke: Kritische Gesamtausgabe, vol. 10, Munich/Basel 2000, p. 159. 8 Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018, p. 53.
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while simultaneously it is a question of what value an individual case has in more general history. In other words, the reconstruction of an individual case and the politics of restitution are two sides of the same coin. In what follows, I present one such case concerning a book from my own library. I have already written in anecdotal form about this special object in my book “Die Lust am Buch”.9 Here, I wish to revisit it in a broader context of political memory and rely on Burckhardt’s, Savoy’s and Didi-Huberman’s considerations when focusing on a cultural object that appears small and marginal at first glance. I do not uncritically consider the individual to be the general, but rather I am guided by the question of what value even the most insignificant individual case can have for the ongoing history of the translocation of books under precarious historical conditions. When I spent a semester in Tel Aviv in 1999, I regularly visited antiquarian bookstores, always searching for old books that got to the heart of my passion for collecting. Perhaps since the 1970s, antiquarian bookshops in Jerusalem, Tel Aviv or Haifa have been an El Dorado for bibliophile collectors, especially from German-speaking countries, because the libraries that emigrated with their owners to Palestine before the Second World War gradually ended up in antiquarian bookshops with the passing of this generation as their heirs frequently had little use for German language and literature. For a number of books that is difficult to estimate, this marked the beginning of a return journey to those German-speaking regions of Europe they had been forced to leave two generations earlier. During my visits to antiquarian bookstores, I had the impression that the supply of German-language books was gradually drying up and that the great days of an overflowing supply were over. Perhaps my expectations were set much too high. In any case, I found the self-biography of Josef Popper-Lynkeus in the first public edition from 1917 in a somewhat neglected basement antiquarian bookstore that had only a few German-language books left to offer.10 What I knew about Popper at the time was that he was an Austrian engineer and writer whose corpus, in addition to mathematical-physical and technical 9 Hagner, Michael: Die Lust am Buch, Berlin 2019, pp. 59–63. 10 Popper-Lynkeus, Josef: Selbstbiographie, Leipzig 1917. The literature on Popper is limited. Besides the monograph by Belke, Ingrid: Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende, Tübingen 1978, see Fruhwirth, Andrea: Josef Popper-Lynkeus. Zwischen Individualethik, Ich-Verlust und Social Engineering. Anthropologische Montagefahrten eines Maschinen- und Menschentechnikers, Graz 2003; Brezina, Friedrich F.: Gesicherte Existenz für Alle – Josef Popper-Lynkeus (1838– 1921), Vienna 2013.
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works, included a number of socio-political and philosophical writings that had brought him some fame in the early twentieth century. His best-known book, “Phantasien eines Realisten”, first published in 1899, was reissued in the 1980s by the publishing house Gustav Kiepenheuer in the German Democratic Republic.11 I had bought a copy somewhere in West Berlin and read it soon after: a sympathetic book in which Popper’s social and moral philosophical convictions were wrapped up in easily graspable anecdotes and stories. I was not aware of other writings by Popper until then. I had not looked for them specifically, but they also rarely appeared in stores before the Internet transformed the antiquarian book market. A closer examination of the somewhat tattered booklet in plain soft cover revealed it was a dedication copy. In the typical Sütterlin script of the time, the endpaper reads: “To the very honored Dr. Richard Glas, the excellent assistant physician at the Rothschild Hospital in Vienna, most respectfully presented by the author.” Popper’s autobiography was published in 1917. In the following year, he underwent a kidney stone operation at the Rothschildspital, the hospital of the Jewish Community of Vienna, opened in 1873.12 In 1921, Popper died at the age of 83. The example of Popper’s autobiography made me realise that one can engage with a book in very different ways. First, I read the book soon after acquiring it. The impression recorded in a few notes was confirmed by rereading: This is not a particularly engaging, detailed or comforting book. As the preface indicates, Popper wrote his autobiography at the suggestion of the German chemist and monist Wilhelm Ostwald and printed a few copies of the manuscript in the spring of 1915 because the onset of the First World War had initially prevented publication.13 Two years later, the volume appeared in the publishing house Unesma in Leipzig, which Ostwald founded to publish his own books as well as other writings on monism. Even though the booklet ends with the conciliatory words “I am satisfied”, Popper’s rather unfavourable life balance can be summarised in three interrelated aspects. First, his bitterness about the fact that his scientific and technical achievements, which after all had also led to some successful patents, were too little appreciated in the scientific community. Second, his disappointment about the unfriendly-to-hostile reception of his writings in the humanities. Third, his resignation in the face 11 Popper-Lynkeus, Josef: Phantasien eines Realisten, Leipzig/Weimar 1986. 12 See Popper-Lynkeus, Josef: Gespräche. Mitgeteilt von Margit Ornstein und Heinrich Löwy, Vienna/Leipzig 1925, pp. 18–19. 13 A copy of this manuscript is currently (March 2023) offered by the antiquarian bookseller Christian Strobel. It is a dedication copy for the philosopher, sociologist and pedagogue Wilhelm Jerusalem. See https://antiquariat-strobel.de.
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of the rampant anti-Semitism he had to witness especially following the devastating populist propaganda of Vienna’s notoriously antisemitic mayor Karl Lueger.14 Each of these points would be worthy of more detailed discussion, but I am concerned here with the second approach to this book, directed at the object itself, which occurred quite a few years later and in a different place. First, I was interested in Popper’s dedication to the ward physician who treated him in the Rothschild Hospital. Dr. Richard Glas was almost certainly a physician born in Vienna in 1890 who worked in the urological department as an assistant of the famous Otto Zuckerkandl. Glas held out at the Rothschild Hospital until 1939, when he was forced to flee the Nazis. He emigrated to Palestine and settled in Tel Aviv as a urologist.15 It is not known how many books the physician was able to take with him from Vienna, but to all appearances they included Popper’s dedication copy. Glas lived until 1960, and sometime after that, like so many other books by emigrants, the book found its way to the aforementioned antiquarian bookshop in Tel Aviv and thus into my hands. This story sounds plausible, but it may be a little more complicated. On the back cover of the book is a bookplate of the Viennese antiquarian bookshop Brüder Suschitzky. The size of the 3 × 5 cm bookplate is quite modest, but the programmatic claim is all the more self-confident for that. The exhortation “Ad Lucem!” reveals a self-image in the spirit of the Enlightenment, but the pictorial motif of the sun in the background, surrounded by heavy clouds, also suggests that the business of Enlightenment is notoriously endangered by obscuration. This ambiguity well fits the activity of the brothers Wilhelm and Philipp Suschitzky. In 1901, they founded a bookstore in Vienna’s working-class district of Favoriten. They explicitly promoted social justice and democracy, reason and a scientific view of the world, the emancipation of women, and liberal sex education. To underscore their claims, the Suschitzky brothers also founded a publishing house named after the popular liberal playwright Ludwig Anzengruber which, in addition to commercially lucrative fiction, published books, pamphlets and periodicals on the topics listed above. Among the publishing house’s best-known authors were the sociologist Rudolf Goldscheid, the biologist Paul Kammerer, the writer and women’s rights activist Rosa 14
Karl Lueger was mayor of Vienna since 1897 and already deceased in 1910, but he undoubtedly contributed significantly to the spread of anti-Semitism. For Lueger’s influence on young Adolf Hitler see Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, Munich 2007, 9th ed., pp. 393–435. 15 See Schultze-Seemann, Fritz: Geschichte der deutschen Gesellschaft für Urologie, Heidelberg 1986, p. 142; Figdor, Peter Paul: Biographien österreichischer Urologen, Vienna 2007, p. 191.
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Abb. 17.1 Exlibris of the Viennese antiquarian bookshop Brüder Suschitzky
Mayreder, the psychiatrist and brain anatomist August Forel, the psychoanalyst Paul Federn and also Josef Popper himself, who published four slim pamphlets on the War, on socialism and on the engineer Anton Jarolimek between 1917 and 1920.16 Direct contact between Popper and the Suschitzkys probably occurred through the Austrian Monist League, which was headquartered in the bookstore and also held events there. The Monist League was founded by the Darwinian biologist Ernst Haeckel in 1906 and quickly became a melting pot for heterogeneous ideological and scientific goals, but whose common foundation was secularism, scientific positivism and holistic natural philosophy.17 The Austrian section of the Monist League was characterised by anticlericalism, 16 A bibliography of the publisher’s output can be found in the instructive Master Thesis by Lechner, Annette: Die Wiener Verlagsbuchhandlung “Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky” (1901–1938) im Spiegel der Zeit, University of Vienna, 1994 (https:// www.wienbibliothek.at/sites/default/files/files/buchforschung/lechner-annetteanzengruberverlag.pdf). 17 On the history of the Monist League see Weikart, Richard: Evolutionäre Aufklärung? Zur Geschichte des Monistenbundes, in: Ash, Mitchell G./Stifter, Christian (eds.): Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit: Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Vienna 2002, pp. 131–148.
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pacifism and a scientific worldview, as well as a commitment to the women’s movement and socialism.18 Popper also joined the Monist League and may have been a guest at internal meetings and public events on several occasions, despite his advanced age and health problems. The Suschitzkys, in turn, not only offered the books of the Monists in their bookstore but also published the writings of the Monist League in Austria on commission. Therefore, it is plausible that the Suschitzky brothers also arranged for the distribution in Austria of the books of Ostwald’s Leipzig publishing house Unesma, who published Popper’s autobiography. This may have been how Popper obtained the author’s copies of his book, one of which he gave to his attending physician at the Rothschild Hospital. However, the personal connections between Popper and the Suschitzkys do not sufficiently explain how their bookplate got into the copy of interest here. Did they habitually affix it to those books they sold in their bookstore or passed on to their authors? If so, it is more accurately understood as a label or signet of the bookstore than as a bookplate, if this distinction makes any sense at all here. Alternatively, did the brothers reserve it for the books they included in their own working library? That would be the more conventional variant, but then this copy would have to have somehow come into their possession. Are we to assume that Dr. Glas sold the copy dedicated to him to the Suschitzkys while still in Vienna, perhaps because the book did not, after all, interest him that much? This is unlikely, because how then could the copy have reached Tel Aviv? Nevertheless, from this perspective, another emerges, which brings the work of Wilhelm and Philipp Suschitzky into focus.19 With their publishing programme and their political-ideological activities, the Suschitzkys were exposed to political and anti-Semite motivated hostilities during the entire period of their existence as booksellers and publishers between 1901 and 1938. Disputes with the authorities were the order of the day. The situation worsened with the rise of Austrofascism and the appointment of Engelbert Dollfuß as Federal Chancellor of Austria in May 1932. Wilhelm Suschitzky committed suicide in 1934 at a time when the publishing house was facing increasing harassment and was also under such economic pressure that book production almost came to a standstill. Since 1933, the sales market 18 See Stadler, Friedrich: Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 1918–1938. Soziologisches und Ideologisches zur Spätaufklärung in Österreich, in: Kadrnoska, Franz (ed.): Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Vienna 1981, pp. 441–473. 19 To the following see Lechner, Wiener Verlagsbuchhandlung.
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for the publisher’s books had been lost in Germany, and the banning of the Social Democratic Party after they lost the elections in Austria in 1934 did the rest. In 1938, the bookstore was closed and dissolved by the National Socialists. Philipp Suschitzky and his wife managed to escape to Paris, but in 1942 they were deported to Auschwitz and murdered. The book stocks of the liquidated bookstore and publishing house were confiscated in 1938 and gradually sold in the auction rooms of the Vienna Commercial Court from March 1939. From there, they found their way into the antiquarian book trade, public libraries and private collections. In recent years, individual books have been found in various Viennese libraries, identified by the aforementioned bookplate or signet or by a stamp. In addition, some volumes have been restituted to Wilhelm Suschitzky’s son, the photographer and cameraman Wolf Suschitzky, who emigrated to London, and after his death in 2016 to his descendants. The restituted books also include a copy of the two-volume Festschrift “Was wir Ernst Haeckel verdanken” (What we owe to Ernst Haeckel) edited by Heinrich Schmidt at Unesma, which also contained the Suschitzky brothers’ bookplate and was in the holdings of the library of the Vienna University of Economics and Business.20 Could the copy of Popper’s autobiography be a candidate for restitution after all? Did the Suschitzky bookstore own this copy at any time? If the book was in their possession on 12 March, 1938, the situation would be clear: restitution to the heirs. Undoubtedly, however, this book was also in the possession of Josef Popper and Richard Glas. Finally, someone must have taken the copy to Tel Aviv – most likely the urologist who had owned the book since 1918 and fled Vienna in 1939. Based on what we know so far, this is the most obvious assumption but still not the whole story, because the book contains yet another bookplate in the imprint, this time with the name Appenzeller Architekt. 20 Siehe https://www.wu.ac.at/en/library/wu-library/provenance. Further volumes from the library of the University of Economics and Business and from the Vienna University Library were restituted in 2019. See Stumpf, Markus u.a.: Übergabe an die Erben der Buchhandlung “Brüder Suschitzky”. Gemeinsame Restitution der Universitätsbibliotheken der Universität Wien und der Wirtschaftsuniversität Wien (Wien, 30 April 2019), in: Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare,72(2), 2019, pp. 578–584 (https://journals.univie.ac.at/index.php/voebm/article/view/2840/2981). For the University Library of the Medical University in Vienna, see Bauer, Bruno/ Mentzel, Walter: NS-Provenienzforschung an der Medizinischen Universität Wien 2013 und 2014. Restitution von Büchern aus dem Antiquariat Hans Peter Kraus sowie der Verlagsbuchhandlung Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, in: Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 69 (2), 2015, pp. 320– 333 (https://journals.univie.ac.at/index.php/voebm/article/view/581/128).
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Abb. 17.2 Exlibris Appenzeller Architekt
This bookplate is the black swan in the story. The drawing and the sans-serif grotesque font can easily be identified as an example of the modernist design cultivated among the Bauhaus architects in Tel Aviv. Furthermore, the German word “Architekt” suggests that Appenzeller felt he belonged to the German rather than the Hebrew or English linguistic tradition. This is all the more remarkable because the name does not appear in Myra Warhaftig’s account of German-speaking Jewish architects in Palestine.21 This lacuna strongly suggests that this architect lacked any direct relationship to Germany or Austria or had not studied or worked there. A few years ago, the Jerusalem auction house Kedem auctioned some architectural sketches of houses in Tel Aviv and Ramat-Gan made by an A. Appenzeller between 1927 and 1942, which unmistakably bear the signature of the Bauhaus.22 Who was this Appenzeller? The Guide of the Central Zionist Archives lists an A. Appenzeller born in 1901, but that is all I currently know of this person. 21 Warhaftig, Myra: Sie legten den Grundstein: Leben und Wirken deutschsprachiger jüdischer Architekten in Palästina 1918–1948, Tübingen 1996. Auch in ihrem später publizierten Lexikon ist kein Appenzeller verzeichnet. Cf. idem, Deutsche jüdische Architekten vor und nach 1933: Das Lexikon, Berlin 2005. 22 See https://www.kedem-auctions.com/en/content/collection-architectural-drawings-–appenzeller.
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Furthermore, the Holocaust Memorial Museum bears the name of an Adam Emmanuel Appenzeller, who was born in Krakow in 1889 and studied architecture in Vienna. That would fit, but this Appenzeller lived in Czernowitz and Prague and later emigrated to Australia.23 There is no mention of Eretz Israel. At this point I have made no progress, but there are traces that can be followed up. For this, the bookplate gives another hint. The number 108 is written on it in ball pen, which suggests that the architect numbered his books, and a chronological post quem can be determined because ball pens only became a mass product in the late 1940s. With this certainly fragmentary information, it is possible to summarise the possible history of this small book: The printed copy travelled from the Spamersche Druckerei in Leipzig, where it was produced, to Vienna and to the bookstore or delivery of the Suschitzky brothers. From there it reached Popper and Richard Glas, who was able to take it to Tel Aviv. There it ended up at some point in the library of the architect Appenzeller, after which it went to the antiquarian bookshop and from there to Berlin and Zurich. I cannot say with certainty that this is exactly how it happened, but the traces and fragments available at least make for a meaningful story, and the dark spots within it can be recognised as such. What can be learned from a book with a fugitive past and a knotted story to tell – albeit one that, despite best efforts, will most likely not lead “ad lucem”, as the Suschitzky brothers’ bookplate posits? First, it is obvious that in any private collection there are books that have something to tell about exodus, displacement, threat to life and blurred provenance. Of course, the initial interest is almost always directed to the content of a book. Even if Popper’s autobiography addresses psychophysical exhaustion, resignation, anti-Semitism and with an unwillingness to reflect on one’s own life, what is at stake here is the object itself, its provenance and its forced translocation. Individual books in private collections may possibly meet the criteria for restitution if one possesses at least some information regarding their provenance. For this reason alone, it is worthwhile to investigate the history of individual specimens. No matter how insignificant the book may be in the history of ideas, it has nonetheless survived violence and expulsion; that is, the destruction of the existence of Richard Glas and his family in Vienna. It has also escaped the always possible careless scattering, ending up not in the waste paper bin but in the antiquarian bookshop. In any case, sensitivity to such a constellation is part of the moral economy of book collecting. 23
See https://portal.ehri-project.eu/units/us-005578-irn533511.
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Josef Popper, Philipp and Wilhelm Suschitzky, Glas, perhaps also Appenzeller – all these are historical actors whose very different activities are among the brighter moments of European cultural history, even if they are familiar today only to a few specialists. Their fate extends our knowledge about the worst episodes of the twentieth century, and if their contingent meeting is condensed into this one specimen, then although this is an individual case or an individual object in the sense of Jacob Burckhardt, the claim nonetheless should be to bring this case back into the history from which it ultimately originated. The aim is thus to highlight the difficult, often painful processes inscribed in these objects. In this context, it is of secondary importance whether the object is a painting worth millions that belongs to coveted auction goods or a small book tattered by its history that is comparatively worth mere pennies. Nor can it be a matter of overloading such an object with weight of meaning and thus pushing it to the limits of superstition. The copy of Popper’s autobiography is a document from the time of horror; as such it can tempt sentimentality. That is why it is a matter of critical attention, care and imagination of which Didi-Huberman writes that, while it always remains incomplete, it nonetheless paves “the necessary paths to historical understanding and political interpretation.”24 What is to be done with such a book? As part of a shared history, it should be researched and made publicly available in whatever form of presentation is most fitting. To gauge the significance of a single book in the historical context of provenances, tortuous paths and receptions, it is worth returning to Josef Popper. In the “Phantasien eines Realisten” he has Rabbi Hirsch say the following in a fictitious dialogue with Martin Luther about religions’ claim to truth: “You have your book, the Terk has his book, others have their book; your book, his book, their book, is always nothing more than a book.”25 Nothing more than a book. For this very reason, its story will continue. Bibliography Alker, Stefan/Bauer, Bruno/Stumpf, Markus (eds.), NS-Provenienzforschung und Restitution an Bibliotheken, Berlin 2017. Bauer, Bruno/Mentzel, Walter: NS-Provenienzforschung an der Medizinischen Universität Wien 2013 und 2014. Restitution von Büchern aus dem Antiquariat 24 Didi-Huberman, Zerstoben, p. 15. 25 Popper-Lynkeus, Josef: Phantasien eines Realisten, neue, verbesserte Auflage, Dresden/ Leipzig 1909, p. 45.
Nothing More Than a Book
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Hans Peter Kraus sowie der Verlagsbuchhandlung Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, in: Mitteilungen der Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare 69 (2), 2015, pp. 320–333 (https://journals.univie.ac.at/index. php/voebm/article/view/581/128). Belke, Ingrid: Die sozialreformerischen Ideen von Josef Popper-Lynkeus (1838–1921) im Zusammenhang mit allgemeinen Reformbestrebungen des Wiener Bürgertums um die Jahrhundertwende, Tübingen 1978. Brezina, Friedrich F.: Gesicherte Existenz für Alle – Josef Popper-Lynkeus (1838–1921), Wien 2013. Burckhardt, Jacob: Über das Studium der Geschichte, in: idem, Werke: Kritische Gesamtausgabe, vol. 10, München/Basel 2000. Didi-Huberman, Georges: Zerstoben. Eine Reise in das Ringelblum-Archiv des Warschauer Ghettos, Göttingen 2022. Figdor, Peter Paul: Biographien österreichischer Urologen, Vienna 2007. Fruhwirth, Andrea: Josef Popper-Lynkeus. Zwischen Individualethik, Ich-Verlust und Social Engineering. Anthropologische Montagefahrten eines Maschinen- und Menschentechnikers, Graz 2003. Hagner, Michael: Die Lust am Buch, Berlin 2019. Hamann, Brigitte: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, 9th ed., Munich 2007. Jessen, Caroline: Der Sammler Karl Wolfskehl, Berlin 2018. Keller, Erich: Der totale Buchhändler. Theo Pinkus und die Produktion linken Wissens in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 26, 2018, pp. 126–148. Lechner, Annette: Die Wiener Verlagsbuchhandlung “Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky” (1901–1938) im Spiegel der Zeit, University of Vienna 1994 (https:// www.wienbibliothek.at/sites/default/files/files/buchforschung/lechner-annetteanzengruberverlag.pdf). Matthias, Stephan/Matuschek, Oliver: Stefan Zweigs Bibliotheken, Dresden 2018. Ovenden, Richard: Burning the Books: A History of the Deliberate Destruction of Knowledge, Cambridge/MA 2020. Popper-Lynkeus, Josef: Selbstbiographie, Leipzig 1917. Idem: Phantasien eines Realisten, Leipzig/Weimar 1986 (new edition). Idem: Phantasien eines Realisten, Dresden/Leipzig 1899, neue, verbesserte Auflage, 1909. Idem: Gespräche. Mitgeteilt von Margit Ornstein und Heinrich Löwy, Vienna/Leipzig 1925. Savoy, Bénédicte: Die Provenienz der Kultur. Von der Trauer des Verlusts zum universalen Menschheitserbe, Berlin 2018. Schultze-Seemann, Fritz: Geschichte der deutschen Gesellschaft für Urologie, Heidelberg 1986.
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Michael Hagner
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Autorinnen und Autoren Dagmara Binkowska arbeitet in der Abteilung für Sondersammlungen der Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Gdańsk. Sie betreut die Drucke des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Als promovierte Literaturwissenschaftlerin ist sie Autorin von zahlreichen Artikeln über die Geschichte der Stadt Danzig (später Gdańsk) und ihrer Heimatbibliothek; Herausgeberin von Manuskripten und Verlegerin von den Werken der Schriftstellerin Stanisława Przybyszewska (1901–1935). Nawojka Cieślińska-Lobkowicz ist Kunsthistorikerin und unabhängige Provenienzforscherin. Von 1991–95 war sie Botschaftsrätin an der polnischen Botschaft in Deutschland und gründete das Polnische Institut in Düsseldorf. Sie hat zahlreiche Publikationen über die Geschichte der NS-Raubkunst und zu verschiedenen Fragen der Restitution in polnischen und internationalen wissenschaftlichen veröffentlicht. Cora Dietl ist seit 2006 Professorin für Deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalter und Frühe Neuzeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen höfische Epik und Theatergeschichte. Zu ihren verschiedenen Kooperationsprojekten mit Ländern Mittelosteuropas zählen zwei Projekte zur Erfassung der „Germanica“ des 16. und 17. Jahrhunderts an der Universität Bibliothek Lodz. Markus Eberharter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für angewandte Linguistik der Universität Warschau sowie am Institut für Buch- und Leseforschung der polnischen Nationalbibliothek. Seine Forschungsschwerpunkte und Publikationen liegen in den Bereichen literarische Übersetzung und Rezeption zwischen Polen und den deutschsprachigen Ländern, Translations- und Literatursoziologie, Buch- und Bibliotheksgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Dominik Erdmann ist Germanist und Historiker. Als Mitarbeiter der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz katalogisierte er den Nachlass Alexander von Humboldts in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau. Er ist Mitherausgeber von Alexander von Humboldts englischem Reisetagebuch. Er hat zu Humboldts
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Autorinnen und Autoren
Manuskripten seiner Kosmos-Vorlesungen, seinen Nachlass-Papieren und zu seinem Sekretär Eduard Buschmann zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Petra Figeac arbeitet seit 1997 in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Seit 2001 ist sie in der Orientabteilung Fachreferentin für Ägyptologie, Christlichen Orient, Judaistik und Hebraistik. Zurzeit katalogisiert sie die Handschriften des christlichen Orients (Syrisch und Koptisch) der Staatsbibliothek in der Datenbank Qalamos. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Geschichte der „Wissenschaft des Judentums“ im 19. Jahrhundert und hier besonders das Leben des mährischen Forschers Moritz Steinschneider (1816–1907), dem Begründer der wissenschaftlichen hebräischen Bibliographie. Gilbert Gornig ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht am Institut für Öffentliches Recht in Marburg. Seit 1. September 2009 ist er Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft. Er hat im Staats-, Verwaltungs-, Völker- und Europarecht über 600 Publikationen als Autor und Herausgeber veröffentlicht, die in 10 Sprachen übersetzt wurden. Michael Hagner ist seit 2003 Ordentlicher Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte und Publikationen liegen in den Bereichen Historische Epistemologie der Humanwissenschaften, Visualisierungstrategien in den Lebenswissenschaften, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft, Geschichte der Kybernetik. Konstantin Hermann ist an der Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) Koordinator für das Landesdigitalisierungsprogramm für Wissenschaft und Kultur des Freistaats Sachsen und ist als Fachreferent für Geschichte, Slawistik und Allgemeine Wissenschaften tätig. Er ist auch Mitglied der Historischen Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Jacek Kordel ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Geschichte der Universität Warschau und am Institut für Buch- und Leseforschung der Nationalbibliothek. Seine Forschungsschwerpunkte und Publikationen liegen im Bereich Diplomatie-Geschichte der frühen Neuzeit und Bibliotheksgeschichte.
Autorinnen und Autoren
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Theresa Mallmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsprojekts „Ludwig Tiecks Bibliothek – Anatomie einer romantisch-komparatistischen Büchersammlung“ der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Tiecks Shakespeare-Studien, die Verschränkung von Provenienzforschung und Literaturwissenschaft und literarische Darstellungen von Provenienz- und Restitutionsgeschichten. Andrzej Mężyński ist emeritierter Professor am Institut für wissenschaftliche Information und Bibliothekswissenschaft an der Universität Wrocław. Er ist Mitbegründer (1988) und Vizepräsident der Polnischen Buchgesellschaft und Autor von 150 Veröffentlichungen zur Organisation des Bibliothekswesens und zur Geschichte der polnischen Bibliotheken im 19. und 20. Jahrhundert. In den Jahren 1996– 2004 war er Sachverständiger der deutsch-polnischen Regierungskommission zur Untersuchung von Kriegsschäden und der gegenseitigen Rückgabe von Kulturgütern. Tomasz Ososiński ist Autor, Übersetzer und Literaturwissenschaftler. Er lehrt Literaturgeschichte an der Universität Lodz. Zu seiner verschiedenen Forschungstätigkeit zählen zwei Projekte zur Erfassung der „Germanica“ des 16. und 17. Jahrhunderts an der Universität Bibliothek Lodz. Jacek Puchalski ist Professor an der Universität Warschau, spezialisiert in „Bibliologie“ und Buchgeschichte. Er ist Chefredakteur von „Studies Into the History Of the Book and Book Collections“; seine Forschung und Publikationstätigkeit hat als Schwerpunkt die Geschichte des Buches, der Bibliotheken und des polnischen Bibliothekswesens in Polen und im Ausland. Vanessa de Senarclens lehrt französische Literatur im Zeitalter der Aufklärung an der HumboldtUniversität zu Berlin und am Bard College Berlin. Ihre Publikationen beschäftigen sich hauptsächlich mit Autoren des achtzehnten Jahrhunderts: Montesquieu, Voltaire, Rousseau u.a. Bei ihren aktuellen Forschungsprojekten geht es um die Aufklärungsliteratur und der entsprechenden Büchersammlungen im deutsch-polnischen Kontext.
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Judith Siepmann ist seit 2018 am BKM-geförderten Forschungsprojekt „Materielle Spuren deutsch-jüdischer Lebenswelten des östlichen Europa: Buchsammlungen und Bibliotheken nach dem Zweiten Weltkrieg“ beteiligt. Seit Juli 2021 ist sie Doktorandin am Dubnow-Institut. Ihr Forschungsprojekt trägt den Titel: „Aufbau und Zerstreuung von Sammlungen aus jüdisch-schlesischem Besitz im 20. Jahrhundert“. Wiesław Sieradzan ist Professor für Geschichte der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń. Er ist spezialisiert auf mittelalterliche Geschichte, Regionalgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Kartografie. Er widmete sich unter anderem einer Publikation mit dem Titel Verlorenes Kulturerbe? Leben und Werk des Konservators von Westpreußen Bernhard Schmid (1872–1947), in Toruń 2019 erschienen.