Erinnerung in Text und Bild: Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen 9783050059570, 9783050057224

Die Beiträge dieses Sammelbands gehen auf eine im Herbst 2010 durchgeführte Tagung im schlesischen Katowice zurück, auf

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German Pages 415 [416] Year 2012

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Erinnerung in Text und Bild: Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen
 9783050059570, 9783050057224

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Erinnerung in Text und Bild

Jürgen Egyptien (Hg.)

Erinnerung in Text und Bild Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin; unter Verwendung eines Fotos: The Holocaust Monument in Berlin, Germany (o. J.). shutterstock images. Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-005722-4 978-3-05-005957-0

Inhaltsverzeichnis

JÜRGEN EGYPTIEN Einleitung ....................................................................................................................... 9 WOLFGANG EMMERICH Kein Holocaust? Die gekappte Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der DDR-Literatur .................................................................................................... 17 GRAŻYNA BARBARA SZEWCZYK Die literarische Darstellung der Fahnenfluchtproblematik .......................................... 33 JÜRGEN EGYPTIEN Zur Klassifikation und gattungstheoretischen Bestimmung des Kriegsromans oder: Wie schreibt man über den Zweiten Weltkrieg? .................................... 43 YARA STAETS Ein Aufschwung in das Phantastische? Schuld-, Kriegs- und Nachkriegsdarstellung in Georg Hensels Roman Nachtfahrt ............................................... 51 LOTHAR PIKULIK Vom Teufel geholt? Thomas Manns Doktor Faustus und die deutsche Katastrophe .................................................................................................................. 65 IRENA ŚWIATŁOWSKA Ein Pazifist in der amerikanischen Uniform. Klaus Mann im Zweiten Weltkrieg ...................................................................................................................... 83

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Inhalt

SYLWIA SAWULSKA Zum Mythos als Emanzipationsmodell. Schuld und Blendung im König Ödipus von Franz Fühmann .............................................................................. 93 MAŁGORZATA DUBROWSKA Anna Seghers’ ‚erinnerte‘ und imaginierte Erinnerung an die NS-Zeit – die Perspektive der emigrierten Zeitzeugin ............................................................. 107 MIROSŁAWA CZARNECKA Die friedfertige Frau und der Zweite Weltkrieg – Thematisierung eines Paradigmas in der Literatur von Frauen ............................................................ 115 HANS-EDWIN FRIEDRICH „Aber der Toten wegen flüchte ich mich in die unzerreißbare Kette des Biers“ – Die Reflexion der Judenvernichtung in Herbert Achternbuschs Werk der achtziger Jahre ................................................................................ 123 ZYGMUNT MIELCZAREK Die Wiederkunft der Vergangenheit. Sebalds Gedächtnisfahrten .............................. 135 ROBERT RDUCH Korrektur der Kriegsbilder in der Lyrik von Hans Egon Holthusen .......................... 147 EWA JAROSZ-SIENKIEWICZ Das belagerte Breslau in den Romanen von Georg Ralph Haas, Hugo Hartung, Walter Schimmel-Falkenau und Werner Steinberg ..................................... 159 MARION BRANDT Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur ....................................................................................................................... 173 LOUIS FERDINAND HELBIG Überlebensstrategien zu Zeiten des Krieges in ausgewählten deutschen und polnischen Romanen ........................................................................................... 185 EWA JURCZYK Die große Geschichte und der kleine Mann. Wolfgang Borcherts und Tadeusz Borowskis Versuch der Auseinandersetzung mit dem Trauma des Krieges .................................................................................................... 199

Inhalt

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MAGDALENA DAROCH Auschwitz sehen und sterben? – Besuch in einem Konzentrationslager in der deutschen und polnischen Literatur der sechziger Jahre mit Blick auf die Autoren der zweiten und dritten Generation .................................. 211 STANISŁAW GĘBALA Tadeusz Różewicz: „Dichten nach Auschwitz“ ......................................................... 227 BARBARA GUTKOWSKA Das Testament der Zeitschrift Sztuka i Naród (Kunst und Volk). Zur Prosa Andrzej Trzebińskis ......................................................................................... 237 ALEKSANDRA UBERTOWSKA Die Postmoderne und die polnische Holocaustliteratur – lokale Zusammenhänge ........................................................................................................ 251 BOŻENA CHOŁUJ Ein anderes Gedächtnis? Kriegserinnerungen der Frauen im Wandel ....................... 265 HANNELORE SCHOLZ-LÜBBERING Die Kaninchen von Ravensbrück. Erlebnisberichte von Polinnen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück ............................................................ 275 ANDRZEJ SULIKOWSKI Womit spricht die gegenwärtigen Polen Hans Graf von Lehndorffs Ostpreußisches Tagebuch 1945–1947 an? ................................................................. 291 THOMAS F. SCHNEIDER How to Treat the Germans. Emil Ludwigs politisch-publizistisches Engagement im US-amerikanischen Exil ................................................................... 301 JENS EBERT Feldpostbriefe: authentische Quelle oder literarischer Text? ..................................... 315 ERHARD SCHÜTZ „…diesmal für den Film.“ Der Luftkrieg gegen Polen in der Propaganda des Nationalsozialismus .................................................................................. 325

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Inhalt

ANDRZEJ GWÓŹDŹ Als es noch keine deutschen Staaten gab… Kriegsbilder im deutschen Zonenkino 1945–1949 ............................................................................................... 339 TADEUSZ MICZKA Pferde gegen Panzer. Der Kavalleriemythos im Film Lotna von Andrzej Wajda ........................................................................................................... 355 JUTTA RADCZEWSKI-HELBIG Liebe im Krieg. Zu dem Film Gruppenbild mit Dame (1977) von Aleksandar Petrovic nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Böll ............................................................................................................................. 365 ZBIGNIEW FELISZEWSKI Paweł Komorowskis und Klaus Emmerichs filmische Kriegsbilder: Ptaki ptakom (1976) und Die erste Polka (1979) ...................................................... 373 MAREK KRYŚ Der Zweite Weltkrieg im Film des vereinten Deutschlands ....................................... 383 LEON MARKIEWICZ Widerspiegelung der Kriegserlebnisse im Schaffen polnischer Komponisten .............................................................................................................. 395 IWONA MELSON Benjamin Brittens War Requiem als musikalischer Protest gegen den Krieg .................................................................................................................... 401 Namensregister ........................................................................................................... 405

JÜRGEN EGYPTIEN

Einleitung

Vom 14.–16. Oktober 2010 fand im oberschlesischen Katowice die Tagung „Der Zweite Weltkrieg in der deutschen und polnischen Literatur, im Film und in der Musik“ statt, an der über 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland und Polen teilgenommen haben. Die Tagung entstand aus der Kooperation der Germanistischen Institute der Schlesischen Universität Katowice und der RWTH Aachen. Sie wurde gefördert von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, dem Marschall der Woiwodschaft Schlesien, pro RWTH sowie dem Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW. Allen Zuwendungsgebern, deren großzügige Unterstützung die Realisierung der Tagung ermöglichte, sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Die Beziehung zwischen Deutschen und Polen ist zumal nach der geschichtlichen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs von besonderer Sensibilität. Mit dem Angriff auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt besiegelt die Aufteilung Polens in deutsche und sowjetische Interessengebiete, nach dem Überfall auf die Sowjetunion und der Schaffung des Generalgouvernements wird das ehemalige polnische Territorium zum zentralen Schauplatz der ‚Endlösung der Judenfrage‘, die Politik der Nationalsozialisten gegenüber der polnischen Bevölkerung zielte auf ihre Degradierung zu einem Heer von Arbeitssklaven, dem der Zugang zu Bildung und Kultur verwehrt sein sollte, das Ende des Krieges führt zur Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Schlesien und der polnischen aus den von der SU annektierten Gebieten – verständlich also, dass man in Polen in den ersten Jahrzehnten nach 1945 zumal in öffentlichen Stellungnahmen der kommunistischen Regierung „von den Deutschen nur in Negationen spricht.“1 Der oberschlesische Schriftsteller August Scholtis, der diese Feststellung traf, schickte 1962 seinem Bericht über eine Reise nach Polen die Bemerkung, dass der Zweite Weltkrieg nur als Gipfel der „tausendjährig blutgeschwän1

August Scholtis: Reise nach Polen. Ein Bericht. München 1962, S. 205. Im Folgenden im Text zitiert als (S mit entsprechender Seitenangabe).

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Jürgen Egyptien

gerten Fehde beider leidgeprüfter Völker“ (S, 7) zu betrachten sei, voraus. Scholtis macht auf seiner Reise, die nur wenige Monate nach dem Berliner Mauerbau in eine Phase des verschärften Kalten Krieges zwischen Ost und West fällt, dennoch die Erfahrung, dass viele seiner polnischen Gesprächspartner ihm mit Offenheit begegnen. Er gibt daher seiner Hoffnung Ausdruck, dass der historische Faktor der „segenspendenden deutschen Arbeit“ (S, 205), die bis heute ihre Spuren hinterlassen hat, in das Bild vom westlichen Nachbarn integriert wird. Die frischste Spur haben freilich die Verbrechen des Nationalsozialismus hinterlassen; keine Spur eigentlich, vielmehr Schandflecken der Entmenschlichung, Brandmale eines Höllenfeuers. Auschwitz ist das Siegel dieser Verbrechen, gleichzeitig sein konkreter historischer Ort und seine überzeitliche Chiffre. Auf seiner Reise durch Polen hat August Scholtis auch Auschwitz einen Besuch abgestattet, dessen Vernichtungslager seine „schlimmsten Vorstellungen“ (S, 187) weit übertraf. Es ist nicht zuletzt die „schreckliche Lehre“2 dieser Vergangenheit, die nach Meinung des polnischen Historikers Władisław Bartoszewski Deutsche und Polen dazu verpflichtet, Gespräch und Versöhnung zu suchen. Voraussetzung für das Gelingen dieses Gesprächs ist allerdings laut Bartoszewski, dass ein „Kanon eines notwendigen Minimalwissens“3 über den Verlauf der deutsch-polnischen Beziehungen im Zeitraum von 1933 bis 1945 existiere und beiderseits anerkannt werde. Bartoszewski zitiert in seiner Rede von 1983 ausführlich aus dem Essay Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen des polnischen Literaturwissenschaftlers Jan Jósef Lipski, der die Notwendigkeit einer Versöhnung mit den Deutschen auch damit begründet, dass sich die polnische Nation „dem westlichen Mittelmeer-Kulturkreis zugehörig fühlt“ und „von einer Rückkehr in unser größeres Vaterland Europa“4 träume. Mit der Mitgliedschaft in der europäischen Union hat sich dieser Traum für Polen zumindest politisch erfüllt. Und wenn es auch gelegentlich immer wieder Irritationen im deutsch-polnischen Verhältnis gibt, lässt sich doch konstatieren, dass die Aussöhnung zwischen beiden Völkern große Fortschritte gemacht hat. Der wesentlichste Faktor ist dabei das dichte Netz an persönlichen, sei’s beruflichen, sei’s privaten Kontakten, das zwischen Deutschen und Polen entstanden ist. Diese Begegnungen, für die auch die Katowicer Tagung ein Forum schuf, können dazu beitragen, aus dem Nachdenken über die gemeinsame geschichtliche Erfahrung im partnerschaftlichen Dialog Perspektiven für die gemeinsame europäische Kultur zu entwickeln. Wolfgang Emmerich stellt in seinem Aufsatz Kein Holocaust? Die gekappte Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der DDR-Literatur Überlegungen über die stupende 2

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Władisław Bartoszewski: Die Vergangenheit bewältigen. In: Ders.: Aus der Geschichte lernen? Aufsätze und Reden zur Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Polens. Vorwort von Stanisław Lem. München 1986 (dtv 10683), S. 326–334, hier S. 333. Ebd., S. 328. Władisław Bartoszewski: Tradition und Zukunft im Denken von Polen und Deutschen – einige Bemerkungen zur Lage. In: Ders.: Aus der Geschichte lernen? (Anm. 2), S. 335–343, hier S. 340.

Einleitung

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Absenz der Holocaust-Thematik in der frühen DDR-Literatur an. Er erklärt diese Leerstelle mit dem bornierten politökonomischen Primat des Marxismus, für den der Antisemitismus bestenfalls ein ‚Nebenwiderspruch‘ war, mit dem antifaschistischen Gründungsmythos der DDR und der Umdeutung des Volks zum ‚Sieger der Geschichte‘, womit implizit die Entlastung der Massen von Schuld verbunden war. Erst Autoren wie Franz Fühmann, Jurek Becker und Christa Wolf haben dieses Schweigen aufgebrochen. Grażyna Barbara Szewczyk geht von der Wandlung der Anerkennung aus, die die Desertion in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gefunden hat. Sie diskutiert die Darstellung von Deserteuren in Werken von Andersch, Böll, Hugo Hartung und Gerhard Zwerenz und zeigt das Spektrum der sie leitenden Motivationen. Jürgen Egyptien unternimmt ausgehend von der Problematisierung der Darstellbarkeit von Kriegserfahrungen den Versuch einer Typologisierung verschiedener Schreibweisen innerhalb der Gattung des deutschsprachigen Kriegsromans. Yara Staets widmet sich Georg Hensels Nachtfahrt als einem originären Beispiel eines Kriegsromans, der Elemente des Magischen Realismus, des Kahlschlags und des Surrealismus kombiniert. Sie macht die Realitätsbezüge auf Krieg und Nachkrieg hinter der surrealen Einkleidung sichtbar und arbeitet die bewusste Unaufgelöstheit des Problems der Schuld als indirekte Leseraktivierung heraus. Lothar Pikulik geht von einer Parallelisierung des Faustmenschen Leverkühn und der Faustnation Deutschland in Thomas Manns Doktor Faustus aus. Er begreift die Schuldthematik als genuines Künstlerproblem. Die Dialektik von Gut und Böse korrespondiert mit dem ambivalenten Status der Teufelsgestalt, die von Thomas Mann bewusst in der Schwebe zwischen einer bloßen Chiffre und einer realen außermenschlichen Kraft gehalten wird. Irena Światłowska zeichnet die Entwicklung von Klaus Manns politischem Denken von der Verstörung des Kindes durch den Ersten Weltkrieg bis zum Entschluss zum aktiven Widerstand in der US Army im Zweiten nach. Das Zurückscheuen vor dem Schritt in den Widerstand problematisiert Sylwia Sawulska in ihrem Beitrag über Franz Fühmanns Novelle König Ödipus, in der ein deutscher Offizier und im Zivilberuf Gräzistik-Professor im besetzten Griechenland das Sophokles-Stück einstudieren lässt, ohne seinen intellektuellen Vorbehalt gegen dessen rassenideologische Zurichtung wirksam werden zu lassen. Małgorzata Dubrowska behandelt in ihrem Beitrag Anna Seghers’ ‚erinnerte‘ und imaginierte Erinnerung an die NS-Zeit das erzählerische Unterfangen von Anna Seghers, im Exil ein authentisches Bild vom Leben im Dritten Reich zu zeichnen, in dem sich Alltag und Verfolgung unauflöslich durchmischen. Am Beispiel der beiden Versionen der Erzählung Zwei Denkmäler diskutiert sie das Phänomen der ‚erinnerten Erinnerung‘. Mirosława Czarnecka demontiert in ihrem Beitrag das Bild von der friedfertigen Frau anhand von Kommentaren zu Werken von Eva Zeller, Grete Weil und Helga Schubert.

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Jürgen Egyptien

Hans-Edwin Friedrich arbeitet das Thema ‚Judenvernichtung‘ als eine Problemkonstante im Werk von Herbert Achternbusch heraus und weist hinter dessen spontaneruptiv wirkendem Schreibverfahren das ästhetische Kalkül nach. Achternbuschs experimenteller Gestus hebt jedoch klare Identitäten und politische Zuordbarkeiten auf. Zygmunt Mielczarek beschreibt den Zweiten Weltkrieg als verhängnisvollen Horizont, vor dem das leidvolle Schicksal der jüdischen Figuren in W.G. Sebalds Werk sich vollzieht. Dem Erinnerungszwang und -schmerz der Verfolgten und Überlebenden wendet Sebald sich mit Empathie zu und dringt in das Innenleben der unentrinnbar Traumatisierten ein. Robert Rduch behandelt die literarische Karriere des vor 1945 in der jungen Bundesrepublik prominenten Kritikers Hans Egon Holthusen. Mittels einer Analyse von Holthusens lyrischer Verarbeitung der eigenen Kriegserfahrung während des Dritten Reichs kann der Nachweis geführt werden, dass Holthusen sich sehr wohl einer von ihm bestrittenen ‚Entselbstung‘ schuldig gemacht hat und die Selbstkorrektur in Gedichten nach 1945 eher der Entlastung als der Reue entsprang. Ewa Jarosz-Sienkiewicz behandelt die Schilderung der Belagerung und Evakuierung Breslaus im Roman, die sich als Untergangsszenario vollzieht. Bilder einer Trümmerlandschaft treten an die Stelle derjenigen einer westlichen Metropole. Marion Brandt widmet sich der literarischen Darstellung des Untergangs von Danzig. Sie konfrontiert den sentimental-pathetischen Ton der Trauer um ‚Vineta‘ in der Lyrik von Vertriebenen mit der lustvollen Aggressivität der Blechtrommel von Günter Grass und den transhistorischen Konzepten jüngerer polnischer Autoren wie Paweł Huelle und Stefan Chwin, die Danzig in eine apokalyptische Chiffre verwandeln. Louis-Ferdinand Helbig bietet in seinem Beitrag Überlebensstrategien zu Zeiten des Krieges in ausgewählten deutschen und polnischen Romanen einen Überblick über deutsche und polnische Erzählwerke, in denen das Überleben während des Kriegs als Gemenge aus Strategie und Zufall erscheint. Die eigentliche Herausforderung für die Überlebenden liege darin, ein Konzept für das Weiterleben zu finden, das das als gemeinsam erfahrene Menschliche bewahre. Ewa Jurczyk vergleicht Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert und Tadeusz Borowski, um an den Texten der Altersgenossen das gemeinsame Bemühen zu zeigen, in Einzelereignissen Geschichte fassbar zu machen. Beiden geht es auch um das Bewahren von Menschlichkeit in Extremsituationen, wobei Borowskis Bei uns in Auschwitz auch psychologischen Phänomenen wie dem ‚Hass auf die Opfer‘ nicht ausweicht. Magdalena Daroch untersucht einige paradigmatische Texte, in denen funktionale und reale Besuche im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau geschildert werden. Während etwa bei Tadeusz Różewicz in Ausflug ins Museum die mangelnde Vorstellungskraft durchschnittlicher Museumsbesucher diagnostiziert wird, beobachtet Peter Weiss in Meine Ortschaft an sich selbst die Überformung der sinnentleerten Realität durch angelesenes Wissen über die Vergangenheit.

Einleitung

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Der Prosatext Ausflug ins Museum spielt auch eine wichtige Rolle in dem Beitrag von Stanisław Gębala, der an ihm die Zeugenschaft des ‚Ich sah‘ mit derjenigen des ‚Ich sah nichts‘ kontrastiert. Gębala wendet sich vor allem der Dichtung von Różewicz zu, die er als moderne kritisch-reflexive Poesie begreift, die bewusst eine Zäsur gegenüber den romantisch-ästhetisierenden Traditionen der polnischen Lyrik markiert. Der Beitrag von Barbara Gutkowska untersucht die Programmatik der in der Zeit der deutschen Besetzung erschienenen Zeitschrift Kunst und Volk vor allem anhand ihres Redakteurs Andrzej Trzebiński, der sich selbst als ‚Protagonist der Epoche‘ verstand. Trzebiński unterstrich die Einbindung in Geschichte und Glauben, verknüpfte aber trotz einer konservativen Grundhaltung die Literatur mit aktivem Handeln und der Funktion, die Sprengkraft des Möglichen zu bewahren. Aleksandra Ubertowska stellt die Erzählkonzepte einiger postmoderner polnischer Autoren vor, die sich der Holocaust-Thematik angenommen haben und in ihren Werken ‚traumatische Orte‘ entwarfen. Als verbindendes Merkmal der Romane von Andrzej Bart, Marian Pankowski und Zyta Rudzka hebt die Autorin die Gestaltung des ‚Körpers als Gedächtnisträger‘ hervor. Als Pendant unter gender-Perspektive schließt sich daran der Beitrag von Bożena Chołuj, der von Ruth Klüger und Christina von Braun ausgehend den Blick auf polnische Beispiele weiblicher Erinnerungstexte richtet, an, in denen das im Alltag situierte Wissen mehr Aufschluss über Kriegserfahrungen liefert als historische Einordnungen. Die Erinnerungen inhaftierter Polinnen an das KZ Ravensbrück bilden den Gegenstand des Beitrags von Hannelore Scholz-Lübbering, die auch ungedruckte Quellen auswertet. Sie zeichnet ein genaues Bild der medizinischen Experimente, denen die Polinnen ausgesetzt waren und die auf die Zerstörung ihrer weiblichen Identität zielten. Deutlich wird an den Quellen auch, wie sehr das Festhalten an der kulturellen Praxis das Überleben ermöglicht und politischen Widerstandsgeist gespeist hat. Die Verteidigung von Humanismus, Christentum und sozialer Verantwortung auf der Basis einer ethischen Grundhaltung sieht Andrzej Sulikowski als das Modell eines zivilisierten europäischen Denkens und Handelns, wie es der Arzt Hans Graf von Lehndorff während seiner schwierigen Berufsausübung in den Jahren 1945–47 in Ostpreußen praktiziert hat. Thomas F. Schneider erinnert in seinem Beitrag an die politisch exponierte Rolle, die Emil Ludwig, bedeutender Biograph und Publizist der Weimarer Republik, aus dem amerikanischen Exil heraus für die Neuordnung Europas nach 1945 gespielt hat. Auf Grund seiner engen Kontakte zur US-Regierung war es ihm möglich, seine Überzeugung von einer deutschen Kollektivschuld in die Konzeption des re-education-Programms einfließen zu lassen. Jens Ebert diskutiert in seinem Beitrag die Frage nach der Echtheit von edierten Feldpostbriefen, insbesondere der Briefe aus Stalingrad. In diesem Kontext konfrontiert er die ideologisch überformten Erinnerungen in Heinz G. Konsaliks Arzt von Stalingrad mit den Stalingrad-Memoiren des Arztes Horst Rocholl.

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Erhard Schütz eröffnet mit seinem Aufsatz „…diesmal für den Film.“ Der Luftkrieg gegen Polen in der Propaganda des Nationalsozialismus die Reihe filmwissenschaftlicher Beiträge. An zwei Filmen des Regisseurs Hans Bertram demonstriert er, wie teils mit dokumentarischen Mitteln, teils in Anlehnung an den Spielfilm der Luftangriff auf Polen zur ideologischen Propaganda genutzt und ästhetisch stilisiert wird. Andrzej Gwóźdź untersucht das Zonenkino der Jahre 1945–49 und kommt zu dem Befund, dass es in dieser Phase noch keine erkennbare personelle oder filmästhetische Spaltung in Ost und West gegeben habe. Er zeigt am Genre des Trümmerfilms eine Stilmischung auf, die Elemente des expressionistischen Films, der UFA-Ästhetik und des poetischen Realismus des französischen Films der 1930er Jahre amalgamiert. Der Zweite Weltkrieg fungiert zwar als Handlungsrahmen, seine historischen und sozialen Ursachen werden aber im Zonenkino weitgehend ausgeblendet. Tadeusz Miczka widmet sich dem polnischen Regisseur Andrzej Wajda und seinem Film Lotna, um seine ambivalente Haltung als Kritiker und Bewahrer eines romantischen nationalen Mythos aufzuzeigen. Jutta Radczewski-Helbig beschäftigt sich mit der Verfilmung von Heinrich Bölls Roman Gruppenbild mit Dame, um das darin beobachtbare Spektrum an Liebesbekundungen als Tableau von Widerstandsakten gegen die ‚Universalität des Schmerzes‘ zu deuten. Zbigniew Feliszewski vergleicht Filme des polnischen Regisseurs Paweł Komorowski und des deutschen Regisseurs Klaus Emmerich aus den 1970er Jahren, in denen junge Menschen die Protagonisten sind. Er diskutiert, wie das ‚Spiel‘ als Darstellungsform in tragische Begebenheiten und vice versa der Krieg in Alltag und Spiel integriert wird. Marek Kryś liefert einen Überblick über deutsche Spiel- und Fernsehfilme seit 1989, die den Zweiten Weltkrieg zum Thema haben, wobei teils populäre Produktionen von Vilsmaier, von Trotta, Schlöndorff, Färberböck oder Eichinger in den Blick kommen. Auffallend an diesen jüngeren und jüngsten Filmen ist ihre Akzentsetzung auf die letzten Kriegsjahre und ihre Öffnung für Deutsche in Opferrollen. Die letzten beiden Beiträge sind der Musik gewidmet. Leon Markiewicz erinnert an Formen des ‚musikalischen Widerstands‘ im besetzten Warschau und bespricht Beispiele der musikalischen Verarbeitung des Weltkriegs in Kompositionen von Andrzej Panufnik und Bolesław Woytowicz. Iwona Melson würdigt das War Requiem von Benjamin Britten, das bei der Einweihung der wieder errichteten Kathedrale von Coventry uraufgeführt wurde. Der vorliegende Band enthält einige Beiträge, die nicht als Vortrag gehalten wurden, wie umgekehrt manche Vorträge nicht zu Beiträgen reiften. Dennoch gäbe es diesen Band nicht ohne die Katowicer Tagung. Daher möchte ich den Katowicer Kolleginnen Grażyna Barbara Szewczyk und Renata Dampc-Jarosz meinen ausdrücklichen Dank für die Initiierung der Tagung, die perfekte Organisation und das gastfreundliche Gesprächsklima aussprechen. Die Bereitstellung von Mitteln zur Übersetzung der auf Pol-

Einleitung

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nisch gehaltenen Vorträge bot die Voraussetzung, sie der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Für die teils aufwändige redaktionelle Bearbeitung und die Texteinrichtung, die Erstellung des Personenregisters u.v.m. gebührt meiner Mitarbeiterin Tina Winzen besonderer Dank.

WOLFGANG EMMERICH

Kein Holocaust? Die gekappte Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der DDR-Literatur

Der Zweite Weltkrieg ist ein zentrales Thema der DDR-Literatur vor allem der Jahre 1945 bis 1965. Das gilt zumal für die erzählende Prosa, die im Mittelpunkt meiner Recherche steht. Seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre tritt das Thema zurück, ohne je ganz zu verschwinden. Was mich interessiert, ist das weitgehende Fehlen einer Darstellung des nazistischen Massenmords an den Juden in dieser Literatur – eines Geschehens, das, wie immer man es dreht und wendet, ein zentraler Bestandteil dieses Krieges war, zumindest seit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und den damit verbundenen Massenerschießungen von Juden, an denen auch zahlreiche Angehörige der Wehrmacht beteiligt waren. Später, d.h. nach dem Vorrücken der deutschen Truppen in Richtung Osten, wechselten die Nazis bekanntlich Ort und Methode des Massenmords. Sie errichteten Vernichtungslager auf polnischem Territorium und ersetzten Erschießen durch Vergasen. Auch wenn diese zweite Phase des Holocaust (und die ihr vorausgehenden Deportationen aus vielen Ländern Europas) sich überwiegend weit hinter der Front abspielte, ist sie doch eng in das Kriegsgeschehen verwoben. Und man könnte erwarten, dass die Literatur – auch und gerade die Literatur der DDR, die sich von Anfang an als antifaschistisch verstand – sich dieses Themas annehmen würde. Das aber ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen (und die finden sich entweder vor 1949 oder nach 1965), nicht der Fall. Ich will das zunächst an einem kurzen Durchgang durch die Weltkriegsliteratur von DDR-Autoren demonstrieren und dann fragen, aus welchen Gründen die Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der DDR-Literatur in dieser Weise gekappt ist.

I. Kriegsprosa bis Ende der sechziger Jahre Schon vor der Gründung der DDR sind Weltkriegsromane wie Finale Berlin von Hans Rein (1947) oder Der Brückenkopf von Georg Holmsten (1948) erschienen, die noch ganz im Bann des gerade erst vergangenen Schreckens der letzten Kriegswochen stan-

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Wolfgang Emmerich

den. Der Anspruch von Theodor Plieviers Roman Stalingrad, noch im sowjetischen Exil entstanden und gleich 1945 erschienen, reichte weiter. Mittels eines stattlichen Figurenensembles und einer Vielzahl von Episoden versuchte Plievier, ein ehedem kommunistischer Arbeiterautor, am Beispiel der größten Schlacht des Zweiten Weltkriegs die verheerende Kriegsmaschinerie und ihre tödlichen Konsequenzen umfassend darzustellen. Das Buch wurde massenhaft gelesen, allerdings umgehend von der SED verboten, als sein Autor 1947 die SBZ verließ. In diesem Roman spielt naturgemäß, bei der strikten Fokussierung auf die Schlacht von Stalingrad, das Thema Holocaust keine Rolle. Aber auch in den anderen Kriegsbüchern der älteren Autorengeneration fehlt das Thema, seien es Bodo Uhses Romane Leutnant Bertram (bereits im Exil entstanden) und Die Patrioten (1954) oder Harald Hausers Wo Deutschland lag … (1947) und Wolfgang Johos Die Hirtenflöte (1948). Anna Seghers’ Roman Die Toten bleiben jung (1949) thematisiert zwar die von Deutschen in der Sowjetunion begangenen Kriegsgräuel, der Massenmord an den Juden spielt jedoch keine Rolle. Freilich gibt es die sogenannte Lagerliteratur, also überwiegend nicht- oder paraliterarische Texte, die Überlebende aus den Konzentrationslagern niedergeschrieben haben. Das sind, neben eher wenigen Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Gedichten, vor allem Dokumentationen, Tagebücher sowie autobiographische Berichte. Von den einzelnen Besatzungsmächten zugelassene Texte wurden zunächst, zwischen 1945 und 1947, oft in mehreren, mitunter in allen Zonen gleichermaßen lizenziert und gedruckt. So herrschte im sogenannten Lagerdiskurs in der SBZ zu Beginn noch eine gewisse „Vielstimmigkeit“, die die „unterschiedlichsten Lagererfahrungen und Deutungen […] parallel“ zur Sprache brachte, sodass sich neben der kommunistischen oder religiösen Deutung auch die jüdische artikulieren konnte.1 Ab 1947 kommt es dann fast zum Verschwinden der oft als monoton gescholtenen Lagerliteratur. Und nach zwischen 1947 und 1952 nur noch sporadisch erscheinenden Lagerberichten klafft – so haben die Recherchen von Thomas Taterka ergeben – zwischen 1952 und 1955 eine regelrechte Lücke. Warum das so ist, kann hier nicht dargelegt werden.2 An dieser Stelle sei nur festgehalten, dass sich der Lagerdiskurs in der SBZ/DDR völlig getrennt von der Kriegsliteratur entwickelt hat – so, als ob es separate Gruppen oder Stämme des deutschen Volkes gewesen wären, die in den Krieg einer1

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Vgl. Thomas Taterka: „Buchenwald liegt in der Deutschen Demokratischen Republik.“ Grundzüge des Lagerdiskurses der DDR. In: LiteraturGesellschaft DDR. Kanonkämpfe und ihre Geschichte(n). Hg. v. Birgit Dahlke, Martina Langermann und Thomas Taterka. Stuttgart u. Weimar 2000, S. 312– 365, hier S. 314. Zum Lagerdiskurs insgesamt vgl. Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur. Berlin 1999. Von den bekannten historischen Ereignissen erwähne ich nur die Diffamierung der sog. „Westemigranten“, den Slánsky-Prozess in der Tschechoslowakei (1951/52) und die Kampagne gegen die in der DDR ansässigen Juden und die jüdischen Gemeinden im Besonderen, die zu einem neuen Exodus führte. Für den Lagerdiskurs entscheidend sind die Machtkämpfe zwischen ‚MoskauEmigranten‘ und ‚Konzentrationären‘ in der SED, an deren Ende eine vernichtende Niederlage der zweiten Gruppierung steht. Vgl. Taterka: „Buchenwald …“ (Anm. 1), S. 315.

Kein Holocaust? Die gekappte Darstellung des Zweiten Weltkriegs in der DDR-Literatur

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seits und in das Konzentrationslagersystem und seinen Massenmord andererseits verwickelt waren. Aus der Zeit bis 1949 kenne ich nur einen einzigen literarischen Text aus dem Osten Deutschlands, in dem das Kriegsgeschehen und der Holocaust eng ineinander verwoben dargestellt sind. Es ist Stephan Hermlins Erzählung Die Zeit der Gemeinsamkeit von 1949, offenbar in direkter Verbindung mit dem essayistischen Text Hier liegen die Gesetzgeber entstanden. Thema ist der Warschauer Ghettoaufstand vom April/Mai 1943. Hermlin hatte Warschau besucht, diverse Berichte und Dokumente von GhettoKämpfern zurate gezogen und daraus eine Erzählfabel konstruiert, die zeigen sollte, wie, inmitten von Tod und Vernichtung, eine kleine solidarische Gemeinschaft von mutigen Menschen entstehen kann. Ihr Menschsein erwächst gerade daraus, dass sie todesmutig kämpfen und sich nicht als wehrlose Opfer abschlachten lassen. Diese Unterscheidung leitet auch das Räsonnement von Stephan Hermlin in dem genannten Essay, wenn er bei seiner Beschreibung des Ghetto-Denkmals dessen Vorder- und Rückseite kontrastiert. Auf der Rückseite des Denkmals sieht der Erzähler einen Fries mit dem „Zug der Wandernden, in den Tod Wandernden, die Mütter tragen die Kinder, die Männer die Thorarollen im Arm.“ Dann aber, so fährt er fort: Aus der Mitte der Vorderseite […] tritt wie aus einer Bresche die Gruppe der letzten Verteidiger des Warschauer Getto: ihr Anführer, das schöne, todbereite Antlitz dem Feind zugekehrt, die Handgranate in der Linken, steigt über einen Gefallenen hinweg […], neben ihm ein ‚bärtiger Verwundeter‘, ein ‚Jüngling mit dem Dolche‘ und ein ‚bewaffnetes Mädchen‘; hinter ihnen aber vergehen Mütter und Kinder schreiend in den Flammen.3

Der gewollte Kontrast ist eindeutig: Es gab einerseits die nur leidenden Juden, die sich widerstandslos in die Vernichtung fügten – und es gab andererseits die heldenhaft kämpfenden Juden. Trauerndes Angedenken gilt beiden, der zweiten Gruppe jedoch noch mehr als das: emphatische Bewunderung ihres beispiellosen Mutes, der sie zu Vorbildern, ja sogar ‚Gesetzgebern‘ für ein neues Zeitalter macht. In diesem Sinne ist das Ghetto-Denkmal, das der jüdische Bildhauer Daniel Rappoport geschaffen hat, für Hermlin nicht nur ein „Mal der Trauer“, sondern auch „eine Botschaft der Toten an die Lebenden.“4 – Liest man Hermlins Erzählung und den zur gleichen Zeit entstandenen Essay über den Warschauer Ghettoaufstand, so ahnt man die Schwierigkeiten der Defensivposition, in der sich ein sowohl jüdischer als auch kommunistischer Autor wie Hermlin in diesem historischen Augenblick 1949 befand (davon wird noch zu reden sein). Er behalf sich, indem er die heroischen jüdischen Kämpfer gegen den Nazismus 3

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Stephan Hermlin: Hier liegen die Gesetzgeber [1949]. In: Äußerungen 1944–1982. Hg. v. Ulrich Dietzel. Berlin u. Weimar 1983, S. 99–104; Zitat S. 99. In der Rahmenerzählung von Die Zeit der Gemeinsamkeit spielt das Denkmal auch eine entscheidende Rolle für die Vergegenwärtigung des Aufstands und seiner Protagonisten, jedoch enthält sich der Erzähler hier jeglicher plakativen Äußerung. Vgl. Die Zeit der Gemeinsamkeit/ In einer dunklen Welt. Zwei Erzählungen. Berlin (West) 1966, S. 7–58. Ebd., S. 99f.

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in eine Reihe mit anderen antifaschistischen Widerstandskämpfern stellte und sie damit aus der passiven Opfergruppe ‚Juden‘ heraushob.5 Dominant wurde im Lauf der fünfziger Jahre in der DDR eine ganz andere Art der Kriegserzählung, die beim Lesepublikum sehr gut ankam, aber von den SED-Oberen ob der naturalistischen, sogenannten ‚harten Schreibweise‘ und der unterstellten ideologischen Perspektivlosigkeit gescholten wurde. Es ist der aus dem eigenen Erleben heraus geschriebene Wandlungsroman oft noch jugendlicher Wehrmachtssoldaten zumeist bürgerlicher Herkunft, die mehr oder weniger gläubig und begeistert in den Krieg zogen und ernüchtert und skeptisch geworden aus ihm zurückkehrten, manche als Deserteure. In der Regel finden sie zumindest ansatzweise einen neuen, besseren Weg zurück ins Leben, und der Ort, an dem das geschieht, ist natürlich die DDR, der zukunftsträchtige sozialistische Staat. Im Ausnahmefall, so in Franz Fühmanns eindrucksvoller Novelle Kameraden (1955) oder in Rudolf Bartschs (geboren 1929) Geliebt bis ans bittere Ende (1958), kann der schmerzhafte Wandlungsprozess des Protagonisten allerdings auch mit seinem Tod enden, der als tragische Katharsis akzentuiert ist. So entsteht in der ostdeutschen Literaturgesellschaft gleichsam eine Variante von ‚Ankunftsliteratur‘avant la lettre: Die ehedem Verführten und Irrenden finden in der DDR ihre wahre Heimat. Sie mutieren zu „Siegern der Geschichte“ (zu diesem DDR-Slogan später) und kommen, wenn auch auf Umwegen und nicht ohne Schmerzen, im Sozialismus an. Die Verfasser dieser Art Kriegsprosa sind mit zwei Ausnahmen alle zwischen 1922 und 1930 geboren, die meisten in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, und waren Soldaten der Wehrmacht oder Flakhelfer. Ich will erst später etwas zum besonderen Profil dieser Angehörigen der sogenannten Aufbaugeneration und den Folgen für den Weltkriegsdiskurs sagen. Hier seien, nach Fühmann und Bartsch, nur noch die anderen wichtigen Namen und Werke erwähnt, die dem erwähnten Muster folgen und den Weltkriegsdiskurs der DDR-Literatur zwischen 1950 und 1960 dominieren. Es sind Erich Loest (geboren 1926) mit Jungen, die übrig blieben (bereits 1950 erschienen und nach Loests Verhaftung 1956 aus dem Verkehr gezogen), Karl Mundstock (als Jahrgang 1915 der Zweitälteste) mit den Erzählungen Bis zum letzten Mann (1956) und Die Stunde des Dietrich Conradi (1958), Herbert Otto (Jahrgang 1925) mit dem Roman Die Lüge (1956), Werner Steinberg (der Älteste, geboren 1913) mit dem Roman Als die Uhren stehenblieben (1957), Harry Thürk (Jahrgang 1927) mit dem Roman Die Stunde der toten Augen (1957) und Egon Günther (geboren 1927) mit dem Roman Der kretische Krieg (1957). Auch Fühmanns Novellensammlung König Ödipus von 1966 zählt noch dazu, in der die persönliche Schuld und deren Verdrängung im Bewusstsein dreier in Griechenland stationierter Wehr5

Vgl. auch Hermlins semidokumentarische Darstellung von deutschen Widerstandskämpfern, betitelt Die Erste Reihe. Berlin (Ost) 1951, die auch Juden einschließt. Allerdings sind von dreißig Porträts von Widerständlern nur zwei Kämpfern jüdischer Herkunft gewidmet, und Hermlin betont, wie Thomas C. Fox treffend feststellt, „not their Jewishness, but their Communism.“ Fox: Stated Memory. East Germany and the Holocaust. Rochester/NY 1999, S. 101.

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machtsangehöriger thematisiert sind: Sie bekämpfen tagsüber Partisanen mit äußerster Brutalität und proben abends Sophokles’ Ödipus-Tragödie.6 Das mit Abstand erfolgreichste Kriegsbuch nach dem Muster der existenziellen Wandlung erschien zu Ende dieses Jahrzehnts. Es ist Dieter Nolls Roman Die Abenteuer des Werner Holt, wobei es mir hier nur um den ersten Band (von dreien) mit dem Untertitel Roman einer Jugend von 1960 geht, dessen Handlungszeit vom Mai 1943 bis zum April 1945 reicht. Übrigens war die Mutter des 1927 geborenen Noll eine sogenannte Halbjüdin, die von den Nazis in schlimmer Weise schikaniert wurde, den Krieg jedoch überlebte.7 Nolls Roman wurde binnen weniger Jahre zum nie überbotenen Best- und Longseller in der DDR. Er verdient im Kontext der vorliegenden Untersuchung besondere Beachtung, weil er als einziger der hier genannten den Massenmord an den Juden über 540 Seiten hin wiederholt leitmotivisch einsetzt, um den nazigläubigen 17 bis 18jährigen Flakhelfer und späteren Soldaten Werner Holt schrittweise zur Besinnung kommen zu lassen. So liest man z.B.: Eine grauenhafte Beklemmung überkam Holt. Fernes, ganz fernes Gemunkel verdichtete sich … ‚Rede nicht darüber‘, hörte er sie sagen. ‚Im Generalgouvernement bringen sie die Polen und Juden zu Hunderttausenden um, die SS macht das. Ziesche nennt es ‚Schwächung einer minderwertigen Rasse.‘ ‚Die Juden sind schon so gut wie ausgerottet.‘ – Minderwertige Rasse. Nordischer Herrenmensch. Jude und Arier. So sieht das also aus, dachte er wie gelähmt.8

Und an anderer Stelle: Ich weiß alles. Kommunisten werden hingerichtet, Juden mit Giftgas erstickt, Kriegsgefangene geschlagen und zu Tode gehungert, Polenkinder ins Reich verschleppt, Ukrainer ins Ruhrgebiet deportiert, junge Mädchen erschossen, Partisanen zu Tode gefoltert. […] Ich weiß es nicht nur, dachte er, sondern: Etwas davon ist auch in mir. Etwas? Ich mach alles mit. Wenn Böhm befohlen hätte: Erschieß sie!, ich hätte sie erschossen.9

Am Ende ahnt der Leser, dass der irregeleitete Romanheld, am Rande auch durch die schockierenden Informationen über nazistische Massenmorde, auf dem Boden der späteren DDR zum verlässlichen Sozialisten reifen wird: ein „Sieger der Geschichte“. Immerhin: Nolls Roman spricht vom deutschen Massenmord an den Juden als Bestandteil des Weltkriegs, und das ist mehr als in allen anderen Kriegsromanen und -erzählungen, in denen zumeist nicht einmal das Wort Jude vorkommt.

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Zu Fühmanns Adaptation des Ödipus-Stoffes vgl. den Aufsatz Zum Mythos als Emanzipationsmodell von Sylwia Sawulska in diesem Band. Vgl. dazu Jürgen Nitsche: Nolls „halbjüdische“ Mutter. Ein deutsches Familiendrama. In: Literarisches Chemnitz. Autoren – Werke – Tendenzen. Hg. v. Wolfgang Emmerich und Bernd Leistner. Chemnitz 2008, S. 97–99. Vgl. Dieter Noll: Die Abenteuer des Werner Holt. Roman einer Jugend [1960]. Bremen o.J., S. 191. Ebd., S. 395. Weitere einschlägige Stellen finden sich auf den Seiten 190f., 199f., 257, 203f., 257, 260f., 385–388, 395f., 458–460 und 498–500.

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Wendet man den Blick von der Kriegsliteratur im eigentlichen Sinne ab und fragt, ob denn anderswo in der DDR-Literatur die Shoah thematisch geworden sei, so tut sich auch da eine Leerstelle auf. Lässt man Revue passieren, was sich als eine Art Kanon aus 40 Jahren DDR-Literatur herausgebildet hat, dann ist der Befund eindeutig: Der Holocaust ist kein zentrales Thema der DDR-Literatur – auch nicht ihrer zahlreichen jüdischen Autoren. Das gilt schon für die älteren unter diesen wie Arnold Zweig, Rudolf Leonhard, Friedrich Wolf und Anna Seghers, und ebenso für die jüdischen Autoren der nächsten, um 1910–15 geborenen Generation wie Louis Fürnberg und Stefan Heym (die Ausnahme Hermlin nannte ich) und schließlich auch für die (damals) jüngeren und jüngsten Autoren jüdischer Herkunft wie Wolf Biermann und Thomas Brasch. Die eher späten Ausnahmen sind Jurek Becker mit Jakob der Lügner (zu ihm später), Fred Wander (ein österreichischer Kommunist jüdischer Herkunft vom Jahrgang 1917) mit seinem jüdischen Lagerhäftlingen gewidmeten Prosaband Der siebente Brunnen von 1971, und der Lyriker Günter Kunert, vor allem mit dem eindrucksvollen Shoah-Gedicht Wenn die Feuer verloschen sind. Auch einige nichtjüdische Lyriker wie René Schwachhofer, Johannes Bobrowski, Jens Gerlach (Jüdische Chronik) und Sarah Kirsch (Legende über Lilja) sind zu nennen, von denen es ungefähr zwei Dutzend Gedichte zum Thema Holocaust aus den fünfziger und sechziger Jahren gibt. Auch die beiden Stücke Prozeß in Nürnberg (1968) und Geschichte vom Moischele (1970) von Rolf Schneider weichen dem Thema nicht aus. Schließlich ist eine umfangreiche, international orientierte Gedichtsammlung von 1968 zu nennen: Welch Wort in die Kälte gerufen. Gedichte zur nationalsozialistischen Judenverfolgung, herausgegeben von Heinz Seydel. Um 1970 herum erreicht das Thema Holocaust in der DDR-Literatur also eine gewisse Verbreitung, aber weiterhin gilt: Keiner und keine der renommierten DDR-Autorinnen und -Autoren (von Becker abgesehen) hat einen wesentlichen Beitrag zur internationalen Holocaust-Literatur geleistet.10

II. Ursachenforschung Nach dieser Bestandsaufnahme ist nach den möglichen Ursachen zu fragen. Eine solche thematische Leerstelle muss nicht nur schlechte Gründe haben. So könnten auch bei DDR-Autoren Skrupel entstanden sein, was die Darstellbarkeit des nazistischen Mas10

Vgl. zum Thema u.a. Nancy Lauckner: The Treatment of Holocaust Themes in GDR Fiction from the Late 1960s to the Mid-1970s: A Survey. In: Studies in GDR Culture and Society. Hg. v. Margy Gerber u.a. Washington DC 1981, S. 141–154; Thomas C. Fox: A ‚Jewish Question‘ in GDR Literature? In: German Life & Letters 44 (1990/91), S. 57–70, Paul O’Doherty: The Portrayal of Jews in GDR Prose Fiction. Amsterdam/Atlanta 1997; und Thomas C. Fox: Stated Memory. East Germany and the Holocaust. Rochester/ NY 1999. Kaum Aufschluss geben hingegen Ruth Angress: A ‚Jewish Problem‘ in German Postwar Fiction. In: Modern Judaism 5 (1988), S. 115–133, die sich fast ausschließlich auf westdeutsche Autoren beschränkt, und Heidi Müller: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa (1945–1981). Königstein/Ts. 1984, die sich nur auf nichtjüdische Autoren bezieht und dabei auch nur wenige DDR-Autoren berücksichtigt.

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senmords mit den Mitteln der Kunst angeht. Seit Adornos bekanntem Verdikt galt Lyrik nach Auschwitz weithin als „barbarisch.“11 Ein Argument gegen Holocaust-Literatur liegt auch in dem schrecklichen Satz, der gelegentlich Adolf Eichmann zugeschrieben wird: „100 Tote sind eine Katastrophe, eine Million Tote sind eine Statistik.“12 Für die Literatur, ja, für alle Künste, erzeugte Auschwitz das Dilemma, ein Verbrechen, ein Leiden, ein Sterben sinnlich, imaginativ, in sprachlichen Zeichen ausdrücken zu sollen, das sich menschlicher Vorstellungskraft entzieht. So notierte Bertolt Brecht am 25. Mai 1950 in seinem Arbeitsjournal: „mit anna [Seghers] und tschesno [Michael TschesnoHell] bei ILJA EHRENBURG [...] wir sprechen davon, daß beim anblick von auschwitz die literatur in ohnmacht fällt.“13 In der Tat konnte eines nach 1945 nicht mehr funktionieren: was Auschwitz war, schlicht abbildend, in Bildern fassen zu wollen, wie es die Literatur bis dato mit ihren Gegenständen in der Regel getan hatte. Das konnte nur zu einer Verdopplung der absoluten Sinnlosigkeit und Leere führen, die die Welt der Vernichtungslager von Beginn an war. Man darf allerdings fragen, ob die DDR nicht zumindest eine Literatur, geschrieben im Bewusstsein des Holocaust, „von diesem Datum her“ und „auf dieses Datum zu“ (um es mit Paul Celan zu sagen14) hervorgebracht habe; oder, mit den Worten Amir Eshels, „im Angesicht der Shoah“15. Es wäre eine Literatur wie die Lyrik Celans, in der das Skandalon des Holocaust permanent anwesend ist, ohne dass das, was geschah, realistisch ereignishaft abgeschildert würde. Aber nein, auch davon kann in der Breite nicht die Rede sein. Ich wiederhole es: Es klafft weithin eine Leerstelle. Die meisten Schriftsteller der DDR – und gerade diejenigen, deren obsessives Thema der Krieg ist – schreiben über vier Jahrzehnte hin, als ob es den Holocaust nie gegeben hätte. Das gilt übrigens auch für fast alle, die irgendwann im Lauf von vier Jahrzehnten DDR-Dissidenten wurden.16 11 12 13 14

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Vgl. Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. Zitiert nach: Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter. Hg. v. Petra Kiedaisch. Stuttgart 1995, S. 27–49, hier S. 49. Von Eberhard Fechner aus Eichmanns unveröffentlichten Memoiren zitiert in seinem Fernsehfilm Majdanek. Teil II (zuerst am 25. November 1984 von NDR 3 gesendet). Bertolt Brecht: Arbeitsjournal. Bd. 2 (1942–1955). Hg. v. Werner Hecht. Frankfurt/Main 1973, S. 925. Paul Celan: Der Meridian. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rudolf Bücher. Bd. 3: Gedichte III – Prosa – Reden. Frankfurt/Main 1983, S. 187–202, hier S. 196. Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah. Heidelberg 1999. Auf ein mögliches Missverständnis ist allerdings hinzuweisen: Die Frage nach dem Holocaust als Thema der DDR-Literatur ist nicht identisch mit der Frage nach dem Vorkommen von Juden in der DDR-Literatur. Der irische Germanist Paul O’Doherty hat in seiner Studie The Portrayal of Jews in GDR Prose Fiction (vgl. Anm. 10) gezeigt, dass sich, zumindest in der erzählenden Literatur der DDR, eine nicht geringe Zahl jüdischer Protagonisten finden lässt, so u.a. in Texten von Willi Bredel, Anna Seghers, Martin Gregor (-Dellin), Arnold Zweig, Max Walter Schulz, Johannes Bobrowski, Werner Heiduczek, Peter Edel, Stefan Heym, Jurek Becker, Günter Kunert, Rudolf Hirsch

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So wiederhole ich meine Frage: Was waren die Ursachen für die lang anhaltende Aussparung des Holocaust aus der DDR-Literatur insgesamt und speziell der Kriegsprosa? Ich versuche im Folgenden, diese Frage so knapp wie möglich zu beantworten. 1. Der reale Kommunismus und Sozialismus hing seit der späten Weimarer Republik einer bornierten Vorstellung von Faschismus/Nationalsozialismus an, die der Aufrechterhaltung der kapitalistisch-imperialistischen Herrschaft die absolute Priorität beimaß und dem Rassen-Antisemitismus der Nazis dementsprechend nur beiläufigen Charakter zuerkannte. Oder in den Worten von Thomas C. Fox: „a grand récit driven by economic determinism cannot explain racially-motivated genocide[.]“17 Dieser gleichsam halbierte marxistische Rationalismus, der eine katastrophale Unterschätzung irrationaler Elemente der NS-Bewegung, vor allem des auf Vernichtung zielenden Antisemitismus, zur Folge hatte, schlug auch in der Literatur um 1930/33 Wurzeln, wie vor allem das Beispiel Bertolt Brecht und sein Stück Die Rundköpfe und die Spitzköpfe lehrt (von weniger klangvollen Namen sei hier abgesehen).18 Der politökonomisch bornierte mar-

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und Helga Königsdorf. Die jüdischen Gestalten aus den Büchern dieser Autoren entstammen entweder der Mythologie und älteren Historie (wie bei Heym) oder, häufiger, der Zeitgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht selten im Gewand des Familienromans. Der Bezug zur nazistischen Gewaltherrschaft ist meist gegeben, wobei Juden regelhaft als passive Opfer ohne politische Identität dargestellt werden. Eine Ausnahme markieren, wie gesagt, die frühen Texte Hermlins. So kann O’Doherty mit einem gewissen Recht bilanzieren: „the Jewish element was an ever present one in GDR literature“. Er muss aber einschränkend feststellen, dass in der DDR-Literatur über die Nazizeit durchweg „passive Jews“ in der Rolle von Opfern begegnen und nur Kommunisten organisierten Widerstand leisten (vgl. S. 15 und 96). Auch weist er, auf eine Vielzahl guter Belege gestützt, darauf hin, dass Literaturwissenschaft und Literaturkritik der DDR gleichbleibend über die Jahrzehnte das Vorkommen von Juden in der Literatur ihres Landes ignorierten, ja, in einschlägigen Rezensionen diese Protagonisten ihrer jüdischen Identität regelrecht entkleideten. Nicht selten wurden ausführliche Studien über Das Thema Krieg und Faschismus in der Geschichte der DDR-Literatur – so der Titel eines Aufsatzes von Therese Hörnigk in: Weimarer Beiträge 24 (1978), S. 73–105; ähnlich Christel Berger: Gewissensfrage Antifaschismus. Berlin 1990 – veröffentlicht, in denen keinerlei Bezug zu jüdischen Themen oder Figuren hergestellt wird, vom Holocaust ganz zu schweigen. Fox: Stated Memory (Anm. 10), S. 146. Brechts noch stark in der Tradition der Lehrstücke stehende theatralische Parabel Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, entstanden 1932–34, trägt den Untertitel Reich und reich gesellt sich gern. Dieses verballhornte Sprichwort enthält bereits die entscheidende Pointe, nämlich: Am Ende halten die Reichen, egal ob Rundköpfe (ist gleich Arier, im Stück Tschuchen genannt) oder Spitzköpfe (ist gleich Juden, im Stück Tschichen genannt), zusammen, und ihre zeitweilige Feindschaft aus ‚rassischen‘ Gründen entpuppt sich als ein bloßer Nebenwiderspruch, der, wenn es ums Ganze geht, vernachlässigbar ist. – Brecht hat das Stück, das seine Uraufführung 1936 in Kopenhagen erlebte, nach 1938 nicht mehr weiterbearbeitet, aber auch nicht verworfen. Zu seinen Lebzeiten gab es keine weitere Aufführung. War ihm bewusst geworden, dass die Pointe dieses Stücks die Wirklichkeit der NS-Herrschaft, gipfelnd im Holocaust, verfehlte? Für eine solche Einsicht gibt es freilich keine Belege. Immerhin gehört das Stück bis heute zu den am wenigsten gespielten von Brecht. Die Brecht-Forschung aus der DDR hat dem Verfehlten von Brechts Konzeption des Nazismus, vor al-

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xistische Rationalismus ist eine der Grundlagen dafür, dass sich die ostdeutsche Literatur nach 1945 gegenüber dem Holocaust ignorant verhält. 2. Eng verbunden mit dieser politökonomisch verengten Vorstellung von Nationalsozialismus ist schon während des Krieges und vermehrt nach Kriegsende die Schaffung des ‚Gründungsmythos Antifaschismus‘, an den der neue Staat DDR ‚ansippte‘, mit Herfried Münkler zu sprechen.19 In diesen Gründungsmythos wurde als Kern der Widerstand in den (deutschen) Konzentrationslagern eingelagert, wobei dieser in seinen Dimensionen und seiner Wirksamkeit weit übertrieben und – dies vor allem – auf den der Kommunisten verengt wurde. Dieser mit einer irrigen Faschismustheorie eng verzahnte Begriff von Antifaschismus, verstanden als erfolgreicher proletarischer Widerstand, hatte zur Folge, dass nunmehr, wie vorher schon der rassistische Antisemitismus der Nazis, auch der von diesen praktizierte Massenmord an den Juden ausgeblendet werden musste. Das hatte zeitweise fatale, heute kaum glaubliche Folgen. So wird in einem Bericht über die erste Vollsitzung des kommunistisch dominierten Hauptausschusses ‚Opfer des Faschismus‘ vom 3. Juli 1945 in Berlin der (zu diesem Zeitpunkt) Mehrheitsmeinung Ausdruck gegeben, dass nicht allen, die unter den Nazis gelitten hätten, das Prädikat ‚Opfer des Faschismus‘ zukomme. Vergleichbar den Soldaten der Wehrmacht, den Ausgebombten oder den Bibelforschern hätten die Juden „geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft! Diesen Menschen wird und muß im Rahmen der allgemeinen Fürsorge geholfen werden.“20 Zwar wurde diese Maßgabe

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lem seiner katastrophalen Unterschätzung des Rassenantisemitismus, lauthals akklamiert, so Werner Mittenzwei in seinem als Standardwerk geltenden Brecht-Buch von 1962. Dort heißt es: Brecht „charakterisierte den Faschismus richtig als eine vom Finanzkapital ausstaffierte Marionette.“ Er habe treffend „Hitlers Rassenhetze als ein Mittel“ dargestellt, „mit dem die imperialistischen Kräfte in Deutschland das ausgebeutete Volk von den wahren Ursachen seiner Verelendung abzulenken versuchten.“ (Werner Mittenzwei: Bertolt Brecht. Von der „Maßnahme“ zu „Leben des Galilei“. Berlin (Ost) 1962, S. 156f.). Dass sich am Ende Hitlers Rassenhetze als alles andere denn ein ‚Ablenkungsmanöver‘ entpuppte, wird, ganz im Sinne des SED-Bildes vom Nazismus, einfach ignoriert. – Die westliche Brecht-Forschung hat dagegen das Stück eher verlegen registriert, es ignoriert oder sogar Brechts Konzept des deutschen Faschismus naiv beigepflichtet. Vgl. z.B. das BrechtHandbuch. Bd. 1. Theater. Hg. v. Jan Knopf. Stuttgart 1972, S. 130–132; oder Klaus Völker: Bertolt Brecht. Eine Biographie. München u. Wien 1976, S. 250–252. Eine Ausnahme markiert der Aufsatz von David Bathrick: A One-Sided History: Brecht’s Hitler Plays. In: Literature and History. Hg. v. Leonard Schulze und Walter Wetzels. Lanham/MD u.a. 1983, S. 181–196. Anders glücklicherweise auch der von Stefan Kirsch verfasste Eintrag im neuen Brecht-Lexikon. Hg. v. Ana Kugli und Michael Opitz. Stuttgart u. Weimar 2006, S. 89f. Hier wird Brechts Sich-Festklammern an der sogenannten Dimitroff-Formel deutlich kritisiert und auch seine Antisemitismustheorie als verharmlosend bezeichnet. Vgl. Herfried Münkler: Politische Mythen der DDR. In: Jahrbuch 1996 der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, S. 123–156, und in zwei weiteren Versionen von 1996 und 1998. – Vgl. auch Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Ausgabe. Leipzig 1996, S. 34–39. Deutsche Volkszeitung (DVZ) Nr. 18 vom 3. Juli 1945; zitiert nach Olaf Groehler: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR. In: Zweierlei Bewältigung. Vier Beiträge über den Umgang

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noch im September 1945 revidiert, aber sie zeigt denkbar deutlich die geradezu verächtliche Haltung der Kommunisten gegenüber den jüdischen Opfern. Hinzu kommen, zumindest bis zur Mitte der fünfziger Jahre, antisemitische Tendenzen aus der Sowjetunion unter Stalin (kulminierend in den berüchtigten Prozessen zwischen 1950 und 1953, vor allem in der Tschechoslowakei), deren (schwächere) Ausläufer auch die DDR erreichten. So gilt, mit Jeffrey Herf: „In the entire history of German Communism, Anti-Semitism and the Jewish catastrophe remained marginal to the master narrative of class struggle, resistance, and redemption.“21 Der Holocaust wurde nicht geleugnet, aber er wurde kleingemacht und an den Rand gedrängt. Seine katastrophalen Dimensionen blieben für DDR-Bürger, unter ihnen Millionen heranwachsende Jugendliche, im Dunkeln. Die auf polnischem Staatsgebiet liegenden Vernichtungslager waren nur schattenhaft bekannt.22 3. Eine – erwünschte – Folge des antifaschistischen Gründungsmythos war, dass man sich des Problems einer massenhaften Täterschaft (und damit einhergehend: eines massenhaften Mitläufertums) entledigte. Die Naziverbrechen wurden einer überschaubaren Gruppe krimineller Einzeltäter und ihren kapitalistischen Drahtziehern zugeschoben, wohingegen dem Volk der Status der verführten Unschuld zugesprochen wurde, ja, es am Ende sogar zum „Sieger der Geschichte“ erklärt wurde. Stephan Hermlin brachte die Sache auf den Punkt, wenn er 1979 in einem Gespräch mit Klaus Wagenbach feststellte: Man ernannte sich selbst zum Sieger der Geschichte. Diese Formel breitete sich sofort aus, wie ein Kreisel in einem Wasser, in das man einen Stein geworfen hat, jeder Bürger der DDR konnte sich nun als Sieger der Geschichte fühlen. Dadurch, daß man dem Volk diese Schmei-

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mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten. Hg. v. Ulrich Herbert u. Olaf Groehler. Hamburg 1992, S. 41–66, hier S. 43. Jeffrey Herf: German Communism, the Discourse of ‚Antifascist Resistance‘, and the Jewish Catastrophe. In: Resistance against the Third Reich 1933–1990. Hg. v. Michael Geyer. Chicago/IL 1994, S. 257–294, hier S. 294; vgl. ausführlicher zum Thema Herfs Buch Divided Memory. The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge/MS 1997. Vgl. hierzu instruktiv Olaf Groehler: Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR (Anm. 20), S. 41–66. Danach hat sich eine (schmale) DDR-Historiographie zum Holocaust erst seit Mitte der sechziger Jahre entwickelt, so vor allem durch das von dem jüdischen Publizisten Helmut Eschwege herausgegebene Buch Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitler-Faschismus an den deutschen Juden 1933–1945. Berlin (Ost) 1966, sowie durch die Studien von Kurt Pätzold, u.a. den von ihm herausgegebenen Band Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1945. Leipzig 1983; und durch den Sammelband Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte. Essays. Berlin (Ost) 1987. Thomas C. Fox folgt im Wesentlichen der Darstellung Groehlers, spitzt sie aber noch stärker kritisch zu; vgl. Fox: Stated Memory (Anm. 10), S. 21–38.

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chelei sagte und es entlastete, war es dann auch leichter zu regieren. Es ist schwer, auf die Dauer Leute zu regieren, die sich irgendwie schuldig fühlen.23

So, wie die realsozialistische Geschichtsdeutung mit der ihr eigenen Genealogie und Teleologie in Verbindung mit einer rigiden Machtpolitik für die Ausblendung des Holocaust den Grund gelegt hat, so hat auch die Literatur, deren Stellenwert im Land ja über Jahrzehnte sehr hoch war, wirkmächtig dazu beigetragen, eine solche Ignoranz gegenüber dem Holocaust in den Köpfen ihrer Leser zu befestigen. Das gilt auch und gerade für die Kriegsliteratur. 4. Neben diesen DDR-eigenen respektive dem Kommunismus immanenten Gründen lässt sich eine weitere Ursache benennen, warum gerade die (seinerzeit) jüngeren DDRAutoren das Thema Holocaust mieden und lange auch nicht im Bewusstsein desselben schrieben. Bei den älteren jüdischen Autoren, von Zweig und Seghers bis zu Heym und Hermlin, die alle Kommunisten waren, ist der Drang unverkennbar (und im Einzelnen nachgewiesen), sich der ungeliebten jüdischen Identität endgültig zu entledigen und an deren Stelle die kommunistische politische Identität zu setzen, und zwar absolut. – Ganz anders die (damals) jüngeren und jüngsten nichtjüdischen Autoren. Die Männer unter ihnen waren, wie bereits erwähnt, überwiegend Angehörige der Wehrmacht gewesen, so der sogenannte ‚Volksschriftsteller‘ Erwin Strittmatter (geboren 1912; er diente in einer der SS unterstellten Einheit der sogenannten Ordnungspolizei u.a. in Jugoslawien und Griechenland, was erst im Juni des Jahres 2008 bekannt wurde)24 sowie Franz Fühmann und Max Walter Schulz (beide vom Jahrgang 1922). Auch Hermann Kant, Erich Loest, Günter de Bruyn, Werner Heiduczek, Harry Thürk und Dieter Noll (alle 1926/27 geboren) und die anderen Verfasser von Weltkrieg-II-Prosa gehören in diese Reihe. Am Anfang standen bei diesen ehemaligen Mitläufern des Nationalsozialismus Verstörung, Scham, Erschütterung, Schuldbewusstsein – und ihnen gegenüber (so konnte es scheinen) ein gerechter, großzügiger Sieger in Gestalt der Sowjetunion; in der Heimat dann eine Sozialistische Einheitspartei (an ihrer Spitze antifaschistische Widerstandskämpfer und Exilierte, unbezweifelbar legitimiert durch entbehrungsreiche KZ- und Zuchthausaufenthalte oder den Verlust der Heimat), die die versöhnende Hand 23

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Wo sind wir zuhause? Gespräch [von Klaus Wagenbach] mit Stephan Hermlin, in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Politik und Kultur 1 (1979), Heft 1, S. 47–55, hier S. 49f. Hermlin hatte 25 Jahre zuvor, im Jahre 1953, selbst noch emphatisch die Überzeugung vorgetragen, der Holocaust sei „der unaustilgbare Makel einer Menschengruppe, die der Bestialität verfiel“ – und damit die Masse der Mittäter und Mitläufer indirekt exkulpiert; vgl. Hermlin: Auschwitz ist unvergessen [1953]. In: Äußerungen 1944–1982 (Anm. 3), S. 85–89, hier S. 89. Vgl. auch Wolfgang Emmerich: Der ganz gewöhnliche Faschismus. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der neueren DDR-Literatur. In: DDR Report. Referatezeitschrift zur politischen Bildung 6 (Juni 1980), S. 361–365. Vgl. zuerst Werner Liersch: Erwin Strittmatters unbekannter Krieg. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.6.2008; und die daran anschließende Mediendebatte, treffend analysiert von Frank Hoffmann und Silke Flegel: Autobiografie und Dichtung. Die Sommer-Debatte um Erwin Strittmatter. In: Deutschland Archiv 41 (2008), S. 973–979.

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ausstreckte, Absolution erteilte und die ‚Überläufer‘ gleich noch handstreichartig zu – das Wort fiel bereits mehrfach – „Siegern der Geschichte“ erklärte. Im Doppel-Gründungsmythos Antifaschismus/Sozialismus bot sich ein neuer Glaube, ein neues geschlossenes Weltbild an, welches das alte, jetzt obsolete, weil schuldbelegte Weltbild ersetzte.25 Das Geschehen des Holocaust freilich passte nicht in dieses neue Sinnkonstrukt. Es blieb einfach draußen.

III. Kriegsgeneration Ost-West und ein Ausblick in die folgenden Jahrzehnte Nun darf man nicht verkennen, dass es zu dieser Autorengruppierung der frühen DDR ein stattliches Pendant in der jungen Bundesrepublik gibt. Es sind die überwiegend männlichen Autoren der Gruppe 47, von denen die meisten, u.a. Hans Werner Richter, Alfred Andersch, Günter Eich, Heinrich Böll, Walter Höllerer, Siegfried Lenz, Günter Grass und Martin Walser, ebenfalls Soldaten oder Flakhelfer gewesen waren. Auch sie verstanden sich – ohne dass eine Staats- oder Parteidoktrin sie dazu verpflichtete – mit mehr oder weniger Recht als genuine Antifaschisten, obwohl doch nicht wenige von ihnen wenn schon keine explizite Schuld, so doch ein beträchtliches „Schuldwissen“26 als Gepäck aus dem Zweiten Weltkrieg heimbrachten. Der Holocaust als die entscheidende Katastrophe der Epoche, als der „Zivilisationsbruch“ schlechthin (Dan Diner), beschäftigte für lange Zeit keinen von ihnen wesentlich. Maß aller Dinge war ihre eigene, in der Regel begrenzte Kriegserfahrung und die Autosuggestion, legitime Vorsprecher eines neuen, linken, antifaschistischen Deutschlands zu sein. Das wurde zu keinem Zeitpunkt deutlicher als im Mai 1952, als Paul Celan vor der Gruppe 47 in Niendorf las und zum „Reinfall in der Gruppe“ (O-Ton Walter Jens)27 wurde, dessen Vortrag der Todesfuge man alternativ mit „Singsang […] wie in einer Synagoge“ (so der Gruppenchef Richter) und Reden von Goebbels assoziierte.28 Die „sehr eigentümliche kollektive Kriegserinnerung dieses Männerbundes“29 namens Gruppe 47 war mit der Erfahrung eines Überlebenden der Shoah wie Paul Celan nicht nur nicht vermittelbar – sie war ihr feindlich. So muss man für die späten vierziger und fünfziger, häufig noch sechziger Jahre von einem Versagen nahezu aller nichtjüdischen jüngeren Autoren 25 26

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Vgl. dazu zuerst Wolfgang Emmerich: Zwischen Hypertrophie und Melancholie. Die literarische Intelligenz der DDR im historischen Kontext. In: Universitas 48 (1993), S. 778–792. Klaus Briegleb: Ingeborg Bachmann, Paul Celan. Ihr (Nicht-)Ort in der Gruppe 47 (1952– 1964/65). Eine Skizze. In: Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Hg. v. Bernhard Böschenstein und Sigrid Weigel. Frankfurt/Main 1997, S. 29–81; und ders.: Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ Berlin u. Wien 2003, S. 183–214 und passim. Walter Jens, zitiert in: Hans Werner Richter. Briefe. Hg. v. Sabine Cofalla. München u. Wien 1997, S. 128. Vgl. Milo Dor: Auf dem falschen Dampfer. Fragmente einer Autobiographie. Wien u. Darmstadt 1988, S. 214. Wolfgang Emmerich: Paul Celan. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 92.

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deutscher Sprache sprechen, was ihr öffentliches Verhältnis zum Holocaust angeht – beinahe gleichgültig, ob sie im Osten oder im Westen Deutschlands oder in Österreich lebten. Sie sind lange, allzu lange vereint in der Ignoranz gegenüber dem, was das „Geschichtszeichen“30 Auschwitz für sie – wie für uns alle – bleibend bedeutet.31 1969 erschien in der DDR jener großartige Roman von Jurek Becker (1937–1997), Jakob der Lügner, der die Ghettos in den polnischen Großstädten und die in ihrer Nähe befindlichen Mordlager der SS ins Gedächtnis der DDR-Leser zurückrief. Becker, selbst als Kind im Ghetto von Lodz aufgewachsen, wählte den Kunstgriff, nicht den Massenmord direkt darzustellen, wohl aber seine ständig präsente Bedrohung – und die gleichzeitige Hoffnung der Ghettobewohner, die Rote Armee möge rechtzeitig anrücken und sie vor dem Tod im Vernichtungslager bewahren. Becker zeigt auch nicht kämpfende Heroen wie seinerzeit Stephan Hermlin, sondern Helden des Alltags wie den Zuckerbäcker und Eisverkäufer Jakob Heym, der die Notlüge vom versteckten Radio aufrechterhalten muss, um den Ghettobewohnern Hoffnung zu geben. Denn aus diesem imaginären Radio kommen die erfundenen Meldungen vom Vorrücken der russischen Front. In den siebziger Jahren sind es nun auch nichtjüdische DDR-Autoren, deren Texte einen Bewusstseinswandel dokumentieren und damit auch den späten Nachfahren der Kriegsliteratur ein anderes Gesicht geben. So ist in Franz Fühmanns ungarischem Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens von 1973 der folgende Eintrag zu lesen: 30

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Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Zweiter Abschnitt [1798]. In: Werke. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 6. Frankfurt a.M. 1964, S. 357. Kant erläutert den Begriff „Geschichtszeichen“ sehr schön als „signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon“. Vgl. grundsätzlich und erhellend zum Thema „Geschichtszeichen“ in der Kant-Nachfolge den gleichnamigen Sammelband von Heinz Dieter Kittsteiner (Köln u. a. 1999), hier besonders seinen Aufsatz: Kants Theorie des Geschichtszeichens. Vorläufer und Nachfahren, S. 81–116. Auch Thomas Taterka verwendet den Ausdruck in seinem Aufsatz: „Buchenwald …“ (Anm. 1), S. 316. Vgl. dazu vor allem Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens: Die deutsche Literatur und der Holocaust. München 2001. – In der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre begegnet immerhin ein Erzähltext, der aus der Darstellung des Kriegsgeschehens die Massenverbrechen an der Ostfront nicht ausspart: Am grünen Strand der Spree. So gut wie ein Roman (Berlin 1955) von Hans Scholz vom Jahrgang 1911. Der Reigen von mehreren Kriegserzählungen (natürlich von Männern) wird hier eröffnet durch die Verlesung (fiktiver) Tagebuchblätter eines noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befindlichen Wehrmachtsangehörigen, der beim Vorrücken deutscher Truppen im Osten seit dem 22. Juni 1941 Zeuge von Massenerschießungen von Juden durch „lettische Zivilisten“ – aber „Deutsche Polizisten führten die Aufsicht in alten grünen Uniformen“ – wird, die ihn zutiefst verstören (S. 76f. und passim). Auch die Deportation der europäischen Juden mit dem Ziel ihrer Vernichtung („Das jeiht durch alle Länder“, S. 70) wird deutlich benannt. Es stellt sich die (hier nicht zu erörternde) Frage, warum das Buch in den ersten Jahren nach seinem Erscheinen in der Bundesrepublik noch keine öffentliche Debatte zum Thema Holocaust ausgelöst hat, obwohl es von Beginn an, also seit 1955, und bis zum Ende der siebziger Jahre weithin gelesen wurde. Den Hinweis auf Scholz’ Roman verdanke ich Moritz Baßler (Münster).

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Wolfgang Emmerich Ich bin gleich Tausenden andren meiner Generation zum Sozialismus nicht über den proletarischen Klassenkampf oder von der marxistischen Theorie her, ich bin über Auschwitz in die andre Gesellschaftsordnung gekommen. Das unterscheidet meine Generation von denen vor ihr und nach ihr, und eben dieser Unterschied bedingt unsre Aufgaben in der Literatur […]. Ich werde der Vergangenheit nicht mehr entrinnen, nicht einmal in der Utopie. […] Diese neue Gesellschaftsordnung war zu Auschwitz das Andere; über die Gaskammer bin ich zu ihr gekommen und hatte es als den Vollzug meiner Wandlung angesehen, mich ihr mit ausgelöschtem Willen als Werkzeug zur Verfügung zu stellen, anstatt ihr Mitgestalter mit eben dem Beitrag, den nur ich leisten könnte, zu sein.32

Das Tragische für den Verfasser dieser respektablen Sätze ist, dass er am Ende zu der Feststellung gelangt, sich den neuen (kommunistischen) Machthabern, denen er hohen moralischen Kredit eingeräumt hatte, für mehr als zwei Jahrzehnte „mit ausgelöschtem Willen als Werkzeug zur Verfügung“ gestellt zu haben – was er nun nicht mehr durchhält und widerruft. Franz Fühmann, der gläubige sudetendeutsche SA-Mann von einst und flammende Stalinist der fünfziger Jahre, ist im letzten Jahrzehnt seines Lebens (er starb 1984) ein zutiefst ernüchterter und verzweifelter, aber auch durch und durch integerer Mann gewesen.33 Auch Christa Wolf (1929 geboren) hat ein Buch geschrieben, das zwar nicht den Holocaust zum Thema hat, über dem derselbe jedoch wie ein Menetekel steht: Es ist die Rede von ihrem autobiographischen Roman Kindheitsmuster von 1976. Hier ist nicht der Ort, sich differenziert mit dem Text auseinanderzusetzen, der neben einer hartnäckigen Suche nach Spuren des Nazismus in der eigenen Kindheit und damals ausgebildeten autoritären Charakterstrukturen – ebenjenen ‚Kindheitsmustern‘ – auf der erzählten Gegenwartsebene der DDR in den siebziger Jahren auch fragwürdige Kompromisse und (neue) Leerstellen enthält. Bemerkenswert, jedenfalls für die damalige DDR, sind gleichwohl Sätze wie die folgenden: der [Erinnerungs-]Schwund muß einem verunsicherten Bewußtsein gelegen gekommen sein, das, wie man weiß, hinter seinem eigenen Rücken dem Gedächtnis wirksame Weisungen erteilen kann, zum Beispiel die: Nicht mehr daran denken. Weisungen, die über Jahre treulich befolgt werden. Bestimmte Erinnerungen meiden. Nicht davon reden. Wörter, Wortreihen, ganze Gedankenketten, die sie auslösen konnten, nicht aufkommen lassen. Bestimmte Fragen unter Altersgenossen nicht stellen. Weil es nämlich unerträglich ist, bei dem Wort ‚Auschwitz‘ das kleine Wort ‚ich‘ mitdenken zu müssen: ‚Ich‘ im Konjunktiv Imperfekt: Ich hätte. Ich 32

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Franz Fühmann: 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Das Judenauto [u.a. Texte]. Rostock 1979, S. 478. Allerdings darf man den ersten dieser Sätze nicht für bare Münze nehmen. Fühmanns erster quasiautobiografischer Text, das Poem Fahrt nach Stalingrad von 1953, schweigt zum Holocaust. Darauf hat Peter Demetz hingewiesen. In: Der treue Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. [= Rezension zu Hans Richter: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Berlin 1992.] In: FAZ, 29.9.1992. Vgl. außerdem Fühmanns autobiographische Erzählung aus seiner Schulzeit, Den Katzenartigen wollten wir verbrennen (1981), die auch das Pogrom vom 9. November 1938 einbezieht und in dem Satz gipfelt: „Meine Schulzeit insgesamt ist eine gute Erziehung zu Auschwitz gewesen.“ In: Ders.: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Hamburg 1983, S. 171–182, hier S. 181.

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könnte. Ich würde. Getan haben. Gehorcht haben. Dann schon lieber: keine Gesichter. Aufgabe von Teilen des Erinnerungsvermögens durch Nichtbenutzung.34

Bei den Worten ‚Zweiter Weltkrieg‘ ‚Auschwitz‘, und bei ‚Auschwitz‘ das Wörtchen ‚ich‘ mitzudenken: Das waren zwei Dinge, die die SED über drei Jahrzehnte erfolgreich von der DDR-Bevölkerung ferngehalten hatte, wobei ihr die veröffentlichte Literatur half. Insofern bezeichnen Einlassungen wie die Franz Fühmanns oder Christa Wolfs eine Zäsur in der Bewusstseinsgeschichte der DDR. In der Bundesrepublik findet sich dieser Bewusstseinswandel am nachdrücklichsten in Johnsons Epochenwerk Jahrestage, in der Hauptsache ebenfalls, wie die Bücher Fühmanns und Wolfs, in den siebziger Jahren entstanden. Und dieser Autor, Uwe Johnson, ist bemerkenswerterweise in der DDR groß geworden. Aber er ist auch einer der ersten, denen die Borniertheit des DDR-Antifaschismus auffiel, und er zog Konsequenzen aus dieser Erkenntnis.35

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Christa Wolf: Kindheitsmuster. Roman. Darmstadt u. Neuwied 1977, S. 270f. Vgl. zur Interpretation z.B. meinen Aufsatz Der Kampf um die Erinnerung. In: Christa Wolf Materialienbuch. Hg. v. Klaus Sauer. Darmstadt u. Neuwied 1979, S. 111–117. Uwe Johnson: Versuch, eine Mentalität zu erklären. In: Ders.: Berliner Sachen. Aufsätze. Frankfurt a. M. 1975, S. 52–63.

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Die literarische Darstellung der Fahnenfluchtproblematik

Über die komplizierte und sensible Problematik der militärischen Verweigerung während des Zweiten Weltkriegs hat man in Deutschland lange Zeit geschwiegen. Als sie Anfang der achtziger Jahre, im Zusammenhang mit der Debatte über die Errichtung von Gedenkstätten für Deserteure, in das Interesse einer breiten Öffentlichkeit rückte, bezogen die Diskussionsteilnehmer, darunter auch die ehemaligen Kriegsteilnehmer, keine klare, eindeutige Stellung. 1986 wurde in Vegesack das Denkmal Dem unbekannten Deserteur aufgestellt, in den darauf folgenden Jahren enthüllte man einige Denkmäler und Gedenktafeln in anderen deutschen Städten, z.B. das Denkmal Den Deserteuren aller Kriege in München, das Denkmal für den unbekannten Deserteur in Hannover, die Gedenktafeln in Göttingen oder in Braunschweig. Die Einweihung der Gedenkstätten löste in den deutschen Medien heftige Kontroversen über unterschiedliche Formen der Desertion und ihre juristische und moralische Bewertung aus und zeigt, wie sensibel und umstritten das Thema war. Eine offizielle Anerkennung und Rehabilitierung der vom Militärgericht zum Tode hingerichteten Fahnenflüchtigen – im Laufe des Zweiten Weltkrieges ergingen 22.000 Todesurteile des Militärgerichts, von denen 15.000 vollstreckt wurden – blieb bis Ende der neunziger Jahre aus. 1998 beschloss der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Rehabilitierung aller Deserteure, das 2002 so geändert wurde, dass außerdem die Urteile der Militärjustiz gegen Deserteure der Wehrmacht pauschal aufgehoben wurden. Selbst die Historiker waren in der Debatte um Verweigerung und Widerstand gegen das NS-Regime nicht einig. Während die einen die Fahnenflucht „als Zeichen von Angst, Feigheit und Verrat“ beurteilten, sprachen die anderen „von einer Schwächung

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des Regimes durch individuelle Unterlassung […] und von einem individuellen Akt des Widerstandes.“1 Auf die individuellen Gründe der Desertion ging man nicht ein. In der deutschen Nachkriegsliteratur gibt es wenige Erzähltexte, die die Schicksale der Fahnenflüchtigen, ihr Verhalten, ihre Zweifel und Ängste untersuchen. Während die Ursachen des „unsoldatischen Handelns“ nur am Rande erwähnt und ergründet werden – in den meisten Fällen muss man wohl von einem Motivbündel sprechen, das sich für die Außenstehenden kaum entwirren lässt –, nimmt die Beschreibung des militärischen Alltags und der strafenden Maßnahmen im Erzählvorgang viel Platz ein. Thomas Kraft stellt in Fahnenflucht und Kriegsneurose fest: „Aus der Masse von Erinnerungs- und Verklärungsschriften ragen nur wenige Texte heraus, die es wagen, den vielbesungenen Mythos des heroischen Landsers mit Bildern der Verweigerung, der Angst, des zivilen Ungehorsams und des Widerstandes zu kontrastieren.“2 Er verweist in dem Zusammenhang auf die „autobiographischen Erfahrungsberichte[,]“ die mittels offener Strukturen und ästhetischer Experimente „die Schattenseiten des Krieges“ und seine Grausamkeit als „allgemein mögliche Chiffre menschlicher Existenz begreiflich machen.“3 In der vorliegenden Studie zur Fahnenfluchtproblematik wird auf diejenigen Werke zurückgegriffen, die auf autobiographischen Erlebnissen der Verfasser beruhen, das Authentische mit persönlichen Aussagen verknüpfen und das Thema der Desertion im Kontext des Zeitgeschehens reflektieren. Es geht um die Autoren, die „die Übergriffe des Unrechtsstaates“ am eigenen Leib erfahren und die Desertion für die „äußerste Form der Selbstverteidigung“4 und bewusste Willensäußerung gehalten haben. Mit Ausnahme von Gerhard Zwerenz, dessen Essays zu den nichtfiktionalen Texten zählen, werden Romane und Erzählungen analysiert, so von Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht (1952) und Winterspelt (1974), Heinrich Bölls Entfernung von der Truppe (1964) und Hugo Hartungs Der Deserteur oder Die große belmontische Musik (1951), die in der ästhetischen Verarbeitung des Fluchterlebnisses Gemeinsamkeiten zeigen und dem Leser mit Hilfe verschiedener Erzählstrategien assoziative Freiräume bereitstellen. Der Deserteur Wilhelm Schmölder in der Erzählung Entfernung von der Truppe ist wie Böll 1917 in Köln geboren, wo sich der Großteil der Handlung abspielt, wird 1939 zur Wehrmacht eingezogen, nach Frankreich geschickt und mehrfach verwundet. Die traumatischen Erlebnisse des Schriftstellers, die der Fahnenflucht seines Protagonisten 1

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Wolfgang Benz: Verweigerung im Alltag und Widerstand im Krieg. In: Informationen zur politischen Bildung 2000 (243). www.bpb.de/publikationen/L5JXH6,3,0,Verweigerung_im_Alltag_und_Widerstand_im_Krieg.html Thomas Kraft: Fahnenflucht und Kriegsneurose. Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Würzburg 1994, S. 1f. Ebd., S. 154. Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht. Mit einem Nachwort von Martin Gregor Dellin. Zürich 1968, S. 108.

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zugrunde liegen, lassen sich im Handlungsverlauf erkennen. Während aber die Desertion Bölls als zielgerichteter Protest gegen den Krieg und als Ausdruck seiner pazifistischen Haltung erscheint, wirkt Schmölders Entscheidung für die militärische Verweigerung wie eine spontane Handlung, eine Reaktion auf die Absurditäten des Krieges im Affekt, in der Hoffnung, dem Zwangsschicksal möglichst schnell entkommen zu können. In der Erzählung kritisiert und parodiert der Ich-Erzähler nicht nur den Heldenkult und die herrschende Ideologie in ihrer sprachlichen Ausformung, sondern auch den schrecklichen militärischen Alltag, in dem die Wehrmachtssoldaten stets gedemütigt und sanktioniert werden. Die Art und Weise, wie die Wehrmacht mit ihren Soldaten umgeht und welche Leistungen sie von ihnen verlangt, wirkt sich auf ihr ‚unsoldatisches Verhalten‘ aus. Wilhelm Schmölder ist ein Einzelgänger, ein „Romantiker und Neurotiker“, der kurz nach der Einberufung in die Wehrmacht eine Augenkrankheit simuliert, wofür er mit der schmutzigen Arbeit in der Kaserne – er reinigt die Latrinen, sortiert die Kartoffeln im Keller – bestraft wird, später, als er von seinem Heiratsurlaub in die Einheit nicht zurückkommt, bekommt er eine Gefängnisstrafe und wird danach an die Front nach Frankreich geschickt. Seine Gehorsamsverweigerung und Auflehnung gegen die militärischen Normen und die propagandistische Sprache wirken erfolglos, sogar absurd. Der Deserteur handelt kaum und lässt sich von den Umständen leiten, die seine Kräfte übersteigen. Er versucht mehrmals von der Fahne zu fliehen, weiß jedoch, dass es kein Entrinnen gibt. Somit erscheint sein soldatischer Ungehorsam als eine Tat, die nirgendwohin führt und in Resignation mündet. In den Frankfurter Vorlesungen, die zwei Jahre nach der Publizierung der Entfernung von der Truppe erschienen, geht Böll auf das Thema der militärischen Verweigerung erneut ein, das er diesmal im Zusammenhang mit der Frage nach dem Humanen und Inhumanen erwägt und verbittert kommentiert. Es wird, wenn das Wort Befehl vor Gericht steht, zu wenig von denen geredet, die Befehle nicht ausgeführt haben: Erschießungsbefehle, Sprengungsbefehle. Menschen wurden vor dem Tode gerettet, Städte und Brücken bewahrt. Das Inhumane darf sich auf Befehlsnotstand berufen, das Humane scheint suspekt zu sein, weil es vom Befehlsnotstand keinen Gebrauch machte. 6

Bölls Erzähler fordert zur Entfernung von der Truppe auf, obwohl er weiß, dass dies zunächst nur Worte sind. Die Soldaten sind weder ausgestattet noch mutig genug, Wi5

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Nach dem Fronteinsatz in Russland im Sommer 1943, bei dem Böll mehrfach verletzt wurde, entschloss er sich, zunächst eine Krankheit zu simulieren. Mit Hilfe des befreundeten Arztes unterzog er sich einer Spritzenkur, die zur Erhöhung der Körpertemperatur führte. Schließlich desertierte er und versteckte sich bei seiner Frau in einem Dorf im Bergischen Land. Durch die Fälschung von Urkunden verlängerte er immer wieder seinen Heimaturlaub, dann versetzte er sich mit Hilfe eines gefälschten Marschbefehls selbst zu einer in der Nähe stationierten Einheit, um dem drohenden Fronteinsatz zu entgehen. Bei einem Marsch floh er, wurde aber kurz darauf aufgegriffen, im April 1945 noch einmal einer Einheit zugeteilt, die zuletzt in amerikanische Gefangenschaft geriet. Heinrich Böll: Frankfurter Vorlesungen. Köln 1966, S. 47.

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derstand gegen die Maßnahmen ihrer Vorgesetzten und die Kriegsmaschine zu leisten. Darum appelliert Böll an die Ehrlichkeit und Vernunft der Menschen in einer grausamen Zeit, in der es nur wenige wagen, Menschlichkeit zu bewahren. Anders stellt sich das Problem der Desertion Alfred Anderschs dar, der genauso wie der drei Jahre jüngere Heinrich Böll zur Wehrmacht eingezogen wurde, den Soldateneid „unterm Zwang“ leistete und von der Armee desertierte. Er floh von der Fahne am 6. Juni 1944 in Italien, als er mit der Radfahrschwadron einer Luftwaffenfelddivision an den rückflutenden deutschen Verbänden vorbei „nach vorn geworfen wurde.“ Er desertierte, wie er in dem Bericht Die Kirschen der Freiheit schreibt, in „die Freiheit“ und begab sich freiwillig in amerikanische Gefangenschaft. Im Buch, das von der Kritik als ein heißumstrittenes Werk bezeichnet wurde, werden entscheidende Situationen im Leben des Ich-Erzählers (z.B. seine Buchlektüren, sein politisches Engagement in der Kommunistischen Partei und der Dienst in der Wehrmacht) geschildert und die Fahnenflucht erscheint als logische Konsequenz. Der Erzähler, der den Erzählvorgang stets kommentiert und reflektiert und sich um die Wahrhaftigkeit der rekonstruierten Ereignisse bemüht, identifiziert sich mit dem subjektiven Erlebnis der Fahnenflucht und lässt die Desertion als einzig mögliche Konsequenz seines Handelns erscheinen. „Mein Buch hat lediglich die Aufgabe, darzustellen, daß ich, einem unsichtbaren Kurs folgend, in einem bestimmten Augenblick die Tat gewählt habe, die meinem Leben Sinn verlieh und von da an zur Achse wurde, um die sich das Rad meines Seins dreht.“7 Die Schilderung der Fahnenflucht kurz vor dem Beginn der Invasion der Alliierten in der Normandie erfolgt im Rahmen einer existentialistischen Meditation über die Angst – der Erzähler verspürt immer wieder die Angst vor dem sinnlosen Tod – und die Freiheit, die, wie er schreibt, „in der Wildnis lebt und ein paar Atemzüge lang dauert.“ Der Bericht endet mit dem Lob der Wüste und der Kunst, die als „eine Form des Kampfes gegen das Schicksal“ erscheint. Manche vom Erzähler als Wahrheit deklarierten Lehren zeigen sich als scheinbar objektiv, seine Entscheidung für militärischeVerweigerung, die aus der Sehnsucht nach der uneingeschränkten Freiheit resultiert, wirkt jedoch authentisch. Der Text regt zur Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex an, geht über dessen historische Dimension hinaus und stellt die Fahnenflucht vor dem Hintergrund des militärischen Alltags dar, der die innere und äußere Freiheit der Soldaten einschränkt. Andersch leugnet die Kameradschaft und den unter Zwang geleisteten Soldateneid. Die beiden ‚soldatischen Verpflichtungen‘ erklärt er für ungültig und führt einen neuen Ehrbegriff an: die Ehre des Deserteurs. „Dass er dem Tode ins Angesicht schauen kann, macht die Ehre des Kämpfers aus, wie schon Schiller sehr richtig bemerkte. Wie es die Ehre des Deserteurs ausmacht, sich vom Angesicht des Todes abzuwenden, von dem Gorgonenhaupt, das nicht zur Tat befreit, sondern den, der es anblickt, versteinert.“8 Somit wird das Handeln des Fahnenflüchtigen begründet, philosophisch und moralisch legitimiert. 7 8

Andersch: Die Kirschen der Freiheit (Anm. 4), S. 71. Ebd., S. 83.

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Das andere, 1974 entstandene Werk des Schriftstellers, Winterspelt, das das Motiv der Desertion in das Handlungsgeschehen einbezieht, ist ein interessantes Erzählprojekt, in dem Fakten mit Fiktionen konfrontiert werden, während das historische Kriegsgeschehen jedoch weitgehend ausgegrenzt bleibt und nur die Kulisse der Handlung bildet. Ausgehend von militärischen Dokumenten, Verpflegungs- und Ausrüstungsplänen, Interviews mit Überlebenden, ihren Biogrammen, Tagebuchauszügen und persönlichen Erinnerungen, erwägt der Autor, der sich in Kommentaren immer wieder zu Wort meldet, eine „Möglichkeit“, durch persönliche Entscheidung den Verlauf der Geschichte positiv beeinflussen und verändern zu können. Die Handlung des Romans spielt im Herbst 1944 in Winterspelt, unweit von der belgischen Grenze. Obwohl sich die Frontoffiziere der Wehrmacht zu diesem Zeitpunkt klar darüber sind, dass der Krieg verloren ist, befolgen sie weiterhin die Befehle aus dem Führerhauptquartier. Die Hauptfigur, Major Joseph Dincklage, Bataillonskommandeur in Winterspelt, hat noch niemals einen Befehl verweigert. Den Krieg und dessen Schrecken deutet er existentiell, als ein von konstanten Naturgesetzen und reiner Willkür beherrschtes Chaos. Selbst gehört er nicht zu den Sympathisanten der nationalsozialistischen Ideologie, sucht allerdings, sich „halbwegs vernünftig zu verhalten.“9 Vernünftig handeln bedeutet für ihn, den erfahrenen Offizier, sinnloses Blutvergießen zu verhindern und zu kapitulieren. Er will sein Bataillon kampflos den Amerikanern übergeben und auf diese Weise „Hunderten das Leben retten.“ Allmählich gewinnt Dincklage für seinen Plan drei weitere Gegner des Regimes, Käthe Lenk, den ehemaligen Kurier der illegalen KPD Hainstock und den Kunsthistoriker Schefold. Die Dinge entwickeln sich aber anders als erwartet. Der Bataillonskommandeur denkt nämlich nicht mehr an die kampflose Übergabe, seitdem ihm ein Geheimbefehl den eindeutigen Auftrag erteilt hat, abzurücken. Die Ardennenoffensive, die wenige Wochen darauf einsetzt, kostet 75.000 Menschen das Leben. Winterspelt wird am 20.1.1945 von der amerikanischen Armee erobert. Andersch kritisiert in seinem Buch das Militär, seine Strukturen und den überholten Ehrbegriff . Den Krieg hätte man seiner Meinung nach mittels Furchtlosigkeit und Vernunft verhindern können. Dieser Gedanke lässt den Protagonisten nicht los und bewegt ihn, den „Desertionsplan“ zu ersinnen. Obwohl der Plan misslingt und der Verlauf der Geschichte unangetastet bleibt, erscheint er als Gegenbild zur Ideologie des Krieges und als alternatives Handlungsmuster. Im Roman Winterspelt, genauso wie im autobiographischen Bericht Die Kirschen der Freiheit, unterzieht der Autor die Wechselwirkungen zwischen den Kriegsgeschehnissen und den daraus resultierenden Handlungen des Einzelnen einer kritischen Reflexion und verweist auf die uneingeschränkte Freiheit des Individuums zur Entscheidung, auf sein Recht, sich gegen den Krieg zu entscheiden. Seine Deserteure brechen den Eid, bestreiten die Kameradschaft und wagen „in der Wildnis“ das Abenteuer des Neuen. Die Sehnsucht nach der Freiheit und der Mut, sich gegen das Schicksal, gegen Macht 9

Alfred Andersch: Winterspelt. Zürich 2006, S. 66.

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und Gewalt aufzulehnen, entsprechen dem Gedanken von Sartre, dass sich die Freiheit nur augenblicksweise, aufgrund eines Entschlusses realisiere. Der vom Autor wiedergegebene Augenblick der Desertion, auf den seine Figuren zulaufen, führt zu deren Selbstbefreiung und Selbstfindung und schafft die neuen Spielräume für ihre Handlungen. Die Intentionen der beiden vorgestellten Autoren, die das verweigernde Verhalten der Figuren im Krieg darstellen, und auch die Art und Weise, wie sie mit dem Thema Desertion umgehen und es bewerten, sind unterschiedlich. In den Büchern Winterspelt und Entfernung von der Truppe erschöpfen sich die Hinweise auf Fahnenflucht in allgemeinen Andeutungen, während in Die Kirschen der Freiheit die Sympathien deutlich erkennbar werden.10 Exemplarisch sei auch auf die Novelle Der Deserteur oder Die große belmontische Musik verwiesen, in der die Fahnenflucht nicht wie bei Andersch oder Böll als ein Gegenentwurf zum Krieg ausgearbeitet wird. Das Motiv der Desertion wird vor dem geschichtlichen Hintergrund gedeutet und auf eine Metaebene, weg vom Alltag des Krieges, transferiert, um die Bewusstseinsveränderung des Protagonisten aufzuzeigen. Die Handlung spielt in den letzten Kriegstagen in Breslau, das durch Artilleriebeschuss und Luftbombardements immer mehr zerstört und von allen Seiten eingekesselt wird. Der 45jährige Erzähler, ein Schriftsteller namens T., der als Augenzeuge die Ereignisse aus der Nähe beobachtet und erlebt, bekundet bereits in den ersten Sätzen seines Berichts die massenhafte, eigenmächtige Entfernung der Soldaten von ihren Truppen. Nun geschah es in den letzten Wochen des seinem Ende entgegen rasenden Krieges, dass in der belagerten Stadt, deren ‚Durchhalten‘ diejenigen als Sinnlosigkeit empfanden, die sie liebten und in ihr daheim waren, in steigendem Maße sich Soldaten von ihren Truppenteilen entfernten und irgendwo in Kellern, Häusern, Schrebergärten oder Parks verschwanden und für alle Nachforschungen unauffindbar blieben.11

Der Schriftsteller T., der „mit einer übereilt zusammengestellten Alarmeinheit“ „zum längst fragwürdig gewordenen Schutze der Stadt“12 eingesetzt wird, teilt seine Empfindungen mit und flicht in die Aussage ironische Kommentare ein. Seine spontane Entscheidung, für eine Weile den Kriegsdienst und soldatische Verpflichtungen vergessen zu wollen, hat ernste Folgen. Der Protagonist befindet sich mit dem Auftrag auf dem Weg zum Bataillonsstab, wichtige militärische Dokumente dem Kommandanten zu überbringen und die Feldpost abzuholen. Ergriffen von der Sehnsucht, die eigene Wohnung in der Stadt noch einmal betreten zu dürfen, macht er einen Abstecher, wird von einer Patrouille entdeckt und festgenommen. Seine Festnahme resultiert aus der unglücklichen Verkettung an sich harmloser Ereignisse, an deren Konsequenzen er im Moment „des unsoldatischen Verhaltens“ nicht denkt. Er wollte nur seine in der Wohnung zurückgelassenen Manuskripte vor der Zerstörung retten und seine „schriftstelleri10 11 12

Vgl. ebd., S. 136. Hugo Hartung: Der Deserteur oder Die große belmontische Musik. München 1951, S. 23. Ebd., S. 12.

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sche Bestimmung“ neu definieren. Seine Desertion geschieht unbewusst, es droht ihm jedoch die Todesstrafe. Beim zweiten Mal, als er tatsächlich desertiert, bleibt er vermisst und entgeht dem Militärgericht. Er war – heißt es im Text – als Deserteur glücklich und wie neugeboren heimgekehrt. Seine Tat wird im Handlungsgeschehen zum Selbstfindungsakt stilisiert. In der Nacht, zu Hause, gelangt er zur Ruhe, schreibt den Abschiedsbrief an seine Frau und erlebt eine heitere, traumhafte und erfüllte Stunde. Aus Zwang bin ich in die Freiheit desertiert, und ich weiß, daß sie erst da vollkommene Freiheit wird, wo sie eine höhere Bindung eingeht. Der Name für diese Bindung? Nennen wir beide sie die belmontische Musik. Sie durchklingt mich ganz in diesen Stunden […]. Und in die große belmontische Melodie ist ja nicht nur der Tod als Möglichkeit (oder Notwendigkeit?), sondern auch die Kindheit als Erinnerung und stets die Liebe als Gewißheit eingeschlossen.13

Die Art und Weise, wie sich der Autor mit dem Thema der Fahnenflucht auseinandersetzt – in der Novelle werden spezielle Suchtrupps für Fahnenflüchtige erwähnt, es ist auch die Rede von einer Namensliste und der Verunglimpfung der desertierten Soldaten in der örtlichen Zeitung –, deutet auf seine ambivalente Haltung hin. Der Schriftsteller T. wird am Ende als Mensch bezeichnet, „der zum Deserteur werden musste, um die rechte Sache zu erkennen, für die allein es zu kämpfen lohnt, und für die mit den Waffen des Herzens, der Seele und der schöpferischen Phantasie immer wieder gekämpft werden muss.“14 Für ihn symbolisiert der Begriff der Fahnenflucht die Verschmelzung von Leben und Kunst, weg vom Alltag des Krieges, und nur in diesem Sinne wird sie von ihm akzeptiert und gedeutet. Die Texte von Böll und Andersch, die unterschiedliche Motivationen der Fahnenflucht (der militärische Alltag, der Grad des Zwangs innerhalb der Armee, das Verlangen nach Freiheit, Elend und Chaos der Kriegswirklichkeit, die pazifistische Haltung der Soldaten) aufdecken und kommentieren, distanzieren sich jeweils von der Dämonisierung bzw. Mythisierung des Themas, auch wenn der hohe Grad an Subjektivität, der ihnen eigen ist, dies auf den ersten Blick nicht vermuten lässt. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die inneren Konflikte der fahnenflüchtigen Soldaten, ihre Projektionen von Freiheit, ihre Ängste und moralischen Entscheidungen. Somit wird der existentielle Charakter der Desertion herausgestellt. „Freiheit avanciert zum zentralen Wert, Flucht wird hier als radikale Konzentration auf die eigene Selbstbestimmung verstanden, außerhalb juristischer Ansprüche“15 – stellt Kraft fest. Im Buch von Hugo Hartung fehlen dem Protagonisten Mut und Entschiedenheit im Moment der Desertion, die er nicht bewusst begeht. Sein ambivalentes Urteil über die Tat beweist, dass er das Problem nicht versteht und nicht imstande ist, über das Wesen der Fahnenflucht kritisch nachzudenken. Unbequeme Wahrheiten werden ausgespart und die persönliche Betroffenheit der Hauptfigur verdeckt. „Eine Unentschiedenheit zwischen Pflicht und Vernunft, ein hilfloser Fatalismus, ein fehlendes Problembewusstsein verantworten das Ausbleiben kritischer Fragen […].“16 13 14 15 16

Ebd., S. 58f. Ebd., S. 60. Kraft: Fahnenflucht und Kriegsneurose (Anm. 2), S. 154. Ebd., S. 154.

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Vor diesem Hintergrund ist die Sächsische Autobiographie in 99 Fragmenten von Gerhard Zwerenz ein Text,17 den man sowohl als persönliches Bekenntnis des Zeitzeugen als auch als einen interessanten Beitrag zur heutigen Diskussion über Wehrmachtsdeserteure betrachten kann. Um die historischen Begebenheiten in Zwerenz’ Autobiographie zu überblicken, muss man an die wichtigsten Stationen in seinem Leben erinnern. Geboren 1925 in Gablenz/Sachsen als Sohn eines Ziegelarbeiters, nahm er zwei Jahre lang als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil. 1944 desertierte er zur Roten Armee und geriet 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 1948 kehrte er aus der Kriegsgefangenschaft zurück, diente kurz bei der Volkspolizei in Chemnitz, trat 1952 der SED bei und begann das Studium der Philosophie bei Ernst Bloch in Leipzig. Seit 1956 arbeitete er als freiberuflicher Schriftsteller und geriet wegen seiner Mitarbeit am Kabarett ‚Die Pfeffermühle‘ und seiner Feuilletons auf die Liste der ‚Feinde der Republik‘. Er wurde aus der Partei ausgeschlossen, erhielt Publikationsverbot und konnte 1957 seiner Verhaftung nur durch die Flucht in den Westen entgehen. Zwerenz ist der Autor mehrerer Romane, Erzählungen, Essays sowie weiterer publizistischer Texte. Mehrmals hat er sich zu seiner Desertion geäußert und das Thema publizistisch aufgearbeitet. Ein erster Versuch zu desertieren, während er bei Monte Cassino an der italienischen Front kämpfte, war missglückt. Zu den traumatischen Kampferlebnissen, Bildern von erschossenen Kameraden und der misslungenen Fahnenflucht kehrt er in seinen Erinnerungen und Tagebüchern zurück. Im Gedicht Genossin Sonne, mit dem er das 77. Kapitel seiner Autobiographie, Wir lagen vor Monte Cassino, abschließen lässt, ist der Ton der Verbitterung und Anklage spürbar. Wer einmal desertiert ist, ist für Immer verloren. Sein Platz ist Am Strand. Er kämpft für ein Anderes Vatermutterland. Versonnen blickt er aufs Meer, Glückwunsch der Sonne zum Blutroten Sonnenuntergang, Sie – ein Deserteur von höchstem Rang. Und nun der kalte Mond am Himmel. Die Nacht voller Soldatengewimmel. Fahnenflüchtige, die Fresse im Sand. Spuck’s aus, dein Vaterland.18

In einem anderen Kapitel seines umfangreichen Werkes (14: Nachwort) geht der Schriftsteller auf seine Desertion zur Roten Armee ein und vergleicht die eigene Ent17 18

Die einzelnen Fragmente der Autobiographie sind auf der Internetseite www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-saechsische-anthologie.htm zu finden. Siehe: www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen77-monte-cassino.htm.

Die literarische Darstellung der Fahnenfluchtproblematik

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scheidung mit der Motivation der anderen Wehrmachtssoldaten, die im Zweiten Weltkrieg von der Fahne geflohen sind. Der Vergleich wird von Zwerenz sarkastisch, stellenweise beinahe parodistisch kommentiert und bewertet. Ausgehend von einer konkreten Tat verfolgt Zwerenz die Schicksale der deutschen Deserteure und knüpft an die heutige Diskussion über die Desertion in den Medien, die seiner Meinung nach relativiert, trivialisiert und ideologisiert wird, an. Kessler19 war im Juli 1941 von der Wehrmacht zur Roten Armee desertiert. Er desertierte als Kommunist und kehrte insofern heim. Ich war 19 Jahre alt, als ich im August 1944 zur Roten Armee, wie die FAZ das nennt, überlief. […] Stefan Wachtel, Diplom-Sprechwissenschaftler, brummte ein paar Monate in jenem Militärknast ab, dem der General Kessler ganz oben vorstand. Vielleicht sollten der Ex-General und der Ex-Obergefreite Zwerenz sich mal darüber unterhalten, was sie also falsch gemacht haben. Schließlich wurden wir beide aus der Partei rausgeschmissen, ich etwas früher 1957, und Kessler später – 1990. So waren wir alten Fahnenflüchtigen wieder fahnenlos vereint. Vielleicht könnten wir auch Stefan Wachtel einladen, der seit dem Erscheinen seines Tagebuches zwei Jahrzehnte älter geworden ist. Wir wären dann die ganze Junge Garde von Deserteuren – nun ja, Stefan desertierte in die Freiheit des Wortes, Kessler in die hohe Generalität und ich in den naiven Pazifismus.20

Das Erlebnis der Fahnenflucht und der Gefangenschaft des jungen Zwerenz bildet zusammen mit den Erfahrungen aus der DDR-Zeit ein Fundament für seine Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Geschichte und deren Personen. „Geschichte“ – schreibt er im Kapitel über Hannah Arendt – „ist erzählte Verleugnung, Kriegsgeschichte die Zubereitung zum Zwecke der Wiederholung. Das beginnt stets mit Realitätsverkennung.“21 Der Zeitzeuge Zwerenz provoziert und fordert mit seinem autobiographischen Text zur Debatte über die deutschen Soldaten auf, über die Gefallenen und Überlebenden, die oft, wie er betont, „aus lauter Angst vor der Gefangenschaft“ oder vor der Militärjustiz, selten aus ideologisch-weltanschaulichen Gründen desertiert waren. Er erwägt das Problem im Zusammenhang mit unterschiedlichen Biographien und zeigt, dass man das Thema sehr differenziert behandeln muss. Zuletzt bemerkt er, dass es unter den deutschen Fahnenflüchtigen auch Soldaten gab, die in die Wehrmacht unabhängig von ihrer Nationalität zwangsweise eingezogen worden waren, wie z.B. polnische Oberschlesier und Masuren mit deutscher Staatsangehörigkeit, Saarlandfranzosen, Elsassfranzosen oder Dänen. Von den verwirrenden Kriegsschicksalen der Oberschlesier haben polnische Publizisten und Schriftsteller, Ryszard Hajduk,22 Alfons Lysko, Józef Musioł, Alfons Mrowiec, Leon Wantuła und andere berichtet und 19

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Heinz Kessler, später General, war der letzte Verteidigungsminister der DDR. 1993 wurde er durch das Berliner Landgericht zu siebeneinhalb Jahren Haft wegen seiner unmittelbaren Täterschaft als DDR-General verurteilt. http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-14-kampf-der-deserteure.htm. http://www.poetenladen.de\zwerenz-gerhard-sachsen11-hannah-arendt.htm. Ryszard Hajduk hat die Kriegsschicksale der polnischen Oberschlesier aus der Oppelner Gegend, die zwangsweise in der Wehrmacht gedient haben, im Buch Pogmatwane drogi (Warszawa 1976) dokumentiert und geschildert.

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Grażyna Barbara Szewczyk

erzählt. Die große Zahl der polnischen Deserteure – an der Westfront waren es etwa 90.000 Soldaten – kann man anhand von Dokumenten und Aussagen von Zeitzeugen nachweisen. Die geglückten Fahnenfluchten fanden vorwiegend in Frankreich statt, wo polnische Untergrundorganisationen für die Unterkunft der Fahnenflüchtigen sorgten und Kontakte zur polnischen Armee herstellten, es gab aber auch Desertionen in Russland, wo die Deserteure zu den polnischen Einheiten, den Partisanen oder zu der polnischen Armee des General Anders übergelaufen sind. Abschließend muss man feststellen, dass das Thema der Desertion der Wehrmachtsoldaten in der öffentlichen Debatte immer noch die Gemüter erregt. Eine Annäherung kommt nur zögerlich zustande. Im Gegensatz zu den Widerstandskämpfern, die in der Öffentlichkeit moralische Anerkennung erfahren, werden die Deserteure, die gegen den Kodex von Befehl und Gehorsam verstoßen, als Feiglinge oder Hochverräter abgestempelt und kritisiert. Das Schweigen über das Thema erfolgt sowohl aus der ambivalenten Bewertung der soldatischen Verweigerungsformen als auch aus der Unmöglichkeit, ein homogenes Bild des Fahnenflüchtlings aufzuzeichnen. Selbst in der fiktionalen deutschen Literatur der Gegenwart erscheint das Motiv der Fahnenflucht nur am Rande des Handlungsgeschehens. Die Auffassung der Autoren von dem Problemkomplex ist auch unterschiedlich, auch wenn die Bücher von Alfred Andersch, Heinrich Böll und Hugo Hartung die Existenz der Deserteure, ihre Ängste und die Beweggründe der Desertion erkennen und ergründen lassen.

JÜRGEN EGYPTIEN

Zur Klassifikation und gattungstheoretischen Bestimmung des Kriegsromans oder: Wie schreibt man über den Zweiten Weltkrieg?

In Friedrich Schillers Rezension der Gedichte von Gottfried August Bürger findet sich die viel zitierte ästhetische Maxime, „ein Dichter nehme sich ja in acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen“.1 Schiller macht damit auf eine grundlegende Differenz zwischen literarischem Text und Erfahrung aufmerksam. Es ist eine Differenz, die sich unter den Bedingungen der Kriegserfahrung potenziert. Ich zitiere dazu ein Zeugnis des Essayisten Albrecht Fabri, das diese Bedingungen unmittelbar reflektiert: In der Hauptsache beschreibt, wer vom Krieg schreibt, Situationen, die gar nicht zulassen, daß sich ein Begriff bilde. Der Augenblick eines Granateinschlags unterbindet das Denken und damit die Erinnerung; unmöglich also, später zu sagen, was vorgegangen ist in diesem Augenblick. Man kann sagen nur, dass man ihn überlebt hat; alles andere ist nachträgliches Zurechtlegen. Alles andere ist von einem, der Zeit hat; der Erlebende aber war einer, der keine Zeit hatte. – Hyperbolisch: Kriegsbücher sind immer von einem, der nicht dabei war.2

Fabri bezeichnet hier präzise die unaufhebbare Aporie, unter der alle Literatur über den Zweiten Weltkrieg steht. Fabri, der selbst sechs Jahre lang als Soldat in Frankreich und Russland war, fügt hinzu, dass er diese Reflexion bereits während des Krieges formuliert habe. Dass Zeichen und Bezeichnetes, Sprache und Welt – jedenfalls wenn es um sinnliche Erfahrung, um ein Materielles geht – zwei verschiedenen Sphären angehören, ist eine Banalität. Dennoch ist es gleichwohl eben diese Differenz, aus der Literatur erwächst und an der sich die Literatur seit je abarbeitet. Für diejenige Literatur, die sich vom Stofflichen her die Gestaltung menschlicher Grenzerfahrungen vornimmt, verschärft sich diese Differenz nachhaltig. Gerade da, wo die (eigene) Erfahrung eine Intensität gewonnen hat, die sich bei schöpferischen Individuen in einem gesteigerten Ausdrucks1

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Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Fünfter Band. Erzählungen. Theoretische Schriften. Darmstadt. 9., durchges. Aufl. 1993, S. 970–991, hier S. 982. Albrecht Fabri: Divertimentis. In: Der Ruf 3 (1948), Nr. 17, S. 13.

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zwang niederschlägt, stellt sich das ästhetische Problem, für das zu Gestaltende eine angemessene Sprache zu finden, auf besondere Weise. Dies ist die spezifische Herausforderung, vor der der Autor nach 1945 stand, der über den Zweiten Weltkrieg schreiben wollte beziehungsweise musste. Schon die ersten Versuche, die aus dieser Herausforderung hervorgegangene Literatur zu sichten, konstatierten einige gemeinsame Merkmale, die die erzählende Literatur über den Zweiten Weltkrieg von der über den Ersten Weltkrieg unterschieden. Helmut Günther hat in seinem Aufsatz Die deutsche Kriegsliteratur 1945–1952 die Beobachtung festgehalten, dass es in diesen Werken „nur noch eine Tapferkeit, die des Ertragens“ gebe.3 Diese These resultiert in einem weiteren Sinne aus dem Befund, dass die Idee der ‚soldatischen Tugenden‘ vom modernen Krieg historisch aufgezehrt sei. Zu diesem Wandel, darauf wies Hans Schwab-Felisch als ein weiteres Merkmal der Literatur über den Zweiten Weltkrieg hin, gehört auch ganz wesentlich die Aufhebung der räumlichen Trennung von Front und Hinterland.4 Der moderne Luftkrieg ermöglichte die Vernichtung des Gegners ohne konkrete physische Konfrontation mit ihm. Damit kippte psychologisch auch dessen Tötung in ein abstraktes Tun ohne identifizierbares Opfer. Was für den Zweiten Weltkrieg über die Weiterentwicklung der Waffentechnik hinaus entscheidend hinzukommt, ist die weltanschauliche Motivierung. Lässt sich der Erste Weltkrieg noch als gewaltsamer Konkurrenzkampf imperialistischer Staaten um die Aufteilung kolonialer Machtsphären und den Zugang zu ökonomischen Ressourcen deuten, bei dem die jeweilige Staatsform der beteiligten Länder keine wesentliche Rolle spielte, so ist der Zweite Weltkrieg zugleich ein Kampf konkurrierender Gesellschaftssysteme. Nationalsozialismus, Kommunismus und liberale Demokratie standen zueinander im Verhältnis der Ausschließung. Undenkbar, den militärischen Einsatz im Dienste eines nationalsozialistischen Regimes noch als ‚inneres Erlebnis‘ im Sinne Ernst Jüngers stilisieren zu können. Selbst wo der Krieg nicht nur – wie dies häufig geschieht – aus dem Zusammenhang mit dem ‚Dritten Reich‘ herausgelöst, sondern auf die reine Schilderung der Kampfsituationen, Gewaltmärsche etc. reduziert wird, findet sich nirgends ein Ansatz zur Heroisierung, höchstens das nüchterne Protokoll von der Willenskraft und Leidensfähigkeit der „mechanisierte[n] Täter und Sterber“.5 Allein der Versuch einer Schilderung, wie Krieg konkret erfahren wurde, mündete in „radikale Anklageliteratur“,6 ohne dass es einer expliziten Stellungnahme irgend bedurfte. Die Debatte um die Darstellbarkeit beziehungsweise Undarstellbarkeit von geschichtlicher Erfahrung des Subjekts zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ist im Zusam3 4 5 6

Helmut Günther: Die deutsche Kriegsliteratur 1945–1952. In: Welt und Wort 8 (1953), S. 179– 184, hier S. 179. Vgl. Hans Schwab-Felisch: Die Literatur der Obergefreiten. In: Der Monat 4 (1952), S. 644–651, hier S. 645. Günther: Die deutsche Kriegsliteratur 1945–1952 (Anm. 3), S. 183. Ebd., S. 180.

Zur Klassifikation und gattungstheoretischen Bestimmung des Kriegsromans

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menhang mit der so genannten Holocaust-Literatur schon seit längerem im Gange. Wenn wir uns mit Fragen der ‚Darstellung des Zweiten Weltkriegs‘ in der Literatur befassen, so impliziert das für ein historisch reflektiertes methodisches Bewusstsein, die Thematik Völkermord und Weltkrieg als eine Einheit zu sehen oder anders gesagt: Wer vom Weltkrieg sprechen will, kann vom Holocaust nicht schweigen. Aber auch das würde noch zu kurz greifen und auf eine wohl unzulässige Weise unseren Blick auf einen Aspekt konzentrieren, ja reduzieren, so prominent er auch sein mag. Genauso unablösbar gehören Phänomene wie die millionenfache Zwangsarbeit, oft eine andere Variante der Vernichtung durch Arbeit, die millionenfache Vertreibung während und nach dem Krieg, hinter und vor den Fronten, der Partisanenkampf und die Kollaboration, das gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichtete area bombing der alliierten Luftflotte, das jahrelange Herumirren eines multiethnischen Riesenheers an displaced persons und schließlich die Entstehung einer politischen Systemgrenze mitten in Deutschland und Europa dazu, die als Ost-West-Konflikt bis wenigstens 1989 Bestand hatte. Nun wäre, die Gestaltung dieser Komplexität von einem literarischen Werk zu verlangen, unangebracht, wiewohl es Ansätze dazu gibt, durchaus achtbare Ansätze wie etwa Hans Werner Richters großartigen panoramahaften Roman Sie fielen aus Gottes Hand von 1951.7 Aber ich denke, es wäre sogar unrecht, auf dem soeben apodiktisch erhobenen Anspruch: ‚Wer vom Weltkrieg sprechen will, kann vom Holocaust nicht schweigen‘, zu beharren. Gegenüber der Literatur sollte man sich vor jedem Dogmatis7

Ich möchte wenigstens im Vorbeigehen dem von Klaus Briegleb erhobenen Vorwurf entgegentreten, Hans Werner Richter unterwerfe sich mit dem am Ende stehenden gewaltsamen Tod des Ostjuden Slomon Galperin einem „Zwang zur forttötenden Allegorisierung.“ (Klaus Briegleb: Literarische Nachverfolgung. Zu Hans Werner Richters Sie fielen aus Gottes Hand (1951). Mit einer Quellen-Konteredition und einer These zur Periodisierung der westdeutschen Nachkriegsliteratur. In: Robert Weninger u. Brigitte Rossbacher (Hg.): Wendezeiten-Zeitenwenden. Positionsbestimmungen zur deutschsprachigen Literatur 1945–1995. Tübingen 1997, S. 3–34, hier S. 28.) Briegleb zufolge ziehe die von der Gruppe 47 praktizierte „Vergessenskultur“ (S. 34) notwendig „einen deutschen Entschuldungs-Pazifismus ohne Juden in Deutschland“ (S. 17) nach sich, weswegen die Figur Galperin gegen die historische Wahrheit – er gehörte zu den überlebenden Displaced Persons, die Richter interviewte – aus der Nachkriegsgeschichte ‚entsorgt‘ werden musste. Diese Deutung scheint mir auf groteske Weise abwegig. Die Funktion von Galperins Tod kann nicht darin gesehen werden, den Neuanfang in Deutschland quasi unter bewusster Ausblendung des jüdischen Elements zu setzen. Die Begründung für die Abweichung von Galperins authentischer Geschichte liegt m. E. darin, dass Richter gerade umgekehrt den Opfer-Status des jüdischen Volkes über den 8. Mai 1945 hinaus verstetigen wollte, anders gesagt: Das Lager als Topographie des Todes vollstreckt selbst nach seiner scheinbaren ‚Befriedung‘ ausgerechnet an dem Juden Galperin sein tödliches Wesen in einem willkürlich-absurden Gewaltausbruch. Hier kommt der Begriff der Allegorie zu seinem Recht, insofern das Lager in seiner Funktion als Chiffre für die menschliche Existenzerfahrung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und darüber hinaus) allegorischen Charakter gewinnt. Wenn man an Galperins gewaltsamem Tod Kritik üben wollte, dann eher in dem Sinne, dass die Verstetigung des Opfer-Status das jüdische Volk zum (passiven) Gegenstand des Gedenkens macht und es nicht als (aktives) Ferment der Zeit nach Kriegsende inkludiert.

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mus hüten und immer die ästhetische Überzeugungskraft des einzelnen Werks prüfen. Natürlich ist es ein Verdienst und eine besondere Qualität von Heinrich Bölls Wo warst du, Adam? von 1951, eine Episode des Romans in einem KZ spielen zu lassen und sie zu einer blendenden psychologischen Durchleuchtung einer repräsentativen nationalsozialistischen Biographie zu nutzen, aber dafür sind, um zwei beliebige Beispiele herauszugreifen, Gert Ledigs Stalingrad von 1955, das sich auf die Schilderung beider Seiten der Ostfront konzentriert, oder Herbert Zands Letzte Ausfahrt, das die Situation einer ausweglosen Einkesselung als parabolisches Bild der modernen Existenz entwirft, nicht weniger in sich schlüssig und ästhetisch gelungen. Unter gattungstheoretischer Perspektive wird das zu beschreibende literarische Feld dadurch noch komplizierter, dass wir zu berücksichtigen haben, dass das Thema ‚Zweiter Weltkrieg‘ weit über den Rahmen hinausreicht, den man gemeinhin mit dem Begriff Kriegsliteratur absteckt. Drei Beispiele mögen das kurz beleuchten. Hans Falladas 1947 posthum erschienener Roman Jeder stirbt für sich allein ist in erster Linie eine berührende Geschichte über den einsamen und zähen Widerstand des einfachen Ehepaars Quangel, dem der Verlust des einzigen Sohnes im Weltkrieg die Augen für den wahren Charakter des Regimes geöffnet hat. Es ist also ein Roman über Widerstand in Deutschland, aber in einer kurzen Szene ist von einem fanatischen Scharführer die Rede, der mit einem Foto prahlte, das ihn als Mörder eines jüdischen Kindes zeigte. Das zweite Beispiel wäre der Anfang von Dieter Meichsners Roman Die Studenten von Berlin von 1955, ein umfangreicher, halb-dokumentarischer Text über die Entstehung der FU Berlin, der aber mit wenigen Seiten über die Bombardierung Dresdens beginnt, die zu den erschütterndsten und nüchternsten Schilderungen dieses Ereignisses gehören. Ein weiteres Beispiel wäre die Schilderung des Feuersturms, der in der Darmstädter Innenstadt nach dem verheerenden Bombardement im Dezember 1944 tobte, aus der Perspektive eines elfjährigen Kindes in dem autobiographischen Roman Christian Bärlichs zweite Geburt (2009) von Fritz Deppert. Wenn also mit Blick auf diese Verästelungen der Kriegsthematik der Kreis der zu betrachtenden Werke weit gezogen werden muss, wird damit die gattungstheoretische Klassifizierung eines bestimmten Segments als Kriegsroman heuristisch nicht obsolet. Nur ist zu präzisieren, dass der Kriegsroman bloß eine literarische Gattung ist, in der es um die Darstellung von Kriegsgeschehen geht, die eine allerdings, in der dies die zentrale ästhetische Herausforderung ist. Nachdem der Zenit der Produktion von erzählender Literatur über den Zweiten Weltkrieg Anfang der sechziger Jahre überschritten war, traten die ersten Versuche zu einer literaturwissenschaftlichen Systematisierung des Genres hervor. Zwei dieser Versuche scheinen mir dabei anschlussfähig zu sein. Da wäre zum einen die amerikanische Dissertation von Wilbur Lee Nahrgang, Attitudes toward war in German prose literature of the second World War 1945–1960, von 1966 zu nennen. Nahrgang systematisiert die Kriegsromane unter dem Aspekt ihres dominanten geistigen Zugangs. Er spricht

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von „three primary attitudes: idealism, disillusionment, and pessimism“ und differenziert weitergehend in religiöse, metaphysische, moralische, humanistische und nihilistische Zugänge, wobei er letzteren noch einmal in tragisch-heroische, dehumanisierendverdinglichende und abenteuerhafte unterteilt. Bei der zeitlichen Folge der Kriegsliteratur nach 1945 konstatiert Nahrgang ein „general chronological development [...] from idealism to pessimism“,9 in dem sich für ihn ein Generationenunterschied der Verfasser manifestiert. Jochen Pfeifer, der andere um eine Systematisierung verdiente Autor, kommt in seiner Monographie Der deutsche Kriegsroman 1945–1960 zu einer ähnlichen Einschätzung: „Die zwischen 1900 und 1914 geborene Generation setzt sich hauptsächlich mit den Problemen der Schuld und der persönlichen Verstrickung auseinander. [...] In ihren Kriegsromanen geht es [...] um die psychologischen Auswirkungen dieser Erlebnisse auf den Menschen (es gibt durchweg eine Hauptperson), um Wertsysteme, die angesichts des organisierten Verbrechens noch einen moralischen Halt bieten können.“10 Von dieser Haltung, die auch politische Zusammenhänge des Kriegs zumindest „als Bedingungsfeld der Handlungsmöglichkeiten des Individuums“ (P 199) mit reflektiere, unterschieden sich diejenigen der Jüngeren: Die jüngeren Autoren, die als 20-jährige oder noch jünger eingezogen wurden, betonen die Sinnlosigkeit des Krieges und fragen weniger nach persönlicher Schuld. Diese Generation wuchs im Faschismus auf und war nicht für die politischen Verhältnisse verantwortlich. [...] In den Romanen der ‚verratenen Generation‘ geht es am brutalsten zu, das Kriegsgeschehen wirkt überwältigend. Pessimismus und Skepsis gehen teilweise in Zynismus über. Weder politische noch philosophische oder religiöse Ideen stellen ein Gegengewicht zu dem durchlebten Inferno dar. (P 198)

Unter den Werken dieser Autorengeneration dominiert stilistisch der ‚Roman der Härte‘. Über die Differenzierung nach Generationen und Stilformen hinaus glaubt Pfeifer auch noch eine chronologische Phasierung vorherrschender Tendenzen im Kriegsroman ausmachen zu können, die der sich wandelnden gesellschaftlichen Haltung zur Vergangenheit des ‚Dritten Reichs‘ korrespondiere. Die aufeinanderfolgenden Phasen der radikalen Anklageliteratur (Gruppe 47), dann die der individuellen Reserve (Tagebücher der inneren Emigration des Bürgertums) und schließlich der mehr oder weniger offenen Rechtfertigung (Obergefreitenliteratur und Literatur der Härte) entsprechen der [...] sozialgeschichtlichen Entwicklung. Es wird zu zeigen sein, wie bis in die Komposition der Romane hinein dieser Umschlag von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ihrer Verdrängung wirksam ist. (P 38) 8 9 10

Wilbur Lee Nahrgang: Attitudes toward war in German prose literature of the second World War 1945–1960. Dissertation an der University of Kansas. Kansas City 1966, S. 181. Ebd., S. 189. Jochen Pfeifer: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981 (Monographien Literaturwissenschaft 49), S. 198. Im Folgenden im Text zitiert als (P mit entsprechender Seitenangabe).

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Es ist erkennbar, dass diesem Phasierungsvorschlag methodisch die Auffassung von Literaturgeschichte als Sozialgeschichte zu Grunde liegt. Von der tatsächlichen Literaturgeschichte wird dieses Modell nicht gedeckt. Pfeifer kommt zu dem Ergebnis, dass nur „das Tagebuch oder die Autobiographie, die Parabel und diejenigen realistischen Romane, die sich auf das Innenleben und die Psyche von Figuren konzentrieren“ (P 203), gelungene Formen „einer sinnvollen Bewältigung des Kriegserlebnisses“ darstellen, wohingegen er dem ‚Roman der Härte‘, der „die weitere Deutung des grausamen Kriegsgeschehens“ (P 73) verweigere und weitgehend kommentarlos demonstriere, „wie hart der Krieg gewesen ist“ (P 81), vorwirft, ein „verhärtetes Weltbild“ zu dokumentieren, „das durch Menschenverachtung, Nihilismus und Sarkasmus gekennzeichnet ist.“ (P 84) Pfeifer konstatiert, dass in den Werken, die stilistisch zu dieser Gruppe zu rechnen sind, „ein einheitliches Konstruktionsprinzip“ Anwendung findet, das er zutreffend wie folgt beschreibt: Vorherrschende Bauform ist die mehrsträngige Erzählung ohne durchlaufende Haupthandlung. Den einzelnen Handlungssträngen kommt dabei eine beschränkte Selbständigkeit zu. Verschiedene Personen handeln auf verschiedenen Schauplätzen, wobei abwechselnd die Entwicklung der einzelnen Handlungsstränge verfolgt wird. [...] Die handelnden Personen der ineinander verflochtenen Episoden treffen bei irgendeiner bedeutungslosen Gelegenheit einmal zusammen, sodass die verschiedenen Handlungsstränge zeitweilig zusammenlaufen können. (P 64)

Zwar konzediert Pfeifer dieser Erzählform, dass sie „keine[n] Zusammenhang suggeriert, wo kein Zusammenhang war“ (P 69), aber der Preis dieser Episodentechnik bestehe darin, dass die militärische „Gesamtlage und auch die politisch-geschichtliche Entwicklung weitgehend ausgeblendet werden.“ (P 61) Pfeifers Interpretation mündet in die Feststellung: Die Obergefreitenperspektive verhindert sowohl eine geschichtliche Interpretation als auch Einsichten in wesentliche politische Zusammenhänge des Krieges. [...] Die vorherrschende Erzählperspektive wird im deutschen Kriegsroman über den Zweiten Weltkrieg zur Stimme einer verlorenen Generation, die sich betrogen fühlt und für ihr Schicksal Mitgefühl erwartet. (P 61)

Es genügt indes, auf Werke wie Willi Heinrichs Der goldene Tisch (1956), Gert Ledigs Vergeltung (1956), Michael Horbachs Die verratenen Söhne (1957) oder Jens Rehns Feuer im Schnee (1958) hinzuweisen, um plausibel zu machen, dass der auf explizite Kommentierung des dargestellten Kriegsgeschehens verzichtende Roman sowohl über kompositorische Mittel verfügt, die Ebene eines nur scheinbar mimetischen Verhältnisses zur Realität zu transzendieren, als auch durch Techniken wie Dokument-Montage, Rückblenden des extradiegetischen Erzählers, Symbolsprache oder doppelbödige Dialogführung den Stellenwert der nationalsozialistischen Ideologie aufblitzen zu lassen. Insofern können diese und andere Werke, die mentalitätsgeschichtlich in die mit dem Korea-Krieg und dem Wirtschaftswunder beginnende Phase der Vergangenheitsverdrängung fallen, nicht als Dokumente für eine Zeitflucht gewertet werden.

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Daher erscheint es mir auch als unzutreffend, wenn Hans Wagener sowohl gegenüber dem ‚Roman der Härte‘ als auch gegenüber dem parabolisch verfahrenden Roman den Vorwurf des „Eskapismus“ erhebt, weil beide Schreibhaltungen die „Ignorierung sozialer und politischer Voraussetzungen“11 des Zweiten Weltkriegs betrieben. Nicht nur dass diesem für die Literaturwissenschaft der siebziger Jahre typischen Anspruch an die Literatur, sie habe sich durch die Analyse gesellschaftlicher und historischer Prozesse allererst zu legitimieren, ein höchst problematisches und vereinseitigendes Verständnis von ihrem Gegenstand zu Grunde liegt. Der ideologiekritisch, sozialgeschichtlich oder literatursoziologisch orientierten Literaturwissenschaft dieser Dekade mangelt es zumeist an der ästhetischen Sensibilität und Fantasie, sich eine Stellungnahme der Literatur zu gesellschaftlichen und historischen Phänomenen anders denn als einen diskursiv expliziten Kommentar vorzustellen. Besonders markant findet sich dieses methodologische Dogma in der auch rein sachlich unzuverlässigen Darstellung von Jost Hermand.12 Es ist an dieser Stelle etwa auf das rezeptionsästhetische Potential von Werken mit einer dezidiert anti-mimetischen Schreibweise aufmerksam zu machen. Die so unterschiedlichen Texte Nachtfahrt (1948) von Georg Hensel, Kimmerische Fahrt (1953) von Werner Warsinsky, Eine Reise (1962) von H. G. Adler oder Landschaft in Beton (1963) von Jakov Lind sind Beispiele für erzählende Werke über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, die sich realistischer Darstellungstechniken ebenso enthalten wie diskursiver Kommentare, die aber durch den historisch reflektierten Rückgriff auf Gestaltungsprinzipien des Magischen Realismus, des Surrealismus, des Märchens oder der Literatur des Absurden nicht allein ästhetisch zu überzeugen vermögen, sondern auch eine Erkenntnis erschließende Qualität besitzen, die hinter derjenigen realistischer Literatur nicht zurücksteht, sie vielleicht im Einzelfall übertrifft. Seit Pfeifers Studie von 1981 ist keine weitere Monographie mehr zum Genre des Kriegsromans erschienen, hingegen in jüngerer Vergangenheit mehrere Sammelbände, die teils ausschließlich, teils partiell der Literatur über den Zweiten Weltkrieg gewidmet sind.13 Die von Wagener 1997 und mir 2007 herausgegebenen Sammlungen unterneh11

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Hans Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und Kriegstagebücher. In: Ders. (Hg.): Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stuttgart 1977, S. 241–264, hier S. 261. Vgl. Jost Hermand: Darstellungen des Zweiten Weltkrieges. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 21: Literatur nach 1945 I. Wiesbaden 1979, S. 11–60. Zu nennen sind: Hans Wagener (Hg.): Von Böll bis Buchheim: Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Amsterdam, Atlanta 1997 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 42) sowie: Ursula Heukenkamp (Hg.): Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung. 2 Bde. Amsterdam, Atlanta 2001 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, 50,1/2) und Jürgen Egyptien (Hg.): Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965. München 2007 (treibhaus Bd. 3. Jahrbuch für die Literatur der 50er Jahre). Darüber hinaus sind die Stalingrad-Romane in zwei Monographien untersucht worden: Jens Ebert: Zwischen Mythos und Wirklichkeit. Die Schlacht von Stalingrad in deutschsprachigen authentischen und literarischen Texten. 2 Bde. Dis-

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men die Erweiterung des Spektrums der berücksichtigten Literatur. Dieses Bemühen gilt es fortzusetzen und den Akzent noch stärker auf den Versuch der Analyse ästhetischer Gestaltungsverfahren zu verschieben. Dieser Versuch hat sich jedoch immer zweier Grenzen bewusst zu sein. Zum einen zahlt man einen hohen Preis für die Konturierung der Gattung Kriegsroman, wenn man sie auf das Thema militärischer Handlungen und Fronterfahrungen festlegt, ganz unabhängig davon, ob dies mit den Mitteln des Realismus oder der Parabolik geschieht. Zum anderen steht immer die Möglichkeit von Literatur, die Erfahrungen von Krieg und zumal die extremen des Zweiten Weltkriegs überhaupt angemessen ästhetisch gestalten zu können, zur Disposition. Der Schriftsteller Dieter Forte, der erst in den neunziger Jahren die Sprache dafür gefunden hat, über seine Weltkriegserfahrungen zu schreiben, hat in seinen produktionsästhetischen Überlegungen zu dieser Frage darauf hingewiesen, dass es „ein Grauen jenseits der Sprache“ gebe, „ein unaussprechliches Entsetzen“,14 das nicht artikulierbar sei. Forte formuliert erstaunlicherweise in diesem Zusammenhang eine klare Präferenz für die orale Tradierung gegenüber der Schriftlichkeit: „Wir bilden uns ein, alles aufschreiben und festhalten zu können, damit wir es weitergeben können. Ich glaube, das ist ein Irrtum. Wenn es nicht durch verdichtendes Erzählen von Generation zu Generation weitergegeben wird, sich tief einprägend, so dass es zum unvergessenen Schreckensbild im Erzählen wird, ist es für die Nachkommen verloren.“15 Für seine eigene literarische Praxis resultiert daraus die Konsequenz, dass er das Schreiben über den Krieg in ein Erzählen über den Krieg verwandelt, das heißt sein eigenes großes Erzählprojekt Das Haus auf meinen Schultern ist zu verstehen als ein zur Schriftform geronnenes Echo eines unendlichen Familiengesprächs über die Kriege aller Zeiten. Es entwirft sich selbst als ein aporetisches Zeugnis von der Suprematie der mündlich bewahrten Mnemosyne. In diesem Sinne wäre es unsere Aufgabe, den schriftlichen Zeugnissen durch unser Gespräch Leben einzuhauchen.

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sertation an der HU Berlin 1989 sowie: Jörg Bernig: Eingekesselt. Die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945. New York u.a. 1997 (German Life and Civilization 23). Dieter Forte: Luftkrieg im Literaturseminar. In: Ders.: Schweigen oder sprechen. Hg. u. m. e. Vorw. vers. v. Volker Hage. Frankfurt/Main 2002, S. 31–36, hier S. 33. Ebd.

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Ein Aufschwung in das Phantastische? Schuld-, Kriegs- und Nachkriegsdarstellung in Georg Hensels Roman Nachtfahrt

Georg Hensel hat mit seinem 1949 erschienenen Roman Nachtfahrt1 einen Text vorgelegt, der durch seine parabelförmige und realistisch-surreale Darstellungsweise einen anderen Weg einschlägt als die meisten literarischen Werke über den Zweiten Weltkrieg. Aufgrund der Korrumpierung der deutschen Sprache durch den Nationalsozialismus bevorzugten in der Nachkriegszeit viele Schriftsteller eine nüchterne, sachliche, auf das Nötigste reduzierte Ausdrucksweise. Insbesondere für die Beschreibung des Zweiten Weltkriegs erschien eine realistische, von spekulativen Deutungen freie Darstellungsweise angemessen.2 Bis heute werden literarischen Werken, die den Krieg nicht realistisch, sondern verfremdet oder mit surrealen Mitteln darstellen, große Vorbehalte entgegengebracht. Surrealen Texten wirft man „‚weltflüchtige‘ Verfremdung“3 vor, Romanen des Magischen Realismus, dass sie durch die Idee, es existiere hinter der Wirklichkeit eine höhere Ordnung, dem Krieg eine sinnvolle Bedeutung geben.4 Hans Wagener bescheinigt parabolisch-existentialistischen Kriegsromanen „Eskapismus“, die „Ignorierung sozialer und politischer Voraussetzungen und Fragestellungen“ und behauptet, in ihnen sei der Krieg 1 2

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Georg Hensel: Nachtfahrt. Darmstadt 1994 [Nachdruck der Erstausgabe. Stuttgart 1949], im Folgenden zitiert mit dem Kürzel (N mit entspr. Seitenangabe). Vgl. Jochen Pfeifer: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts. 1981 (Monographien Literaturwissenschaft 49), S. 72 und 77f. Walter Mannzen: Zu Gertrud Dahlmann-Stolzenbach: Der Schwarze Engel (München, 1946). In: Skorpion (Probedruckexemplar). August, September 1947, S. 49, zitiert nach Volker Christian Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945– 1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971, S. 85. Vgl. Friedhelm Kröll: Anverwandlungen der Klassischen Moderne. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. v. Rolf Grimminger. Bd. 10: Literatur der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. München u.a. 1986. S. 244–262, hier S. 246.

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nur ein Mittel, um eine „Grenzsituation[] als extreme und typische Situation des Lebens“5 darzustellen. Jost Hermand zufolge findet sich in allen diesen Texten eine „Reduzierung ins Existentielle, Einzelpersönliche, Psychologische und Moralische“, was immer zu einem „Sieg des Partikularen über das Gesellschaftlich-Totale“6 führe. Allgemein wird den Werken ein Mangel an echter Auseinandersetzung mit dem Faschismus und das Ausblenden der Schuldfrage unterstellt.7 Diese Vorwürfe treffen zwar in einigen Fällen zu, allerdings durchaus zum Teil auch auf ‚realistische‘ Kriegsromane.8 Ob in einem Roman die Darstellung der grausamen Wirklichkeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen in einer angemessenen Form gelingt, sofern dies überhaupt möglich ist, ist nicht von der Wahl zwischen realistischen oder surrealistischen Gestaltungsmitteln abhängig. Ein Beispiel hierfür ist Hensels Heimkehrer- und Kriegsroman Nachtfahrt. Obwohl Hensel in seinem parabolischen Roman Nachkriegszeit und Krieg verfremdet und mit surrealen Mitteln beschreibt, kann dem Werk beispielsweise weder Wirklichkeitsflucht noch die Ausblendung der Schuldfrage attestiert werden. Hensel9 hatte am Zweiten Weltkrieg von 1941 bis 1945 selbst teilgenommen. Mit der Arbeit an Nachtfahrt begann er unmittelbar nach seiner Rückkehr. Ende 1945 nahm Hensel eine Stelle als Theaterkritiker beim Darmstädter Echo an, Nachtfahrt erschien 1949. Wie Hensel selbst erklärte, wurde der Roman von „mehr Kritikern als Lesern gelesen – also von kaum jemand.“10 Davon überzeugt, dass er nicht „dazu geboren war, Romane zu schreiben,“11 beschloss Hensel daher zunächst, sich ganz seiner Tätigkeit 5

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Hans Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und -tagebücher. In: Gegenwartsliteratur und Drittes Reich. Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Hg. v. demselben. Stuttgart 1977, S. 241–264, hier S. 259f. Jost Hermand: Darstellungen des Zweiten Weltkrieges. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 21: Literatur nach 1945 I. Politische und regionale Aspekte. Wiesbaden 1979, S. 11–60, hier S. 13. Vgl. Jost Hermand: Unbewältigte Vergangenheit. Westdeutsche Utopien nach 1945. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland 1945–49. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen. Hg. v. demselben, Helmut Peitsch und Klaus R. Scherpe. Berlin 1982 (Literatur im historischen Prozess 3; Argument Sonderband 83), S. 102–128, hier S. 104 und Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen (Anm. 5), S. 159. „Der realistische Kriegsroman neigt dazu, Bedeutungsloses zu berichten.“ Pfeifer: Der deutsche Kriegsroman (Anm. 2), S. 73. Nach Pfeifer ist zudem eine rein faktische, auf Wertung verzichtende Kriegsdarstellung, in der die grausamen Bilder für sich selbst sprechen, für alle Deutungen offen: „etwas kann schrecklich und dennoch sinnvoll und heldenhaft oder durch andere höhere Werte gerechtfertigt sein.“ Ebd., S. 78. Vgl. auch Kröll: Anverwandlungen der Klassischen Moderne (Anm. 4), S. 244. Georg Hensel (*1923, Darmstadt – †1996, Darmstadt). Vgl. auch zu allen weiteren biographischen Angaben Raffaele Louis: Hensel, Georg. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Begr. von Walter Killy, hg. von Walther Kühlmann. 2., vollständig überarbeitete Auflage. Bd. 5: Har-Hug. Berlin u.a. 2009, S. 275f. Georg Hensel: o.T. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (1985), S. 67f., hier S. 67. Ebd.

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als Journalist und Theaterkritiker zu widmen. 1952 wurde Hensel Feuilletonchef beim Darmstädter Echo, später arbeitete er als Redakteur und leitender Theaterkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bekannt wurde Hensel in erster Linie mit dem vielfach neuaufgelegten Theaterführer Spielplan,12 einer Monographie über Samuel Beckett13 und seiner Autobiographie Glück gehabt.14 Nachtfahrt fand nicht nur zum Zeitpunkt seines Erscheinens wenige Leser, sondern geriet auch schnell in Vergessenheit. Trotz der Neuauflage 1994 ist der Roman auch heute immer noch so gut wie unbekannt.15 Ein Grund für die mangelnde Beachtung ist vermutlich die surreale, auf den ersten Blick keinen Sinn ergebende Handlung des Romans. Der Soldat Anton kehrt nach dem Krieg in seine zerstörte Heimatstadt zurück. Ihn quälen Schuldgefühle, da er einen Soldaten erschossen hat – kein Schuss auf einen kollektiven Feind, sondern die gezielte Tötung eines einzelnen Menschen. Seine Geschichte erzählt Anton dem Druckereibesitzer Iggs, der ihm rät: „Hängen Sie eine Nacht daran, [...] und kommen Sie mit sich ins reine“ (N, 13). Für Anton beginnt mit diesem Satz eine surreale ‚Nachtfahrt‘ durch die Keller und Ruinen der Stadt. Er erlebt einen Albtraum, in dem eine außer Kontrolle geratene Straßenbahn, die seltsamen Bewohner der Stadt, rückwärtsgehende Uhren, ein Jahrmarkt und vor allem die merkwürdige „Gemeinschaft der Lebenden“ (N, 38) entscheidende Rollen spielen. Der Anführer der Gemeinschaft ist der Druckereibesitzer Iggs, der auch als „Wagenführer“ (N, 31) der Straßenbahn und „Tolstoi“ (N, 89) auftritt. Anton wird von der Gemeinschaft aufgenommen. Als Iggs in ihr einen Krieg anstiftet, erschießt Anton erneut einen Soldaten. Die Gemeinschaft behauptet nun, Anton sei Iggs und will ihn hängen. Er wird bis zur Hinrichtung eingesperrt. Auf einen Rat hin beschäftigt Anton sich mit einem nicht näher definierten „Geheimnis“ (N, 165). Im Morgengrauen entdeckt er, dass er die Tür seines Gefängnisses von innen öffnen und gehen kann. Antons Albtraum ist zu Ende. Die ersten sechs Kapitel von Nachtfahrt, die von Antons Erlebnissen in der Stadt bis zu seiner Inhaftierung in der Todeszelle handeln, bestehen aus einer Reihe von surrealen, absurd-grotesken Bildern. Das Geschehen im siebten und letzten Kapitel wirkt zwar realistisch, dennoch ergibt der Roman ein rätselhaftes Gesamtbild. Im Folgenden wird zunächst gezeigt, dass sich in jenen absurd-grotesken Bildern des ersten Teils eine annähernd realistische Beschreibung des Zweiten Weltkriegs und sei12 13 14 15

Ders.: Spielplan. Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart. 2 Bde. Berlin 1966. Ders.: Samuel Beckett. 2. Aufl. Velber bei Hannover 1970. Ders.: Glück gehabt. Szenen aus einem Leben. Frankfurt/Main u.a. 1994. Bislang sind erst zwei Aufsätze zu Nachtfahrt erschienen. Vgl. auch zur spärlichen Rezeption Raffaele Louis: Gleichnisse vom verlorenen Sinn. Georg Hensels ‚Nachtfahrt‘, Jens Rehns ‚Feuer im Schnee‘, Werner Warsinskys ‚Kimmerische Fahrt‘ und Herbert Zands ‚Letzte Ausfahrt‘. In: Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und 1965. Hg. v. Jürgen Egyptien. München 2007 (treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 3), S. 125–156, hier S. 136 und Katja Moses: Albtraum in der Geisterbahn. Georg Hensel und sein einziger Roman ‚Nachtfahrt‘. In: Kritische Ausgabe 16 (2008), S. 115–117.

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ner Folgen verbirgt. Anschließend erfolgt die Deutung von Nachtfahrt als einer Parabel auf das Leben an sich. Zuletzt wird erläutert, wie Hensel die Schuldfrage beantwortet.

„Deskription der Realität“ durch einen „Aufschwung in das Phantastische“ Einen Hinweis darauf, dass der surreale erste Teil des Romans als eine Beschreibung der Realität gelesen werden kann, gibt es in Nachtfahrt selbst. Der Ich-Erzähler Anton wendet sich zu Beginn des siebten Kapitels an den Leser und erklärt, dass das Bisherige eine „bloße Deskription der Realität“ (N, 159) gewesen sei, nun aber ein „Aufschwung in das Phantastische“ (ebd.) erfolge. Er behauptet demnach, das siebte Kapitel, dessen Darstellungsweise realistisch ist, beschreibe Surreales – die surrealen Bilder der ersten sechs Kapitel entsprächen jedoch der Realität. Einen weiteren Verweis liefert Hensel im Nachwort zu Nachtfahrt. Er erklärt: „seine Bilder sind Innenbilder für äußere Vorgänge. Die Außenwelt des Krieges war in eine traumhafte Innenwelt verwandelt“ (N, 176). Antons surrealer „Albtraum“ (ebd.) bildet also nach Hensel Vorgänge der realen Welt ab. Tatsächlich können die absurd-grotesken Bilder im ersten Teil des Romans zum einen als eine realistische Darstellung des Umgangs von Soldaten mit ihrer Schuld interpretiert werden, zum anderen als wirklichkeitsnahe Beschreibungen der Nachkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs.

Nachtfahrt als Roman über den Umgang deutscher Soldaten mit ihrer Schuld Der erste Teil von Nachtfahrt kann als Darstellung der vergeblichen Versuche eines Menschen, sich von einer Schuld zu ‚reinigen‘, gelesen werden. Anton versucht „mit sich ins reine“ (N, 13) zu kommen. Er erzählt einem Paar in einem Keller von seiner Tat, doch es hört ihm nicht zu. Er betet, doch auch „Gott nimmt keine Geschichten ab“ (N, 34). Weitere erfolglose Versuche, sich von seiner Schuld zu befreien, sind Antons Rückkehr in die Gesellschaft, die „Gemeinschaft der Lebenden“, seine Teilnahme an der von ihr organisierten Beichte und die literarische Verarbeitung seiner Geschichte durch eine ihrer Abteilungen. Nach Ablenkung von seiner Schuld sucht Anton zudem vergeblich im Lebensstil des einfachen Mannes Theodor, bei der Hure Patrizia und im Besäufnis mit Soldaten. Anton flieht seine Schuld und übernimmt keine Verantwortung für sie, das verdeutlicht der im Roman leitmotivisch wiederholte Satz „man kann nichts dafür, wenn man Wache hat.“ (N, 158, 53, 63) Anton fühlt sich nicht verantwortlich, weil er Wache stand, als er seine Tat beging und er damit nur als Soldat auf einen Befehl hin handelte. Hensel zeigt in Nachtfahrt, welche Folgen diese verdrängende Haltung haben kann. Antons Gedanken kreisen zwanghaft um die Tat, sie beeinflusst alle seine Handlungen, zuletzt wiederholt er sie sogar.16 Das Kreisen um die Tat, ihre Wiederholung, ist eine 16

Deutlich wird dies unter anderem auch daran, dass der Roman mit Antons Schuldgeschichte beginnt und diese immer wieder erzählt wird, insgesamt in fünf Variationen. Die fünfte Variation ist dabei die Darstellung der Wiederholung der Tat in der Gegenwart.

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logische Konsequenz von Antons Verhalten: Denn nur wenn ein Täter sich mit seiner Tat auseinandersetzt und begreift, welche Umstände sie verursacht haben und inwieweit er für sie verantwortlich ist, hat er die Möglichkeit, ihre Wiederholung in einer ähnlichen Situation zu verhindern. Die erfolglosen Versuche, mit seiner Schuld zurechtzukommen, lassen Anton zunehmend verzweifeln. Die Wiederholung der Tat entsetzt Anton und nimmt ihm die letzte Hoffnung: „Es war alles vergebens“ (N, 149). Weil die Gemeinschaft glaubt, dass er Iggs ist, verurteilt sie Anton zum Tod durch Erhängen und sperrt ihn ein. Während die Verurteilung Antons Sehnsucht widerspiegelt, durch eine Strafe von seiner Schuld erlöst zu werden, ist die Gefangennahme ein Symbol für sein Empfinden, sich in einem ausweglosen Kreislauf der Schuld zu befinden. Hensel beschreibt in Nachtfahrt den Umgang vieler deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Schuld. In den absurd-grotesken Bildern des Romans stellt er dabei vor allem auch die Gefühle der Soldaten dar. Er zeigt, dass das Leben mit einer ‚unbewältigten‘ Schuld einem surrealen Albtraum gleichen kann.

Nachtfahrt als Nachkriegsroman Hensel stellt in Nachtfahrt weiterhin den „Albtraum von Schrecken und Zerstörung“17 dar, den Hannah Arendt bei ihrem Besuch 1949/50 in Deutschland beobachtete. Antons Weg führt durch die bizarre Ruinenlandschaft einer zerstörten Stadt, ihr Bild formen Schutthaufen, einzelne zerbröckelnde Mauern, tote Fensterlöcher und ins Leere führende Treppen. Die Schilderungen der Trümmer ergeben ein durchaus realistisches Bild von den Folgen der Bombenangriffe in den deutschen Städten. Hensel zeigt auch die Traumatisierung der Menschen durch den Krieg, die bei ihren Versuchen, die Kriegserfahrungen zu verdrängen und in den Trümmern ein normales Leben zu führen, verrückt wirken. Da ist das elegante Paar in dem Keller, das über seine Kinder redet, als ob sie noch leben würden. Oder der einfache Mann Theodor, der Anton die neue Ausstattung seiner Wohnung vorführt, die in Wirklichkeit völlig in Trümmern liegt.18 Die „Gemeinschaft der Lebenden“ stellt ein parodistisches Spiegelbild für die sich nach Kriegsende in Deutschland neu konstituierenden politischen Vereinigungen dar. Die Kommunikation ist bestimmt von leeren Phrasen, ihre Hauptaufgaben sind das Verfassen von sinnlosen Resolutionen und das Begehen sinnloser Taten.19 Bei dem von 17

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Hannah Arendt: Besuch in Deutschland (1950). Aus dem Amerikanischen von Eike Geisel. Mit einem Vorwort von Henryk M. Broder und einem Portrait von Ingeborg Nordmann. Nördlingen 1993, S. 24. Ebendieses Verhalten beobachtete auch Arendt an den Deutschen: „die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert“. Ebd., S. 24f. „Wir werden jetzt etwas tun, [...] weil wir etwas tun müssen!“ (N, 63). Der ziellose Aktionismus der Gemeinschaft erinnert an eine weitere Beobachtung Arendts: „die Geschäftigkeit ist ihre

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der Gemeinschaft organisierten „große[n] Purgatorium“ (N, 92) erzählen Menschen, was sie im Krieg getan haben. Ein Soldat hat Juden erhängt, er wird, da er ein Bein verloren hat, als ein „Opfer des Krieges“ (N, 90) bezeichnet, einer hat seine Gefangenen getötet, ein anderer sie laufen lassen. Ein Zivilist war zu Hause und hat gezittert. Zuletzt wird konstatiert: „Es ist nichts Besonderes passiert, wir alle haben nichts Besonderes getan.“ (N, 91) Dennoch wird jeder Einzelne aufgefordert, Buße zu tun. Der Verweis auf das Verhalten der meisten Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist deutlich: Die Verantwortung für die Vergangenheit wurde zurückgewiesen, Täter wurden zu Opfern stilisiert, eine den Einzelnen entlastende Kollektivschuld postuliert und das Geschehene verharmlost. Die von ‚Komma‘ geleitete „Abteilung seelische Befreiung“ (N, 39), die sich mit der „literarischen Ausbeute von Kriegserlebnissen“ (N, 38) beschäftigt, ist laut Hensel eine Parodie auf die Gruppe 47.20 Selbst der Krieg, der sich innerhalb der Gemeinschaft entwickelt, verweist auf die deutsche Nachkriegszeit. Er wird von Iggs angestiftet, der sich als Tolstoi verkleidet hat – möglicherweise ein Hinweis auf die Teilung Deutschlands im beginnenden Kalten Krieg. Vor allem aber zeigt der neu entstehende Krieg, dass die Menschen nichts aus der Vergangenheit gelernt haben: sie wiederholen ihre Fehler.

Nachtfahrt als Kriegsroman Die absurd-grotesken Bilder in Nachtfahrt können drittens als Darstellung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs gelesen werden. Die „Gemeinschaft der Lebenden“, die „Organisation Iggs“ (N, 42), weist Züge einer totalitären Gesellschaft auf. Niemand kann ihr entrinnen, denn „[w]er Mensch ist, gehört zu ihr.“ (N, 34) Iggs, ihr Anführer, ist eine Figur mit göttlichen Eigenschaften, er wird als allwissend und allgegenwärtig beschrieben. Iggs’ Name ist eine Lautschrift des Buchstaben X, ein Zeichen, das an ein gedrehtes Kreuz und das Hakenkreuz erinnert. Die Versammlungen der Gemeinschaft sind Massenveranstaltungen, in denen die sinnlosen Äußerungen und Handlungen von Iggs mit frenetischem Jubel aufgenommen werden. Ein Symbol für die Gleichschaltung sind die Schilder mit der Nummer 256. Iggs erklärt, da jeder sein „eigenes“ (N, 66) erhalte, seien die Schilder Zeichen dafür, dass die Gemeinschaft „Individualität und Rechte der Einzelmenschen“ (ebd.) fördere. Hensels Beschreibungen wirken bizarr, doch er entlarvt nur die Irrationalität, die jedem totalitären System innewohnt. In weiteren Szenen beschreibt Hensel die Absurdität des Krieges. Der als Tolstoi verkleidete Iggs zettelt eine Verschwörung gegen sich selbst an. Es gibt keinen Grund für diesen Krieg, wie die Floskeln verdeutlichen, mit denen die Verschwörer zustimmen: „Es war an der Zeit“ (N, 116) und „[e]ndlich wieder eine Aufgabe“ (ebd.). Anton

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Hauptwaffe zur Abwehr der Wirklichkeit geworden“. Arendt: Besuch in Deutschland (Anm. 17), S. 35. Vgl. Hensel im Nachwort zu Nachtfahrt (N, 174).

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erkennt die Sinnlosigkeit dieses Krieges und zugleich aller Kriege: „Wir bekämpfen uns selbst“ (N, 140). Eine Parodie auf eine Kriegsrede ist Iggs’ Ansprache an die Soldaten. In ihr finden sich in knapper Form alle bekannten Topoi, die zur Mobilisierung eingesetzt werden.21 Anton selbst wehrt sich zunächst gegen seine Kriegsteilnahme, wird aber mit Sätzen wie „Das Leben gehört nicht dir. Du weißt, daß es dem Volk gehört“ (N, 113) und „Du weißt, daß du mußt“ (N, 111) zunächst unter Druck gesetzt und dann überredet. Zuletzt meldet sich Anton bei jeder Gelegenheit ‚freiwillig‘22 und gehorcht allen Befehlen. In der Purgatoriums-Szene schildert Hensel in komprimierter Form die Erlebnisse eines Soldaten von der Anwerbung bis zum Tod. Anton zieht das „Werbelied“ (N, 88) seiner „Kumpels“ (ebd.) an, er singt mit ihnen Kriegslieder und kriecht zuletzt mit ihnen durch den Dreck, um sich für ein ‚höheres Ziel‘ zu opfern. Welche grausamen Erfahrungen mit der Teilnahme an einem Krieg verbunden sind, verdeutlicht schließlich Antons Erinnerung an seine Verschüttung in einem Schützengraben (vgl. N, 142ff.). Hensel entlarvt mit seiner Darstellung den Krieg als das, was er wirklich ist: ein Albtraum, ein absurdes, sinnloses und grausames Ereignis. Er verweist auf die bizarren Mechanismen, die mit der Entstehung eines Krieges, der Integration der Individuen und der Mobilisierung verbunden sind und zeigt, welche schrecklichen Erfahrungen die Soldaten auf dem Schlachtfeld machen.

Formen des Realitätsbezugs Um die Realitätsbezüge in Nachtfahrt herzustellen, greift Hensel auf verschiedene Darstellungsweisen zurück. Im ganzen Roman werden Orte, Personen und Ereignisse realistisch, in einer präzisen, detaillierten Sprache beschrieben. Im Kontrast zu diesen nüchternen Beschreibungen stehen jedoch zum einen die häufig irrational wirkenden Äußerungen und Handlungen der Figuren, andererseits, im ersten Teil des Romans, Antons teilweise äußerst surrealen inneren Monologe, Erinnerungen und Träume. Diese im Grunde eindeutige Aufteilung wird dabei vom Schriftbild des Romans unterlaufen. Um Nachtfahrt „klarer“ zu gestalten und Hensels „verwirrende Erzähltechnik“ aufzulösen, hatte sein Verleger auf Kursivsetzung der „irrationalen Partien“23 bestanden. Hensel nahm den Vorschlag zwar an, gestaltete jedoch nicht alle irrationalen oder surrealen Partien, dafür aber auch realistische Beschreibungen kursiv. Die Aufhebung der Grenze zwischen den surrealistischen und realistischen Beschreibungen hat zur Folge, dass im ersten Teil des Romans die Darstellungen von Vergangenheit und Gegenwart, Innenund Außenwelt sowie Traum und Wirklichkeit kaum voneinander zu trennen sind.

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Der Eindruck des Absurden wird dabei dadurch verstärkt, dass Iggs die gleiche Rede zweimal hält, einmal als Iggs selbst und einmal als Tolstoi (vgl. N, 133ff. und 137ff.). „Wer sich nicht freiwillig meldet, wird erschossen!“ (N, 138). Hensel: Glück gehabt (Anm. 14), S. 122.

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Die von Hensel verwendeten Darstellungsweisen können hauptsächlich drei verschiedenen literarischen Stilen zugeordnet werden: dem Kahlschlag oder der Trümmerliteratur, dem Magischen Realismus und dem Surrealismus. Der Kahlschlagliteratur entsprechen die realistischen, nüchternen Beschreibungen.24 Dem Magischen Realismus entspricht vor allem, dass der Roman trotz seiner realistischen Partien ein rätselhaftes Gesamtbild ergibt, des Weiteren aber auch die Ort- und Zeitlosigkeit des Erzählten.25 Hans Werner Richter bestimmte als Ziel des Magischen Realismus, „in der unmittelbar realistischen Aussage dennoch hinter der Wirklichkeit das Unwirkliche, hinter der Realität das Irrationale“26 darzustellen. Hensel stellt in Nachtfahrt das Irreale in der Realität dar. Er zeigt die Irrationalität der Gefühle und Handlungen eines mit einer Schuld lebenden Menschen, verweist darauf, dass das Leben in der Nachkriegszeit einem Albtraum gleicht und stellt die Absurdität dar, die in der Normalität eines totalitären Systems und des Krieges liegt. Hensel erfasst die Wirklichkeit des Krieges und seiner Folgen in Nachtfahrt aber nicht wie im Magischen Realismus nur mit realistischen, sondern auch mit surrealistischen Beschreibungen. Dem Surrealismus entsprechen in Nachtfahrt zunächst die Sprache von Antons inneren Monologen und seinen Erinnerungen und Träumen sowie das rational nicht nachvollziehbare, eben surreale Geschehen im Roman. Vor allem aber ist die Aufhebung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt, Unbewusstem und Bewusstem, Traum und Wirklichkeit sowie Irrealität und Realität ein typisch surrealistisches Gestaltungsmittel.27 In der bewusst unrealistischen Darstellung gelingt es Hensel zum einen, Bereiche der grausamen Wirklichkeit zu erfassen, die sich einer rationalen, logischen Sprache und damit auch einer rein realistischen Darstellungsweise entziehen. Zum anderen setzt Hensel mit den surrealen Beschreibungen das Mittel der Verfremdung ein, das er auch in den zahlreichen ironischen, satirischen und parodistischen Elementen28 des Romans verwendet, um auf die Realität zu verweisen. Das „tiefere[] Erfassen der Wirklichkeit in ihrer Über- (Sur-) Realität“29, das nach Walter Mannzen manchen surrealistischen Werken eigen ist, findet sich auch in Nachtfahrt. Obwohl im ersten Teil von Nachtfahrt „ein Aufschwung in das Phantastische“ (N, 159) erfolgt, findet im Roman keine „‚weltflüchtige‘ Verfremdung[,]“30 keine Flucht ins Irreale statt. Vielmehr gelingt es Hensel gerade wegen seiner absurd-grotesken Darstellungsweise, ein annähernd realistisches und kritisches Bild vom Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen zu zeichnen. 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. zum ‚Kahlschlag‘ Jürgen Egyptien: Einführung in die deutschsprachige Literatur seit 1945. Darmstadt 2006 (Einführungen Germanistik), S. 41f. Vgl. ebd., S. 44. Hans Werner Richter: Literatur im Interregnum. In: Der Ruf 2 (1947), S. 9ff., hier S. 10. Vgl. Klaus Hübner: Surrealismus. In: Metzler Literatur Lexikon. Hg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart 1990, S. 450. Nach Pfeifer werden satirische und ironische Mittel nur äußerst selten in Kriegsromanen eingesetzt. Pfeifer: Der deutsche Kriegsroman (Anm. 2), S. 72. Walter Mannzen: Zu Gertrud Dahlmann-Stolzenbach. Der Schwarze Engel (Anm. 3), S. 49. Ebd.

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Die Determination – Nachtfahrt als eine Parabel auf das Leben Nachtfahrt ist laut Hensel auch eine „Parabel“.31 Folgt man diesem Hinweis, erschließt sich noch eine weitere, existentielle Bedeutung des Romans: In Nachtfahrt wird das Dasein des Menschen und das Leben an sich beschrieben. Anton steht für den Menschen selbst, sein Name ist beliebig: „Anton, wie A, Buchstabieralphabet“ (N, 33). Darüber hinaus verwandelt sich Anton zu Iggs und das X steht in der Mathematik für eine beliebige, unbekannte Zahl. Auch Iggs stellt den Menschen an sich dar. Anton ist nach dieser Lesart nicht aufgrund seiner Kriegserfahrungen verstört, ihn quälen existentielle Fragen. Zum einen fragt er: „Wer bin ich?“ (N, 153) Anton erkennt sein Gesicht nicht im Spiegel und es fällt ihm schwer, sich als Teil der Menschheit zu sehen, die von der Gemeinschaft, der „umfassenden Organisation der Welt“ (N, 34), repräsentiert wird.32 Auch gegen eine Identifikation mit Iggs, dem Anstifter des Krieges, wehrt sich Anton. Zum anderen sucht Anton nach dem Sinn des Lebens. Er sucht ihn vergeblich in der Kommunikation, in der Religion, im Lebensstil des einfachen Mannes, in der Kameradschaft, der Liebe, der Gemeinschaft und in seiner Kriegsteilnahme. Antons Weg durch die Stadt zeigt, dass nichts einen Sinn hat. Nach dieser Lesart ist die in Nachtfahrt beschriebene Zerstörung keine Folge eines Krieges, die Trümmer sind der eigentliche Zustand der Welt. In einem von Antons inneren Monologen heißt es: „alles kaputt, [...] wäre nur festzustellen, ob nicht schon immer alles kaputt war, man hat’s vielleicht nur nicht bemerkt, man kann sich täuschen, woher will man wissen, daß jetzt erst alles kaputt gegangen ist“ (N, 33). Die Welt besteht aus Einzelteilen, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügen lassen, in ihr gibt es keine Sinnzusammenhänge. Das Leben in dieser Welt besteht dabei aus Wiederholungen. Die Möglichkeit, Nachtfahrt zugleich als Kriegs- und Nachkriegsroman lesen zu können, zeigt, es gibt kaum Unterschiede zwischen der Zeit vor, während oder nach einem Krieg. In Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiederholen sich immer gleiche Ereignisse lediglich in neuen Variationen. Das wird auch an einzelnen Handlungen deutlich, Anton wiederholt seine Tat und in acht Variationen den Versuch, mit seiner Schuld zurechtzukommen. „Man tut immer alles wieder [...]. Ein Leben lang variiert man nur den ersten Schrei, die erste Bewegung, die man machte, als sie einen aus dem Mutterleib zogen.“ (N, 150) Der Mensch hat in dieser Welt, da immer das Gleiche geschieht, keine Handlungsfreiheit: Auf jeden Krieg folgt unausweichlich ein neuer Krieg, jede Tat muss unendliche Male wiederholt werden, alles ist vorherbestimmt. Anton protestiert gegen diese Determination. Er wehrt sich gegen seine Integration in den Krieg, protestiert, als er erkennt, dass er seine Tat wiederholt hat, und leistet Widerstand gegen das Todesurteil der Gemeinschaft. Doch jedes Mal erkennt Anton, dass er keine andere Wahl hat, als zu tun, was von ihm verlangt wird. Das Gefühl der Machtlosigkeit lässt ihn schließlich resignieren 31 32

Hensel: Glück gehabt (Anm. 14), S. 125. Anton muss auf sein Menschsein hingewiesen werden: „Auch du gehörst dazu, wir sind alle dabei, es gibt keine Ausnahmen.“ (N, 87.)

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und das Todesurteil der Gemeinschaft annehmen. „Es war alles sinnlos […]. So darf auch das Ende sinnlos sein.“ (N, 156) Ein Gleichnis für das Leben und das menschliche Dasein stellt das Karussell dar, das auf einem Jahrmarkt in der Mitte der Stadt steht. Es ist leer bis auf ein einzelnes Pärchen. In seiner Mitte steht ein „tönerner Troubadour“ (N, 71) und dirigiert mit einem zerbrochenen Taktstock ein Lied, während ein anderes gespielt wird. Das Pärchen, erfährt Anton auf seine Frage, fahre noch so lange Karussell, „[b]is der Besitzer aufwacht und abstellt.“ (N, 72) Es gibt keinen übermächtigen Gott, sondern nur einen nicht in Erscheinung tretenden Besitzer, der die Maschine des Lebens an- oder abstellt. Es gibt keine lineare Geschichte, nur eine mechanische, ziellose Kreisbewegung. Der Troubadour, der die falsche Melodie dirigiert, symbolisiert die Sinnlosigkeit dieses Lebens, das Fehlen von Ordnungen und Zusammenhängen. Das Leben besteht aus einem sinnlosen Kreislauf. Endet der Kreislauf, ist auch das Leben zu Ende. Der Mensch bleibt daher, solange er lebt, in ihm gefangen. Er hat keine Wahl. Das verdeutlichen auch das immer wieder aufgegriffene Motiv der Gefangenschaft33 und die Panorama-Schau, die Anton auf dem Jahrmarkt besucht. Es gibt zwei Eingänge, einmal werden „GOETHES WEISHEITEN“, einmal „EXOTISCHE LIEBESSPIELE“ (N, 73) angekündigt. Anton wählt den ersten, ein anderer wählt den zweiten Eingang, doch sie treffen sich vor denselben Bildern und Sprüchen wieder: „Es gab nur zwei Möglichkeiten [...]. Es hat jeder eine andere gewählt. Wir haben beide dasselbe erlebt.“ (N, 80) Das Leben ist eine dunkle Nachtfahrt: Der Mensch ist ohne Wahl- und Handlungsmöglichkeiten in einem sinnlosen Kreislauf gefangen. Es ist kein Zufall, dass der sinnlose Kreislauf mit zwei Zeichen dargestellt werden kann: mit dem Kreis, als Symbol für die Wiederholung, und mit dem X, einem gedrehten Kreuz, das das Unbekannte und das Fehlen von Sinnzusammenhängen symbolisiert. Im ganzen Roman finden sich unzählige Verweise auf diese beiden Figuren.34 In der Darstellungsweise von Nachtfahrt finden sich demnach auch Elemente des Symbolismus.35

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Mäuse sind in Flaschen eingeschlossen, Fliegen verfangen sich in Spinnennetzen, Anton wird kurzzeitig in einem Zimmer gefangen gehalten, träumt davon, in einem Vogelkäfig zu wohnen und wird zuletzt in der Todeszelle eingesperrt (vgl. N, 20, 169, 53, 119 u. 156). Neben zahllosen Variationen der Wörter Kreis und Kreuz finden sich im Text immer wieder Anspielungen auf die Kreisbewegung (Karussell, Straßenbahnfahrt) und auf die Sinnlosigkeit oder das Fehlen von Zusammenhängen, unter anderem in den Gesichtern von Iggs und Anton (vgl. N, S. 7 u. 122). Auch auf der formalen Ebene besteht Nachtfahrt aus einem Geflecht von Überkreuzungen (durch umkehrenden Erzählerkommentar und Kursivstellung) und Wiederholungen (neben einzelnen Wörtern werden ganze Textabschnitte wiederholt). Der auf den ersten Blick keinen Sinn ergebende Roman erweist sich somit als ein bis in kleinste Details durchkonstruierter Text. Vgl. Maria-Christina Boerner: Symbolismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Georg Braungart, Harald Fricke u. a. Bd. 3: P-Z. Berlin, New York 2003, S. 555–557.

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Die Freiheit – Das „Geheimnis“ im siebten Kapitel Wird die parabolische Bedeutung des Romans betrachtet, scheint es, dass der Vorwurf, der Romanen des Magischen Realismus entgegengebracht wird, auch auf Nachtfahrt zutrifft. Hensel nimmt eine symbolisch überhöhte Gesamtdeutung der Zeit vor, er zeigt, dass hinter der Wirklichkeit eine ‚höhere Ordnung‘ verborgen liegt, die die grausamen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges erklärt und ihnen eine ‚sinnvolle‘ Bedeutung gibt. Einer konkreten Beantwortung der Schuldfrage weicht Hensel auf den ersten Blick aus. Die Menschen sind von der Verantwortung für den Krieg befreit, da dieser im ewigen, sinnlosen Kreislauf des Lebens ein immer wiederkehrendes Ereignis ist. Hensel scheint somit den Krieg tatsächlich nur zu instrumentalisieren, um eine „extreme und typische Situation des Lebens“36 darzustellen. Im bisher noch nicht betrachteten siebten Kapitel von Nachtfahrt vollzieht sich jedoch eine Wende. In der Todeszelle erhält Anton von einem Mitglied aus der Gemeinschaft den Rat, sich mit dem „Geheimnis“, dem, „was niemand zu wissen braucht, niemand wissen soll, niemand wissen darf“ (N, 165), zu beschäftigen. Anton verfällt im Morgengrauen in einen gelösten, traumhaften Zustand, in dem er dem Geheimnis auf die Spur kommt. Er schreibt in ein altes Schulheft: „ICH BIN IGGS.“ (N, 171) Anton wehrt sich nicht mehr. Er akzeptiert, dass er Iggs, ein Teil der Menschheit ist, ein Mensch. Anton schreibt: „ICH BIN DER KRIEG.“ (N, 170) Iggs hat in der Gemeinschaft den Krieg angestiftet. Anton hat akzeptiert, dass er Iggs ist. Er wehrt sich nicht mehr gegen die Erkenntnis, dass er, als Mensch, den Krieg verursacht hat. Er akzeptiert, dass das Böse zum Menschen gehört. Weiter schreibt er: „ICH BIN DIE SONNE. ICH SCHEINE.“ (N, 171) Anton akzeptiert, dass auch das Gute zum Menschen gehört. Weiter schreibt er: „ICH BIN IGGS PLUS DAS GEHEIMNIS. [...] ICH BIN TEIL DES GEHEIMNISSES.“ (Ebd.) Anton erkennt, dass es auf die Frage, warum der Mensch gut oder böse ist, keine Antwort gibt, da er ein Teil des Geheimnisses ist. Er sucht nicht mehr nach einem Sinn, er akzeptiert, dass das Leben ein nicht zu ergründendes Geheimnis ist. Die existentiellen Fragen, die Anton quälten, sind durch seine Akzeptanz des Geheimnisses gelöst. An die Stelle von Sinnsuche, Protest und Resignation tritt eine gelassene Akzeptanz.37 Bedeutet diese Akzeptanz, dass Anton sich mit der Vorherbestimmtheit seines Lebens innerhalb eines sinnlosen Kreislaufs abfindet? Bedeutet sie, dass Anton fatalistisch die Wiederholung seiner Tat als etwas Vorherbestimmtes und das Böse in sich als eine 36 37

Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen (Anm. 5), S. 259f. Hensels Darstellung erinnert an den Mythos des Sisyphos von Albert Camus. Auch bei Camus muss der Mensch die Sinnlosigkeit des Lebens akzeptieren, der ‚Sprung‘ in erlösende Erklärungen wird abgelehnt. Die Akzeptanz der Sinnlosigkeit führt jedoch bei Camus nicht zu einem Ende des Protests, sondern zu einer Auflehnung gegen das Absurde. Vgl. Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1942). Deutsch von Hans Georg Brenner und Wolfdietrich Rasch. In: Ders.: Das Frühwerk. Mit einem Nachwort von François Bondy. Düsseldorf 1967, S. 391–541, hier S. 434.

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unveränderliche Tatsache akzeptiert? Dann wäre er unschuldig und nicht verantwortlich für seine Tat. Denn wenn es dem Menschen nicht möglich ist, zwischen einer bösen und einer guten Handlung zu wählen, dann kann er nicht als böse oder gut bezeichnet werden. Die Kategorien ‚Böse‘ und ‚Gut‘ entstehen erst im Moment der Freiheit, in der freien Wahl, etwas Böses tun zu können. Der Mensch in Nachtfahrt ist jedoch frei. Seine Freiheit entsteht aus der Sinnlosigkeit des Lebens. Wenn es, wie in der Parabel deutlich wurde, keinen das Leben lenkenden Gott, keine fortschreitende Geschichte gibt, wenn die Welt sich jedem Erklärungsversuch entzieht, ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen und frei. Die Freiheit wird in Nachtfahrt als wesentlicher Teil des Menschseins geschildert: „Es gibt immer mehr als zwei Möglichkeiten. Immer. Wir wissen es nur manchmal nicht. Wir sind Menschen, das ist das einzige, was wir wissen.“ (N, 81) Bedingung für die Freiheit ist die Akzeptanz des Geheimnisses, die Erkenntnis, dass übergeordnete Sinnzusammenhänge, die die Aufgaben des Menschen festlegen, nicht existieren und er damit für jede seiner Taten verantwortlich ist.38 Anton wird durch die Akzeptanz des Geheimnisses frei. Er bemerkt, dass er die Tür seiner Todeszelle von innen öffnen und gehen kann. Der Mensch muss selbst erkennen, dass er frei ist. Von außen kann ihn niemand befreien. Mit der Annahme der Freiheit ist die Annahme der Verantwortung für die eigenen Handlungen verbunden. Anton wird frei, weil er die Verantwortung für seine Handlungen übernimmt. Statt vor seiner Schuld zu fliehen, akzeptiert er sie. Im gleichen Moment, in dem Anton erkennt, dass er für seine Tat selbst verantwortlich ist, kann er die Todeszelle verlassen, die seinen Kreislauf der Schuld symbolisiert. Antons Kreislauf der Schuld entspricht der Kreislauf der Kriege, in dem sich die Menschheit befindet. Wie Antons Flucht vor der Schuld zur Wiederholung der Tat führt, führt die Verdrängung der Vergangenheit in der Gemeinschaft zu einem neuen Krieg. Würde in der Gemeinschaft Verantwortung übernommen, könnten die Menschen eine Wiederholung verhindern und den Kreislauf durchbrechen. Konkret kritisiert Hensel in Nachtfahrt die Weigerung der Deutschen nach 1945, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und ihre Haltung, sich nur als Opfer zu sehen. Viele wiesen ihre eigene Schuld von sich, indem sie allein Hitler oder höhere Mächte für die schrecklichen Ereignisse verantwortlich machten. Hensel verurteilt die Haltung, die sich in dem Satz „man kann nichts dafür, wenn man Wache hat“ (N, 158) ausdrückt: ich habe nur einen Befehl ausgeführt, ich bin nicht verantwortlich. Vor dem Hintergrund der Freiheit werden diese Ausflüchte bedeutungslos. Wenn der Mensch „immer mehr als zwei Mög38

Die Herleitung erinnert an Jean-Paul Sartres Begründung der Freiheit: „Wenn […] Gott nicht existiert, haben wir keine Werte und Anweisungen vor uns, die unser Verhalten rechtfertigen könnten. [...] Wir sind allein, ohne Entschuldigungen.“ Jean-Paul Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus (1946). In: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. In Zusammenarbeit mit dem Autor und Arlette Elkaim-Sartre, begr. von Traugott König, hg. von Vincent von Wroblewsky. Philosophische Schriften 4: Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays. 1943–1948. Deutsch von Werner Bökenkamp, Hans Georg Brenner u.a. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 145–192, hier S. 155.

Ein Aufschwung in das Phantastische? Zu Georg Hensels Roman ‚Nachtfahrt‘

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lichkeiten“ (N, 81) hat, ist er, wenn er sich für eine verwerfliche Tat entscheidet, für diese verantwortlich. „Es ging nicht anders“ (N, 123), so versucht Anton seine Tat vor einer russischen Hure zu rechtfertigen. Hensel lässt diese antworten: „Du können anders. Du sein Dreckschwein.“ (ebd.) Hensel stellt in Nachtfahrt demnach den Krieg nicht als etwas Gegebenes dar, sondern kritisiert die Haltung der Menschen, ihn als ein vorherbestimmtes, unausweichliches Schicksal hinzunehmen. Hensel nimmt in Nachtfahrt eine symbolisch überhöhende Gesamtdeutung der Geschichte vor und konstruiert eine höhere Ordnung. Er zeigt jedoch, dass die Überhöhung und der Rückgriff auf höhere Ordnungen nur Mittel sind, mit denen sich die Menschen ihrer Verantwortung für den Krieg entziehen. Die Darstellungsweise in Nachtfahrt unterstützt diese Deutung: Der erste Teil des Romans, in welchem der Kreislauf geschildert wird, besteht aus absurd-grotesken Bildern. Das siebte Kapitel, in dem Anton seine Freiheit erkennt, ist dagegen realistisch gestaltet. Dadurch entsteht der Eindruck, dieses Ereignis sei realer als jene, die Hensel im ersten Teil des Romans schildert. Im siebten Kapitel wird deutlich, dass der sinnlose Kreislauf des Lebens also bloß Phantasie, eine bequeme Illusion des Menschen ist. Allerdings behauptet der Ich-Erzähler in seinem Kommentar das genaue Gegenteil. Denn er erklärt, dass im ersten Teil des Romans eine reine „Deskription der Realität“ (N, 159) stattfinde, im siebten Kapitel jedoch „ein Aufschwung in das Phantastische“ (ebd.) erfolge. Nach seinem Kommentar ist der ewige Kreislauf von Krieg und Schuld real, die Akzeptanz des Geheimnisses dagegen ein übernatürlicher Akt – und die menschliche Freiheit eine Utopie. Was ist nun real, die Freiheit des Menschen oder seine Determination in einem Kreislauf? Der Roman gibt auf diese Frage keine direkte Antwort. Der dargestellte Gegensatz beruht allerdings auf der Überlegung, dass die Akzeptanz des Sinnlosen zur Freiheit und damit zum Ende des Kreislaufs, zum Ende der Wiederholungen führt. Die Wiederholungen im Roman vollziehen sich jedoch nie in der gleichen Weise. Jede Wiederholung stellt nur eine Variation der ersten Tat dar. Es ist nicht genau derselbe Krieg, den die Gemeinschaft beginnt, sondern die Variation eines Krieges. Anton wiederholt seine Tat, jedoch stellt diese eine Variation jener dar. Das heißt, es besteht zwischen jedem Ereignis und seiner Wiederholung eine Differenz. In dieser Differenz, dieser Lücke, könnte demnach die eigentliche, begrenzte Freiheit des Menschen liegen. Freiheit und Determination halten sich somit die Waage. Weder ist der Mensch völlig frei, noch gänzlich determiniert.39 Der Mensch ist in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt, durch physikalische Gesetze, durch Folgen vorheriger Ereignisse. Für seine eigenen Handlungen trägt er dennoch Verantwortung. Er verfügt über, wenn auch in begrenztem Maße, Handlungsfreiheit. Er hat meist die Möglichkeit, sich gegen das Böse und für das Gute zu entscheiden. Hensel blendet die Schuldfrage in Nachtfahrt weder aus noch beantwortet er sie ausweichend. Er zeigt, dass Iggs, der einzelne Mensch, genau in dem Maße, wie er sich 39

Damit ist der Mensch in Nachtfahrt nicht wie bei Sartre „dazu verurteilt, frei zu sein“. Ebd., S. 155.

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schuldig gemacht hat, die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg trägt. Er verweist darauf, dass es in der Geschichte auf den Einzelnen ankommt.

Resümee An Nachtfahrt wird deutlich, dass eine Vorverurteilung von Romanen, die den Krieg in einer Parabel oder mithilfe surrealer Beschreibungen verfremdet darstellen, nicht berechtigt ist. Mit seinem Roman zeigt Hensel: gerade auch unter Zuhilfenahme surrealer, symbolischer oder abstrakter Darstellungsweisen kann es gelingen, ein annähernd realistisches und kritisches Bild des Zweiten Weltkriegs zu zeichnen. Hensel benutzt den Krieg nicht nur, um eine „extreme und typische Situation des Lebens“40 zu beschreiben. Es geht in Nachtfahrt um den Krieg selbst, seine Bedingungen und Folgen, und insbesondere um die Verantwortung des Einzelnen für ihn. Die Beschreibung des Existentiellen, Einzelpersönlichen, Psychologischen führt in Nachtfahrt demnach nicht zu einem „Sieg des Partikularen über das Gesellschaftlich-Totale.“41 Vielmehr zeigt Hensel, dass über die Schilderung der Psyche, der existentiellen Lebensbedingungen eines Einzelnen, auch das Gesamtgesellschaftliche, das, was alle Menschen betrifft, erfasst werden kann. Hensel könnte allerdings vorgeworfen werden, dass es seinem Roman an Klarheit und Eindeutigkeit fehlt. Der Roman ist äußert unzugänglich, weder Inhalt noch Darstellungsweise lassen sich eindeutig bestimmen. Es ist nicht möglich, in Nachtfahrt zwischen der Beschreibung von Irrealität und Realität, Traum und Wirklichkeit oder Innenund Außenwelt zu unterscheiden. Auch auf die Frage, ob der Mensch frei und somit verantwortlich für seine Taten oder sein Leben determiniert ist, findet sich keine direkte Antwort. Nachtfahrt ist jedoch bewusst unzugänglich gestaltet. Die Rätselhaftigkeit, Mehrdeutigkeit ist eine Stellungnahme gegen alle vereinfachenden Deutungskonzepte, Ideologien, Religionen und Vorstellungen, die die Widersprüchlichkeit des Lebens ausblenden und suggerieren, es gäbe einen dem Ganzen übergeordneten Sinn. Hensel wendet sich mit Nachtfahrt gegen eine rein rationale, realistische Darstellung der Wirklichkeit, die eben der Komplexität und Irrationalität des Lebens nicht gerecht wird. Die bewusst rätselhafte Gestaltung des Romans kann zuletzt als eine Aufforderung an den Leser verstanden werden. Statt sich vereinfachenden Deutungskonzepten zu unterwerfen, soll er die Widersprüchlichkeit des Lebens akzeptieren – und damit auch die Notwendigkeit selbstständigen Denkens und eigenverantwortlichen Handelns.

40 41

Wagener: Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen (Anm. 5), S. 259f. Hermand: Darstellungen des Zweiten Weltkrieges (Anm. 7), S. 13.

LOTHAR PIKULIK

Vom Teufel geholt? Thomas Manns Doktor Faustus und die deutsche Katastrophe

„Man hat zu tun mit dem deutschen Schicksal und deutscher Schuld, wenn man als Deutscher geboren ist.“ Diese Bemerkung stammt aus Thomas Manns 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs veröffentlichtem Essay Deutschland und die Deutschen (XI, 1126)1 und ist ein Bekenntnis nicht nur zur Teilhabe an der deutschen Katastrophe und der mit ihr verbundenen Schuld, sondern bekundet auch die Bereitschaft, sich mit der schuldhaften Beteiligung auseinanderzusetzen. Der genannte Essay ist dabei nur eines von vielen Dokumenten, die dieses Vorhaben verwirklichen und lediglich der gedankliche Extrakt eines Vorhabens, dem Thomas Mann auf literarisch-dichterische Weise gerecht zu werden sucht, indem er deutsches Schicksal und deutsche Schuld im romanhaften Gleichnis eines traditionellen Mythos und einer zeitgenössischen Musikerkarriere gestaltet. Der Mythos ist die Figur des Doktor Faustus, den der Autor sowohl im Volksbuch des 16. Jahrhunderts wie auch in Goethes berühmter Dramatisierung dargestellt fand; die Existenz des Adrian Leverkühn geheißenen Musikers dagegen ist von ihm frei erfunden, trägt aber Züge Friedrich Nietzsches sowie einige an den Autor selbst erinnernde, ist also wie der ebenfalls problematische Aschenbach im Tod in Venedig ein in die Abgründe des Künstlerlebens verweisendes Selbstporträt. Von diesem Musiker sagt der Autor an anderer Stelle (in Die Entstehung des Doktor Faustus), er sei „sozusagen eine Idealgestalt, ein ‚Held unserer Zeit‘, ein Mensch, der das Leid der Epoche trägt.“ (XI, 203) Thomas Mann fügt bezeichnenderweise hinzu, dass er „nie eine Imagination, weder Thomas Buddenbrook, noch Hans Castorp, noch Aschenbach, 1

Alle Zitate aus den Werken Thomas Manns nach: Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Taschenbuchausgabe. Frankfurt/Main 1990. Im Folgenden im Text zitiert mit dem Kürzel des entsprechenden Bandes (römische Ziffer) und der Seitenzahl (arabische Ziffer). Die Zitate aus Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von seinem Freunde (VI) wurden anhand von Band 10.1 der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, hg. und textkritisch durchgesehen von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski, Frankfurt/Main 2007, überprüft.

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noch Joseph, noch den Goethe von Lotte in Weimar – ausgenommen vielleicht Hanno Buddenbrook – geliebt hätte wie ihn.“ (Ebd.) Schon in der vollständigen Überschrift des Romans taucht eine weitere Gestalt auf. Zum Titel Doktor Faustus tritt nämlich der Untertitel Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Wer ist dieser Freund? Er heißt Serenus Zeitblom, erscheint als leicht ironisiertes Gegenbild Leverkühns und wird von Thomas Mann als narrative Instanz eingesetzt, um den Roman auf zwei Zeitebenen spielen zu lassen, zum einen auf der Ebene von Leverkühns Leben, zum anderen auf der Ebene von Zeitbloms Erzählung. Die Ebenen spiegeln unterschiedliche Phasen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir erfahren, dass Leverkühn, 1885 geboren, im Jahre 1940 stirbt, nachdem er bereits zehn Jahre vorher einen Zusammenbruch erlitten hatte, der ihn in den Wahnsinn stürzte, – eine Anspielung auf das Schicksal Nietzsches. Drei Jahre später, genau am 23. Mai 1943, beginnt Serenus Zeitblom mit der Niederschrift der Lebensgeschichte seines Freundes, ebenjenem Tag, an welchem Thomas Mann ebenfalls mit der Niederschrift seines Romans beginnt.2 Umfasst nun die zweite Zeitebene die finalen Jahre des Zweiten Weltkriegs, so wird Zeitblom auch zum Chronisten der Niederlage und Katastrophe Deutschlands. Während er Leverkühns Geschichte erzählt, erweist er sich gleichzeitig als Zeuge des vor seinen Augen sich abspielenden Kriegsgeschehens. Zwar gibt er von diesem Geschehen kein exaktes, geschweige sachliches Bild, sondern eher einen von Bestürzung und Schrecken geprägten Erlebnisbericht, aber gerade darum verbindet sich seine Erschütterung über das Schicksal des Freundes mit der Erschütterung über das Schicksal Deutschlands, weshalb unschwer zu erkennen ist, was diese Konstruktion bezweckt: die Parallelisierung des Faustmenschen Leverkühn mit der Faustnation Deutschland. So wird der Gedanke nahegelegt, dass beide – Protagonist und Nation – einen Pakt mit dem Teufel eingehen und beide gleichfalls vom Teufel geholt werden. Ein ebensolcher Parallelismus besteht zwischen Leverkühn und Zeitblom freilich nicht, zumindest nicht dem äußeren Anschein nach. Zeitblom, der als Studienrat an einem Gymnasium die antiken Sprachen lehrt, ist ein Vertreter der Vernunft und des traditionellen Humanismus, er steht der Künstlernatur Leverkühns und vor allem deren dämonischen Versuchungen im Grunde völlig fern, auch wenn er die Musik des Freundes zu verstehen sucht und sie einfühlsam zu beschreiben weiß. Wenn er gleichwohl ein ebensolcher Vertreter der deutschen Nation ist wie Adrian Leverkühn, so ergibt sich eine Gemeinsamkeit, in der das Verschiedene auf zwiespältige Weise aufgehoben ist. In ebendieser zwiespältigen Weise hat Thomas Mann die Natur Deutschlands verstanden: Er erkannte in ihr einerseits die Anlage zu dem, was Zeitblom repräsentiert und sein Autor als Ausdruck von Bürgerlichkeit verstand: gesittetes Verhalten, Menschlichkeit, die Einhaltung von Maß und Mitte. Andererseits entdeckte er in der Natur der Deutschen eine fatale Neigung, sich vom Menschlichen, ja von der Lebenswirklichkeit aus2

Vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1940–1943. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1982, S. 579.

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zuschließen und mit Tod und Teufel zu sympathisieren – oder, wie es schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) heißt, sich dem „faustischen Duft, Kreuz, Tod und Gruft“ (XII, 541) zu ergeben. Wenn sich dieser Zwiespalt in Leverkühn und Zeitblom personifiziert, so exemplifiziert sich in beiden Figuren freilich nicht nur die Janusköpfigkeit Deutschlands, sondern auch die Doppelnatur Thomas Manns. Denn er selbst sah beide Seiten in sich verkörpert, den Bürger wie den Künstler, die Sympathie mit dem Leben wie die Sympathie mit dem Tode, die Humanität, die in den Grenzen der Vernunft bleibt, wie das faustische Gemüt, das diese Grenzen überschreitet und nach der Inspiration durch das Dionysische und Diabolische Ausschau hält. Thomas Mann konstatiert dementsprechend (wiederum in der Entstehung des Doktor Faustus), dass zwischen Leverkühn und Zeitblom eine geheime Identität bestehe (XI, 204), was wohl zugleich meint, dass diese Identität einige Züge seiner eigenen trägt. Es ist ferner offensichtlich, dass beide Figuren schon weit vorher in seinem Werk präfiguriert sind, Zeitblom allerdings nicht in einer ausgeformten Gestalt, sondern nur in den lebensfreundlichen und gegenüber den Betrachtungen eines Unpolitischen gewandelten Ansichten, die der Autor seit seinem Essay Von Deutscher Republik (1922) verlautbarte; Leverkühn umso ausgeprägter in manchen Zügen der frühen Künstlergestalten wie zum Beispiel dem schon genannten Gustav Aschenbach im Tod in Venedig. Zudem verweist Thomas Mann selber darauf, dass er schon früh die Absicht hatte, den Fauststoff zu gestalten. Bereits 1904 hatte er dazu einen ‚Drei-Zeilen-Plan‘ entworfen, an den er sich nun, wie er im Tagebuch, datiert auf den 16. März 1943, vermerkt, wieder erinnert.3 Jetzt liest er auch eingehend das alte Volksbuch vom Dr. Faust, um sich für seinen Roman nicht nur Züge der Figur, sondern auch die altertümliche Sprache aus der Zeit der Reformation anzueignen. Er wird diese Sprache seinem Helden besonders in jener Situation am Ende der Erzählung in den Mund legen, in der Leverkühn Freunde und Bekannte bei sich versammelt, um mit seiner letzten Komposition, der symphonischen Kantate Dr. Fausti Weheklag, Abschied von ihnen zu nehmen, weil er weiß, dass sich die Frist, die ihm der Teufel gegeben hat, ihrem Ende nähert und er nun zur Hölle fahren muss. Im Faustbuch ist diese Situation vorgebildet: Auch dort versammelt der Magier in der Stunde seines Todes seine Freunde zu einem letzten gemeinsamen Nachtmahl, um sich von ihnen mit der „Weheklag von der Höllen und ihrer unaussprechlichen Pein und Qual“4 zu verabschieden. Aus dem Volksbuch stammt ferner das Bekenntnis Fausts: „Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ“ (VI, 646), das Leverkühn zum Generalthema seiner Klagekantate macht.5 Man darf vermuten, dass Thomas Mann dieser Satz unter anderem deshalb wichtig war, weil hier die Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ in einer von ihm als ‚dialektisch‘ verstandenen Einheit zusammentre3 4 5

Vgl. ebd., S. 551 sowie die Anmerkung auf S. 977. Die deutschen Volksbücher. Historia von D. Johann Fausten/ dem weltbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Hg. v. Richard Benz. Jena 1924, S. 191. Vgl. ebd., S. 196.

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ten. Diese Dialektik des Guten und Bösen ist ein zentraler Gedanke des Romans, der nicht nur das Schicksal Leverkühns, sondern auch dasjenige Deutschlands erklären soll, worauf ich an späterer Stelle vertiefend eingehen werde. Neben vielen anderen Quellen, die Thomas Mann in seinen Roman, wie er selbst sagt, nach dem Verfahren der Montage (XI, 165) integrierte, hat er sich bekanntlich der Hilfe und des Rats Theodor W. Adornos versichert, der seinerzeit ebenfalls im kalifornischen Exil lebte. Adorno lieferte ihm die musiktheoretischen Kenntnisse, die er brauchte, um seinen Helden, den er ja als ‚Tonsetzer‘, als Komponisten konzipiert hatte, authentisch darstellen zu können. Dazu gehörte besonders die Theorie der Zwölftonmusik von Arnold Schönberg, die nun, vermittelt durch Adorno, zu einer Gabe des Teufels wird. Warum Thomas Mann aber als Faustgestalt überhaupt einen Musiker wählt, hängt wiederum mit seinem Verständnis von der Natur des Dämonischen wie von Deutschland und den Deutschen zusammen. So heißt es in dem späteren Essay: Es ist ein großer Fehler der Sage und des Gedichts, daß sie Faust nicht mit der Musik in Verbindung bringen. Er müßte musikalisch, müßte Musiker sein. Die Musik ist dämonisches Gebiet, – Sören Kierkegaard, ein großer Christ, hat das am überzeugendsten ausgeführt in seinem schmerzlich-enthusiastischen Aufsatz über Mozarts ‚Don Juan‘. Sie ist christliche Kunst mit negativem Vorzeichen. Sie ist berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich, an beschwörenden, inkantativen Gesten reich, Zahlenzauber, die der Wirklichkeit fernste und zugleich die passionierteste der Künste, abstrakt und mystisch. Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein, so müßte er musikalisch sein; denn abstrakt und mystisch, das heißt musikalisch, ist das Verhältnis der Deutschen zur Welt. (XI, 113 ff.)

Nun hat ja Thomas Mann in der Tat das, was seiner Meinung nach ein Versäumnis des Volksbuches ist, nachgeholt und seinen Faust zum Musiker gemacht. Allerdings will er am Beispiel der Musik zugleich darstellen, was in der Moderne zu einem Problem nicht nur dieser speziellen Kunstgattung, sondern schlechthin aller Kunst geworden ist. Die Kunst, heißt es im Roman, ertrage „Schein und Spiel nicht mehr, die Fiktion, die Selbstherrlichkeit der Form, die die Leidenschaften, das Menschenleid zensuriert, in Rollen aufteilt, in Bilder überträgt. Zulässig ist allein noch der nicht fiktive, der nicht verspielte, der unverstellte und unverklärte Ausdruck des Leides in seinem realen Augenblick.“ (VI, 321) Das Problem bestehe vor allem aber darin, dass die Kunst vom Baume der Erkenntnis gekostet und damit ihre Unschuld verloren habe. Gemeint ist die intellektuelle, zur Kritik gesteigerte ‚Hochzüchtung des Bewusstseins‘, die sich sowohl vom naiven Leben wie vom naiven Glauben abgekoppelt hat und Gefahr läuft, von steriler Überreflektiertheit und Zweifelsucht zersetzt zu werden. Es ist bezeichnend, dass Leverkühn als Beleg für diese Krise der Kunst den berühmten Aufsatz Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater anführt, handelt doch ebendieser Aufsatz vom Verlust der Unschuld und Grazie durch die Reflexion, um zugleich die Marionette zum Prototyp eines bewusstlosen, also unreflektierten Lebens und Handelns, zumal des künstlerischen Handelns, zu erklären. Worin bestehen nun die Lösung des Problems und der Ausweg aus der Krise? Hier knüpft Thomas Mann nicht nur an Kleist, sondern auch an einen Gedanken an, den er

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schon in der frühen Novelle Der Tod in Venedig vorformulierte: Auch dort ist die Rede vom Leiden des Künstlers an einem Zuviel an Reflexion, deren Empfinden sich als „Erkenntnisekel“6 darstellt und darum der bewussten Verneinung anheimfällt. Es hilft Aschenbach freilich nicht, dass er sich gewissermaßen autosuggestiv eine Art neuartiger Naivität, nämlich das „Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit“7 (VIII, 455) zuschreibt, denn Ungenügen treibt ihn weg von seinem Werk und in die Ferne. Er reist in unbestimmter, aber ahnungsvoller Sehnsucht nach Venedig, wo ihn die Liebe zum anmutigen Polenjungen Tadzio ergreift und beglückt, muss aber, da er sich zugleich in Rausch und Trunkenheit verliert, die Erfahrung machen, dass diese Wende nur zum „Abgrund“ (VIII, 522) und in den Tod führt. Jener verhängnisvolle Zusammenhang zwischen dem Wunsch, im Geiste neuer Ursprünglichkeit wiedergeboren zu werden, und radikalem Scheitern wird von Thomas Mann mehr als 30 Jahre später in seinem Roman Doktor Faustus wieder aufgegriffen, nur dass es diesmal nicht zu einem ‚Wunder‘, sondern einem Teufelspakt kommt und die Fahrt zum Abgrund eine Höllenfahrt wird. Auch hier wird das Verhängnis durch den Eros besiegelt, denn Leverkühn verfällt dem Dämon nicht durch die Unterschrift mit seinem Blut, sondern durch die syphilitische Ansteckung, die er sich beim Bordellbesuch zuzieht (eine weitere Anspielung auf das Schicksal Nietzsches) und die ihm in der Folge eine krankhafte, aber äußerst kreative Tätigkeit seines Cerebrums beschert. Wird sein Hirn jedoch affiziert, geschieht dies nicht bloß um der Mobilisierung seiner intellektuellen Kräfte willen. Die Teufelsgabe setzt Leverkühn vielmehr in den Stand, das Übel der sterilen Reflexion zu überwinden und zu einem revitalisierten Kunstsinn ‚durchzubrechen‘. Was im Tod in Venedig Wiedergeburt genannt wurde, heißt jetzt in der Tat „Durchbruch“, der Wille zum Durchbruch, geradezu „Durchbruchsbegierde“ (VI, 411), und diese Begierde scheut auch nicht, wie schon im Falle des Vorgängers Aschenbach, den Rausch und die Trunkenheit. Das Muster für die Überwindung der Reflexion liefert wieder Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater, wo es heißt, das Bewusstsein müsse durch ein Unendliches gegangen sein, damit Grazie und Unschuld sich wieder einfänden (vgl. VI, 41 ff.). Von Anmut und Naivität kann bei dem von Leverkühn angestrebten Ziel jedoch keine Rede sein. Der fortschreitende Regress führt in des Musikers diabolisch inspirierter Kunsttätigkeit nicht nur hinter die Reflexion, sondern auch hinter die Zivilisation zurück, und als künstlerische Ausdrucksmittel werden bei ihm zunehmend Elemente des Primitiven, ja Barbarischen erkennbar. Dabei offenbart der Begriff des Durchbruchs neben der ästhetischen zugleich eine entschieden politische Bedeutung. 6

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Diesen von Nietzsche stammenden Begriff verwendet Thomas Mann in Tonio Kröger (VIII, 300). Er bezeichnet eine pathologische Reaktion auf die von Tonio genannte „psychologische Hellsicht“ (ebd.) und trifft ebenso auf Aschenbach zu, dessen Erzählung vom ‚Elenden‘ dem „Ausbruch des Ekels gegen den unanständigen Psychologismus der Zeit“ (VIII, 455) entspricht. Wobei Thomas Mann sich hier selbst zitiert, denn er übernimmt diese Wendung aus seinem Drama Fiorenza (1905).

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Zwischen Kultur und Politik hat der spätere Thomas Mann immer eine Verbindung, offensichtlich auch eine wechselseitige Spiegelung gesehen,8 und so nimmt es nicht wunder, dass im Doktor Faustus eine Brücke vom Kunst- und Kulturproblem Leverkühns zu der politischen Situation der imperialistisch auftrumpfenden und kriegführenden deutschen Nation geschlagen wird. Dergestalt wird erklärt, dass der sogenannte ‚Durchbruch‘ nicht nur vom Künstler im Ästhetischen, sondern ebenso von der deutschen Machtpolitik in nationaler und internationaler Sphäre betrieben werde. Die Rede ist von Deutschlands „Durchbruch zur Weltmacht“ (VI, 408), über den jedoch geurteilt wird, er wurzele im Grunde in einer psychologischen Motivation, gehe es dabei doch um die Befreiung aus einer seelisch empfundenen „Einsamkeit“, welcher sich die Deutschen „leidend bewußt“ seien, sodass der „Durchbruch zur Welt“ in Wahrheit aus „Sehnsucht“ entspringe und „Durst nach Vereinigung“ sei (VI, 408f.). Hier klingt insbesondere Thomas Manns Einschätzung der Beziehung zwischen deutscher Politik und deutscher Romantik an und darüber hinaus sein Hinweis auf die Schlussfolgerung, dass die „Durchbruchsbegierde“ der Deutschen darauf ziele, das Prinzip der Individualität zugunsten des Ideals völkischer Gemeinschaft zu überwinden. Dieser Beziehungskomplex samt vielfacher Erweiterungen, die alle in Richtung eines fatalen Regresses zielen, wird im Roman auch gesprächsweise behandelt: Der Erzähler Zeitblom berichtet, dass sich die Ideologie des Nationalsozialismus, ja auch die nihilistische Lust zum Kriege schon früh in gewissen intellektuellen und künstlerisch engagierten Zirkeln Deutschlands anbahne. Der Roman greift dabei sogar in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, und es wird deutlich, dass die in diesen Zirkeln stattfindenden, zumeist doktrinären Debatten den gedanklichen Nährboden für beide Kriege bilden. Exemplifiziert wird dies vor allem anhand dreier zeitlich auseinanderliegender Diskussionsrunden, ihnen widmet der Roman verhältnismäßig viel Raum. Da wird zum einen von gewissen Disputen der akademischen Jugend berichtet, die noch in die Leipziger Universitätszeit Leverkühns, das heißt in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts fallen. Der spätere Musikkünstler studiert zunächst Theologie (nicht ohne bereits Fühlung mit den dämonologischen Seiten des Faches aufzunehmen), und wenn er mit seinen Studienkollegen auf ausgedehnten Wanderungen, an denen auch der NichtTheologe Zeitblom teilnimmt, über Gott und die Welt diskutiert, wird deutlich, dass hier auch Gedankenexperimente politischer Art lanciert werden. Zur Sprache kommen unter anderem das Schicksal und die Zukunft Deutschlands, wobei man sich in diesen Punkten nicht einig ist, aber darin übereinstimmt, dass für die kommende Zeit eine Erneuerung anzustreben sei. Es gelte, heißt es, von einer „überlebten Zivilisation“ die „Fesseln“ abzuschütteln (VI, 159) und neue „Bindungen“ (VI, 165) einzugehen. Die Wahl bestehe zwischen einer sozialen und einer nationalen Bindung, zwischen einem aufgeklärten, rationalem Denken entstammenden Sozialismus und einem romantisch gefärbten Nationalismus, der auf Volkstum und völkischem Geist beruht. Wortführer 8

Vgl. den Essay Kultur und Politik (1939).

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letzterer Alternative ist einer, der sinnigerweise ‚Deutschlin‘ heißt und die Idee der völkischen Erneuerung, seinem Namen alle Ehre bereitend, sogar mit der Vorstellung einer „Wiedergeburt“ (VI, 159), jenem Begriff also, der schon frühzeitig zum Schlüsselbegriff der Krisenbewältigung im Werke Thomas Manns avancierte, verknüpft. Was als Moment der Krise im Gespräch der jungen Theologen benannt wird, ist denn auch genau das, was nach Ansicht Thomas Manns die Krise der Kunst und des Künstlers bestimmt und im Doktor Faustus anhand von Kleists Über das Marionettentheater dargelegt wird, nämlich der Reflexionsgrad des Bewusstseins, welcher ein einfaches und natürliches Handeln und Gestalten verhindere. „Es ist doch so“, heißt es im Gespräch der Studenten, daß, seit das unmittelbare Seinsvertrauen abhanden gekommen ist, das in früheren Zeiten das Ergebnis des Hineingestelltseins in vorgefundene Ganzheitsordnungen war, ich meine sakral imprägnierte Ordnungen, die eine bestimmte Intentionalität auf die geoffenbarte Wahrheit hatten... daß seit ihrem Zerfall und dem Entstehen der modernen Gesellschaft unser Verhältnis zu Menschen und Dingen unendlich reflektiert und kompliziert geworden ist und es nichts als Problematik und Ungewissheit mehr gibt, so daß der Entwurf auf die Wahrheit in Resignation und Verzweiflung zu enden droht. Die Ausschau aus der Zersetzung nach Ansätzen zu neuen Ordnungskräften ist allgemein, wenn man auch zugeben kann, daß sie bei uns Deutschen besonders ernst und dringlich ist, und daß die anderen nicht so an dem geschichtlichen Schicksal leiden, entweder weil sie stärker, oder weil sie stumpfer sind...(VI, 166f.)

Bleibt zu sagen, dass dieses deutsche „Trachten nach neuen Ganzheitsordnungen“ (VI, 167) nicht etwa als Hinwendung zu Einfachheit und Natürlichkeit, Unschuld und Gesundheit verstanden wird. Vielmehr wird erklärt, dass Deutschland im Begriff sei, sich einem „Mythos von zweifelhafter Echtheit und unzweifelhafter Hoffart zu verschreiben“ (ebd.), ja wenn der Begriff Hoffart auf die Versuchung des Doktor Faustus anspielt, so ist damit nichts anderes gemeint, als dass der genannte mythische Standpunkt eine „entschieden dämonisch bedrohte Position“ (ebd.) sei. Werden die ebenso bedrohlichen wie neuen Ansichten unter den jungen Studenten noch im Dialog und kontrovers abgehandelt, so erfahren sie in dem zweiten hier zu erwähnenden Debattierkreis eine monologische Zuspitzung und Radikalisierung. Der Schauplatz hat sich nun nach München verlagert, die Romanhandlung hat die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreicht und die auftretenden Figuren sind vor allem Honoratioren, Gelehrte und Künstler der München-Schwabinger Szene. Zeitblom berichtet unter anderem von Zusammenkünften im Salon eines wohlbetuchten Ehepaars namens Schlaginhaufen, wo der Privatgelehrte Dr. Chaim Breisacher das große Wort führt, und zwar solo und ohne ernsthafte Einwände oder Widerspruch der Zuhörer. Ursache zum Widerspruch gäbe es indes genug, denn Breisacher treibt ein provozierend gefährliches Spiel, indem er die gesamte moderne Kultur in Bausch und Bogen als Verfallserscheinung verurteilt, die Vitalität des atavistisch Ursprünglichen jedoch gegen diese ausspielt. Wie er radikal jedweden Fortschritt negiert, so plädiert er für einen Regress in die vorzivilisatorische Ära, in der man, wie er konstatiert, noch einer „metaphysischen Volkskraft“ (VI, 374) begegne und wo sich in Kulthandlungen wie dem alttestamentari-

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schen Schlachtopfer die Verbindung von „Volk und Blut“ (VI, 375) manifestiere. Es kann nicht überraschen, dass Zeitblom, der, seiner Chronistenpflicht entsprechend, auch diesen Auftritt getreu aufzeichnet, von Breisachers Reden zum Teil komisch, manchmal aber auch peinlich berührt ist, denn er spürt, dass ihm hier der Geist der „AntiHumanität“ (VI, 378) entgegenweht. Er nimmt sie deshalb zugleich sehr ernst, bemerkt er doch, dass hier eine der Zeit eigene Tendenz zum Vorschein kommt: „Aber seine [Breisachers] witternde Fühlung mit der geistigen Bewegung der Zeit, seine Nase für ihre neuesten Willensmeinungen habe ich nie geleugnet, und manches davon trat mir in seiner Person und seinem Salongespräch zu allererst entgegen.“ (VI, 371) Wo Breisacher mit seinen ebenso umstürzlerischen wie rückwärtsgewandten Anschauungen im Kontext der Zeit steht, darüber kann man nicht im Zweifel sein: Unmissverständlich ist er ein Vertreter der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘ und damit einer Ideologie, die lange vor 1933 aufkam und bereits frühzeitig dem Nationalsozialismus in die Karten spielte. Verstörend wirkt freilich, dass Breisacher Jude ist, wie nicht nur sein Vorname ‚Chaim‘ dokumentiert.9 Ein Jude als Sprachrohr faschistoider Tendenzen? Dieser Doktrinär repräsentiert immerhin mit seiner „dialektischen Redefertigkeit“ (VI, 370) den hohen Grad jüdischer Intelligenz, zumal den Scharf- und Spürsinn für zeitgenössische Tendenzen. So meint Zeitblom: „Kann man es übrigens dem jüdischen Geist verargen, wenn seine hellhörige Empfänglichkeit für das Kommende, Neue sich auch in vertrackten Situationen bewährt, wo das Avantgardistische mit dem Reaktionären zusammenfällt?“ (VI, 378)10 Wenn dieser Geist zunächst vereinzelt spricht, so bleibt er doch in den Folgejahren nicht allein, und Zeitblom wird bald schon viel tiefer erschrecken über das, was er zu hören bekommt. Denn nirgendwo kommt das Paradox von avantgardistischem und reaktionärem Denken drastischer und bedrohlicher zum Ausdruck als in der dritten jener vielsagenden Diskussionsrunden, die den künftigen Zeitgeist beschwören. Wieder befinden wir uns im Schwabinger Milieu, wo es die Wohnung eines Künstlers und Kunstsammlers namens Sixtus Kridwiß ist, in der sich sowohl Gelehrte wie Schöngeister versammeln. Die Zeit ist erneut fortgeschritten, die deutsche Gesellschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik angelangt. Was aber unisono von allen Beteiligten zur Sprache gebracht wird, ist gerade nicht die Genugtuung darüber, eine demokratische Verfassung mit Bürgerrechten und Bürger9

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Das Modell der Figur ist der jüdische Kulturhistoriker und -philosoph Oskar Goldberg (1885– 1953), dessen Buch Die Wirklichkeit der Hebräer von Thomas Mann als das Werk eines „typisch jüdischen Fascisten“ empfunden wurde. Vgl. Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Kommentar [von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski]. In: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 10.2. Hg. v. denselben. Frankfurt/Main 2007, S. 614. Breisacher ist so wenig wie andere jüdische Figuren in Thomas Manns Werk ein Beleg für dessen angeblichen Antisemitismus. Dass es nicht einleuchtet, dem Autor eine solche Haltung zu unterstellen, ist überzeugend dargestellt bei Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie. München 1999, S. 205ff. und 454ff. Kurzke thematisiert hier auch die Präsentation Goldbergs bzw. Breisachers.

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freiheiten erreicht zu haben, sondern im Gegenteil eine antidemokratische und antibürgerliche Verurteilung entsprechender Werte wie „Bildung, Aufklärung und Humanität“ (VI, 485). Geliebäugelt wird hier mit Diktatur und Gewalt, und was als willkommenes Bild der Zukunft an die Wand gemalt wird, ist nichts anderes als „die Beschreibung einer heraufziehenden Barbarei“ (VI, 486). Die Redner des Kridwiß-Kreises, unter ihnen übrigens auch Breisacher, berufen sich vor allem auf ein Buch von Georges Sorel, Réflexions sur la violence, das bereits 1908 erschienen war und jetzt als theoretische Grundlage für die offen bekundete Sehnsucht nach Krieg und der Auslöschung des Individuums durch einen Massenmythos herangezogen wird. Von diesem Buch heißt es: Seine unerbittliche Vorhersage von Krieg und Anarchie, seine Kennzeichnung Europas als des Bodens der kriegerischen Kataklysmen, seine Lehre, daß die Völker dieses Erdteils sich immer nur in der einen Idee vereinigen könnten: Krieg zu führen – dies alles berechtigte dazu, es das Buch der Epoche zu nennen. Was noch mehr dazu berechtigte, war seine Einsicht und Verkündigung, daß im Zeitalter der Massen die parlamentarische Diskussion sich zum Mittel politischer Willensbildung als gänzlich ungeeignet erweisen müsse; daß an ihre Stelle in Zukunft die Versorgung der Massen mit mythischen Fiktionen zu treten habe, die als primitive Schlachtrufe die politischen Energien zu entfesseln, zu aktivieren bestimmt seien. (VI, 486)

Dass diese Ideen nicht nur eine „intentionelle Re-Barbarisierung“ (VI, 491) heraufbeschwören, sondern, im Kontext des Doktor Faustus, auch als Teufelswerk verstanden werden wollen, wird man mit Recht vermuten dürfen. Ebendeshalb werden sie auch zu den Kunstbestrebungen des faustischen Musikers Adrian Leverkühn in Parallele gesetzt. Ausdrücklich betont Zeitblom, dass die Beratungen im Kridwiß-Kreis nichts anderes bedeuten als „den kaltschnäuzig-intellektuellen Kommentar“ (VI, 493) zu dem Kunstwerk, das damals gerade unter den Händen seines Freundes entsteht, ja dass Leverkühns Komposition jene theoretischen Erörterungen „auf höherer, schöpferischer Ebene bestätigte und verwirklichte...“ (VI, 470). Gemeint ist das Oratorium Apocalipsis cum figuris, das mit seiner Endzeitthematik bereits zur Kriegs- und Auslöschungsvision der Sorel’schen Spekulationen in Beziehung tritt. Insbesondere wird diese Beziehung in der kompositorischen Struktur des Leverkühn’schen Musikwerks greifbar: Denn wenn es einerseits aus „blutloser Intellektualität“ (VI, 496) heraus geschaffen ist, die ihm eine prä-klassische, an polyphonischer Sachlichkeit orientierte Formstrenge auferlegt, so zeigt es andererseits die Neigung, aus der strengen Form aus- und zu einem „blutigen Barbarismus“ (ebd.) durchzubrechen. Für diese dem „Ästhetizismus“ assoziierte „Barbarei“ (VI, 495) führt Zeitblom, der Leverkühns Schaffen einfühlsam versteht, aber davor auch erschrickt, folgendes Beispiel an: Wir wissen alle, daß es das erste Anliegen, die früheste Errungenschaft der Tonkunst war, den Klang zu denaturieren, den Gesang, der ursprünglich-urmenschlich ein Heulen über mehrere Tonstufen hinweg gewesen sein muß, auf einer einzigen festzuhalten und dem Chaos das Tonsystem abzugewinnen. Gewiß und selbstverständlich: eine normierende Maß-Ordnung der Klänge war Voraussetzung und erste Selbstbekundung dessen, was wir unter Musik verstehen. In ihr stehengeblieben, sozusagen als ein naturalistischer Atavismus, als ein barbarisches Ru-

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Lothar Pikulik diment aus vormusikalischen Tagen, ist der Gleitklang, das Glissando, – ein aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht zu behandelndes Mittel, dem ich immer eine anti-kulturelle, ja anti-humane Dämonie abzuhören geneigt war. (VI, 496f.)

Das Glissando kommt in Leverkühns Werk sowohl instrumental wie vokal zur Geltung. Es bringt vor allem das markerschütternde Heulen der von den Höllenmächten gemordeten Menschheit zum Ausdruck. Die durch den Teufelspakt besiegelte Höllenfahrt muss Leverkühn schließlich selber antreten. Wie schon erwähnt, gestaltet Thomas Mann dieses Ende der 24jährigen Frist nach dem Muster des alten Volksbuches. Der Musiker versammelt bei sich einen Kreis von Freunden und Bekannten, um ihnen sein Leid zu klagen und sich mit dieser Klage von ihnen zu verabschieden. Seine Absicht ist eigentlich, den geladenen Gästen einen Klavierauszug der zu diesem Zweck geschaffenen Kantate Dr. Fausti Weheklag vorzutragen, in der noch einmal, wie Zeitblom berichtet, ein ‚Durchbruch‘ geschieht, hier verstanden als dialektisches Umschlagen von „kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut“ (VI, 643). Zu verstehen sei das Lamento der Kantate zudem als „Zurücknahme“ des Liedes an die Freude aus Beethovens Neunter Symphonie (VI, 649). Aber zu dem musikalischen Vortrag kommt es nicht, denn Leverkühn bricht, nachdem er einige stark dissonierende Akkorde angeschlagen hat, zusammen und wird aus der zehnjährigen Nacht des Wahnsinns, in die er nun eingetreten ist, nicht mehr erwachen. Was er bis dahin als Klage vorbringen konnte, war lediglich ein verbales, in der altertümlichen Sprache des Volksbuches vorgetragenes Not- und Schuldbekenntnis. Er gesteht, in sündiger Hoffart gehandelt und schon von Jugend auf nach dem Satan getrachtet zu haben, um die Schwierigkeiten, vor die sich gegenwärtig die Kunst gestellt sieht, zu meistern: Es ist die Zeit, wo auf fromme, nüchterne Weise, mit rechten Dingen, kein Werk mehr zu tun und die Kunst unmöglich geworden ist ohne Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel... Ja und ja, liebe Gesellen, daß die Kunst stockt und zu schwer worden ist und sich selbsten verhöhnt, daß alles zu schwer worden ist und Gottes armer Mensch nicht mehr aus und ein weiß in seiner Not, das ist wohl Schuld der Zeit. Lädt aber einer den Teufel zu Gast, um drüber hinweg und zum Durchbruch zu kommen, der zeiht sein Seel und nimmt die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals, daß er verdammt ist. (VI, 662)

Merkwürdig ist hier das Wort von der „Schuld der Zeit“, weist es doch der Zeit die Verantwortung dafür zu, dass Kunst und Künstler in die Krise geraten sind und den Teufel zu Hilfe rufen. Gesagt sein soll aber damit nicht, dass der Künstler seinerseits schuldlos ist. Seine Schuld besteht eben darin, dass er den Teufel zu Hilfe ruft, oder, wie Leverkühn sagt, zu Gast bittet. Merkwürdig ist sodann, dass Leverkühn sich in seiner Verdammnis zum Opfer stilisiert, denn nichts anderes bedeutet es, wenn er sagt, dass er die Schuld der Zeit „auf den eigenen Hals“ nehme. Man könnte meinen, er erhöhe seine Verdammnis, indem er sie in die Nähe eines Christusschicksals rückt, sein Leiden also als Stellvertretersühne deutet. Und in der Tat, Zeitblom weist darauf hin, dass das Aussehen seines Freundes zuletzt eine „Verfremdung“ erfahren habe, die dem

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„Antlitz etwas Vergeistigt-Leidendes, ja Christushaftes verlieh.“ (VI, 640) Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass Thomas Mann den Künstler gern als stellvertretend Leidenden verstanden hat, wie ja auch hier sein Bemühen deutlich wird, das Künstlerschicksal zur Passion zu verklären. Aber es kann kein Gedanke daran sein, dass Leverkühn wirklich eine Heilsfunktion zu erfüllen habe. Er bleibt ein Verdammter und kein Erlöser, im höchsten Maße der Erlösung bedürftig. Darf er aber überhaupt auf Gnade hoffen, so gibt es dafür nur ein einziges, schwaches Zeichen: das ‚hohe g‘ eines Cellos, mit dem die Kantate Dr. Fausti Weheklag als letztem „verschwebenden Laut“ (VI, 651) endet. Daran, dass sich die Faustfigur Thomas Manns persönlich schuldig macht, besteht somit kein Zweifel. Und ebenfalls kein Zweifel besteht daran, dass auch die Faustnation Deutschland von Thomas Mann für schuldig befunden wird, ja dass er sich selbst mit dieser Schuld identifiziert. Es gab seinerzeit im amerikanischen Exil unter den deutschen Emigranten eine Diskussion darüber, ob vom dämonischen Nazideutschland nicht ein anderes, besseres, ja gutes Deutschland zu unterscheiden sei, sodass man die Schuld am Krieg und an der Judenvernichtung allein Hitler und seinen Schergen zuschreiben, das deutsche Volk jedoch exkulpieren könne. Exponierter Vertreter dieser Unterscheidung war Bertolt Brecht, ihr Gegner Thomas Mann, der die Ansicht vertrat, dass Deutschland für die Katastrophe als ganze Nation hafte. Die Debatte führte zum Zerwürfnis, als am 1. August 1943 von mehreren Emigranten eine Erklärung beschlossen wurde, von der sich anderntags Thomas Mann durch Zurückziehen seiner Unterschrift distanzierte, sodass die Veröffentlichung nicht zustande kam. Die Erklärung, die sich auf eine Meldung aus der Sowjetunion bezog, sollte folgenden Wortlaut haben: Wir begrüßen die Kundgebung der deutschen Kriegsgefangenen und Emigranten in der Sowjetunion, die das deutsche Volk aufrufen, seine Bedrücker zu bedingungsloser Kapitulation zu zwingen und eine starke Demokratie in Deutschland zu erkämpfen. Auch wir halten es für notwendig, scharf zu unterscheiden zwischen dem Hitlerregime und den ihm verbundenen Schichten einerseits und dem deutschen Volk andererseits. Wir sind überzeugt, daß es ohne eine starke deutsche Demokratie einen dauernden Weltfrieden nicht geben kann.11

Abgesehen davon, dass Thomas Mann die Möglichkeit einer demokratischen Erneuerung Deutschlands sehr viel pessimistischer einschätzte, als es diese Erklärung zum Ausdruck bringt, nahm er vor allem Anstoß daran, wie hier das Verhältnis zwischen Hitlerregime und deutschem Volk dargestellt wird. Da sollten die Nazis als Täter, die Deutschen als Opfer, die einen als Unterdrücker, die anderen als Unterdrückte gesehen werden. Da konnte es den Anschein haben, als seien Krieg und Verbrechen etwas der deutschen „Volksnatur durchaus Fremdes, Aufgezwungenes und in ihr Wurzelloses“ (VI, 639) gewesen, während Thomas Mann geneigt war anzunehmen, dass die Wurzel des Übels durchaus in ebendieser Volksnatur gelegen habe. Sein Roman Doktor Faustus verfestigt diese Annahme zur Gewissheit. Als Serenus Zeitblom mit seiner Erzählung sowohl am Ende des Krieges wie am Schicksalsende 11

Zitiert nach Klaus Harpprecht: Thomas Mann. Eine Biographie. Hamburg 1995, S. 1356.

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Leverkühns angekommen ist, erwähnt er auch das Entsetzen, das mit der Befreiung und Öffnung der Vernichtungslager durch die Alliierten zutage trat. Ausgerechnet in Buchenwald lässt ein transatlantischer General die Bevölkerung von Weimar, der Goethestadt, vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers „vorbeidefilieren“ und erklärt „diese Bürger, die in scheinbaren Ehren ihren Geschäften nachgingen und nichts zu wissen versuchten, [...] für mitschuldig an den nun bloßgelegten Greueln“ (VI, 637). Noch deutlicher wird Zeitblom, wenn er an die Offenlegung dieser Verbrechen folgende Gedanken knüpft, die eine Kundgabe tiefster Verzweiflung wie des hoffnungslosesten Pessimismus sind: Man nenne es finstere Möglichkeiten der Menschennatur überhaupt, die hier zutage kommen – deutsche Menschen, Zehntausende, Hunderttausende, sind es nun einmal, die verübt haben, wovor die Menschheit schaudert, und was nur immer auf deutsch gelebt hat, steht da als ein Abscheu und als Beispiel des Bösen. Wie wird es sein, einem Volke anzugehören, dessen Geschichte dies gräßliche Mißlingen in sich trug, einem an sich selber irre gewordenen, seelisch abgebrannten Volk, das eingestandenermaßen daran verzweifelt, sich selbst zu regieren, und es noch für das Beste hält, zur Kolonie fremder Mächte zu werden; einem Volk, das mit sich selbst eingeschlossen wird leben müssen wie die Juden des Ghetto, weil ein ringsum furchtbar aufgelaufener Haß ihm nicht erlauben wird, aus seinen Grenzen hervorzukommen – ein Volk, das sich nicht sehen lassen kann? (VI, 638)

Dies ist eine unnachsichtige Schuldigsprechung und Verurteilung, aber auch eine Selbstverurteilung des Autors, da Thomas Mann sich als Deutscher ja nicht ausnimmt von diesem Verdikt. Zwar hätte er sich als Emigrant ausschließlich auf die Seite der Opfer schlagen können, aber da er die Wurzeln des Unheils in den bedenklichen faustischen Anlagen des deutschen Geistes wähnt, welchen er, wie ihm gewiss ist, selber verkörpert, will er sich von keiner Schuld freisprechen. Von keiner Schuld und damit auch nicht von innerer Beteiligung an der sich abzeichnenden Unheilentwicklung. Schon so frühe Werke wie das Drama Fiorenza und die Novelle Der Tod in Venedig lassen nach des Autors eigenem Zeugnis etwas davon spüren, und so schreibt er in seinem Essay Bruder Hitler aus dem Jahre 1938: Ich war nicht ohne Kontakt mit den Hängen und Ambitionen der Zeit, mit dem, was kommen wollte und sollte, mit Strebungen, die zwanzig Jahre später zum Geschrei der Gasse wurden. Wer wundert sich, daß ich nichts mehr von ihnen wissen wollte, als sie auf den politischen Hund gekommen waren und sich auf einem Niveau austobten, vor dem nur primitivitätsverliebte Professoren und literarische Lakaien der Geistfeindlichkeit nicht zurückschrecken? (XII, 850)

Gemeint sind damit die intellektuellen Wegbereiter und Mitläufer, wie sie im Doktor Faustus beschrieben werden, von denen er sich aber mit dem Vortrag Von deutscher Republik (1922) distanziert hatte. Die empfundene Distanz hindert ihn aber nicht, offen die einstige Nähe einzugestehen. Der Essay Bruder Hitler geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er im Titel bereits eine höchst peinliche Verwandtschaft des Autors mit dem Obersten der Nazis bekundet. Nicht als mache sich Thomas Mann hier mit den Untaten des Verbrechers gemein, aber den ‚Bruder‘ erkennt er doch in den aus einer

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problematischen Seelenlage erwachsenden Verhaltensformen, mit denen sich der Diktator in Szene setzt. Es ist eine Inszenierung, die aus Sicht des Betrachters eigentlich nicht eine politische Motivation, sondern das Streben nach Geltung und Größe, ja nach ästhetischer Kompensation moralischer und sozialer Minderwertigkeit verrät, sodass Thomas Mann in dem bei aller Widerwärtigkeit „interessanten“ (XII, 846) Schauspiel, das der Unhold mit seinen Auftritten bietet, eine zwar verhunzte, ins völlig Abartige heruntergekommene, aber gleichwohl unverkennbare „Erscheinungsform des Künstlertums“ (XII, 848) wahrzunehmen glaubt. Das ist frappierend, hat aber im Kontext des Mann’schen Werkes im Grunde nichts Befremdliches. Kunst und Verbrechen, das ist für unseren Autor durchaus keine undenkbare Verbindung, wie man schon früh durch Tonio Kröger in der gleichnamigen Novelle, und zwar im Gespräch mit Lisaweta, erfahren kann (vgl. VIII, 298f.). Wenn nun Hitler in den Sumpf der niedrigsten Instinkte herabsteigt, so demonstriert er, zwar auf tiefstem Niveau, aber doch exemplarisch, das Kriminelle eines Künstlertums, das ohne jede Bindung an Humanität, Vernunft und Maß agiert. Solches Künstlertum ist, wie sich bereits hier, auf andere Weise aber später an Adrian Leverkühn erweist, die Versuchung zum Hochmut, zum Bösen, zur Hölle. So ergeben sich erschreckende Beziehungen, aus denen Thomas Mann kein Hehl macht und aufgrund derer er sich einen eigenen Platz auf der Anklagebank zuschreibt, wenngleich inzwischen (im lutherischen Sinne) ‚gerechtfertigt‘ durch seinen besonders im Spätwerk vertretenen Humanismus wie durch das Engagement, mit dem er schon seit den Jahren der Weimarer Republik die Nazis bekämpft. Und wenn es fraglich hätte erscheinen können, ob er an der Verantwortung des deutschen Volkes für Krieg und KZ-Verbrechen irgendeinen Zweifel lässt, so scheint die Antwort nunmehr klar. Dennoch bleibt die Frage, ob damit der Fall schon abgeschlossen ist. Was bei Thomas Mann einer endgültigen Entscheidung des Schuldproblems offensichtlich im Wege steht, ist dessen Verquickung mit dem Faust-Motiv, die das Wirken des Teufels ins Spiel bringt. Wie schon früher erwähnt, macht Leverkühn das dem Volksbuch entnommene Bekenntnis des sündigen Magiers „Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ“ zum Generalthema seiner abschließenden Klagekantate. Faust selber legt dieses Wort im Volksbuch wie folgt aus: „ein guter Christ, darum daß ich eine herzliche Reue habe und im Herzen immer um Gnade bitte, daß meine Seele möchte errettet werden; ein böser Christ, da ich weiß, daß der Teufel den Leib will haben, und ich will ihm den gerne lassen, er laß mir nur aber die Seele zufrieden.“12 Wenn hier die Reue als Zeichen des Guten, das dem Teufel Verfallensein als Zeichen des Bösen gesehen wird, so hat Thomas Mann das Verhältnis von Gut und Böse noch ganz anders verstanden, nämlich nicht antithetisch, sondern dialektisch. Im Roman ist es der Theologiedozent Rüdiger Schleppfuß, der seinen Studenten, darunter Adrian Leverkühn, diese Dialektik als theologische Spekulation zu Gehör bringt (Kap. XIII). Er macht geltend, dass Gut und Böse keinesfalls voneinander getrennte Bereiche seien, sondern dass sie einander bedingten, ja wechselseitig auseinander hervorgingen. In seinem während der Abfassung des Dok12

Die deutschen Volksbücher (Anm. 4), S. 196f.

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tor Faustus entstandenen Vortrag Deutschland und die Deutschen nimmt Thomas Mann diese Spekulation wieder auf, indem er schreibt: Zuweilen, und nicht zuletzt bei Betrachtung der deutschen Geschichte, hat man den Eindruck, daß die Welt nicht die alleinige Schöpfung Gottes, sondern ein Gemeinschaftswerk ist mit jemand anders. Man möchte die gnadenvolle Tatsache, daß aus dem Bösen das Gute kommen kann, Gott zuschreiben. Daß aus dem Guten so oft das Böse kommt, ist offenbar der Beitrag des anderen. Die Deutschen könnten wohl fragen, warum gerade ihnen all ihr Gutes zum Bösen ausschlägt, ihnen unter den Händen zu Bösem wird. (XI, 1141)

Man nehme etwa, fährt Thomas Mann fort, den deutschen Universalismus und Kosmopolitismus, eine zweifellos ursprünglich „höchst positiv zu wertende Anlage[,]“ die sich jedoch „durch eine Art von dialektischem Umschlag“ ins Negative verkehrt habe. Denn das weltoffene Denken habe zum Anspruch auf europäische Hegemonie, ja auf Weltherrschaft geführt, und der Kosmopolitismus sei dadurch „zu seinem strikten Gegenteil, zum anmaßlichsten und bedrohlichsten Nationalismus und Imperialismus“ geworden (ebd.). Der Autor führt noch weitere Beispiele an, und man ist nicht wenig erstaunt, dass er die deutsche Katastrophe sogar in Luthers Reformation und in der sehnsüchtigverträumten Innerlichkeit der deutschen Romantik wurzeln sieht. Das Problem der Schuld erweist sich nunmehr als höchst vertrackt. Einerseits konstatiert Thomas Mann eine „geheime Verbindung des deutschen Gemütes mit dem Dämonischen“ (XI, 1131), andererseits heißt es, dass das Böse in der Geschichte der Deutschen aus dem Guten gekommen sei, nämlich als „Beitrag des anderen“, des Widersachers Gottes. Wenn aber beim Umschlag des Guten ins Böse der „Teufel [...] seine Hand im Spiel hatte“ (XI, 1142), folgt daraus nicht ohne weiteres, dass die Deutschen an ihrem Unheil selber schuld seien, jedenfalls nicht eindeutig und ausschließlich. Denn wer hat Schuld, bzw. wie groß oder klein ist diese, wenn der Sündenfall auf den Einfluss einer das subjektive Handeln determinierenden Macht zurückgeht, eine Frage, die man ja schon mit Blick auf den alttestamentarischen Paradiesmythos stellen muss. Kommt nicht dem Verführer die Hauptschuld zu? Indes kann sich der Verführte keineswegs reinwaschen. Seine Sünde besteht darin, dass er sich verführbar zeigt und, wie im Falle Fausts, darüber hinaus den Willen hat, sich verführen zu lassen. Diesem Willen aber liegt als Ursünde die Superbia zugrunde, der Hochmut, der über die Grenzen des menschlichen Seins hinausstrebt, wobei der Hochmütige nicht geringer sein will als Gott. In Leverkühns Abschiedsrede vernimmt man ja, dass er sich der „Hoffart“ (VI, 661) bezichtigt wie auch zugibt, schon frühzeitig den Bund mit dem Widersacher Gottes gesucht zu haben: „Denn lange schon bevor ich mit dem giftigen Falter koste [d.h. mich im Bordell infizierte], war meine Seel in Hochmut und Stolz zu dem Satan unterwegs gewesen, und stund mein Datum dahin, daß ich nach Ihm trachtete von Jugend auf.“ Wer oder was ist nun eigentlich der die Rolle des Verführers spielende Teufel? Zunächst wissen wir nur, dass er ein literarisches Motiv ist, das Thomas Mann dem alten Volksbuch entnahm und mit dem er sich auch an die Seite des Faust-Dramas Goethes

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gesellte. Darüber hinaus wäre zu fragen, ob der Satan für ihn eine metaphysische Größe oder nur ein tradiertes mythologisches Bild, im Grunde also eine bloße Metapher für das in der menschlichen Psyche lokalisierbare Böse war. Nun ist kaum anzunehmen, dass ein moderner Intellektueller wie unser Autor an den Teufel schlichtweg geglaubt hat. Zu denken gibt andererseits, dass er nicht nur in seinem Roman, sondern auch in seinem Vortrag Deutschland und die Deutschen vom Teufel spricht, so als beglaubige er eine real präsente Macht. Diese Rede vom Dämon außerhalb der literarischen Fiktion suggeriert jedenfalls eine Authentizität, die man ebenso ernst nehmen muss wie die gleichzeitige Rede von Gott. Manches deutet auch darauf hin, dass das Problem in der Schwebe bleiben soll – Der Teufel begegnet Leverkühn im XXV. Kapitel des Romans, und wie man weiß hat Thomas Mann sich zu dieser Szene von dem Zwiegespräch anregen lassen, das in Dostojewskis Die Brüder Karamasoff Iwan Fjodorowitsch mit dem Teufel führt. Im Doktor Faustus findet das Ereignis in Italien statt, in einem verdunkelten Raum des von Leverkühn bewohnten Domizils, wo der Künstler nach einem schweren Krankheitsanfall einsam den Tag verbringt (er wird von der Begegnung anschließend einen Bericht verfassen, der später in die Hände Zeitbloms gelangt). Passenderweise liest er Kierkegaards Ausführungen über Mozarts Don Juan, und wie bei Dostojewski sitzt ihm der Versucher plötzlich auf einem Sofa gegenüber. Der Teufel kündigt sich, während draußen Sommer ist, durch einen Luftzug von schneidender Kälte an, die er Leverkühn im Folgenden immer wieder spüren lässt. Aber wenn man meint, dass er damit einen Gruß aus dem eisigen Reich der Hölle entbietet, so erscheint er selbst doch eher wie ein schmuddeliger Abgesandter des Rotlichtmilieus. Ein „Strizzi“ sitzt vor ihm, so empfindet Leverkühn, ein „Ludewig. Und mit der Stimme, der Artikulation eines Schauspielers.“ (VI, 298) Das entspricht freilich der Tatsache, dass der Musiker sich in einem Bordell infiziert hat, doch bleibt es nicht bei dieser einen Maske. Der Teufel wandelt sich im Laufe des Gesprächs, nimmt einmal das gepflegtere Aussehen eines „bebrillten Musikintelligenzlers“ (VI, 325) an, ein andermal die Physiognomie des Leverkühn altvertrauten Privatdozenten Rüdiger Schleppfuß. Ob nun der Teufel eine tatsächlich existierende Gestalt ist oder bloße Halluzination Leverkühns, ist letztlich schwer zu entscheiden. Indizien gibt es sowohl für seine objektive Anwesenheit wie dafür, dass er bloß subjektive Projektion ist. Wenn Thomas Mann das Problem in der Schwebe lassen wollte, so läuft es im Übrigen auf die grundsätzlichere Frage hinaus, was denn überhaupt wirklich ist. An einer Stelle des Gesprächs weist der Teufel den skeptischen Musiker mit einer Bemerkung zurecht, die vermutlich Thomas Manns eigenem Standpunkt nahekommt: Deine Neigung, Freund, dem Objektiven, der sogenannten Wahrheit nachzufragen, das Subjektive, das reine Erlebnis als unwert zu verdächtigen, ist wahrhaft spießbürgerlich und überwindenswert. Du siehst mich, also bin ich dir. Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, – und wäre es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. (VI, 323)

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Was wirkt, ist wirklich. Was man erlebt, das lebt. Das deutet auf einen Wirklichkeitsbegriff, der auch dem Dämonischen ein Sein, ein Existieren zuschreibt. Das Dämonische ist zwar auch etwas Seelisches, es wohnt im Menschen als „unterdrückte Triebwelt“ (XIII, 136). Aber man würde Thomas Manns theologische Spekulation verflachen und banalisieren, wenn man das Dämonische nur psychoanalytisch verstünde. Greifen wir zum Schluss noch einmal die Frage auf, ob das Dämonische in der offensichtlich metaphysischen Gestalt, in der es von Thomas Mann gezeichnet ist, nach dieser seiner Ansicht tatsächlich Deutschlands Schicksal ist. Oder, anders gefragt: Besteht die deutsche Katastrophe des Zweiten Weltkriegs tatsächlich darin, dass das Land vom Teufel geholt wird? Aufschluss gibt ein Brief, den Thomas Mann am 7. September 1945 an den Schriftsteller Walter von Molo richtet. Der Brief fällt in die Entstehungszeit des Doktor Faustus und ist kurz nach dem Vortrag Deutschland und die Deutschen verfasst worden. Walter von Molo, der zu den Intellektuellen gehörte, die unter dem Naziregime in Deutschland geblieben waren und sich weitgehend angepasst hatten, hatte Thomas Mann nach Kriegsende in einem offenen Brief aufgefordert, nach Deutschland zurückzukehren und dem leidenden Volk als geistig-seelischer Arzt zu helfen. In seinem Antwortbrief bekundet Thomas Mann eine gewisse Freude, dass Deutschland ihn wieder haben wolle, lehnt eine Rückkehr jedoch ab, da ihm das Land „in all diesen Jahren doch recht fremd geworden“13 sei. Er „lebe und webe“ zwar weiterhin „in deutscher Tradition“ und werde nicht aufhören, sich „als deutsche[r] Schriftsteller zu fühlen“14, er fürchte aber, dass es zwischen ihm, „der den Hexensabbat von außen erlebte[,]“ und denen, die „mitgetanzt und Herrn Urian aufgewartet“ haben,15 nur schwer zu einer Verständigung kommen könne. Thomas Mann gibt aber auch hier zu verstehen, dass er sich von der Schuld nicht ausnehme. Er erklärt auch in diesem Brief, was er schon zuvor in seinem Vortrag ausgeführt hatte: dass er nicht zwischen einem ‚guten‘ und einem ‚bösen‘ Deutschland unterscheide und dass er sich selbst keineswegs in das weiße Gewand der Unschuld hülle. Und nun kommt er in seinem Brief auf das Thema zu sprechen, das zeitgleich Thema seines Romans ist: den Teufelspakt. Dabei heißt es: Der Teufelspakt ist eine tiefaltdeutsche Versuchung, und ein deutscher Roman, der eingegeben wäre von den Leiden der letzten Jahre, vom Leiden an Deutschland, müßte wohl eben dies grause Versprechen zum Gegenstand haben. Aber sogar um Faustens Einzelseele ist, in unserem größten Gedicht, der Böse ja schließlich betrogen, und fern sei uns die Vorstellung, als habe Deutschland nun endgültig der Teufel geholt. Die Gnade ist höher als jeder Blutsbrief. Ich glaube an sie, und ich glaube an Deutschlands Zukunft, wie verzweifelt auch immer seine Gegenwart sich ausnehmen, wie hoffnungslos die Zerstörung erscheinen möge. Man höre doch auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen und finsteren geschichtlichen Epoche, die Hitlers Namen trägt. [...] Es ist im Begriffe, eine neue Gestalt anzunehmen, in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den 13 14 15

Thomas Mann: Briefe 1937–1947. Hg. v. Erika Mann. Frankfurt/Main 1963, S. 443. Ebd. Ebd., S. 445.

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ersten Schmerzen der Wandlung und des Übergangs mehr Glück und mehr Würde verspricht, den eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte.16

Thomas Mann fällt also kein endgültiges Verdammungsurteil. Er glaubt an die rettende Kraft der Gnade, und er glaubt offenbar daran, dass die Dialektik von Gut und Böse auch umkehrbar sei: dass nämlich nicht nur aus dem Guten das Böse, sondern umgekehrt auch aus dem Bösen wieder das Gute kommen könne. „Sehr wohl kann aus dem Schlimmen das Liebe kommen und aus der Unordnung etwas sehr Ordentliches[,]“ heißt es im Erwählten (VII, 113), wo der in schwerer Sünde gezeugte Gregorius selber schändlichem Frevel verfällt, zuletzt aber, nach harter und langer Buße, des entsündigenden Heils gewärtig sein darf. Auch im Roman Doktor Faustus ist das Zeichen der Gnade erkennbar. Es ist ein schwaches Zeichen, denn es besteht nur in dem ‚hohen g‘ eines Cellos, mit dem die Klagekantate Leverkühns am Schluss verklingt, aber es „wandelt den Sinn“ der Verdammnis, denn es „steht als ein Licht in der Nacht“ (VI, 651).

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Ebd., S. 446.

IRENA ŚWIATŁOWSKA

Ein Pazifist in der amerikanischen Uniform. Klaus Mann im Zweiten Weltkrieg

Zwei Weltkriege haben ihre Spuren im kurzen Leben des Schriftstellers und Publizisten Klaus Mann hinterlassen in der ersten Hälfte des ‚kurzen Jahrhunderts‘.1 Die historischen und politischen Ereignisse, Erinnerungen und Alltagsbilder aus den Kriegsjahren 1914–1918 weckten seine Empfindsamkeit und zwangen ihn zu Reflexionen. Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkriegs überzeugten ihn von der Richtigkeit seiner Entscheidung, nach 1933 als Antifaschist aktiv zu werden. Der bisherige Pazifist kam zu dem Entschluss, dass er als Soldat für die Befreiung der Welt vom Faschismus kämpfen wollte. Seine Autobiographien Kind dieser Zeit, The Turning Point/Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht sowie seine Tagebücher aus den Jahren 1931–1949 gewähren Einblick in seine Erlebnisse in beiden Weltkriegen und ermöglichen eine Analyse seiner Anschauungen und Gedanken über den Krieg sowie seiner psychischen Reaktion auf die Kriegsereignisse – sowohl im politischen und gesellschaftlichen als auch im ethischen und menschlichen Bereich. Die autobiographischen Werke von Klaus Mann und seine publizistischen Essays2 erlauben auch die Frage zu beantworten, warum er sich als Pazi1

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Als ein „kurzes Jahrhundert“ bezeichnete Hubert Orłowski das 20. Jahrhundert. Vgl. Hubert Orłowski: Wobec zniewoleń ‚krótkiego stulecia‘. Szkice o literaturze austriackiej i niemieckiej. Wrocław 1997. Vgl. Klaus Mann: Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933. Hg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1992 (Rowohlt Taschenbuch 12741); Klaus Mann: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936. Hg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1993 (Rowohlt Taschenbuch 12742); Klaus Mann: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–1938. Hg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg, Reinbek bei Hamburg 1994 (Rowohlt Taschenbuch 12744); Klaus Mann: Zweimal Deutschland. Aufsätze, Reden, Kritiken, 1938–1942. Hg. v. Uwe Naumann und Michel Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1994 (Rowohlt Taschenbuch 12743); Klaus Mann: Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken, 1942–1949. Hg. v. Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1994 (Rowohlt Taschenbuch 12751).

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fist freiwillig zum Dienst in der US-Armee meldete und 1945 in amerikanischer Uniform nach Deutschland zurückkehrte. Die Biographen von Klaus Mann nehmen ihn als einen Außenseiter und eine außergewöhnliche Persönlichkeit wahr. Tatsächlich war Klaus Mann schon als achtjähriger Junge, beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, kein durchschnittliches Kind. In seiner Autobiographie Kind dieser Zeit, die er mit 27 verfasste und die 1932 erschien, legt er besonderen Wert auf die Rekonstruktion seiner Kriegswahrnehmung. Diese fiel ihm, wie er gesteht, nicht leicht. Gegen Ende seines Lebens lebt diese Periode in seiner Autobiographie Der Wendepunkt erneut auf, die 1951, also bereits nach seinem Selbstmord, veröffentlicht wurde. Es wird eine höchst schwierige und heikle Aufgabe sein, die Größe und Wichtigkeit der Eindrücke, welche der Krieg für das acht-bis zwölfjährige Kind mit sich brachte, richtig einzuschätzen und sie zu definieren: es waren scheinbar Eindrücke der äußerlichsten Art; von einer derart sensationellen Äußerlichkeit, daß sie sogar dort noch beinahe den Charakter einer Lustbarkeit annahmen, wo sie doch eigentlich entschieden von katastrophalem Ernste waren; und ich weiß gar nicht, bis zu welchem Grade es gelingen kann, aufzudecken, wo das Kind dies Ungeheuerliche der Jahre, während derer es aufwuchs, dann doch in einer geheimeren und dunkleren Sphäre seines Wesens wirklich begriff oder wenigstens ahnte, während es nur auf den Jux und die ferienhafte Unordnung, die das Ungeheuerliche mit sich brachte, zu reagieren schien.3

Der Tag, an dem die Nachricht vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges in die Sommervilla Thomas Manns in Bad Tölz gelangte, wurde in den Autobiographien seines ältesten Sohnes Klaus sowie in den Memoiren seiner anderen beiden Kinder Erika und Golo dargestellt.4 Er stellte eine Zäsur in dem bisher so glücklichen Leben der Familie Mann dar. Unvergesslich wurden für die Geschwister das Bild der Eltern auf der Terrasse sowie die Worte des Vaters: „Nun wird auch bald ein blutiges Schwert am Himmel erscheinen.“5 „Es gab kein blutiges Schwert am Himmel. Aber daß unser Vater die SchwertErscheinung ankündigte, war seltsam und bedrohlich genug[,]“6 – erinnert sich Klaus Mann im Wendepunkt. Und doch empfanden er und seine Geschwister, dass sie danach in einer anderen Welt lebten. Klaus Mann gibt aus der Perspektive der Kinder Stimmungen wieder, die vor und nach dem Kriegsausbruch in Bayern und im ganzen Kaiserreich herrschten. Krieg schien aufregender als jedes andere Spiel, das uns bisher vorgekommen war. Der große Spaß bestand darin, daß die Erwachsenen mit hektischem Enthusiasmus an dieser neuen Lust3 4

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Klaus Mann: Kind dieser Zeit. Reinbek bei Hamburg 1993 (Rowohlt Taschenbuch 4996), S. 37. Erika Mann: Mein Vater, der Zauberer. Hg. v. Irmela von der Lühe und Uwe Naumann. Reinbek bei Hamburg 1998 (Rowohlt Taschenbuch 22282 ), S. 24f.; Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Frankfurt/Main 1986, S. 32. Klaus Mann: Kind dieser Zeit (Anm. 3), S. 51. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek bei Hamburg 2006 (Rowohlt Taschenbuch 24409), S. 63.

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barkeit teilnahmen. Jedermann schien von der Stärke der Koalition geschmeichelt, die sich gegen unser Vaterland zusammengetan hatte. Offenbar war das Hauptziel dieses Spieles, sich so verhaßt wie möglich bei den anderen Völkern zu machen. […] Alle wollten gegen Deutschland kämpfen! [ …] Wenn ich versuche die Atmosphäre von 1914 wieder einzufangen, so sehe ich flatternde Fahnen, graue Helme mit possierlichen Blumensträußen geschmückt, strickende Frauen, grelle Plakate und wieder Fahnen – ein Meer, ein Katarakt in Schwarz-Weiß-Rot. Die Luft ist erfüllt von der allgemeinen Prahlerei und den lärmenden Refrains der vaterländischen Lieder […]. Jeden zweiten Tag wird ein neuer Sieg gefeiert.7

Golo Mann hebt die Tatsache hervor, dass die Behörden des Kaiserreichs schon früh Strategien entwickelten, die die Gesellschaft, darunter auch die Jugendlichen, auf den Krieg vorbereiten sollten. Es gab oft Konzerte mit Militärmusik, man produzierte Spielzeuge, die den Krieg in den Sinn brachten.8 Das großbürgerliche Haus von Thomas Mann wurde vom Enthusiasmus der ersten Phase des Krieges mitgerissen, auch wenn Katia Mann Zweifel hegte. Klaus Mann entdeckte doch, dass sich sein Onkel Heinrich Mann von seinem Vater distanzierte und seine Familie nicht mehr besuchte.9 Das Verhältnis zwischen den beiden hatte sich seit dem Ausbruch des Krieges wesentlich getrübt. Heinrich war Pazifist; der Krieg bedeutete für ihn ein ruchloses Abenteuer, dazu bestimmt, das deutsche Volk in äußerstes Unglück zu stürzen. […] Dem Autor der Betrachtungen aber wollte es scheinen, daß sein Bruder keineswegs wirklich über den Parteien, sondern auf der anderen Seite stand, ein militanter Anhänger der ‚Entente Cordiale‘, ein unduldsam selbstgerechter Vorkämpfer des westlichen Zivilisationsgedankens. Das politischweltanschauliche Zerwürfnis erreichte bald einen Grad von emotioneller Bitterkeit, daß jeder persönliche Kontakt unmöglich wurde.10

Familienzwistigkeiten sowie eine für die Kinder schmerzhafte Veränderung des Vaters prägten die Psyche von Klaus Mann und seinem Bruder Golo. Der „Kriegsvater“ vertiefte sich in die Arbeit an seinem neuen Werk. Es waren die Betrachtungen eines Unpolitischen, „[…] kein Roman. Es hat mit dem Krieg zu tun.“11 Wie seltsam fremd und entfernt er scheint, dieser Kriegsvater. Wesentlich verschieden von dem vertrauten Zauberer der Friedensjahre. Das väterliche Antlitz, dessen ich mich aus dieser Epoche erinnere, hat weder Güte noch die Ironie, die beide so essentiell zu seinem Charakter gehören. Die Miene, die vor mir auftaucht, ist gespannt und streng. Eine empfindliche, nervöse Stirn mit zarten Schläfen […]. Diese kriegerische Laune muß uns Kinder sehr beeindruckt haben. Der Kriegsvater ist bärtig. Seine Züge, zugleich stolz und gequält, ähneln denen eines spanischen Edelmanns, dem irrenden Ritter und Träumer. Don Quichotte.12

Aus zeitlicher Distanz darf man die Vermutung wagen, dass die bereits angeführten Erfahrungen des zehnjährigen Klaus seine spätere Beziehung zu seinem Vater beein7 8 9 10 11 12

Ebd., S. 65. Vgl. Golo Mann: Erinnerungen... (Anm. 4), S. 32. Vgl. Klaus Mann: Der Wendepunkt (Anm. 6), S. 83f. Ebd., S. 83. Ebd., S. 80. Ebd., S. 79f.

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trächtigten und eine Entfremdung auslösten. Umgekehrt könnte die Haltung des berühmten Oheims Heinrich während des Krieges den Grundstein für ihre gegenseitige Zuneigung gelegt haben, deren Folgen sich sowohl in der späteren Poetik seiner Werke als auch in seiner Liebe zu Frankreich niederschlugen. Die großen Siege des deutschen Kaiserreichs in den ersten Kriegsjahren versetzten die Kinder Thomas Manns in feierliche Stimmung. „Als Hindenburg die kolossale Sache in den Masurischen Sümpfen gemacht hatte, fühlten die Kinder sich hochgestimmt wie am Heiligen Abend.“13 Aber weder diese kurzen Augenblicke, in denen man auf derartige Erfolge im Sinne des vorgeschriebenen Patriotismus reagierte, noch kleine Freuden, die der Krieg mit sich brachte, wie die Kündigung des Kinderfräuleins und die neue Bogenhausener Volksschule, weil das exklusive Institut von Fräulein Ebermayer zu teuer wurde, milderten die Entbehrungen des Alltags. Auch die vermögende Familie des großen Schriftstellers wurde von diesen nicht verschont. Als Gymnasiast entdeckte Klaus Mann 1916, dass die Mahlzeiten in der Residenz in der Poschingerstraße kein Genuss mehr waren. Auf den Tisch kamen immer häufiger Ersatznahrungsmittel, in die Schule liefen die Kinder barfuß; weil die Zentralheizung nicht mehr funktionieren konnte, wurden in die Wohnräume eiserne Öfen gesetzt, man musste stundenlang Schlange stehen – dies war auch die Pflicht der Kinder – um einige Eier oder ein Stückchen Butter zu kaufen. Das Hamstern war streng verboten. Klaus, Erika, Golo und Monika Mann fanden sich mit diesen Umständen ab, aber die Kriegserfahrungen prägten doch ihre Wahrnehmung der sie umgebenden Wirklichkeit, der Lebensform der Großeltern und Eltern und sie entdeckten, dass es in ihrer Umgebung viel Unglück gab. Klaus Mann stellte schon damals, als zwölfjähriger Schüler, seine sensible, mitfühlende Natur unter Beweis. Der verwöhnte, zum Narzissmus neigende Junge begann, seine Umwelt kritisch zu bewerten und begriff, dass der Krieg eine Kehrseite hatte, dass er für viele Leiden, Hunger, Tod und Elend brachte. Armin Strohmeyr, der Autor einer der neuesten Biographien Klaus Manns, glaubt, dass dieser trotz seines relativ jungen Alters schon in den letzten Kriegsjahren gesellschaftliche und politische Probleme seiner Epoche zu reflektieren begann.14 Klaus Mann selbst konstatiert rückblickend: „Man fand diese Welt oft ganz ekelhaft schlecht, aber andererseits glaubte man doch, daß sie zu ändern war.“15 Einen Impuls für eine neue Denkweise und eine neue Auffassung des Krieges des noch nicht Zwölfjährigen lieferte die Lektüre des pazifistischen Romans Die Waffen nieder! von Berta von Suttner, den ihm seine Urgroßmutter Hedwig Dohm 1917 zum Weihnachtsgeschenk gemacht hatte. Der primitiv aber schlagend wirksam gemachte Tendenzroman hinterließ mir gewaltigen Eindruck. Viele Einzelheiten der Handlung sind mir ganz unvergeßlich; vor allem die Szene, wo der halsstarrige und verbissene alte General, der so lange durch keinen Schicksalsschlag in 13 14 15

Vgl. Klaus Mann: Kind dieser Zeit (Anm. 3), S. 53. Vgl. Armin Strohmeyr: Klaus Mann. München 2000, S. 22. Klaus Mann: Kind dieser Zeit (Anm. 3), S. 96.

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seinem trotzigen Militarismus zu erweichen war, endlich doch nachgeben muß und den Krieg verdammt, dessen Geißel er zu schauerlich verspürt hat am eigenen Fleische. […] Wie war das mit diesem Krieg? Der noch nicht Zwölfjährige beginnt sich Gedanken zu machen. Von der Urgroßmutter […] ist […] etwas wie eine pädagogische Wirksamkeit ausgegangen. Ich werde mir darüber klar, daß ich niemals an die Front gehen würde, falls dieser Krieg noch so lange dauert, daß auch ich an der Reihe bin.16

Die Reflexionen Klaus Manns in seinen beiden Autobiographien erwecken aufrichtige Anerkennung für seine Klugheit und Empfindsamkeit in einem so jungen Alter. Die Lektüre des Romans der österreichischen Schriftstellerin Suttner liegt am Anfang seines intellektuellen Reifeprozesses. Die Zukunft zeigte, dass er die Gefahr des deutschen Faschismus sofort spürte und konsequent im Exil gegen ihn ankämpfte. Das Geschenk Hedwig Dohms war sicher nicht willkürlich gewählt. Diese Geste sowie ihre Folgen darf man als eine Art Würdigung des hervorragenden Publizisten Ernst Dohm aus der Epoche Bismarcks ansehen. Klaus Mann bestätigte sich schon in seiner Jugend, insbesondere aber nach 1933, als dessen wahrer Nachkomme. Seinen Kampf gegen Hitler nahm Klaus Mann sofort nach der Auswanderung aus dem ehemaligen Deutschen Reich auf. Sein literarisches und publizistisches Schaffen sowie die Gründung der zwei Exilzeitschriften – Die Sammlung (1933–1935 in Amsterdam) und Decision (1940– 1942 in den USA) – wurden dem Programm untergeordnet, mit dem er den deutschen Faschismus und dessen Varianten in der Welt bekämpfte. Ergänzend hielt er Vorträge und Reden in Europa und den USA. Von Bedeutung waren seine Kontakte zu Emigrantengruppen auf dem europäischen Kontinent sowie in den USA, Treffen mit Politikern, darunter mit Persönlichkeiten der politischen Szene wie Präsident Franklin D. Roosevelt oder Eduard Benesch. Seine Sprachkenntnisse gewährten ihm Zugang zur internationalen Presse, die Ereignisse im Dritten Reich kommentierte. Seine fehlerlose Einschätzung des Faschismus und dessen Konsequenzen für Deutschland und Österreich, seine konstruktive und bis heute aktuelle Vision eines vereinigten Europas sowie seine reife und sehr kritische Diagnose der politischen Situation in der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lassen in Klaus Mann einen hervorragenden Kommentator der politischen und kulturellen Geschichte in Europa und in den USA entdecken.17

Klaus Mann betrachtete die Situation in Deutschland im allgemeineuropäischen Kontext; die westlichen Demokratien dagegen beurteilte er aufgrund ihrer Einstellung zu Prozessen, die sich im Dritten Reich vollzogen. Hitlers Niederlage war für ihn unvermeidlich. Deshalb beschäftigte ihn die Frage, die die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson formulierte: „After Hitler – What?“18 Er plädierte für seine Vision eines vereinigten Europa; mehr noch, für die Weltrepublik. Er war sich der Rolle der USA 16 17 18

Ebd., S. 66. Irena Światłowska: Biografia człowieka poszukującego. Klaus Mann. Europejczyk, pisarz, bojownik antyfaszystowski. Wrocław 2007, S. 167. Vgl. Klaus Mann: Nach dem Sturze Hitlers. Ein Diskussionsbeitrag. In: Ders.: Zweimal Deutschland (Anm. 2), S. 88–91, hier S. 89.

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sowie der Sowjetunion bei der Gestaltung der neuen Ordnung nach Hitlers Sturz bewusst. Indem man seine Prognosen und Befürchtungen mit der späteren Nachkriegsrealität in der Welt konfrontiert, begreift man, dass sie treffend waren und ihn enttäuschen mussten. Die Tatsache, dass sich Klaus Mann – der entschiedene Pazifist – entschloss, viele Schwierigkeiten zu überwinden, um in die US-Armee aufgenommen zu werden – vor allem war seine allgemein bekannte Homosexualität ein Hindernis, weiterhin blieben ihm Ermittlungen durch FBI und Military Intelligence wegen seiner Kontakte zur Sowjetunion nicht erspart – kann man nur als eine konsequente Verfolgung seines Ziels verstehen. Auch andere Faktoren wirkten dabei mit. Uwe Naumann, Klaus Manns Biograph und Herausgeber seiner Werke, verfolgte gründlich die Entwicklung seiner Anschauungen, die dazu führte, dass er die Entscheidung traf, als Soldat gegen den Faschismus zu kämpfen.19 Der junge Antifaschist war ein aufmerksamer und kritischer Beobachter der politischen Weltbühne. Seine Überlegungen führten ihn im Laufe der Zeit zur Korrektur der eigenen pazifistischen Haltung. Im Jahre 1934, während seines Besuchs in der Sowjetunion anlässlich des Ersten Allunionkongresses der Sowjetschriftsteller, rief die Demonstration der militärischen Macht eines Landes, das für den Weltfrieden plädierte, in ihm ambivalente Gefühle hervor. Inmitten der literarischen Tagung erschienen plötzlich „[…] gefährlich stampfende Soldaten, ein Teil von ihnen eroberte sogar das Podium. Helle Wonne bei der Literatur. Dies war der Moment, in dem ich mich in Moskau am fremdesten fühlte. Ich stand stumm, und ich konnte meine Hände nicht zum Beifall zwingen. Es muß – dachte ich – eine Rote Armee geben. […] Aber warum die helle Wonne?“20 Dieses Erlebnis konnte jedoch die Sympathie Klaus Manns für die Sowjetunion noch nicht abschwächen. Seine Einstellung zur kommunistischen Macht änderten erst der deutschsowjetische Nichtangriffspakt vom 23. September 1939 und der Übergriff der Roten Armee auf Finnland im November 1939. Uwe Naumann betont, dass hauptsächlich diese zynischen politischen Schachzüge seitens des Kreml „die Notwendigkeit []einer politischen Neuorientierung“ herbeiführten.21 „Vor allem aber empfand Klaus Mann es als Verrat an den Antifaschisten.“22 Im Jahre 1936 musste Klaus Mann zum Bürgerkrieg in Spanien Stellung beziehen. Viele Schriftsteller meldeten sich freiwillig als Teilnehmer der Internationalen Brigaden, um die spanischen Republikaner im Kampf gegen General Franco zu unterstützen. Klaus Mann zögerte mit der Fahrt nach Spanien. Er erschien dort erst im Juni 1938. Zusammen mit seiner Schwester Erika reiste er als Reporter nach Spanien. 19 20 21 22

Uwe Naumann: Der Pazifist als Soldat. Klaus Mann im Zweiten Weltkrieg. In: Text + Kritik 93/94 (1987), S. 88–99. Klaus Mann: Notizen In Moskau. In: Ders.: Zahnärzte und Künstler (Anm. 2), S. 201–214, hier S. 203. Uwe Naumann: Der Pazifist als Soldat (Anm. 19), S. 89. Ebd., S. 91.

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Seinen Reportagen aus den spanischen Städten während des Bürgerkrieges entnimmt man, dass der direkte Kontakt mit dem Krieg ihn zwang, seine pazifistische Position zu relativieren. „Haben wir die Wahl? Die Mittel des Kampfes werden uns aufgezwungen. Bei einer Auseinandersetzung um Leben und Tod muss man sich der Waffen bedienen, von denen der Gegner mit einer so unüberbietbaren Grausamkeit und Hinterlist Gebrauch macht.“23 Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag und vor dem Überfall Hitlers auf Polen veröffentlichte der Querido-Verlag in Amsterdam den Emigrationsroman Klaus Manns, Der Vulkan. Er hatte keine Zweifel mehr, dass man dem Vorkriegstreiben nicht länger passiv zusehen dürfe. Aber der Krieg bedeutete für ihn immer noch eine Katastrophe, die mit dem Ausbruch eines Vulkans vergleichbar wäre. Der Pazifist in ihm war noch nicht gestorben. Er setzte sich einerseits in seinem Roman mit der Kriegsproblematik, andererseits jedoch auch mit dem Postulat der absoluten Gewaltlosigkeit im Werk Eyeless in Gaza Aldous Huxleys auseinander.24 Einen Wandel in der Einstellung Klaus Manns zum Krieg beeinflusste auch sein literarisches Vorbild, Heinrich Mann, der in seiner Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt für den „streitbaren Humanismus“ plädiert und gerechte Kriege im Namen der menschlichen Freiheit rechtfertigt.25 Angesichts des durch den europäischen Kontinent siegreich marschierenden Faschismus sieht Klaus Mann nur einen Ausweg: den aktiven Kampf. Deshalb schließt er sich den deutschen Emigranten in den Vereinigten Staaten an, die von Amerika erwarten, Europa zu verteidigen und Hitler anzugreifen. Nicht nur hehre politische Ziele machten Klaus Mann am 14. Dezember 1942 zum amerikanischen Soldaten. Uwe Naumann und Michael Töteberg urteilen: wichtige Motive für seinen Entschluss, in den Krieg zu ziehen, waren privater Natur. „Klaus Mann sehnte sich nach neuen Entwicklungen, nach Veränderungen.“26 Man darf aber auch die anderen Gründe nicht verschweigen. Sicher war es eine Art von Flucht aus der tiefen Depression und Krise, in die er nach dem Ende der Zeitschrift Decision geraten war; eine Täuschung, dass er endlich wie andere werde, dass „der Individualist sich unter das namenlose Heer mischen“ wird – „[e]r genießt dieses Aufgehen in der Menge, ihm macht sogar die militärische Grundausbildung Spaß. Schießen auf dem Übungsplatz, Gewehrreinigen, Küchendienst oder auch Teilnahme am ‚Infiltration Course‘.“27 Der Militärdienst war für Klaus Mann eine neue und eigentlich positive Lebenserfahrung. Er blieb zwar Außenseiter, schloss aber auch neue Bekanntschaften und Freund23 24 25 26 27

Klaus Mann: Aldous Huxleys neuer Roman. In: Das Wunder von Madrid (Anm. 2), S. 111–118, hier S. 116. Ebd., S. 115. Uwe Naumann: Der Pazifist als Soldat (Anm. 19), S. 90. Uwe Naumann, Michael Töteberg : Vorwort. In: Klaus Mann: Auf verlorenem Posten (Anm. 2), S. 9–14, hier S. 9. Ebd.

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schaften. Die jüngeren Soldaten waren sehr freundlich zu ihm, unter den Offizieren fand er verwandte Seelen. Entbehrungen im intimen Leben, die aus der Verheimlichung seiner Homosexualität resultierten, ertrug er mit Demut, um in der Armee bleiben zu dürfen. Man beschloss, sein schriftstellerisches Talent auszunutzen. Er formulierte also Propagandatexte, Flugblätter, und schließlich nahm er die Mitarbeit an Soldatenzeitungen wie The Stars and Stripes und Tomorrow sowie an kulturellen und literarischen Blättern wie The Saturday Review of Literature, Town & Country, und The Rome Daily American auf. Er sollte auch mit deutschen Kriegsgefangenen sprechen und Kriegsverbrecher verhören. Das Soldatenleben war für Klaus Mann auch eine aufschlussreiche Erfahrung. Er entdeckte ein Amerika, das er bisher nicht gekannt hatte und das er zu akzeptieren begann. Er hatte nämlich endlich mit ‚Durchschnittsamerikanern‘, mit einfachen Soldaten und Zivilisten, zu tun, deren Tun und Lassen ihn sehr positiv ansprachen. Er gewann auch eine Distanz zur eigenen Heimat und dachte viel darüber nach, wie das Leben seiner Landsleute nach dem Sieg über Hitler aussehen sollte. Eine wichtige Erfahrung waren für ihn Gespräche mit deutschen Kriegsgefangenen, die er in befreiten Ländern und später in Deutschland führte. Aus dem Pazifisten wurde jetzt ein Kämpfer mit der Waffe in der Hand, der sein gerechtes Ziel verfolgte. Er reflektierte auch über seine neue Situation als amerikanischer Soldat, der sich entschloss, gegen seine Landsleute zu kämpfen. Im Jahre 1944 gestand er in der Skizze Meine alten Landsleute: Im Laufe meiner Zeit in der Armee wurde mir wiederholt die Frage gestellt: ‚Was empfinden Männer wie Sie – deutscher Herkunft und bis vor kurzem deutsche Staatsbürger –, wenn sie gegen ehemalige Landsleute kämpfen?‘ […] Für mich wie für die meisten anderen vor dem Nazi-Terror geflüchteten Deutschen war es eine Selbstverständlichkeit, zu den Kriegsbemühungen der Demokratien unseren bescheidenen Anteil beizusteuern. Eigentlich spürte ich kaum, daß sich der Status oder der wesentliche Sinn meines Lebens änderte, als ich amerikanischer Soldat wurde. Vielmehr schien mir, daß mein neuer Job mit neuen Waffen und unter neuen Bedingungen fortsetzte, was ich seit zehn Jahren ohnedies tat. Hitler zu bekämpfen und alles, wofür er steht, war in der Tat meine hauptsächliche Beschäftigung seit der Errichtung der Nazi-Diktatur im Jahre 1933.28

Was an der neuen Haltung des vormaligen Pazifisten wundern muss, ist eine radikale Ablehnung der Befürchtungen seines Freundes, des Prinzen Hubertus von Löwenstein, im Kampf nicht nur Nazis, sondern auch „einige aufrechte deutsche Anti-Nazis und verdienstvolle Mitglieder des Untergrunds zu töten.“29 Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch die Tatsache, dass Klaus Mann nicht an der Frontlinie kämpfte, sondern, wie zuvor, von seinem literarischen Talent Gebrauch machte. Am 8. Mai 1945 kehrte er in seine alte Heimat zurück. Er war seit dem 25. September 1943 amerikanischer Staatsbürger und Soldat der US-Armee. Es begann in seinem 28 29

Klaus Mann: Meine alten Landsleute. In: Ders.: Auf verlorenem Posten (Anm. 2), S. 156–159, hier S. 157. Ebd., S. 158.

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Leben ein neues, entschieden unglückliches Kapitel. Auf den Trümmern des Dritten Reiches begrüßte man ihn nicht als Helden, der gegen den Faschismus gekämpft und die Ehre Deutschlands in der Welt in den Jahren 1933–1945 zu retten versucht hatte. Die ‚Durchschnittsdeutschen‘ hegten den Exilanten und ganz besonders den Heimkehrern in fremden Uniformen gegenüber eine tiefe Abneigung. In den ersten Nachkriegsjahren lehnten neu eröffnete Verlage Klaus Mann sowie die meisten Exilschriftsteller ab. Im literarischen Leben Westdeutschlands gab die Innere Emigration den Ton an. Die Entwicklung der politischen Situation in Europa und in der Welt konnte Klaus Mann nicht akzeptieren. Anstelle der Einheit des Kontinents, anstelle der Weltrepublik begann der neue, kalte Krieg und spaltete die Nationen. Es stellte sich auch heraus, dass Klaus Mann, dessen Organismus von Drogen verwüstet war, nicht mehr schreiben konnte. Er war noch jung, 43 Jahre alt, aber er sah keine Zukunft vor sich. Am 21. Mai 1949 starb er in Cannes. Posthum erfuhr sein literarisches Werk eine Renaissance. Der zu Lebzeiten unterschätzte Sohn des großen Thomas Mann hört nicht auf, das Interesse als Schriftsteller, als Persönlichkeit seiner Epoche, als Antifaschist zu wecken. Nach 1949 widmete man ihm in Deutschland, in den übrigen europäischen Ländern, in Amerika und in China bisher etwa 2.500 Publikationen.

SYLWIA SAWULSKA

Zum Mythos als Emanzipationsmodell – Schuld und Blendung im König Ödipus von Franz Fühmann

Franz Fühmann gehört zu jener Gruppe von Schriftstellern, die in ihrem Schaffen eine sehr spezielle und starke Orientierung am Mythologischen charakterisiert. Unter den zahlreichen Titeln von Erzählungen, Essays, Gedichten, Romanen, Aufsätzen und sogar Hörspielen stechen immer wieder Titel hervor, die deutlich an die meist griechischen Mythen anklingen.1 Geboren wurde Franz Fühmann am 15. Januar 1922 in Rochlitz an der Iser, in der ehemaligen Tschechoslowakei. Seinen Bildungsweg begann er an einem typisch katholischen Jesuitenkonvikt, von wo er flüchtete, um 1938 der Reiter-SA der Nationalsozialisten beizutreten. In den Reihen der Armee kämpfte er für die ‚Blut und Boden‘- Ideologie, und – wie zahlreiche junge Menschen damals auch – für das Vaterland. Er war erklärter Anhänger dieser ideologischen Vorstellungen, was damals insbesondere für viele junge Männer nichts Außergewöhnliches war. Nach dem verlorenen Krieg landete er in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager. Dies bewirkte eine komplette Neuorientierung seines Lebens und seiner Vorstellungen hin zum Sozialismus.2 Fühmann konvertierte zum Sozialismus und begann, wie viele andere Schriftsteller in Ost und West,3 mit der ‚braunen Vergangenheit‘ und vor allem dem Krieg abzu1

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Hierzu gehören u.a. Titel wie: Die Nelke Nikos. Ein Lyrikband (1953); König Ödipus (1966); Androklus und der Löwe (1966); Das hölzerne Pferd. Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Nach Homer und anderen Quellen neu erzählt (1968); Prometheus. Die Titanenschlacht (1974); Das mythische Element in der Literatur (1975); Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel (1978); Perikles. Hörspiel (1979); Kirke und Odysseus (1984) und Das Ohr des Dionysios (1985), um nur einige zu nennen. Vgl. Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen. Hg. v. Barbara Heinze. Rostock 1998, S. 373–376. Das heißt, dass er von der nationalsozialistischen Ideologie im Zuge der Umschulung im sowjetischen Antifa-Lager zur sozialistischen Ideologie konvertierte. Er war davon überzeugt, dass letztere Haltung die Lebensverhältnisse der Menschheit nachhaltig verbessern würde. In ähnlicher Form wie Franz Fühmann in seiner Erzählung König Ödipus versuchte auch Heinrich Böll, die sinnlose Kriegswirklichkeit und das übertriebene Streben nach klassizistischen Idealen während der per definitionem inhumanen Kriegszeiten zu kritisieren, so beispielsweise in der Erzählung Wanderer kommst du nach Spa…

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Sylwia Sawulska 4

rechnen. Wie kommt es dazu, dass ein Autor seines Formats und mit dieser Vergangenheit eine so große Faszination für alte Mythen entwickelte? Dabei stellen Mythen nur eine von zahlreichen Facetten seines literarischen Profils dar, denn er widmete sich auch dem Erzählen von Märchen und Schreiben von Geschichten für Jugendliche,5 in welchen aber beständig der Mythos nachhallt. Mythos und Märchen sind die Stichwörter, die am treffendsten die Dichtung Fühmanns charakterisieren. Auf die eingangs aufgeworfene Frage hat der Autor selbst eine Antwort erteilt. In seinem Essay Das mythische Element in der Literatur zieht er nicht nur eine Grenzlinie zwischen Mythos und Märchen, sondern versucht indirekt zu definieren, was am Mythos so fasziniert. Nach ihm sind Mythos und Märchen nicht kongruent, aber dennoch aufs Engste miteinander verwandt. Denn dort, wo die Mythen enden, fangen die Märchen an. Die Märchen sind gesunkene Mythen; die alten Sagen leben in den Märchen weiter, mit dem Unterschied, dass Märchen fertige, kompromisslose Antworten bieten. Der Rezipient weiß am Ende, wie er handeln soll, was gut, was böse ist. Es gibt klare Grenzziehungen zwischen Charakteren und moralisch-ethischen Wertvorstellungen. Alles ist entweder positiv oder negativ. In Märchen gibt es keinerlei Widersprüche, weder in den Gegenständen oder der Situation noch in der Innenwelt der Protagonisten. Im Mythos ist dies nicht der Fall. Mythen versuchen nicht, konkretisierte und abschließende Antworten auf existenzielle Fragen zu erteilen. Sie behandeln diese ebenso dialektisch bzw. differenziert wie das komplexe Innenleben, die innere Zerrissenheit, die moralisch-ethischen Konflikte im Dunstkreis der Triebhaftigkeit der Haupthelden. Das bedeutet, dass verschiedene Typen und Konfliktsituationen als Gleichnis präsentiert werden, eine individuelle Erfahrung ist jedem Rezipienten dabei gesondert möglich. Was die Figuren betrifft, so bleibt der Mythos frei von jeglicher Schwarzweißmalerei. Es gibt weder eindeutig positive noch eindeutig negativ konnotierte Charaktere.6 Daher lässt sich schließen, dass Mythen den entsprechenden Freiraum für realistische Situationen schaffen, die eine Deutung erfahren, welche über das Alltägliche und Banale hinausreicht. Vor allem unter diesem Aspekt erschließt sich der Mythos als Prinzip: Der Mythos gibt den Widerspruch wieder, das Märchen aber schafft ihn weg – in einem Zug also, den wir wohl als wesentlich anerkennen müssen, stimmt der Mythos mit dem Leben überein [...], und die Frage wäre nun legitim, was denn dem Leben näher stehe: der Widerspruch-spiegelnde Mythos mit seinen phantastischen Gestalten oder die widerspruchsfreie Welt realer Berufs- und Standesbezeichnung. Ich würde ohne Zögern für den Mythos stimmen; [...] – ich halte also Zeus und Leda für unvergleichlich dem Menschen verwandter als so manches Pärchen gewisser zeitgenössischer Gedichte oder Geschichten, die ununterbrochen ihre Menschenheimat beteuern, in Wirklichkeit aber irgendwo zwischen dem Dornröschenschloß und dem Haus der Frau Holle wohnen – nur daß sie dann mit dem Phantastischen auch

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Vgl. Heinze (Hg.): Franz Fühmann. Eine Biographie (Anm. 1), S. 7–52. Vgl. ebd., S. 373–376. Vgl. Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock 1975, S. 147–219, hier S. 158ff.

Zum Mythos als Emanzipationsmodell im ‚König Ödipus‘ von Franz Fühmann

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jener naiven Anmut entbehren, die uns am Märchen so entzückt, und also einfach nur läppisch sind.7

Bereits in diesem Essay nimmt er indirekt Bezug auf die nationalsozialistische Ideologie, vor allem aber auf den Mythus des 20 Jahrhunderts Alfred Rosenbergs. „[I]ch glaube [...], daß der Mythos leicht, und leichter als manches andere Menschengebilde, mißbraucht werden kann.“8 Fühmann beteuert in seinem Essay die Stärke des Mythos, die zugleich seine Schwäche darstellt, nämlich das Gleichnis, man könnte auch sagen die metaphorische Unschärfe der Bilder. Da das Bezeichnete nicht exakt dargestellt wird, kann man den Mythos frei gebrauchen, was sein potentielles Missbrauchtwerden immer schon mitdenkt; ein negatives Potential, das sich z.B. durch ideologische Anreicherung ausschöpfen lässt. Somit ist es möglich, den Mythos zu instrumentalisieren. Fühmann entlarvt mittels dieser Deutung die Janusköpfigkeit des Mythos. Die produktive Unschärfe seiner Bilder machten sich auch die nationalsozialistischen Propagandisten und Pseudowissenschaftler zunutze. Vor allen anderen hat der führende Philosoph des Dritten Reiches, Alfred Rosenberg, auf diesem Feld zweifelhaften Ruhm erworben.9 Die Novelle König Ödipus führt in das Problem der unterschiedlichen, auch pseudowissenschaftlichen Interpretationen eines großen europäischen Mythos ein und verknüpft diese mit dem Einsatz der Wehrmacht in Griechenland 1944. Dabei bedient sich Fühmann eines der beiden Sagenkreise, die in der antiken griechischen Tragödie eine besonders große Rolle spielten: Zum einen der trojanische, zum anderen der thebanische Sagenkreis,10 letzterer insbesondere angefüllt vom Furor der Labdakiden-Dynastie. Für Fühmann ist das zentrale Element nicht etwa die Mutter- und somit Blutschändung, sondern vielmehr die Frage nach Schuld und Schuldigwerden unter dem ausdrücklichen Aspekt der Kriegsbewertung und der Bewältigung von Kriegserlebnissen. Fühmann selbst war während des Krieges zeitweilig als Soldat einer Nachrichteneinheit in Griechenland stationiert. In einem Interview bekannte er, dass die Landschaften und die 7 8 9

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Ebd., S. 162f. Ebd., S. 205. Was Rosenberg in seiner Programmschrift Der Mythus des 20. Jahrhunderts herausstellt, ist seine These, dass die arisch-deutsche Rasse sich in gerader Linie von den Altgriechen, den Hellenen ableiten lasse, die ja als eines der am weitesten entwickelten Völker der Antike galten und noch immer gelten. Griechische Kunst, Wissenschaft und Philosophie hatten schon zu ihrer Zeit einen herausragenden Ruf, und das deutsche Herrenvolk habe ebenjenes Erbe angetreten: „Am schönsten geträumt wurde der Traum des nordischen Menschentums in Hellas. Welle auf Welle kommt aus dem Donautal und überlagert neuschöpferisch Urbevölkerung, frühere arische und unarische Einwanderer. Bereits die altmykenische Kultur der Achäer ist überwiegend nordisch bestimmt.“ Vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1930, S. 22. Mit diesem Stoff setzten sich Autoren wie Seneca, Corneille, Voltaire, Francesco Martinez de la Rosa, August Klingemann oder Hugo von Hofmannsthal auseinander. Vgl. Bernhard Zimmermann: Sophokles. König Ödipus. Stuttgart 2003 (RUB 16038: Erläuterungen und Dokumente), S. 62, 89, 91ff.

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Umgebung, denen die großen Mythen der Menschheit entstammen, bleibende Spuren hinterlassen haben, die Landschaften, die Menschen, die ja voneinander nicht zu trennen sind. Ich habe in dieser Landschaft Szenen erlebt, die aus einem Drama von Sophokles hätten stammen können. [...] Ein alter Mythos war jäh lebendig, und gewiß ist da etwas in mir angelegt worden, das im Unbewußten weiter gewirkt hat. Später wurden Novellen draus, vor allem König Ödipus.11

Franz Fühmanns Erzählung König Ödipus erschien 1966, dem Jahr, in welchem die Brutalität des Vietnamkrieges besonders in das Licht der Öffentlichkeit rückte.12 So überrascht es nicht, dass Fühmann auf die Titelei der Novelle setzt: „Dem bundesdeutschen Kontingent für Vietnam kameradschaftlich gewidmet.“13 Genau betrachtet könnte man hier ein Grundmuster des Mythos entdecken: die Verschmelzung eines typologischen Modells mit einer zeitgeschichtlichen Situation. Dieser Paratext stiftet eine Verbindung zwischen dem Vietnamkonflikt und der novellistischen Formung der Kriegserfahrungen Fühmanns in Griechenland 1944. Es sind zwei Kriegskontexte, in die Fühmann demnach seine Idylle König Ödipus einbettet. Die Widmung lässt bereits erkennen, dass die Aufnahme des Mythos fern der Absicht, klassische Bildung nachzuweisen, stattfindet. Vor die Erzählung setzt Fühmann zudem ein zweites Signal, indem er die Gattungsbezeichnung ‚Idylle‘ einführt. So arbeitet Fühmann von Anfang an mit Kontrasten und Paradoxien. Lässt die ‚Idylle‘ beschauliche Landschaftsbeschreibungen erwarten, überrascht innerhalb derselben die Kulisse der zoologischen Gruppierung der Soldaten in selbstgewählten und hergerichteten Käfigen, die das Thema sozialer Hierarchien in grotesker Bildlichkeit einführt. Was den strukturellen Aufbau des Textes angeht, so sieht Fühmann diesen in drei Teile gegliedert: Das Stück, Das Gespräch, Die Lösung. Alle drei Teile bestehen jeweils aus fünf Unterkapiteln, die mit keinen weiteren Titeln versehen sind, sondern lediglich Nummern tragen. Die drei Kapitel ähneln der klassischen Dramenaufteilung in Akte.14 Weist Das Stück darauf hin, dass die Gegebenheiten und Umstände des König Ödipus erläutert werden, deutet Das Gespräch sowohl auf die Idylle wie auf das Merkmal des dramatischen Dialogs. Mit Die Lösung signalisiert Fühmann den intellektuellen Charak11 12

13 14

Heinze (Hg.): Franz Fühmann. Eine Biographie (Anm. 1), S. 35. Ein berühmter Satz charakterisiert den Vietnamkrieg als „a Television War“. Vor allem stellt er eine der ersten militärischen Auseinandersetzungen dar, die auf so breite Art und Weise in den Medien präsentiert wurde. Dank der Massenmedien gingen Schreckensbilder um die Welt, die tote und verletzte Kinder zeigten. Daraufhin entstand auch die Anti-Vietnamkriegs-Stimmung. Vgl. http://www.kommunicare.de/01_themen/011_kb/vietnam.htm. Stand: 30.09.2011. Franz Fühmann: König Ödipus. In: König Ödipus. Erzählungen 1954–1965. Frankfurt/Main 1972, S. 107–166, hier S.107. Es erfolgen die Darlegung der Situation sowie deren Steigerung, später der Kulminationspunkt und schließlich die Abschwächung und Auflösung des Konflikts der Protagonisten. Natürlich sollte das Drama nach Aristoteles die Läuterung der Gefühle, die Katharsis, beim Zuschauer hervorrufen. Betrachtet man einzig die Titel der drei Teile, so ergibt sich bereits aus der Namensgebung die Korrespondenz mit den Anforderungen der Theorie.

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ter sowohl des Problems als auch des strukturellen Aufbaus seines Textes. Dies legt sich noch einmal nahe, wenn man bedenkt, dass Brecht eines seiner Gedichte so betitelt hat. Somit schreibt er sich in die Gemeinschaft jener Intellektuellen ein, die mittels ihrer Kunst nach geistigen Lösungen suchen. Dies korrespondiert sicher auch mit dem Aufklärungsanspruch von Autoren der DDR-Literatur. Wollte man eine Zwischenbilanz ziehen: mit diesem Text und seiner Gliederung unternimmt Franz Fühmann den anspruchsvollen Versuch, einen großen Text der Weltliteratur in eine neue Gegenwart zu transponieren. Diesen Versuch unternimmt er in mehrfacher Hinsicht. Es ist eine andere zeitgeschichtliche Situation, in der sich die Akteure der Idylle befinden, die offensichtlich nahe der Stadt Theben stationiert sind.15 Der Dichter führt in diese mit den folgenden Worten ein: es ist das „schreckliche[] fünfte[] Jahr [des] hinklirrenden Krieges.“16 Die beiden jungen deutschen Soldaten – der Obergefreite S. und der Gefreite P. – sind die Hauptdarsteller des novellistischen Textes. Im Hintergrund hört man die Explosionen der Panzerfäuste und ahnt das Elend der Zivilbevölkerung. Die nazistischen Deutschen und Griechen waren während des Zweiten Weltkrieges zunächst Verbündete,17 nun aber stehen sie auf verschiedenen Seiten der Front, die zum Teil durch Partisanenkämpfe im Untergrund verläuft. Nachdem das soldatische Feldlager Kriegshandlungen zum Opfer fiel, nötigten sie heftige Regenfälle, in einem Zoo Unterkunft zu finden, dessen Tiere nur noch als Kadaver herumliegen. Nach der Räumung nehmen sie in den Käfigen Quartier. Der Vorgesetzte von P. und S., Hauptmann N., jenseits des Krieges Professor für Gräzistik, nutzt diese Qualifikation auch als Lehrer der Frontakademie.18 Von ihm stammt die Idee, ein Stück gemeinsam mit verbündeten Griechen aufzuführen. Anfangs sollen es Die Perser von Aischylos sein, doch dann beginnt man die Aktualisierung des patriotischen Potenzials zu fürchten und entscheidet sich für ein vermeintlich neutrales Stück, König Ödipus. Die Hauptrollen sollen die drei Protagonisten Fühmanns übernehmen, damit setzt die Handlung der Idylle ein. Diese wird bestimmt durch die leitenden Fragen – Wie hat sich Ödipus schuldig gemacht und ist es möglich, unschuldig 15 16 17

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Hier findet sich eine Parallele zwischen den Protagonisten des Werkes und Franz Fühmann selbst: Auch er war in Griechenland stationiert und Zeuge zahlreicher Partisanenkämpfe. Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S.107. Der Angriff auf Griechenland erfolgte 1941, als Begründung wurde die Angst vor der Bildung einer neuen Frontlinie genannt. Man wollte die Peloponnes vor der Einnahme durch die Briten schützen. Der Feldzug endete mit einem Erfolg für das nazistische Deutschland, führte jedoch in der Folge zu zahlreichen heftigen Partisanenkämpfen, die für die Deutschen verlustreich waren. Vgl. http://www.dhm.de/lemo/html/wk2/kriegsverlauf/griechenland/index.html Stand: 30.09.2011. Wie Fühmann selbst im Werk darlegt, waren die Frontakademien hochschulartige Einrichtungen, in denen das Lernklima demjenigen an tatsächlichen Universitäten nahekam. Sie dienten vor allem den jungen Soldaten, die vom Krieg während ihres Studiums überrascht worden waren. Diese Frontakademien sollten es ihnen ermöglichen, trotz ihrer außergewöhnlichen Situation ihrem Bildungsstreben nachzugehen.

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schuldig zu werden? Beide diskutieren im Geiste der nationalsozialistischen Ideologie und Philosophie die ‚Schauspieler‘ P. und S. Im König Ödipus Fühmanns lassen sich drei unterschiedliche Deutungsvarianten in Bezug auf die Frage nach der Willensfreiheit bemerken: Zunächst die klassischphilologische, ihr Vertreter ist der Hauptmann der Reserve, Prof. Dr. Johannes N. Als Altphilologe ist er spezialisiert im Altgriechischen. In der Novelle bildet der Gelehrte eine Art Brücke zwischen der humanistischen Überlieferung des 18. Jahrhunderts und der mythischen Geschichtsklitterung von Pseudowissenschaftlern um Alfred Rosenberg. Seine gelehrte Bildung drückt sich in der Fähigkeit, akademisch zu extemporieren, aus: „Welchen Exkurs hätte er allein über die Spange auf der rechten Schulter Jokastes halten können [...].“19 Zweitens der Deutungsvorgang der Rassentheorie im Sinne des führenden Ideologen des Dritten Reiches – Alfred Rosenberg –, der die wichtigsten Unterschiede bezüglich der Rassengliederung vornimmt; seine ist die programmatische Doktrinschrift im nationalsozialistischen Deutschland, die vor allem den Antisemitismus hervorhebt. Rasse ist das Gleichnis einer Seele, das gesamte Rassengut ein Wert an sich ohne Bezug auf blutleere Werte, die das Naturvolle übersehen, oder in Bezug auf Stoffanbeter, die nur das Geschehen in Zeit und Raum erblicken, ohne dies Geschehen als das größte und letzte aller Geheimnisse zu erfahren. Rassengeschichte ist deshalb Naturgeschichte und Seelen-Mystik zugleich; die Geschichte der Religion des Blutes aber ist, umgekehrt, die große Welterzählung vom Aufstieg und Untergang der Völker, ihrer Helden und Denker, ihrer Erfinder und Künstler.20

Von der Philosophie Rosenbergs zeigen sich die beiden jungen Soldaten S. und P. beeinflusst. Sie versuchen anhand jener, die Interpretation der Schuldfrage im Ödipus von Sophokles festzulegen.21 Schließlich gelangt P. zu der Erkenntnis, dass „Ödipus […] gegen das höchste Gebot verstoßen [hatte], gegen das Gesetz des Blutes, gegen das Gesetz der heiligen Natur, [...] so war es dort genug gewesen, das Königsblut verdorben zu haben, um aufhören zu müssen, zu zeugen und zu gebären.“22 Drittens sind Mythen keine Befreiungsmythen. Sie präsentieren Helden, die sich durch ihr Handeln nicht selbst befreien. Das können sie auch gar nicht, denn ihr Handeln ist ebenso wenig selbstbestimmt und Produkt ihres freien Willens wie der Befreiungsakt, der nicht erwirkt wird. Das Individuum, oder besser gesagt der Schauspie-

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Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 117. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts (Anm. 9), S. 16. Es sei noch einmal auf den Essay Fühmanns Das mythische Element in der Literatur verwiesen. Dort vermerkt der Autor auch den vernichtenden Charakter der Schrift und enttarnt Rosenberg als Pseudo-Wissenschaftler, als eine Art Scharlatan und Volksverführer. Vgl. Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur. In: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock 1975, S. 147–219, hier S. 207. Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 162.

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ler auf der Erdenbühne, muss sich der göttlichen Bestimmung, dem Schicksal, fügen. Daher sind die antiken Mythen immer Determinationsmythen.23 Diese Varianten lassen sich in Bezug setzen zu den Bewältigungs- und Aufarbeitungsmaßnahmen des Krieges in der DDR. Dort herrschte vor allem die aufklärerische Bewältigungsstrategie der Schuld. Diese basierte auf den beiden Aufklärungskomponenten ‚Erkennen‘ und ‚Handeln‘. Hierdurch sollte eine Wiedergutmachung der Schuld erwirkt werden. Der erste Schritt in diesem Prozess ist das Erkennen der Schuld. Ist dies erfolgt, leitet sich das korrekte Handeln alternativlos ab, was die Aufhebung der Schuld bewirkt.24 Das gesamte Stück kreist um die Erschließung der Frage, inwiefern sich Ödipus schuldig gemacht hat. Seine Schuld kann nicht eindeutig bewiesen werden, denn eine notwendige Bedingung schuldhaften Handelns ist ein entsprechendes Gesetz, gegen welches das Individuum mit seinem Handeln verstößt. Die Frage ist, ob man ohne ein solches Gesetz schuldig werden kann; oder – andersherum gefragt – ob eine unbewusste Schuld existiert. Diese unbewusste Schuld könnte etwa die Pietät betreffen – das moralische Bewusstsein. Diesen Konflikt wollen die beiden Kameraden S. und P. aus der Perspektive der Rosenberg’schen Theorie ergründen. Ihr Mentor während dieser Überlegungen ist Johannes N., der von der gesamten Rassentheorie Rosenbergs gar nichts hält, von seinen Ausführungen eher angewidert zu sein scheint. Gelegentlich nennt er Rosenberg während seiner Vorlesungen ‚aus Versehen‘ Rosenzwerg.25 Dies ist zugleich die einzige Form des Widerstands, die sich der gebildete Professor noch erlaubt. Hauptmann N., als Mentor der beiden Soldaten und zugleich als Mentor der Generation „einer unverantwortlichen Bildungs- oder besser wohl Unbildungspolitik“26 des Dritten Reiches, hätte mehrfach die Gelegenheit gehabt, sich gegen das Regime zu stellen. Er selbst wählt für sich in der vorbereiteten Inszenierung des Stückes von Sophokles den Part des blinden Weisen Teiresias. Im Original war Teiresias ein handelndes Individuum, zwar blind, aber dennoch imstande, die Zukunft vorherzusehen. Der Blinde als Sehender; hier liegt der erste entscheidende Punkt, in welchem sich der Hauptmann und sein antikes Vorbild unterscheiden. Denn Johannes N. hätte mehrfach die Zukunft vorhersehen und seiner Vision gemäß handeln – und sich somit moralisch von seiner Schuld befreien – können, unterlässt es aber dennoch. Ein erster Ansatzpunkt offenbart sich bei der Betrachtung seiner Geschichte: Im König Ödipus währt 23

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Im Gegensatz zu beispielsweise den germanischen Mythen, in denen dem Helden sein Schicksal zwar auch durch Nornen vorherbestimmt wird, er diesem jedoch nicht passiv ausgeliefert ist, sondern aktiv an der Gestaltwerdung seines Fatums mitarbeitet. Vgl. den Artikel Schuld im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Unter Mitwirkung von mehr als 1200 Fachgelehrten. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Völlig neubearbeitete Ausgabe des ‚Wörterbuchs der philosophischen Begriffe‘ von Rudolf Eisler. Bd. 8: R-Sc. Darmstadt 1992, Sp. 1442–1472. Vgl. Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 120. Ebd., S. 119.

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bereits das fünfte Kriegsjahr. Die geplanten und missglückten Hitler-Attentate liegen bereits in der Vergangenheit. Der Hauptmann gehörte der Gruppe der Verschwörer des 20. Juli an, „der so verheißungsvoll begonnen und dann so kläglich gescheiterten Verschwörerbewegung gegen die Führungsclique des Reiches […].“27 Sein Entschluss, sich den Verschwörern anzuschließen, resultiert aus seiner vorangegangenen Teilnahme an der Ermordung zahlloser Juden in Polen.28 Damals begann er zu begreifen, dass das ganze Dritte Reich samt seiner herrenrassistischen Ideologie in Wirklichkeit bloß menschenverachtende Bestialität verkörpert, nicht etwa die Ideale, für die er eigentlich einzustehen glaubte. Dieser Bestialität musste ein Ende gesetzt werden, denn was er weiter vorhergesehen hatte und was ihn dem Seher Teiresias annähert, war der totale Untergang des Reiches. Er ist also zu einer seine Sichtweise verändernden Erkenntnis gelangt, was ihn vor die Wahl stellt, weiter schuldig zu sein oder etwas gegen das zu Reich unternehmen. Natürlich muss auch hierbei berücksichtigt werden, dass er zum Teil ideologietreu ist. Hinzu kommt, dass er noch typischen preußischen Werten, wie z. B. Gehorsam gegenüber Vorgesetzten, verhaftet ist. Aus dem Inhalt der Novelle geht deutlich hervor, dass er nur geistig an der Verschwörung Anteil nimmt. Dabei nimmt er den Habitus des reflektierenden Randständigen an, der die gesamte Situation intellektuell analysiert. Trotzdem erfährt er die Konsequenzen seines Handelns, denn man bestellt ihn zu verschiedenen Verhören, und sein Ansehen und seine Position innerhalb der führenden militärischen Reihen des Dritten Reiches werden stark angekratzt, weshalb er sich gezwungen sieht, nur umso härter an der Wiederherstellung seiner alten Stellung zu arbeiten. Dazu gehört auch das zeitpolitisch einwandfreie Predigen der Rosenberg’schen Philosophie, von der er persönlich und als Gelehrter dennoch nichts hält. Seine Angst stellt den hemmenden Faktor dar, der ihn an jeglicher Handlung hindert. Sie ist es auch, die ihn zu einem „falschen Teiresias, „‚der alles wußte und nicht zu sprechen wagte, aus Angst vor dem Kommenden, aus erbärmlicher, feiger, elender Angst‘“ werden ließ.29 Er hätte handeln und somit nicht nur sich, sondern auch die durch die Rosenberg’sche Philosophie irregeleiteten beiden jungen Soldaten retten können. Doch diese Möglichkeit bleibt fiktiv.

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Ebd., S. 120. Auffallend scheint, dass sobald im Werk irgendwelche grausamen Zwischenfälle, Massaker und Kriegsverbrechen aus der Vergangenheit geschildert werden, ihr Handlungsraum immer in Ostpolen oder der Ukraine liegt. Das kann einerseits der Fall sein, weil auf galizischem Gebiet der Krieg von Anfang an besonders heftig wütete und dort die verbissensten Kämpfe stattfanden. Andererseits kann die Wahl des Handlungsortes als erneute Anspielung auf den vernichtenden Einfluss Alfred Rosenbergs auf die Geschehnisse gewertet werden. Rosenberg war nämlich zeitweise in ebenjenem Raum Reichsminister, wenngleich er keine großen administrativen Erfolge zu feiern vermochte. Vgl. Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945. Hg. v. Walther Hofer. Frankfurt/Main 1957, S. 12, 19, 124, 151, 169, 236, 248, 279. Marcel Reich-Ranicki: Der exemplarische Weg des Ostberliner Schriftstellers Franz Fühmann. Rezension von 1967. In: Heinze (Hg.): Franz Fühmann. Eine Biographie (Anm. 1), S. 147.

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Der Professor verfügt über Gelegenheiten, die beiden Soldaten S. und P. während ihrer Überlegungen bezüglich der Schuldfrage im Ödipus auf die richtige Fährte zu bringen. Sie tappen aus Gründen seiner mangelnden Führung jedoch weiterhin im Dunklen und versuchen krampfhaft, den König Ödipus gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie zu interpretieren. Als sie ihre Erkenntnisse stolz dem Hauptmann präsentierten, nimmt er zwar völlig entsetzt zur Kenntnis, dass ihre Darlegungen von rassenideologischer Indoktrinierung zeugen, bringt dies aber zu keiner Zeit konkret auf den Punkt. Er hat zwar den Gedanken, ihnen die Wahrheit darzulegen, und empfindet die Gelegenheit als ‚günstig‘, lässt diesen jedoch wieder fallen. Er fühlte sich von einem heftigen Reuegefühl ergriffen; er dachte die Hand auf den Scheitel der beiden zu legen und ihnen ins Auge zu sehen und zu ihnen zu sagen: Hört, Jungs, was ich euch da verzapft habe, war nichts als Quatsch, der wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar ist, und ich schäme mich dafür, denn ich hab es aus Feigheit getan, jawohl, aus blanker, nackter, schäbiger Feigheit [...] und da, auf dem Gipfel seines Entschlusses und dem des geistigen Unflats zugleich, […] begann der Kopf des Gelehrten zu nicken, ein nickendes Siegel unter Unrat und Lüge […].30

Stattdessen versucht er sie ‚durch die Hintertür‘ auf die richtige Spur zu leiten. Er trachtet, den beiden König Ödipus im Sinne der Frömmigkeit und des preußischen Geistes zu erklären.31 Da aber beide jungen Soldaten mit der nationalsozialistischen Ideologie aufgewachsen und die Existenz einer anderen Wahrheit gar nicht wahrzunehmen imstande sind, können sie auch den versteckten Andeutungen von N. nicht folgen, stattdessen quittieren sie seine Ausführungen als „Mist“.32 N. ist sich seinerseits jedoch sicher, seine Schuld beglichen zu haben, schließlich hofft er, durch seinen geistigen Exkurs P. und S. auf die richtige Fährte geführt zu haben. Das Bewusstsein der Schuld begleitet ihn jedoch weiter, er versucht sogar, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, indem er postuliert, dass er gar kein Recht dazu habe, die Lehre Rosenbergs als Unlehre abzustempeln – vielmehr beruhe eine solche Beurteilung doch auf der Prämisse der Subjektivität.33 Die dritte, bereits im Werk angesprochene Möglichkeit, sich als moralische Instanz zu offenbaren, bietet sich N. während einer Fahrt in die Stadt. Dorthin begibt sich die Einheit, um ein Chiffriergerät abzuholen. Dabei fürchten sie, auf von Partisanen gelegte Minen zu stoßen. Deswegen missbrauchen sie als ‚Zwangsvorläufer‘ einen griechischen Bauern und seine Enkelin. Während der Reise kommt es zur Explosion, das Mädchen und der Bauer werden in die Gestapo-Zentrale gebracht, und am nächsten Tag hängen die Körper der beiden an einem Baum am Marktplatz der Stadt. Der Hauptmann hätte sowohl die Möglichkeit als auch die Macht dazu gehabt, das griechische Mädchen zu befreien. Er wusste, dass sie unschuldig an dem Minenanschlag war. Der Hauptmann 30 31 32 33

Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 144f. Vgl. ebd., S. 146ff. Ebd., S. 148. Vgl. ebd.

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spielt auch tatsächlich kurzzeitig mit dem Gedanken, ins Sicherheitsamt zu gehen und das Mädchen zu befreien. Seine Überlegungen schreiten so weit voran, dass er die Stiefel anziehen und sich auf den Weg begeben will. Seine Angst hält ihn erneut vom moralisch richtigen Handeln ab. Er befürchtet, dass zu seiner Person bereits eine belastende Akte angelegt wurde und er sich mit dieser Aktion nur weiter in Bedrängnis bringen könnte. Um sich von seiner unmissverständlichen Schuld zu befreien, vollzieht er eine beispiellos symbolische Handlung – er wäscht sich die Hände:34 [D]ann hatte er das Becken mit dem seifigen Wasser gesehen, in dem er so lange seine Hände gewaschen, und als er gesehen hatte, daß das Wasser nicht rot war, hatte er sich ein wenig erleichtert gefühlt. Dann hatte er sich an den Tisch gesetzt und eine Pfeife gestopft und sich gesagt, daß er seinen beiden Schülern wohl noch einmal eine treffendere Deutung des ÖdipusMythos werde geben müssen, da er, dies wußte er jetzt vollkommen sicher, sie beim Gespräch im Zelt nicht hatte überzeugen können[...].35

Jetzt kommt es zu einer Schlüsselszene der Novelle, Hauptmann Neubert tritt aus seinem Zelt heraus und bemerkt endlich, in welchem Quartier die Soldaten der Nachrichteneinheit hausen. Es ist ein ehemaliger Zoo. Einen Einblick in die Zustände vor Ort bekommt man als Leser sowohl aus einer Innensicht als auch aus der Außenperspektive präsentiert. Die äußere Sichtweise macht einen harmonischen, ruhigen Anschein: Bauern ziehen vorbei, die Zeit verläuft in geruhsamem Rhythmus, alles scheint friedlich. Doch wirft man einen Blick ins Innere, so wird ein Gesellschaftsbild erkennbar, dem gemäß der Mensch ein Wolf ist und seine Mitmenschen folglich wie ein Wolf traktiert.36 Die Soldaten leben in Käfigen, sie müssen voneinander getrennt sein, ansonsten würden sie sich zerfleischen, nicht anders als die wilden Tiere, die ihre Käfige ursprünglich bewohnten. In drei Sprachen – Deutsch, Latein und Griechisch – stehen über den Käfigen die Namen ihrer vorherigen Bewohner, etwa Canis Lupus, also Gemeiner Wolf, oder Hyäne, Bär und Fuchs. Hierbei wird deutlich auf das Gesellschaftsbild in Hobbes’ Leviathan angespielt.37 Sie gelangen nicht ins Außen – vor allem nicht aus eigener Kraft. Dieses Bild erschüttert den Hauptmann, denn er

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Das gleiche Ritual vollzieht Pontius Pilatus, nachdem er Jesus zur Kreuzigung freigegeben hat. Die Parallele zum Hauptmann ist offenkundig. Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 164. Ein Gesellschaftsbild, das vor allem mit demjenigen des Philosophen Thomas Hobbes korrespondiert, dessen Theorie von den Machtverhältnissen und der Organisation des Staates sowie der notwendigen Aufgabe der persönlichen Freiheit und der freiwilligen Staatsgründung kündet. Bei Fühmann bewahrheitet sich die Aussage, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist – Homo homini lupus. Auch die beiden Soldaten P. und S. sitzen in Wolfskäfigen. Es handelt sich hierbei um das Gesellschafts- und Staatsbild, das Hobbes im Leviathan fundiert hat. Demnach ist der Mensch nicht gesellig, die Gesellschaft ist ihm nur dazu erforderlich, seine eigenen Interessen zu verwirklichen. Vgl. Julian Nida-Rümelin: Leviathan, ore the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall and Civill. In: Lexikon der philosophischen Werke, hg. v. Franco Volpi und Julian Nida-Rümelin. Stuttgart 1988 (Kröners Taschenausgabe 486), S. 404ff.

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sah seine Männer, deutsche Soldaten, und er sah das Mädchen, und er sah die Gehenkten, sah alle Gehenkten und alle Erschossenen und alle Gemarterten und Gequälten und Erniedrigten und Gezeichneten [...] und wußte, daß er der Schuldigste war. Er war der Schuldigste; die anderen waren verblendet, er aber hatte sehen dürfen: daß an der Spitze des Reiches Verbrecher standen und daß der Krieg Deutschlands Schändung und Untergang war und wie eine Pest über den Völkern dauern würde[.]38

Klar wird, dass das Kulturbild der Gesellschaft ein Gewaltbild ist. Die Käfige stehen zudem für die gesellschaftlichen Konventionen und moralischen Regeln, die herrschen. Sinnbildlich manifestiert sich das Moment der Schuld in der Novelle, wenn Hauptmann und Soldaten sich immer wieder für die Käfige entscheiden, also den gesellschaftlichen Konventionen Folge leisten. Des Weiteren sind diese Käfige jedoch auch als notwendige Einrichtungen zu verstehen, die die Gesellschaftsmitglieder in ihre Schranken weisen. Ohne diese Schranken würden sie sich gegenseitig zerfleischen – ganz wie die wilden Tiere, die ihre Käfige zuvor bewohnten. In diesen Käfigen erfolgt auch die Diskussion der Soldaten P. und S. über Schuld, dabei verwenden sie gerade ein Beispiel aus der Welt des Wilden, der als sein Totemtier eine Beutelratte verehrt. Diese wird von einem Weißen getötet, der sich dennoch – ihrer Auffassung nach – nicht schuldig macht. Beim Vergleich zwischen dem höherrangigen, kultivierten, arischen Weißen und einem Wilden begeben sich die beiden Soldaten auf die unterste, mit rassistischen Vorurteilen durchzogene Stufe der nazistischen Ideologie. So erläutert S. die rassische Überlegenheit der Deutschen: [H]ier stehen wir vor dem Gesetz der Natur. Die Menschheit ist eben in Rassen aufgespalten, die durch unübersteigbare Barrieren voneinander getrennt sind; jede Rasse hat eigene Gesetze, die ihren seelischen Werten entsprechen, und diese wieder sind unveränderbar. Der Deutsche war auch vor hunderttausend Jahren derselbe edle, hochherzige, tapfre und schöpferische Kulturbringer wie heute, und der Wilde wird auch in hunderttausend Jahren dasselbe Vieh wie heute sein. Verschiedene Rassenseelen – verschiedene innere Werte – verschiedene Gesetze – das ist der Ausgangspunkt!39

Bei diesem Anlass wird wieder der Einfluss der Pseudowissenschaft Rosenbergs auf ihre Anhänger sichtbar. Diese Vorstellungen basieren auch auf den Überzeugungen Houston Stewart Chamberlains aus dem 19. Jahrhundert. Er postulierte seine haltlose und im nazistischen Deutschland auf fruchtbaren Boden fallende Theorie vom „alleinige[n] Kulturschöpfertum der nordischen Rasse bzw. der Arier.“40 Chamberlains Überlegungen schließen wiederum an Hans F. K. Günther, genannt Rasse-Günther, an, der die Unterscheidung zwischen den jeweiligen Rassetypen – vor allem der nordischen und dem Rest der Welt – initiierte.41 38 39 40 41

Fühmann: König Ödipus (Anm. 13), S. 165. Ebd., S. 127. Heinz Schreckenberg: Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der deutschen Jugend unter Hitler. Anmerkungen zur Literatur. Münster 2000 (Geschichte der Jugend 25), S. 285. Vgl. ebd., S. 287.

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Eine illusionäre Brücke schlugen die Nationalsozialisten, als sie versuchten, ihre Verbindung zu den Hellenen darzulegen, um ihren Status als Herrenrasse zu untermauern und sich darüber hinaus als Erben der antiken Griechen zu profilieren. Auf diesen Anspruch wird in der Novelle Fühmanns mehrfach verwiesen. So versteht P. nicht, dass die Griechen gegen die Nazis opponieren, dass sie in Form von Guerilla-Einheiten Partisanenkämpfe durchführen. Seiner Auffassung nach sollten sie stattdessen Hand in Hand mit den Deutschen gegen die Kommunisten ins Feld ziehen.42 Diese Schlüsse zieht er aufgrund seines Glaubens an eine gemeinsame lange Tradition und Geschichte von Griechen und Deutschen; eine Überzeugung, die ebenfalls auf das Theoriegebäude Alfred Rosenbergs rekurriert: Auf dem Boden Griechenlands wurde weltgeschichtlich entscheidend der erste große Entscheidungskampf zwischen den r a s s i s c h e n Werten zugunsten des nordischen Wesens ausgetragen. Vom Tage, vom Leben trat nunmehr der Mensch ans Leben heran, von den Gesetzen des Lichts und des Himmels, vom Geist und Willen des Vaters aus entstand alles, was wir griechische Kultur als jenes größte Erbe des Altertums für unser Selbst nennen.43

Nach dem Krieg sollten die Griechen jedoch keinesfalls gleichrangige Gesprächspartner für die Nazis sein, sondern ihre Aufgaben im Hintergrund wahrnehmen. Diese Denkart wird zum Ausdruck gebracht, als das geplante Stück einstudiert wird. So beschränkt sich im König Ödipus die Rolle der Griechen lediglich auf ihren Auftritt im Chor, also in den hinteren Reihen. Sie werden in eine archaisch anmutende Hintergrundkulisse zurückgedrängt, ihre Rollen haben kein klar umrissenes Profil. Die individualisierten Rollen werden hingegen von NS-Soldaten verkörpert. Diese Rollenverteilung lässt ahnen, dass nach dem Kriegsende ein ebensolches Kräfteverhältnis auf gesellschaftlicher Ebene realisiert werden sollte. In Verbindung mit der Kriegsbewältigung werden verschiedene Gesellschaftsformen vorgestellt, und es entspricht der Intention des Hauptmanns, den König Ödipus innerhalb dieser gesellschaftstheoretischen Dimension zu deuten. So hat sich dieser Interpretation gemäß Ödipus schon allein deshalb schuldig gemacht, weil er in eine Zeit hineingeboren wurde, in der zwei Menschheitsepochen um Vorherrschaft ringen. Die eine, althergebrachte, basierend auf dem ‚Mutterrecht‘, ist die chaotische Epoche – das Matriarchat.44 Doch diese hatte ausgedient und sah sich einem Emporkömmling gegenüber, 42

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Von den heftigen Widerstandsmaßnahmen berichtete auch Jürgen Stroop, diese waren bereits 1943 weit vorangeschritten. Und erst als er in Griechenland seine Tätigkeit aufnahm, konnten sie in Ansätzen unterbunden werden. Er spricht vor allem vom heftigen Widerstand der Arbeiter und Bauern gegen die Nazis, von Überfällen auf nationalsozialistische Soldaten, aber auch den starken Repressalien gegenüber der Bevölkerung. Vgl. Kazimierz Moczarski: Gespräche mit dem Henker. Das Leben des SS-Generals Jürgen Stroop. Aufgezeichnet im Mokotów-Gefängnis zu Warschau. Berlin 1984, S. 274f. Dies unterstreicht erneut, dass Fühmanns Gestaltung des König Ödipus auf dokumentierten, tatsächlich bezeugten Begebenheiten fußt. Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts (Anm. 9), S. 25. Mit dem Mutter- und Vaterrecht setzte sich Rosenberg ebenfalls auseinander: „Wenn bei den Germanen die Frau hohe Achtung genoß, so nicht, weil hier noch mutterrechtliche Zustände als ‚erste

Zum Mythos als Emanzipationsmodell im ‚König Ödipus‘ von Franz Fühmann

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der – ebenfalls brutal und mit Waffengewalt – seinen Platz einforderte: der kriegerischen Ära des ‚Vaterrechts‘, des Patriarchats. Wie Fühmann in Bezug auf das nazistische Deutschland feststellt, reicht schon die bloße Tatsache des Hineingeborenseins in die eine Epoche aus, um Schuld auf sich zu laden. Auch in Ödipus’ Fall ist hier die Wurzel des Übels zu suchen, lebt er doch in einer Phase der Dämmerung zwischen den Epochen. Wenn Zeitalter vergehen, weil ihre Prinzipien ausgedient haben, erfolgt eine komplette Neubewertung der bis dato gängigen Prinzipien. Was bis zu einer solchen Zäsur weder verwerflich noch strafrechtlich relevant war, kann nachher sehr wohl als Verbrechen oder Schande erachtet werden. Ein Individuum, das in die Fahrtrinne eines Epochenwechsels gerät, ist insofern per se schuldig. Wenngleich beide Zeitalter kriegerische und vernichtende Tendenzen aufweisen, wähnt Fühmann eine dritte Ära im Werden. In ebenjener dritten Periode werden den beiden jungen Soldaten nicht nur brutal die Augen geöffnet, vor allem wird über sie gerichtet. In der Retrospektive werden Erkenntnisprozesse und Neubewertungsmechanismen in Gang gesetzt, die Schuld und Schande der Soldaten beweisen sollen. Es ist die aufkommende Nachkriegsgesellschaft, die vor dem Hintergrund eines humanistischen Glaubensbekenntnisses und mit dem Ziel der sozialistischen Utopie P. und S. zur Besinnung bringen soll. Doch wann wird Utopie zur Ideologie? Fühmann strebt mit seiner Deutung des mythologischen Stoffes eine neue Lesart an. In der von ihm angeregten Auslegung wird Erkenntnis nicht gemäß eines Aufklärungsmusters erwirkt. So wird zu keinem Zeitpunkt eine scharf umrissene utopische Vorstellung zum Ausdruck gebracht, der Autor bewegt sich fortwährend innerhalb der Grenzen eines akademisch-politischen Diskurses. Am Ende bleibt die Schuldfrage. Schuldlosigkeit gibt es nicht, das Schuldigwerden während des Zweiten Weltkrieges wird als gegebene, unausweichliche Realität hingenommen. Der letzte Abschnitt der Novelle wagt mittels der Vorstellungskraft des Professors N. einen Blick in die Zukunft – die Zukunft der Nachkriegszeit als Dämmerung einer neuen Epoche des Menschenrechts. Somit gibt der Autor Impulse zur Entwicklung eines neuen Weges, wenngleich vermutet werden muss, dass diese Impulse nicht von seiner Generation ausgehen können, da diese sich bereits in zu starkem Maße als vom Krieg beschädigt erweist. Auch die nachfolgende Generation könne nicht als Impulsgeber fungieren – nicht einmal nach vorangegangener Imprägnierung mit den Werten eines sozialistischen Weltbildes –, weil ihre Angehörigen aufgrund der Kriegserlebnisse ihrer Väter zum Teil traumatische Kindheiten durchleben mussten. Der Auftrag einer Neugestaltung der Zukunft wird als Utopie übertragen und an kommende Generationen vererbt, also weit in die Zukunft verschoben und einer Generation zugedacht, die nicht mehr vom Krieg geprägt ist. In der Sphäre der Kunst ist diese neue Weltordnung des Menschenrechts präfiguriert, jedoch bleibt die Frage bestehen, welche Generation endlich imstande sein wird, unvoreingenommen den aus der Vergangenheit tradierten Auftrag zu seinem utopisch gedachten Ende zu führen. Stufe‘ fortwirkten, sondern im Gegenteil, weil das Vaterrecht restlos verwirklicht war, das allein Stetigkeit gewährleistete und infolge der rassischen Artung des nordischen Menschen mit größter Achtung vor der Frau verbunden war.“ Ebd., S. 276.

MAŁGORZATA DUBROWSKA

Anna Seghers’ ‚erinnerte‘ und imaginierte Erinnerung an die NS-Zeit – die Perspektive der emigrierten Zeitzeugin

Als Jüdin, Kommunistin und verfemte Dichterin ging Anna Seghers mit ihrem Mann Laszlo Radvanyi und den beiden Kindern, die dem Ehepaar nach Frankreich folgten, 1933 ins Pariser Exil. Nachdem die französische Hauptstadt 1940 von den deutschen Truppen besetzt worden war, entging Seghers der Gestapo und floh mit den Kindern nach Marseille, während ihr Mann, in einem Lager am Rande der Pyrenäen interniert, erst einen Tag vor der Abreise der Familie nach Übersee entlassen wurde und in der Hafenstadt ankommen konnte. Am 24. März 1941 beginnt für die Radvanyis die Schiffsodyssee: Da die New Yorker Emigrationsbehörde den linken Intellektuellen die Einreise verweigert, flieht die Familie nach Mexiko-City. Im Alter von 33 Jahren verlässt die Schriftstellerin Deutschland und wird 14 Jahre nicht wiederkehren. Mit dem aufmerksamen Blick einer Exilantin begleitet und porträtiert Seghers aus der Ferne das nationalsozialistische Deutschland und eruiert die Folgen des Krieges für den Menschen: Die Zeit des Exils ist für sie als Autorin – trotz vieler banger Momente – eine künstlerisch fruchtbare Phase; in Prosa, Briefen und Essays gibt sie ihren Gedanken, Ängsten und Vorstellungen Ausdruck. Bereits im Pariser Exil nimmt sie als Journalistin, Dichterin und Rednerin am regen Kulturleben der französischen Hauptstadt teil. Ihre Vaterlandsliebe betitelte Rede, die sie 1935 auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur hält, gilt dem Verhältnis des Künstlers zum Vaterland und der Einstellung des Menschen zum Krieg. Die Autorin spricht, den Zweiten Weltkrieg antizipierend, von dem in kriegerischen Handlungen enthaltenen Verführungs- und Verlockungspotenzial: Es ist nicht mehr, daß der Krieg nur droht, er verlockt auch. Der Mensch an der Stempelstelle, am laufenden Band, im Arbeitsdienstlager ist ein Niemand. Der dem Tod konfrontierte Mensch scheint wieder alles. Im gewissen Sinne ist die Lüge wahr und deshalb furchtbar verlockend: ‚Das Vaterland braucht dich.‘ […] Auf einmal braucht es den ganzen Menschen, […]

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[d]as, wonach er seine Jugend lang dürstete, tritt scheinbar ein, er kann sich bewähren. Der Krieg wird zur Verwertung des Unverwertbaren, zum Ausweg der ausweglosen Welt.1

Indem die Autorin eine in der deutschen Gesellschaft eintretende Neubewertung bzw. Degradierung der Werte diagnostiziert, stellt sie ihren Landsleuten bereits am Vorabend des Krieges eine negative Diagnose: In dem von ihr als „Bauernbuch“ bezeichneten Exilroman Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932 (1933), in welchem Seghers „Begebenheiten in einem Dorf [ihrer] Heimat“2 bearbeitet, geht sie dem Problem der Anziehungskraft des NS-Systems nach. Den Nährboden für den siegreichen Einzug der NSIdeologie sieht sie in der Brutalisierung des Lebens der Dorfbevölkerung bereitet, die sich sowohl im rücksichtslosen Umgang mit anders denkenden Mitmenschen (Frau Rendel) als auch in der Degradierung der Frau zum Sexual- und käuflichen Prestigeobjekt (Susann Schüchlin, Sophie Bastian) manifestiert. Die Erzählerin, die einen direkten Zusammenhang zwischen der sozialpolitischen Lage und den Geschlechterpositionen im Dorf erkennt, kommentiert in der Schlusspassage des Romans: „In diesem Augenblick zerriß die Stille endgültig, und die Wildheit wurde sichtbar, die allen Dingen innewohnt.“3 Der erste Exilroman, der die Darstellung der dörflichen Realien, die sie von Ferienaufenthalten und den Berichten ihrer Kinderfrau Gaya kannte, in den Vordergrund rückt, bildet den Auftakt zur Entstehung weiterer Texte, in denen die Problematik des Krieges, der Verfolgung und des Todes thematisiert wird. Dem den Krieg antizipierenden Roman folgen zwei weitere wichtige Exilwerke der Autorin: Das siebte Kreuz und Transit. Der Roman Das siebte Kreuz, der 1937 im französischen Exil entstand und in Mexiko abgeschlossen und herausgegeben wurde,4 trägt den Untertitel Ein Roman aus Hitlerdeutschland und spielt im Rhein-Main-Gebiet, der Heimat der Autorin. Dem Text liegt eine authentische Geschichte zugrunde, die von Christa Wolf im Essay Glauben an Irdisches (1967/68), der dem Früh- und Exilschaffen der Kollegin gewidmet ist, erwähnt wird: „Einer der Flüchtlinge aus Deutschland hat ihr von den sieben Kreuzen erzählt, die für sieben entflohene Häftlinge aufgerichtet 1

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Anna Seghers: Vaterlandsliebe. Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur 1935. In: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Die Tendenz in der reinen Kunst. Hg. v. ders., bearbeitet und eingeleitet von Sigrid Bock. Berlin 1970, S. 63–66, hier S. 65. Anna Seghers bezeichnet den Roman 1951 selbst so. Zitiert nach Christiane Zehl-Romero: Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947. Berlin 2000, S. 316. Anna Seghers: Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932. Berlin und Weimar 1984, S. 178. Die ersten zwei Kapitel des Romans Das siebte Kreuz erschienen 1939 in der Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur. Nachdem das Buch 1942 in Boston in englischer Fassung und in Mexiko in deutscher Sprache erschienen war, wurde die erste Buchausgabe in Deutschland 1946 im Aufbau-Verlag in Berlin publiziert. Den Roman Transit begann Seghers während ihrer traumatischen Erlebnisse auf der Überfahrt von Europa nach Amerika (1941) und arbeitete daran bis 1943. Der Text erschien 1944 in englischer und spanischer Sprache, bevor er 1948 in Konstanz zum ersten Mal in Deutschland erscheinen konnte. Vgl. Zehl-Romero: Anna Seghers (Anm. 2), S. 378.

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wurden. Sie nennt das Lager Westhofen, den Flüchtling, der nicht gefangen wird, dessen Kreuz leer bleibt, Georg Heisler.“5 Der Arbeit am Roman geht eine Recherche voraus. Christa Wolf schreibt im Essay Das siebte Kreuz (1963) über den Entstehungshintergrund: Das Material für ihr Buch, die Tatsachen erfragt sie sich von Menschen, die aus NaziDeutschland flüchten konnten. […] Sie ist gewöhnt, Menschen zum Reden zu bringen, ihre Geschichten aufzunehmen und zu verarbeiten. Als Historikerin weiß sie mit Zeitungsmeldungen, Dokumenten, Archivmaterial umzugehen […].6

Anna Seghers, die sich rückblickend (1965) zum Welterfolg ihres Romans äußerte, hob hervor, dass ihre Intention darin bestand, dem Publikum zu zeigen, „daß Hitler, bevor er sich auf fremde Völker gestürzt hat, den besten Teil seines eigenen Volkes kaputt gemacht hat.“7 Die „dokumentarische Treue ihrer Vorstellungskraft“ sowie das „Gegenwartsbewußtsein der Autorin, das ‚Jetztgefühl der Epoche‘[,]“8 so Christa Wolf, machen aus dem Material ein literarisches Kunstwerk. Dank der Überlappung zweier Perspektiven, d.h. durch das Zusammenspiel von imaginierter Erinnerung an die Heimat und Gegenwartssinn, kann das Leben im nationalsozialistischen Deutschland aus der Ferne des Exils geschildert, begleitet und kommentiert werden. Der anonym bleibende auktoriale Erzähler porträtiert in emphatischem Stil die der Autorin vertraute, aus der Erinnerung abgerufene Rheinlandschaft und das alltägliche Leben der ‚kleinen Leute‘ unter dem nationalsozialistischen Regime, im Vordergrund der Handlung steht jedoch das Motiv der Flucht eines politischen Häftlings aus dem Konzentrationslager. Durch die parallelisierte Schilderung der noch heilen Alltagswelt und des gefährlichen Fluchtwegs führt die Schriftstellerin in diesem Roman den für ihr Œuvre charakteristischen, dualistischen Motivkomplex des „gewöhnliche[n] und gefährliche[n] Leben[s]“9 ein. Gäbe es auf dem ‚Tanzplatz‘ des Konzentrationslagers Westhofen nicht jene Kreuze, die man für die sieben geflohenen Häftlinge hat anfertigen lassen, könnte das im Eingangskapitel entworfene Bild des Rhein-Main-Gebietes idyllisch anmuten. Die Autorin kontrastiert die Schilderung des beruhigenden Alltags und der einhergehenden Geborgenheit jedoch mit der Bedrohung durch das Gefühl permanenten Ausgeliefertseins und tödlicher Gefahr. Die Menschen gehen zur Arbeit, die Frauen backen Streuselkuchen zum sonntäglichen Kaffee, die Felder werden bebaut und das Vieh gefüttert, aber au5 6 7 8 9

Christa Wolf: Glauben an Irdisches. In: Christa Wolf / Anna Seghers: Das dicht besetzte Leben. Briefe, Gespräche und Essays. Hg. v. Angela Drescher. Berlin 2003, S. 99–129, hier S. 106. Christa Wolf: Das siebte Kreuz. In: Ebd., S. 69–84, hier S. 72. Anna Seghers: Ein Gespräch mit Anna Seghers. In: Ebd., S. 85–98, hier S. 92. Christa Wolf: Das siebte Kreuz, In: Ebd., S. 73 u. 78. Friedrich Albrecht: ‚Die Unruhe, die in uns steckt.‘ Anna Seghers in ihren Gestalten. In: Anna Seghers im Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Studien und Diskussionsbeiträge. Hg. v. Alfred Klein, Roland Opitz und Klaus Pezold. Leipzig 2001 (Texte zur Literatur 9), S. 13–37, hier S. 16.

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ßerhalb der scheinbar friedlichen Welt gibt es eine andere Wirklichkeit, die des Konzentrationslagers, in der Menschen geprügelt und zu Tode gequält werden. Die Darstellung der Folterszenen im Lager sowie die Schilderung von Georgs Flucht, welcher schlussendlich der Verfolgungsjagd entkommt (Episoden, die beide ausdrucksstark gestaltet sind), verweisen auf den Gegenwartsbezug des Romans, der die nationalsozialistisch motivierten Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs antizipiert. Die zeitgenössische Thematik geht hier mit der Einsetzung und Bearbeitung biblischer und märchenhafter Stoffe einher: Georgs mystisch anmutende Erfahrung des Mainzer Doms, des Wahrzeichens der Stadt, und der Bericht des namenlosen Häftlings von den verbrannten Kreuzen und der gelungenen Flucht fügen sich zu einem metaphorisch-märchenhaften Geflecht zusammen,10 welches das poetische Konzept der „verzauberten Welt“11 verkörpert, von dem die Autorin vorausdeutend in dem Briefwechsel mit Georg Lukács geschrieben und es dann in ihren Texten verwirklicht hat. An der Verzauberung der Welt schreibt Seghers in ihrem nächsten Exilroman, Transit, dessen Entstehungsbedingungen von der Dramatik des Exils, von Flucht und Angst geprägt sind, weiter. In einem Brief an Lew Kopelew äußert sich die Autorin zur Entstehung: „Das Buch ist in Marseille entstanden, in den erwähnten Cafés, wahrscheinlich sogar, wenn ich zu lange warten mußte, in Wartezimmern von Konsulaten, dann auf Schiffen, auch interniert, in Ellis Island in USA, der Schluß in Mexiko.“12 Der Fabel des Romans, die in ihrem Kern aus einer Liebesgeschichte besteht, liegt das Grundmuster von Racines Liebestriangel-Tragödie Andromaque zugrunde. In den Briefen an Leser erläutert die Autorin ihr poetologisch vorgeprägtes Konzept wie folgt: „Was mit dieser Frau und ihren zwei Freunden und ihrem toten Geliebten passiert, das gleicht der Handlung von Andromaque: Zwei Männer kämpfen um eine Frau, aber diese Frau liebt in Wirklichkeit einen dritten Mann, der schon tot ist.“13 In Transit stößt der Ich-Erzähler Seidler im okkupierten Paris durch Zufall auf die Spuren des Schriftstellers Weidel14, der – verfolgt und allein –, Selbstmord beging. In Marseille, der Zufluchtsstätte von ausreisewilligen Exilanten und Flüchtlingen, begegnet Seidler dann Marie, der Frau des toten Schriftstellers, die den Arzt, mit dem sie aus Paris geflohen ist, nicht mehr liebt und die nichts vom Tod ihres Mannes weiß. Im Labyrinth der engen Gassen und dürftigen Cafés, überfüllten Hotels und der Konsulate der 10 11 12 13 14

Vgl. hier mein Buch ‚Und ich brauch doch so schrecklich Freude‘. Frauentopoi im Werk von Anna Seghers. Lublin 2009, besonders S. 201–212. Gudrun Fischer: „Acht essen von sieben Tellerchen.“ Märchen- und Sagenmotive in Anna Seghers’ Roman „Das siebte Kreuz“. In: Argonautenschiff 2 (1993), S. 133–147, hier S. 142. Anna Seghers: Briefe an Leser. Berlin und Weimar 1970, S. 43f. Ebd., S. 45. In der Figur des durch Suizid verstorbenen Literaten setzt Anna Seghers dem Schriftsteller Ernst Weiß ein Denkmal. Ernst Weiß ist sie in Paris begegnet, er lebte kurze Zeit in der Nähe ihres Hotels. Von der Hotelwirtin erfuhr die Schriftstellerin von seinem Freitod. Vgl. ebd., S. 40f.; und Kurt Batt: Transit. In: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke. Hg. v. dems. Leipzig 1973 (RUB 531), S. 152–164, hier S. 156.

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Hafenstadt sucht sie, von Gewissensbissen und Schuldgefühlen getrieben, vergebens nach ihrem Mann. Da Seidler sich in Marie verliebt hat, versucht er, sie für sich zu gewinnen. Der Kampf mit dem Rivalen scheint jedoch sinnlos, weil Marie den Tod ihres Mannes nicht wahrhaben will. Schließlich verlässt sie den Marseiller Hafen – in der Hoffnung, ihren Mann in Übersee treffen zu können – und ertrinkt zusammen mit dem Arzt. Der Ich-Erzähler berichtet davon rückblickend einem namenlosen Flüchtling in Marseille. Für den zynischen, entwurzelten und illusionslosen Flüchtling Seidler, der, ähnlich wie seine Leidensgenossen, unermüdlich Anträge auf ein Visum stellt, wird Marie zur absoluten Referenz: Um ihretwillen erzählt Seidler emotional aufgewühlt die Geschichte seiner Liebe. Die Konstruktion der Figur speist sich aus den Traditionen des Märchens und des Mythos; dieser Zusammenhang manifestiert sich in der Form des Zeitbezugs, der für Marie in der „Gegenwart des Vergangenen“15 besteht: Was die Protagonistin sucht, gehört eigentlich der Sphäre von Erinnerung und Vergangenheit an. Rastlos, schwankend zwischen Hoffnung und Resignation, betreibt sie ihre vergebliche Suche nach dem verlorenen Geliebten. Sie scheint, den Figuren der griechischen Mythologie oder der bibelinspirierten Volkserzählungen gleich, wie Sisyphos zur ewigen Arbeit oder Ahasver zum ewigen Wandern16 – zum ewigen Suchen – verurteilt. Der Zustand permanenten, rastlosen Suchens sowie Gefühle der Unsicherheit und Unruhe fungieren hier wohl als von Göttern oder selbst auferlegte Strafen, können aber auch als direkter biographischer Bezug auf bange Monate des Wartens der Autorin auf eine Gelegenheit zur Ausreise interpretiert werden. In der mythisch inspirierten Wiederholung, dem fluktuierenden Zyklus, kehrt die Figur in der suchenden Geste immer wieder. Der zeitlose Vorgang wird als Facette der mythischen Such-Handlung expliziert. „Sie mußte schon tausend Jahre an diesem Fenster gesessen haben, in kretischen und phönizischen Tagen, ein Mädchen, das vergebens nach seinem Geliebten späht unter den Heeren der Völkerschaften, doch diese tausend Jahre waren vergangen wie ein Tag.“17 15

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Augustinus untergliedert die einzelnen Formen des Zeitbezugs in „Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen.“ Vgl. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. In: Werke. Bd. 1: Buch 11. Hg., eingeleitet und übertragen von Wilhelm Thimme. Zürich 1950, S. 318. Auf diesen Schwebezustand in der „Gegenwart des Vergangenen“ macht auch Erika Haas in ihrer Seghers-Studie aufmerksam. Vgl. Erika Haas: Ideologie und Mythos. Studien zur Erzählstruktur und Sprache im Werk von Anna Seghers. Stuttgart 1975, S. 84. Ahasveros ist im Buch Esther ein persischer König, unter dessen Herrschaft der Minister Haman ein jüdisches Pogrom geplant hatte (Esther 3,12). Der biblische Stoff diente dann als Vorlage zur Entstehung der antijüdischen Pamphlete. In dem 1602 herausgegebenen Volksbuch mit dem Titel Kurze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus wird die Geschichte eines jüdischen Schusters namens Ahasverus aus Jerusalem erzählt, vor dessen Haus Jesus – als er sein Kreuz nach Golgatha trug – ausruhen wollte und von dem er mit Schimpfworten vertrieben wurde. Christus belegte den Juden mit einem Bann: Er sollte die Welt barfuß durchwandern. Zu den Adaptationen des Ahasver-Stoffes vgl. Avram Andrei Băleanu: Der ‚ewige Jude‘. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. v. Julius H. Schoeps und Joachim Schlör. München und Zürich 1995, S. 96–102. Anna Seghers: Transit. Berlin und Weimar 1991, S. 216.

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Der Krieg und die immer näher rückenden deutschen Truppen, die für die auf ein Schiff oder ein Visum wartenden Flüchtlinge eine reale Bedrohung darstellen, bilden die Kulisse der metaphorischen Handlung. Marseille wird im Roman zum mythischen Ort, zur mythisch-mediterranen Zufluchtsstätte am Ende der Welt stilisiert: „Hier mußten immer Schiffe vor Anker gelegen haben, genau an dieser Stelle, weil hier Europa zu Ende war und das Meer hier einzahnte, immer hatte an dieser Stelle eine Herberge gestanden, weil hier eine Straße auf die Einzahnung mündete.“18 Während in Transit die Schrecken des Krieges indirekt, verschlüsselt zu Papier gebracht werden, gibt die Autorin in den Erzählungen Zwei Denkmäler und Der Ausflug der toten Mädchen unverhüllt ihrer imaginierten Kriegsvision Ausdruck. Aus dem verschollenen Romanprojekt Weiße Hochzeit, an dem Seghers 1940 arbeitete,19 stammt eine kleine Geschichte, deren spätere Fassung (entstanden 1965) den Titel Zwei Denkmäler trägt. Die im Titel genannten Denkmäler, die zum Stadtbild von Mainz, dem Heimatort der Schriftstellerin, gehörten, werden in der Erzählung zu Dingsymbolen.20 Außer dem Mainzer Dom, der in der Geschichte, ähnlich wie im Roman Das siebte Kreuz, als Wahrzeichen der Stadt fungiert, nennt die Erzählerin einen Gedenkstein, der zum Gedächtnis einer Frau errichtet wurde, die im Ersten Weltkrieg während eines Bombardements ums Leben kam, als sie Milch für ihr Kind holen wollte. Das in der Novelle erinnerte Mutterschicksal geht auf eine wirkliche Begebenheit zurück: Die junge Mutter zweier Kinder, Meta Cahn, kommt beim Fliegerangriff auf Mainz im Frühjahr 1918 ums Leben. Ihr Mann emigriert 1939 nach Israel und die Tochter nach Buenos Aires.21 In der Fassung von 1965 sagt die Erzählerin gleich zu Beginn, es handle sich um „erinnerte Erinnerung“: „In der Emigration begann ich eine Erzählung, die der Krieg unterbrochen hat. Ihr Anfang ist mir noch in Erinnerung. Nicht Wort für Wort, aber dem Sinn nach. Was mich damals erregt hat, geht mir heute noch nicht aus dem Kopf. Ich erinnere mich an eine Erinnerung.“22 18 19

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Ebd., S. 90. Die Autorin begann 1940 in Pamiers, der südfranzösischen Stadt, in der sie mit ihren Kindern lebte, die Arbeit an diesem Roman, dessen Manuskript später verlorenging. In der kleinen Geschichte Zwei Denkmäler (1945, 1965) nahm sie das Muttermotiv auf, während sie 1965 die Konzeption des verschollenen Romans herausarbeitete und ihrer Freundin Christa Wolf referierte. Vgl. Wolf: Glauben an Irdisches (Anm. 5), S.113. Vgl. auch: Anna Seghers: Aus einer unveröffentlichten Novelle ‚Mariage Blanc‘. [Mit einer Zeichnung der Mainzer Altstadt und des Doms von Xavier Guerrero.] In: Demokratische Post. Organo de los Alemanes Democrátos de Méxiko z CentroAmérica, 1.8.1945; und die überarbeitete Geschichte Zwei Denkmäler. In: Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren. Hg. v. Klaus Wagenbach. Berlin 1965. Die beiden Geschichten (Fassung 1945: Zwei Denkmäler. Aus einer unveröffentlichten Novelle ‚Mariage Blanc‘ und Fassung 1965: Zwei Denkmäler) wurden erneut abgedruckt in Argonautenschiff 6 (1997), S. 114–116. Vgl. Zehl-Romero: Anna Seghers (Anm. 2), S. 84. In der Gegenüberstellung der beiden Denkmäler sieht Zehl-Romero die Opposition „von Macht und Ohnmacht, oben und unten, christlich und jüdisch, und unausgesprochen, von männlich und weiblich.“ Ebd. Vgl. Sonja Hilzinger: Anna Seghers. Stuttgart 2000, S. 124. Anna Seghers: Zwei Denkmäler. In: Argonautenschiff 6 (1997), S. 116.

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Die nur noch vage Erinnerung an die verschollene Geschichte scheint mit der schwindenden Erinnerung an den Gedenkstein einherzugehen, von dem die Erzählerin behauptet, sie wisse nicht, ob es ihn in der Stadt noch gebe: „Der Dom hat die Luftangriffe des zweiten Weltkriegs irgendwie überstanden, wie auch die Stadt zerstört worden ist. Er ragt über Fluß und Ebene. Ob der kleine flache Gedenkstein noch da ist, das weiß ich nicht. Bei meinen Besuchen hab ich ihn nicht mehr gefunden.“23 Diese vergebliche Suche nach dem Stein dient der Fiktionalisierung24 des autobiographischen Anteils der Geschichte, stellt sie vermutlich einen Versuch der Erzählerin dar, Spuren zu verwischen. Jochen Vogt nennt die vorgegebene Erinnerungsschwäche der Autobiographin „metonymische Ausweichtechnik[,]“25 zumal die 1940 geplante Geschichte zu jener Zeit noch als „eine Rettungsgeschichte“ hätte erzählt werden können, während dies 1945, aufgrund erlangten Wissens um den Genozid und der traumatischen Gewissheit des Verlusts der Mutter, nicht mehr möglich war. Der sinnlose Tod einer jüdischen Mutter auf der Ebene der Erzählung gewinnt in Anbetracht des gewaltsamen Todes Hedwig Reilings, der jüdischen Mutter von Anna Seghers, eine tragische persönliche Dimension: „Die ungewisse Zukunft des jüdischen Mädchens mit Namen Eppstein enthält – unausgeführt – die beiden möglichen Schicksalswege der Mutter wie der Tochter Reiling: Deportation und Ermordung oder Flucht und Überleben im Exil.“26 Die Sorge um die im Deutschland der Nationalsozialisten zurückgebliebene Mutter, ihre Deportation und der darauf folgende Tod bewirken, dass die Autorin, die sonst dazu tendiert, sich hinter ihren Figuren zu verstecken, mit der im mexikanischen Exil entworfenen Geschichte Der Ausflug der toten Mädchen einen persönlichen, intimen Text verfasst, in dem die fiktive literarische Figur der Ich-Erzählerin mit der Autorin zu verschmelzen scheint. Als Kulisse für das Agieren der weiblichen Gestalten wählt die Autorin ihre Heimatstadt Mainz. Die Rahmenhandlung der Erzählung spielt in der bergigen mexikanischen Wüstenlandschaft auf einer heruntergekommenen Ranch. Nachdem die Ich-Erzählerin das leere Tor des Guts betreten hat, verwandelt sich die Einöde in das frische Grün der Rheinlandschaft. In der Binnenhandlung beschwört die Protagonistin den Schulausflug ihrer Mädchenklasse an den Rhein im Jahr 1913 herauf; sie trägt bezeichnenderweise den Namen Netty (den Rufnamen der jungen Anna Seghers), erinnert sich an ihre Schulfreundinnen und Lehrerinnen, schildert den Nachmittag auf der Kaffeeterrasse am Rhein sowie das Treffen mit den Unterprimanern des männlichen Realgymnasiums. 23

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Ebd. In dem biographischen Seghers-Bildband wird dieses Erinnerungszeichen abgebildet. Vgl. Anna Seghers. Eine Biographie mit Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf. Hg. v. Frank Wagner, Ursula Emmerich und Ruth Radvanyi: Berlin und Weimar 2000, Abb. 18, S. 25. Vgl. Jochen Vogt: Was aus dem Mädchen geworden ist. Kleine Archäologie eines Gelegenheitstextes. In: Argonautenschiff 6 (1997), S. 121–138, hier S. 128. Ebd. Ebd., S. 130.

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Die von der Ich-Erzählerin geschilderte Erinnerung an ihren Heimweg, der durch unversehrte Straßen der Heimatstadt führt, scheint der Gewissheit der Kriegswirklichkeit zu widersprechen. [D]ie Christhofkirche konnte unmöglich bei einem nächtlichen Fliegerangriff zerstört worden sein, denn wir hörten ihr Abendläuten. Ich hatte mich überhaupt umsonst gegraut, auf diesem Weg heimzugehen, weil sich mir im Gedächtnis festgehakt hatte, dieser mittlere Stadtstreifen sei völlig von Bomben zerstört. Es ging mir durch den Kopf, daß jene Zeitungsphotographie sich geirrt haben möchte, auf der alle Gassen und Plätze abrasiert oder zerstört waren. Ich dachte zuerst, man hätte vielleicht auf Goebbels’ Befehl, um über das Ausmaß des Angriffs zu täuschen, eine Scheinstadt mit äußerster Geschwindigkeit aufgebaut […].27

Die wohl auf bloß imaginiertes Wunschdenken hinauslaufende Vision Nettys hält der Realität des Zeitgeschehens nicht stand: In einem retrospektiven Porträt des sich in der Erinnerung auflösenden Bildes des Elternhauses thematisiert die Autorin das gewaltsame Schicksal ihrer Eltern, derer sie in der Geschichte gedenkt.28 Die Erinnerung an den Schulausflug und die idyllisch anmutende Schilderung ihrer Heimat stehen im Kontrast zu der in der Geschichte präsentierten, nationalsozialistischen Wirklichkeit: Die Protagonistin, sich an ihre Mitschülerinnen erinnernd, entwirft Frauenschicksale, deren Exponentinnen zum Teil Mitläuferinnen des NS-Regimes, manchmal aber auch Gegnerinnen des Systems sind. Die Erzählung handelt vom Ausflug der toten Mädchen, weil alle Schulfreundinnen Nettys während des Zweiten Weltkriegs eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Indem die Ich-Erzählerin Tod, Verrat, Selbstverrat und Denunziation, aber auch Mut und Solidarität nachzeichnet, erstellt sie ein differenziertes Porträt des deutschen Volkes und wirft die Frage auf, wie es möglich ist, dass Mädchen, die vor dem Krieg behütet aufgewachsen sind, dem Wahn und Betrug nationalsozialistischer Ideologie und Realität anheimfallen konnten. Die in der Rede Vaterlandsliebe bereits in angedeuteter Form antizipierte innere Verwüstung des Menschen durch das Erlebnis des Krieges expliziert die Schriftstellerin in ihrer Exilprosa. Die im französischen und mexikanischen Exil von ihr bereits erahnte Anziehungskraft des Krieges sowie das aus der Ferne diagnostizierte Ausmaß der nationalsozialistischen Katastrophe werden zu gewichtigen Komponenten ihres Exilwerks, in welchem die aus dem ‚Jetztgefühl‘ und der Imagination der Autorin geschöpften Figuren, Schicksale und Landschaften erinnert werden.

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Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. In: Die Trennung. Geschichten über Frauen. Berlin 1998, S. 78–110, hier S. 104f. Vgl. dazu meinen Beitrag Das Porträt Deutschlands in Anna Seghers’ Prosa und Briefen der 1940er Jahre. In: Die deutschsprachigen Länder als Forschungs- und Unterrichtsgegenstand. Hg. v. Lucyna Krzysiak und Piotr Kołtunowski. Lublin 2009, S. 119–130.

MIROSŁAWA CZARNECKA

Die friedfertige Frau und der Zweite Weltkrieg – Thematisierung eines Paradigmas in der Literatur von Frauen

Für die Literatur von Frauen war das Bild der Frau als Opfer, sowohl als generelles Opfer des patriarchischen Systems und seiner Machtinstitutionen als auch als Opfer konkreter historischer Situationen, wie etwa dem Krieg, konstitutiv und wurde lange Zeit nicht hinterfragt. Die Figur des Täters, des Peinigers, war traditionell durch den Mann besetzt. Die Psychologin Margarete Mitscherlich konstatiert in ihrem Buch Die friedfertige Frau. Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter von 1985:1 [B]ei beiden Geschlechtern [sind], von Geburt an, aggressive Potentiale vorhanden und können jederzeit geweckt werden. […] Der Unterschied zwischen den Geschlechtern besteht lediglich in der Verarbeitung und Äußerung aggressiver Impulse oder Triebregungen, was allerdings von grundsätzlicher Bedeutung ist.2

Die Demontage des Archetypus der friedfertigen Frau erlaubt, eine Lücke in der Geschichte der Frauenliteratur zu schließen, die solange existieren musste, wie die Teilnahme der Frauen an Verbrechen und Gewalttaten ein Tabuthema blieb. Ich versuche, diese Demontage des Weiblichkeitsparadigmas an ausgewählten Texten der deutschen Gegenwartsautorinnen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg darzustellen. Es ist vorweg anzumerken, dass in der deutschen Frauenliteratur der Nachkriegsjahre das traditionelle Paradigma der friedfertigen Frau, die in erster Linie Opfer des Krieges war, gerade durch die friedensorientierte Haltung der Schriftstellerinnen und entsprechende Botschaften ihrer Texte generiert wurde. In seiner Monografie über die deutsche Literatur von Frauen schreibt Jürgen Serke 1982, dass im kulturellen Kahlschlag der Nachkriegszeit „die Stimmen von Frauen

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Margarete Mitscherlich: Die friedfertige Frau. Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter. Frankfurt/Main 1985. Ebd., S. 181.

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Stimmen in der Vereinzelung bleiben.“ In der Tat sucht man im dominanten Tenor der Katharsis- und Abrechnungsliteratur des ersten Dezenniums nach dem Krieg Texte aus weiblicher Feder oft vergebens. In dieser literarischen Strömung der Abrechnung mit dem Faschismus und dem Krieg sind Autorinnen jüdischer Herkunft wie Rose Ausländer und Nelly Sachs zu verorten, die aus dem Fundus ihrer eigenen Erfahrungen der rassistischen und nazistischen Verfolgung schöpfen. Dominante Motive in Nelly Sachs’ Gedichtbänden In den Wohnungen des Todes, 1947, Sternverdunkelung, 1949, und in der Poesie Rose Ausländers, etwa in den Gedichten Pieta und Niemand, sind also Krieg, Holocaust, Ghetto, das Gefühl der Segregation, der allumfassenden Einsamkeit sowie Hoffnungslosigkeit und Todesangst. Die Verfolgung und Massenvernichtung der Juden in den deutschen Konzentrationslagern beschreiben diese Autorinnen als Erfahrung der zerstörerischen Kraft der Gewalt, der sie eine kreative Kraft des Friedens entgegenstellen. In der Forderung Nelly Sachs’, dass „der Verfolgte nie zum Verfolger werden darf[,]“4 sind Appelle an Mitmenschen für die Bemühungen um Frieden und gegen Krieg enthalten. Andere Autorinnen, wie etwa Elisabeth Langgässer und Marie Luise Kaschnitz, verwenden primär Mittel der Poetik des magischen Realismus, um die traumatischen Erfahrungen der humanen Katastrophe zu thematisieren. Die Ideale der Humanität und Menschlichkeit werden dabei mit Faschismus und Krieg konfrontiert und als ewige, universelle Werte, als Remedium für das Trauma des Weltkrieges verteidigt. Aus der Sicht des christlichen Humanismus spricht auch Luise Rinser in Jan Lobel aus Warschau, 1948, oder Mitte des Lebens, 1950, über Schuld und Verantwortung der Deutschen im Dritten Reich sowie über die Bewährung einer humanistischen Gesinnung. Sie will die Erfahrungen des Krieges für den Wiederaufbau des Weltfriedens und der Demokratie positiv nutzbar machen. In den fünfziger Jahren kehrt Hilde Domin aus dem Exil, in welches sie sich bereits 1932 begab, nach Deutschland zurück und verarbeitet ihre Erfahrungen der Sehnsucht nach Geborgenheit und des Heimatverlusts 1959 in dem Gedichtband Nur eine Rose als Stütze. Ihr literarisches Credo verknüpft die moralische Integrität der Persönlichkeit mit dem utopischen Glauben an eine humanere Zukunft der Welt. Elisabeth Langgässer verbindet in ihrem Roman Märkische Argonautenfahrt von 1950 christliche Ethikvorstellungen mit mythologischen Topoi zu einer universellen christlichen Botschaft über Schuld und Sühne durch Niederfall, Verlust und Schmerz als Gottesgnade. In der Poetik des magischen Realismus wird hier ein Versuch der Sühne oder der Wiedergutmachung für den Tod der Nächsten und für den Krieg schlechthin beschrieben, und zwar durch eine Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten. Mit der Figur der Irene führt die Autorin das autobiografische Motiv des tragischen Schick3 4

Frauen schreiben: Ein neues Kapitel deutschsprachiger Literatur. Hg. v. Jürgen Serke. Frankfurt/Main 1982, S. 60. Zitiert nach Serke (Hg.): Frauen schreiben (Anm. 3), S. 215.

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sals ihrer ältesten Tochter Cordelia aus einer außerehelichen Beziehung mit dem jüdischen Rechtsgelehrten Hermann Heller ein. Sie wurde von Mutter und Großmutter großgezogen und wusste bis zum 14. Lebensjahr nichts von ihrem biologischen Vater und ihrer jüdischen Herkunft. Die drei jüngeren Töchter Langgässers gingen aus ihrer Ehe mit dem deutschen Journalisten und religiösen Schriftsteller Wilhelm Hoffmann hervor. Nach den Nürnberger Gesetzen wurden Mischehen von Deutschen mit Halbjüdinnen, zu denen auch Langgässer als Tochter eines jüdischen Konvertiten zählte, als sogenannte ‚privilegierte Mischehen‘ betrachtet, in denen Mutter und Kinder verhältnismäßig geschützt waren. Cordelia dagegen konnte den rassistischen Repressionen nicht entkommen, mit vierzehn musste sie als Halbjüdin den Davidstern öffentlich tragen, das Familienhaus verlassen und im Ghetto leben. Obwohl die Mutter alle gangbaren Wege auszuschöpfen versucht hatte, selbst eine Scheinadoption nach Spanien, konnte sie die Deportation ihres Kindes nach Theresienstadt und später nach Auschwitz nicht verhindern. Wie die mythologische Demeter verlor sie ihre Tochter. Das Mädchen hat den Holocaust überlebt und wurde nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz nach Schweden gebracht, wo sie 1946 von ihrer Familie gefunden wurde. Cordelia Edvardson konnte ihrer Mutter nicht verzeihen, dass sie sie vor der Deportation nicht geschützt und der Angst und Bedrohung durch den Tod ausgeliefert hatte. Für sie wurde die Demeter zur Kindsmörderin Medea. Die Tochter beurteilt die Literarisierung ihres Schicksals in der Figur der Irene sehr kritisch. Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubt sie, dass die Rettung und das Heil des Menschen nicht von Gott, sondern nur und ausschließlich vom Individuum selbst abhängig seien. In ihrer Autobiografie Gebranntes Kind sucht das Feuer von 1984 klagt Cordelia Edvardson die Mutter allerdings nur mittelbar an, indem sie auch sie als Opfer des bestialischen Systems wahrnimmt. Sie schreibt dort, dass ihre Mutter das Leben im Konzentrationslager Auschwitz falsch darstelle, weil aus der Sicht der Lebenden und nicht jener, die es überlebte. Eine Konfrontation der Opfer und Täter des Zweiten Weltkriegs, eine in Deutschland lange verschobene Diskussion mit der Tätergeneration, findet erst in den siebziger und achtziger Jahren in einer Reihe von sogenannten ‚Väterromanen‘ statt, in denen sich Söhne, seltener Töchter, mit ihren Vätern und deren Nazivergangenheit auseinandersetzen. Neben dem bekannten Roman von Elisabeth Plessen, Mitteilung an den Adel, 1979, will ich in diesem Kontext auf den autobiografischen Roman Eva Zellers, Solange ich denken kann, 1981, verweisen. In ihrem Roman projiziert Plessen, eine 1944 geborene und in der Neuen Linken sowie der APO-Bewegung engagierte Autorin, die Schuldund Verantwortungsfrage ihres Vaters und seiner Generation auf die Nachkriegszeit. Die im Nachhinein verfassten Kriegserinnerungen des Vaters, in denen er seinen Hass gegen Hitler und die Nationalsozialisten zu Papier bringt und die er seiner Tochter zur Lektüre vorlegt in der Hoffnung auf Annäherung, beurteilt sie als untaugliche Kommunikationsbasis. In Jargon, hilflosem Pathos und Halbwahrheiten verliert sich das Ge-

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dankengut, das der Vater seiner Tochter nahebringen wollte. Sie lehnt das väterliche Geständnis radikal ab: „Gewäsch, Gewäsch plus Badenweiler Marschmusik.“5 Während Plessens Roman eine allerdings posthum geführte Auseinandersetzung mit dem Vater und seiner Vergangenheit im Dritten Reich sowie eine Anklage ist, wobei die Figur der Mutter gänzlich außen vor bleibt, ruft Eva Zeller, Jahrgang 1923, in ihrem autobiografischen Roman ihre Kindheit im nazistischen Deutschland in Erinnerung. Sie beschreibt die Indoktrination durch die Propaganda, in deren Geist sie als Mädchen erzogen worden war, und zeigt, wie ihre jugendliche Heldin Eva allmählich aus dem ‚Gleichschritt‘ der hitlerbegeisterten Masse heraustritt und ihre Verweigerung durch die Flucht aus dem BDM-Arbeitslager eine konkrete Form des Widerstandes annimmt. Fesselnd beschreibt Zeller den Konflikt in der Familie des Mädchens, wo die Mutter eine Anhängerin Hitlers ist und der getrennt lebende Vater ein Nazi-Gegner. Nicht gegen die Mutter richten sich jedoch Widerstand und Hass der Tochter, sondern gegen den souverän denkenden, jedoch rücksichtslosen und egoistischen Vater. Während die Mutter und Großmutter Evas als typische Vertreterinnen der Mittelschicht leicht in die Fänge der Nazipropaganda gerieten und zu passiven Mitläuferinnen wurden, ist in der Figur der BDM-Führerin ein hohes Maß weiblicher Gewaltbereitschaft angedeutet. Hier wird der Mythos der friedfertigen Frau zwar erschüttert, jedoch in Ermangelung tiefergehender Reflexionen des Phänomens weiblicher Gewalttätigkeit nicht vollständig dekonstruiert. Die Ergründung der Sozialisationsmechanismen des Dritten Reichs, denen sie als Jugendliche ausgesetzt war, führt sie zum folgenden Fazit: „da ich das Unsägliche schwarz auf weiß besitze, soll es bezeugen, was meine Generation nicht zu sagen wagt; daß wir nämlich keine Geständnisse ablegen können für etwas, das wir nicht getan haben, sondern das man mit uns getan hat.“6 Viel radikaler in ihrer Auseinandersetzung mit dem Mythos der friedfertigen Frau verfährt Grete Weil in ihrem Roman Meine Schwester Antigone von 1980. Sie schreibt sich mit diesem Text in die für die postfeministische Literatur charakteristische Strömung der Re-Lektüre von Mythen ein, und zwar mit dem Ziel, dergestalt die antiken und biblischen Heldinnen als Identifikationsfiguren wiederzugewinnen. Antigone, die trotzige Tochter des Königs Ödipus, einem Symbol des Widerstandes gegen die omnipotente Gewalt Kreons sowie die Macht des eigenen Vaters und zugleich ein Sinnbild des Opferstatus der Gefallenen, dient Grete Weil zur literarischen Verarbeitung ihrer eigenen Lebensgeschichte und zur Konfrontation mit Holocaust und eigenem Gedächtnis. Grete Weil ist eine deutsche Jüdin, die den Holocaust im Versteck überlebte, während ihr Gatte im Konzentrationslager umgebracht wurde. Ihr Roman bedeutet also eine Aktualisierung des inneren Konflikts der Autorin als Überlebender, die „es bedauert und nicht versteht.“7 Sie fühlt sich nicht nur als Opfer der Repressionen, sondern angesichts des Todes ihres eigenen Ehemannes und der Millionen von Juden auch als Mit5 6 7

Elisabeth Plessen: Mitteilung an den Adel. Zürich und Köln 1976, S. 126. Eva Zeller: Solange ich denken kann. Stuttgart 1981, S. 364. Grete Weil: Meine Schwester Antigone. Berlin 1980, S. 6.

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schuldige. In der Konfrontation mit der mythologischen Heldin, mit ihrem heroischen Mut des Protests, der richtigen Entscheidungen, ihrer Bereitschaft zum Wirken, zum höchsten Opfer, stellt sich die Autorin rhetorisch die Frage: warum war ich nicht Antigone? Der Roman, geschrieben aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin, zeichnet sie als Figur porte-parole der Autorin. Die mythologische Antigone, überliefert durch die Tragödie von Sophokles, stellt bereits seit der Schulzeit ein Faszinosum für die IchErzählerin dar. Sie konnte sich mit ihr auch durch ihre tiefe Beziehung zum Vater, der sie wie eine Prinzessin behandelte, und durch herzliche Liebe zum Bruder identifizieren. Später, angesichts der faschistischen Repressionen, avanciert Antigone für sie zu einer ideellen Identifikationsfigur, die durch ihre arrogante Märtyrerhaltung, die sie – selbst zum höchsten Opfer bereit – den anderen Menschen gegenüber zeigte, besticht. Grete Weil gesteht ihr Schuldgefühl, wohl nicht alles getan zu haben, um ihren Mann aus dem KZ zu befreien. Vor Antigone zeigt sie sich kleinmütig und mitschuldig, betrachtet ihre antike Heldin jedoch mit neuen Augen: Die Autorin dekonstruiert die literarische Überlieferung des Mythos über die heroische Tochter des Ödipus, indem sie ihr Lebenscredo aufgreift, jenen berühmten moralischen Grundsatz, den Antigone vor Kreon ausspricht: „Zu lieben, nicht zu hassen bin ich da“ – welcher sie zu einem unerreichbaren humanistischen Vorbild, einem Ideal der Menschlichkeit und weiblichen Friedfertigkeit stilisiert. Auf die Frage, wie sich Antigone an ihrer Stelle verhalten, was sie zur Rettung des Gatten alles getan hätte, bekommt die Ich-Erzählerin bei Weil eine scheinbar simple Antwort: Antigone, imaginiert in der Reihe der zur Deportation ins KZ vorgesehenen Juden, greift in die Manteltasche, zieht ihre Pistole heraus und schießt entschlossen auf die Brust eines deutschen Offiziers, des prototypischen Täters. Die moralische Regel Antigones verkehrt sich in ihr Gegenteil und lautet nun: „Um zu hassen bin ich da, nicht um zu lieben.“8 Durch die Erschießung des SS-Offiziers vollzieht Antigone zwar die von der Romanheldin, welche ständig ihre eigene Rat- und Hilflosigkeit dem barbarischen System und der Extermination ihres Volkes gegenüber bedauert, nur imaginierte Tat; zugleich jedoch stellt sie mit diesem Akt ihr Imago der antiken Heldin, der Märtyrerin für die Humanitas, infrage. Antigone mit der Pistole in der Hand ist nicht länger Archetyp der friedfertigen Frau, sondern eher den mythologischen Furien ähnlich. Grete Weil treibt ihre Demontage des Weiblichkeitsparadigmas sogar noch weiter, indem sie die Terroristinnen der Gegenwart, die sie als moderne Furien bezeichnet, Antigone zur Seite stellt und ihre Verwandtschaft postuliert.9 Durch ebenjene Kontextualisierung werden der Mythos der friedfertigen Antigone und ihr Potential als Identifikationsfigur tief erschüttert. Eine völlige Demontage des Paradigmas der friedfertigen Frau erfolgt in der deutschen Literatur von Frauen allerdings erst einige Jahre später, als die im Krieg oder unmittelbar danach geborenen Töchter beginnen, ihre Mütter explizit zu ihrem Verhalten zur Zeit des Nationalsozialismus zu befragen und den Anteil von Frauen an NS8 9

Ebd., S. 172. Vgl. ebd., S. 127.

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Verbrechen, an Denunziation und Verrat zum Thema zeitgenössischer Frauenliteratur zu machen. In diesem Diskurs tritt die Frau nicht mehr als unschuldiges Opfer der Repressionen, der Bombenangriffe und des Hungers in Erscheinung, wie noch die Trümmerfrauen, die uns aus der Nachkriegsliteratur sowie aus zahlreichen Filmen, etwa Deutschland, bleiche Mutter von Helma Sanders-Brahms, bekannt sind, sondern auch als Täterin und Henkerin. Margarete Mitscherlich erklärt die Beteiligung von Frauen an nazistischen Verbrechen dadurch, dass sie, mit einem schwächeren ‚Super-Ego‘ ausgestattet, eher dem Zwang der Subordination unter die männliche Ideologie gehorchen als die Männer selbst.10 Andere Forscher leiten die Motive der weiblichen Kollaboration mit dem NS-Staat vor allem aus den patriarchalen Machtverhältnissen ab und erklären sie mit der Angst ums Überleben oder der Notwendigkeit persönlicher Existenzsicherung.11 Anhand von Gerichtsdokumenten zur politischen Denunziation als weibliches Delikt aus den Jahren 1933–1945 rekonstruiert Helga Schubert, Jahrgang 1940, in ihrem Roman Judasfrauen von 1990 eine Alltagssituation in der Diktatur, in der die Lösung privater Konflikte mit der Hilfe des totalitären Machtapparats möglich wird. Ihr Buch ist das Ergebnis von Archivarbeit im damals noch geteilten Berlin. Formal gesehen handelt es sich dabei um Dokumentarprosa, wobei Schubert die in den Gerichtsdokumenten und Prozessakten belegten Tatsachen sowie die mehr oder weniger gelungenen Rekonstruktionen der einzelnen Lebensläufe von Opfern und Tätern zu einer Erzählung über konkrete Frauengestalten, die Denunziantinnen und ihre Opfer, fortentwickelt. Dargestellt werden gewöhnliche Frauenfiguren: Mütter, Töchter, junge und ältere, selbst eine Schwangere, die durch ihren Verrat und ihre Denunziation bewusst den Tod anderer Menschen verursacht haben: des Vaters, des Gatten, des Nachbarn, des betreuenden Arztes, des Familienfreundes, des Geliebten, eines Unbekannten aus dem Zug. Die Autorin wählt die biblische Judasgestalt, das personifizierte Böse, den personifizierten Verrat, als Chiffre der Denunziantinnen. Ihr Verrat ist indes explizit weiblich konnotiert, so konstatiert Schubert: „Ein leiser Verrat. Ein heimlicher und sauberer Verrat: kein Blut an den zarten Händen, denn das Blut klebte am Fallbeil.“12 Damit dekonstruiert Schubert das christliche Ideal der friedfertigen, guten, empfindlichen, sensiblen und mitfühlenden sowie in ihrer natürlichen Mütterlichkeit das menschliche Leben schützenden Frau. Ähnlich wie Mitscherlich in ihrem oben zitierten Buch über weibliche Aggression, enthüllt Schubert in ihren Porträts der Judasfrauen verborgene Zonen des Gewaltpotentials, den Willen zur Vernichtung, das Bedürfnis nach Macht, die „Versuchung zu verraten“13 und die Bereitschaft, „einen anderen Menschen [zu] vernichten, nur durch Worte.“14 10 11

12 13 14

Vgl. Mitscherlich: Die friedfertige Frau (Anm. 1). Vgl. Ulla Roberts: Starke Mütter – feige Väter. Töchter reflektieren ihre Kindheit im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Frankfurt/Main 1994; Töchter-Fragen NS-Frauen-Geschichte. Hg. v. Lerke Gravenhorst und Carmen Tatschmurat. Freiburg 1990. Helga Schubert: Judasfrauen. Geschichten nach Akten. Berlin 1990, S. 7. Ebd., S. 12. Ebd., S. 7.

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Helga Schubert fragt stellvertretend für die im Krieg oder der unmittelbaren Nachkriegszeit geborenen Töchter nach der Haltung und Mitschuld der Mütter, und nach den Motiven ihres inhumanen Verhaltens. Es sind schwierige, schmerzhafte Fragen, gerade weil sie sich gewöhnlich gegen die eigenen Mütter richten; Fragen, die deutsche Frauen wegen ihrer nazistischen Verbrechen auf die Anklagebank zwingen. Diese vermeintlich illoyalen Fragen der Töchter nach dem Beitrag ihrer Mütter zur negativen weiblichen Genealogie erweisen sich letztlich als notwendig, als unabdingbar für die Rekonstruktion ihrer eigenen Geschichte.

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„Aber der Toten wegen flüchte ich mich in die unzerreißbare Kette des Biers“ – Die Reflexion der Judenvernichtung in Herbert Achternbuschs Werk der achtziger Jahre

Von Beginn an ist die intensive Verarbeitung der Sozialisation und der Familiengeschichte in der bayrischen Provinz Stoff und Motor des künstlerischen Werks von Herbert Achternbusch.1 Die deutsche Katastrophe der NS-Zeit, ihre Kontinuitäten in die Gegenwart hinein, die Verstrickung der Einzelnen rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine eingehende Aufarbeitung dieses Themenfeldes in Achternbuschs Werk steht aus. Eine Ursache dafür dürfte ein Konsens der Rezeption sein, den Jörg Drews wie folgt formuliert hat: „Er hat seine schriftstellerische und filmische Sach’ auf ein, dank seiner Phantasie, vielfach erweiterbares und variierbares Thema gestellt, nämlich auf sich selbst; er selbst ist ganz radikal Kraftzentrum und Ausgangspunkt, Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisinstrument seines Werks.“2 Das Werk wurde als chaotischeruptive Hervorbringung einer kraftmeierischen Subjektivität aufgefasst, als wildwucherndes Rhizom eines egomanen Künstlers. „Sein Leben bedingt mehr als sonst bei Autoren üblich sein Schreiben, und seine literarische Produktion gestaltet sein Leben, seine Kunst ist sein Leben und umgekehrt.“3 Achternbusch galt als Naturkünstler, bestauntes Unikum und dilettierendes Multitalent. Er „ist ein Banause sondergleichen in der Literatur. Er macht Kunst, ohne etwas von Kunst, der vorbildlichen und begriffsgelehrten, zu verstehen.“4 Dieses Klischee war zählebig und lähmte die Forschung. Sie pflegte das romantisch-bohemistische Bild des querdenkenden Genies, die Identität von 1

2 3 4

Vgl. Ulrich Breuer: Niemand zuhause. Achternbuschs „Hülle“ in der formativen Phase des autobiographischen Schreibens. In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. Hg. v. Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg. München 2008, S. 34–48. Jörg Drews: Alexanderschlachtbeschreibung. Eine Einleitung. In: Herbert Achternbusch. Hg. v. dems. Frankfurt/Main 1982, S. 15–41, hier S. 16. Christoph Borninkhof: Das Selbstlebenschreiben. Studien zum schriftstellerischen Werk Herbert Achternbuschs. Frankfurt/Main u.a. 1994, S. 5. Joseph Früchtl: Das absurd unverschämte Ich. Zur Selbstrettung des Herbert Achternbusch. In: Literaturmagazin 24 (1989), S. 99–108, hier S. 100.

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Autor und Erzähler, andernorts längst als methodologisch überholt verworfen. Erst in der letzten Zeit deutet sich ein Perspektivwechsel an, wird auf Achternbuschs Selbststilisierung5 zum „unabhängigen, anarchischen Einzelgänger[] und Provokateur[]“6 verwiesen. Die interne Strukturierung und Komplexität des umfangreichen vorliegenden Werks ist noch kaum analysiert, thematische und ästhetische Modifikationen und Neuansätze sind noch nicht beschrieben, zentrale Themen erst ansatzweise aufgearbeitet. In einem zur Jahrtausendwende in der ZEIT erschienenen Artikel zum Trauma Bush kam Achternbusch in assoziativ-diskursiver Redeweise mäandrierend vom Hölzchen aufs Stöckchen, sprach teilweise verrätselnd und andeutend, dann aber auch wieder klar argumentierend, über die Nahost-Problematik. Deutsche Touristen, so heißt es da, wüssten nichts von der Welt, die sie bereisen. In Israel waren sie bereits! Den einheimischen Alten ist kein Wort zu entringen, sie passen auf, keinen Alkohol zu trinken, essen nur alles. Die ganze Wahrheit ist ihnen aufgebürdet. Vor allem die Wahrheit über Deutschland […]. Was wissen da schon die Palästinenser davon, die nun von den Juden erleiden müssen, dasselbe, was sie von den Juden erleiden mußten, obwohl sie die Juden vernichtet haben. Das ist die ganze Wahrheit der alten deutschen Seele, denn die Juden sind an ihrer Existenz, die naturgemäß eine böse ist, selber Schuld. Wann bringen sie sich endlich gegenseitig um, damit wir erlöst sind? Das ist das Trauma der Deutschen, aber sie erkennen es nicht, weder als politische Struktur noch als eigenen Jammer, so wird ihr Trauma zu ihrem Wahrheitsbegriff, der dem Deutschen gemäß vollkommen ist, weil er vollkommen sein muß. Voltaire würde sagen, das [sic] es an der Zeit ist, die Deutschen auszurotten, damit seine katholische Seele Ruhe findet.7

Achternbusch greift hier ein Thema auf, das ihn schon lange beschäftigt hatte. In den Föhnforschern aus dem Jahr 1985 etwa liest man: „Wie du weißt, waren die Deutschen ab 1933 von Selbstzerstörung beseelt. Und wie du weißt, sind die Deutschen seit 1956, dem Jahr der Wiederaufrüstung, von Selbstzerstörung besessen.“8 In Ambach (1987) heißt es: „Wir sind und bleiben ein Sumpf, in dem der Faschismus nicht zur Ruhe kommt.“ (AE, 45f.)9 Und in FÖHNCHEL (1987) steht, Deutschland sei „nur noch ein hitlersplitter“ (AE, 203). Solche apodiktisch formulierten Sätze sind vielfach in ein semantisches Geflecht eingebunden, das ihre Bedeutung vielschichtiger macht, ohne sie ganz aufzuheben, werden Figuren in den Mund gelegt, deren Status unsicher ist, sind indirekte Rede ohne genaue Bestimmung des oder der Redenden. Achternbuschs Texte sind gekennzeichnet 5

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Vgl. Claus-Michael Ort: „Dieses Kreuz ist eine Frage.“ Das Skandalon des Kreuzes in Herbert Achternbuschs „Das Gespenst“. In: Literaturskandale. Hg. v. Hans-Edwin Friedrich. Frankfurt/Main u.a. 2009, S. 175–202, hier S. 176ff. Breuer: Niemand zuhause (Anm. 1), S. 39. Herbert Achternbusch: Trauma Bush. In: Ders.: Ist es nicht schön zu sehen wie den Feind die Kraft verlässt. Hg. v. Richard Pils. Weitra [2002], S. 165–168, hier S. 165. Herbert Achternbusch: Die Föhnforscher. Frankfurt/Main 1985, S. 53. Herbert Achternbusch: Das Ambacher Exil. Köln 1987; im Weiteren zitiert als (AE mit entspr. Seitenangabe).

Die Reflexion der Judenvernichtung in Herbert Achternbuschs Werk der 80er Jahre

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von Schlussfolgerungen und Aussagen, die nicht logisch aufeinander bezogen, sondern aneinander montiert werden, deren Brüche unaufgelöst bleiben, deren Hyperbolik unabgemildert ist, in denen Wichtiges und Marginales aneinandergereiht wird. Vielfach folgen Passagen nicht logisch-systematischen, sondern primär bildlogischen Ordnungsprinzipien.10 Der literarhistorische Hintergrund dieser Texte ist in Verfahren des Surrealismus, der Literatur des Absurden, Karl Valentins zu sehen. In den achtziger Jahren begann Achternbusch, sich intensiv mit der Judenvernichtung auseinanderzusetzen; im Film Das letzte Loch, dem Theaterstück Linz, dem Film Heilt Hitler!. In vielen anderen Texten aus dieser Zeit finden sich Anspielungen und Bemerkungen zum Thema, deren Status im Text sehr unterschiedlich ist. Manchmal handelt es sich um Marginalien, dann aber auch um längere Passagen, die zur Grundlegung anderer Themen dienen, also kontextualisieren, oder um poetologische Hinweise auf thematische und motivische Verbindungen. In den Föhnforschern plant die bayrische Landesregierung in Herrsching am Ammersee den Bau eines Atomkraftwerks. Mit wenigen Sätzen wird der Hintergrund dieses Plans skizziert. Von friedfertigen Menschen wurde der Ammersee erkoren, die Asche der Juden aufzunehmen. Aus Gründen des Umweltschutzes wurde die Asche in Urnen abgefaßt: zum Zwecke der Mahnung sollten die Urnen durchsichtig sein. Da aber die Herrschinger auch heute noch nicht einmal mit der Asche von Juden was zu tun haben wollten, bestimmte die Landesregierung Herrsching zum Standort eines Atomkraftwerks, als Trostpflaster sozusagen. Da es aber den Herrschingern nicht genügte, die Asche ihrer Opfer der Asche der jüdischen Opfer in den Ammersee nachzuwerfen, bekamen die Herrschinger die erste und einzige bayerische Atomrakete, eben den Herrsching Zwo.11

Damit werden die heterogenen Komplexe Judenvernichtung, Totenkult und Atomwirtschaft in einen typologischen Zusammenhang gebracht. Im Blick auf die Werkskohärenz werden die Föhnforscher mit dem letzten Loch verknüpft. Diese Verknüpfung zeigte sich schon im letzten Loch selbst, wo eine Dame sich erinnert: „Die Leichen [der ermordeten jüdischen Frauen] haben sie in den Starnbergersee geworfen. Jahrelang hat der gestunken.“ (HN, 128)12 Und Nil verbindet in seinem Brief, den die letzte Susn vorliest, die „Wiederaufrüstung Westdeutschlands“ (HN, 150) mit seiner Obsession. Eine systematisch ausgearbeitete Poetik – die im Falle Achternbuschs multimedial angelegt sein müsste – liegt nicht vor. Poetologische Reflexionen und Sentenzen finden sich im gesamten Werk verstreut. Die poetologische und kunsttheoretische Reflexion bildet einen Themenstrang, der nicht nur als Reflexion einer als Ich in Erscheinung tretenden Instanz des Textes greifbar, sondern auch mittels der Tektonik der Einzelteile

10 11 12

Vgl. dazu exemplarisch Ort: Kreuz (Anm. 5). Achternbusch: Föhnforscher (Anm. 8), S. 56f. Herbert Achternbusch: Das Haus am Nil. Frankfurt/Main 1981. Im Weiteren zitiert als (HN mit entspr. Seitenangabe).

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entfaltet wird. Im letzten Loch begibt sich der Nil zu einem Arzt, der ihm aus seiner Notlage helfen soll: Ich trinke Bier. Ich brauche Bier, damit ich die Juden vergesse. Mit einem jeden Bier vergesse ich 500000 Juden. Aber in der Nacht kommen sie alle auf einmal: nach 12 Halbe Bier kommen mir 6000000 Juden. Aber nach den 40 Halbe Bier, die ich täglich trinken muß, kommen mir 20 Millionen. Und das sind nicht einmal die Hälfte derer, die im Zweiten Weltkrieg den Tod gefunden haben, das sind gerade die Russen, die von den Deutschen abgeschlachtet wurden. Bringen Sie mich um! (HN, 130)

Keine Frage: es handelt sich um eine ungewöhnliche Form der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, die geradezu aufreizend skandalträchtig scheint, aber völlig unskandalös bleibt. Nil trinkt, um zu vergessen – ein psychologisch durchaus triviales Verfahren. Allerdings will er die Judenvernichtung vergessen, die ihn quält. Im politischen Diskurs ist in der deutschen Öffentlichkeit selbstverständlich, dass in dieser Sache Vergessen unmöglich und auch nicht erlaubt ist. Dieser Konsens wird im letzten Loch nicht angesprochen; vielmehr wird an Nils Reaktion gezeigt, dass er nicht vergessen kann. Die Korrelation zwischen Bier und der Zahl der Toten ist geradezu grotesk unangemessen. Sie zeigt den nicht zu schließenden Abgrund zwischen der Dimension des Verbrechens und der Moral des Einzelnen an. Als einzige Möglichkeit des Vergessens bleibt für Nil nur der Selbstmord im Stromboli. Im Haus am Nil lassen sich zwei poetologische Formeln ausmachen, die den beschriebenen Zusammenhang erläutern. Im Vorwort, also an exponierter Stelle, heißt es: „Es gibt Dinge, die zu ernsthaft sind, als daß man sie ernst nehmen dürfte.“ (HN, 7) Etwas später wird die Auswahl der Fotografien kommentiert: „Ich mag nicht fotografieren, was nicht mehr anzusehen ist. Solche Häßlichkeiten gehören in die Kunst, nicht in die Wirklichkeit.“ (HN, 21)13 Achternbusch stellt sich in die Tradition der Ästhetik des Hässlichen. Er stellt die klassische Identifizierung der Kunst mit dem Schönen auf den Kopf: das Kunstschöne soll sich vom Hässlichen der Welt nicht absetzen; im Gegenteil soll das Hässliche in der Kunst beheimatet werden. Das Hässliche kann als Material des Kunstwerks ästhetischen Wert gewinnen, in der Wirklichkeit ist es nur hässlich und sonst nichts. Im Haus am Nil kombiniert Achternbusch mehrere Textformate zu einem Werk.14 Die ersten zwei Kapitel enthalten Tagebuchauszüge, Kapitel 3 kommentierte Schnappschüsse aus der bayrischen Provinz; Kapitel 4 bis 8 bieten den Text des Theaterstücks Der Frosch, Kapitel 9 und 10 einen poetologisch narrativen Text, der zum Drehbuch 13

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„Während der Erste Weltkrieg tobt und dieses gescheite Europa in die Scheiße drückt, macht Ernst Lubitsch Filme, die das versaute Deutschland nicht zeigen, sondern Zustände. Ich war folgender Ansicht, daß die Kacke nicht in die Wirklichkeit gehöre, sondern in die Kunst, aber das haben dann mein Übermut und meine Schnauze nicht zugelassen. Ich wollte einfach nicht so viel mir verhaßten Ernst.“ Herbert Achternbusch: Es ist niemand da. Frankfurt/Main 1992, S. 241. Vgl. Werner Fritsch: Annäherung an Herbert Achternbusch. In: Herbert Achternbusch. Hg. v. Jörg Drews. Frankfurt/Main 1982, S. 100–120, hier S. 108f.

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Das letzte Loch überleitet (Kapitel 11 bis 15), Kapitel 16 enthält wieder kommentierte Schnappschüsse, diesmal von einer Ägyptenreise, Kapitel 17 und 18 schließen an 9 und 10 an. Die Behauptung, Achternbuschs Werk sei „nicht mit ästhetischen Maßstäben zu messen, weil der Autor sich spontanen Eruptionen und Assoziationen überläßt“ und „seine Subjektivität ungefiltert zu Papier“ bringt,15 hält genauer Analyse nicht stand. Die Tektonik seiner Arbeiten ist sehr klar kalkuliert. Zwei scheinbar gegenstrebige Tendenzen sind auffällig. Zum einen werden – erstmals in Die Stunde des Todes 1975 – in sich abgeschlossene Einzeltexte zusammengestellt. 1978 ordnete Achternbusch seine Arbeiten neu: sie wurden in einer dreibändigen Werkausgabe (1969, Die Alexanderschlacht, Die Atlantikschwimmer) veröffentlicht, der rasch weitere angefügt wurden. Die Texte wurden jedoch nicht nur werkchronologisch geordnet, sondern miteinander zu neuen Einheiten kombiniert. Damit wurde ersichtlich, dass er, wie Jörg Drews überlieferte, der Idee folgte, „an einem einzigen Buch“16 zu schreiben. Nach Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren erschien 1981 als fünfter Band Das Haus am Nil. Die 1996 erschienene Sammlung der Theaterstücke, Die Einsicht der Einsicht, bietet eine chronologische Anordnung, deren unbetiteltes Vorwort mit dem Satz beginnt: „Es freute mich, erkennte jemand in den 17 Stücken einen Roman.“17 Solche Anordnung geht über mediale und Gattungsgrenzen hinweg: im Haus am Nil Reisebericht, Drehbuch, Theaterstück, Tagebuch; im Ambacher Exil autobiographische Texte, Erzählungen, Drehbuch, Theaterstück, Gedichte, Filmstills, Gemäldereproduktionen; in den Föhnforschern Bildreproduktionen und Drehbuch. Dabei entstehen kotextuell organisierte Ensembles. Einzeltexte werden gerahmt. Skizzieren lässt sich das an einem Beispiel aus dem Haus am Nil. Eine zahlensymmetrische Anordnung der Kapitel ist zu erkennen, die den Frosch und Das letzte Loch ebenso einander kontrapunktisch zuordnet wie die Reisenotizen aus Ägypten den Schnappschüssen aus der bayrischen Provinz. Hinzu kommen motivische, semantische, symbolische Verknüpfungen, die Kohärenz herstellen.18 Die Vorrede zum Haus am Nil lautet wie folgt: Dieses Buch ist den Säufern in der Provinz gewidmet. Den alten Herren, die schon am Vormittag die unehrsame Geschäftigkeit meiden und in minderbelichteten Räumen sitzen, ihre Zigaretten rauchen, ihr Bier trinken, ihren Schnaps, über alles nachdenken und nichts. Vielleicht haben sie zu Hause eine kranke Frau. Vielleicht waren sie Ofensetzer. Vielleicht waren sie Flieger im letzten Krieg. Jedenfalls werden sie in keinem Krieg mehr fliegen. Ich meide mit 15 16

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Michael Töteberg: Herbert Achternbusch. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1978ff., S. 13f. Drews: Alexanderschlachtbeschreibung (Anm. 2), S. 16; vgl. die Hinweise bei Mirko F. Schmidt: Herbert Achternbusch. In: Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Alo Allkemper und Norbert Otto Eke. Berlin 2000, S. 587–609, hier S. 587f. Herbert Achternbusch: Die Einsicht der Einsicht. Theaterstücke. Frankfurt/Main 1996, S. 5. So deutet Drews den Kalauer in Achternbuschs Texten als Verknüpfungs- und Strukturierungsmittel. Vgl. Drews: Alexanderschlachtbeschreibung (Anm. 2), S. 27.

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ihnen die Gasthäuser, in denen nur solche hocken, die so reden, daß man sie nicht verstehen kann. Kapitel 4 mit 8 ergeben auch ein Theaterstück, es heißt: Der Frosch. So wie Kapitel 11 mit 15 ein Drehbuch: Das Letzte Loch. Als Motto könnte man nehmen: Es gibt Dinge, die zu ernsthaft sind, als daß man sie ernst nehmen dürfte. Nie wieder Krieg, nur Maßkrüge! (HN, 7)

Erst im Verlauf der Textsukzession stellt sich heraus, dass die zentrierten Schlusssätze der Kapitel die Überschriften bilden, sodass die graphische Darbietung das Modell einer verkehrten Welt evoziert. „Nie wieder Krieg, nur Maßkrüge!“ ist ein aus der Homophonie abgeleiteter Kalauer, der Unzusammengehöriges miteinander in Verbindung bringt. Der Maßkrug wird zwar dem Frieden zugeordnet, aber zugleich in den Kontext von Kriegen gerückt. Die Widmung – „den Säufern in der Provinz“ – scheint zunächst einen typischen Topos der siebziger Jahre aufzugreifen, wonach die Underdogs als Sympathieträger, als Vertreter wahren Menschseins, gelten. Es sind jedoch deutsche Säufer mit einer Vergangenheit, die zwar nicht im Detail bekannt ist, aber doch mit hoher Plausibilität vermutet werden kann: „Vielleicht waren sie Flieger im letzten Krieg“, vielleicht auch schlimmeres, wie Das letzte Loch zeigen wird. Wirtshaus und Biertrinken19 sind keineswegs Zeichen eines Dorfidylls der Modernisierungsverlierer. Der Erzähler steht nicht außerhalb, er fühlt sich ihnen verbunden, die Provinz ist kontaminiert und zutiefst unheil. Am Ende des Drehbuchs des letzten Lochs im Haus am Nil findet sich eine Zusammenfassung der Fabel: Der Nil, ein Fliegenfänger, Biertrinker und ein Privatdetektiv aus dem Bayerischen Wald, stößt bei seinen bürgerlichen Schnüffeleien auf die Judenmorde, die er kurzerhand den Deutschen, nicht nur den Nazis, anlastet. Er muß viel Bier saufen, diesen Massenmord zu vergessen, der ihm im Rausch erst recht kommt. Seine Freundinnen rekrutieren sich ausschließlich aus Bedienungen, allerdings nur solchen, die den Namen Susn tragen. Um im Liebeseifer keinen Namen zu verwechseln? Eine bringt er um, eine treibt er in den Wahn, ihm ist alles gleichgültig in so einem Massenmörderland, wie er meint. So mag man ihn nicht, Privatleute versuchen, ihn auf die Seite zu schaffen, indem sie sich als Polizisten tarnen, dabei erschießt einer den anderen: Polizistenmord. Aber hinter allen Susn ist eine Letzte Susn, die auch die erste war. Im Heimatort macht sie ein wenig Striptease, schaut aber lieber den Glasbläsern zu, ein Leben empfindet sie nicht mehr, nur noch ein Nachflackern des erloschenen Jugendfeuers mit dem Nil, der in der Wüste ihr Rinnsal war. Auf dem Dampfer zum Stromboli sehen wir sie wieder zusammen mit dem Polizistenmörder. Auf der Insel, die gleich in die Luft gehen kann, treffen sie eine einsame Frau, Barbara, die jeden Urlaub hier verbringt, in Gedanken die Deutschen in den Vulkan zu werfen. Alles ist atomisiert, in den Gesprächen kommt es heraus. Die Zeit der Dialektik ist vorbei. Aus viel wird nicht mehr Besseres, nur noch nichts … (HN, 154f.; im Original kursiviert)

19

Vgl. Rembert Hüser: Fremdwort Bier. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 114 (1995), Sonderheft, S. 129–157, hier S. 139ff.

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Der Nil stößt als Detektiv auf die Judenvernichtung; dieses Ereignis wirft ihn aus der Bahn. Er erkennt Deutschland als „Massenmörderland“. Was er erschnüffelt, will er vergessen, vergeblich: Er gerät in einen Teufelskreis, denn gerade der Versuch zu vergessen führt dazu, dass er erst recht nicht vergessen kann. „Ich wohne im letzten Loch mit meinen 6 Millionen und ich träume hoffentlich heute nacht nicht wieder von den 6 Millionen toten Juden.“ (HN, 120). Im weiteren Verlauf der Handlung wird das in der Figurenrede immer wieder angesprochen. Die Entdeckung sprengt jegliche Möglichkeit einer konventionellen Alltagsexistenz. Der Nil wird aus seinem Leben herauskatapultiert. Dies zeigt sich schon im ersten Dialog zwischen Susn und Nil. Sie spricht von Alltäglichem, will Liebesgeflüster hören. Auf ihre Bitte um einen Kuss erwidert er: „Für mich ist ein Kuß etwas anderes. Weißt du, was für mich ein Kuß ist? Daß ein paar Juden in Auschwitz gezeichnet haben, das ist für mich ein Kuß.“ (HN, 115). Nil verweigert die konventionelle Bedeutung eines Kusses; er verbindet ihn mit der alltagssprengenden Monstrosität der Konzentrationslager, die sich herkömmlichen Kriterien von Konsistenz und Logizität nicht mehr einpassen lässt. Damit interpretiert er ihn fundamental um und definiert ihn neu. Im Gespräch mit dem Polizisten, mit der Blöden Wolke, dem Arzt und am Ende in seinem Brief kommt er immer wieder auf die Vergangenheit zurück. Nicht das Immergleiche wird wiederholt, Nil stöbert jedes Mal bei seinen Ermittlungen – wobei spezifische Fälle keine Rolle spielen, da es nicht um das Detektionsschema geht, sondern um den Habitus des Schnüfflers – eine neue Verstrickung und Verdrängung auf. Der Polizist etwa entgegnet auf Nils Frage: „Und von den 6 Millionen Juden, die die Deutschen umgebracht haben, davon hat dein Lehrer nichts gesagt?“ POLIZIST Was hätt er da schon sagen können?! Er ist ja selber im Krieg gewesen. Uns hat er immer wieder gesagt, weil wir ihn immer wieder gefragt haben, daß er während des Krieges immer wieder mit dem Zug an Auschwitz vorbeigefahren ist, und daß es in Auschwitz immer so ruhig gewesen ist, daß sie da nie so viele Juden umbringen hätten können, weil er sonst etwas gehört hätte. Er hat nix gehört, also stimmt das nicht mit den Juden. (HN, 125f.)

Und Ade, ein Mann, der wegen des Röhmputsches aus der NSDAP ausgetreten war, erzählt: Ade, du spinnst, haben sie in der Parteizentrale gesagt, du kannst jetzt nicht aus der Partei austreten, wir bringen dich um. Das ist mir wurscht, hat der Ade gesagt, wenn ihr meinen Freund umbringt, dann seid ihr Drecksäu! Das ist nicht allgemein, das ist mein Beispiel, aber jeder Deutsche hätte da sein Familienbeispiel, auch die noch ungeborenen. Und die Juden? Ein jeder war gegen die Juden, und heute sind sie noch dagegen, was sie sich nicht mehr sagen trauen, weil sie die Juden damals umbringen haben dürfen. Susn, ich mußte herauskriegen, was in den Deutschen drin ist, und ich sage es Dir: Mord. Fleißigster Mord. Aber dieser Mord hat sie zum berühmtesten Volk der Menschheit gemacht. (HN, 153)

Dass der Nil Privatdetektiv geworden ist, ist biographisch von seiner Suche nach Susn motiviert, also durch Liebessehnsucht. Susn ist für ihn jedoch zunehmend nicht mehr eine besondere Frau, sondern ein Phantasma. Eine utopische Sehnsucht lagert sich an

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sie an. Die Bindung zu späteren Frauenbekanntschaften, die allesamt Susn heißen, wird immer aussichtsloser, weil es um immer mehr geht. Im Brief an die letzte Susn wird diese phantasmatische Überfrachtung deutlich: „In der 30jährigen Brutalität des Nachkriegsdeutschland habe ich Dich gesucht, Dich, die Zärtlichkeit, die Einsicht, die Mühelosigkeit, die Anspruchslosigkeit und den Stolz, dieses Leben mit Würde zu überstehen.“ (HN, 151). Am Ende stürzt sich Nil symbolträchtig in den Vulkan Stromboli.20 „Ich begehe Selbstmord, denn als Selbstmörder gehöre ich zum Totenberg der Opfer. Zum Totenberg der selbstgerechten Deutschen will ich nicht gehören.“ (HN, 153f.) Vertreter dieses Typus, der deutsche Kontinuität verkörpert, ist der Arzt, den Nil um Hilfe aufsucht. Der empfiehlt ihm als erstes: „Trinken Sie Schnaps! Bier bringt die Erinnerung durcheinander, auf Schnaps können Sie vergessen. Ich verschreibe Ihnen Schnaps. Bei 2 cl vergessen Sie einen Juden, [… also] brauchen Sie 300000 Liter Schnaps.“ (HN, 130) Das Gespräch wird immer grotesker und grauenhafter – die Rechnung geht nur dann genau auf, rechnet Nil weiter, wenn er noch einen Juden umbringe, wozu der Arzt bereitwillig rät. Er hat ein Motiv: Sein Vater war Aufseher in einem KZ, er überwachte die Transporte von der Gaskammer zum Krematorium. Einen Juden hat er gerettet, „einen Schuft, der seinen besten Freund in den Feuertod gestoßen hätte, dran gehindert“ (HN, 133), und diesen Freund in die Totenliste eingetragen, der daher überlebte. Als Nil diesen zynischen Versuch einer Reinwaschung des Vaters zum Anlass nimmt, den Vater als eines von 634 „deutschen Schweine[n]“ (HN, 133) zu bezeichnen, zerreißt der Arzt den Krankenschein und wirft den Nil hinaus. Die Einrückung des Drehbuchs in Das Haus am Nil stiftet „subkutane[] Verknüpfungen des scheinbar Disparaten“.21 Mittels der Zusammenstellung verschiedener zunächst einzelner Textteile entsteht ein neuer Kontext, der die Sinnbezüge des Binnentextes ausweitet. Der Name der Hauptfigur des letzten Lochs lautet Nil.22 Im Vorwort deutet die Wendung „Der Nil“ an, dass es sich um einen Spitznamen handele, dem sich Konnotationen anlagern. „Ohne dich bin ich Wüste“ (HN, 113), „der Nil soll fließen“ (HN 112). Über den Fluss Nil entsteht die Verbindung zu den ägyptischen Reisenotizen, in denen der ägyptische Toten- und Memorialkult eine entscheidende Rolle spielt (vgl. HN, 156ff.). Das Vorwort zum Drehbuch endet mit einer Absage an eine positive Geschichtsphilosophie: „Die Zeit der Dialektik ist vorbei. Aus viel wird nicht mehr besseres, nur noch nichts …“ (HN, 155). Das Eine Halbe Bier unterschriebene Kapitel 10 endet mit folgenden Passagen, die dem Drehbuch Das letzte Loch vorausgehen und diese Bedeutung exponieren: Ein Inselberg aus dem Nichts in der Form eines abgerissenen Damenschuhabsatzes bergend die Gebeine der 6 Millionen Juden gut geschichtet mit Gestein, nicht berstend. Weißes Gebein war unter einer weißen Steinplatte gelblich. Ich konnte so eine Platte heben, obwohl ich un20 21 22

Vgl. Christopher Wickham: Heart and Hole. Achternbusch, Herzog, and the Concept of Heimat. In: Germanic Review 64 (1989), S. 112–120, hier S. 117f. Drews: Alexanderschlachtbeschreibung (Anm. 2), S. 38f. Vgl. Fritsch: Annäherung (Anm. 14), S. 102.

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sichtbar war, mich selbst nicht sah. Ganz am Fuße des Totenberges, auf einer schmalen Zunge standen armselige dunkle Menschen, ein paar, unbeweglich auf ihren Füßen. Tags darauf kaufte ich mir Postkarten von Otto Mueller. Tags darauf fiel mir auch ein, daß Nil lateinisch ist und auf deutsch nichts heißt. Daß die Toten aus dem Nichts kamen, ertrug ich gerade noch, indem ich den Atem anhielt. Aber diese überlebenden Zigeuner waren zuviel, ihretwegen wachte ich auf. Aber der Toten wegen flüchtete ich mich in die unzerreißbare Kette des Biers: Halbe um Halbe. Und mir ist, als sei mein Leben eine halbe Bier. Eine Halbe Bier. (HN 110f.)

Mit „nichts“ endet das Kapitel (HN, 155). Die Bedeutungszuweisungen erschließen sich erst im Verlauf der Textsukzession und bilden Chiffrenketten. Die Textstruktur folgt der Logik dieser Verknüpfungen, die die Handlung über die Handlungsfolge hinaus zusätzlich motivieren. Auch das Ambacher Exil ist eine Montage: Ambach (autobiographische Aufzeichnungen und Briefe), Die Würstelbude (Erzählung), FÖHNCHEL (eine Art Märchen), arsch mit ohren (Gedichte), LINZ (Theaterstück) und Punch Drunk (Drehbuch). Hinzu kommt ein Abbildungsteil mit Stills aus dem Film und Bildern Achternbuschs, die den einzelnen Texten zugeordnet sind. In FÖHNCHEL wird die Thematik von Linz vorbereitet, das unmittelbar nach der Fernsehausstrahlung von Claude Lanzmanns Shoah im April 1986 entstanden ist.23 Ein weiterer Anlass war der sich aus der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten Österreichs entwickelnde Skandal. FÖHNOMÄN hinter deutschland beginnt österreich, auch so ein hitlersplitter. österreich wird von der ss regiert, die abkürzung einer bedeutung, die strengstens geheim gehalten wird und zwar aus dem grunde, die österreicher am leben zu erhalten. wüßten nämlich die österreicher, was ss bedeutet, würden sie aus langeweile entschlafen. so aber hält sie ein dauerndes munkeln auf allen lebensplätzen allein und mit andern am leben. Der witzeleien und des verbittens der witzeleien ist kein ende gesetzt. und in österreich beginnt schon so gut wie alles mit ss, damit alles in den österreichischen lebenszweck, die ergründung der ss-abkürzung, einmündet. ich sage nur schifahrer und säufer. andere sagen schon sodomie statt demokratie und saustall statt gesellschaft. sonst passiert in österreich nichts, und man sieht auch weiter nichts von ihm, weil es ständig unmittelbar nach einem schneefall sich in wolken hüllt, aus denen für außenstehende, zumal für autofahrer aus deutschland, ein eher uninteressantes ss-gezischel zu hören ist. (AE, 204)

Handlungsort von Linz ist der Hauptplatz der Stadt mit der barocken Dreifaltigkeitssäule. Dort hat Schwarzen, ein Jude, das Schild „Linz ist judenfrei“ aufgestellt – vom „Stadtrat zwar nicht genehmigt, aber finanziert“ (AE, 248) – und sich mit einem Koffer niedergelassen. Nacheinander treten Bewohner der Stadt auf, mit denen Schwarzen 23

Vgl. Achternbusch: niemand da (Anm. 13), S. 215; Achternbusch: Einsicht (Anm. 17); S. 355. – Vgl. Manfred Georg Loimeier: Passagen – Zur Wissenschaftskritik in den Werken Herbert Achternbuschs. Passau 1988, S. 19; Hüser: Fremdwort Bier (Anm. 19), S. 129ff.

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persönlich bekannt ist, mit denen und über die er spricht. In der Mitte des Stücks steigen Gottvater und Gottsohn von der Säule herunter und verlassen Linz über die Nibelungenbrücke. Am Ende wird Schwarzen von vier jungen Trachtlern zusammengeschlagen; er bleibt aufgrund einer Handverletzung verkrüppelt. Die Polizei verhaftet jedoch Schwarzen, der im anschließenden Prozess freigesprochen wird, weil er in dienstlichem Auftrag gehandelt habe. Die Trachtler gehen straffrei aus, weil Schwarzen sich ihnen gegenüber nicht als Vertreter der Stadt zu erkennen gegeben hat. Linz – so heißt es am Schluss – ist „halt des Führers Heimatstadt.“ (AE, 290) Das Stück greift das Modell des barocken Welttheaters auf. Seine Handlung vollzieht sich auf zwei verschiedenen Wirklichkeitsebenen, der Handlungsebene der Menschen und der der Götter. Die Götterebene liefert den Maßstab zur Beurteilung dessen, was sich auf der Menschenebene abspielt. Die Dreifaltigkeitssäule, die den Handlungsort beherrscht, wird im Nebentext als „getünchter Scheißhaufen, der mit den goldenen Götzen des christlichen Glaubens gekrönt ist“ (AE, 248), eingeführt. Damit ist ein Leitmotiv des Stücks benannt. Im Haupttext wird das von Schwarzen aufgegriffen, aber auf den „irdischen Scheißhaufen“ (AE, 250) als Metapher für die Geschichte bezogen. Die geplante Aktion der jugendlichen Trachtler zum 20. April am Ende des Stücks gibt dem eine andere Wende, wobei die Symbolik gesetzt, kontingent, daher missverständlich dekodierbar ist: Also, in der Nacht zu Führers Geburtstag demontieren wir den christlichen Firlefanz da oben, stellen unseren Führer hinaus, streichen den ganzen Scheißhaufen braun an und nehmen mit unseren Maschinenpistolen auf den Straßenlampen Platz. […] Der Führer besetzt den Scheißhaufen, das ist eine symbolische Tat, die überall verstanden wird: daß Österreich ein demokratischer Scheißhaufen ist, der nur wieder auf den Führer wartet. (AE 286)

Das Denkmal ist zweiteilig: die marmorne Säule, der „Scheißhaufen“, wird von der auf ihr platzierten goldenen Dreifaltigkeits-Gruppe auf der Säule abgesetzt. In der Mitte des Stücks steigt die Gruppe von der Säule herunter.24 „In perfekter Goldgestalt rutschen Gottvater und Gottsohn die Windungen der scheißhaufenähnlichen Säule herunter und gehen Gottgeist als Goldsonne zwischen sich tragend“ (AE, 267). In der folgenden Szene kommentieren die „Götzen des christlichen Glaubens“ ihre Rolle in der Geschichte: GOTTVATER Mein Sohn, wir verlassen den Linzer Scheißhaufen, damit er verlassen ist. Solange wir beide diesen Haufen krönen, sieht man nur uns. Man starrt uns an und häuft zu unseren Füßen den Dreck. Man starrt uns an, nicht um uns zu erblicken, nein, man starrt uns an, um unseren Blick zu bannen, weil wir das seit Jahrhunderten währende Anhäufen von Dreck zu unseren Füßen nicht bemerken sollen. […] Hinweg mit dir du Österreich, da du nichts anderes konntest, als uns zur Krönung deiner Scheißhaufen zu mißbrauchen! (AE 267f.)

Die alltägliche Verehrung der Dreifaltigkeit dient dazu, vom Scheißhaufen abzulenken, ja ihn sogar zu legitimieren. In seiner biblischen Rolle als alttestamentarisch strafender 24

Vgl. das gleiche Motiv im Gespenst; dazu grundlegend Ort: Kreuz (Anm. 5).

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Gott verflucht Gottvater die Menschheit: „Den Tieren gleich sollen sie sich fühlen und den Tieren gleich sollen sie sich weiter verschlingen, wie sie sich immer verschlungen haben. Weiche Austria und verderbe in dem Feuer, das du zum Verderben aller entfacht hast!“ (AE, 268) Im Gegensatz folgt Gottsohn der neutestamentlichen Rolle der Bergpredigt: „Mein Reich ist nur von dieser Welt. So werden wir nie wieder kommen, nur im täglichen Gelingen.“ (AE, 269). Die beiden entfernen sich – bezeichnenderweise über die Nibelungenbrücke, ein Bauwerk aus der nationalsozialistischen Zeit – und lassen die Säule nunmehr ohne goldene Bedeckung zurück. „Linz ist judenfrei“ ist ein Zitat eines Tischgesprächs aus dem Jahr 1941, bei dem Hitler erklärte, „er freue sich, dass wenigstens Linz bereits heute schon ganz judenfrei“ sei.25 Schwarzens Aktion ist vor diesem Hintergrund eine Widerlegung dieses Satzes, seine reine Anwesenheit ist schon Provokation. In seinem Nachruf auf Klaus Schwarzkopf, der die Hauptrolle gespielt hatte, hat Achternbusch einen Fokus seines Stücks akzentuiert. Schwarzen sitzt „auf seinem Koffer mit der 6. Dimension, nämlich Geld […]. Er und der gepackte Koffer im antisemitischen Österreich.“26 Im Stück wird der Antisemitismus auf eine spezifische Weise behandelt, die im Eröffnungsmonolog Schwarzens ersichtlich wird: SCHWARZEN Hoffentlich ist keiner da! Hoffentlich sieht mich keiner. Denn das stimmt nicht, was Sie da geschrieben sehen. Dieses Schildchen mit dem neuen Lack wurde vom Stadtrat zwar nicht genehmigt, aber finanziert, bittesehr. Aber tun Sie mich nicht verraten, denn ich bin ein Jude. Ich nenn mich Schwarzen, was nicht stimmt, aber kann ich Ihnen trauen? Das tut nicht stimmen, ich bin nur ein Millionär, ich habe in diesem Koffer 7 Millionen Schilling, Bargeld. Aber ich taste dieses Geld nicht an. Dieses Geld arbeitet nicht. Wenn mich da einer weiterfragen täte, dürfte ich nicht antworten. Also gut, dieses Geld ist totes Kapital. Noch. Dieses Geld ist nämlich eine Erfindung. Ich nenne es den Judografen. Mit diesem Geld kann ich alles messen. Ich meine alles, was mit Juden zu tun hat. Was mit mir zu tun hat, wäre übertrieben, denn ich bin nur einer. Diese Erfindung ist die fünfte Dimension. (AE 248)

Dieser Einstieg evoziert ein antisemitisches Stereotyp, ohne es selbst zu formulieren oder sich affirmativ zu ihm zu verhalten. Dieses Verfahren setzt sich fort: „Und das Meßgerät für diese Dimension habe ich in meinem Koffer: 70 Millionen Schilling. Bitte denken Sie jetzt nicht an irgendeine jüdische Tüftelei! Es verhält sich auch nicht analog diesem Schildchen, daß Linz judenfrei ist, und ich als Jude in Linz weile. Das ist eine österreichische Tüftelei, die die Juden ebensowenig stört wie die Linzer.“ (AE, 249) Die Rede setzt beim Rezipientenwissen um das Stereotyp an, um es mit der Technik valentinesker Satzkaskaden ad absurdum zu führen, und endet bei der Rede von der „österreichischen Tüftelei.“ Schwarzen umkreist ein zentrales Problem: Die Rede vom 25

26

Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Hg. von Andreas Hillgruber. München 1968, S. 251; vgl. Michael John: „Bereits heute schon ganz judenfrei …“ Die jüdische Bevölkerung von Linz und der Nationalsozialismus. In: Nationalsozialismus in Linz. Bd. 2. Hg. v. Fritz Mayrhofer und Walter Schuster. Linz 2001, S. 1311–1406. Achternbusch: niemand da (Anm. 13), S. 144.

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Juden setzt Begriffskonsistenz voraus, um überhaupt sinnvoll sein zu können. Gibt es auf dieser Ebene überhaupt Juden als Fremde? Die für antisemitischen Unflat notwendige klare Bestimmung löst sich zusehends auf. Nun, bittesehr, was sag ich, die Sonne kommt, und Sie erblicken, was ich meine: österreichische Juden: das ist der Jesus mit seinem Vater. Und drüben in den Kirchen ist es genauso: da und dort sehen sie diese österreichischen Juden. Maria nicht zu vergessen, die große Judenmutter, und andere Leute, die so zahlreich in den Kirchen herumstehen und Österreicher und Juden sind. Nun, der Papst ist noch nie ein Österreicher gewesen, aber der Herr Gott selber ist ein Österreicher – und ein Jude. Ist sie nicht prächtig, diese Völkerverbindung! Mögen sich die irdischen Scheißhaufen zu Gebirgen auftürmen, die Völkerverbindung erklimmt jeden Gipfel und steht im Sonnenschein eines jeden neuen Tages alles überstrahlend da!!! (AE, 249f.)

Die Verwechselbarkeit von Juden und Österreichern zieht sich durch das Stück. Sie hat zwei Seiten. Zum einen erweist sie den Antisemitismus als soziale Konstruktion, dessen Grundannahmen keine empirische Grundlage entspricht und der kein Wahrheitswert zukommt. Andererseits ermöglicht sie insbesondere im Zusammenhang mit der seinerzeit fast einhelligen Unterstützung der Figur Waldheims einen Wechsel der Positionen, sodass sich plötzlich Österreicher in der Rolle der Verfolgten sehen können. „Typisch für Österreich: mit diesem Schild können sie ihren Antisemitismus nähren und doch vor aller Welt erklären, daß sie nicht mehr antisemitisch sind!“ (AE, 281), wie der Piefke erklärt, der „als ein Kind für den Führer gezeugt worden“ ist (AE, 281). Schwarzen resümiert: Ach wissen Sie, da ist kein Unterschied, wenn man wo dazu gehört, ist es gleichgültig, woraus man besteht. Ich wollte ja eigentlich immer nach Israel gehen, aber man braucht mich hier irgendwie. Wie sollte ich mich in Israel nützlich machen, wo es in Israel keine Österreicher gibt? Aber wenn alle Österreicher nach Israel gingen, ging ich schon mit. Dann müßten natürlich alle Israelis in das heutige Österreich gehen. Ich könnte mir ein Österreich im Nahen Osten schon vorstellen, auch ein Israel im Süden von Deutschland ist mir eingängig, aber wozu der ganze Transfer, wenn es so auch geht. (AE, 283f.)

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Die Wiederkunft der Vergangenheit. Sebalds Gedächtnisfahrten

Die Auseinandersetzung mit der nazistischen Vergangenheit bildet einen gewichtigen Teil der deutschen Literatur der Gegenwart, und Winfried Georg Sebalds Werke gehören in den Umkreis jener Darstellungen, die sich annäherungsweise als ‚Archäologie des Gedächtnisses‘ profilieren lassen. Winfried Georg Sebald, ein dichtender Intellektueller, Lektor und Dozent für deutsche Literatur in Manchester und Norwich, hat mit seinen literarische Schilderung und essayistische Form verschränkenden Prosawerken, allen voran mit Die Ausgewanderten (1992) und Austerlitz (2001), sein Renommee begründet; lässt er doch Krieg und Memoria zu einem Stoffkomplex verschwimmen und in Kombination zum Dauerthema seiner Texte werden. Sebalds Erzählwerke sind freie, mit topografischen, historischen, architektonischen Feinheiten durchsetzte Erkundungsgänge eines in Kulturätiologie und -kontinuität geschulten Reisenden, der sich in die Vergangenheit versenkt, der Welt in Erinnerungen und Aufzeichnungen begegnet. Sein Alter Ego will das Verströmen der Dinge, Spuren einer untergehenden oder schon entschwundenen Realität, ermitteln, und sieht sich durch das Erlebte auch mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert. Bald führen ihn seine Fußmärsche und Reisen durch die Heiden der ostenglischen Grafschaft Suffolk, bald wieder nach Antwerpen, Manchester oder andere Orte, an denen er sich die Lebensgeschichte jüdischer Auswanderer erzählen lässt; auf seinen Wanderungen durch die Kulturlandschaft und Architekturgeschichte mit ihrem untrüglichen Gedächtnis stößt er überall auf Kriegsspuren. Sebald bekennt sich zu einem Fortbestehen des Problemfeldes Nazizeit mit allen dazugehörigen Implikationen. Sein Schlüssel zur Erkenntnis des Krieges ist dabei sehr weitläufig. Es ist eigentlich ein kreisförmiger Weg, auf dem er in einem Erinnerungsdiskurs, einer Verästelung der Fabel, Verschiedenes umkreist, um zu seiner Idee und Pointe zu gelangen: Kriegserlebnisse sind in ihrem Wesen, ihrer wahrsten Substanz, nicht reproduzierbar – zum einen, weil sie sich dem Ausdruck verweigern, und zum anderen, da die Erinnerungskraft dem Erlebten nicht mehr lange gewachsen ist. Das Erinnerte erliegt im Laufe der Zeit einer

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Erosion, seine Konturen verblassen: „doch was all das in Wahrheit bedeutete, das wissen wir nicht[,]“1 heißt es in Luftkrieg und Literatur (1999). Jeder seiner Texte bringt Sebald eben zur gleichen Frage zurück – zu der nach der Mitteilbarkeit der seelischen Situation von Kriegsopfern überhaupt. Bei aller Lähmung und Begrenztheit des Erinnerungsvermögens lässt er in allen seinen Prosawerken das Gedächtnis als eine tragende Struktur gelten und stellt sich somit gegen das Vergessen der zurückliegenden Zeit, abgesehen davon, ob vom Zeitzeugen relativ geordnet oder flatterhaft, in Erinnerungssprüngen, berichtet wird – in „Erinnerungen, die auftauchen und wieder versinken, [den] fortlaufenden Bilder[n] und [den] schmerzhaften blinden Stellen, an denen gar nichts mehr ist.“2 Seine Protagonisten sind Subjekte permanenten Erinnerns, nachdenkliche, bisweilen melancholische Erzähler, denen der Reisende und Schreibende, Mitte Fünfzig, mit Andacht zuhört und denen jedoch bei aller Tragweite des Erinnerten Affekthaltung und Affektsprache fremd sind, denn der Affekt kann, heißt es in Aleida Assmanns Gedächtnisforschung, „sowohl als Zeichen von Authentizität wie auch als Motor der Verfälschung angesehen werden.“3 Da die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs im Erzähl- und Schreibmoment noch außerordentlich stark sind und das Geschehene immer wieder zurückschlägt, kommt in Sebalds Augen der reflektierten Erinnerung an Leid und Verbrechen primäre Bedeutung zu – umso mehr, als ihm in der Vorbemerkung zu Luftkrieg und Literatur seine deutschen Zeitgenossen „ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk“4 sind. In gleicher Tonart wird die „Geistesverarmung und Erinnerungslosigkeit der Deutschen“5 im Erzählband Die Ausgewanderten angesprochen und somit auch einer „Unfähigkeit zu trauern“6 in Mitscherlichs thesenhafter Auffassung begegnet. Die Erinnerungsarbeit bei Sebald, eine Umwandlung von Ort in Zeit, ein Arrangement des Vergangenen und eine Ordnungsarbeit für die Gegenwart, für den Protagonisten Austerlitz Druck und Erfordernis, „dieses andauernde Ziehen […], eine Art Herzweh, das […] verursacht wurde von dem Sog der verflossenen Zeit“ (A, 186), wird nicht allein vom Willen gesteuert. Ein zufälliger Reiz – wie etwa zwei alte Fotografien in Austerlitz, welche dem Leser den kleinen, knapp fünfjährigen Jacques Austerlitz und seine Mutter in einer Theaterszenerie vor Augen führen und sich so präsentieren, „als hätten die Bilder selbst ein Gedächtnis“ (A, 262) – ein solcher Reiz kann von selbst das 1 2 3 4 5 6

W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien 1999, S. 11f. W.G. Sebald: Austerlitz. München 2008, S. 323. Im Weiteren als (A mit entspr. Seitenangabe) zitiert. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchgesehene Aufl. München 2009, S. 20f. W.G. Sebald: Vorbemerkung. In: Luftkrieg und Literatur (Anm. 1), S. 5–8, hier S. 6. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. 12. Aufl. Frankfurt/Main 2008, S. 338. Im Weiteren als (An mit entspr. Seitenangabe) zitiert. Alexander Mitscherlich, Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967.

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in der Psyche Verschüttete auf unerwartete Weise öffnen und eine Flut obsessiver Erinnerungen, oft mit elegischer Stilisierung, in Gang bringen. Die beiden nach Jahren zufällig aufgefundenen, vom erwachsenen, den Spuren seiner Mutter in Prag nachforschenden Austerlitz vielmals studierten Fotos zeitigen eine Schockwirkung, sie verdichten sich zu Täuschung und Alptraum, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger [Jacques Austerlitz, d. Verf.] es bedenk[t], desto mehr kommt [ihm] vor, daß [diejenigen], die [sich] noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind. (A, 265)

Mit nichts sei der Erinnerungsliteratur wohl besser gedient als mit einem Gemenge aus Bericht und narrativer Lust, einer Bildlichkeit, in der sich die zeitgeschichtliche Realität, die Dramaturgie des Stoffes selbst mit surrealer Fiktionalität, mit assoziativem Denken und Erinnern in Verbindung bringt. Sebalds Ansatz ist im Grunde quasi dokumentarisch und literarisch. Dem die Vergangenheit zusammentragenden, den Realitätsgehalt der Schauplätze respektierenden Wissen, dem Faktischen, steht das Erdichtete zur Seite; der Verfasser rekonstruiert Jahrzehnte zurückliegende Fakten, registriert und formt sie auch frei. Sebalds Werk ist alles andere als modisch, für die Darstellung der Nazizeit, die bei ihm in vielerlei Gestalten erkennbar wird – als Wahn und Terror, prinzipielle Feindschaft gegen Andere, als geistige Verheerung und kulturhistorische Krisis – scheint ihm keine vorhandene Erzähltechnik geeignet. Sein Selbstbild im Text macht auch keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber dem eigenen „Skrupulantismus“ (An, 344) im Niederschreiben von Erinnerungen der Zeitzeugen und Darstellen des schwer fassbaren Gegenstands. Je mehr Bilder aus der Vergangenheit die Überlebenden in Die Ausgewanderten oder Austerlitz versammeln, desto unwahrscheinlicher wird es ihnen, dass sich die Nazivergangenheit auf derart horrible Weise abgespielt hat. Für den Protagonisten Max Aurach, dessen Mutter Heine las und die ihre als eine schöne Reminiszenz, als nostalgische Verbundenheit mit der eigenen Kindheit und als Gegenkraft zur Gewalt gedachten Aufzeichnungen aus der Zeit 1939–1941 hinterlassen und dabei auf die verhängnisvolle Aktualität nicht einmal den geringsten Bezug genommen hat, ist die Gedächtnisarbeit eine Immunisierung gegen das von seinen Eltern erlittene Leid und gegen sein eigenes; er tut es – so wie Austerlitz – aus dem Zwang seiner jüdischen Erfahrung. Den Eltern von Max Aurach war seinem Bericht zufolge die Todesangst, die psychische Auswirkung der Bedrohung, ins Gesicht geschrieben, dennoch zögerten sie die Ausreise aus dem nazistischen Deutschland aus verschiedenen Gründen hinaus und trugen ihr Schicksal gefasst. Sie, die zu den alteingesessenen, in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert nachweisbaren jüdischen Familien gehörten, wurden im November 1941 mit einem Deportationstransport aus München nach Riga verschleppt und in dieser Gegend ermordet.

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Was Untaten solchen Ausmaßes zeitigte, war ein beispielloser, von den Nazis zu Imperativ und Staatsideologie erhobener, in seiner Radikalität unumschränkter Judenhass, der in ganz Europa seine lange Geschichte hat, nach 1933 aber in eine vornehmlich zynische Phase eingetreten ist. Seiner nationalsozialistischen Variante liegen altbekannte, traditionalistische Vorurteile, pathogene Abneigungen zugrunde und doch auch etwas mehr. Es wurden nämlich vom Nationalsozialismus Strategien und Maßnahmen rassistischer Prägung, eine beispiellose Tötungsindustrie in die Wege geleitet, infolge derer ein ganzes Volk rücksichtslos ausgegrenzt und ausgerottet werden sollte; die Nazis stellten ihre Ordnung durch Ausgrenzung und Ressentiment her. In Sebalds Erinnerungsdiskurs wird auch der Mutter von Austerlitz eine bedeutende Rolle beigemessen. Noch im Vorkriegsprag unternimmt sie einen verspäteten Versuch, sich freizukaufen und zu emigrieren. Als ihr jedoch nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag das Ende jedweder Hoffnung und Illusion bewusst wird, drückt sie sich nur in depressivem Schweigen aus. Daher verbleibt sie vor Entsetzen die ganze Zeit bei geschlossenen Fenstern im Haus, schweigsam und regungslos, vor sich hin starrend. Im Klima der Angst lebt sie im Vorgefühl der herannahenden Katastrophe. Ihre seelische Lage ähnelt gewissermaßen der von Jean Améry im Essay Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein beschriebenen, als ihm 1935 die soeben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze bewusst werden: „Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte.“7 Die Mühe des Erzählers von Sebald zielt daher darauf ab, die Notsituation eines Bedrohten oder Deportierten im Detail wiederherzustellen und dessen Betroffenheit, das subjektiv wirksame Moment, zu akzentuieren. Historische Wahrheit wird in der hier behandelten Prosa in Erinnerung und Imagination der Überlebenden mit Blick auf die Lebens- und Leidensgeschichte der Opfer des Holocaust, eine ganz ausgelöschte Welt, nachgespielt. Sebald begegnet solchen Realitäten nicht nur mit revidierendem, analytischem Blick, es ist ihm zugleich die Zeit zu Trauern um Verluste aller Art. Sein Werk, heißt es in einer Monographie in Bezug auf Die Ausgewanderten, ist durchzogen „von einer so allgegenwärtigen Sprache der Trauer und Melancholie, daß sie sogar dort vernehmbar ist, wo der Text von anderen Ereignissen und Zeiten spricht. In dieser Trauer erstattet Sebald den von ihm porträtierten Opfern ihre Individualität zurück und führt damit ein neues Schweigen ein – das Schweigen der Opfer.“8 Die Auseinandersetzung mit der Nazizeit sei jedoch, so der Verfasser der Ausgewanderten, mehr als nur eine Trauer- und Reueaufgabe, eine Wiedergabe von schmerzvollen Einzelgeschichten. Es sei vielmehr eine Einladung zu einem möglichst ganzheitli7

8

Jean Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein. In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 130–156, hier S. 135. Ernestine Schlant: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. Deutsch von Holger Fliessbach. München 2001, S. 290.

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chen, auch genealogisch bedingten Diskurs, in dem der Gegenstand nach allen Seiten, nicht nur nach moralischen Aspekten, abgewogen werde. Schließlich sind die Ursachen der neuen historischen Situation, der Gang der Ereignisse in Deutschland nach 1933 für keine der dargestellten Personen, keinen der Betroffenen und keinen der Erzählenden fassbar. Nach dem Besuch des Ghetto-Museums in Terezin (Theresienstadt) bringt Austerlitz es auf den Punkt – stellvertretend für alle anderen Protagonisten: „Das alles begriff ich nun und begriff es auch nicht, denn jede Einzelheit, […] überstieg bei weitem mein Fassungsvermögen.“ (A, 283) Innerhalb der erinnerten Realitäten des Schreckens ist die Annihilation des Rechts und somit auch die der Öffentlichkeit eine besonders destruktive. Dieser in Die Ausgewanderten und Austerlitz vornehmlich krass herausgehobene Aspekt der politischideologisch fundierten Pseudonormativität erklärt sich aus der allgemeinen Strategie der NS-Diktatur, die als falsche Staatsform, welche sich andere um jeden Preis gefügig macht und Vertreibung, Enteignung und Deportation der Nicht-Arier, Diskriminierung in jeder erdenklichen Art, als amtliche Funktionsmechanismen und alltäglich-kollektive Willkür schon ab 1933 bewilligt. In Erinnerungen kehren daher nicht nur die Toten zurück. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende vermittelt der Verfasser des Erzählbandes Die Ausgewanderten dem Leser ein Gefühl von der Unfassbarkeit des Grauens und der Ungeheuerlichkeit des Leidens (laut dem Motto zu diesem Werk: „Manche Nebelflecken/ löset kein Auge auf“), ein Gefühl von Wunden, die nicht heilen. Schon 1935, lange Zeit vor Kriegsausbruch, wurde der Titelfigur der Erzählung Paul Bereyter (aus Die Ausgewanderten), einem Lehrer und späteren Wehrmachtsoldaten, der aber „nur ein Dreiviertelarier“ (An, 74) war, ein amtlicher Bescheid zugestellt, „in dem es heißt, sein Verbleiben im Schuldienst sei, aufgrund der ihm bekannten Gesetzesvorschriften, nicht mehr tragbar.“ (An, 72) Analoges lässt sich in Max Aurach, einer weiteren Erzählung aus ebenjener Sammlung, nachweisen: Onkel Leo, einer der Ausgewanderten, der rechtzeitig nach England emigrierte, wurde als Lehrer für Griechisch und Latein aus dem Schuldienst an einem Würzburger Gymnasium bedingungslos entlassen. Der Überlebende Paul Bereyter, der das Erlebte in seine Persönlichkeit nicht zu integrieren vermag und sich im Alter von 74 Jahren, Jahrzehnte nach Kriegsende, das Leben nimmt und so seinem Leidensweg ein Ende setzt, rekapituliert in Archiven Schikanen, Schandtaten, Ausschreitungen gegen die in seinem Heimatort seit Generationen ansässigen jüdischen Familien, u.a. „die Gunzenhausener Vorfälle, als […] am Palmsonntag 1934, also Jahre vor der sogenannten Kristallnacht, die Scheiben der Judenhäuser eingeschlagen und die Juden selber aus ihren Kellerverstecken hervorgezerrt und durch die Gassen geschleift“ (An, 80) wurden. Zu den Gewaltakten desselben Palmsonntagstreibens gehören die Ermordung des 75jährigen, mit Messerstichen getöteten Ahron Rosenfeld und des 30jährigen, an einem Gatter erhängten Siegfried Rosenau. Den als tödliche Feinde stigmatisierten, aus der gesellschaftlichen Kommunikation, auch aus Kinos und Theatern, aus Konzerten und Versammlungen ausgeklammerten

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und sich dennoch zu ihrer Heimat bekennenden Juden wurde, so der erwähnte Paul Bereyter, auf dem Friedhof ein für Konfessionslose und Selbstmörder reservierter Platz zugewiesen, und die zum Verschleppen in ein Konzentrationslager Registrierten trugen ihr Stigma, eine am Spagat um den Hals hängende Transportnummer. Jüdische Motive und Zwischentöne lassen sich in allen Prosatexten Sebalds mühelos vernehmen. Direkt aus dem Rechtsnihilismus leiten sich die in Austerlitz dargestellten Gewalttätigkeiten gegenüber den Juden und ihre Exekution in der Kriegszeit ab, die Sebald protokollarisch und atmosphärisch zugleich charakterisiert. Die Wirkung der Szene, in der Gerichtssaal und Hinrichtungsstätte nebeneinander gelegen sind, wird durch die Naturalistik des Geschehens noch gesteigert: Für ein Vergehen, einen bloßen Verstoß gegen die herrschende Ordnung, konnte man, nachdem man neunzig Sekunden Zeit gehabt hatte, sich zu verteidigen vor einem Richter, zum Tode verurteilt und unverzüglich gehenkt werden in dem gleich an den Gerichtssaal sich anschließenden Exekutionsraum, in welchem eine eiserne Schiene unter der Decke entlanglief, an der man die leblosen Körper, je nachdem es erforderlich war, ein Stück weiterschob. (A, 251f.)

Max Aurach, von dessen Leben und dem seiner Eltern erzählt wird, sind aus der Münchener Zeit nach 1933 auch dämonische Umzüge als eine Hyperrealität in der Erinnerung haften geblieben: „Es war, als entfalte sich unmittelbar vor den Augen der Zuschauer eine neue Menschenart nach der andern.“ (An, 272) Wichtig werden wieder einmal das Auratische der Erinnerungen und das Entstehen der Kommunikation aus dem Schweigen. Zu Hause wurden solche Paraden in der Gegenwart des kleinen Max Aurach in der Regel verschwiegen, in häuslichen Gesprächen war man bemüht, die neue Zeit zu ignorieren; die jüdischen Familien waren allemal bestrebt, den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten. In Austerlitz gibt der Verfasser zu erkennen, dass der Schlüssel zur Erklärung solcher Prozessionen in der massenpsychologisch gesteuerten Motivation und Faszination für den Nationalsozialismus liegt. Eine ähnliche Argumentation bezüglich der den Nazis entgegengebrachten Akzeptanz und Faszination wurde in dem seinerzeit von Alexander Mitscherlich geprägten Diskurs vorgebracht; dessen Hauptthese im Allgemeinen darin besteht, der Zerfall konservativer Wertvorstellungen und Denkgewohnheiten habe zu „der massenhaften Begeisterung der Deutschen“9 für Naziideen und Naziordnung geführt. Im Bericht des Vaters von Jacques Austerlitz, dem sich die Bücherverbrennung von 1933 als verhängnisvoller Akt und dann der Nürnberger Parteitag 1936 als eine fanati9

Tobias Freimüller: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler. Göttingen 2007 (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 6), S. 286: „Für Mitscherlich selbst lag der Schlüssel zur Erklärung der Vergangenheit in seinen massenpsychologischen Überlegungen der 1950er Jahre. Als Gefahr, die aus der Erosion traditioneller Bindungen, Ordnungsvorstellungen und Traditionen in der Moderne erwachsen könne, hatte er vor allem die mögliche Manipulation der Massen benannt. Die historische Fundierung dieses Gedankens in der massenhaften Begeisterung der Deutschen für Hitler und den Nationalsozialismus ist unübersehbar.“

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sche, in ihrer Euphorie durch nichts limitierte Masse, ein „Meer der strahlend emporgewandten Gesichter und sehnsüchtig ausgestreckten Arme“ (A, 242), ein kaum zu beschreibender Nationaljubel der Berauschten und Wirklichkeitsblinden einprägt, wird die Nazibewegung in ihrer kollektiv-disziplinierten Physiognomie visualisiert, mit sich selbst beleuchtet, als eine nicht zu zähmende Energie und Gestalt altgeschichtlicher Provenienz, „die dem Tod fürs Vaterland sich weihenden Krieger, die riesigen, geheimnisvoll schwankenden Fahnenwälder, die im Fackelschein davonzogen in die Nacht[,]“ literarisch ausgemalt (A, 243) – in der Überzeugung, „daß die Deutschen“, um erneut mit Sebald zu sprechen, „aus ihrer unverwundenen Erniedrigung heraus, nun eine Vorstellung entwickelten von sich als einem zur Messianisierung der Welt auserkorenen Volk“ (A, 243), als folgte dieses einer allein an Erwählte adressierten höheren Sendung mit stark ausgeprägtem demonstrativem Aspekt. Bei solchen Paraden, die in ihrem Bann, dem gemeinschaftlichen Paroxysmus, auch die Wiener abhalten, lassen sich andere homogenisieren, und das Einheit stiftende Ordnungsprinzip, das alles Individualistische hinwegfegt, wird auf die Spitze getrieben. Bei allem, was sich in solchen Szenen kundtut, ist Wahnsinn im Spiel – in der Auffassung von Michel Foucault, der meint, Wahnsinn setze dort ein, „wo sich die Beziehung des Menschen zur Vernunft trübt und verdunkelt.“10 Der Autor von Austerlitz scheint in diesem Punkt – so wie früher der bereits genannte Alexander Mitscherlich – den Zusammenhang zwischen individuellem und kollektivem Irrsinn zu erkunden, als habe sich der Wahn der Nazis mit dem der verblendeten Massen getroffen. Die faschistische Rechtsordnung sanktioniert bei Sebald auch Plünderungen jeder Art. Den in ihrem Unglück ratlosen jüdischen Staatsbürgern wurden infolge solcher Handlungen die materielle Grundlage, Häuser und Liegenschaften, Bankanlagen und Wertpapiere, entzogen, und was diesen Akten folgte, war die Exterritorialität der nicht rechtlich geschützten Staatsangehörigen. Infolge von pedantisch durchgeführten Repressionen waren die Betroffenen einer besonderen Ungunst der Verhältnisse ausgeliefert – schließlich, so Sebalds weiteres Axiom, war der Zweite Weltkrieg längst schon vor 1939 im Gange. Alle von anonymen und seelenlosen Rollenspielern vollbrachten Untaten in der Vorkriegszeit gelten aus seiner Sicht als ein Auftakt zum heraufziehenden Ausrottungskrieg. Wien, Prag, Steinach, Bad Kissingen, Gunzenhausen und nach dem Ausbruch des Krieges auch Paris sind in den Darstellungen Sebalds Orte von Handlungen und Verbrechen, die sich als eine Gesamtheit barbarischer Verhaltensweisen konstituieren und an Hannah Arendts ‚Banalität des Bösen‘,11 die Gewöhnlichkeit des Unheilbringenden, zurückdenken lassen.

10 11

Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. 11. Aufl. Frankfurt/Main 1975, S. 63. Die These von der ‚Banalität des Bösen‘ ist bereits im Untertitel von Hannah Arendts EichmannPublikation erwähnt. Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow. München 1964.

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Die einzige Legitimation des Wirkens war unter diesen Umständen die vom despotischen Staat entwickelte Strategie des Hasses und der Ausgrenzung. Solche ShoahAktionen wie Vertreibung und Plünderung als eine gelenkte Kompensation niederer Instinkte werden bei Sebald übrigens internationalisiert, an ihnen beteiligen sich – unter infernalischen Umständen und mit dazugehörigem Eifer – Hilfskräfte jüdischer, tschechischer oder französischer Herkunft, als z.B. „ein Heer von französischen Gendarmen dreizehntausend jüdische Mitbürger aus ihren Wohnungen holte in der grande rafle“, einer Razzia in Paris 1941, „bei der über hundert der Verfolgten vor Verzweiflung aus dem Fenster gesprungen sind oder auf eine andere Weise sich ums Leben gebracht haben.“ (A, 362) Im gleichen Werk werden von einem Juden noch andere Bilder des Elends der Nazizeit festgehalten, „die schauderhaftesten Geschichten von der Niedertracht der Wiener“ (A, 245), die die Häuser ihrer aus der Ostmark vertriebenen, „bis auf ein paar Schillinge ausgeraubten“ (A, 244) Mitbürger demolierten. Die von Depressionen geplagten Aurachs erlebten – genauso wie die Mutter von Austerlitz – ihre Existenz als gefährdet, es mangelte ihnen jedoch an Mut, den entscheidenden Schritt zu tun und Deutschland zu verlassen. Von einer Ausreise war, jedenfalls in Maxens Gegenwart, nicht ein einziges Mal die Rede, auch nicht, nachdem die Nazis bei ihnen in der Wohnung Bilder, Möbel und Wertgegenstände als den Juden „nicht zustehendes deutsches Kulturgut“ (An, 277) beschlagnahmt hatten. Sebald legt Wert auf das Atmosphärische solcher Szenen, selbst wenn damit ein zweitrangiger Fakt exponiert werden sollte. Nach Jahren entsinnt sich Max Aurach z.B. der niederen Instinkte und Verhaltensweisen von Nazi-Funktionären, „wie die Eltern besonderen Anstoß nahmen an der ungezogenen Art, mit der sich die niedrigen Chargen die Taschen mit Zigaretten und Zigarillos vollstopften.“ (An, 277) Nach der Kristallnacht wurde der Vater von Max ins Lager Dachau eingeliefert. Einige Zeit darauf kommt er zwar wieder frei, gleicht aber einem in Beklemmungszustände, in die Enge und Ohnmacht Getriebenen. „Von dem, was er erlebt und gesehen hatte, ließ er seinem Sohn gegenüber nichts verlauten.“ (An, 277f.) Auch in Erinnerungen betritt Sebald den abgründigen Raum des Krieges selbst. In seinen Wahrnehmungen bleiben zwar die Bilder von militärischen Auseinandersetzungen aus, dennoch bewirken viele Episoden und ausdrückliche, über alle seine Texte verstreute Bezugnahmen auf das Kriegsgeschehen eine dauerhafte Erschütterung. In Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995) nimmt sich der Zweite Weltkrieg als ein vornehmlich böses, verlustreiches Unternehmen, ein Durchwandern dunkelster Zonen aus – und zwar am Beispiel kroatischer, mit dem Einverständnis der Wehrmacht durchgeführter Säuberungsaktionen der Ustascha, an denen sich auch ein junger Wiener Jurist und Offizier, der spätere Generalsekretär der Vereinten Nationen, beteiligte. Allein die Mittel zum Kriegführen, in diesem Fall Sägen, Säbel, Äxte, Hämmer, Messer, Quergalgen, lassen an die Sinnkrise menschlicher Zivilisation zurückdenken.

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Ort der Handlung ist das am Fluss Sava gelegene Lager Jasenovac, in dem allein 700.000 Männer, Frauen und Kinder ums Leben gebracht wurden – mit einer Methode, „die selbst“, so Sebald, „den Fachleuten aus dem Großdeutschen Reich […] die Haare zu Berge stehen ließ.“12 Den Überlebenden ist es „bis auf den heutigen Tag“ (RS, 122) nicht möglich, setzt der Erzähler fort, ihre traumatischen „Erinnerungsschatten“ (RS, 122), allerlei Schreckensbilder und Zwangsvorstellungen, aufzuarbeiten. In Die Ringe des Saturn wird dem Leser zugleich über die haarsträubenden Verbrechen der belgischen Kolonisten im Kongo berichtet und somit die Kriegsbarbarei als transnationales Phänomen dargestellt. In seinem Gedächtnis haben sich ferner Meldungen von den nicht abreißenden Erfolgen der Wehrmacht, vom Übergreifen des Krieges auf ganz Europa verankert – auch davon, dass die Deutschen „von einer Art Höhenrausch“ (A, 253) ergriffen waren. Zu den episodischen Verweisen auf den Krieg gehört auch der Bericht eines englischen Gärtners in Die Ringe des Saturn, unter dessen Obhut eine Residenz in seinem Land steht und der selbst Zeuge des Luftkriegs war. Mit einigem Stolz berichtet er vom Ausmaß des Luftkriegs,13 von unzähligen, in Ostengland angelegten Flugfeldern, von der Luftflotte, der Strategie des Flächenangriffs und Vergeltungsaktionen, von den jeden Abend über der Residenz nach Deutschland hinüberziehenden Bombenflugzeugen, und imaginiert bereitwillig deutsches Unheil – und zwar „wie die deutschen Städte in Flammen aufgingen, wie die Feuerstürme in den Himmel lohten und die Überlebenden in den Trümmern herumwühlten.“ (RS, 52) Zur erinnerten Wirklichkeit in Sebalds Texten gehört – wie bereits angedeutet – die des Holocaust. „Das Ereignis des Holocaust“, liest man bei Aleida Assmann, „ist mit zeitlicher Distanz nicht farbloser und blasser, sondern paradoxerweise näher gerückt und vitaler geworden.“14 Dies trifft eben auch für die interpretierte Prosa zu. In jedem der angeführten Werke wird die Judenvernichtung auf eine ihm eigene affektfreie Art und Weise aktualisiert. Zwar heißt es bei Sebald ausdrücklich, dass das Ghetto Theresienstadt, zu keinem anderen Zweck als dem der Vernichtung eingerichtet, „nur auf die Auslöschung des Lebens“ (A, 341) abzielte und die Öfen „des Krematoriums belastet wurden bis an die äußerste Grenze ihrer Kapazität“ (A, 340f.), und Hugo und Lucie, „aufgelöst in graue Luft“ (A, 366), – mit gewisser Analogie zu Celans Todesfuge – gegangen sind und dass der Abtransport tschechischer Juden nach Osten, das zynisch so genannte „Einwaggonieren“ (A, 258), Schauplatz drastischer Szenen war – von Verzweiflungsausbrüchen, Aufschreien und tobsüchtigem Verhalten. Die HolocaustRealität, die in allen Werken von Sebald expressis verbis oder indirekt, andeutungswei12 13

14

W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. 9. Aufl. Frankfurt/Main 2007, S. 120. Im Weiteren als (RS mit entspr. Seitenangabe) zitiert. In Die Ringe des Saturn verweist Sebald darauf, dass die Ziele des Luftkriegs auch symbolhaften Charakter hatten. Man zerstörte mit Vorliebe „das jeweilige Wahrzeichen, also zum Beispiel den Kölner Dom, den Frankfurter Römer oder den Bremer Roland.“ (RS, 53) Assmann: Erinnerungsräume (Anm. 3), S. 14.

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se zu spüren ist, wird jedoch bei diesem Autor im Allgemeinen in verhaltener Tonart artikuliert. Hierzu gehört auch ein sich schicksalhaft gebendes Bild des in die Kriegswirtschaft eingebundenen Ghettos Litzmannstadt, auf dem drei junge Frauen mit vielsagendem Blick zu sehen sind – für den Erzähler „die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere“ (An, 355), ein fernes Echo des Moiren-Motivs und der sagenhaften Spindel, eines Zeichens möglicher, in der Latenzphase befindlicher Rache und Ermahnung. In dieses Umfeld integriert sich ebenfalls die Erinnerung an die Mutter Max Aurachs, die, 1944 aus Theresienstadt in ein Konzentrationslager im Osten deportiert, dort umgekommen ist und so wie die Mutter von Austerlitz für alle in der Shoah Verschollenen steht. Diese und jene Lebensgeschichten und Gewalttaten haben eine gemeinsame Wurzel: die von Anfang an aus staatsideologischen Gründen ins Extrem getriebenen Projekte und Handlungen eines Unrechtssystems, die Repression und Tötung von Staats wegen, für Staatszwecke als eine nicht aufzuhaltende Gesetzmäßigkeit böser Entwicklung. Sebalds Protagonisten, allen voran Jacques Austerlitz, Max Aurach und Paul Bereyter, rufen nicht nur persönlich gehaltene Erinnerungen wach. Sie lassen keine Gelegenheit aus, auch Landschaften und Orte der Handlung zum Leben zu erwecken und diese ins kollektive Gedächtnis einzubinden: die belgische Festung Breendonk, in der die Nazis ein Auffang- und Straflager eingerichtet haben – mit einer Folterkammer, in welcher, so gelesen in Austerlitz (vgl. A, 38), Jean Améry einer Tortur unterzogen wurde.15 Die ehemaligen Kasematten Breendonk dienen seit 1947 als nationale Gedenkstätte und Museum des belgischen Widerstands. In die Reihe der Erinnerungsorte schreiben sich ferner die in die Kalkwand eines Bunkers im litauischen Kaunas geritzten Namen und Herkunftsdaten der Häftlinge (Austerlitz) sowie eine Grabstätte mit den Namen junger, in den letzten Kriegstagen im Engen Plätt Gefallener ein (Schwindel. Gefühle, 1990). Einen besonderen Ort hat in diesem Kontext das Ghettomuseum Theresienstadt, das Austerlitz, die Spuren seiner Mutter ermittelnd, in den sechziger Jahren besucht und das Gesehene (erhaltene Gebrauchsgegenstände der Opfer, Totenregister, Bilanzblätter, fotografische Reproduktionen, die Dokumentation zur Bevölkerungspolitik der Nazis und zur Sklavenwirtschaft in ganz Mitteleuropa – alles mit pedantischer Gründlichkeit, mit „Ordnungs- und Sauberkeitswahn“ geführt; A, 283), das so Dokumentierte zum „Modell einer“, um noch einmal Sebald selbst zu bemühen, „von der Vernunft erschlossenen, bis ins geringste geregelten Welt“ (A, 284) erklärt. Die genannten Orte machen ein historisch-kollektives Gedächtnis geltend, sie alle haben einen Namen, sind aber für Sebalds erzählende Figuren lauter kontinuierliche 15

Über seine eigene Erfahrung in Breendonk schreibt der Betroffene selbst. Vgl. Jean Améry: Die Tortur. In: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne (Anm. 7), S. 46–73, hier. S. 47f.: „Wenn man von der Tortur spricht, muß man sich hüten, den Mund voll zu nehmen. Was mir in dem unsäglichen Gewölbe in Breendonk zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter. […] Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.“

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Irritationen und Langzeitwirkungen eines unbegreiflichen Wahnsinns. Das von ihnen direkt oder indirekt Erlebte entzieht sich in allen Punkten ihrem Verständnis, und durch die Erinnerungsorte taucht jede scheinbar im Gedächtnis ausgelöschte Spur wieder auf. Die angestrebte Entlastungsfunktion der Erinnerungen als Resultat des Rückblicks und Innehaltens schlägt jedoch ins Gegenteil um. Max Aurach wird immer wieder von Erinnerungsbildern heimgesucht, und diese geben wiederkehrenden Zwangsvorstellungen einen Impuls. Für Ambros Adelwarth, eine Figur aus Die Ausgewanderten, ist die Erinnerung an die Nazizeit immerwährende Last, sie bedrängt ihn, macht ihm „einen schweren, schwindligen Kopf.“ (An, 215). Sebalds Protagonisten geraten in einen zwiespältigen, ihnen selbst kaum einsehbaren Zustand. Sie wollen zwar, dass ihr Gedächtnis aktiv bleibt, empfinden jedoch zugleich einen inneren Widerstand gegen das Aufkommen der Erinnerung. So wie die Erinnerungsorte verweisen auch die niedergeschriebenen Erinnerungen mithin auf immer Gleiches, auf kaum fassbare Wege der Nazi-Vergangenheit, das Unmaß des Sinnlosen, auf – wie Golo Mann es in seinem monumentalen Geschichtswerk definiert – „eine lange Orgie der Selbstzerstörung […], die Geschichte eines unruhigen Lebens in Extremen.“16

16

Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 18. Aufl. Frankfurt/Main 1995, S. 21f.

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Korrektur der Kriegsbilder in der Lyrik von Hans Egon Holthusen

Dieser Krieg und diese Nachkriegszeit, ein aller Vergleiche spottender Einbruch von Tod, Katastrophe und geschichtlicher Dämonie wollte bewältigt und dargestellt werden, und zwar von einer Generation, die diese Ereignisse und Zustände in der empfänglichsten Phase ihres Lebens als ein gemeinsames Schicksal erlebt hatte, also von der eigentlich aktiven und zentral betroffenen ‚Kriegsgeneration‘.1

Diese Worte stammen aus dem 1955 publizierten Aufsatz Deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Egon Holthusen, einem Autor, der zur genannten ‚Kriegsgeneration‘ gehört und dessen Werk man heute vor der Vergessenheit zu retten versucht. Da diese Rettungsversuche manche seiner Werke außer Acht lassen, bietet sich das Œuvre von Holthusen geradezu an, als Demonstrationsobjekt für Mechanismen der Vergangenheitsbewältigung verwendet zu werden. Bei der zu bewältigenden Vergangenheit handelt es sich um die Zeit zwischen 1933 und 1945, also auch um den Zweiten Weltkrieg. Zunächst aber will ich die Person des Schriftstellers kurz in Erinnerung bringen, denn sein Name ist heute wenig bekannt und dieser Umstand wiederum könnte die berechtigte Frage evozieren: Inwiefern ist Holthusen für den literaturgeschichtlichen Diskurs über den Zweiten Weltkrieg im 21. Jahrhundert überhaupt relevant? Seine Relevanz ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass er in den fünfziger Jahren als einflussreicher Kritiker das literarische Leben in der Bundesrepublik mit prägte. Hans Egon Holthusen, Jahrgang 1913, studierte Geschichte, Philosophie und Germanistik. 1937 promovierte er über Rilkes Sonette an Orpheus. Im Zweiten Weltkrieg war er Soldat. Nach 1945 begann seine literarische Karriere als Lyriker. Er veröffentlichte zwei Gedichtbände, Hier in der Zeit (1949) und Labyrinthische Jahre (1952). Die größ1

Hans Egon Holthusen: Deutsche Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Ders.: Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur. München 1955, S. 247–316, hier S. 275. Der Aufsatz wurde in der ersten Auflage des Bandes 1951 unter dem Titel Die Überwindung des Nullpunkts. Aspekte der deutschen Literatur seit 1945 publiziert.

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ten Erfolge feierte er jedoch als Essayist. Der Titel seines Buches von 1951, Der unbehauste Mensch, wurde beinahe ein geflügeltes Wort und galt als eine treffende Standortbestimmung für die abendländische Kultur nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Kenner der deutschen Literatur absolvierte er zahlreiche Vortragsreisen ins Ausland. In den Jahren 1961–1964 war er als Programmdirektor am Goethe-Haus in New York tätig. Von 1968 bis Anfang der achtziger Jahre arbeitete er als Professor für Deutsche Literatur an der Northwestern University in Evanston/Illinois. Holthusen war Mitglied der Akademie der Künste in Berlin sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er starb 1997 in München. Diese Informationen sind jedem Interessierten durch die wichtigsten deutschen Literaturlexika zugängig. Es mag den heutigen Leser verwundern, dass die meisten dieser Lexika, in denen gewissenhaft Holthusens Mitgliedschaften und Preise aufgezählt werden, ein wichtiges Kapitel aus seiner Biographie übergehen, obwohl öffentliche Hinweise auf dieses Kapitel nach 1945 dem Ruf des Kritikers enormen Schaden zufügten, zumal in einem Lexikon sogar Holthusens Teilnahme am Widerstand gegen die Nazis in den letzten Kriegstagen erwähnt wird.2 1933 trat der spätere Literat freiwillig in die SS (Standarte ‚Julius Schreck‘) ein. Nach eigenen Angaben war seine Mitgliedschaft bis 1937 aktiv. Im Krieg trat er in der Uniform der Wehrmacht auf. Die Erinnerung an diesen unrühmlichen Abschnitt aus seinem Leben suchte den Schriftsteller 1959 heim. Als Repräsentant der Berliner Akademie der Künste war er damals Jurymitglied bei der Verleihung des Fontane-Preises. Zum Erstaunen der Preisgeber zog die jüdische Dichterin Mascha Kaléko ihre Kandidatur zurück und begründete ihre Entscheidung mit dem Argument, Holthusen sei in der SS gewesen. 1961 wurde Holthusen mit dem Vorwurf einer Zeitschrift konfrontiert, er habe sich noch 1944 in SS-Uniform gezeigt. In der bisher einzigen Monographie zu seinem Werk heißt es über diese Enthüllung: „Die Mitgliedschaft Holthusens in der SS, die man nach dem Krieg vergessen hatte, wurde plötzlich zum Skandal. Holthusen musste sich verteidigen.“3 Die Verteidigung konzipierte er in Form eines Essays, der unter dem Titel Freiwillig zur SS 1966 im Merkur erschien. 1967 wurde in derselben Zeitschrift ein Leserbrief von Jean Améry publiziert, der die Rechtfertigungsversuche des bekannten Kritikers mit einem kritischen Kommentar versah. An dieser Stelle wird nicht auf Einzelheiten dieser Auseinandersetzung zwischen den beiden Zeitzeugen eingegangen. Fest steht, dass 2

3

Vgl. den in seiner Kürze kuriosen Satz in: Carmen Asshoff: Hans Egon Holthusen. In: Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Hg. v. Dietz-Rüdiger Moser. München 1993, S. 541–544, hier S. 541: „Von 1939 bis 1945 war er Soldat; er gehörte der ‚Freiheitsaktion Bayern‘ (FAB) an.“ Auch in der neueren Ausgabe des Lexikons wurde der Artikel unverändert übernommen. Vgl. Carmen Asshoff: Hans Egon Holthusen. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. 1. Hg. v. Thomas Kraft. München 2003, S. 570–573, hier S. 570. Marina Marzia Brambilla: Hans Egon Holthusen. Eine Darstellung seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Aachen 2006, S. 20.

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Holthusens Reputation nach dem publik gemachten Gedankenaustausch erheblichen Schaden nahm. Aus literaturhistorischer Perspektive muss die Frage gestellt werden, ob in der Auseinandersetzung über die Integrität des prominenten Kunstrichters seine Texte aus besagter Zeit zur Debatte standen. In dem Merkur-Essay beruft sich Holthusen fast ausschließlich auf seine Tagebücher aus der Periode eigener „Fahrlässigkeit.“4 Zu Beginn seines autobiographischen Berichts betont er, dass die schriftstellerische Unbescholtenheit seines „Mandanten“ – er schreibt über sich selbst in der 3. Person Singular – durch die amerikanischen Besatzer garantiert war: „Im Jahre 1946 wurde er – denn er hatte sich seit 1937 mit literarischen Versuchen an die Öffentlichkeit gewagt – in einer bekannten amerikanischen Zeitschrift als Dichter des deutschen Widerstands genannt.“5 Zu einer ausführlicheren Kommentierung eigenen Schaffens wurde Holthusen durch den Brief von Jean Améry gezwungen, in dem dieser dem „Dichter des deutschen Widerstands“ vorwirft, er habe vor 1945 eine Entselbstung seiner Person billigend in Kauf genommen.6 Der irritierte Literaturkritiker konterte mit konkreten Titeln: Wenn Sie z.B. sagen, daß der Apparat, aus dem ich nicht ausgebrochen sei, mich ‚entselbstet‘ hätte, so komme ich mir vor wie mein eigenes Gespenst. Da gibt es beispielweise meine 1937 in einem Münchner Verlag erschienene Dissertation (die noch heute manchmal zitiert wird); ich lese in ihr und finde keinerlei Spuren von Entselbstung, sondern eigentlich eher das Gegenteil. Da gibt es Verse aus jenen Jahren, etwa das Gedicht Tabula rasa, das 1943 entstand und im Herbst 1945 im ersten Heft der Wandlung (herausgegeben von Karl Jaspers, Dolf Sternberger u.a.) veröffentlicht wurde. Es war so wenig ein Ausdruck von Entselbstung, daß es von den Herausgebern sogar als erstes lyrisches Zeugnis eines deutschen Sinneswandels verstanden werden konnte.7

An dieser Stelle setzt die eigentliche literaturgeschichtliche Analyse an, angetrieben durch Amérys These wird die Frage gestellt: Hat das nationalsozialistische System den Autor entselbstet?8 Die im Jahr 2000 herausgegebene Bibliographie zum Werk Holthusens nennt einige Publikationen des Dichters aus der Kriegszeit.9 Alle erschienen in der Zeitschrift Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur, und alle stehen im engen Zusammenhang mit den Kriegsbegebenheiten. 1940 veröffentlichte der Soldat Holthusen einen Text unter dem Titel Der Aufbruch. Aufzeichnungen aus dem polnischen Kriege. In diesen Impressionen aus den ersten

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Hans Egon Holthusen: Porträt eines jungen Mannes, der freiwillig zur SS ging. In: War ich ein Nazi. Politik – Anfechtung des Gewissens. München, Bern, Wien 1968, S. 39–79, hier S. 61. Ebd., S. 42. Vgl. Jean Améry: Leserbrief. In: War ich ein Nazi (Anm. 4), S. 79–82, hier S. 81. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Mechthild Raabe: Hans Egon Holthusen. Bibliographie 1931–1997. Hildesheim 2000.

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Kriegstagen evoziert der Anblick der „mit dem Stahlhelm überdachten Holzkreuze“10 bei dem Berichterstatter Reflexionen über den Sinn des Soldatentodes, der aus einem Amalgam aus Gottes Willen und einem „Gesetz der Gemeinschaft“ (A, 75) besteht. Eine solche Sinnstiftung des Krieges wird mit folgendem Zitat aus einem Klassiker untermauert: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ (Ebd.) Mit Schillers Worten aus Wallensteins Lager versucht der Autor, auf das ritterliche Ethos pochend, seine Kameraden und Leser der gleichgeschalteten christlichen Zeitschrift zum aufopfernden Kampf anzufeuern. Pathetisch und unter Berufung auf Blut-und-Boden-Symbolik bestimmt er am ersten Tag des Krieges das Wesen des Soldaten, das sich aus der „Schönheit“ (A, 76) sowie „Zweckmäßigkeit“ (ebd.) der Uniformfarben zusammensetzt. Es besteht kein Zweifel, dass der Erzähler und seine Kameraden den Krieg vorbehaltlos unterstützen, weil sie sich durch die Teilnahme an ihm zu einer besonderen Weihe erhoben fühlen. Sie kommen sich vor wie „Sender und Empfänger des Zeitgeistes“ (ebd.), der vom Führer verkörpert wird. Der Aufbruch zum Krieg ist für den 27jährigen Autor „eine Befreiung aus dem Dunstkreis der Sorge, eine Entfesselung aus der Gefangenschaft eines kranken und bösen Friedens.“ (Ebd.) Der aufregende Sinn des Krieges beruht für den jungen Holthusen darauf, dass er ein Teil der Geschichte, ein Teil einer Instanz von göttlicher Dimension zu sein scheint: Der Atem der Geschichte blies, und es war ergreifend, in den durch und durch zeitgenössischen Anstalten einer motorisierten Armee die überzeitliche Bedeutung ihrer Bewegung zu entdecken. Der Sinn unseres Marsches war ein Jahrtausend alt. ‚Nach Osten wollen wir reiten‘, hatten die niederdeutschen Ordensritter und Siedler des ottonischen und staufischen Mittelalters gesungen, und heute war es dasselbe Lied, das uns geleitete. (A, 304)

Die Gegenständlichkeit der militärischen Operation verwandelt sich in dem Bericht des künftigen Literaturkritikers in eine Allegorie des nationalen Charakters: „In Stahl und Panzern schien der kategorische, der preußische Imperativ sich verkörpert zu haben, diese eherne Sachlichkeit, die zu den wesentlichen Tugenden unseres Volkes gehört.“ (A, 304f.) Der Erzähler beschäftigt sich nicht nur mit der „Genialität des [deutschen, der Verf.] Angriffs“ (A, 305), sondern auch mit dem unterworfenen, östlichen Volk, auf das er von seiner zivilisatorischen Höhe mitleidig herabblickt: „Höchst sonderbare Feinde waren das, und die Unseren hielten sich laut darüber auf. War das zu begreifen, solch ein staubiges Volk von Bettlern, die hatten aber auch gar nichts!“ (A, 306) Im höchsten Maße naiv erscheinen Holthusens christliche Sorge um das Schicksal der Polen sowie sein Versuch, dem Hass der Angegriffenen mit einer humanen Geste zu begegnen: „Im Morgengrauen, hieß es, sind drei Kameraden beim Waschen erstochen worden. Diese Todesstarre zwischen den Völkern war nicht lange zu ertragen, ich faßte mir ein Herz und drückte einem vorüberhuschenden Kinde ein Brot in den Arm.“ (A, 307) 10

Hans Egon Holthusen: Der Aufbruch. Aufzeichnungen aus dem polnischen Kriege. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 16 (1940), S. 75–77, 304–307, hier S. 75. Im Folgenden im Text zitiert als (A mit entsprechender Seitenangabe).

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Auch 1940 erschien Holthusens Leichenrede Worte am Grabe des Kradfahrers E., in der der Trauernde die Moral der Kameraden stärkt. Der Krieg wird hier durch die Liebe zum Vaterland legitimiert, außerdem wird diese als konform mit der Liebe zu Gott dargestellt: „Keine Katastrophe des menschlichen Denkens kann uns die Liebe zum Vaterland als unserer natürlichen und zum Himmel als unserer übernatürlichen Heimat außer Kraft setzen. Ein Leben, das in dieser Liebe sich opfert, wird nicht zum Raube, sondern zum Gewinn. Der Ruhm, den ihr unbekannten Soldaten euch durch euer jugendliches Sterben erworben habt, wird euch in eurem Volke unsterblich machen.“11

1941 publizierte Holthusen den Essay Deutscher Geist im Kriege, in dem er sich unter Berufung auf Spengler, Hölderlin und Hofmannsthal bemüht nachzuweisen, dass in der deutschen Kultur – allen Vorwürfen der ‚Feinde‘ zum Trotz – kein Bruch mit der Tradition erfolgte, für die in der ganzen Welt Namen wie Goethe und Beethoven stehen. Die deutsche Gegenwart sei demnach keine Barbarei, sondern die Zeit einer „unerhörte[n] Umwälzung aller sozialen und politischen Verhältnisse[,]“12 bei der Deutschland die Rolle eines „Entdeckers“ zukommt, „der auf den Ozean hinausfährt, um ein unbekanntes Land zu finden.“13 Der Krieg wird von Holthusen akzeptiert und als Erfüllung einer epochalen Mission des deutschen Volkes gerechtfertigt: Aber dieses unser Volk, das sich durch die Sendung eines gewaltigen Täters wieder in die Mitte der bewohnten Welt gerückt sieht, es hat weder Schriften noch Bilder, um auszudrücken, was es tut und leidet. Es wird zum Stellvertreter einer Menschheit, die alle innere Seßhaftigkeit früherer Jahrhunderte aufgegeben hat. Unser Bewußtsein ist das eines reisigen und fahrenden Geschlechts, das, von einer ungeheueren geschichtlichen Dynamik getrieben, gleichsam nur im Fluge bemerken kann, was ihm an neuer Wirklichkeit entgegengeschleudert wird. Den Stämmen der Völkerwanderung nicht unähnlich, verbreitet die neue, die ‚arbeitende‘ Menschheit sich mit Feuer und Schwert über die Räume der Erde und bereichert ihr Gedächtnis mit Jahren und Taten, deren Deutung und Darstellung einer ehrfürchtigen Nachkommenschaft vorbehalten bleibt.14

1943 erschien Holthusens Sonettzyklus Eine Totenklage. In memoriam Walter Holthusen, gefallen am 18. August 1942, im Osten, von dem manche Literaturhistoriker behaupteten, er sei erst nach 1945 veröffentlicht worden.15 Abgesehen von der Publizierung einzelner Gedichte aus dem Zyklus wurden die Sonette auf den Tod des Bruders unter dem veränderten Titel Klage um den Bruder nach dem Krieg noch dreimal publiziert. Allerdings war die Zusammensetzung der Gedichte jedes Mal anders. Die erste abgedruckte Version in der Zeitschrift Eckart von 1943 bestand aus neun Sonetten, die 11 12 13 14 15

Hans Egon Holthusen: Worte am Grabe des Kradfahrers E. Gesprochen am 17. Juni 1940. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 16 (1940), S. 240. Hans Egon Holthusen: Deutscher Geist im Kriege. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 17 (1941), S. 224–226, hier S. 224. Ebd. Ebd., S. 224f. Vgl. Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Bd. 2. Göttingen 2002, S. 384.

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zweite in der Zeitschrift Die Wandlung von 1946 aus acht. Die dritte Version, die als Broschüre in der Reihe Das Gedicht. Blätter für die Dichtung 1947 herausgegeben wurde, enthält vierzehn Sonette. Die vierte Version aus dem Gedichtband Hier in der Zeit von 1949 besteht aus zwölf Gedichten. Insgesamt wurden fünfzehn Sonette veröffentlicht. Zuerst gilt unsere Aufmerksamkeit der Version von 1943. Im ersten Sonett dominiert der Schmerz des lyrischen Ich nach dem Verlust des Bruders so sehr, dass der Außenwelt lediglich in der letzten Strophe Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hier wird zum ersten Mal ein Erklärungsversuch unternommen, in dem der Krieg als Ursache des Todes, jedweder Konkreta beraubt, zu einem abstrakten Geschichtsphänomen wird. Dem Historischen kommt beinahe der Status einer Naturgewalt zu: „Ein kleiner Ruck der Zeit hat dich getroffen, / Ein bloßer Lidschlag zwischen jetzt und jetzt[.]“17 Im zweiten Sonett zeitigt die Verzweiflung des lyrischen Subjekts eine versteckte Kritik am Krieg, der nun konkretere Züge annimmt. Der Hinweis auf die Todesart, „[e]in Feuerstrahl aus prasselnden Gewehren[,]“ (T, 59) bettet das tragische Ereignis in den Kontext moderner Kriegshandlungen, deren Sinn vom Ich angezweifelt wird. Die Konfrontation der Fragilität des menschlichen Körpers mit militärischer Technik wird als Resultat krankhaften Denkens gedeutet: „O höllenhafter Einfall der Schimären!“ (Ebd.) Das Ich erlebt eine Desillusionierung knabenhafter Träume von ritterlichen Kämpfen. Ihm ist die reale Todeserfahrung nur noch „ein Fluch.“ (Ebd.) Zu den vom Krieg angerichteten Zerstörungen zählt es auch die geistige Zerrüttung sowie eine Beschädigung der Sprache. Letzterer Befund gestaltet sich zu einer metatextuellen Pointe, die den Leser den gesamten Sonettzyklus als eine Aussage verstehen lässt, in der das Ich nicht offen sprechen kann. Die Kriegsszenerie dient hier allerdings nicht nur als Baustein einer allegorisierenden Introspektion. Sie steht auch für den zu kritisierenden, konkreten Krieg: „Und mein Gefühl zerreißt wie Fahnentuch / Im Sturm der Schlacht, die Sprache geht in Fetzen, / Und diese Worte sind nur Schein und Trug.“ (Ebd.) Im dritten Sonett scheint das Ich bereits getröstet zu sein, denn das Lob der knabenhaften Unschuld des Gefallenen rückt Holthusens Bruder in die Reihe derjenigen Helden, die ihr Leben dem Vaterland opferten: „Auch du gehörst für immer zu den schönen / Gefallnen Knaben, die fast ohne Mühe / Sich ihrer irdischen Gestalt entwöhnen, // Und sind nur noch das Mutige und Frühe, / Bereit, sich in Gestirne zu verwandeln / Des Vaterlands, in dessen Dienst wir handeln.“ (Ebd.) Das ‚Wir‘ verdeutlicht, dass auch das lyrische Ich im Dienst des Vaterlandes handelt und somit den Krieg legitimiert, in dem sein Bruder fiel. 16

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In den ersten Nachkriegsjahren wurde in der Forschung lediglich diese Version des Zyklus rezipiert. Die Tatsache, dass sich auch Nachkriegsversionen voneinander unterscheiden, wurde übersehen. Vgl. Leonard Forster: German Poetry 1944–1948. Cambridge 1950 (1949), S. 15–16. Hans Egon Holthusen: Eine Totenklage. In memoriam Walter Holthusen, gefallen am 18. August 1942, im Osten. In: Eckart. Blätter für evangelische Geisteskultur 19 (1943), S. 59–61, hier S. 59. Im Folgenden im Text zitiert als (T mit entsprechender Seitenangabe).

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Doch das Vaterland ist nicht die einzige Größe, an der sich das lyrische Subjekt in seinen Erklärungsversuchen orientiert. Zur letzten Instanz in der Deutung des Todes wird im vierten Sonett Gott: „Wo sich zwei Hölzer quer zusammenpassen, / In dieser wunderbarsten der Figuren / Will ich mir deinen Tod erklären lassen.“ (T, 60) Im fünften Sonett wird die Autorität des Gekreuzigten in Anspruch genommen, um den Hinterbliebenen und den noch Kämpfenden Trost zu spenden. Die Beteiligung am Krieg, zu der sich das lyrische Ich im ganzen Zyklus immer wieder durch die Benutzung des Wir-Subjekts bekennt, erscheint hier zwar als sündhafte Handlung („Wie sehr wir uns im Kampfe auch erbosen / Und trachten nach der Welt und nur nach Welt“ (ebd.)), die Kämpfenden werden jedoch auf zweifache Weise entlastet: Einerseits wird auf die Lasterhaftigkeit aller Völker hingewiesen („Die Völker sind nicht gut. Auch ist nicht heilig, / Was sie mit soviel Schmerz und Schuld erzielen.“ (Ebd.) Man ist also nicht allein im Schuldhaften und Bösen.). Andererseits steht jedem sterbenden Soldaten Christus bei. Was auch immer im Krieg passiert, man kann mit der Gnade des Gekreuzigten rechnen: „Und ob wir in die Erde uns verbeißen / Und trotzig alles Unsrige verschlechtern, / Der Geist ist dennoch bei den toten Fechtern, / Der sich in Christi Opfertod verheißen.“ (Ebd.) Trotz kritischer Akzente fungiert hier das Christliche als ein Element, das die Kampfbereitschaft der Deutschen stärkt, zumal im sechsten Sonett das lyrische Ich pathetische Töne voll nationalen Ethos anschlägt. Der Sinn des Todes auf dem Feld scheint in diesem Gedicht für Holthusens Subjekt eindeutig zu sein: „Für Deutschland“ (ebd.) heißt es zu Beginn des Sonetts. „Bruder, für das Reich!“ (ebd.) steht am Ende. Dazwischen findet man eine propagandistische Heroisierung der Kriegshandlungen, die durch einen Vergleich mit Helden aus dem Nibelungenlied konstruiert wird. Die Anwesenheit der Deutschen im Osten wird als „Heereszug ins namenlos Gewagte“ (ebd.) apostrophiert. Ihre „Kampfeswut“ (ebd.) ähnelt der von Hagen. Dem Vergleich mit den Germanen wohnt allerdings eine Ambivalenz inne: Da die Klammerphrasen des Sonetts, „Für Deutschland“ und „Bruder, für das Reich!“ in keinen vollständigen Satz eingebunden sind, können sie sowohl im Sinne ‚für Deutschland gefallen‘ als auch im Sinne ‚der Vergleich gilt für Deutschland‘ ausgelegt werden. Das Blutbad im brennenden Saal mit verriegelten Türen aus dem mittelalterlichen Epos ließe sich auch als eine Warnung und Strafe für Deutschland verstehen. Im siebten Sonett ist die Gewissheit über den Sinn des Krieges nicht mehr vorhanden, denn er wird als „Dies blinde Tun und blinde Untergehen, / Vergeblich, blutig“ (T, 61) bezeichnet. Das Ich rückt das gegenwärtige Geschehen in einen Zusammenhang mit der Weltgeschichte, deren Lauf ihm ein Rätsel ist: „Wann wird die Weltgeschichte uns verständlich?“ (Ebd.) Das Fragen nach dem Sinn, nach dem Stifter des Sinns, der die Kämpfenden von Angst und Ungewissheit befreit, wird zur Frage nach Gott. In diesem Zusammenhang konstruiert das Ich eine hypothetische Erklärung, in der der Zweite Weltkrieg als eine von Gott gewollte Buße für alle Völker erscheint, die zur Erlösung führen soll.

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Im achten Sonett nimmt das Ich Abschied von seinem Bruder und beschließt, sich von der lähmenden Todeserfahrung zu befreien. Im neunten Sonett bekennt das Ich, dass es einen Weg aus der Trauer ins Leben zurückfindet. Die Veröffentlichung des Zyklus nach 1945 zwang Holthusen zu einigen Korrekturen, denn die Sonette waren ursprünglich für das Jahr 1943 konzipiert. Das Schwanken zwischen Bejahung und Ablehnung des Krieges durfte eine von der Zensur abgesteckte Grenze nicht überschreiten, sodass die Ambivalenz der Aussage des ganzen Zyklus nur im Kontext des Krieges als poetologisches Prinzip sinnvoll erscheint. In den Nachkriegsversionen wurde zwar das durch die Nazipropaganda am stärksten geprägte Sonett, jenes mit inhärentem Nibelungen-Vergleich, getilgt, aber Spuren des Kriegsdenkens, die krampfhafte Rechtfertigung des Soldatentodes waren noch immer vorhanden. Geblieben ist auch eine Verschleierung der deutschen Schuld am Krieg. Was unter den Umständen der ersten Veröffentlichung noch gerechtfertigt erscheint, erweckt nach 1945, insbesondere bei einem polnischen Leser, den Eindruck einer geistigen Entselbstung. Holthusen erhebt nach 1945 den Anspruch auf ein neuartiges Dichtertum,18 er räumt aber zugleich dem Sonettzyklus einen wichtigen Platz in seinem ersten Gedichtband ein, ohne begreifen zu wollen, dass weder Inhalt noch Form des Zyklus dem Stand der Dinge nach 1945 gerecht werden. Holthusens erster Gedichtband Hier in der Zeit (1949) enthält noch einige Gedichte, die dem Krieg gewidmet sind. Sie bilden den wichtigsten Teil des Buches. Manche von ihnen sollen noch im Krieg entstanden sein.19 Das gilt für das Gedicht Tabula rasa, dem auch der Autor selbst einiges Gewicht beimaß. Der Titel mag im Zusammenhang mit der Zeit der Erstveröffentlichung im Herbst 1945 mit einem deutschen Neubeginn nach dem Krieg assoziiert werden. Sein Inhalt und die Entstehungszeit verweisen jedoch darauf, dass hier im Zustand einer totalen Orientierungslosigkeit der in der ersten Strophe genannte Anfang, der „unerhörte[], der uns schreckt und schwächt[,]“20 auf den Zweiten Weltkrieg zu beziehen ist, in dem „das menschliche Geschlecht“21 seine Existenz neu zu gestalten versucht. Dies geschieht „[m]it Blut und Tränen[,]“ und das WirSubjekt steht hier nicht, wie im Sonettzyklus, für deutsche Soldaten, sondern für alle am Krieg beteiligten Menschen. Die kriegerische Menschheit besteht aus willenlosen Massen, die von Diktatoren regiert werden: „Wir sind nicht mehr wir selbst. Wir sind in Scharen. / Wir sind der Bergsturz, der Vulkan, die Macht. / Der ungetüme Wille der 18

19 20 21

Vgl. Hans Egon Holthusen: Deutsche Literatur (Anm. 1), S. 262: „In nicht wenigen Fällen wird das Gedicht zum Ausdrucksfeld intellektueller Auseinandersetzungen in scharf experimentierender Sprache, in denen sich ein einzelnes Bewußtsein um Orientierung bemüht. ‚Existentielles‘ Denken wirkt herein, christliche Instinkte werden wach. So bei Hans Egon Holthusen (geboren 1913), in dessen Gedichten eine ‚barocke Spannung‘ zwischen kraß realistischen, gelegentlich reportagehaften Elementen und weltüberwindenden Himmelfahrtsmotiven zum Ausdruck kommt (‚Hier in der Zeit‘, 1949; ‚Labyrinthische Jahre‘, 1952).“ Vgl. Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett (Anm. 15), S. 386. Hans Egon Holthusen: Tabula rasa. In: Ders.: Hier in der Zeit. München 1949, S. 29. Ebd.

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Cäsaren / Wirft uns in großen Haufen in die Schlacht.“ Die Manipulierbarkeit der Menschenmassen wird auf einen „Dämon“23 zurückgeführt. Der Krieg erscheint also als eine Konfrontation totalitärer Ideologien. Das düstere Bild der „entselbsteten“ Menschheit erhellt in der letzten Strophe lediglich eine raunende Stimme „in eines Menschenherzens Enge[,]“24 die sich am Ewigen orientiert und mit Gott gleichgesetzt werden kann. Der Gedichtband Hier in der Zeit beginnt mit einem längeren Gedicht, Trilogie des Krieges, das wahrscheinlich auch noch während des Krieges entstanden ist, denn das lyrische Ich spricht im dritten Teil vom dritten Jahr des Krieges. Manche Urteile des lyrischen Subjekts erwecken allerdings den Eindruck, dass hier die Perspektive der Nachkriegszeit bereits vorhanden ist.25 An den Sonettzyklus erinnert die vom Ich betriebene Strategie der Enthistorisierung der Kriegsdarstellung. Neu und die Nachkriegszeit antizipierend ist ein leises Bekenntnis zur deutschen Verantwortung für den Krieg. Im ersten Teil ergründet das Ich den Ausbruch des Krieges, „eine Stunde September[,]“ die für die ganze Menschheit eine Schicksalsprüfung bedeutet. Der Krieg stellt in den Augen des Ich keine staatlich vorbereitete Aktion, sondern ein unerwartetes Ereignis dar, das es als „Stunde der Schlachtung am düsteren Stein der Geschichte“ paraphrasiert. Für die Grausamkeiten des Krieges wird die versagende Vernunft der ganzen Menschheit verantwortlich gemacht: „der gemeinsame Geist begehrte Verbrennung, Zerfleischung und Vermischung in riesigen Märschen, Verschleppungen, Fluchten.“ Im zweiten Teil taucht ein Wir-Subjekt auf, das mit den Deutschen identifiziert werden kann. Es werden Selbstbezichtigungen formuliert, die auf den Übermut der WirGemeinschaft verweisen: „WIR mästeten uns mit Sieg. O daß wir gefastet hätten! / Aber die hungrigen Mündungen unserer Gewehre / Fraßen Länder um Länder und Heere um Heere.“26 Zugleich hält aber das Ich die Unterscheidung „zwischen sich und den anderen“27 für sinnlos, denn es meint, dass sich die „Schicksale der Völker“28 vermischten. Im dritten Teil glaubt das Ich, endlich den Sinn der Geschichte entschlüsselt zu haben. Dieser entpuppt sich als göttlicher Plan, in dem den deutschen Soldaten die Rolle der Vollstrecker zugeteilt wurde: „Wir aber waren erwählt, die wilde, barbarische Marter, / Die das Jahrhundert diesem Planeten gebieterisch aufzwang, / Darzustellen und in Gefühle und Taten und Worte zu kleiden.“29 Vor dem Hintergrund der gesamtmensch22 23 24 25

26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett (Anm. 15), S. 386. Kemp datiert das Gedicht auf die Nachkriegszeit. Da er aber falsche Angaben zum Sonettenzyklus macht, kann auch diese Information nicht als zuverlässig gelten. Hans Egon Holthusen: Trilogie des Krieges. In: Ders.: Hier in der Zeit. München 1949, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 15.

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lichen Schuld erscheint auch ein Bekenntnis zur besonderen deutschen Schuld am Krieg zu pathetischem Märtyrertum stilisiert: „Schuldig wir alle. Doch du, mein Volk, in der Mitte der Völker, / warst vom Geheimnis des Bösen befallen, warest ein Krater des Bösen[.]“30 In Ein Park in Frankreich mit dem Datum 1940 reflektiert ein Ich über die Schrecken des Krieges, zu denen auch die Anonymität des Sterbens zählt. Im durch den Fund eines blutbefleckten Helms ausgelösten Gedankengang versucht das Ich, die Identität eines gefallenen französischen Soldaten zu rekonstruieren und Abschied von ihm zu nehmen. Im Gedicht Ein Mann vor Stalingrad, das laut Untertitel auf das Jahr 1942 datiert ist, findet das lyrische Ich vor der Kulisse einer zerstörten Landschaft Trost in Blumen, die zu Symbolen eines zeitlosen Friedens werden. Erneut identifiziert sich hier das Ich mit einer Wir-Gemeinschaft der Soldaten, denen das Böse und der Tod gleichgültig wurden: „Einst hat es uns erschreckt und verwundert, / Nun werden wir auch dem Schlimmsten gerecht. / Dies ist das unsre, das wahre Jahrhundert: / Wir sind es selbst, ein verruchtes Geschlecht.“31 Bei der Lektüre dieser im Krieg entstandenen Gedichte fällt auf, dass sie in krassem Gegensatz zu Holthusens Publizistik aus derselben Zeit stehen. Im zweiten Gedichtband, Labyrinthische Jahre (1952), beschränkt sich Holthusens Reflexion über den Krieg ausschließlich auf das Gedicht Acht Variationen über Zeit und Tod. Die sich im Vergleich zur ersten Gedichtsammlung vergrößernde Distanz zum Kriegsgeschehen manifestiert sich bereits im Titel, denn der Krieg fungiert in genanntem Werk lediglich als eine Exemplifizierung beim Nachdenken über die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz. Das lyrische Subjekt ergreift das Wort im Namen einer leidenden Gemeinschaft der Deutschen, die durch gemeinsame Kriegserfahrungen zu einem Wir wird: „Freunde werden in Rußland vermißt / (Bauchschuß, Fleckfieber, Hunger: wir werden es niemals erfahren).“32 Holthusens Subjekt registriert eine Strategie der Vergangenheitsbewältigung, die als ‚Ermüdung des Gedächtnisses‘ bezeichnet wird: „Und ganz allmählich ermüdet / auch das Gedächtnis.“33 Die destruierende Kriegserfahrung wird durch den Alltag verdrängt: „Männer, einst barfuß im Schnee, mit Splittern im Kopf und nahe dem Wahnsinn, / Finden sich Zeitungen lesend und Karten spielend am Biertisch. / Stumm ist der Berg der Vergangenheit.“34 Zu dieser Verdrängungsstrategie gehört auch eine Relativierung historischer Tatsachen, die die Wahrheit konstituieren. Bei den exemplarisch genannten Fakten handelt es sich um Beispiele, die zur Veranschaulichung des deutschen Untergangs dienen: „Fahnen, Paraden, Empfänge 30 31 32 33 34

Ebd., S. 16. Hans Egon Holthusen: Ein Mann vor Stalingrad. In: Ders.: Hier in der Zeit. München 1949, S. 31. Hans Egon Holthusen: Acht Variationen über Zeit und Tod. In: Ders.: Labyrinthische Jahre. Neue Gedichte. München 1952, S. 9. Ebd. Ebd., S. 10.

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und der kurze, schwammige Körper, / Den sie herausschleppen aus dem Bunker der Reichskanzlei.“35 Die Wahrheit erscheint als eine Totalität von Ereignissen, die verdrängt werden müssen, denn „Geschichte verzehrt uns.“36 Eine solche lyrische Vergegenwärtigung der Vergangenheitsbewältigung in den ersten Nachkriegsjahren führt das lyrische Subjekt zur Verurteilung des Krieges als einer Sinnlosigkeit: „Immer wieder verschwenden wir Blut und Geld und schlachten unsere Kinder, / Um für zehn oder zwanzig Jahre die Landkarten / leicht zu verändern.“37 Aus der soeben durchgeführten Analyse lässt sich ableiten, dass die von Améry konstatierte Entselbstung, die Holthusen kategorisch von sich wies, deutliche Spuren in seinem Werk hinterließ. Das Bild des Krieges in den Texten des christlichen Autors aus den Jahren 1940–1952 wandelte sich von absoluter Bejahung der militärischen Gewalt der Deutschen zur Verurteilung des Krieges als einer Sinnlosigkeit. Die Auseinandersetzung mit der Zeit 1933–1945 erfolgte bei Holthusen unter Aussparung eigener Fehlleistungen und bei gleichzeitiger Betonung deutscher Leiden. Zusammen mit Autoren wie Rudolf Hagelstange, Manfred Hausmann, Fritz Diettrich und Werner Bergengruen betrieb Holthusen „die semantische Verdrängung“38 eigener Verstrickung in die nationalsozialistische Propaganda. Es bleibt unklar, wie die mit Holthusen verbundenen Realitäten der jüngsten deutschen Erinnerungsgeschichte zu verstehen sind: ein Holthusen-Preis und ein HolthusenStipendium?39 Nicht minder fragwürdig gestaltet sich die Suche nach den Bestimmungsgründen des Urteils Silvio Viettas, der 1999 bei der Eröffnung des LiteraturArchivs an der Universität Hildesheim konstatierte: „Hans Egon Holthusen: Ein geistiger Mittler mit unbelastetem geistigen Gepäck zwischen den Welten.“40

35 36 37 38 39

40

Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. Stuttgart, Weimar 2004, S. 24. Vgl. Peter Marmein: Begrüßung. In: Ansprachen und Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Literaturarchivs an der Universität Hildesheim. 10. Mai 1999. Hildesheim 2000, S. 2–4, hier S. 4; vgl. auch Mechtild Raabe: Übergabe des Nachlasses. In: Ansprachen (ebd.), S. 5–12, hier S. 5. Silvio Vietta: Forschungsperspektiven zum Holthusen-Nachlaß. In: Ansprachen (Anm. 39), S. 13– 19, hier S. 17.

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Das belagerte Breslau in den Romanen von Georg Ralph Haas, Hugo Hartung, Walter SchimmelFalkenau und Werner Steinberg

Unter den vielen literarischen Texten, die das belagerte Breslau zum Thema haben, zogen zwei besonders weite Kreise; Werner Steinbergs Als die Uhren stehenblieben und Hugo Hartungs Der Himmel war unten erregten in der Nachkriegszeit in ihrer Leserschaft großes Aufsehen. Sie rissen nicht nur Wunden auf, die noch nicht vollständig verheilt waren, sie ließen die Frage der Schuld aufs Neue aufkommen, weckten Erinnerungen, die man nur zu gerne aus dem Bewusstsein ausgemerzt hätte. In einigen Fällen veröffentlichten Verleger Zeugnisse des genannten Themenkomplexes in der Hoffnung, dergestalt den eigenen Umsatz zu steigern. So zog die Publikation von Steinbergs Werk einen Prozess nach sich, den der Schriftsteller gewann. Hierbei ging es um die Fälschung des Manuskripts durch einen Journalisten der Neuen Illustrierten, Will Berthold, der in Sorge um den Umsatz der Illustrierten ohne Wissen oder Einverständnis des Autors das in Fragmenten abgedruckte Buch sogar um eine Fortsetzung, Du Doktor – Du operieren, erweitert hatte.1 Berthold wollte den Lesern einen Text zur Verfügung stellen, der die Vorgänge nach dem Einmarsch der Russen in Breslau schilderte, da die meisten Deutschen Breslau zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen hatten;2 diese Vorgänge waren von Steinberg selbst nicht thematisiert worden. Die Version Steinbergs war übrigens, wie man im Nachwort der hallischen Ausgabe ausführlicher nachlesen kann, „unter den schwierigsten Bedingungen entstanden.“3 Interessant ist ebenfalls die weitere im Nachwort geschilderte Geschichte des Buches, das in Westdeutschland als Manuskript kaum akzeptiert wurde.

1

2 3

Vgl. Werner Steinberg: Als die Uhren stehenblieben. In: Ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. H. D. Tschörtner. Bd. 1 des Deutschland-Zyklus. Mit einem Nachwort des Herausgebers. Halle/Saale [1950], S. 413. Vgl. ebd. H. D. Tschörtner: Nachwort. In: Ebd., S. 451–463, hier S. 454.

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Laut Nachwort Tschörtners hatte darüber hinaus „Steinberg das Glück, die Uniform der Naziarmee nie tragen zu müssen.“4 Er wurde aus dem Gefängnis entlassen, danach für ‚wehrunwürdig‘ befunden und lebte bis Ende Januar 1945 in Breslau. Die Hauptstadt Schlesiens war zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht eingeschlossen, aber bereits zur Festung erklärt worden. Steinberg flüchtete, wie es im Nachwort weiter heißt, nach Reutlingen, hatte jedoch ungefähr zeitgleich erfahren, dass seine Familie noch in Reichenberg weilte. Aus diesem Grund machte er Richtung Osten kehrt und wurde Zeuge des Schicksals Jutta Münchs, seiner späteren Protagonistin.5 Da einige Begebenheiten, die in und um Breslau stattgefunden hatten, dem Autor nicht aus eigenem Erleben bekannt waren, bediente er sich fremder Quellen, um das Schicksal Breslaus – auch während der Einkesselung – ausführlich zu schildern. Tschörtner erwähnt den Schriftsteller Ernst Gnärich,6 auf den er sich in diesem Zusammenhang berufen konnte. Nun ist es aber Tatsache, dass der Autor von Als die Uhren stehenblieben auch das allgemein bekannte Wissen über die Belagerung Breslaus ausnutzte. Ähnlich Hugo Hartung, dessen Roman Der Himmel war unten 1951, also ein Jahr nach der Publikation von Steinbergs Roman, in München veröffentlicht wurde. Die von ihm genannten Tatsachen lassen sich leicht anhand der 1987 herausgegebenen Dokumentarchronik, Breslauer Apokalypse 1945,7‚überprüfen‘; umso mehr, als dort Abschnitte aus Hartungs Tagebuch veröffentlicht wurden. In beiden Fällen hat man es aber immerhin mit einer literarischen Umarbeitung der Wirklichkeit zu tun, ganz im Sinne der Worte Hartungs, der einst in Bezug auf seinen Roman geäußert hatte: „Wahr ist alles in diesem Roman, aber nicht alles wirklich.“8 Im Unterschied zu Steinberg wurde Hartung zum Wehrdienst bei der Luftwaffe eingezogen, was beträchtlichen Einfluss auf den Inhalt des Romans nahm, dessen Handlung, stärker als dies bei Steinberg der Fall ist, die Angelegenheiten der Luftwaffe und der sogenannten ‚Hoko‘ berührt. Ganz allgemein machte Hartung es sich zur Aufgabe, die Not der durchschnittlichen Breslauer in der Festung zu schildern. Außer Steinberg und Hartung sind noch andere Schriftsteller hier von Bedeutung, wenngleich an dieser Stelle nicht alle Autoren berücksichtigt werden können, die das narrative Bild Breslaus im Jahr 1945 in ihre Romane einbetteten. 1965 erschien ein interessantes Buch von Walter Schimmel-Falkenau, Breslau: Vom Herzog zum Gauleiter,9 in dem unter anderem mit großer Akribie die Geschichte Breslaus 1945 geschildert wird. Wie man dem Vorwort des Romans entnehmen kann, sah Falkenau Breslau als 4 5 6 7 8 9

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 455. Vgl. Breslauer Apokalypse 1945. Dokumentarchronik. Hg. v. Horst G. W. Gleiss. Wedel/Holstein 1987. Hugo Hartung: Nachwort. In: Ders.: Der Himmel war unten. München 1951, S. 452. Walter Schimmel-Falkenau: Breslau: Vom Herzog zum Gauleiter. Frankfurt/Main 1965.

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gebürtiger Schlesier vor allem als Universitätsstadt, die in seinem Leben fortwährend eine wichtige Rolle spielte. Er wurde in der Kirche Maria Magdalena getraut, seine Mutter gehörte zu den Alteingesessenen der Stadt.10 Den Part über Breslau im Januar 1945 schrieb Falkenau zuerst, weil er damals noch nicht die Absicht hatte, einen weiteren historischen Kontext in das Buch einzubeziehen. Des Weiteren wollte der Schriftsteller die für das Elend der Stadt Verantwortlichen ebenso wie die Gruppe des Widerstandes aus dem Rahmen des trockenen Berichtes herausheben, um sie plastischer, als lebendige Menschen dem Leser zu präsentieren. Bei seinem Vorhaben dachte Falkenau vor allem an die deutsche Jugend der sechziger Jahre, die Breslau nicht mehr kannte, die Stadt aber dennoch als eine einst auch von der deutschen Bevölkerung bewohnte, schlesische Metropole in Erinnerung behalten sollte.11 1962 erschien der kontrovers diskutierte Roman Brände an der Oder von Georg Ralph Haas. Auch Haas hat sich bemüht, die Entwicklung des Jahres 1945 zu erfassen. Wie er im Vorwort zu seinem Buch bemerkt, ging es ihm dabei vor allen Dingen darum, die um Breslau kämpfenden SS-Einheiten, darunter eine Kompanie junger Unterführerschüler des Regiments der Waffen-SS, Vertreter der damals jungen Generation, in einem seiner Meinung nach der Wahrheit nahekommenden Licht erscheinen zu lassen. Die Triebkräfte ihres Handelns zu analysieren und das herkömmliche Bild der Einheit, die von den Historikern als eine besonders brutal und rücksichtslos agierende erachtet wurde, zu relativieren, indem er sie mit der Wehrmacht gleichsetzte, waren Antriebe seines Schreibens.12 „Denn es waren keine Banditen“ – urteilt der ebenfalls bei der sogenannten Kompanie 11 tätige Haas – „sondern Väter, Söhne, Brüder und Neffen deutscher Familien und der Familien zahlreicher europäischer Nationen wie alle anderen, die als Soldaten in den Reihen der deutschen Wehrmacht und ihrer Gliederungen ihre Pflicht und manchmal weitaus mehr erfüllten.“13 Dieses Urteil widerspricht Tatsachen, die Historiker für unumstößlich halten. Laut Teresa Kulak hatte ebenjene WaffenSS selbst die eigene Bevölkerung in Breslau unter Druck gesetzt. Bei der Zwangsevakuierung, überzeugt von der eigenen Straffreiheit, handelte sie rücksichtslos und terroristisch; die SS-Männer raubten trotz Plünderungsstrafen in den verlassenen Wohnungen und setzten als sogenannte Zündkommandos die zurückgelassenen Immobilien in Brand. Dies alles geschah im Namen der Macht, ohne Rücksicht auf die jahrelange Tradition und Kulturgeschichte der alten Metropole.14 Breslau als belagerte Stadt zu erfassen, war für die Literaten eine große emotionale Herausforderung. Die meisten fühlten sich mit der Stadt eng verbunden, kannten sie als 10 11 12 13 14

Vgl. Schimmel-Falkenau: Vorwort. In: Ders.: Breslau (Anm. 9), S. 7. Vgl. ebd. Vgl. Georg Ralph Haas: Vorwort. In: Ders.: Brände an der Oder. Bd. 1. 2. Aufl. Lohmar 1977, S. 7f. Ebd., S. 8. Vgl. Teresa Kulak: Historia Wrocławia. Bd. 2: Od twierdzy fryderycjańskiej do twierdzy hitlerowskiej. Wrocław 2001, S. 338.

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große, sich seit dem 19. Jahrhundert rege entwickelnde Hauptstadt der schlesischen Provinz, deren Bewohner Minderwertigkeitsgefühle den im Westen liegenden Metropolen gegenüber überwunden hatten. Dies wird auch in den Berichten des Erzählers in Als die Uhren stehenblieben zum Ausdruck gebracht. Es heißt dort, dass der Großvater Joachim Brandenburgs als Ingenieur nicht in ein großes Werk in Mitteldeutschland möchte, da er sich bewusst ist, dort über ein geringeres Maß an Befugnissen zu verfügen und folglich lieber in Breslau ansässig wird. Andererseits fühlt sich bereits sein Enkel, Joachim Brandenburg, in Breslau von dem Getriebe der großen, mit anderen europäischen Städten Schritt haltenden Industriestadt aufgesogen. „Ja, Teufel!“ – heißt es – „Ich, Joachim Brandenburg, ich bin nicht als das Kind zweier Menschen, sondern als das des Konkurrenzkampfes zwischen der englischen und deutschen Großindustrie im Jahre 1914 hier in Breslau geboren worden!“15 Den ehemaligen Wohlstand der Stadt, die sich auf der anderen Seite von den östlichen Städten, beispielsweise Russlands, abhebt, präsentiert in seinem Roman Haas, indem er die russische Spionin Romana den Luxus der Breslauer Wohnung und der zurückgelassenen Garderobe genießen lässt.16 Dabei zeigt sich oft die Tendenz, an das Bild Breslaus zu Friedenszeiten anzuknüpfen, und das dergestalt evozierte Bild mit dem Bild Breslaus als Festung zu kontrastieren. In Steinbergs Als die Uhren stehenblieben dient bereits das Bild der Breslau umgebenden Natur der Differenzierung beider Bilder. Schon auf den ersten Seiten des Romans betonen verschiedene Schilderungen des Himmels über der Stadt den extremer nicht vorstellbaren Kontrast: zu Friedenszeiten spricht der Erzähler vom abendlichen Sommerhimmel, „der die ausgesogene, blaßblaue Farbe einer vergehenden Kornblume hatte.“17 Im Krieg wird das Bild dynamischer, aber auch mit einer zerstörerischen Komponente ausgestattet, wenn z.B. vom „wüste[n] Wolkengetriebe“ der vom Winter beherrschten Umgebung die Rede ist.18 Ähnliches kann man bei Hartung beobachten, wo das Bild der verkohlten, roten und später angeschwärzten Forsythien in der Festung sich deutlich von der üblichen Darstellungsweise abhebt.19 Ebenso verweist der Erzähler auf die im Wandel befindlichen Verhältnisse in der Stadt, indem er das Schicksal der Frauen zur Zeit der Flucht aufzeichnet. Unnütz erscheinen nun bislang feste Bestandteile moderner Kleidung sowie die Frisur eines Großstadtmädchens: „Was nützen jetzt noch wohlgeformte Beine in seidenen Strümpfen, kokette Löckchen über der Stirn? Die Beine werden tief im nassen Schnee versinken, der Eiswind wird die Löckchen in die rotgefrorenen Augen kleben.“20 Im Roman Der Himmel war unten von Hartung erinnern sich die zur Besatzung der Festung anrückenden Soldaten der Hoko an ihre verlassenen Häuser und Gärten. Das Präsens ihrer 15 16 17 18 19 20

Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 27. Vgl. Haas: Brände an der Oder (Anm. 12), S. 109f. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 11. Ebd. Hugo Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 352. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 49.

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Berichte deutet dabei an, dass sie sich noch nicht der Tatsache bewusst sind, dass ihre Aussagen das bereits verlorene und Geschichte gewordene Bild der Stadt zu Friedenszeiten thematisieren: „‚Nahe dahinter wohne ich‘, sagte Rönning. ‚Da ist aber die Miete hoch‘, meinte bedenklich der Famomann.“ 21 Es ist ein Faktum, dass Breslau während des Krieges lange Zeit unversehrt und sicher blieb. Besonders stark wird dieser Sachverhalt von Hartung in seinem Roman Der Himmel war unten hervorgehoben. Der Erzähler erwähnt eingangs unversehrte Straßen und ‚harmlose‘ Alarme.22 Wegen ihrer vermeintlichen Sicherheit beherbergte die Stadt laut Beschluss von 1943 zahlreiche Flüchtlinge, die in der Hoffnung, in Breslau das Ende des Krieges einfach abwarten zu können, aus anderen Gebieten Westdeutschlands abgewandert waren. Ursache der Umsiedlungen war auch die nazistische Propaganda, die Breslau zum ‚Reichsschutzkeller‘ stilisierte. Diese Sicht Breslaus unterstreicht auch eine Figur des Romans Brände an der Oder, wo der die Stadt als Besucher erkundende Hansen bekennt: „‚Bin wirklich gespannt auf Breslau[,]‘“ – und sogleich auf die ungenannte Quelle der Information verweist – „‚[d]en Luftschutzkeller Deutschlands nannte es gestern einer.‘“23 Weiter stellt Hansen die Unversehrtheit der Stadt infrage, wenn er bemerkt, er könne sich „kaum vorstellen, daß es in dieser Zeit noch eine Stadt geben soll, auf die bis heute kein Luftangriff erfolgt ist.“24 Bereits im Roman Falkenaus wird die Situation der Flüchtlinge selbst als Auslöser der Unruhe in der sonst ruhigen Stadt geschildert: „Durch den unaufhörlich in Breslau einfließenden Flüchtlingsstrom wurde die Unruhe genauso vergrößert wie durch die immer noch Tag für Tag erfolgenden Abreisen der Flüchtlinge aus Westdeutschland und aus Berlin.“25 Anders bei Hartung, in dessen Roman die Anwesenheit der Flüchtlinge in Gestalt der aus dem Rheinland stammenden und nach Breslau fliehenden Figur Regina Schirmers greifbar wird.26 Hier fungiert Breslau wirklich, noch im Winter 1944, als sicherer Hafen, in dem das Alltagsleben einer Metropole ruhig dahinfließt, und wo man noch, beinahe wie üblich, Weihnachten feiert. Als sich dann allmählich herausstellte, dass Breslau ab dem Sommer 1944 als Festung fungieren würde sowie als Bollwerk gegen die russische Armee auf ihrem Weg nach Westen,27 stellte sich ein Zustand völliger Desorientierung der anreisenden und abreisewilligen, jedoch keineswegs über den Charakter der Stadt informierten Bevölkerung ein. Dieser Zustand wird in allen bisher berücksichtigten Romanen beschrieben, er war die Folge der Anordnung, dass jede Stadt, die zur Festung erklärt wurde, sich im Falle der Katastrophe mit ihren Kommunikationsnetzen, Fabriken, Häusern und Doku21 22 23 24 25 26 27

Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 140. Vgl. ebd., S. 19. Haas: Brände an der Oder (Anm. 12), S. 10. Ebd. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 122. Vgl. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 18. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 335.

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menten selbst zu vernichten habe. Im Werk Hartungs tönt es unter verzweifelt fliehenden Stadtbewohnern: „Nur fort aus dem Osten! Fort aus dem viel berufenen Luftschutzkeller des Reiches!“28 Im selben Roman wird auch die Vernichtung von Dokumenten angedeutet: „Jetzt sollten zunächst einmal die Papiere und später auch die Vernichtungsprotokolle verbrannt werden. Diesen Vorgang brauchte man dann allerdings nicht mehr zu protokollieren, da zu dem Zeitpunkt bereits der größte Teil der Stadt und mit ihr viele der Vernichter selbst vernichtet sein würden.“29 Ebenjenen Akt der Dokumentenvernichtung greift auch Steinberg auf. Sein Erzähler kommentiert die Versuche der Nazis, jede Spur der Vergangenheit zu verwischen: „So schnell geht das mit dem Verbrennen – und so vergeblich ist das, ebenso wie das Verbrennen von Akten. Die Vergangenheit bleibt leben, da kann man alles verbrennen, man kann den Staub in alle Winde zerstreuen, man kann ihn in die Oder werfen, man kann ihn in die Erde versenken.“30 Die Handlungsstränge der besprochenen Werke setzen bereits Ende 1944 ein; in der Tat war Breslau schon seit 1933 an Sicherheitsmaßnahmen gewöhnt. Schon damals wuchs die Angst vor einem polnischen Angriff auf die Stadt – als Folge gezielter nazistischer Propaganda.31 Infolgedessen wurde, wie man bei Teresa Kulak erfährt, die Bevölkerung in der Stadt zur gelegentlichen Verdunkelung verpflichtet. Man bereitete die Keller vor, damit sie als Unterschlupf für die Bewohner der Stadt dienen konnten. Unterrichtet wurde auch in Angelegenheiten des Luftschutzes, so baute man den Flughafen in Gandau um, dessen unterirdische Hallen schon 1939 bis zu 80 Flugzeuge beherbergen konnten.32 Bereits 1938 marschierten SS-Truppen auf Breslaus Straßen, es kam zu Probealarmen, man schulte die Fahrer darin, die Beleuchtung ihrer Autos während der nächtlichen Fahrt zu tarnen.33 All das ließ eine militärische Stimmung aufkommen, die sich 1939 noch intensivierte – man beschlagnahmte Fahrzeuge in der Stadt, schränkte die Fleisch- und Butterrationen ein, vertrieb, wie Kulak berichtet, polnische Studenten aus der Breslauer Universität, und internierte schließlich die Vertreter des polnischen Konsulats.34 Lange hofften nach dem Anfang des Krieges die Breslauer auf ein schnelles Ende der Konfrontationsphase. Der Glaube an militärischen Erfolg wurde weiterhin von der Propaganda verstärkt. Bei Hartung wird die Meinung der Breslauer Elite stellvertretend für allgemeine Urteile über den Krieg wiedergegeben: „Im Osten stirbt der Krieg an Erschöpfung“35 – urteilt der Chefarzt der Breslauer Poliklinik. Erst 1941 ernüchterten die Bewohner Breslaus beim Anblick der verwundeten Soldaten, die von der russischen Front zurückkehrten. Falkenau schildert den Zustand wie 28 29 30 31 32 33 34 35

Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 62. Ebd., S. 89. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 213. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 323f. Vgl. ebd., S. 325. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 326. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 14.

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folgt: „Furchtbar, immer und überall im Stadtbilde diese Kriegskrüppel, diese Einbeinigen oder Einarmigen, Lahmen und Gesichtsverletzten im wer weiß wie oft schon entlausten grünfleckigen Feldgrau. Die Lazarette waren ja überfüllt, in manchen lagen die Verwundeten schon in den Gängen.“36 Das potenziell noch sichere Breslau fungierte während des Krieges für längere Zeit als wichtige Basis der militärischen Versorgung des Dritten Reiches; die Industrie hatte sich den Bedürfnissen des Krieges zu beugen. Im Herbst 1944 setzten jedoch Arbeiten an alten und neuen Fortifikationen an. Man sammelte Nahrung und Munition, transportierte die in der Stadt aufbewahrten Kunstschätze ins Reichsinnere, was im Werk Hartungs am deutlichsten hervorgehoben wird: „Beethoven, – alle Symphonien, Mozart, Brahms, Schubert, Tschaikowsky. Auch die späten Streichquartette von Beethoven sind mit dabei“37 – erklärt Musiker-Oberleutnant Rönning. Die äußere Verteidigungslinie, die sogenannte ‚Position Barthold‘, befand sich am rechten Ufer der Oder.38 Man begann mit dem Bau von Schutzgräben. In den Romanen wird diese Tatsache mehrfach erwähnt. Belege hierfür findet man zum Beispiel wiederum bei Falkenau, der in seinem Roman durch den Erzähler berichtet, dass die Information darüber, dass in „Baranow einige Einbrüche in die deutsche Front geglückt waren[,]“ die Breslauer nicht besonders angehe. Es wird dennoch festgehalten, dass das „Unternehmen Barthold […] im Eiltempo weitergeführt werden [mußte]“39 und somit suggeriert, dass die Gefahr, die Breslau drohte, von den Machthabern des Dritten Reiches längst erkannt wurde. „Baranow?“ – heißt es später im Text – „[d]er Tag ging darüber hinweg. Nur jene, die in Amt und Würden lebten, waren doch sehr nachdenklich geworden.“40 Die Tendenz der Propaganda, anfangs die Wahrheit vor den Breslauern zu verbergen, avanciert zum dominanten Thema des Werkes von Falkenau. Bei Hartung dagegen wird die Aufmerksamkeit mehr auf die Bewohner der Stadt gerichtet, wobei diese, wie bei Falkenau hervorgehoben wird, anfänglich an die Kämpfe in Breslau einfach nicht glauben. Im Januar 1945 erreichte die Ukrainische Armee Schlesien. Die deutschen Soldaten wurden nach Breslau verdrängt. „Wo geht es denn hin?“ – fragt im Roman Hartungs Krumbhaar erschrocken. Und er bekommt Antwort: „Erst mal in die Stadt rein.“41 Bereits zu Weihnachten 1944 harrte man in der Stadt trotz vermeintlicher Ruhe der weiteren Entwicklung der Ereignisse. Man schlachtete das Vieh, organisierte Nahrung, die man dann in Kellern aufbewahrte. All diese Entwicklungen kamen trotz der vermehrten beruhigenden Gerüchte und Meldungen des Propagandaamtes in Gang. Bei Steinberg und Hartung wird die Propaganda vor allem in negativem Licht dargestellt. 36 37 38 39 40 41

Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 134. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 103. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 335. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 122. Ebd. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 148.

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Bei Steinberg verkörpern sie die lauten und vernichtenden Lautsprechersäulen, die in Breslau (genannt wird der Sonnenplatz und Am Scheitniger Stern42) überall aufgestellt wurden. Über diese Lautsprecher kommunizieren für die Stadtbevölkerung anonyme Figuren vom Propagandaamt Nachrichten an die Stadtbewohner: „[U]nd wer eigentlich die Lautsprechersäule ist, das ist für die meisten ein zu schweres Rätsel“43 – urteilt der Erzähler. Zuletzt schenkt jedoch niemand mehr den Lautsprechern Beachtung. Vor allem im Roman Falkenaus wird der Themenkomplex ‚Propagandaamt‘ abgearbeitet. Der Erzähler nennt konkrete Namen, darunter z. B. Dr. Schulz, Leiter des Propagandaamtes Niederschlesien, der – wie im Werk bereits angedeutet – sich am Ende des Krieges der Wehrmacht aufs Neue zur Verfügung stellte und schließlich im Krieg fiel,44 und auch Karl Wichmann, den zweiten Mann im Propagandaamt Niederschlesien. Ihre Haltung wird analysiert, um, wie bereits erwähnt, historische Gestalten im Angesicht der nahenden Katastrophe auch unter Berücksichtigung ihrer menschlichen Züge darzustellen. Exemplarisch soll ein kurzer Abschnitt aus dem Roman, in dem der Erzähler Schulzens Gefühle schildert, genügen, wenngleich sich zahllose Belege finden ließen: Und er dachte an den Tag zurück, an dem er diesen Raum zum ersten Male betreten hatte […]. Was hatte er sich damals alles vorgenommen! Und wie wenig hatte er davon, als er erst einmal in die Parteimühle geraten war, verwirklichen können! Jetzt stand er am Ende eines verlorenen Krieges vor einem großen Trümmerhaufen ausgehoffter Hoffnungen und ausgeträumter Träume.45

Werden bei Steinberg die Meister der Propaganda auf leblose Lautsprechersäulen in der Stadt reduziert, erscheinen sie bei Falkenau als tatsächliche Menschen und belebte Charaktere, als Menschen, die privat auch von Zweifeln und Hilflosigkeit geplagt werden. Am 18. Januar wurde der Eisenbahnknoten Breslaus bombardiert. Vernichtet hat man dabei den Knoten in Brockau, die gesamte Bevölkerung wurde evakuiert, denn es sollten nur wehrfähige Männer in der Festung bleiben.46 Die Historikerin Teresa Kulak berichtet weiterhin, dass die allgemeine Evakuierung zur Überfüllung von Zügen und zu entsetzlichen Szenen auf den Bahnhöfen führte, auf denen sich Menschen gegenseitig zertrampelten und aus den Augen verloren.47 Ebenjene Evakuierung ist das Schlüsselthema der Romane über das belagerte Breslau, das folglich in allen hier dargestellten Werken behandelt wird. Ein ergreifendes Bild des Kampfes um das Überleben auf dem Breslauer Bahnhof stilisiert Hartung: „Von der rückwärtigen Straße herauf“ – berichtet der Erzähler – „keucht die Menschenmeute über die Böschung, rollt und rutscht. Frauenstimmen gellen auf. Kinder brüllen. Aber man schafft es. Es geht über blinkende Schienen. Vorsicht: ein Güterzug 42 43 44 45 46 47

Vgl. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 48. Ebd., S. 49. Vgl. Schimmel-Falkenau: Wo sie blieben. In: Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 212. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 166. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 336. Ebd., S. 336.

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rollt langsam rückwärts. Der Bahnsteig wird erstürmt. Da ist ein Signal: grünes Licht. Einfahrt. Ein Zug kommt.“48 Menschen, die im Bahnhofsgewühl der Fliehenden nicht zurechtkamen, mussten die Stadt zu Fuß verlassen. Ihr Weg führte nach Opperau-Kanth.49 Entsprechend der historischen Situation beschreibt Werner Steinberg die Evakuierungsbewegungen nach Opperau. In dem von ihm evozierten Bild der Flüchtlingsgruppe überwiegen Frauen und Greise. Es kommt das literarisch häufig verarbeitete Bild einer Mutter mit Kinderwagen vor, außerdem werden an den mitgeführten Gegenständen Erinnerungen an das friedliche Leben in der Metropole heraufbeschworen, die angesichts der Flucht aus der städtischen Umgebung völlig an Bedeutung verloren haben. Zu nennen sind exemplarisch ein Kinderwagen mit zartrosa Vorhängen, zusammengeknotete Pappschachteln mit PersilAufdruck, schließlich ein im Rucksack verborgener Kanarienvogel.50 Haas macht das Bild der Frau mit Kinderwagen anders nutzbar. Die zum Leutnant in der Roten Armee beförderte Romana Konowskaja soll sich mit einem Kinderwagen in die Gruppe der deutschen Flüchtlinge schmuggeln, um dort für die Russen spionieren zu können. Anstelle des Kindes hat sie im Kinderwagen ein Funkgerät versteckt. Die Wahl des Kinderwagens als Accessoire der Spionage spiegelt wider, welch typisches Requisit der Flucht dieser darstellt. Im späteren Verlauf der Handlung wird Romanas Aufenthalt in Breslau zur im Roman günstigsten Gelegenheit, dem Leser das narrative Bild der belagerten schlesischen Metropole vor Augen zu führen. Niemand durfte bei der Evakuation zurückbleiben. Die NSDAP zwang, wie Kulak resümiert, die Entschlusslosen und drohte ihnen mit Konsequenzen wie etwa dem Entzug der Lebensmittelkarten.51 Bei Temperaturen von minus 30 Grad erfroren auf der Flucht viele Kinder und Greise. Dieses Motiv verarbeitet Steinberg, das Schicksal Juttas und ihres Kindes schildernd. Noch 1944 kam es zur Gründung des Volkssturms. Er war nicht speziell zum Kämpfen ausgebildet, denn es wurden hauptsächlich Jugendliche und alte Männer, die oft nicht mehr über ausreichende Kräfte verfügten, instrumentalisiert.52 Dass jeden Deserteur die Todesstrafe erwartete, zeigt sich am deutlichsten im Roman Werner Steinbergs, am Beispiel Alexander Münchs und Joachim Brandenburgs. Letzterer wird Opfer der Denunziantin Maria Elsässer. Im Roman von Haas gibt der Erzähler mittelbar den Charakter des Volkssturms wieder, indem er den Leser an den Gedanken der russischen Spionin Romana teilhaben lässt: „Weiß der Teufel, was die sich drüben gedacht haben, junge Kerle nach Breslau zu schicken, wo hier bereits alte Männer in Uniformen gesteckt und sogar Frauen zur Arbeit herangezogen werden.“53 48 49 50 51 52 53

Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 60f. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 336. Vgl. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 50. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 336. Vgl. ebd., S. 337. Haas: Brände an der Oder (Anm. 12), S. 241.

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Die Sowjetarmee kam bis Hundsfeld, war aber nicht imstande, die Befestigungsanlagen zu passieren. In den Nächten des 15. und 16. Februars umkreiste man die Stadt. Sie wurde 80 Tage belagert. Man erwartete den russischen Angriff auf die Stadt vom NordWesten, doch die Russen entschlossen sich, von Süd-Osten zu attackieren. Die Deutschen sprengten und verbrannten viele Häuser, um den Russen das Eindringen in die Stadtmitte unmöglich zu machen. Sie wollten sich nicht ergeben, um die Stadt zu schonen. Jeder, der sich dem Beschluss widersetzte, wurde umgebracht, so am 28. Januar 1945 der Bürgermeister der Stadt, Wolfgang Spielhagen, der „während der Sitzung des Kriegsrates im Breslauer Rathaus gegen die Evakuation und die Festungspläne in Breslau aufgetreten ist.“54 Die ‚Angelegenheit Spielhagen‘ berühren die Romane von Steinberg und Falkenau. Letzterer beschreibt, seinem Vorhaben getreu, den Charakter Dr. Spielhagens. In seinem Roman heißt es: „Der Breslauer Bürgermeister Dr. Spielhagen, der für die Finanzen verantwortlich war und der mit dem Gauleiter wegen dessen Verschwendungssucht schon oft aneinandergeraten war, verbrachte diesen Abend […] im Haus des Oberbürgermeisters Leichtenstern.“55 Steinberg dagegen greift in seinem Roman das Thema der Exekution am Beispiel Spielhagens auf. Der Erzähler berichtet: „Da steht ein Mann mit verbundenen Augen unter dem Reiterstandbild Friedrichs des Großen. Ein paar andere Männer stehen nicht weit vor ihm, haben Gewehre auf seine Brust gerichtet und schießen, als ein Kommando ertönt. Der Mann, der Bürgermeister dieser Stadt war, fällt um. Er ist tot.“56 Weiter finden wir eine Anmerkung über Spielhagen im Gespräch des jungen Herbert Neukühn mit Hillmann, in dem der linientreue Hillmann Spielhagen als kaputtes Rädchen im Getriebe des Dritten Reichs bezeichnet.57 In den genannten Romanen werden besonders häufig städtisch konnotierte Motive aufgegriffen. Es wiederholen sich Darstellungen verlassener Wohnungen, Steinberg erwähnt leere Fabriken und die leere Universität. Zum gegensätzlichen Bild gehören in erster Linie überfüllte Kellerräume, in denen die Bevölkerung, die in der Festung geblieben ist, angesichts der russischen Militäroffensive Unterschlupf zu finden sucht. Die zum Wohnen und als Operationssäle provisorisch eingerichteten Kellerräume werden sowohl bei Hartung als auch bei Steinberg, Falkenau und Haas beschrieben. Im Werk Hartungs spielt schon der Titel des Romans, Der Himmel war unten, auf die ungewöhnliche Situation der Stadtbewohner an, welche einzig in Kellern vorübergehend einen Ort der Rettung, Ruhe und Normalität finden, weil selbst der Himmel über der Stadt während der Selbstvernichtung und des russischen Angriffs brennt. Als die Hoko-Soldaten in die Stadt gedrängt werden und nach einem mühsamen Weg durch

54 55 56 57

Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 338. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 139. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 220. Vgl. ebd., S. 231.

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selbige endlich in einen Keller gelangen, berichtet der Erzähler: „Die Hölle oben ist durchschritten. Unter der Erde ist der Himmel.“58 Die Assoziation der Stadt mit einem Friedhof bringt den Erzähler Steinbergs auf den Gedanken, parallel zur Beschreibung des Kellers den sich über ihm befindenden Raum des Hauses mit einem Hausgrabstein zu vergleichen. „Düsteres Licht brennt flackernd, manchmal verlöscht es für Sekunden, dann glimmt es wieder auf. In diesem flackernden Keller unterm Hausgrabstein hocken Menschen.“59 Die Beschreibung entspricht der Tatsache, dass viele der Häuser bei ihrem Einsturz die in den Kellern ausharrenden Menschen verschüttet hatten. So verhält es sich auch im Falle von Maria Elsässers Vater, Karl Elsässer, dem Kommunisten. Von der Selbstvernichtung der Stadt, um sie nicht dem Feind zu überlassen, spricht der Erzähler Steinbergs wie folgt: „Aber mitten in der Nacht fährt Maria Elsässer empor, weil gewaltiges Krachen die Stadt erschüttert […]. ‚Häuser werden gesprengt‘ [,][…] [e]igene Leute zersprengen eigene Schneckengehäuse.“60 Das Bewusstsein der nahenden Katastrophe bewirkte teilweise eine sittliche Enthemmung. Das reichte vom Gauleiter Hanke, der im Keller des Oberpräsidiums in der Kupferschmiedestraße Orgien feierte, bis zu den ‚Festungsbräuten‘, die an Tanzabenden und Alkoholgenuss Gefallen gefunden hatten. Der Roman Steinbergs knüpft an das Motiv der Festungsbraut in Gestalt eines fünfzehnjährigen Mädchens an, welches in Anwesenheit seiner Mutter zur Festungsbraut wird: „Und er, der Ehemann, sieht die Festungsbraut an, deren Körper lächelt, und er verwandelt sich selbst in dieser bräutlichen Stadt zu einem Festungsbräutigam. Er ist entschlossen, das Fest zu feiern, wie es fällt, weil keiner weiß, wann er selbst fallen wird.“ 61 Bei Falkenau wird dagegen der luxuriöse Gauleiterbunker unter dem Oberpräsidium wie folgt beschrieben: F. Lynder erzählt in seinem Niehoff-Bericht, wie geradezu hochherrschaftlich dieser Gauleiterbunker unter dem Oberpräsidium ausgestattet war. Die zu schönen, wohnlichen Räumen umgestalteten Keller und Gänge wirkten bequem und zugleich ausgesprochen wohnlich und fast luxuriös. Eine breite Treppe führte zu den Räumen hinunter. Sie war mit Grünpflanzen besetzt und mit Läufern belegt. Alle Gänge waren auch tapeziert worden. […] Brücken und Läufer machten das Gehen auf den Kellergängen zu einem Genuß. Die ehemaligen Kellerräume zur Rechten und Linken des Hauptganges waren in geschmackvoll und sehr bequem eingerichtete Büroräume verwandelt […]. Für Boten und Stenotypistinnen und alles weitere Büropersonal gab es eine ausgezeichnete Kantine. Und dann als letztes das Gemach des Gauleiters und Reichsverteidigungskommissars, Karl Hanke, ein Raum, so groß und hervorragend ausgestattet mit Möbeln und Teppichen und Bildern, daß es auch für verwöhnteste Gäste eine Freude sein mußte, darin sich aufhalten zu dürfen. In diesem Raum wurden die Feste gefeiert […]. An

58 59 60 61

Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 211. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 268. Ebd., S. 218. Ebd., S. 329.

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diesen rauschenden Festen in Hankes Märchenkeller nahmen immer wieder Frauen teil, die wunderschön anzusehen und verführerisch gekleidet waren[.]62

Andeutungen bezüglich (letzter) Lebensgenüsse in Breslaus Kellern findet man auch bei Hartung, doch bei ihm stehen durchschnittliche Bürger im Fokus. Im Gespräch Ottos mit dem Schwager, der im Keller mit einer Prostituierten haust, erklärt der betrunkene, in Todesgefahr schwebende Gustav dem Bruder seiner Frau die Motive seines Handelns: „Da mußte dir ebenst heute mitnehmen, was du noch kannst. Auch die Weiber!“63 Ansonsten war die Zivilbevölkerung gezwungen zu arbeiten. Jeder bekam eine Arbeitskarte der Festung Breslau. Wichtige Arbeiten verrichtete man beim Bau des Flugplatzes an der Kaiserbrücke, wobei das Einebnen der umstehenden Häuser den Anfang machte. Den Bau verrichteten Zwangsarbeiter und Zivilbevölkerung, darunter alte Männer, junge Frauen und Kinder, unter Beschuss der Artillerie und Bombenangriffen.64 Steinberg schildert diesen Zustand besonders tragisch. „Alte Männer, […] junge Frauen und Kinder, Kinder, Kinder, Jungen über zehn, Mädchen über zwölf Jahre.“65 Später werden auf naturalistische Weise die Folgen des russischen Bombenangriffs geschildert: „Unten, auf dem Rollfeld, […] auf der Kegelbahn des Todes platzen sie, [gemeint sind Bomben, d. Verf.] werfen eine Mutterbrust einem zehnjährigen Jungen ins Gesicht, klatschen die Eingeweide eines zwölfjährigen Mädels einem Greis in den grauen Bart.“66 Kommandant Niehoff bezog Quartier in den Kellern der Liebichshöhe. Niehoff ließ zu Verteidigungszwecken das Hatzfeldpalais vernichten, Hanke dagegen befahl, das Schlesische Kunstmuseum zu sprengen. Auf diese Weise gewann er mehr Platz, um mit einem Flugzeug zu starten und den Russen zu entfliehen, was besonders von Falkenau bedacht wird.67 Im Werk Breslau: Vom Herzog zum Gauleiter wird vor allen Dingen die Heimlichkeit der Fluchtaktion hervorgehoben. Bei Hartung dagegen wird die Flucht Hankes mit dem Flugzeug für den Kommandeur der Stadt zum Zeichen, dass auch er zu lange an den endgültigen Sieg geglaubt hatte.68 Den Begriff ‚Fieseler Storch‘ und die Umstände, unter welchen Hanke floh, instrumentalisiert der linksgesinnte Steinberg, um den Kommunisten Elsässer in einem positiven Licht zu präsentieren und seine moralische Überlegenheit im Vergleich mit den Nazis zu verdeutlichen: „Welches Erhobensein trug ihn […] höher, als es ein Fieseler Storch vermag, der auseinandergenommen und wohlbehütet hinter der Liebichshöhe eingekellert war für die Flucht jenes Mannes, der noch durch die Lautsprechersäulen schreit.“69 62 63 64 65 66 67 68 69

Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 201f. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 220. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 339. Werner Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 297f. Ebd. Vgl. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 209. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 427. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 138.

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Am 18. März wurde das Hauptquartier der Festungskommandantur in die Keller der Universitätsbibliothek verlegt. Um dies zu bewerkstelligen, sollten alle dort aufbewahrten Bücherbestände in der Oder versenkt werden.70 Im Roman Hartungs heißt es: Der Festungskommandant, General Niehoff, ist dieser Tage aus seinem Liebichshöhen-Bunker unter die schöne barocke Universitätsbibliothek auf der Sandinsel übergesiedelt. Eifrige Sturköpfe begannen dort, unersetzliche Bücherschätze in die Oder zu schaufeln, bis ihnen noch eifrigere Bibliothekare das kostbare Gut abjagten und es, in einem heroischen Ringen gegen Feuer und Bombengefahr, in der Annenkirche bargen.71

Als Russen den Flughafen in Gandau einnahmen (die Gefährdung und Einnahme des Flughafens signalisieren die Figuren Hartungs), kam es zur Entscheidungsschlacht. Bombenangriffe vernichteten die Dominsel und die umliegenden Häuser, was am deutlichsten in Hartungs Roman in den Kapiteln über das Osterfest 1945 zum Ausdruck kommt. „Was hilft es jetzt dem Dom zu Sankt Johannes, daß sich einst der Gottesstadt im Bannkreis seiner Türme selbst Kaiser nur zu Fuße nahen durften – ein Mann aus Dnjepropetrowsk oder der tungusischen Steppe drückt auf einen Hebel, weil er in einem Feuermeer unter sich ein winziges, ausgespartes Fleckchen sieht. Dieses Fleckchen ist der Bischofsdom zu Breslau.“72 Steinberg schildert den Brand der Dominsel allgemeiner. „Ein Kirchturm brennt. Die Flammen schwingen als Fahnen quer aufwärts zu ihm.“73 Von Zeit zu Zeit gelang es den Russen, sich deutsche Maschinen anzueignen, derer sie sich bei Angriffen bedienten, was zur völligen Desorientierung bei der Breslauer Stadtverteidigung führte. Die Versorgung der Stadt fand auf dem Luftweg statt, was bei Hartung aufgegriffen wird. In den Romanen Steinbergs und Hartungs wird die Tatsache der im Bombenhagel sterbenden Pferde zum ergreifenden Bild des Verlusts von Alltäglichkeit und Normalität. Der Erzähler des Romans Der Himmel war unten berichtet: Das eine, das letzte der Tiere, brüllt in hohen gräßlichen Lauten. Anders ist das als ein Wiehern, anders überhaupt als Tiere schreien. Wie ein Mensch brüllt es, in äußerster Qual. Seltsame Kapriolen macht es beim Laufen. Man sieht seine grotesken Bewegungen deutlich in dieser Brandhelligkeit. Ein Eisensplitter hat den Leib des Tieres aufgerissen, und seine Därme hängen heraus.74

Steinberg verbindet das Bild des Pferdes mit der brennenden Stadt: „An einer Ecke steht ein Pferd. Niemand beachtet es, die Leute laufen um es herum, schwarze Ameisen. Das Pferd hat den linken Vorderfuß leicht gehoben. Am Oberschenkel ist eine lange blutende Wunde. Der Schädel des Gauls ist emporgestreckt. In seinen Augen zuckt das

70 71 72 73 74

Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 339. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 372. Ebd., S. 361. Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 275. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 359.

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trübe Rot der Flammen, die über den Gräbern brennen. Das Pferd wiehert. Das schallt laut durch die Nacht.“75 Die sich verschlechternde Lage der Festungsverteidiger führte zu Protesten. In Zimpel protestierten Frauen.76 „Gestern früh“ – berichtet der Erzähler des Romans von Hartung – „hingen in Zimpel an einigen Häusern weiße Fahnen. Die SS hat Verhaftungen vorgenommen. Die Frauen schrien, als man sie mitnahm. Sie fuhren den SSMännern mit Fäusten ins Gesicht, kratzten, bissen und spien sie an.“77 Sie wollen dergestalt erwirken, dass sich die Stadt ergeben möge angesichts der Drohung, dass im Falle weiteren Widerstands Breslau der Vernichtung durch die Russen anheimfallen würde. Zur Kapitulation kam es am 6 Mai. Die Handlung im Roman von Hartung endet bereits einen Tag zuvor mit dem Appell, weiterzuleben. Das Werk Steinbergs bricht noch eher ab, mit der Exekution Brandenburgs, die noch von der einheimischen Polizei vollstreckt wird. Bei Falkenau beschließt der Brand Breslaus, den die Gauleitersekretärin Eva Arndt von Hirschberg aus zu sehen vermutet, die Romanhandlung. Bei Haas kommen die russischen Soldaten bis Lissa. Das Bild Breslaus nach der Kapitulation gleicht dem Bild eines stillen Trümmerreichs, in dem der Rauch den Himmel verdeckt. Voller Toter, die schleunigst auf öffentlichen Plätzen begraben wurden oder direkt in zugeschütteten Kellern ihre letzte Ruhestätte fanden, knüpft es an die Tragödie der Stadt an. Von Zeit zu Zeit bemerkte man im Stadtraum mit Kreuzen markierte Stellen, denn Breslau war zu einem großen Friedhof geworden. Obwohl die besprochenen Romane ihre Handlungen an unterschiedlichen Stellen abbrechen, wird in allen Werken das tatsächliche Bild der Zerstörung Breslaus in die Darstellung integriert. Dem Bild der belagerten Stadt und Festung, in der sich das Normale mit dem Außergewöhnlichen kreuzt, entsprechen zum Beispiel Bilder von spielenden, aber auch salutierenden Kindern und Eindrücke von sich (be-)drängenden, aber auch miteinander sprechenden Menschenmassen.78 In der Metropole, die von der regen Zivilisationsentwicklung gezeichnet ist, bedeutet nach Georg Simmel die Masse der Menschen eine kaum zueinander in persönlichem Bezug stehende, einander gleichgültig begegnende Größe. In den Romanen über das vom Krieg bedrohte Breslau sucht die sonst gleichgültige Masse zueinander Kontakt, aber Ämter und Schulen sind leer, Essen und andere Waren kann man in den verlassenen Läden umsonst bekommen, Züge und Straßenbahnen fahren immer seltener, bis sie schließlich gänzlich ausbleiben, ausgebrannte Häuser verlieren ihren Unterschlupfcharakter. Es entsteht ein literarisches Bild einer tragisch sich verändernden Stadt, die alle Merkmale einer Metropole einbüßt und durch Merkmale eines Kampfplatzes ersetzt, auch wenn inmitten des irrsinnigen Kampfes ab und zu ein Zeichen des Friedlichen, oder ein Schein davon, hindurchschimmert. 75 76 77 78

Steinberg: Als die Uhren stehenblieben (Anm. 1), S. 122. Vgl. Kulak: Historia Wrocławia (Anm. 14), S. 340. Hartung: Der Himmel war unten (Anm. 8), S. 408. Vgl. Schimmel-Falkenau: Breslau (Anm. 9), S. 146.

MARION BRANDT

Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Nachkriegsliteratur

Die Innenstadt Danzigs, berühmt für ihre ungewöhnlich alte und schöne Architektur, wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs, zum Teil schon während der Kampfhandlungen, zum Teil nach der Einnahme durch die Rote Armee, fast vollständig zerstört. Diese Zerstörung wurde in der deutschen und polnischen Literatur immer wieder thematisiert und mit mehreren Konnotationen angereichert, die – je weiter wir uns von dem Ereignis zeitlich entfernen, desto mehr – über den konkreten historischen Fakt hinausreichen. Die materielle Zerstörung der Stadt wurde zu einem Bild für den Untergang des deutschen Danzig, für das Ende der deutschen Präsenz in dieser Region, aber mehr noch für die unsichere, gefährdete Existenz des Einzelnen in der Geschichte überhaupt. Auch spätere Katastrophenängste und -erfahrungen konnten und können diesem Topos vom Untergang Danzigs weiterhin eingeschrieben werden. Im Folgenden seien nur einige dieser Konnotationen skizziert. Deutsche Dichter aus Danzig, die ihre Stadt am Ende des Krieges verlassen mussten, versuchten in ihren Texten der Verzweiflung und des Schmerzes über die Zerstörung Danzigs und über den Verlust ihrer Heimat Herr zu werden. Dass dies keineswegs gelang, zeigen die Gedichte von Willibald Omankowski (1886–1976), einem in der Freistadt Danzig bekannten Dichter. Das widerspruchsvolle Ringen um eine Haltung gegenüber der Zerstörung Danzigs und dem Verlust der Heimat lässt sich in seinem Werk gut verfolgen, da es in Gänze publiziert wurde, was bei anderen Dichtern aus Danzig nicht der Fall ist. 1956 veröffentlichte Omankowski das folgende Gedicht im Danziger Hauskalender, einem seit 1949 vom Bund der Danziger herausgegebenen Almanach: Danzig Warst du nicht einst im Kranz der deutschen Städte Insel des Traums? Von Schwere so erlöst, daß durch die Gassen noch das Märchen wehte? Wie hat der Tod dich bis zur Scham entblößt!

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Kein Schritt. Kein Laut. Aus tausendjährigen Mauern Rieselt zuweilen Schutt gespenstisch leis. Auf allem, was das Auge faßt, ruht Trauern Der großen Nacht und rührt mich an wie Eis. Der Steinkauz lacht, und es beginnt zu regnen, und da verhüllst du dich, daß es mich graust: ich hebe meine Hände, dich zu segnen und siehe da, sie ballen sich zur Faust.1

Scham, Trauer und Grauen, Eiseskälte, die als Gefühlstod oder Einsamkeit verstanden werden könnte – so ließen sich die Gefühle benennen, die das zerstörte Danzig im Ich auslösen. Der Versuch, sich zu einer lindernden Geste durchzuringen (dem Segen), gelingt nicht. Es ist schwer zu bestimmen, ob sich die geballte Faust im letzten Vers als eine gegen Gott oder das Schicksal, d.h. also gegen eine überpersönliche Macht, gerichtete Anklage oder Rebellion lesen lässt, oder ob es sich hier um eine Gewalt androhende Geste gegenüber einer Person oder einer Gruppe handelt, die für den Untergang der Stadt verantwortlich gemacht wird. Eindeutiger klingt das folgende, 1955 veröffentlichte Gedicht aus: Die Vertriebenen Wie ging uns die Heimat so wüst und traurig zugrund! Ist nur noch Brandschutt und hat einen fremden Herrn. Man hielt uns wie Vieh und schlug uns die Seelen wund. Wir treiben auf nächtlichem Meer ohne Kompaß und Stern. In der Fremde ist alles so schwarz und schwer, Und tief in den Straßenstaub drückt uns das Heimwehleid. Man will uns nicht haben, denn unsere Hände sind leer, Wir tragen allen zu sichtbar das Kummerkleid. Manchmal schenkt uns die gütige Nacht einen Traum: Dann rauscht das Meer, wir wandern den Strand entlang Und rasten im Dünenwald unter dem Föhrenbaum … Oh, wie ist danach das Erwachen bang! Aber der Gott, der uns berief und erwählt, Nährte mit Not und tränkte mit Bitternis, Er hat jede unserer Tränen gezählt, Des seid gewiß!2

Ähnlich wie im vorigen Gedicht sucht das lyrische Ich, das Wir der Vertriebenen, Rückhalt im Glauben. Das angesprochene ‚Ihr‘ am Ende sind vermutlich diejenigen, die 1 2

Willibald Omankowski: Danzig zur Nacht. Gedichte. Ausgew. u. hg. v. Andrzej Kątny u. Jens Stüben. Wrocław, Dresden 2007, S. 215. Ebd., S. 214.

Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Literatur

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dem ‚Wir‘ das ungeheure Leid angetan haben, das nicht vergessen, vielleicht sogar eines Tages gesühnt werden wird. In beiden Gedichten scheint sich das Ich von Vergeltungswünschen nicht emanzipieren zu können. Neben ihnen steht im Œuvre von Omankowski aber auch ein Gedicht wie das folgende, vielleicht nicht zufällig sprachlich schwächere, das von der deutschen Schuld spricht. Es blieb unveröffentlicht und fand sich undatiert im Nachlass: Zu dieser Stund Wir warfen in die Welt den Brand Mit frevler Hand Und gaben uns dem Haß zum Raube; Nun schleichen wir im Straßenstaube, verarmt, verachtet und verbannt. Wohl uns, wenn wir das recht erkennen und, statt im Feuer unserer Not in dem der Bruderliebe brennen, denn die ist oberstes Gebot. Was bleibt der Sinn von unserm Tun zu dieser Stund? Erst einmal ruhn, mein Freund, denn wir sind wund und mancher wird nie mehr gesund. Doch in der Rast laßt uns ergründen, wie wir den ungeheuren Berg von Schuld und Schmach und Scham verwinden. Und dann ans Werk!3

Ein anderes Beispiel für die Rede von der deutschen Schuld findet sich in der ersten Ausgabe des Danziger Hauskalenders für das Jahr 1949, die unter dem Titel Gang durch eine Ruinenwelt eine Beschreibung Danzigs durch den in Sopot gebliebenen Pfarrer Paul Schütz enthält.4 Diesem Gang durch das zerstörte Danzig wurde hier der folgende, Eichendorffs berühmtes Danzig-Gedicht zitierende Vers ohne Angabe eines Autors vorangestellt: In Memoriam ‚Dunkle Giebel, hohe Fenster‘ – Klang ein Lied an unser Ohr. Es verhallte, und Gespenster Klagen an im Totenchor. Was die Reihe der Geschlechter 3 4

Ebd., S. 240. Schütz starb 1968 in Sopot.

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Schuf, es fiel im Strafgericht. Und trotzdem – wir bleiben Wächter Auf dem Turm der Zuversicht.5

Bei der Durchsicht des Danziger Hauskalenders fällt auf, dass solche Stimmen, die von deutscher Schuld sprechen, selten sind. Seit dem Beginn der fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein wird hingegen sowohl in der Publizistik als auch in den Gedichten immer wieder das Unrechtmäßige der polnischen Zugehörigkeit Danzigs betont: Die Polen seien ‚Usurpatoren‘, Danzig werde niemals polnisch werden und die Vertriebenen würden eines Tages wieder in ihre Heimat zurückkehren. Diesen Ton schlug Martin Damß (1910–1962) in einem Gedicht an. Damß war unter den jungen Danziger Dichtern, die sich in den 1930er Jahren in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hatten, der wohl talentierteste.6 1965, bereits einige Jahre nach seinem Tod, wurde im Danziger Hauskalender sein Gedicht Gedenken veröffentlicht, in dem u.a. zu lesen ist: […] Heimat, wir lassen dich nicht. Nie ist sie für uns verloren, Und die Toten, wir leben für sie. Wir sind aus ihnen geboren, und sie hören mit wachen Ohren, was wir uns heilig geschworen: Die Heimat lassen wir nie!7

Viele Autoren verleihen ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat Ausdruck in Gedichten, die sich in ihrer Bildsprache auffallend ähneln. Sie ist im Wesentlichen von zwei literarischen Vorlagen – der Sage von der im Meer versunkenen Stadt Vineta und von Joseph von Eichendorffs Danzig-Gedicht – beeinflusst. Ein Beispiel für das Anknüpfen an die Vineta-Sage ist das gleichnamige Gedicht von Helene Westphal (1894– 1956), in dem es heißt: Nun bist Vineta du, mein Heimatland, und rufst mit Glockenstimmen aus den Tiefen der eignen Brust, darinnen du versankst.8

Wie hier hört das Ich auch in anderen Gedichten das Läuten der Danziger Kirchenglocken aus dem Wasser heraufklingen, es hört „alte Melodien“ in seinem Inneren, als „ew’gen Gruß“9 und „unsrer Heimat Liebeslied[,]“10 das sogar den Tod des Einzelnen 5 6 7 8 9 10

Danziger Hauskalender auf das Jahr 1949, S. 11. Martin Damß war 1935 in dem von Heinz Kindermann herausgegebenen Gedichtband Das junge Danzig vertreten, veröffentlichte 1939 den Gedichtband An dem großen Strom. Danziger Hauskalender auf das Jahr 1965, S. 67. Helene Westphal: Vineta. In: Bernstein glühte im Sand. Danziger Heimatdichtung. Hg. v. Helmut Roick, Darmstadt 1985, S. 42. Carl Lange: Die Glocken von Danzig. In: Ebd., S. 21. Omankowski: Danzig zur Nacht (Anm. 1), S. 226.

Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Literatur

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überdauern wird. Ein Gedichttitel wie Die Glocken von Danzig ist sogar mehrmals anzutreffen,11 andere lauten Danziger Rathausglocken,12 Danziger Glocken grüßen Euch,13 Meiner Heimatglocken Klang14 oder Danziger Glockenspiel.15 Der an die Buddenbrooks angelehnte, direkt nach dem Krieg entstandene Roman Die Rodendahls von Rudolf Baumgardt nimmt am Ende, kurz bevor die im Zentrum stehende Familie Danzig verlässt, ebenfalls Bezug auf die Sage von Vineta, aber auf einen anderen Teil ihres Narrativs: Während die Russen den Angriff auf die Stadt einleiten, beginnen plötzlich die Glocken der Danziger Kirchen zu läuten; dieses Läuten schlägt wie ein Meer über der Stadt zusammen: „In einer breiten, immer mächtiger schwellenden Flut wallte es [das Glockengeläut] über die Stadt, füllte Straßen und Plätze und brandete brausend über die Verwüstung dahin.“ Die – in diesem Roman schon vor dem Einmarsch der Russen – zerstörte Stadt versinkt, ehe sie von den feindlichen Truppen eingenommen wird, in einem märchenhaften Nebel, so wie Vineta einst im Meer unterging: Er [der Nebel] bedeckte das Pflaster, er klebte sich an die Ruinen. Er quoll aus den Kellern, umhüllte die zerstörten Gebäude, verschleierte die Giebel, umflorte die Dächer und kletterte zu den Stümpfen und Türmen empor. Noch tönten die Glocken, aber sie klangen schon dumpfer. Unvermittelt dann, wie sie eingesetzt hatten, brachen sie ab. Nur der Nebel blieb, ein wogendes Meer. Er verschlang die Stadt, damit sie unsichtbar wurde. Und so strich er sie aus.16

Obige Sätze bilden die Schlusspassage des Romans. Durch das Versinken im Nebelmeer bleibt der Stadt die Besetzung durch die Russen, bleibt ihr jegliche Weiterexistenz in der historischen, materiellen Realität erspart. Wenn allerdings in den hier genannten Anspielungen auf Vineta auch darauf Bezug genommen werden sollte, dass die Stadt zur Strafe für den Hochmut ihrer Bürger unterging, denn immerhin besteht darin ja ein zentrales Element des Vineta-Narrativs, dann geschieht das bestenfalls auf indirekte Weise. Ähnlich dem Vineta der Sage erscheint das alte, deutsche Danzig in mehreren Gedichten als eine noch immer existierende, nur eben – im Meer (der Realität oder Geschichte) – untergegangene Stadt, die man im Traum, wenn ihre Glocken rufen, aufsuchen kann. Das lyrische Ich nicht nur eines Textes geht im Geiste durch die alten Straßen, die märchenhaft erscheinen, „wie von Zauberhänden“17 wiedererschaffen. Eichendorffs Gedicht ist hier ein wichtiger Bezugspunkt. Omankowski knüpfte schon 11 12 13 14 15 16 17

Wolfgang Federau: Die Glocken von Danzig. In: Danziger Hauskalender auf das Jahr 1949, S. 60. Herbert Scheunemann: Danziger Rathausglocken. In: Danziger Hauskalender auf das Jahr 1950, S. 56. Wolfgang Federau: Danziger Glocken grüßen Euch. In: Danziger Hauskalender auf das Jahr 1991, o. P. Arnold Kühl: Meiner Heimatglocken Klang. In: Danziger Hauskalender auf das Jahr 1988, o. P. Omankowski: Danzig zur Nacht (Anm. 1), S. 226. Rudolf Baumgardt: Die Rodendahls. Darmstadt 1957, S. 722. Westphal: Vineta (Anm. 8).

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früher direkt daran an, als er in seinem Gedichtband Danzig. Antlitz einer alten Stadt (1924) Danzig als eine in der Vergangenheit versunkene Stadt darstellte. Anders als in diesen Gedichten ist es nach 1945 aber nicht mehr die Architektur der alten Stadt, die in eine Traumlandschaft führt, sondern die Straßen und Häuser existieren selber nur noch im Traum, sie sind „versunkenes Traumgelände“18 geworden. In mehreren Gedichten wird Danzigs Zerstörung, dem realen Geschehen entsprechend, als Brand imaginiert, und dabei ins Biblische überhöht, so bei Westphal in „Flammenzeichen“, die „Untergang“ „schrien“. Neben solchen direkten Bezügen zum Brand der Stadt finden sich andere Bilder, wie die vom „Sturm“ oder einem „Dämon“, der die Stadt „so grausam zerschlug.“19 Manche Autoren verbinden den Untergang mit einem Katastrophenszenario, das für diejenigen, die im Danziger Werder zu Hause waren, zu den gefährlichsten Naturereignissen in dieser Landschaft gehörte, nämlich mit dem Hochwasser der Weichsel: Im Jahr Achtzehnhundertundvierzig Durchbrach bei Östlich-Neufähr Die Weichsel der Nehrung Dünen Und riß sie hinfort ins Meer. Und nach hundert weiteren Jahren Zerbrachen in Feuers Sturm Die Dämme der Menschenherzen Zerschmolzen die Glocken im Turm.20

Zu diesen Gedichten, die das tragische Weltgefühl der Autoren in oft pathetischen Worten und die furchtbare Zerstörung Danzigs in biblischen Bildern charakterisieren, lässt sich kaum ein größerer Gegensatz denken als die Beschreibung des Untergangs von Danzig in Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel. In den Augen von Oskar Matzerath wird der Brand der Stadt zu einem lustigen Feuerchen: Das Krantor war aus Holz und brannte besonders schön. In der Kleinen Hosennähergasse ließ sich das Feuer für mehrere auffallend grelle Hosen Maß nehmen. Die Marienkirche brannte von innen nach außen und zeigte Festbeleuchtung durch Spitzbogenfenster. Die restlichen, noch nicht evakuierten Glocken von Sankt Katharinen, Sankt Johann, Sankt Brigitten, Barbara, Elisabeth, Peter und Paul, Trinitatis und Heiliger Leichnam schmolzen in Turmgestühlen und tropften sang- und klanglos. In der Großen Mühle wurde roter Weizen gemahlen. […] Die Heilige-Geist-Gasse brannte im Namen des Heiligen Geistes. Freudig brannte das Franziskanerkloster im Namen des Heiligen Franziskus, der ja das Feuer liebte und ansang. Die Frauengasse entbrannte für Vater und Sohn gleichzeitig. Daß der Holzmarkt, Kohlenmarkt, Heumarkt abbrannten, versteht sich von selbst. In der Brotbänkengasse kamen die Brötchen nicht mehr aus dem Ofen. In der Milchkannengasse kochte die Milch über.21

18 19 20 21

Omankowski: Danzig zur Nacht (Anm. 1), S. 249. Franz Erdmann: Und als ich über die Brücke kam. In: Bernstein glühte im Sand (Anm. 8), S. 42. Hans-Georg Siegler: Ballade vom Weichselland. In: Ebd., S. 51. Günter Grass: Die Blechtrommel. Werkausgabe. Bd. 3. Göttingen 1997, S. 512f.

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Die Leser des Romans wissen an dieser Stelle allerdings schon, dass Oskars Zerstörungslust eine Rebellion gegen die Enge seiner sozialen Welt und eine Reaktion auf Verlassenheitsängste ist. Für ihn begann der Untergang Danzigs mit dem Tod der Mutter und bedeutete durchaus einen Einschnitt in seinem Leben, der von existentieller Bedeutung war. Das Erzählen besteht in diesem Roman schließlich aus dem ‚Zurücktrommeln‘ der Vergangenheit, dem Erinnern an das Leben in Danzig mit all seinen schrecklichen und wunderbaren Details. Impuls des Erzählens ist es ja gerade, das untergegangene Danzig neu zu erschaffen. Die verlorene Stadt wird dabei nicht wie in den genannten Gedichten zu einer versunkenen Traumlandschaft voller Schönheit, deren Verlust betrauert wird, sondern sie ist ein Ort voller Abgründe und Abnormitäten, der, in lustvoller Aggressivität vergegenwärtigt, einem eher bösen als wunderbaren Märchen Raum schafft. Richtet man den Blick aber nicht nur auf die konkrete Erzählung von der Zerstörung Danzigs durch den Brand im März 1945, sondern auf den Untergang des deutschen Danzig, den Zwang, das nun polnisch gewordene Danzig für immer verlassen zu müssen, so erzählt der Roman auch von der Mitschuld, welche die deutschen Danziger – Oskar, seine Familie und seine Nachbarn – an der Katastrophe tragen. Anders als in den Werken deutscher Autoren nimmt in den polnischen Texten über den Untergang Danzigs das Bild des Gerichts eine zentrale Position ein. So in Brunon Zwarras Roman Die Danziger (Gdańszczanie) von 1976, den der Autor 1999 in überarbeiteter Form erneut publizierte und in mehreren Teilen fortsetzte. Im Roman von 1976 am Ende, in der überarbeiteten Fassung am Beginn des zweiten Teils, wird das zerstörte Danzig aus der Sicht des Protagonisten, des polnischen Danzigers Benedykt Korda, gezeigt, der am 8. April 1945 aus seinem Versteck in der Kaschubei nach Danzig zurückkehrt. Er geht allein durch die stille, menschenleere Stadt. Als er durch das erhalten gebliebene Goldene Tor tritt und die Langgasse und den Langen Markt fast vollständig in Trümmern vor sich liegen sieht, bricht er schluchzend zusammen, erinnert sich dann aber daran, wie gerade an diesem Ort die Danziger Bevölkerung Albert Forster, dem Gauleiter von Danzig, am 10. August 1939 zujubelte, als vor dem Artushof jene Worte von der deutschen Macht fielen, die es den Hitleristen erlaubten, nicht nur Polen, sondern auch andere Nationen gering zu schätzen. Gerade hier vergaßen die hiesigen Bewohner den klugen und ehrenvollen Vers, der durch so viele Jahrhunderte Leitmotiv für jene Menschen war, die für diese Stadt Verantwortung trugen.22

Mit dem „Leitmotiv“ meint Korda das Motto des Danziger Wappens „Nec temere – nec timide“ (Weder unbesonnen noch furchtsam). Durch ihre Arroganz und ihren Chauvinismus hätten die Danziger selbst das Unglück herbeigeführt. In Kordas Gedanken finden sich zwar nicht die Worte Gericht oder Schuld, sinngemäß sind sie jedoch präsent. Dabei besteht die Schuld nicht nur im Hochmut, sondern auch im Vergessen dessen, was laut Korda für Danzigs Geschichte so lebenswichtig war: der Treue gegenüber 22

Brunon Zwarra: Gdańszczanie. Bd. 2. Gdańsk 1999, S. 7f.

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Polen. Vorwürfe richtet er aber auch an ‚Europa‘, in dem niemand für Danzig kämpfen, geschweige denn sterben wollte. Zwarra lässt seinen Protagonisten sogar eine neue militärische Auseinandersetzung um Danzig befürchten. Das Kapitel endet damit, dass Korda, nachdem er auch die zerstörte Fabrik gesehen hat, in der er früher arbeitete, sich vornimmt: „Ich beweise es allen, die diese Zerstörung verursacht haben, dass gerade ich, der bisher verachtete Pole, die Fabrik wieder aufbaue. Ich werde wohl auch zum Aufbau des ganzen Danzig beitragen!“23 Die Gerichtsmetapher findet sich ebenfalls in einem späteren, vom Untergang Danzigs erzählenden Text, und zwar in Stefan Chwins Roman Tod in Danzig (Hanemann) von 1995. Hier handelt es sich nicht wie bei Zwarra um ein Gericht über die deutschen Danziger oder die Deutschen allgemein; dieser politische Kontext spielt für Chwin keine Rolle. Es ist überhaupt kein geschichtliches Urteil, das hier gesprochen wird, sondern durch die Bezugnahme auf das bekannteste Danziger Gemälde, Das Jüngste Gericht von Hans Memling, ein göttlicher Richtspruch. Er trifft aber nicht Menschen, sondern „die Dinge“. Noch vor dem Brand der Stadt heißt es, in der Stille, die die Stadt erfüllte, fand für die Dinge das Jüngste Gericht statt: Sie nahmen günstige Plätze ein, hielten sich in Sichtweite bereit, um schnell zur Hand zu sein und nicht zu spät zu kommen. Die Dinge, ohne die man nicht leben konnte, schieden sich von denen, die dem Untergang geweiht waren. [...] Die Sonne, die jeden Morgen hinter der Halbinsel aus dem Meer aufstieg und jeden Abend – gänzlich erschöpft von der Flut des Lichts – hinter die Moränenhügel, hinter den Karlsberg und die Türme der Kathedrale sank, war nur die Sonne, ohne weitere Bedeutung, obwohl auf Memlings Gemälde in der Marienkirche, auf dem der Erzengel Michael die Erlösten von den Verdammten schied, schon helle Wolken brannten. Wer von uns hätte spüren können, daß die Stadt langsam auf den Lichtschein zutrieb, auf das zischende Feuer, den Rauch brennenden Teers, den Staub zerfallener Ziegel, auf zertrümmerten Stein, verkohltes Leinen, verbrannte Seide, zerfetztes Papier, splitterndes Holz, zerbröselnden Marmor, schmelzendes Kupfer?24

Die Zerstörung Danzigs wird ganz aus der Sicht der Dinge wahrgenommen, von denen die einen die Stadt zusammen mit den Flüchtlingen verlassen können, die anderen im Feuer zerstört werden, wieder andere das Inferno überleben und von den neuen Bewohnern benutzt werden, bis sie schließlich irgendwann zerfallen. Diese für Chwin so charakteristische Betonung der Dingperspektive lässt sich aus zwei Kontexten herleiten: Den polnischen Danzigern begegnete die deutsche Kultur ihrer Stadt – wie Stefan Chwin in seinem Roman Krótka historia pewnego żartu zeigt – vor allem in Form von Gegenständen, in Dingen des Alltags wie Besteck, Porzellan und Wäsche, aber auch in Form von Büchern und Fotoalben, die von den deutschen Bewohnern zurückgelassen worden waren. Sie stießen beinahe tagtäglich auf diese Dinge und befragten sie danach, was sie ‚vom Deutschen‘, von der deutschen Mentalität, erzählten. Darüber hinaus verweisen die Dinge auf die Situation des Einzelnen innerhalb der Geschichte, in der er lediglich Objekt der historischen Mächte ist. Die Dinge sind dem Menschen nahe in der 23 24

Ebd. Stefan Chwin: Tod in Danzig. Berlin 1997, S. 33–39.

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Ohnmacht, die dieser angesichts der Geschichte empfindet. Diese Ohnmacht erlebt gerade Hanemann, der Protagonist des Romans Tod in Danzig: Nach dem Tod seiner Geliebten, die bei einem Schiffsuntergang – eine Anspielung auf den Untergang der ‚Wilhelm Gustloff‘ – ums Leben kam, verliert das Dasein für ihn jeglichen Sinn. Er zieht sich ganz in Kontemplation zurück, seine Lektüren und Gespräche kreisen fortwährend um die Frage des Selbstmordes. Erst das Mitleid mit dem Schmerz anderer Menschen führt ihn wieder zur Teilhabe am Leben zurück. Eine ähnliche Empathie lässt sich auf der narrativen Ebene des Romans finden: Der Erzähler, der kurz nach dem Krieg geborene Piotr C., dessen Eltern aus Wilna nach Gdańsk gekommen sind, erinnert sich viele Jahre später an den deutschen Danziger Hanemann, der seine Stadt nach dem Krieg nicht verlassen hatte und mit ihnen zusammen in einem Haus lebte. Voller Interesse und Einfühlung versucht er herauszufinden und seinen Lesern zu vermitteln, wer dieser Deutsche, dieser Fremde, war, ohne auch nur daran zu denken, über ihn ein Urteil zu fällen. Es scheint, als wäre es angesichts dessen, dass die Geschichte dem Menschen kaum Handlungsmöglichkeiten zugesteht, nur von geringer Bedeutung, welcher Nationalität er angehört. In Mieczysław Abramowiczs im Jahr 2005 erschienener Erzählung Zawiść (Neid)25 werden nationale Zuschreibungen beinahe ironisch behandelt, und nicht sie, sondern das Gewissen des Einzelnen determiniert sein Handeln. Erzählt wird von einem Mädchen, das, vermutlich in einer deutsch-polnischen Familie aufgewachsen, 1939 in eine deutsche Schule kommt und sich hier um die Anerkennung, ja sogar Zuneigung der Lehrer bemüht. Obwohl sie niemals die Erste ist, verrät sie nicht, dass das Mädchen, das alle Wettbewerbe gewinnt, die besten Zensuren erhält und von allen geliebt wird, eine Jüdin ist. Beide Mädchen werden im Geist des Nationalsozialismus erzogen und weder der einen noch der anderen merkt man ihre innere Distanzierung an; das jüdische Mädchen gilt für die Lehrer sogar als Verkörperung deutscher Ideale. Am Ende der Erzählung geht die Protagonistin durch die Ruinen von Danzig. Auch sie ist wie Korda in Brunon Zwarras Roman in der totenstillen Stadt allein. Auch sie erlebt in den Ruinen eine Erschütterung. Zunächst betrachtet sie die Dinge, die auf der Straße liegen, unter denen ihr das Spielzeug den „größten Schmerz“26 bereitet. Verwundert beobachtet sie dann, wie eine Katze fünf neugeborene Junge in den Ruinen hin und her trägt und bricht vor Freude darüber in lautes hysterisches Lachen aus, bringt eine Wand zum Einsturz und blickt plötzlich in eine Wohnung hinein. Dort sieht sie das Porträt eines Mannes, dessen Blick sie als Vorwurf begreift – es scheint ihr, als habe sie diesen Mann aus dem Sarg gerissen, in dem er Ruhe gefunden hatte. Und nun begegnet sie der früheren Klassenkameradin, die ihr jetzt verrät, dass sie eine Jüdin ist, und verwundert hört, dass die andere es viele Jahre wusste und niemandem gesagt hat. Die moralische Größe, mit der das Mädchen die Prüfung der Nazizeit bestanden hat, offenbart sich erst im zerstörten Danzig, kann sich auch erst hier, nach dem Zusammenbruch der nationalso25 26

Mieczysław Abramowicz: Każdy przyniósł, co miał najlepszego. Gdańsk 2005, S. 135–158. Ebd., S. 153.

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zialistischen Herrschaft, offenbaren. Insofern ist die zerstörte Stadt auch Ort einer innerlichen Befreiung. Seit den achtziger Jahren erscheinen Texte, in denen der Topos vom Untergang Danzigs sich von dem konkreten historischen Faktum der Zerstörung der Stadt am Ende des Zweiten Weltkriegs ablöst und frei wird für andere semantische Kontexte, dabei auch für Utopien und eschatologische Visionen. Ein Beispiel ist Günter Grass’ Roman Die Rättin von 1986. Hier wird der Untergang Danzigs in die Zukunft verlegt und zum Bestandteil eines imaginierten Untergangs der gesamten menschlichen Zivilisation in einem Dritten Weltkrieg. Diesen Weltuntergang überleben nur die Ratten, die das alte Zentrum von Danzig besiedeln, wo nach dem Einsatz der Neutronenbombe zwar die Menschen getötet wurden, die schönen, neualten Gebäude aber erhalten blieben. Die Ratten, die nun in der Stadt an der Mottlau eine neue Gesellschaft aufbauen, realisieren die Idee der Solidarność, das solidarische Zusammenleben, das den Menschen nicht gelungen war. In diesem Roman besetzt Danzig, wie Gertrude Cepl-Kaufmann schreibt, „die politischen Wunschbilder des Autors, und die letztlich moralisierende Wiedereroberung dient ihrer Restitution, wenn auch nur in ihrer Zeichenhaftigkeit.“27 Das untergegangene Danzig wird so zur Projektionsfläche einer Utopie, wobei der Untergangstopos wiederum mit dem des Gerichts verbunden ist, allerdings ist es hier nun ein Gericht über die Menschheit. Wenn Paweł Huelle in seinem Roman Weiser Dawidek (1987) Danzig mit Untergang und Apokalypse assoziiert, so muss dies auf die Entstehungssituation des Romans bezogen werden. Es war die Zeit nach der Niederschlagung von Solidarność, in der apokalyptisches Denken auflebte. Wie Huelle schreibt, wurde ein Foto von Chris Niedenthal zur Ikone für das Erleben des Kriegszustandes: Auf diesem Foto steht ein Panzer vor einem Kino mit Werbung für Francis Ford Coppolas Film Apocalypse Now. In Huelles Roman herrscht durch massenhaftes Fischsterben in der Danziger Bucht so etwas wie ein Ausnahmezustand: Der Strand ist den ganzen Sommer über gesperrt. Die „erotische Dimension“ der Stadt, in der sich nach Roland Barthes das Wesen der Stadt, „Ort der Begegnung mit dem anderen“ zu sein, ausdrückt,28 verkörpert in Danzig zweifellos gerade das Meer. Der gesperrte Strand lässt das Leben in der Stadt stillstehen und die Kinder, die Protagonisten des Romans, einen neuen Ort zum Spielen suchen, den sie in Gestalt eines deutschen Friedhofs finden. Der Pfarrer sowie später der Bischof deuten in ihren Bittgottesdiensten das Fischsterben in der Bucht und die den ganzen Sommer über andauernde Dürre als Strafe für die menschlichen Sünden und malen das Gericht Gottes in furchtbaren Farben aus. Auf die Kinder wirken jedoch viel stärker die 27

28

Gertrude Cepl-Kaufmann: Günter Grass und Danzig. Danzig oder Der rote Faden. Zum Gesamtwerk des Schriftstellers. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hg. v. Jens Stüben. München, S. 562–587, hier S. 583. Roland Barthes: Semiologie und Stadtplanung. In: Das semiologische Abenteuer. Hg. v. dems. Frankfurt/Main 1985, S. 199–209, besonders S. 207.

Der Untergang Danzigs in der deutschen und polnischen Literatur

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wortgewaltigen Predigten eines aus der psychiatrischen Klinik entflohenen Mannes, der ebenfalls das Jüngste Gericht verkündet. Erst am Ende der Ferien kann man wieder ans Meer gehen, lebt das gewöhnliche Stadtleben auf – doch kurz zuvor verschwindet die Hauptfigur des Romans, Dawid Weiser, der die Kinder in die untergegangene deutsche Stadt geführt und den der Erzähler als eine Art Erlöser wahrgenommen hatte. Dem Bild des Jüngsten Gerichts begegnen wir auch in Stefan Chwins Roman Der goldene Pelikan aus dem Jahr 2003, in dem es auf unsere gegenwärtige moralische Verfassung bezogen und wiederum mit dem Untergang Danzigs verbunden wird. Der Protagonist, ein Juraprofessor namens Jakub, erscheint zunächst als Richter über das Leben junger Menschen. Er entscheidet durch Prüfungen und die mit dem goldenen Pelikan eingetragene Note im Prüfungsprotokoll ähnlich dem Erzengel Michael über die Menschen. Von ihm hängt ab, wer studieren darf und wer nicht, wer das Studium abschließt und wer nicht, wem sinnbildlich das irdische Paradies offensteht und wem nicht. Angesichts einer möglichen Fehlentscheidung und der vermuteten Schuld am Selbstmord einer Studentin, einer Schuld, von der ihn niemand lossprechen kann, verliert er jeglichen Halt, fällt immer tiefer ins soziale Abseits. Das Ende seines Leidensweges ist erreicht, als er sich in einem Netz von unterirdischen Gängen unter der Stadt Danzig befindet, die Luftschutzbunker und Bunker für Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg miteinander verbinden. In ihnen begegnet der Protagonist dem untergegangenen Danzig, überhaupt der unteren Seite der Geschichte, dem Vergangenen. Daher – weil er gewissermaßen durch den Müllplatz der Geschichte watet – wählt er seinen Leidensweg/Kreuzweg wohl auch stellvertretend für die Menschheit. Am Ende des Romans, nach einer etwas kitschig anmutenden Erlösungsszene, sieht er kurz vor seinem Tod das Gericht Gottes vor sich. Dieses Gerichtsbild prägt auch die Konstruktion des Romans. Eingangs lernen wir ein lichtes, ideales Danzig kennen, ein westliches Danzig: mit einer Arthur-Schopenhauer-Universität auf der wiedererrichteten Speicherinsel, einer Freiheitsstatue auf dem Bischofsberg (ein Geschenk der französischen Nation an die Danziger), mit der Synagoge, die ebenso wie das Elisabethanische Theater wieder aufgebaut ist. Dieses Danzig, in dem der Protagonist Jakub ein angesehener Bürger ist, in dem er alle Vorzüge der westlichen Kultur genießt, trägt die Züge eines irdischen Paradieses. Es steht dem dunklen, unterirdischen Danzig gegenüber, dem Gang durch die Hölle, den die Hauptfigur antreten muss. Wie diese Beispiele illustrieren, sind der Untergang Danzigs und die untergegangene Stadt selbst zu einem literarisch ungewöhnlich produktiven Topos geworden, bilden sie ein zentrales Element der Ikonographie Danzigs, und zwar sowohl der deutschen als auch der polnischen, wobei sie heute eher die polnische Literatur prägen. Sie laden immer wieder aufs Neue ein zu Reflexionen über die Bedingtheit des Einzelnen in der Geschichte oder über die Menschheitsentwicklung als Ganzes.

LOUIS FERDINAND HELBIG

Überlebensstrategien zu Zeiten des Krieges in ausgewählten deutschen und polnischen Romanen

Leben, überleben, weiterleben – inmitten der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und danach war das der sehnlichste Wunsch aller Betroffenen. Die Geschichtsschreibung berichtet davon und literarische Bewältigungsversuche legen vielfaches Zeugnis ab von der Schwierigkeit, aus der Fülle einzelmenschlichen Erlebens das Typische auszuwählen und mit dichterischen Mitteln darzustellen. Die zeitgeschichtlich bekannten Tatsachen stellen dabei die eine Seite dar, das einzelmenschliche zusammen mit dem kollektiven Erleben die andere. Für die Kriegserlebnisse und deren Darstellungen steht daher zu erwarten, dass diese sich in ihrer dichterischen Gestaltung und Aussagekraft grundsätzlich wenig voneinander unterscheiden. In meinem Beitrag, der eine ausführlichere Untersuchung zusammenfasst, möchte ich folgende Kernpunkte herausarbeiten: I. dass sich deutsche und polnische Romane zum Thema Überleben hinsichtlich der darin dargestellten menschlichen Verhaltensweisen weitgehend ähnlich sind, II. dass es sehr viel weniger darauf ankommt, aus welcher nationalen oder politischen Perspektive, in welcher Sprache und in welchem Land sie geschrieben wurden. Angesichts dieser Thesen verweise ich auf den amerikanischen Historiker Fritz Stern, 1926 in Breslau geboren, 2002 zum Ehrendoktor der Uniwersytet Wrocławski ernannt, der in seiner Autobiographie Fünf Deutschland und ein Leben (2007) schreibt: „Ich kann über den Zufall des Überlebens, die Güte des Schicksals nur staunen.“1 „Zufall“ und „Güte des Schicksals“ – dies sind Hinweise auf die nicht-historische, metaphysische, menschliche Dimension des Überlebens, ebenjene Seite, die weniger mit Geschichtsschreibung, dafür in stärkerem Maß mit Literatur und Dichtung verbunden ist. Trotz des überwältigenden Gewichts der Kriegsumstände sollen die zu behandelnden literarischen Werke deshalb nicht kriegsgeschichtlich bewertet werden. Als Literatur1

Fritz Stern: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. Aus dem Englischen von Friedrich Griese. München 2007, S. 167.

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und Kulturwissenschaftler sind wir vielmehr dazu angehalten, diese Werke einer eindrucksvollen Reihe von deutschen und polnischen Schreibenden als Kunstwerke sprechen zu lassen. Nur so wird festzustellen sein, bis zu welchem Grade sie literarischen Ansprüchen gerecht werden. Anzusprechen sind dann Fragen wie diese: Verdanken diese Romangestalten ihr Überleben einer gezielten Strategie oder überleben sie – im weiteren Sinne des Wortes – zufällig? Oder: Begreifen sie ihr Überleben als verstandesmäßig unerklärbares Schicksal, als Gnadenakt eines genannten oder ungenannten Gottes? Schließlich: Mit welchen literarischen Mitteln haben Schreibende aus dem deutschen und, vergleichsweise, dem polnischen Geschichtszusammenhang versucht, Überleben und Überlebensstrategie aus der Sicht einzelmenschlichen, beziehungsweise kollektiven Erlebens und Erinnerns darzustellen? Dieser letzte Punkt kann hier nur knapp gewürdigt werden. Im Gegensatz zur überwiegend zeitgeschichtlichen, auf tatsächliche Abläufe zielenden Betrachtung ergibt die lange Dauer (‚longue durée‘) von Erinnerung und Gedächtnis eine sich dauernd wandelnde Sicht, zeitweise einiges verstärkend, insgesamt aber langsam verblassend. Die literarisch dargestellten Ähnlichkeiten des Erlebens und Überlebens der Menschen in Polen und Deutschland stellen dies unter Beweis. Denn ohne Frage trifft es zu, dass vor allem die rein menschlichen Ähnlichkeiten immer dann aus dem Dunkel der Vergangenheit auftauchen, wenn – um dieses Phänomen mit Saul Friedländers Buchtitel zu illustrieren – Wenn die Erinnerung kommt.2 Kommt die Erinnerung, dann tritt auch etwas anderes ein, worauf der Historiker Włodzimierz Borodziej hingewiesen hat, dass erstens, beispielsweise in der Dokumentar-Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter Grass, „die Leiden unschuldiger Opfer selbstverständlich zu den Konsequenzen des Krieges zählen[,]“ und zweitens, dass damit zu rechnen ist, „dass der Zweite Weltkrieg aus der Nachbetrachtung der folgenden Generationen zu einem gänzlich anderen Krieg wird, als der, der er für die Zeitgenossen war.“3 Dieser Punkt gilt letztlich für alle Überlebens-Romane, ebenso die Feststellung des französischen Philosophen Paul Virilio: „Denn in Wirklichkeit ist der Zweite Weltkrieg nicht beendet. Zudem ist er rechtlich nicht abgeschlossen. Er ist nicht erloschen. Es gibt keinen Friedenszustand. Er ist nicht beendet, weil er in den totalen Frieden hinein fortgesetzt wurde […].“4 Davon sind bekanntlich weder Deutschland noch Polen allein betroffen, denn diese Sätze zeigen, dass die ganze „barbarische jüngere Geschichte Europas“5 davon berührt 2

3 4 5

Vgl. Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. München 1998. – Saul Friedländer: When Memory Comes. New York 1979. – Saul Friedländer: Quand vient le souvenir... Paris 1978. Włodzimierz Borodziej: Der Zweite Weltkrieg. In: Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik. Hg. v. Andreas Lawaty und Hubert Orłowski. München 2003, S. 68–77, hier S. 76f. Paul Virilio; Sylvère Lothringer: Der reine Krieg. Berlin 1984. S. 29. Tony Judt: Postwar: A History of Europe since 1945. New York 2005. Zitate nach: Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006, S. 966.

Überlebensstrategien zu Zeiten des Krieges in ausgewählten Romanen

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war und bleibt, und wie wenig es dabei auf eine nationale sowie die eigene Kultur und Sprache ankommt. Ebendeshalb sollte es gelingen zu beweisen, dass in den polnischen wie den deutschen Romanen nur geringe Unterschiede im Blick auf darin thematisierte Überlebensstrategien bestehen, dass eine nicht-nationale, mindestens europäische und eigentlich globale Tendenz zu beobachten ist, schließlich dass im zutiefst Menschlichen, weniger im Historischen oder Lokalen der Kern der Aussage angesiedelt ist.6 Damit gebe ich mir die Erlaubnis, auch solche Autoren und Autorinnen heranzuziehen, die ihre Werke nicht in Polen oder in Deutschland seit 1945 geschrieben haben. Die auslandspolnischen Beiträge der Polonia amerykańska – hier speziell der Polonia literacka – brauche ich hier nicht zu begründen. Ich berücksichtige sie, beispielsweise Autoren wie Louis Begley und Jerzy Kosiński, während Ida Fink gewöhnlich zu Israel, Andrzej Szczypiorski zu Polen gerechnet wird. Auslandsliteratur – Inlandsliteratur: diese Unterscheidung ist hier wenig sinnvoll; denn was diese Autoren gemeinsam haben, das ist die polnische Thematik, und darauf kommt es an. Alles andere tritt dagegen in den Hintergrund. Das soll auch in entsprechender Weise für die deutschsprachigen Autoren gelten, die ich ausgewählt habe, vor allem Ilse Langner und Armin Müller. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit unterscheide ich drei Strategien des Überlebens, wobei diese in mancher Hinsicht ineinander übergehen: – Veränderung des Namens und der Identität – Verstecken, Verstellen, Lügen – Ortswechsel und Flucht Beispiele für diese Strategien sind in den folgenden Romanen – und mit Sicherheit in vielen anderen – zu finden.

Andrzej Szczypiorski Analog zum Typ des ‚amerikanisch-polnischen Romans‘ kann man den Ghetto-Roman von Andrzej Szczypiorski (1924–2000) mit dem hoffnungsvoll klingenden Titel Początek (dt. Anfang) – Erstveröffentlichung im Polnischen 1986, übersetzt als Die schöne Frau Seidenman (1988) – einen ‚europolnischen Roman‘ (Barbara Riss und Marta Kijowska) nennen.7 Denn nicht nur das Ende des polnischen Judentums ist sein 6

7

Vgl. Tony Judt: The Past is Another Country: Myth and Memory in Postwar Europe. In: Daedalus 121 (1992), 4, S. 83–113, hier S. 85: „Overall, it was clearly not good to be a Gypsy or a Pole in World War II, nor was it safe to be a Serb (in Croatia), a Russian (until 1943) or an Ukrainian or German (after 1943).“ Andrzej Szczypiorski: Początek. Paris 1986. – Die schöne Frau Seidenman. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. Zürich 1988. Folgende Zitate nach dieser Ausgabe im Text unter (Szczypiorski mit entsprechender Seitenangabe). – Zur Bezeichnung „europolnischer Roman“ vgl. das gleichnamige Kapitel in: Marta Kijowska: Der letzte Gerechte: Andrzej Szczypiorski. Eine Biogra-

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Thema, er erzählt auch vom Überleben und Weiterleben, von der Hoffnung auf einen neuen Anfang trotz Vernichtungsstrategien und trotz der Hekatomben von Toten: „Irma Seidenman sagte sich täglich, es werde ihr zweifellos gelingen, den Krieg zu überleben, das Werk ihres Mannes zu ergänzen und danach zu veröffentlichen […], und glaubte zugleich, das sei ein völlig absurder Gedanke, weil sie bestimmt entlarvt würde und das Schicksal der anderen Juden teilen müsse.“ (Szczypiorski, 28f.) Ihre ganz persönliche Strategie zu überleben, mehrmals beinahe verhindert durch falsche Helfer, darunter einige Polen, aber unterstützt durch wahre Helfer, darunter einige Deutsche, sogar einen SS-Angehörigen, erweist sich schließlich als erfolgreich. Ausgangspunkt der Strategie der schönen Frau Seidenman ist ihre Namensänderung, die sich bis zu einer IdentitätsVeränderung steigert: Maria Magdalena Gostomska nennt sie sich aufgrund gefälschter Papiere, vorgeblich Ehefrau eines polnischen Offiziers, seit 1939 in deutscher Gefangenschaft (vgl. Szczypiorski, 24–34). Diese Rolle hält sie durch, indem sie – mit Glück und dank unglaublicher Zufälle – ihre wahre Identität immer wieder verbergen kann. Parallele Schicksale verlaufen tragisch. Henryk (Henio) Fichtelbaum gelingt es, aufs Land zu fliehen, doch während es von dem Bauern, bei dem er sich versteckt, heißt, er „überlebte den Krieg und kam nach seinem Tode bestimmt in den Himmel“ für seine gute Tat (vgl. Szczypiorski, 40), verleiht Henios Überlebensstrategie seinem schrecklichen Ende nur kurzen Aufschub. Wieder in Warschau, wo der Ghetto-Aufstand bereits begonnen hat, entschließt er sich, seinem Schicksal nicht länger auszuweichen und ins Ghetto zurückzukehren, wo er umkommt: „Nicht weit hinter der Mauer pfiff eine Lokomotive, dann hörte man das Dröhnen eines Zuges. Vielleicht fuhren in diesem Zuge Polen in den Tod, vielleicht Juden, Deutsche oder Russen.“ (Szczypiorski, 57) In Sätzen wie diesem wird die ‚europolnische‘ Dimension im Roman besonders deutlich. Bei Szczypiorski wie in anderen Romanen werden die Opfer ‚internationalisiert‘, man könnte sagen ‚entnationalisiert‘, denn sie erscheinen weder monoethnisch noch einer bestimmten Nation zugehörig. Bis hin zur Vermischung der Stereotypik – Juden sollen dunkelhaarig sein, Irma aber ist blond – versteht es Szczypiorski in eindringlicher Weise, das menschliche Leiden aller Betroffenen jener Kriegsjahre auf ein und dieselbe Ebene zu stellen – ohne Rücksicht auf ihre ethnische oder nationale Zugehörigkeit. Eine Bestätigung dafür, was im Einzelnen zu zeigen wäre, findet sich in einer polnischen Rezension in der englischsprachigen Wochenschrift The Warsaw Voice (2003): „Das Buch ist eine bewegende Studie des Zusammenbruchs vom polnischen Mythos eines toleranten, heroischen und multikulturellen Landes.“8 Vielleicht war dieser Roman deshalb in seinen Übersetzungen erfolgreicher als in Polen.

8

phie. Berlin 2003. S. 237–250. Nach Kijowska stammt der Begriff von der polnischen Literaturkritikerin Barbara Riss: „Powieść, europolska‘.“ In: Za i przeciw, 02.04.1989. N.N.: A Faithful Adaptation. In: The Warsaw Voice, March 3, 2003. In: http://www.warsawvoice.pl/WVpage/pages/article.php/1728/article. Stand: 17.08.2010.

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Louis Begley Auch im Roman Lügen in Zeiten des Krieges (1991 bzw. 1994) des polnischamerikanischen Autors Louis Begley (geb. 1933, Stryj/Polen) wirken Namens- und Identitäts-Änderungen – wie in seinem eigenen Leben – als zentrale Überlebenstaktiken.9 Trotz dieser Veränderungen, nicht zuletzt verursacht durch häufigen Ortswechsel und zu körperlichem wie psychischem Leiden führend, bleibt das Menschliche der eigentliche Mittelpunkt dieses Romans. Der für uns wichtige Signalbegriff im deutschen Text lautet „Überlebenstechniken“ (Begley, 113), im Original „mechanics of existence“ (Begley 1992, 89), womit ein mechanisches Verhalten zur Existenzsicherung gemeint ist. Denn im Roman kommt es weniger auf langfristig vorbereitete Strategien an als auf ausgeprägtes Selbstvertrauen gepaart mit hoher Intelligenz, schließlich auf spontanes Reagieren mit Hilfe mechanischer, technischer, manchmal beinah automatisch angewandter Mittel, die nicht unbedingt eine persönliche Initiative erkennen lassen. Man kann von Versteckspielen geschickter Art sprechen. In diesem Sinne wird aus Überlebenstechnik oder -mechanik dann doch überlegte Strategie. Vielfältig sind die ‚Lügen‘, derer sich die weibliche Hauptgestalt, Tante Tanja, bedient. Ihr Neffe Maciek (sein jüdischer Rufname kommt im Roman nicht vor), ist der bei Kriegsbeginn etwa zehnjährige autobiographische Romanheld. Von Galizien über Krakau nach Warschau geflohen, leben dort beide zunächst eine geborgte christlichpolnische Identität, Tanja geht zur Beichte (vgl. Begley, 130) und Maciek feiert seine Erstkommunion (vgl. Begley, 140). Nicht als ‚Lüge‘ sondern als echte Strategie verwendet Tanja ihre Sprachfertigkeit im Deutschen, denn als sie mit hunderten auf den Bahnhof zum Transport nach Auschwitz getrieben werden, wagt es Tanja, sich von der Kolonne abzusondern und sich an den Transportoffizier zu wenden: „Sehr hochmütig und sehr gewählt sprach sie ihn an. Er möge doch so freundlich sein, ihr zu erklären, in welche Richtung diese gräßlichen Züge führen.“ Als er den Zielort nennt, beschwert sich Tanja vehement, dass sie eigentlich die Frau eines Arztes in R. sei und dorthin zurückfahren wolle. Das Unglaubliche geschieht. Als er Tanja danach fragt, gibt sie zur Antwort, sie habe Deutsch in der Schule gelernt. „Thomas Mann lese ich besonders gern, ich lese alles von ihm, was ich finden kann, in der Originalsprache […].“ Schließlich bekommen beide ihre Fahrscheine: Ende einer erfolgreichen, aber gewiss untypischen Überlebensstrategie (vgl. Begley, 167–170). Immerhin gelingt es Tanja und Maciek sowie einigen weiteren Nebenfiguren, dank ihrer Überlebenstechniken ihrem kollektiv vorgesehenen Schicksal zu entrinnen, jedoch, wie nicht anders zu erwarten,

9

Louis Begley: Wartime Lies. New York 1991. Zitate im Text nach der Ballantine Books Edition (1992) unter (Begley 1992 mit entspr. Seitenangabe). – (Ders.): Lügen in Zeiten des Krieges. Frankfurt/Main 1994. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Folgende Zitate im Text nach der 6. Aufl. 1995 unter (Begley mit entspr. Seitenangabe). – (Ders.): Wojenne kłamstwa. Warszawa 1995.

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scheitern die meisten ihrer Schicksalsgefährten – auch Familienmitglieder – in diesem Bemühen und müssen ihr Leben lassen.

Ida Fink Der zuerst in polnischer Sprache und dann in mehreren weiteren erschienene Roman Die Reise (1990) der polnisch-israelischen Autorin Ida Fink (geb. 1922 in Zbaraz/Polen, seit 1957 in Israel lebend), handelt vom „unbändigen Überlebenswillen zweier Mädchen“ (Klappentext).10 Es sind zwei Schwestern, die sich – obwohl Jüdinnen – unter Vortäuschung ‚arischer‘ Abstammung zur Zwangsarbeit in Deutschland melden.11 Sieht man ab von ihren gefälschten Papieren, die zwar ihre Strategie voraussetzen, so besteht diese eigentlich darin, dass sie sich freiwillig dem Transport stellen, um die Deportation in ein Todeslager zu vermeiden. Diese Strategie erweist sich durchgehend – bis zum Kriegsende – als erfolgreich. Alle anderen Teilstrategien unterstützen ihr Hauptziel, die Heimkehr nach Polen. Nennen lässt sich dabei ihr jahrelanges Versteckspiel gegenüber der NS-Herrschaft, aber auch gegenüber den mit ihnen in einem Zwangsarbeitslager im Ruhrgebiet gefangen gehaltenen Frauen. Dazu gehören schließlich ebenso ihre mehrfach geänderten ‚christlichen‘ Namen wie ihre „Schlauheit“ und ihr „Glück“ (vgl. Fink, 23). Alle diese Faktoren sind entscheidend für ihre Überlebensstrategie. Wichtig ist vor allem aber der Überlebens-Wille der älteren Schwester. Ida Finks Biographin spricht zu Recht von außergewöhnlich starker „Motivierung“.12 Apropos Schlauheit: Auf die Überredungskünste eines mutmaßlichen Spitzels, die Erzählerin hätte „große Chancen zu überleben“ (Fink, 50), wenn sie in Polen bliebe, lässt sie sich nicht ein. Diese Strategie – und damit eine mögliche Abhängigkeit von einem undurchsichtigen Mann – möchte sie nicht riskieren. Als es scheint, dass die unechten Papiere gefährlich sein könnten, verlieren die Mädchen diese absichtlich, was ihnen die Annahme echt-polnischer Namen ermöglicht: als Elżbieta Stefańska und Katarzyna Majewska erschwindeln sie sich entsprechende Ausweise, dank derer sie im Transport der Zwangsarbeiterinnen untertauchen (vgl. Fink, 52f.). Nach einigen Monaten im Arbeitslager entschließen sie sich, flüsternd in nächtlichen Gesprächen, zur Flucht (Fink, 124). Sie gelingt, nur wohin? Denn: „Man weiß es nicht. Oder vielmehr … Ach, Schluß mit diesem Gespräch, das zu nichts führt, wir werden jetzt […] nichts klären. Nach dem Krieg vielleicht – sofern wir überleben (vergiß nie, 10 11

12

Ida Fink: Die Reise. Aus dem Polnischen von Klaus Staemmler. München 1991. Folgende Zitate im Text unter (Fink mit entspr. Seitenangabe). Vgl. Hans Pfahlmann: Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945. Darmstadt 1968; Hans Ellger: Zwangsarbeit und weibliche Überlebensstrategien. Die Geschichte der Frauenaußenlager des Konzentrationslagers Neuengamme 1944/45. Berlin 2007. Sara R. Horowitz: „In all of Fink’s work, the seemingly insignificant detail opens up a profound look at complexities of experience, memory, and motivation.“ In: http://jwa.org/encyclopedia/article/fink-ida. Stand: 05.08.2010.

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diese Wörter hinzuzufügen).“ (Fink, 129) ‚Sofern wir überleben‘ – daraus sprechen Angst und Ungewissheit, und bald soll ihre ‚Reise‘ weitergehen. Nach einigen Wochen Landarbeit – einer Qual für die Städterinnen – auf einem westfälischen Bauernhof, wieder versehen mit neuen, fingierten Papieren und unter anderen Namen, denken die beiden erneut an Flucht. Jetzt treten rationale Überlegungen, das „Planen der weiteren Reise“ (Fink, 193) in den Vordergrund, diesmal zurück nach Polen. Aber noch ist der Krieg nicht zu Ende, doch bleiben und sich in ihr Schicksal ergeben, das kommt ihnen nicht in den Sinn. Sich freiwillig verhaften zu lassen, ist der nächste strategische Schritt. Es gelingt ihnen, in einem süddeutschen Dorf zum „Kuhmelken“ (Fink, 210–214), wiederum mithilfe anderer Papiere, unterzukommen. Wie heißen die beiden? Zum Reisebeginn Jadwiga (dann Elżbieta, jetzt Barbara), die Schwester zuerst Joanna (dann Katarzyna, jetzt Maria). Sie wählen Namen, die bis dahin polnisch oder deutsch, jetzt aber fast schon europäisch klingen: Barbara und Maria – typische Namen überall in Europa. Fast könnte man meinen, dass sie durch ihren häufigen Namenswechsel mit europäisierender Tendenz die Zukunft nach dem Krieg vorausahnen. Nicht mehr in die Vergangenheit richtet sich ihr Blick im Frühjahr 1945, sondern nach vorn. Ida Fink schreibt: „Immer seltener sagen wir: ‚Sofern . . . sofern‘, immer häufiger fragen wir uns, ob wir jemals wieder so werden wie früher.“ (Fink, 218) Damit deutet sie an, dass nun für ihre Protagonistinnen die Frage einer gewandelten Identität wichtiger wird als das Überleben – aus der Strategie zu überleben gilt es jetzt, eine Strategie weiterzuleben zu entwickeln. Das war noch um die Jahreswende 1944/45 nicht möglich gewesen, als Elżbieta – damals hieß sie noch so – sagte: „Den November haben wir überlebt, vielleicht überleben wir auch den Dezember.“ (Fink, 83f.) Ihr Blick in die Zukunft bringt Glück. Sie erfahren, was man die „Güte des Schicksals“ nennen könnte, denn sie werden den Krieg überleben und nach Hause zurückkehren. Über eine Vielzahl von Aspekten der literarischen Gestaltung wäre nun zu reden, über den Stil und die Gestaltung der Aussage des Romans, die Technik von sich abwechselnden Erzählerinnen, Verlust und Erhaltung von Identität, Intertextuelles, über die Gegensätze von Stadt/Land, Natur/Industrie, Anfang/Ende, über Ordnung/Unordnung, um nur einige zu benennen.

Jerzy Kosiński Im Gegensatz zum Roman Die Reise, der durchgehend von Namenswechsel- und Identitäts-Strategien geprägt ist, müsste man den Roman Der bemalte Vogel (1965) des polnisch-amerikanischen Autors Jerzy Kosiński (1933–1991) – er gelangte 22jährig in die USA – als Überlebens-Roman ohne Strategien bezeichnen. Sein Held ist ein passiver Held, doch bleibt er am Leben, auch aufgrund seiner unreflektiert-spontanen Überlebenstechniken (vgl. Begleys Roman). Obwohl möglicherweise in polnischer Sprache verfasst, erschien Der bemalte Vogel 1965 zuerst in englischer Sprache (The Painted

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Bird); zeitgleich mit der deutschen Fassung, aber erst 1989, mit dem Titel Malowany ptak als polnische Übersetzung des amerikanischen Originals.13 Über den Skandal und die Kontroversen, denen sich der Autor ausgesetzt sah, kann hier nur so viel gesagt werden, dass diese sich um die literarisch irrelevante Frage drehen, ob Kosiński eigenes Erleben schildert oder ein passiv erfahrenes Überleben fiktionalisiert hat. Offenbar handelt es sich um imaginiertes, fiktives, nicht tatsächlich Erlebtes. Allerdings bleiben Ungereimtheiten.14 Hier bleibt festzuhalten, dass der Held des Romans – ähnlich wie bei Begley – ein bei Kriegsende zwölfjähriger Junge ist, der den Krieg weitgehend zufällig überlebt, obwohl man ihn wiederholt fast zu Tode quält, weil man ihn für einen Zigeuner oder Landstreicher hält – so die Fiktion. Er überlebt trotz allem, was er erleiden muss, auch deshalb, weil er auf seiner jahrelangen Flucht zwischen den Fronten immer wieder von polnischen Dorfbewohnern aufgenommen und durchgefüttert wird, schließlich sogar – vielleicht ist er Jude – als Ministrant zu dienen hat. Er wird wiederholt Zeuge, wie die Menschen um ihn entsetzliche Grausamkeiten erleiden und sich einander zufügen, sieht sich vor allem mehrfach selbst unmenschlichen, grässlichen Quälereien ausgesetzt. Obwohl er oft nur dahinvegetiert, kämpft er dauernd gegen seine bodenlose Angst und stirbt immer wieder fast vor Hunger und Durst. Schon am Anfang seiner Odyssee zeigt jemand dem Sieben- oder Achtjährigen, was man braucht, um ohne menschliche Hilfe zu überleben: mittels einer durchlöcherten, mit Moos gefüllten und angezündeten Blechbüchse, die man wie einen „Komet“ herumschleudern müsse, um sich gegen Stechmücken und böse Tiere zu schützen; außerdem durch die Kenntnis von Heilkräutern und Pflanzengiften (vgl. Kosiński, 22–24). Mehrfach überlebt er auf diese Weise Drangsalierungen, obwohl er inzwischen stumm geworden ist.15 Dies geschieht, als ihn aufgebrachte Bauern – ‚er ist ein Zigeu13

14

15

Vgl. Jerzy Kosiński: The Painted Bird. Boston 1965. – Jerzy Kosiński: Der bemalte Vogel. Aus dem Amerikanischen von Herbert Roch. Bern und München 1965. –Jerzy Kosiński: Malowany ptak. Przeł. Tomasz Mirkowicz. Warszawa 1989. Im Folgenden Zitate nach der amerikanischen Fassung im Text unter (Kosiński mit entspr. Seitenangabe). – Auf die mutmaßlich polnische Originalfassung verweist Louis Begley in seiner Rezension einer Kosiński-Biographie in der New York Times vom 21.4.1996 mit dem vielsagenden Titel True Lies, womit er auf sein eigenes Werk Lügen in Zeiten des Krieges verweist: „THE other great issue – Kosiński’s surreptitious use of translators (it would seem that much if not all of The Painted Bird was in fact written in Polish and translated into English by hired hands) and the ‚editors‘ who worked, under lock and key, on Kosiński’s manuscripts or notes or on his dictated or suggested ideas – is more complex.“ In: http:// www.nytimes.com/1996/04/21/books/truelies.html?sec=&spon=&pagewanted=all. Stand: 8.7.2010. Vgl. Begley: True Lies (Anm. 13): „Kosiński famously liked to pretend he was someone he wasn't (as do many of the characters in his books), he occasionally published under a pseudonym, and, apparently, he plagiarized and forged left and right.“ Begley scheint zu verkennen, dass Kosiński – wie er selbst in seinem Roman – die Wirklichkeit nicht ‚verfälscht‘, sondern literarisch verschlüsselt hat. Der Vorwurf des Plagiats steht auf einem anderen Blatt. Vgl. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1990. S. 83–84. Zitiert nach: Judt: Geschichte Europas (Anm. 6), S. 1006.

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ner-Vampir!‘ – in die mit Exkrementen gefüllte Jauchegrube ihrer Dorfkirche werfen und er sich nur mit Mühe und Not befreien kann (vgl. Kosiński, 144–153). Erst ganz am Ende des Romans gewinnt er seine Sprache wieder, nachdem er sich – die Friedenszeit hat bereits begonnen – in den „westlichen Teil des Landes“ („the western part of the country“ – also Schlesien) durchschlagen konnte. Endlich vermag er wieder zu sprechen, ein literarischer Indikator, dass er das Schlimmste überwunden hat. Sogar seine Eltern findet er wieder, durch „Glück“ und „Zufall“ (vgl. Kosiński, 249–251) – fast könnte man von einem Happy End sprechen.

Günter Grass und Christa Wolf In seinem Roman Die Blechtrommel (1959)16 hatte Grass bereits viele thematische Tabus (z.B. Flucht und Vertreibung) gebrochen, was ihm die Kritik bis zum Roman Im Krebsgang (2002) immer wieder neu attestierte. Unbemerkt blieb dabei die Überlebensstrategie seines Helden Oskar Matzerath. Diese besteht darin, dass er sich von Anfang an verstellt, indem er Kind bleibt. Das geschieht absichtlich, ist also eine Strategie, die er bis zu seinem Überleben in mehreren Situationen mit Erfolg anwendet, zuletzt im Güterwagen beim Aussiedlertransport von Danzig/Gdańsk nach Düsseldorf. Erst dann beginnt er zu wachsen, das heißt erwachsen und einsichtig zu werden. Seine Verstellung war seine Strategie. Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976) ist ein weiteres Beispiel für unser Thema. Die junge Heldin, Nelly Jordan, wird von ihrer Mutter beim Herannahen der Roten Armee in einen Militär-LKW gehoben, „geschichtsplump“ bekleidet, wie es heißt, was so viel bedeutet wie ohne eigene Strategie, versteckt, nämlich doppelt und dreifach in Röcke, Pullover und Jacken verpackt.17 Die Vierzehnjährige überlebt, gelangt über die Oder nach Westen, während ihre Eltern, von deren Schicksal nichts berichtet wird, zurückbleiben. Christa Wolf lässt sie nicht überleben, waren sie doch regimetreu.

Ilse Langner Auch der Tagebuch-Roman Flucht ohne Ziel (1984) von Ilse Langner (1899–1987) ist eine Geschichte des Überlebens in katastrophaler Zeit.18 Ist dabei Strategie wirksam? Kaum. Der Roman ist voller glücklicher und unglücklicher Zufälle, aber was letztlich 16 17

18

Günter Grass: Die Blechtrommel. Neuwied/Berlin-Spandau 1959. Vgl. Christa Wolf: Kindheitsmuster. Berlin/Weimar 1976. Zit. nach der westdeutschen Ausgabe: Darmstadt/Neuwied 1977, S. 332. – Vgl. Louis Ferdinand Helbig: Der ungeheure Verlust: Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit. 3., um den aktuellen Forschungsstand und ein Register ergänzte Aufl. Wiesbaden 1996 (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 3), S. 136–138. Vgl. Ilse Langner: Flucht ohne Ziel. Tagebuch-Roman Frühjahr 1945. Würzburg 1984. Folgende Zitate im Text unter (Langner mit entspr. Seitenangabe).

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wirksam ist, bleibt unerklärlich. Für Glück oder Unglück gibt es nur unhistorische, ins Metaphysische weisende Erklärungen. Das Rätsel des Weiter-Existierens unter dürftigsten Umständen bleibt ungelöst. Optimistisch spricht Ilse Langner von Erleichterung, „weil wir leben und weil wir das Entsetzliche überstanden haben“; das Vergangene soll vergangen sein; trotz aller materiellen und menschlichen Zerstörungen gibt es eine Zukunft, denn – so schreibt sie – „mit jedem Atemzug saugen wir den Rauch einer neuen Zeit ein.“19 (Langner, 103) Rauch deshalb, weil viel Altes in Flammen aufgeht und Platz macht für Neues. Aber noch ist das Überleben in Flucht ohne Ziel nicht sicher. Die Flüchtenden versuchen, sich „von der unerträglichen Last ihres Erlebens“ zu befreien, indem sie sprechen und klagen, ohne anzuklagen (vgl. Langner, 134). Der Roman spricht aus, was die Menschen damals dachten und was sie für die Jahre nach dem Ende des Krieges auf sich zukommen sahen. Dies war ihre Vision: Nach Kriegsende würden sich die sesshaft gebliebenen Überlebenden gegen die als Flüchtlinge hereinströmenden Überlebenden wenden – für „eine Art Aussatz“ wird man sie halten: das „Unbegreifen Deutscher für Deutsche“ nennt die Autorin diesen historisch belegten Konflikt (vgl. Langner, 147– 149). Nach dem Überleben in der Endphase des Krieges nun am Zufluchtsort zu überleben und ein neues Leben zu beginnen, diese Aufgabe stand den meisten bevor. Sie musste gemeistert werden. Als „leibhaftiger Beweis“, dass andere noch Schrecklicheres erleiden mussten, trifft ein „Gestreifter“, ein „KZ-Mensch“, auf eine Gruppe von Flüchtlingen und verschlingt ein paar Kartoffeln, die man ihm gibt. Ihre Reaktion: „Daß man Menschen so zurichten kann! Und das sollen unsere gewesen sein?“ (Langner, 190f.) Rückschlüsse auf das eigene Überleben werden nicht gezogen. Überleben als Gnade und trotz Schuld – das sind die Höhepunkte des Romans (vgl. Langner, 225–229). Die große Frage, die bleibt: Was soll mit den Schuldigen geschehen? „Würde die furchtbarste Strafe dem zerstörten Menschen den Glanz der Augen, die Fülle des Fleisches, den Reichtum der Seele und die Klarheit der Gedanken wiedergeben?“ (Langner, 228) Das wird man verneinen und auf dem Konto der Tragik verbuchen müssen. Vielleicht deshalb klingen deutlich pessimistischere Töne an: „Ich frage mich jeden Tag, warum wir eigentlich noch leben. Für wen? Zu welchem Zweck?“ (Langner, 248) – so die Erzählerin. Es folgt die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, überleben zu wollen. Diese Sinnfrage schließt bereits die Teilantwort ein, die auf die Warnung abzielt, das einmalig glückhafte Überleben nicht mit dem Überleben auf lange Zeit zu verwechseln. Es handelt sich um eine Rettung auf Zeit, die beispielsweise eine Handleserin erfährt. Man fragt sie: „Können Sie denn ihr eigenes Geschick aus ihren Händen sehen?“ Ihre Antwort, mit einem östlichen Akzent gesprochen, lautet: 19

Vgl. Hermann Lenz: Neue Zeit. Frankfurt/Main 1975. Überlebens-Roman, der den Rückzug in eine verinnerlichte Existenzform im Zweiten Weltkrieg und danach beschreibt: Kultur als Hilfe zum Überleben.

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„Dazu brauche ich meine Hände nicht. Ich weiß es. Ich werde umgebracht werden, entweder erschossen oder ersäuft, […] in nächster Zeit.“ (Langner, 278) Man kann weiter fragen: Aber ist nicht alles Überleben ein Überleben auf Zeit? Bemerkenswert ist, dass diese Frau, eine Tschechin, keineswegs die einzige NichtDeutsche des Romans bleibt. An anderer Stelle heißt es beispielsweise, „belebt sich der Waldweg mit Polen und Ukrainern, den verschleppten Ostarbeitern, die sich zum Zuge in die Heimat sammeln“ (Langner, 349). Noch Strandgut des Krieges, haben wenigstens diese Menschen überlebt. Alle Menschen, gleich welcher Sprache oder Herkunft, hegen diese Hoffnung. Erschütternd bleibt trotzdem die Häufigkeit des Selbstmords im Zweiten Weltkrieg, bekanntlich auf allen Seiten – statistisch eine Unbekannte. Auf jeden Fall wäre zu fragen, was den Selbstmord verursacht und was sich darin ausdrückt: mangelnder Überlebenswille, Vermeidung grausamen Getötetwerdens, ausweglose Verzweiflung, Aufopferung für andere? In Ilse Langners Flucht ohne Ziel begeht nur ein Mensch Selbstmord. Tragischerweise ist es der gerettete KZ-Überlebende, denn, so heißt es: „Er hat seine Rettung nicht überstanden.“ Eine „Flucht ins Paradies“ sei es für ihn. Er wird von den anderen beneidet, „weil er einen Entschluß, der in uns allen geistert, ausführt“ (Langner, 376). Wie ein stilles Einverständnis lesen sich diese Sätze, dass die im Leben Zurückbleibenden diesen Selbstmord als Opfertat verstehen, vielleicht sogar als Aufforderung, in der ‚neuen Zeit‘ das Selbstopfer all derer anzuerkennen und zu ehren, die es geleistet haben – leisten mussten. So gelesen weist Langner aus dem Blickwinkel vom Mai 1945 – nicht nur für Deutschland – in eine Zukunft, die das große Morden nie vergessen wird.

Armin Müller „Ich könnte mir kein schöneres Beispiel denken als das literarische Werk von Armin Müller für die erstaunliche Einsicht, dass die Gewalt der Geschichte schwächer sein kann als die Kraft einer schöpferischen Seele.“20 Mit diesem Satz aus einer Laudatio zu Ehren von Armin Müller (1928–2005), Autor des Romans Der Puppenkönig und ich (1986), findet eines der wichtigsten Werke zum Thema ‚Überleben und Weiterleben‘ eine treffende Würdigung.21 „Irrsinnige Angst war in mir, irrsinnige Hoffnung“ (Müller, 128) – dies empfindet der sechzehnjährige Held des Romans, als er halb verdurstet hinter einem verlassenen Ziehbrunnen die Besinnung wiedererlangt. Er war wie so viele in das ‚letzte Aufgebot‘ 20

21

Eberhard Günter Schulz: Laudatio zur Verleihung des Eichendorff-Literaturpreises 1997 an Armin Müller. In: http://www.armin-mueller.org/stimmen_zu_seiner_arbeit.htm#Laudatio%20-%20Eichendorff-Preis. Stand: 7.8.2010. Armin Müller: Der Puppenkönig und ich. Rudolstadt 1986. Folgende Zitate im Text nach der Neuauflage (Der Puppenkönig und ich. Eine Heimkehr nach Schlesien. Würzburg 1997) unter (Müller mit entspr. Seitenangabe).

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rekrutiert worden, war Soldat, jetzt Gefangener der Roten Armee, und befand sich bis dahin mit hunderten deutscher Mitgefangener auf einem Gewaltmarsch durch Polen in Richtung Sibirien. Es war ihm beim zweiten Versuch gelungen zu fliehen, ganz unstrategisch, denn seine älteren Mitgefangenen hatten den Plan gefasst, doch er kann sich allein in die unwegsamen Wälder retten: „Du hast nicht geträumt. Du bist davongekommen. Nach den Ängsten, die ich ausgestanden hatte, war das eine abenteuerliche, unbegreifliche Vorstellung.“ (Müller, 131) Aber sein Kampf ums Überleben – gegen „die Gewalt der Geschichte“ – ist damit noch lange nicht zu Ende. „Schicksal oder nicht“ (Müller, 86), heißt es – dem sechzehn-, am Ende siebzehnjährigen Helden dieses im wahrsten Sinne des Wortes zugleich deutschen und polnischen Romans ist das gleichgültig. Nachdem er zusammen mit seinem polnischen Leidensgenossen und Freund Staschek, neunzehn Jahre alt, seit 1942 Mitkämpfer und jetzt Deserteur der Armia Krajowa (Heimatarmee), nach Schlesien zurückgelangt ist, erweist sich ihre Vereinbarung als die entscheidende Überlebensstrategie, indem der deutsche, namentlich nicht genannte Erzähler sich ‚Jerzy‘ nennen, aber als Taubstummer ausgeben solle, um sich nicht zu verraten. Diese ist durchgehend erfolgreich. Beide erhalten noch im Gefängnis Papiere, die beweisen, dass Staschek und sein echter Bruder Jerzy, taubstumm nach Misshandlungen durch Deutsche (vgl. Müller, 201), tatsächlich in Rawicz gemeldet waren (vgl. Müller, 264). Aber Stascheks Familie ist tot, der echte Jerzy in einem Heim (vgl. Müller, 287f.). Der deutsche ‚Jerzy‘ dagegen wird mit seinem Wahlbruder bis nach Hause ins schlesische Eulengebirge gelangen, woher er stammt, dann aber doch zu seiner bereits vertriebenen Familie nach Deutschland gehen. Dort wird er weiterleben. Die Bedeutung des ‚Puppenkönig‘-Romans liegt vor allem darin, dass Armin Müller direkt und indirekt die Gemeinsamkeiten im Leiden und Überleben zwischen Deutschen und Polen hervorhebt. Noch während ihrer gemeinsamen Spuren- und Heimatsuche erkennt der deutsche ‚Jerzy‘: „Wir waren wirklich wie Brüder.“ (Müller, 263) Wer denkt hier nicht an die Gedichtzeilen von Winfried Sabais, Tadeusz Różewicz gewidmet, die auf das deutsch-polnische Verhältnis anspielen: „Wir müssen uns leiden. Oder wir sterben.“22 Armin Müllers Staschek und ‚Jerzy‘ – sein deutscher Name kommt im Roman nicht vor – können sich nicht nur leiden, sie verstehen einander, sind wie Brüder, und beide überleben.

22

Heinz Winfried Sabais: Brief von Breslau nach Wrocław. In: Mein Gedicht ist die Welt. Deutsche Gedichte aus zwei Jahrhunderten. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Weyrauch. Frankfurt/Main: 1982, S. 486.

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Zusammenfassung In einem Epilog zitiert der Historiker Tony Judt das italienische Holocaust-Opfer Primo Levi: Nicht wir, [als] die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen […]. Wir Überlebenden sind […] eine […] anomale Minderheit: wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzungen, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrundes nicht berührt haben. Wer ihn berührt, wer das Haus der Medusa erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.23

Nach Levi sind also diejenigen die eigentlichen Zeugen, die danach nicht mehr fähig waren, davon zu sprechen oder darüber zu schreiben. Diese Erkenntnis verdeutlicht, weshalb so viele – wie Levi selbst – noch Jahre nach ihrem Überleben ihrem Leben freiwillig ein Ende gesetzt haben. Bleibt die Frage nach dem Überleben, wenn es keine Überlebenden mehr geben wird, die, der Todesgefahr entronnen, die Nachkriegszeit überlebt haben. Was lebt dann trotzdem weiter, ‚wenn die Erinnerung kommt‘, um noch einmal den Friedländer-Titel zu zitieren? Sind es Erinnerung und Gedächtnis anderer? Das sicher, dann nämlich bleibt doch etwas im kollektiven Gedächtnis, das sich – wie die Erinnerung – freilich dauernd wandelt, und in den Mentalitäten der Zeitzeugen und der Nachgeborenen weiter wirken wird – wie die Erinnerungsorte und die später errichteten Gedenkstätten, viele sind es, die nicht nur in Deutschland und Polen restauriert wurden und werden.24 Weniger greifbar, dafür aber umso eindringlicher, erinnert die Belletristik an das, was geschehen ist und was nie wieder sein darf. Leben, überleben, weiterleben – heute denkt man dabei ebenso an das Menschliche wie an das Menschheitliche, an das „Überleben in der technischen Welt“ angesichts der negativen Aspekte der Globalisierung. War das Überleben zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges vor allem situationsbedingt und in diesem Sinne strategieabhängig, so besteht jetzt die größere Aufgabe darin, gegen die fortschreitende „Automatisierungs-, Nivellierungs-, Funktionalisierungs-, Bürokratisierungs- und Instrumentalisierungsbewegung anzukämpfen.“25 Heute – da sich die Menschheit im Prozess eines Aufeinanderprallens der Kulturen26 und der ärmeren mit der reicheren Menschheit befindet – heute rückt

23 24

25 26

Levi: Die Untergegangenen (Anm. 15), zitiert nach: Judt: Geschichte Europas (Anm. 6), S. 1006. Als Beispiel kann auf den folgenden Bericht verwiesen werden: Michael Meng: From Destruction to Preservation: Jewish Sites in Germany and Poland after the Holocaust. In: Bulletin of the German Historical Institute, Washington/DC 39 (2010), S. 45–59. Klaus Gauger: Ernst Jüngers Essays von 1950 bis 1990: Überleben in der technischen Welt. In: Les Carnets 5 (2000), S. 141–159, hier: S. 143. Vgl. Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996.

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daher eine noch umfassendere Frage an die Stelle des Überlebens: die des Weiterlebens überhaupt. Wie sagte Fritz Stern? – „Ich kann über den Zufall des Überlebens, die Güte des Schicksals nur staunen“ – aber, so ist hinzuzufügen: es kommt trotzdem auf die Strategie an. Die behandelten Romane zeigen, dass die deutsche und die polnische Kriegsund Nachkriegsbelletristik durchaus vergleichbare Verhaltensweisen im Bemühen ums Überleben aufweisen. Das war unser Ausgangspunkt, und dieser soll angesichts der Fülle noch zu untersuchender Werke der vorläufige Endpunkt des vorliegenden Beitrags sein.

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Die große Geschichte und der kleine Mann. – Wolfgang Borcherts und Tadeusz Borowskis Versuch der Auseinandersetzung mit dem Trauma des Krieges

Der Deutsche Wolfgang Borchert und der Pole Tadeusz Borowski stammen aus zwei verschiedenen Ländern, haben den Krieg auf unterschiedliche Weise er- und überlebt (Borchert in Haft und an der Front, Borowski im KZ); ihr unterschiedliches Temperament ließ sie anders über das Erlebte schreiben. Man könnte behaupten, dass die beiden jungen Männer Welten trennen, bei genauerer Betrachtung fallen jedoch mehr Ähnlichkeiten als Differenzen auf: Borchert, Jahrgang 1921, Borowski 1922, erlebten in ihrer Jugend beide eine historische Katastrophe, waren beide zu jung, um deren Mechanismen zu verstehen, schieden beide zu früh aus dem Leben (Borchert starb 26jährig an den Folgen einer Krankheit, Borowski legte mit 29 Hand an sich), um Zeit für eine tiefere Reflexion zu gewinnen und das Trauma der Jugend zu verarbeiten, versuchten aber beide, manchmal sehr schnell, spontan und chaotisch, ihre Überlegungen über das Erlebte niederzuschreiben. In der europäischen Tradition von Descartes und Hegel aufgewachsen, Denkern, die Verstand, Wahrheit und Wissen zu Komponenten des Ganzen und Schritten auf dem Weg zur Erkenntnis desselben erklärten, waren Borchert und Borowski nicht fähig – der kurzen, ihnen beschiedenen Zeit wegen – das Geschehene global, als Ganzes zu erfassen. Deshalb zerstückelten sie die erlebte Welt und konzentrierten sich auf das Detail, den Ausschnitt, das Fragment, die Episode, in dem Glauben, dass die logische Folge der Analyse eine Synthese ist, somit das Verstehen der einzelnen Elemente das Verstehen des Ganzen erleichtert oder gar erst ermöglicht und das Zusammenfügen beziehungsweise Aneinanderreihen der kleinen Elemente das Große herstellen kann.1 Das Unwesentliche, Episodische, Fragmentarische, Flüchtige gewinnt in diesem Verfahren die Bedeutung eines Schlüssels zum Verständnis des Ganzen.2 Die Episode, der Moment, der Ausschnitt können einen auf die Spur bringen, wenn nicht des Ganzen als 1 2

Vgl. Aleksandra Kunce: Punktowe rozczytywanie świata. Rzecz o punkcie amerykańskim. Katowice 2003 (Miniatura i mikrologia literacka 3), S. 205ff. Vgl. ebd., S. 207.

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solchem, so zumindest auf die Spur, wie man das Ganze lesen beziehungsweise verstehen sollte.3 Diese mikrologische Perspektive lässt sich sowohl bei Borchert als auch bei Borowski schon an der Wahl der Handlungsorte ablesen. Beide Autoren grenzen den Protagonisten ein, beschränken seine Welt auf ein Fragment, einen Ausschnitt der großen Welt. Bei Borchert sind es eine Zelle, ein frisch geschaufeltes Grab, ein Bunker, ein Graben, der Gefängnishof, ein Dorf, bei Borowski eine Zelle, ein Zimmer und das KZ, das zwar größer ist als die von Borchert bestimmten Handlungsorte, aber durch Mauern, Stacheldrahtzäune und Wachen aus der großen Welt ausgesondert und von ihr abgegrenzt. In diesen Handlungsräumen sind die Protagonisten nur wenigen Reizen ausgesetzt, werden von der großen Geschichte nicht erfasst, nehmen sehr wenig auf, meist nur das unmittelbar Gegenwärtige. Die bei Borchert dominierenden Formen des einschließenden Kreises oder der einengenden Kugel reduzieren die Zahl der auf den Protagonisten einwirkenden Reize und könnten dadurch dessen Wahrnehmung der Welt erleichtern, was allerdings nicht der Fall ist, weil die Enge nicht das Verstehen begünstigt, sondern eher Unverständnis und negative Gefühle evoziert. Die Zelle ist so leer, dass sie dem Häftling „wie eine Apfelsinenschale“4 mit einer Tür „wie eine Nuß“5 erscheint, es gibt keine Gegenstände, nur ein Lebewesen – ihn selbst. Eine Abwechslung vom mit sich Alleinsein in der Zelle bieten die täglichen halbstündigen Spaziergänge. Auch hier führt Borchert die Kreisform ein, die Häftlinge spazieren im quadratischen Gefängnishof im Kreis und werden somit doppelt eingeschlossen. Diese Form der körperlichen Betätigung sollte Abwechslung bieten, aber das, was am Anfang „[g]anz genießende Gegenwart, Atmen, Sehen, Gehen […], [f]ast ein Fest, ein kleines Glück“6 war, mutiert langsam zur Qual, denn „wenn man monatelang kampflos genießt – beginnt man abzuschweifen.“7 Der Protagonist beginnt, seine 26 im Kreis mitspazierenden Mit-Leidenden zu hassen, als wandernde Leichen wahrzunehmen. Die einzigen ‚Zerstreuungen‘ stellen etwa der Tod des Vordermannes oder der lange geplante und mehrere Male verhinderte Raub einer Hundeblume dar. Bei Borowski ist die im Keller eingerichtete Zelle klein und niedrig, ihre Wände sind feucht. Mehrere Menschen sitzen zusammengekauert auf zwei direkt auf dem Boden liegenden Strohsäcken, an der schiefen, schmalen Tür stehen die mit einem Taschenmesser eingeritzten Daten und Namen der einst in dieser Zelle Inhaftierten. Die Insassen dieser Zelle kranken nicht an Einsamkeit, so wie Borcherts Protagonist dies tut, auf engstem Raum eingepfercht erzählen sie einander ihr Leben, versuchen zu schlafen 3 4 5 6 7

Vgl. ebd., S. 206f. Wolfgang Borchert: Die Hundeblume. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Hamburg 1996, S. 25–39, hier S. 26. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd.

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oder spielen mit selbst gebastelten Karten. An den Klängen erkennen sie, wann neue Häftlinge eingeliefert werden, Menschen, die trotz der Enge willkommene Gäste sind, weil sie berichten, „was sich draußen in der Welt tut.“8 Auch Borowskis Häftlinge haben Ausgang – allerdings nicht so regelmäßig wie die Borcherts, und manchmal ohne Rückkehr. Eine Möglichkeit, die Zelle für kurze Zeit (meist für die Dauer eines Tages) zu verlassen, ist – wie es die Häftlinge nennen – die ‚Untersuchung‘, das Verhör bei der Gestapo. Die andere Möglichkeit, die Zelle zu verlassen, besteht mittels Ausmusterung, die täglich stattfindet. Für jeweils einen oder zwei Männer bedeutet sie den Tod – ihre Namen werden an der Tür genannt, sie selbst in den Korridor gezerrt. Für die Mithäftlinge bedeutet dies zunächst Erleichterung: „Der Appell ist vorbei, der Tag ist um. Zwei Mann weniger!“9 Die einsitzenden Männer beschränken sich auf das Kleine, das Greifbare, das Jetzt: die nächsten 24 Stunden werden ihnen geschenkt, weiter denken sie nicht.10 Werden die Ausgemusterten im Wald exekutiert, können die Übrigen bis zur nächsten Ausmusterung ruhig schlafen. Manchmal verhält es sich anders: „Plötzlich riß uns ein Schuß hoch, der irgendwo ganz in der Nähe fiel. Gleich danach ein zweiter. ‚Offenbar war es ihnen zu weit bis in den Wald. Sie legen sie gleich hier um.‘ Ich fing an zu zählen: ‚Vierzehn… fünfzehn… sechzehn.‘“11 Und dann drängt sich allen die bange Frage auf – welcher Schuss galt ihm, dem kleinen Jungen, der den erwachsenen Männern einen Tag lang in der Zelle Gesellschaft geleistet hatte. Diese sechzehn Schüsse sind Statistik, Zahlen, die Männer versuchen, aus dem globalen Schicksal der Hingerichteten das Eine, Individuelle herauszufiltern, das des kleinen Jungen mit der Bibel in der Hand. Daher die Frage „Welcher Schuß mag ihm gegolten haben?“12 Nicht das Schicksal der Masse, sondern das des Individuums weckt ihr Interesse und Mitleid. Die in Zellen einsitzenden Protagonisten Borcherts und Borowskis sind passiv. Die große Geschichte, von der sie ausgeschlossen werden, spielt sich außerhalb des Gefängnisses ab. Bei Borchert soll die Einsamkeit in der Zelle den Häftling reinigen und auf konkrete Aufgaben im Dienst für das Vaterland vorbereiten. Für die Protagonisten Borowskis ist die Haft auch eine Übergangssituation, ein Schweben zwischen Leben und Tod, ein Warten auf die Entscheidung, ob man in die Freiheit oder in den Tod entlassen wird. Borowski und Borchert zeigen ihre Protagonisten nicht nur in der ihnen aufgezwungenen Passivität, sondern auch bei jenen Tätigkeiten, die junge Männer im Krieg auf Befehl ausgeführt haben. Bei Borchert sind es meist Soldaten, bei Borowski fast immer

8 9 10 11 12

Tadeusz Borowski: Der Knabe mit der Bibel. In: Ders.: Bei uns in Auschwitz. München 1983 (Serie Piper 258), S. 53–67, hier S. 60. Ebd., S. 64. Vgl. die Erinnerungen der Auschwitz- und Ravensbrück-Überlebenden Zofia Posmysz. Interview in: Tygodnik Powszechny 43 (2010). Borowski: Der Knabe mit der Bibel (Anm. 8), S. 66. Ebd.

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Häftlinge im KZ. Auch in diesem Fall sind die Protagonisten auf engstem Raum eingeschlossen – im Schützengraben, im Grab oder im Lager. Borcherts zwei Soldaten graben in Die Kegelbahn ein Loch in die Erde. „Es war ganz geräumig und beinahe gemütlich. Wie ein Grab. Man hielt es aus.“13 In geringer Entfernung heben zwei andere Soldaten ein weiteres Loch aus. Aus diesen Löchern heraus beteiligen sich die Männer an der großen Geschichte. Die vier zu je zwei in einem Loch sitzenden feindlichen Soldaten sehen nur einen auf seinen Kopf mit Nase, Augen und Mund reduzierten Menschen. Sie fühlen, dass diese Menschen leben und die Welt wahrnehmen, also Lebewesen sind, die essen, sprechen, riechen und sehen können. „Meistens kannte man die Menschen gar nicht. Man verstand nicht mal ihre Sprache. Und sie hatten einem nichts getan.“14 Es gibt aber einen, der befiehlt, und einen, der ein Gewehr erfunden hat, das „mehr als sechzigmal in der Minute schoß.“15 Und die Männer schießen auf die Köpfe. Oft, meist in der Nacht, kommen Zweifel und Verzweiflung: der Befehl ist pure Verfügung, aus der Ferne erteilt, weitgehend anonym. Er ist Idee, konzipiert auf hoher Ebene, abstrakt, mit einem klaren Ziel behaftet, global. Seine Umsetzung erfolgt jedoch auf der Ebene des einfachen Soldaten, nicht mehr abstrakt, sondern auf einzelne, im gegenüberliegenden Loch sichtbare Köpfe gerichtet, auf ein ungewisses, unverständliches Ziel, nicht global, sondern auf den Einzelnen bezogen, der „einem nichts getan [hat].“16 Die Folgen einer solchen Betätigung der Soldaten sind entweder der Zusammenbruch, Albträume, Zweifel an Gott oder gespielter Zynismus: „Aber manchmal hat es auch Spaß gemacht[.]“17 Die Idee, dass der Krieg – wie 1920 Ernst Jünger behauptete – eine Nation vereine und in reinigenden Stahlgewittern konsolidiere und festige, bleibt für die in der konkreten Situation befindlichen jungen Männer abstrakt. Sie bewegen sich an der Grenze zur Hysterie – von einem Satz zum anderen flüstern sie, schreien, stöhnen und lachen, von Heldentum, Aufopferung, Nation, Vaterland keine Spur. Ihr Zynismus ist eine aufgesetzte Maske, die überleben hilft, denn als einer ruft „Fertigmachen. Es geht wieder los, [standen] [d]ie beiden Männer [] auf und nahmen das Gewehr.“18 Reflexionen, der Glaube, dass ihr Handeln dem Vaterland diene und dass sie sich an etwas Großem beteiligen, kommen nicht vor. Ein anderer Protagonist Borcherts, den die Kameraden Jesus nennen, stellt eines Tages fest, dass er nicht mehr mitmacht. Seinen Beinamen erhält er, weil er „so sanft aussieht.“19 Seine Kameraden dagegen meinen, dass „er einen weg hat[.]“20 Seine kleine 13 14 15 16 17 18 19 20

Borchert: Die Kegelbahn. In: Das Gesamtwerk (Anm. 4), S. 169f., hier S. 169. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 170. Ebd. Borchert: Jesus macht nicht mehr mit. In: Das Gesamtwerk (Anm. 4), S. 178–181, hier S. 181. Ebd.

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Aufgabe im großen Krieg ist es, Gräber zu schaufeln. Weil es kalt ist, müssen viele der Ruhestätten für die Gefallenen oder Erfrorenen erst vorgesprengt, dann zurechtgeschaufelt werden. Jesus dient als Maß dafür. Tagtäglich sind es mehrere Gräber, die er ausheben und in die er die Toten einklemmen muss, „[w]eil die Gräber zu klein sind. Und die Leute sind manchmal so steif und krumm gefroren.“21 Die Geschichte ist für ihn auf die Gräber und die Toten reduziert, mit denen er Mitleid empfindet, das sich nicht auf die Umstände ihres Todes, ihre Gefühle oder ihr Menschsein bezieht, sondern auf die Ewigkeit. Der Mensch, Jesus genannt, will für die Gefallenen ein gerechtes, nicht zu enges Grab: „Und die Erde ist so hart und eisig und unbequem. Das sollen sie den ganzen Tod lang aushalten. […] Im Frühling kommen nachher überall die Knochen aus der Erde. Wenn es taut.“22 Ihre Ruhe soll nicht gestört werden. Weil die Maschinerie laufen muss, darf es keine Dienstverweigerer geben. Da aber ‚der Alte‘ eine Schwäche für Jesus hat, bleiben seine Weigerung und Flucht ohne größere Folgen: der Alte „brüllt [ihn] zusammen, daß er zwei Tage nichts mehr ißt und redet, und läßt ihn laufen. Dann ist er wieder ganz normal für eine Zeitlang.“23 Da an dem Tag, als Jesus seinen Dienst verweigert, noch weitere Gräber ausgehoben werden müssen, setzen seine Kameraden die Arbeit ohne ihn fort. Es stellt sich heraus, dass ein fehlendes beziehungsweise defektes kleines Element den Lauf des Ganzen nicht stört. Je absurder oder banaler aber die Funktion im Getriebe („Einer muß doch rein [ins Grab], ob es paßt[,]“24 desto mehr wird dieses Element gebraucht. So sehr, dass selbst eine vorübergehende Schwäche nicht allzu hart bestraft wird. Dies zeigt, dass jedem noch so kleinen und unbedeutenden Menschen eine Aufgabe im großen Gefüge der Geschichte zugedacht ist. Die globale Bedeutung ist seine Angelegenheit nicht, er soll im Kleinen funktionieren, seine Gefühle stören mehr oder weniger den Lauf des Kleinen, die Summe solcher Störungen vielleicht das Große. Jesus funktioniert aber und versteht seine Aufgabe auch demgemäß. Er besinnt sich darauf, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das sich um seine Toten kümmert. Und dieser Aufgabe will er gerecht werden. Als einfacher Mensch fühlt er instinktiv, dass, wenn Verstorbene nicht gebührend geehrt werden, also zumindest ein ordentliches Grab bekommen, sie – wie der Anthropologe Louis-Vincent Thomas konstatiert – zurückkehren, zwar nicht in Form eines Vampirs, aber als einer Obsession ähnelndes Schuldgefühl.25 Die Protagonisten Borowskis tun ihren auf Aussondern und Ausmustern beruhenden Dienst in einer größeren Gruppe. Der Zynismus funktioniert auch hier als Maske, allerdings wird die Maske schon so lange getragen, dass sie beinahe mit dem Gesicht ver21 22 23 24 25

Ebd., S. 179. Ebd., S. 179f. Ebd., S. 181. Ebd. Vgl. Louis-Vincent Thomas: Le cadavre. De la biologie à l’anthropologie. Paris 1980. Ich stütze mich auf die polnische Übersetzung des Textes: Trup. Od biologii do antropologii. Łódź 1991, S. 126ff.

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wachsen ist. Borowski zeigt Situationen, in denen die Maske bröckelt und selbst der angelernte Zynismus anderen Gefühlen weichen muss. Während seines Aufenthaltes im KZ und seiner Arbeit als Pfleger sieht der immerhin privilegierte Protagonist tagtäglich lange Kolonnen von Menschen, die auf zwei Wegen in den Wald gehen – ein Weg führt von der Rampe, der andere aus der Krankenstube, beide direkt ins Krematorium. „In der Frühe, wenn ich aufstand, um den Boden zu schrubben, gingen sie – den einen und den anderen Weg. […] Als ich mich zum Mittagessen setzte – es schmeckte besser als zu Hause, gingen sie – den einen und den anderen Weg. […] An warmen Abenden saß ich in der offenen Tür und las Pierre Loti, und sie gingen – den einen und den anderen Weg. […] Nachts trat ich manchmal hinaus, vor den Block […]. Der Weg lag im Dunkeln, aber ich hörte deutlich das entfernte Murmeln von Tausenden von Stimmen – sie gingen und gingen.“27 Der Anblick der in den Tod gehenden Menschenreihen ist etwas dem Protagonisten Vertrautes, aber ab und zu fällt die Maske des Zynismus und weicht Verwunderung und Verzweiflung. An einem freien Sonntag spielt der Protagonist mit seinen Kameraden in der Nähe der Rampe Fußball. Er steht im Tor, mit dem Rücken zur Rampe, der Ball geht ins Aus, er rennt ihm nach und schaut zufällig zur Rampe. Es rollt gerade ein Zug mit einem neuen Transport heran und aus den Waggons steigen Menschen aus. Für den jungen Mann sind sie auf farbige Punkte reduziert, er bemerkt die leichten bunten Kleider der Frauen und die weißen Hemden der Männer, keine Gesichter, keine Körper. Die Menschen gehen langsam Richtung Wald. Der Protagonist kehrt mit dem Ball zurück, das Spiel wird fortgesetzt und der Ball wieder dem Torwart zugespielt. In diesem Moment bleibt der junge Mann wie angewurzelt stehen – und die Rampe ist leer. Er stellt entsetzt fest: „Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast.“28 Während des Fußballspiels vergeht die Zeit schneller als während des Essens oder des Lesens. Erst dieses Spiel macht dem Protagonisten bewusst, wie wenig Zeit benötigt wird, zahlreiche Leben auszulöschen. Dass der Zynismus und die scheinbare Abstumpfung, die den jungen Mann essen, lesen, ruhen, den Fußboden schrubben lässt, während Tausende an ihm vorbei in den Tod gehen, nur eine Fassade bilden, erfährt er wortwörtlich am eigenen Körper, als „[ü]ber dem Wald […] ein roter Feuerschein [glomm] und […] den Himmel [erleuchtete], und 26

27 28

Man denke hier an die Missverständnisse um die Interpretation der Erzählungen Borowskis. Die primitive Kritik, die den Protagonisten mit Borowski gleichsetzte, stellte die These auf, dass sich der Autor selbst als Lagerverbrecher denunzierte und sich vor Gericht zu verantworten habe. Ein anderer Aspekt der Kritik wirft Borowski vor, die Lagerrealität nicht verstanden und eine Faszination gegenüber dem Tod empfunden zu haben, die ihn seiner menschlichen Gefühle beraubt und zum Nihilisten gemacht habe. Selten (vor allem kurz nach dem Krieg) begriffen Einzelne sein künstlerisches Konzept, seine kritische Einstellung und seine eigene Methode des Kampfes mit dem Bösen seiner Zeit. Tadeusz Borowski: Und sie gingen… In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 186–203, hier S. 188. Ebd.

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mit dem flackernden Feuer erhob sich Menschengeschrei.“ Da merkt der junge Mann, dass er die Umwelt, nicht aber sich selbst täuschen kann: „Ich starrte in die dunkle Nacht, stumm, reglos. Alles in mir bebte und zitterte und zuckte – und ich konnte nichts tun. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, obwohl ich jede Zuckung spürte. Ich war vollkommen ruhig, aber mein Körper rebellierte.“30 Er reagiert ähnlich wie die Protagonisten Borcherts, die Kopfschmerzen bekommen und Albträume haben. Die Charaktere Borowskis haben keine Möglichkeit zu fliehen oder den Dienst zu verweigern, wie es den Protagonisten Borcherts manchmal gelingt. In den Tagen der zahllosen Transporte spielt sich Großes ab – die Alliierten landen in Frankreich, die russische Front rückt bis Warschau heran. Und in einem KZ, weit weg von den großen Ereignissen, beobachtet ein Mensch machtlos, wie Tausende ohne Waffe, ohne Auflehnung, ohne Widerstand in den Tod gehen. Es gibt in den Erzählungen Borowskis Situationen, in denen selbst in Zynismus oder kühler Distanz sowie im Verdrängen geübte Menschen zusammenbrechen und ähnlich hysterisch wie die Figuren Borcherts reagieren. Eine solche ist die Ausmusterung auf der Rampe. „Hier ist der Ladeplatz für alles, was nach Birkenau geht. Material zum Aufbau des Lagers und Menschenmaterial für die Gasöfen. Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere: Lastwagen fahren vor, laden Bretter auf, Zementsäcke und Menschen.“31 Als der Transport die Rampe erreicht, sehen die Häftlinge hinter „kleinen vergitterten Fenstern“32 „Gesichter, blass, zerknittert und übernächtigt sahen sie aus[.]“33 Und dann kommt der Befehl: „Also! Los! An die Arbeit!“34 Diese Arbeit bedeutet, Leichen aus den Waggons zu zerren, Güter zu sortieren, Menschen, die zum sofortigen Vergasen bestimmt sind, zu sechzig auf Laster zu befördern, die anderen ins Lager zu begleiten und Zahlen zu notieren: die Massen von Menschen werden auf Zahlen reduziert. Fühlt der Protagonist Borcherts manchmal Mitleid mit den Menschen, die er töten muss, so entbrennt in den Figuren Borowskis Hass auf diejenigen, die ins KZ gebracht werden: „Siehst du, Freund, in mir kocht eine vollkommen unverständliche Wut auf diese Menschen, weil ich ihretwegen da sein muß. Es tut mir gar nicht leid, daß sie vergast werden. Möge die Erde sich öffnen und sie alle verschlingen! Ich könnte auf sie losgehen, auf alle! Wahrscheinlich ist das pathologisch, ich verstehe es nicht.“35 Dies ist ein verständlicher, bereits erforschter Mechanismus, den Psychologen oft bei Mördern und ihren Familien beobachten – das Opfer und die zurückbleibenden Angehörigen werden nicht bemitleidet, sondern gehasst. Der Täter und/oder seine Familie beschuldigen das Opfer – die Untat wäre nicht geschehen, wenn das Opfer zu Hause geblieben, 29 30 31 32 33 34 35

Ebd. Ebd., 188f. Tadeusz Borowski: Bitte, die Herrschaften zum Gas! In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 105– 133, hier S. 111. Ebd., S. 114. Ebd. Ebd., S. 115. Ebd., S. 120.

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in eine andere Richtung gegangen wäre, also zu dem besagten Zeitpunkt sich an einem anderen Ort als der Mörder befunden und ihn so nicht provoziert hätte.36 Borowskis Protagonist versteht seine Gefühle und seinen Körper nicht: „Neue Waggons kommen, wieder Menschen… In meinem Innern überlagern sich die Bilder, ich weiß nicht mehr, was wirklich geschieht und was ich träume. […] Mein Schädel brummt, ich fühle, daß ich mich erbrechen werde.“37 Die Mechanismen, die diese Empfindungen im Protagonisten hervorrufen, wurden von der Wissenschaft untersucht und erklärt. Es heißt, der Mensch neige zu Aggressivität, er sei ein Tier, dem das Töten Spaß bereite, ein Wesen, das für Ruhm, aus Rache oder ganz einfach aus Gefallen an Blutvergießen und Blutrausch töte.38 Die Kultur, die der Mensch geschaffen hat, um das Tierische in sich zu verdrängen, gibt ihm die Möglichkeit, die im Laufe der Zeit erworbene Abneigung gegen das Töten zu beseitigen. Das geschieht, wenn eine Gruppe der eigenen Gattung ausgesondert und als fremde und feindliche Gattung bezeichnet wird, wie zum Beispiel die Juden, die zu Untermenschen erklärt wurden. So kann das allgemein geltende Tötungsverbot vorübergehend durch ein Tötungsgebot ersetzt werden, vornehmlich im Krieg, der dann als ‚gerecht‘ etikettiert werden kann.39 Der im großen Ausmaß funktionierende Mechanismus wird vom einzelnen Menschen meist verstanden, dennoch erfährt er nicht unbedingt Akzeptanz, ganz wie der junge Häftling bei Borowski feststellt: „Ich kann diese plötzliche Mordlust nicht verstehen, die man offenbar bei allen Betrachtungen über Atavismus übersehen hat.“40 Er erkennt korrekt den Kriegsmechanismus, gehört allerdings zu jener Gruppe, die die Umkehrung des Tötungsverbots in ein Tötungsgebot nicht akzeptieren will. Der Krieg, verstanden als legitime Entfesselung der tierischen Instinkte, verursacht Situationen, in denen der Mensch entweder moralische Größe beweist oder tief abstürzt. Der in der Zelle sein Dasein fristende Protagonist Borcherts rettet das Menschliche in sich durch die Sehnsucht nach Liebe, die für ihn ein Stück Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität bedeutet. Die Zelle und die Wächter im Gefängnishof, die aus den Menschen „Latten“41 oder „Glatzen“42 machen, tun dies wahrscheinlich, um das Menschliche in den Menschen zu vernichten und aus ihnen gefügige, leicht lenkbare Marionetten zu machen. Sehnsucht, Liebe, Zärtlichkeit würden die Marionette verderben. Das Bedürfnis, jemanden lieben, für ihn ein Risiko eingehen, mit ihm eine schlaflose Nacht verbringen, ihn beschützen und mit ihm sterben zu wollen, rettet das Humane im Men36

37 38 39 40 41 42

Vgl. David M. Buss: The Murderer next Door. Why the Mind Is Designed to Kill. New York 2005. Ich stütze mich auf die polnische Übersetzung: Morderca za ścianą. Skąd w naszym umyśle kryją się mordercze skłonności. Gdańsk 2007, S. 272. Borowski: Bitte, die Herrschaften zum Gas! (Anm. 31), S. 121f. Vgl. Buss: The Murderer next Door (Anm. 36), S. 112ff. Vgl. Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 223ff. Borowski: Bei uns in Auschwitz. In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 134–185, hier S. 158. Borchert: Die Hundeblume. In: Das Gesamtwerk (Anm. 4), S. 38. Ebd., S. 28.

Borcherts und Borowskis Versuch der Auseinandersetzung mit dem Trauma des Krieges

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schen. Die Bereitschaft zu solchen Empfindungen ist zugleich eine Rückkehr zur Urnatur des Menschen, der Protagonist, der seine Liebe einer einfachen Blume schenkt, fühlt sich wie ein „‚Wilder‘ eines ‚wilden‘ Volkes[.]“43 Diejenigen, die ihn 22jährig in eine Zelle sperren, treiben ihr Unwesen im Namen einer höheren Kultur, der Kultur der Verdrängung und Vernichtung der ‚Wilden‘. Um das im Großen zu erreichen, trachten die Drahtzieher, in jedem einzelnen Menschen die wilden, natürlichen Regungen zu unterdrücken. Derjenige, der auf Gehirnwäsche nicht anspricht, wird von allem Wilden, Natürlichen, Menschlichen isoliert, in der festen Überzeugung, dass sich menschliche Empfindungen eindämmen lassen. Das Gefühl für die kleine gelbe Blume ist für den Protagonisten Bestätigung seiner Menschlichkeit und Rückkehr zur Mutter Erde zugleich: „er fühlte im Schlaf, wie sie Erde auf ihn häuften, dunkle, gute Erde, und wie er sich der Erde angewöhnte und wurde wie sie – und wie aus ihm Blumen brachen […] – winzige, unscheinbare Sonnen.“44 Es ist der unerschütterliche Glaube, dass der einzelne Mensch zwar vernichtet werden kann, sein Opfer aber nicht umsonst ist: aus einem Toten erwachsen viele, zwar winzige und unscheinbare, aber hoffnungsvoll lachende Sonnen. Der Krieg kann den Menschen auch negativ verändern. Borchert zeigt das am Beispiel von im Bunker wachhabenden Soldaten in Die Nachtigall singt. Sieben Männer treten der Reihe nach ihren Dienst an. Timm geht auf seinen Posten, ohne Helm, und wird durch einen Kopfschuss getötet. Sein Freund findet ihn tot, „[s]ein gelbes Gesicht sah nicht gut aus im nachtweißen Schnee.“45 Dann vollzieht der Protagonist etwas Unfassbares: „Da drückte ich Timm mit dem Stiefel gegen die Backe. Am Stiefel war Schnee. Der blieb an der Backe. Der Stiefel drückte eine kleine Kuhle in die Backe. Und die kleine Kuhle, die blieb.“46 Es gibt sicher menschlichere Methoden, den Tod eines Kameraden festzustellen. Auch bei Borowski gibt es Protagonisten, die ihre menschliche Größe beweisen, und solche, die ihren Niedergang erleben. Es sind Episoden, die wie kleine Inseln der menschlichen Würde aus einem Meer von Zynismus, Überlebenswillen, Angst und Niedertracht herausragen. Da gibt es die ältere, grauhaarige Frau, die schon auf der Rampe um ihr Schicksal zu wissen scheint und bis zuletzt aufrichtig bleibt. Und es gibt auch jene junge, durch ihre Schönheit auffallende Frau, die die ihr Rettung bietende Hand wegstößt und freiwillig, solidarisch mit den anderen, in die Gaskammer geht. Unter entgegengesetzten Vorzeichen herausragend sind jene Lagerinsassen, die an der Ausmusterung mitarbeiten und eigene Bekannte, manchmal sogar Familienmitglieder, in die Gaskammer geleiten. Beide Autoren kreierten des Weiteren Episoden, in denen ältere Menschen durch Zurschaustellung ihrer Würde die jüngeren beschämen. Borcherts Timm hatte in Russ43 44 45 46

Vgl. ebd., S. 39. Ebd. Wolfgang Borchert: Die Nachtigall singt. In: Das Gesamtwerk (Anm. 4), S. 183ff., hier S. 184. Ebd., S. 184f.

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land die Geduld verloren und einem alten Mann „in den Hintern getreten. Weil er so langsam war. Und er nahm immer so wenig auf einmal. Sie waren beim Munitionsschleppen. […] Da hat der Alte sich umgedreht. Ganz langsam […] und er hat ihn ganz traurig angekuckt. Gar nichts weiter[,]“47 so als ob der ältere Mann auch in solch einer extremen Situation mehr Solidarität zwischen Menschen erwarte und nicht verstehen könne, dass der Krieg die scheinbar einfache, selbstverständliche Achtung für einen anderen, älteren Menschen zu zerstören vermag. Borowskis grauhaarige ältere Frau meldet sich freiwillig, als niemand die Leichen der während des Transportes verstorbenen Kinder auf dem Auto ins Krematorium mitnehmen will. Auch sie schaut den jungen Protagonisten an und sagt nur „Kind, Kind[.]“48 Diese Episoden schlagen in der Erinnerung der Protagonisten Wurzeln, bleiben allerdings blinde Motive, die von beiden Autoren nicht weiter ausgearbeitet werden. Was der Protagonist Borowskis nur schwer nachvollziehen kann, ist die Tatsache, dass man sich ans Lager, also an das Böse, den Tod, die Entfesselung der primitivsten Instinkte, gewöhnt. Ein aus heutiger Perspektive besser verständlicher Mechanismus – Aggression verursacht Unterordnung.49 Der Protagonist wundert sich, dass das große Mysterium des Todes und das Töten von Massen in der konkreten Situation des Lagers so einfach, so banal sind. Und hier, schau: zuerst eine gewöhnliche Scheune, weiß gestrichen und – darin werden Menschen vergast. Dann vier größere Gebäude – zwanzigtausend, wie ein Kinderspiel. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose. Ein paar Kerle, die den Verkehr regeln, damit es keine Stauungen gibt, und die Menschen fließen dahin wie Wasser aus dem aufgedrehten Wasserhahn. […]. Wie kommt es, daß keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt? […] Siehst Du, das ist die Mystik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner brechen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unsere Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht.50

Beide Autoren versuchen, aus der Perspektive des kleinen Mannes den Sinn des Erlebten zu ergründen. Die Fragen einer Mutter und Witwe nach dem Sinn und dem Warum beantworten bei Borchert ein Leutnant und ein General. Beide führen nur ein Argument an: „Deutschland.“51 Es ist dies die Antwort, die auf die Fragen sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben wird. Bei Borowski ist die Erklärung ein wenig länger: Es war viel Naivität in dem, was ich damals sagte, es war kindisch und selbstsüchtig. […] Trotz allem, was der Krieg mit sich brachte, lebten wir in einer anderen Welt. In einer Welt, die vielleicht erst kommen kann. […] Oder glaubst du, daß wir auch nur einen einzigen Tag im Lager säßen, wenn wir nicht die Hoffnung hätten, daß diese neue Welt einmal kommt und daß 47 48 49 50 51

Wolfgang Borchert: Die lange lange Strasse lang. In: Das Gesamtwerk (Anm. 4), S. 244–264, hier S. 248. Borowski: Bitte, die Herrschaften zum Gas! (Anm. 31), S. 120. Buss: The Murderer next Door (Anm. 36), S. 197f. Borowski: Bei uns in Auschwitz. In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 134–185, hier S. 150f. Borchert: Die lange lange Strasse lang (Anm. 47), S. 253.

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die Menschenrechte wieder zurückkehren zu den Menschen? Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt. […] Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.52

Kant, Hegel, später Treitschke meinten, der Krieg erziehe den Menschen. In den Zeiten des Friedens wird der Mensch träge, kann sich nicht entfalten, im Krieg bringt er Opfer für das Volk und trägt dazu bei, dass es eine höhere Entwicklungsstufe erreicht.53 Die meisten modernen Anthropologen sehen dagegen im Krieg eine vorübergehende Legitimierung entfesselter Instinkte.54 Borchert und Borowski neigen eher der zweiten Erklärung zu. Bei Borchert gibt es den Leierkastenmann, der den fürchterlichen „Brillenmann“55 hervorzaubert und bewegt. Dieser fürchterliche Mann macht ein grünes Pulver, mit dem man „mit einem Löffelchen voll 100 Millionen Menschen totmachen [kann.]“56 Als Leutnant Fischer diesem Brillenmann den Kopf abreißt, holt der Leierkastenmann den nächsten Brillenmann hervor und singt: „Freut euch, […] ich hab doch noch so viele viele weiße Männer[.]“57 Der junge Mann schreit vor Angst, der Leierkastenmann erklärt ihm ruhig das Prinzip: „[E]r wird er wird doch nur bewegt.“58 Von wem – das erfährt der Protagonist nicht. Borowski neigt auch eher dazu, die Antwort in den entfesselten Instinkten zu sehen, ohne eine Erklärung dafür zu finden, wer sie entfesselte, und warnt vor etwas, das bei Borchert von der Angst verdrängt wird und nicht zur Sprache kommt – der Rache der Opfer: Schau doch, wie originell die Welt ist, in der wir leben: Wie wenig Menschen es in Europa gibt, die noch nie einen Menschen getötet haben. Und wie wenig Menschen es gibt, die nicht ein anderer umbringen möchte! Und wir sehnen uns nach einer Welt, in der es wieder Liebe unter den Menschen gibt, wir möchten uns von unseren Instinkten ausruhen. […] Aber zuerst, weißt Du, möchte ich dem einen oder anderen die Gurgel durchschneiden, nur so, einfach um die Lagerpsychose loszuwerden, um den Lagerkomplex zu überwinden, den Komplex des ewigen Mützeziehens, des ohnmächtigen Zusehen-Müssens, wenn wehrlose Menschen erschlagen und ermordet werden, den Komplex der Angst. Ich fürchte, wir werden das alles nie wieder los. Ich weiß nicht, ob wir es überleben, aber ich wünsche, daß wir einmal wieder soweit sind, daß wir die Dinge beim richtigen Namen nennen, wie es mutige Menschen tun.59

Abschließend kann festgehalten werden, dass der Deutsche Borchert und der Pole Borowski, trotz der vermeintlich unüberbrückbaren Unterscheidung von Opfer- und Täternation in ihren jeweiligen literarischen Zeugnissen einander nahe Erfahrungen mit dem Er- und Überleben des Kriegsgeschehens dokumentieren. 52 53 54 55 56 57 58 59

Borowski: Bei uns in Auschwitz. In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 134–185, hier S. 160f. Vgl. Reinhard: Lebensformen Europas (Anm. 39), S. 228. Vgl. Thomas: Le cadavre (Anm. 25), S. 178. Borchert: Die lange lange Strasse lang (Anm. 47), hier S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 263. Ebd. Borowski: Bei uns in Auschwitz. In: Bei uns in Auschwitz (Anm. 8), S. 134–185, hier S. 160f.

MAGDALENA DAROCH

Auschwitz sehen und sterben? – Besuch in einem Konzentrationslager in der deutschen und polnischen Literatur der sechziger Jahre mit Blick auf die Autoren der zweiten und dritten Generation

1978, also ein Jahr vor dem Beginn der Dreharbeiten für seinen Film Shoah, bereiste Claude Lanzmann einige Orte des nationalsozialistischen Verbrechens. In einem Interview aus dem Jahr 2008 beschreibt er seine Eindrücke wie folgt: Ich reiste an und fühlte mich wie eine scharfe Bombe. Ich war geladen mit Wissen und Informationen. Von Warschau reiste ich ins ganz nahe gelegene Treblinka. [...] In das Dorf hineinzufahren, war ein riesiger Schock. [...] Treblinka war für mich eine Legende, kein realer Ort! Und dann fuhr ich zum Bahnhof von Treblinka, auf dessen Gelände alte Dampfeisenbahnen mit Vieh- und Güterwaggons abgestellt waren. Das waren aber keine Museumseisenbahnen oder Mahnmale des hier geschehenen Unheils – es handelte sich um reguläre, in Gebrauch befindliche Eisenbahnen. Schließlich sah ich das jahrzehntealte Schild an der Bahnstation: ‚TREBLINKA‘. Das war der zweite große Schock innerhalb weniger Stunden. [...] Mir wurde in diesem Moment bewusst, dass ich den Zünder für meine Bombe entdeckt hatte. Zwei Energielinien kreuzten sich: die Legende und die Topografie.1

Diese Linien kreuzen sich in allen Texten, auf die ich in meinem Beitrag eingehen möchte. Ihre Autoren (oder die Protagonisten) besuchen eines Tages ein Konzentrationslager. Wozu unternehmen sie solch einen ‚Ausflug‘? Was suchen sie an solchen Orten? Diese Frage taucht in der Erzählung Die Beschneidung von Bernhard Schlink aus dem Jahr 2000 auf: Der Protagonist, ein junger Deutscher, will mit seiner jüdischen Freundin Sarah nach Oranienburg fahren. Der Onkel aus Berlin, bei dem das Paar übernachtet, fragt erstaunt: „Oranienburg? Was wollt ihr in Oranienburg?“ – „Sehen, wie es war[,]“2 lautet die Antwort, als wäre das Konzentrationslager eine Art von Naturschutzpark, in dem man die vor dem Untergang gerettete Welt sehen könnte. Für den Onkel, einen pensionierten Lehrer, ist der Besuch in einem Konzentrationslager sinnlos: „Wie 1 2

Claude Lanzmann: Shoah. Aus dem Französischen von Nina Börsen und Anna Kamp. Reinbek bei Hamburg 2011, S. 293f. Bernhard Schlink: Die Beschneidung. In: Ders.: Liebesfluchten. Zürich 2001, S. 199–255, hier S. 225.

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soll es sein? Es ist so, wie man es sich vorstellt. Ich war vor ein paar Jahren in Auschwitz, und es gibt nichts zu sehen, aber auch gar nichts. Ein paar Backsteinkasernen, Gras und Bäume dazwischen, das ist es auch schon.“3 Er fügt aber noch hinzu: „Es ist alles nur im Kopf.“4 Eine ähnliche Reflexion über die Konzentrationslager von Gestern und Heute finden wir im autobiographischen Roman Ruth Klügers, weiter leben. Eine Jugend: „Gewiß, es zieht auch welche, die ohne Touristenneugier oder Sensationslust kommen, zu den alten Lagern, aber wer dort etwas zu finden meint, hat es wohl schon im Gepäck mitgebracht. So einer war Peter Weiss, als er einen Aufsatz schrieb, in dem er, nach einem Besuch in Auschwitz, das Lager als ‚seine Ortschaft‘ bezeichnet, weil er als Jude verurteilt war, dort zu sterben.“5 Klüger meint den Aufsatz Meine Ortschaft, in dem der Schriftsteller das verarbeitet, was er in Auschwitz während einer Ortsbesichtigung sah.6 Eigentlich gab es schon damals nicht viel zu sehen. Zwanzig Jahre nach der Shoah war das Lager „leer vom alten Geschehen[.]“7 Wie ist auf diese Leere zu reagieren? Wie kann man mit solchen Orten umgehen? Wie benehmen sich Menschen, die als Touristen kommen? Welches Vorwissen bringen sie mit und mit welchen Gedanken verlassen sie die Gedenkstätten? – auf diese Fragen versuche ich anhand der ausgewählten Texte der deutschen, deutschjüdischen und polnischen Autoren eine Antwort zu geben.

Peter Weiss Meine Ortschaft (1964) Der Name Auschwitz, der sich bei Weiss sowohl auf die Stadt als auch auf das Konzentrationslager bezieht, taucht erst im zweiten Teil der Erzählung auf. Diese zwei Komponenten sind, wie bei Lanzmann, nicht voneinander zu trennen und machen das 3 4 5 6

7

Ebd. Ebd. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 2007, S. 75. Im Rahmen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (20.12.1963 bis 20.08.1965) kam es Mitte Dezember 1964 zu einer Ortsbesichtigung des ehemaligen Konzentrationslagers. Weiss nahm an der Reise des Gerichts teil und bearbeitete das, was er in Auschwitz sah, im Text Meine Ortschaft. Er erschien zuerst unter dem Titel Tjugo ar efterat (Zwanzig Jahre danach) in der Zeitung Stockholms Tidningen 1964, ein Jahr später in der deutschen Fassung, zuerst in der Zeitschrift Der Monat (Heft 10, Mai 1965), dann in dem von Klaus Wagenbach angeregten Sammelband Atlas unter dem Titel Meine Ortschaft. Nicht ohne Grund gab Wagenbach seinem Buch einen geographischen Titel – er wollte einen literarischen Atlas verschiedener Städte zusammenstellen. Er bat 43 deutsche Autoren und Autorinnen, Orte, die eine besondere Relevanz in ihrem Leben haben bzw. hatten, zu beschreiben. Somit gingen in diese Erzählungen Städte wie Mainz, Chemnitz, Glogau oder Berlin ein. Weiss konnte zwischen vielen schönen Städten wie London, Stockholm oder Paris wählen, entschied sich aber für eine kleine Ortschaft, in der er nur einen Tag verbracht hat: Auschwitz. Siehe dazu: Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die „Ermittlung“ im Kalten Krieg. St. Ingbert 2000, S. 11f. Klüger: weiter leben (Anm. 5), S. 75.

Auschwitz sehen und sterben?

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Wesentliche des Ortes aus, den Weiss „seine Ortschaft“ nennt. Er fängt mit der Beschreibung des Bahnhofs an: „Auf dem Bahnhof von Auschwitz scheppern die Güterzüge. Lokomotivpfiffe und polternder Rauch, Klirrend aneinanderstoßende Puffer.“8 Diese doch für jeden Bahnhof charakteristischen Geräusche sind jedoch zugleich untrennbar mit der Vernichtung verbunden. Auf dem Bahnhof von Auschwitz sind sie immer noch zu hören, als hätte sich im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre nicht viel verändert und als solle sich in den nächsten Jahrzehnten auch nichts ändern. Man hat das Gefühl, die Zeit stehe hier still. Weiss beschreibt ein statisches Bild, fast ein Stillleben, verwendet dabei kaum Verben: Die Luft voll Regendunst, die Wege aufgeweicht, die Bäume kahl und feucht. Rußgeschwärzte Fabriken, umgeben von Stacheldraht und Mauerwerk. Holzkarren knirschen vorbei, von dürren Pferden gezogen, der Bauer vermummt und erdfarben. Alte Frauen auf den Wegen, in Decken gehüllt, Bündel tragend. Weiter ab in den Feldern einzelne Gehöfte, Gesträuch und Pappeln. Alles trübe und zerschlissen. (W, 200)

Durch diese Beschreibung gewinnt der Ort den Status eines fortdauernden Zustandes. Es könnte die Beschreibung einer der realistischen Landschaftsdarstellungen von Pieter Bruegel sein, der gerne Bauern bei ihrer Arbeit malte. Auf seinem bekannten Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus bemerkt niemand das Drama des Jünglings, das Leben geht weiter, der Bauer arbeitet auf dem Feld, der Kaufmann macht seine Geschäfte auf dem Schiff usw. Weiss beschreibt ein ähnliches Bild – jeder kümmert sich nur um seine Angelegenheiten, macht seine Arbeit und zeigt kein Interesse daran, was sich ein paar Schritte weiter, hinter dem Zaun, abspielt(e). Alle benehmen sich so, als hätte es keinen Krieg, keine Vernichtung und kein Konzentrationslager an diesem Ort gegeben. Nur die Fabriken, Kasernen, Züge, aber vor allem Mauern mit Stacheldraht und Gitter in den Waggons deuten darauf hin, dass wir hier im zwanzigsten Jahrhundert sind. Man muss sich Mühe geben, um auf dem Bruegel’schen Bild den Sturz des Ikarus überhaupt ins Auge zu fassen. Auch bei Weiss „erheben sich die Eisengitter vor der Anlage, die heute zu einem Museum ernannt ist[,]“ (ebd.) erst im Hintergrund, hinter den Siedlungen. Ehe man sich des Charakters dieser Anlage bewusst wird, wird sie sofort entschärft, eben durch die Benennung als Museum. Das hat natürlich Folgen – wie vor jedem Museumseingang verkauft man auch hier Broschüren und Postkarten, der Parkplatz ist voll mit Autos und Bussen, es gibt auch viele Touristen. Weiss ist aber kein gewöhnlicher Tourist und geht an diesem Getümmel vorbei. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die Reste eines niedrigen Gebäudes mit flachem Dach und dem „kurzen dicken viereckigen Schornstein.“ (Ebd.) Die Ruinen sind schon bewachsen mit Gras und erst anhand der Lagerkarte stellt Weiss fest, dass er direkt vor dem Krematorium steht. Er wiederholt das Wort ein paarmal, als wolle er es im Gedächtnis bewah8

Peter Weiss: Meine Ortschaft. In: Ders.: In Gegensätzen denken. Ein Lesebuch, hg. von Reiner Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/Main 1996, S. 198–208, hier S. 200. Im Folgenden im Text zitiert als (W mit entsprechender Seitenangabe).

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ren: „An Hand der Lagerkarte stelle ich fest, daß ich schon vor dem Krematorium stehe, dem kleinen Krematorium, dem ersten Krematorium, dem Krematorium mit der begrenzten Kapazität.“ (Ebd.) Durch die Wiederholungen werden die Ruinen quasi rekonstruiert. Das Benennen hat etwas Beschwörendes an sich. Es macht nichts, dass das Gebäude eigentlich nicht mehr existiert – es existiert im Wort, nicht auf dem Lagerplan und nicht im realen Ort Auschwitz, sondern im Text. Sehr genau und sachlich, mit kurzen, auf ein Minimum reduzierten Sätzen beschreibt Weiss, was er sieht. Und es hört sich wieder sehr statisch an, die Sätze sind erneut ohne Verben konstruiert: Eisengitter vor den kleinen Fenstern des Krematoriums. Seitwärts eine schwere morsche Tür, schief in den Angeln hängend, drinnen klamme Kälte. Zerbröckelnder Steinboden. Gleich rechts in einer Kammer ein großer eiserner Ofen. Schienen davor, darauf ein metallenes Fahrzeug in der Form eines Troges, von Menschenlänge. Im Innern des Kellers zwei weitere Öfen, mit den Bahrenwagen auf den Schienen, die Ofenluken weit offen, grauer Staub darin, auf einem der Wagen ein vertrocknender Blumenstrauß. (W, 201)

Das sprechende Ich nimmt alles wahr, ohne Bezug auf die Vergangenheit zu nehmen. Weiss beschreibt alles, was er gerade sieht, „[o]hne Gedanken. Ohne weitere Eindrücke, als daß ich hier allein stehe, daß es kalt ist, daß die Öfen kalt sind, daß die Wagen starr und verrostet sind.“ (Ebd.) Er vermittelt detailliert, was seine Augen wahrnehmen, will sich dabei als Medium der subjektiven, sprachlichen Vermittlung völlig zurückziehen. Der Text wird dadurch transparent, ohne durch seine Gefühle oder Empfindungen gefiltert zu sein. Der Protagonist sagt z.B.: „Empfinde nichts[,]“ (ebd.) und verzichtet dabei auf das Subjekt, weil nicht seine Empfindungen von Bedeutung sind, sondern das, was er sieht und zu beschreiben hat. Das Gesehene wird zugleich durch sein Vorwissen ergänzt. Peter Weiss kam nach Auschwitz in der Tat mit schwerem Gepäck, mit Informationen und Fakten, die er jetzt mit dem, was er sieht, konfrontiert: „Viel darüber gelesen und viel darüber gehört.“ (W, 202) So fügt er dem von ihm beschriebenen Bild eines Zimmers „mit einem Holzgestell und einem Eisenrohr darüber“ (ebd.) das Bild dessen, was man nicht sehen kann – die Beschreibung der sogenannten Boger-Schaukel – hinzu: „An diesem Eisenrohr hingen sie und wurden geschaukelt und mit dem Ochsenziemer zerschlagen.“ (Ebd.) Dadurch wird erneut im Medium des Textes das Vergangene evoziert. Im zehnten Kapitel seines Buches Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation befasst sich James Edward Young mit den HolocaustGedenkstätten und ihrer Bedeutung. Er schreibt unter anderem: „Allerdings sind die KZ-Gedenkstätten als solche ebenso bedeutungslos wie Fotos ohne Bildunterschriften; ihre Bedeutung ergibt sich zum einen aus dem Wissen, mit dem wir sie betrachten, und zum anderen aus den sie begleitenden erklärenden Texten.“9 Somit könnte man Meine 9

James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke. Frankfurt/Main 1992, S. 270.

Auschwitz sehen und sterben?

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Ortschaft nicht nur als Begleittext zu dem skizzierten Lagerplan, sondern zum Lager überhaupt verstehen. Der Autor dieses Textes erhebt aber keinen Anspruch, als Autorität zu erscheinen und dem Leser alles genau zu erklären. Er stellt sich selbst als Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart in Frage und äußert seine Zweifel: „Was sagt dies alles, was weiß ich davon?“ (W, 202) Es ist etwas Seltsames passiert: Angesichts des festen, realen Ortes scheinen auf einmal die imaginären Bilder wie ausgelöscht zu sein: Ich wusste einmal von diesen Appellen, von diesem stundenlangen Stehen im Regen und Schnee. Jetzt weiß ich nur von diesem leeren lehmigen Platz, in dessen Mitte drei Balken in die Erde gerammt sind, die eine Eisenschiene tragen. Auch davon wußte ich, wie sie hier unter der Schiene auf Schemeln standen und wie dann die Schemel unter ihnen weggestoßen wurden und wie die Männer mit den Totenkopfmützen sich an ihre Beine hängten, um ihnen das Genick zu brechen. Ich hatte es vor mir gesehen, als ich davon hörte und davon las. Jetzt sehe ich es nicht mehr. (W, 203)

Dergestalt wird erneut das Gefühl von Leere transportiert. Muss man also Ruth Klüger Recht geben, die von Konzentrationslagern nicht im Sinne von „Ortschaft[en]“, sondern vielmehr im Sinne von „Zeitschaft[en]“ sprach?10 Nach Klüger ist das Lager, welches Peter Weiss sieht, „leer vom alten Geschehen.“11 Aber indem Weiss dieses Geschehen beschreibt, wenn auch nur um zu sagen, dass er es nicht sieht, macht er es doch sichtbar. Die leeren Konturen des Ortes füllt er mit der Beschreibung des Geschehenen aus und macht dadurch das Vergangene gegenwärtig. Im letzten Moment gelingt es ihm jedoch, den Geist des vergangenen Geschehens in der Baracke zu beschwören. Dort fühlt er die Spuren der Vergangenheit: hier ist das Atmen, das Flüstern und Rascheln noch nicht ganz von der Stille verdeckt, diese Pritschen, in drei Stockwerken übereinander, an den Seitenwänden entlang und entlang des Mittelteils, sind noch nicht ganz verlassen, hier im Stroh, in den schweren Schatten, sind die tausend Körper noch zu ahnen, ganz unten, in Bodenhöhe, auf dem kalten Beton, oben, unter dem schräg aufsteigenden Dach, auf den Brettern, in den Fächern [...], hier ist die Außenwelt noch nicht ganz eingedrungen, hier ist noch zu erwarten, daß es sich regt da drinnen, daß ein Kopf sich hebt, eine Hand sich vorstreckt. (W, 208)

Weiss ist also davon überzeugt, dass nicht die Berge von Kinderkleidern, Schuhen, Zahnbürsten und Prothesen, die als Ikonen der Vernichtung gelten, die Macht haben, das Vergangene zu beschwören, sondern die Gegenstände, denen man keine Aufmerksamkeit schenkt, die nicht so oft reproduziert sind. Zumindest für einen Augenblick, denn „nach einer Weile tritt auch hier das Schweigen und die Erstarrung ein.“ (Ebd.) Der Störfaktor ist an diesem Ort das sprechende Ich: 10

11

„Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher. Heute verschweigen sie oft ebensoviel, wie sie vermitteln.“ Klüger: weiter leben (Anm. 5), S. 78. Ebd., S. 75.

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Magdalena Daroch

Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem Lebenden verschließt sich, was hier geschah. Der Lebende, der hierherkommt, aus einer anderen Welt, besitzt nichts als seine Kenntnisse von Ziffern, von niedergeschriebenen Berichten, von Zeugenaussagen, sie sind Teil seines Lebens, er trägt daran, doch fassen kann er nur, was ihm selbst widerfährt. Nur wenn er selbst von seinem Tisch gestoßen und gefesselt wird, wenn er getreten und gepeitscht wird, weiß er, was dies ist. (Ebd.)

Weiss fängt plötzlich an, von sich selbst wie von einer fremden Person zu reden. Bis zu diesem Zeitpunkt zeigte er sich bereits sehr vorsichtig im Umgang mit der ersten Person Singular, von dieser Zäsur an verzichtet er völlig darauf. In den Texten von Überlebenden wird sehr oft die „Wir“-Form gewählt, um die Zugehörigkeit zu einer besonderen Gruppe hervorzuheben (Primo Levi). Weiss grenzt sich jedoch aus der Gruppe der Menschen, die dort waren und die Grausamkeiten des Lagers erlebt haben, selbst aus.12 Er ist der Lebende, der sich sowohl mit den hier Ermordeten als auch mit den Überlebenden nicht identifizieren kann. Vielleicht verschließt sich deswegen diese „untergegangene[] Welt“ vor ihm. „Hier kann er nichts mehr tun“ (W, 208) – konstatiert er. Und doch tut er es, indem er seinen Text schreibt. Der letzte Satz: „Dann weiß er, es ist noch nicht zuende[,]“ (ebd.) lässt vermuten, dass die Stille nicht endgültig ist. Die Rolle des Mediums, in dem immer wieder die Vergangenheit herbeigerufen wird, übernimmt der Text, auch wenn sein Autor die Vergegenwärtigung beständig negiert. Somit ist es von untergeordneter Bedeutung, ob Weiss beschreibt, was er nicht sieht, oder ob er über das Gesehene reflektiert. Der Schreibprozess führt zur Entstehung eines einheitlichen Textes, einer Ganzheit aus sichtbaren Buchstaben, Worten, Sätzen, die Träger bestimmter Bedeutungen, also Vorstellungen und Erlebnisse sind. Und darin manifestiert sich auch die uralte Kraft der Literatur: Man muss nicht unbedingt nach Auschwitz fahren, um etwas über die Shoah zu erfahren, das Wissen steckt in den Texten über sie. Einer von ihnen ist der Text von Peter Weiss.

Tadeusz Różewicz Wycieczka do muzeum (Ausflug ins Museum, 1959) Der Aufsatz von Peter Weiss unterscheidet sich von den anderen von mir gewählten Texten vor allem dadurch, dass der Ich-Erzähler, der mit dem Autor identisch ist, durch die Teilnahme an den Frankfurter Auschwitz-Prozessen so nahe am Geschehen war. Seine Reise nach Auschwitz war deshalb kein Ausflug im üblichen Sinne, sondern eine Ortsbesichtigung. Aus einer ganz anderen Perspektive wird die Erzählung Wycieczka do muzeum (Ausflug ins Museum, entstanden 1959, herausgegeben 1966) des polnischen Dichters und Schriftstellers Tadeusz Różewicz erzählt.13 Der erzählerische Blick liegt in der Erzäh12

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Ähnliche Gedanken finden wir in Lothar Schönes Erzählung aus dem Jahre 1996: „Was hatte ich hier verloren? Ich gehörte nicht hierher. Ich war doch nur ein Tourist, der anschließend seine Ansichtskarten schreiben wollte.“ Lothar Schöne: Das jüdische Begräbnis. Köln 1996, S. 99. Vgl. auch den Aufsatz von Stanisław Gębala in diesem Band, der sich ausführlich mit Różewiczs Schaffen beschäftigt.

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lung auf der Gruppe der ganz durchschnittlichen Besucher, die massenhaft in das Museum Auschwitz strömen. Różewicz interessieren in Auschwitz nicht seine Eindrücke (die hat er in zahlreichen Gedichten, beispielsweise Kleiner Zopf, beschrieben), sondern das Verhalten der Menschen, die, worauf der harmlose Titel schon hinweist, eines schönen Tages einen Ausflug nach Auschwitz machen. Weder dieser Name noch das Wort ‚Konzentrationslager‘ tauchen in der Erzählung auf. Die Rede ist von einem Museum. Dadurch wird der Ort des Todes und des Schreckens verharmlost und irgendwie gebändigt, sodass er auf einmal auch den zahlreichen Familien mit Kindern problemlos offensteht. Aus ihrer Perspektive ist Auschwitz nicht mehr die öde, zerschlissene Landschaft, die Weiss beschreibt, sondern entpuppt sich als buntes, sonniges, beinahe idyllisches Bild. Die alten Baracken sind schon längst bewohnt, in den Fenstern hängen weiße Gardinen und stehen Blumentöpfe. Das Wetter ist herrlich. Vergleicht man die Erzählung mit dem Text Meine Ortschaft, stellt sich heraus, dass die beiden Schriftsteller dieselben Stationen des Schreckens beschreiben (den Galgen, die Schaukästen voller Haar, die schwarze Wand, Blockführerstube, Krematorium und das Küchengebäude, (Różewicz fügt noch den Kinosaal hinzu,) aber der polnische Dichter übernimmt in seinem Text den Standpunkt eines nicht beteiligten Beobachters. Ohne zu moralisieren beschreibt er das Verhalten der Menschen, für die Auschwitz ein ‚normales‘, wenn man in diesem Kontext diesen Begriff überhaupt verwenden kann und darf, Ausflugsziel darstellt. Różewicz zeigt Menschen, die sich nicht bewusst sind, dass sie sich an einem doch besonderen Ort befinden, für sie ist Auschwitz eben ein Museum wie jedes andere, mit mal mehr, mal weniger interessanten Besichtigungsräumen und Exponaten. Das übliche Museumsgeschäft fängt schon vor dem Eingang an, wo eine Frau Broschüren und Prospekte mit Fotos des Lagers und Kurzbeschreibungen verkauft, als handle es sich um eine kommerzielle Ware, für die geworben werden muss: „Hier ist alles drin [...]. Alles genau beschrieben. Das lohnt sich fürs Geld.“14 Die Besucher überlegen laut, was sie kaufen und was sie wählen sollen: Auschwitz oder Birkenau, welcher Ausflug ist überhaupt die Mühe wert: „‚In Birkenau gibt es überhaupt nichts zu sehen, reineweg nichts. Ich weiß nicht, ob es sich lohnt, da hinzugehen.‘“ (R, 119) An dieser Stelle möchte ich erneut kurz auf den Text von James E. Young eingehen, in dem er über die Bedeutung der Holocaust-Gedenkstätten reflektiert: Die Gedenkstätten von Majdanek und Auschwitz, die nach dem gleichen rhetorischen Prinzip funktionieren wie die Fotografie, bei der Darstellung und Objekt scheinbar eins sind, wirken bedrückend und quälend auf den Betrachter, und das nicht nur wegen der Ereignisse, an die sie

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Tadeusz Różewicz: Ausflug ins Museum. In: Ders.: In der schönsten Stadt der Welt. Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Roswitha Matwin-Buschmann. München und Wien 2010, S. 114–125, hier S. 114. Im Folgenden im Text zitiert als (R mit entsprechender Seitenangabe).

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erinnern, sondern auch, weil sie den Betrachter zwingen, die grauenhafte Tatsache zu akzeptieren, daß das, was dort gezeigt wird, ‚real‘ ist.15

Das Konzept des Erlebens des Grauens an einem realen Ort unterscheidet sich fundamental von dem, was Różewicz in seiner Erzählung zeigt. Seine Museumsbesucher sind nicht nur nicht deprimiert, sondern sie scheinen echten Spaß an dem Ausflug zu haben: die Erwachsenen sonnen sich, essen, unterhalten sich miteinander, scherzen und lachen, die Kinder langweilen sich: „‚Mutti, hier gibt’s gar nichts zu sehen. Das soll ein Museum sein? Ich will hier weg, wann fahren wir endlich?‘“ (R, 116) Sie besuchen das Gelände unreflektiert, suchen nach etwas Besonderem: „‚Wo ist denn nun dieser Galgen, Frau?‘ […] ‚Wo sind denn diese Haare? Die haben gesagt, daß hier Haare sind[.]‘“ (Ebd.) Der im Museumskino gezeigte Film macht auf sie auch keinen Eindruck. Der Film ist ja doch schon alt, es sind nur schwarz-weiße Bilder, die alle kennen: „Häftlinge. Leichen. Krankenschwestern. Lebende Leichname. Und wieder ganze Leichenberge.“ (R, 115) Die Besucher sind sogar von dem Museum enttäuscht, weil sie etwas Außergewöhnliches erwartet haben, stattdessen sehen sie nur ganz normale Räume, Exponate und Objekte, die sie von ihrem Zuhause kennen (z.B. die Haarbürsten, Schuhe, Brillen), mit einem kleinen Unterschied jedoch: hier im Museum sind sie sehr zahlreich. Die Menschen erwarten von Exponaten im Museum, dass sie wertvoll und außergewöhnlich sind, und hier sehen sie lauter alltägliche, kaputte, abgenutzte Gegenstände. Diese Menschen sind nicht imstande zu begreifen, dass dieses Museum zugleich eine Gedenkstätte ist, deren Wert sich nach völlig anderen Prämissen bemisst, und die nach ganz anderen Prinzipien funktioniert. Manuel Köppen fasst kurz den Unterschied zwischen Gedenkstätte und Museum zusammen: „Gedenkstätten leben von der ‚Magie des Ortes‘, von dem ‚hier ist es geschehen.‘ Museen können solche Orte zitieren oder Objekte an ihre Stelle setzen: wie etwa einen Viehwaggon, durch den die Besucher geschleust werden, um ihnen zumindest noch einen entfernten Schauder des ‚Authentischen‘ zu vermitteln.“16 Ähnliches konstatiert auch Young, der über das Wesentliche solcher Orte schreibt: Beide Lager [Auschwitz und Majdanek] sind im wesentlichen so erhalten geblieben, wie die Russen sie vor vierzig Jahren vorgefunden haben. Wachtürme, Stacheldraht, Baracken und Krematorien, die anderswo abstrahiert, ja sogar mythologisiert werden, stehen hier greifbar in ihrer Unversehrtheit. Nur die körperlose Zeit scheint zwischen dem Betrachter und den Realitäten der Vergangenheit zu vermitteln, die durch diese Artefakte nicht nur re-präsentiert werden, sondern in ihnen präsent sind.17

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Young: Beschreiben des Holocaust (Anm. 9), S. 270. Manuel Köppen: „Von Effekten des Authentischen – Schindlers Liste: Film und Holocaust“. In: Bilder des Holocaust, hg. von Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe. Köln 1997, S 145–165, hier S. 155. Young: Beschreiben des Holocaust (Anm. 9), S. 270.

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Für die Besucher aus Różewiczs Erzählung sind diese Artefakte jedoch weder RePräsentation noch Präsentation der Vergangenheit. Stattdessen überdecken sie die Vergangenheit und treten an ihrer Stelle auf. Die Menschen sehen die Dinge isoliert von der Tragödie ihrer Besitzer. Wenn sie schon eine Art von Verbindung mit einem Menschenschicksal herzustellen vermögen, dann ist es immer eine vereinfachte Reflexion gekennzeichnet durch Erfahrungen aus ihrer nächsten Umgebung bzw. gefärbt durch persönliche Erlebnisse und Vorlieben. Beim Anblick der Beinprothesen seufzt beispielsweise eine Frau: „Um Himmels willen! Wie kann man bloß so eine Schiene tragen[,]“ (R, 88) und ein anderer Herr macht einen Scherz: „Guck mal, das Damenbeinchen da, nicht übel.“ (Ebd.) Was den Leser zutiefst erschüttert, ist die gewonnene Überzeugung, dass sie es aber nicht böse meinen, sie sind einfach so und können nicht anders. Der Gruppenführer versucht die Menschenmasse irgendwie zu bändigen, an ihre Vorstellungskraft zu appellieren, indem er alles systematisiert und in Zahlen fasst. Aber auch er muss mit seinen Bemühungen scheitern, weil die Zahlen einfach zu abstrakt sind. Der Führer, der selbst ein ehemaliger Häftling ist, ist machtlos und sprachlos angesichts dessen, was hier geschah. Er gibt auf und sagt: „Das übersteigt die menschliche Vorstellung, es läßt sich mit Worten nicht schildern, Sie müssen es sich schon allein ausmalen.“ (R, 119) Das Schweigen des Gruppenführers steht im scharfen Gegensatz zu dem ständigen Geplapper der Menschenmasse: „‚Grażynka, Grażynka, hierher, zur Mami!‘“ „‚Möchtest du eine Praline?‘“, „‚Du hast dich ja ganz vollgeschmiert.‘“ „‚Mutti, wo ist denn das Kino?‘“ (R, 117f.) usw. Die Exponate, die ungefähr zwanzig Jahre alt sind, sind für die Menschen wie Fossilien, „[w]ie ein ausgegrabenes Nashorn, in grauer Vorzeit krepiert und jetzt ans Tageslicht geholt.“ (R, 121) Nur die Fotos der Ermordeten, die an der Wand einer Baracke hängen, zeigen Gesichter, die „ununterbrochen Leid [verströmten], ein Leid, das es im Museum nicht mehr gab.“ (Ebd.) Diese Gesichter hängen da Tag und Nacht und beobachten die Besucher. Hier wechselt der Erzähler die Perspektive, die Rollen werden vertauscht. Jetzt werden die Besucher zu Exponaten, die nicht nur von den an den Wänden hängenden Gesichtern, sondern auch durch das Guckloch des Textes von den Lesern beobachtet werden. Und vielleicht erkennt sich der Leser in ihnen wieder. Und das ist ja das Grausame aber zugleich Fruchtbare an diesem Text: der Leser stellt sich während und nach der Lektüre die Frage, ob er nicht auch einer von jenen ist. Und noch etwas anderes beunruhigt: Das Vernichtungslager ist ein so angenehmer, sauberer und ästhetischer Ort geworden: „Im Lichte der Herbstsonne fiel das Laub von den Bäumen. Die Blocks waren renoviert und sauber.“ (Ebd.) Das Leben geht weiter. Ein Mädchen hüpft fröhlich, eine schwangere Frau schiebt den Kinderwagen, in dem ein Säugling schläft. Leute strömen aus dem Museum, steigen in die elektrischen Züge ein und fahren in eine ganz andere Richtung als diejenigen, die vor 20 Jahren hierher in Viehwaggons kamen.

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Ein optimistisches Ende? Dies wäre nach meiner Auffassung eine vorschnelle Vermutung. Auf den Ruinen von Vernichtungslagern entsteht zwar neues Leben, aber die idyllische Landschaft wird durch den Rauch der großen Fabriken zerstört und der rot beleuchtete Himmel beunruhigt auch ein wenig. An einem anderen Gleis scheppert ein Güterzug Richtung Auschwitz. Vielleicht ist der Text eher als eine Erinnerung, eine Warnung zu lesen. Es ist noch nicht zu Ende, wie Weiss am Ende seines Textes feststellt.

Andrzej Brycht Wycieczka: Auschwitz-Birkenau (Ausflug: AuschwitzBirkenau, 1966) Diese Erzählung ist 1966 entstanden. Der Protagonist, ein junger, 27jähriger Literat, ist wegen seines ständigen Geldmangels gezwungen, den heißen Juli 1963 in der Stadt (Warschau) zu verbringen. Zu seinem Glück lernt er ein hübsches, 17jähriges Mädchen namens Jola kennen, das zu seiner Freundin und Sponsorin wird. Jola gibt in den Sommerferien viele Nachhilfestunden und kann sich einen Urlaub leisten, muss jedoch auch im August arbeiten und schickt ihren Freund allein in den Urlaub. Der Mann gibt das Geld schnell für Wodka aus, schämt sich, es seiner Freundin zu gestehen, und entschließt sich, für eine Woche irgendwo unterzutauchen und so tun, als ob er im Urlaub wäre. Er begegnet seinem Kumpel Robert, der gerade eine Reise nach Oświęcim vorhat, um seinen anderen Kumpel mit dem Auto dorthin zu bringen. (Anders als im Titel wird im Laufe der Erzählung nur der polnische Name von Auschwitz, Oświęcim, verwendet). Der Kumpel, ein Dichter mit dem Decknamen Groszek, muss sich dort unbedingt mit einem Regisseur treffen, der dort gerade einen Film dreht. So begeben sich alle drei mit einem alten Wagen auf die Reise. Sie soll ein Sommerabenteuer sein, das Auto, die Schnelligkeit gibt ihnen das Gefühl, richtig frei zu sein. Nur Robert, dem der Wagen gehört, ist der Spielverderber, indem er versucht, das Gespräch während der Fahrt auf das Konzentrationslager zu lenken. Auf einmal fragt er z.B.: „Hast du die Höß-Tagebücher gelesen?“18 Der Protagonist will seinen Kumpel auf den Arm nehmen und täuscht Ignoranz vor, was die beiden aus der Fassung bringt: „Du, Schriftsteller, weißt nichts von Oświęcim?“ (B, 19) In der ersten Nacht in Oświęcim schläft der Protagonist sehr schlecht und hat einen seltsamen Alptraum: Ein brennendes Haus, ganz oben im Fenster steht seine Freundin und schreit etwas, aber er kann sie nicht verstehen. Der darauffolgende Tag fängt nicht besser an: Jerzy, der Kameramann, zeigt den jungen Männern ein Krematorium und erzählt ihnen, wie die Deutschen einmal dreihundert Mädchen darin bei lebendigem Leib verbrannt haben, weil die Krematorien überfüllt waren. Der Protagonist fühlt sich überfordert und gibt zu: „Der Ausflug machte mir keinen Spaß, gar keinen.“ (B, 28) 18

Andrzej Brycht: Wycieczka: Auschwitz-Birkenau. In: Ders.: Dancing w kwaterze Hitlera. Warszawa 1967, S. 5–74, hier S. 19. Übersetzt von der Verfasserin. Im Folgenden im Text zitiert als (B mit entsprechender Seitenangabe).

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Am liebsten würde er sofort zurückfahren, der Ort macht ihn kaputt: „Es stinkt nach Leichen. Es ist schlimmer als ein Friedhof, denn auf dem Friedhof, ja klar, hat jeder etwas eigenes, und die Knochen sind mit einem schönen Stein zugedeckt, und hier keine Spur, das bringt mich durcheinander.“ (B, 31) Die Stadt sieht ganz anders aus als bei Różewicz dargestellt: „Seltsam ist diese Stadt, trüb, es riecht nach Friedhofs-Blättern, und Brzezinka ist ganz in der Nähe, wie können die Leute hier wohnen?“ (B, 32) Der Protagonist sieht das, was Różewicz beschrieben hat, aber er findet das nicht so natürlich und normal. Er will aber nicht zeigen, wie es ihm wirklich geht. Äußerlich bleibt er locker und gelassen und provoziert seine Freunde mit seinem Benehmen. In Oświęcim will er lieber ausländische Autos als den Galgen sehen und hat keine Lust, durch das lächerliche Tor aus Draht zu gehen. Dem Motiv des Besuches in einem Lager fügt Brycht eine neue Komponente zu und schildert, wie man dort einen Film dreht (eine ähnliche Szene finden wir in Robert Schindels Roman Gebürtig von 1992). So ist Brzezinka (Birkenau) wieder voll mit mageren Menschen in gestreiften Häftlingsanzügen, wieder hört man Schreie, aber es sind nur Statisten, der Schlamm ist künstlich, die Peitschen der SS-Männer sind fadenscheinig, nur ein paar Requisiten aus Auschwitz sind authentisch. Man will gerade „eine spannende Szene“ und „eine effektvolle Selektion an der Rampe“ (B, 26) drehen. Die Zuschauer werden bestimmt ergriffen sein, aber Robert hat Bedenken und zweifelt, ob es wirklich so aussah: „Ich habe es mir anders vorgestellt.“ (B, 27) Da antwortet ihm der Mann, angeblich Regisseur dieses Films: „Jeder stellt sich das anders vor, und deshalb drehen wir den Film, damit jeder, der nach Wahrheit sucht, sie sehen kann.“ (B, 28) Auf die Frage, woher er wisse, wie es war, sagt er: „Weil ich hier war, meine Herren [...], vier Jahre lang, meine Herren.“ (Ebd.) Der Mann hat bestimmt gute Absichten, aber aus heutiger Perspektive, nach einer enorm großen Zahl von Filmen, die angeblich alle eine sogenannte Wahrheit zeigen (Schindlers Liste, Holocaust, Das Leben ist schön usw.) muss man sich fragen, ob Brycht vielleicht nicht die Geburtsstunde des großen Fehlers porträtiert hat, nämlich die Zerstörung der Imagination durch die Bilder. Wenn dreißig Jahre später Maxim Biller, Bernhard Schlink oder Lothar Schöne nach Auschwitz kommen, haben sie nicht das Gefühl, dass der Ort erschütternd ist, weil sie sich schon daran gewöhnt haben, eben durch diese reproduzierten Bilder. Maxim Biller beschreibt in seiner im Titel meines Referates angeführten Erzählung Auschwitz sehen und sterben eine Gruppe junger deutscher Juden, denen es „in Auschwitz I [...] nicht besonders [gefiel,]“19 weil das, was sie sahen, sie überhaupt nicht überrascht hat. Die Aufschrift über dem Tor, Kleiderberge hinter den Glasscheiben, Haufen von Schuhen, Tausende von Brillengestellen ließen die jungen Menschen kalt: „Diese Affekten-Sammlung berührte uns nicht sonderlich, wir kannten das schon von Fotografien.“20 Auch in Auschwitz II, also Birkenau, ent19 20

Maxim Biller: Auschwitz sehen und sterben. In: Ders.: Die Tempojahre. München 1991, S. 115– 131, hier S. 120f. Ebd., S. 121.

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deckten sie nichts Neues: „ein KZ, wie wir es uns vorgestellt hatten, mit Stacheldraht, Holzbaracken, Wachtürmen, Vernichtungs-Apparaturen und der berühmten Selektionsrampe[.]“21 Was aber dennoch Eindruck auf sie machte, war der Rasen, „der hier überall still und friedlich wuchs und der dem ganzen Lagergelände etwas schrecklich Naturhaftes und Übernormales verlieh, gerade, wenn man daran dachte, was hier früher gewesen war: kein Gras, nur Matsch und Blut.“22 Erst als die üblichen Bilder der Vernichtung verschwinden, ist eine Art von Erkenntnis und Anteilnahme möglich. Auf die Protagonisten aus Brychts Erzählung macht das Lager wiederum großen Eindruck, weil hier nicht der Wiedererkennungseffekt, sondern die Erkenntnis auftritt.23 Zum ersten Mal sehen sie die Exponate in diesem Museum und wundern sich, wie man ausgerechnet aus diesen Sachen Exponate machen konnte. Sie sind nicht aufgewachsen mit den Bildern von Haar-, Koffer- und Brillenbergen und mit Auschwitz als Weltkulturerbe auf der Liste der UNESCO. Sie sind wirklich geschockt, weil sie sich bewusst sind, wie dünn die Grenze zwischen dem Lager und dem Museum Auschwitz ist. Das spürt vor allem Robert, der sich alleine entfernt: „Dort, hinter der Wand, habe ich euch aus den Augen verloren, und der ganze Schein von Normalität, verursacht durch diese Filmlastwagen, war weg, und ich fühlte mich, als ob ich selbst Häftling wäre und als ob das Lager wirklich lebte, ich hörte Geräusche und das Geflüster der zusammengeballten Körper und ich musste zurück zu euch.“ (B, 40) Als der Protagonist wieder in Warschau bei seiner Freundin ist, muss er feststellen: „der Ausflug ist noch nicht zu Ende, nein, im Gegenteil, erst jetzt fängt er an, ich dachte, mein Gott, erst jetzt.“ (B, 55) Von jetzt an beginnt der Protagonist, sich selbst anders wahrzunehmen: Er fühlt sich aufs Körperliche reduziert, „Fleischhaufen, so leicht kaputtzumachen, zu verbrennen innerhalb von fünf Minuten.“ (B, 55) Als er mit seiner Freundin im Bett liegt, denkt er daran, dass ihr Haar vielleicht dem Haar der dort bei lebendigem Leib verbrannten Mädchen ähnelt, oder dass auch ihr Haar in dem Schaukasten im Museum liegen könnte: „jedes Mädchen könnte Jola sein [...], wie viel wunderbare Frauen, wie viel Liebe, wie viel Glück dort verbrannt wurden, vielleicht auch mein Glück, meine größte Liebe hat man dort zu Kohle verbrannt [...], Liebe, die ich nie kennenlernen werde.“ (B, 56) Er projiziert die Bilder von Auschwitz auf sein eigenes Schicksal und sieht sich selbst, seinen Sohn und seine Freundin als Häftlinge im Lager. Sein bisheriges, sorgloses Leben ist ins Wanken geraten:

21 22 23

Ebd., S. 122. Ebd. Ähnlich schreibt auch Manuel Köppen: „In zunehmendem zeitlichen Abstand zu dem, was die Bilder repräsentieren, und in ihrer Wiederholung tendieren die Bilder dahin, das zu verbergen, was sie dokumentieren sollen. Der Wiedererkennungseffekt [...] beginnt die Referenz der Bilder auf einen symbolisch denotierbaren Inhalt zu nivellieren. Die ‚Zeichen‘ für den Holocaust werden eindeutig identifiziert, während gleichzeitig das mögliche Vorstellungsbild schwindet.“ Köppen: Bilder des Holocaust (Anm. 16), S. 146.

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Ich werde nie mehr das Gefühl der Ganzheit der Welt erfahren, der Welt wird es immer an einem von diesen dreihundert verbrannten Mädchen fehlen, auch wenn es das kleinste und hässlichste sein sollte [...]. Dreihundert Ziegelsteine sind weggenommen aus dieser Mauer, weil ich vor der Welt wie vor der Mauer stand, nicht wissend, was sich dahinter verbirgt, und die Mauer hörte auf, Mauer zu sein, nur Schmuck, Ornament der Ewigkeit, der kalten, grausamen. (Ebd.)

So verlässt er seine Freundin und will noch einmal an den Ort fahren, verpasst aber seinen Zug und sitzt in der letzten Szene des Buches in einem Bahnhofsbistro und fängt eben an, die Erzählung zu schreiben, die wir als Leser gerade beenden. Somit sind wir mit ihm in eine Zeitschleife geraten: Von Anfang an werden wir lesen, dass er eines heißen Julitages in Warschau sitzt und kein Geld für den Urlaub hat. Und er wird nach Oświęcim fahren und alle weiteren Stationen durchleben usf. Auf diese Weise wird sich das Konzentrationslager ständig wiederholen.

Konzentrationslager im Blick der Autoren der zweiten und dritten Generation Der Onkel aus der am Anfang meines Beitrags zitierten Erzählung von Bernhard Schlink wundert sich, dass sein Neffe nach Oranienburg fahren will. Der Neffe traut sich wiederum nachher nicht zu sagen, „daß es ihm in Oranienburg tatsächlich so ging, wie sein Onkel vorausgesagt hatte. Was er sah, war nicht erschütternd. Erschütternd war, was im Kopf geschah.“24 Die Frage bleibt also vorerst ungeklärt: Was geschieht in den Köpfen der Menschen der zweiten und dritten Generation, die durch ein ehemaliges Konzentrationslager laufen? Die jungen Menschen aus der Erzählung Auschwitz sehen und sterben benehmen sich ähnlich wie die Touristen aus Różewiczs Wycieczka do muzeum: sie texten einen Holocaust-Rap, planen Einkäufe für den nächsten Tag, Jungen laufen hinter Mädchen her, scherzen usw. Aber sie sind sich der Tatsache bewusst, dass ihr Verhalten unpassend ist, und geben zu: „[D]ann hatten wir alle auch schon genug von unserer Despektierlichkeit und Lästerei, welche ohnehin nur dem Selbstschutz gedient hatten, und so beschlossen wir, für eine Weile zu schweigen.“25 Michael, der Protagonist des wohl bekanntesten Romans von Schlink, Der Vorleser, wird als Jura-Student mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert, als er im Gerichtssaal seine ehemalige Geliebte, ehemalige Aufseherin in einem Konzentrationslager, wiedersieht. Um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, will er den Ort der Vernichtung sehen, sich eine Vorstellung von ihm machen. Er sagt über sich selbst und seine Generation: „Wenn ich heute an die Jahre damals denke, fällt mir auf, wie wenig Anschauung es eigentlich gab, wie wenig Bilder, die das Leben und Morden in den Lagern vergegenwärtigten. Wir kannten von Auschwitz das Tor mit seiner Inschrift, die 24 25

Schlink: Die Beschneidung (Anm. 2), S. 228f. Biller: Auschwitz sehen und sterben (Anm. 19), S. 122.

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mehrstöckigen Holzpritschen, die Haufen von Haar und Brillen und Koffern, von Birkenau den Eingangsbau mit Turm [...].“26 Michael will also nach Auschwitz fahren, um „die Klischees mit der Wirklichkeit aus[zu]treiben.“27 Er hat aber Probleme mit seinem Visum und muss sich mit der Fahrt nach Struthof begnügen. Er ist enttäuscht von dem, was er dort sieht, weil es keine Spur von Vergangenheit gibt. Es stellt sich heraus, dass das Lager, ähnlich wie bei Różewicz, ein schöner, ästhetischer Ort ist: Das Lager lag weiß in der hellen Sonne. Das graublau gestrichene Holz der zwei- und dreistöckigen Wachtürme und der einstöckigen Baracken kontrastierte freundlich mit dem Schnee. Gewiß, da gab es das maschendrahtverhauene Tor mit dem Schild ‚Konzentrationslager StruthofNatzweiler‘ und den um das Lager laufenden doppelten Stacheldrahtzaun. Aber der Boden zwischen den verbliebenen Baracken, auf dem ursprünglich weitere Baracken dicht an dicht gedrängt standen, ließ unter der glitzernden Schneedecke vom Lager nichts mehr erkennen. Er hätte ein Rodelhang für Kinder sein können, die in den freundlichen Baracken mit den gemütlichen Sprossenfenstern Winterferien machen und gleich zu Kuchen und heißer Schokolade hereingerufen werden.28

Michael hat sich viel von der „Magie des Ortes“ versprochen, es stellte sich aber heraus, dass ihm auch hier der Zugang zur Vergangenheit versperrt bleibt, obwohl er sich viel Mühe gibt: Ich erinnerte mich an meinen damaligen vergeblichen Versuch, mir ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es wirklich, schaute auf eine Baracke, schloß die Augen und reihte Baracke an Baracke. Ich durchmaß eine Baracke, errechnete aus dem Prospekt die Belegung und stellte mir die Enge vor. [...] Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens. Bei der Rückfahrt fand ich weiter unten am Hang ein kleines, einem Restaurant gegenüber gelegenes Haus als Gaskammer ausgewiesen. Es war weiß gestrichen, hatte sandsteingefaßte Türen und Fenster und hätte eine Scheune oder ein Schuppen sein können oder ein Wohngebäude für Dienstboten.

Es reicht nicht nur, an die Orte des Schreckens zu reisen und sich das Gelände anzuschauen. Diese Orte wurden schon längst zu ganz ‚üblichen‘ Museen, die einerseits die Vergangenheit vergegenwärtigen, andererseits sie ebenso gut verdecken können, wenn das Wissen des Besuchers nur auf den festen, häufig reproduzierten Bildern beruht. So im Fall von Michael, der zugeben muss: „Aber die fremde Welt der Konzentrationslager war mir darum nicht nähergerückt. Meine Eindrücke von Struthof gesellten sich den wenigen Bildern von Auschwitz und Birkenau und Bergen-Belsen zu, die ich schon hatte, und erstarrten mit ihnen.“29 Aus dieser Erstarrung herauszubrechen versuchen manche Autoren der sogenannten zweiten oder dritten Generation, denen man einen separaten Aufsatz widmen könnte. Auch wenn sie das auf eine sehr provokante Weise tun („Mauthausen ist eine schöne 26 27 28 29

Bernhard Schlink: Der Vorleser. Zürich 1995, S. 142. Ebd., S. 144. Ebd., S. 148. Ebd., S. 152.

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Gegend“ – lesen wir bei Robert Schindel; „Mama war nicht in Auschwitz. Aber ich.“ – so beginnt Lothar Schöne die Beschreibung seines Besuchs im Konzentrationslager;31 „Und wie gefiel es den jungen Juden in den KZs?“, fragt der freche Ich-Erzähler aus Billers Erzählung Auschwitz sehen und sterben dann nur,32 um die Aufmerksamkeit der Leser auf das Problem zu fokussieren). Aus der Lektüre ihrer Texte kommt deutlich hervor: Auschwitz sehen und sterben lässt sich verhältnismäßig leicht sagen, aber Auschwitz sehen und leben ist auch in der zweiten und dritten Generation nicht so einfach.

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Robert Schindel: Gebürtig. Frankfurt/Main 1992, S. 10. Schöne: Das jüdische Begräbnis (Anm. 12), S. 93. Biller: Auschwitz sehen und sterben (Anm. 19), S. 120.

STANISŁAW GĘBALA

Tadeusz Różewicz: „Dichten nach Auschwitz“

daheim wartet auf mich die Aufgabe: Dichtung zu schaffen nach Auschwitz.1

Obiges Zitat ist eine der am häufigsten angeführten Sequenzen aus den Gedichten Tadeusz Różewiczs,2 der, in einem Erinnerungs-Gedicht ins Kraków (Krakau) der Nachkriegszeit zurückkehrend, mit diesen Worten seine wichtigste Aufgabe seit Ende des Zweiten Weltkriegs 27 Jahre später rückblickend ausformuliert. Vor einigen Jahren, genau zwanzig Jahre nach Ende des Krieges, griff er diese Thematik in seinem Essay Lyrik als Aktion3 auch bereits auf; er erinnert sich in ebenjenem Essay an die nicht realisierte Idee, ein Poem über den Wiederaufbau der Marienkirche zu schreiben: [...] Passanten meinen, die Marienkirche stünde noch unversehrt da. Sie sehen nicht, daß sie ein großes Prisma aus Ziegeln und Steinen ist. Die Kirche liegt in Trümmern. Die Kirche ist zerstört in meinem Innern. Dieser Bau, den ich betrachte, ist keine Kirche, kein Denkmal der Architektur, kein Kunstwerk, sondern eine verwüstete, zertrümmerte Bude, ein Haufen Schutt [...].4

Es ist nicht zu übersehen, dass der Grundgedanke obigen Gedichts eine Art Umkehrung der Vision Antoni Słonimskis aus dessen berühmtem Gedicht Alarm ist, in welchem die bombardierten, in Schutt und Asche versunkenen Kirchen über der Stadt schweben – 1

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Dies sind die letzten Zeilen des Gedichts Ich sah ein wunderbares Monstrum, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Tadeusz Różewicz: Widziałem cudowne Monstrum. In: Bd. 2 Poezja. Kraków 1988, S. 344. Tadeusz Drewnowski benutzt das Zitat als Titel des III. Kapitels seines Buches Kampf um Atem. Über Tadeusz Różewiczs Schreiben. Warszawa 1990. Der polnische Originaltext Do źródeł erschien im Band Vorbereitung zur Dichterlesung. Warszawa 1971. Tadeusz Różewicz: Do źródeł. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Tadeusz Różewicz: Lyrik als Aktion. In: Niepokój. Formen der Unruhe. Wrocław 1999, S. 377.

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Stanisław Gębala 5

„auf Flügeln des Ruhmes[,]“ unberührt in ihren Formen. Die Marienkirche, die in Wirklichkeit vor der Zerstörung bewahrt wurde, ist in Różewiczs Poem in den Augen des beobachtenden Dichters ein Haufen Schutt, weil die Kriegsbarbarei jegliches Sacrum zerstört hat. So ist die unbeschädigte Kirche lediglich „ein großes Prisma aus Ziegeln und Steinen[,]“ das in einer geistigen Sphäre wieder aufgebaut werden muss. Hing Słonimski 1939 noch dem romantischen Glauben an die erlösende Macht der Dichtung an, sieht sich Różewicz 1945 gezwungen, Czeslaw Miłosz nachzusprechen: Was ist eine Dichtung, die weder Völker Noch Menschen rettet? Eine Komplizenschaft amtlicher Lügen, Ein Singsang von Säufern, denen bald jemand die Kehle aufschlitzt, Ein Lesestückchen aus Gartenlauben.6

Różewicz selbst rechnet zur damaligen Zeit im Gedicht Das Jahr 1939 bedingungslos mit den Illusionen der Vorkriegszeit ab: So betrogen daß ihr mir den weißen blindenstock geben könnt denn ich hasse euch blind verlasse mein gestriges ich ich suche einen friedhof wo ich nicht wiederauferstehen werde um dort die überflüssigen lächerlichen requisiten zu begraben: Gott so winzig wie eine heiligenfigur aus lindenholz und den weißen adler der ein vögelchen ist auf einem zweiglein und den menschen der ich nicht sein will.7

Zur Verdeutlichung des Kontrastes muss an dieser Stelle die pathetische Aussage Słonimskis aus dem bereits erwähnten Gedicht Alarm angeführt werden: Heult, Sirenen! Donnert, ihr Trommeln, weinet, Kirchenglocken! Spiel, Orchester, den Marsch von Wagram, Von Jena.

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7

Fragment des Gedichts Alarm, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Antoni Słonimski: Alarm. In: Poezje zebrane. Warszawa 1970. S. 396. Czesław Miłosz: Przedmowa. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Czesław Miłosz: Vorwort. In: Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. I Poesie 1. Hg. v. Karl Dedecius. Zürich 1996, S. 643. Tadeusz Różewicz: Rok 1939. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius in: Ebd., S. 807.

Tadeusz Różewicz: „Dichten nach Auschwitz“

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Vernehmt den Jammerton, Regimente, Bataillone, Kanonen und Panzer, Der dröhnt, Der schallt In ‚Marseillaise‘ heiliger Flamme!8

Den ersten Worten in Różewiczs Gedichten gebührt ebenfalls Aufmerksamkeit: „Betrogen“ im Jahr 1939, „gerettet“ im Jahr 1945 (zugegeben noch ‚verstümmelt‘ aus dem Gedicht Klage). Auffällig ist der Gebrauch des Partizips II. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Dichter sich als Objekt und nicht als Subjekt der Geschichte empfand. Aktivität (die im Übrigen rein innerlicher Natur ist) ist ausschließlich als manifestierte Negation greifbar: „ich hasse“, „verlasse“ (mein gestriges ich), „ich suche“ (einen friedhof), „ich werde nicht wiederauferstehen“, „um (die überflüssigen lächerlichen requisiten) zu begraben“, „ich will nicht sein.“ Różewiczs Gedicht prangert nicht nur den Betrug der in der Vorkriegszeit herrschenden Großmachtpropaganda, sondern auch den Betrug der Dichtung an, die mit Wohlgefallen eine Apotheose der September-Opfer und der späteren mehrjährigen Besatzung schafft. Neben Słonimskis Alarm müssen auch andere Gedichte als populäre Beispiele für diese Art der Dichtung genannt werden, etwa Gałczyńskis Lied der Soldaten von der Westerplatte und Die Mutter Gottes der Stalags oder Broniewskis Balladen und Romanzen. Der auf Propagandaplakaten und in patriotischen Liedern riesig erscheinende Weiße Adler ist zu einem Vögelchen auf einem Zweiglein, der allmächtige Gott zu einer Heiligenfigur aus Lindenholz geworden. Zu betonen ist, dass der Krieg für Tadeusz Różewicz nicht nur eine weitere tragische und heroische Episode in unserer Geschichte darstellt, die sich in die lange Reihe von Siegen und Niederlagen der polnischen Streitkräfte einreiht, sondern vielmehr das Ende der Welt bedeutet, weshalb ihm die Tatsache, dass er sich nach diesem Weltende, nach dem Tod, in der Mitte des Lebens fand,9 umso sonderbarer und unlogischer erschien. Weitere Jahrzehnte vergingen und das Kriegstrauma ließ hartnäckig nicht nach, zeitweilig schien es sogar neu belebt. Als Symptom eines solchen Rückfalls kann das Theaterstück Unter der Erde angesehen werden, an dem der Autor siebzehn Jahre lang, von 1955–1972, gearbeitet und sieben weitere Jahre gewartet hatte, bis das Stück schließlich in Druck ging; zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der 1964 unternommene Versuch der Autotherapie, die das Lustspiel Spaghetti und das Schwert nach sich zog. Noch bevor die Formel „Dichtung zu schaffen nach Auschwitz“ entstand, hatte Różewicz seinen kategorischen Imperativ in abgewandelter Form in einer Tagebuchnotiz festgehalten:

8 9

Antoni Słonimski: Alarm (Anm. 5), S. 396. Vgl. den Anfang des Gedichts. Tadeusz Różewicz: W środku życia. Deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Tadeusz Różewicz: In der Mitte des Lebens. In: Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. I Poesie 1. Hg. v. Karl Dedecius. Zürich 1996, S. 819.

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den 16.Juli 1955 Ich verleugne es nie, neue Dichtung zu schaffen. Ich habe das Ende einer der Welten überlebt – der Welt, in der ich als Kind und junger Mann lebte. Vor meinen Augen wurde ein Mensch ermordet. Nie willige ich ein, im papiernen Wortmüll zu versinken; viele Gedichte sind nur Sünden, nur Worte. Eine neue Dichtung muss entstehen.10

Die Rede von der „neuen Dichtung“ konkretisierte sich schließlich in einer zutreffenden und schlichten Formel – in Adornos Dichtung nach Auschwitz. In Różewiczs Werk gibt es wenige Gedichte, die das Thema Auschwitz direkt ansprechen – die bekanntesten, die auch Eingang in zahlreiche Schulbücher fanden, sind Kleiner Zopf und Das Schlachten der Knaben. Unter beiden Gedichten wurden Ort und Zeitpunkt ihrer Entstehung vermerkt: Museum – Auschwitz, 1948. Der erste Text vermittelt ein in seiner trockenen Realitätsdarstellung ergreifendes Bild von verglasten Vitrinen, in denen sich die Haare der Vergasten ballen. Elf Jahre später schreibt Różewicz die Erzählung Ausflug ins Museum, eine Art Reportage mit satirischem Einschlag. Der Erzähler lenkt in diesem Fall die Aufmerksamkeit eher auf die Besucher, die ‚Ausflugsteilnehmer‘, als auf die Exponate. Wortgetreu notiert er die Aussagen des Museumsführers und die Bemerkungen der ‚Museumsbesucher‘ und flicht sie zu einem absurden Dialog zusammen, um dem Leser zu verdeutlichen, dass diesem Ort nur Schweigen gerecht wird. Jedoch gegen Ende der Erzählung verschiebt sich die Erzählperspektive doch noch in Blickrichtung der ‚Exponate‘: Im Licht der Herbstsonne fiel das Laub von den Bäumen. Die Blocks waren renoviert und sauber. In einem hingen die Fotos von Gestorbenen und Ermordeten. Frauen und Männer. Gesichter. Sie hingen im düsteren Gang. Blickten Tag und Nacht herab. In der Nacht, wenn keine Menschen in dem Museum waren. Ihre Gesichter verströmten ununterbrochen Leid, ein Leid, das es im Museum nicht mehr gab. Eine Glaswand teilte das Innere eines großen Saals. Ein Berg alter Schuhe. Ein Berg morschen Leders. Wie ein ausgegrabenes Nashorn, in grauer Vorzeit krepiert und jetzt ans Tageslicht geholt. Berge von Bürsten, Zahnbürsten, Rasierpinseln.11

Das ‚Museum‘ und seine ‚Exponate‘… Problematisch ist, dass Gegenstände in die Rolle der Museumsexponate gedrängt – sogar zu ebenjener Funktion degradiert – und zu Reliquien wurden. Alte Schuhe, Rasierpinsel, Zahnbürsten als Reliquien? Tatsächlich, es ist kaum vorstellbar – kommen wir deswegen noch einmal auf das Gedicht Kleiner Zopf zurück: Als Reliquie kann bestimmt eine Haarsträhne gelten, da sie ein wertvolles Medaillon erfordert. In den sich ballenden trockenen Haaren, die verglaste Kisten füllen, muss man unbedingt einzelne Strähnen herausfinden und ihnen eine gebührende Fassung geben. Es ist dies die Aufgabe der Dichtung nach Auschwitz; Auschwitz als Symbol des Massenmordes und der Industrie des Todes, die den Tod entwürdigt. Die 10 11

Auszug aus dem Gleiwitzer Tagebuch, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Tadeusz Różewicz: Kartki z gliwickiego dziennika. In: Bd. 3 Proza. Wrocław 2004, S. 319. Tadeusz Różewicz: Ausflug ins Museum. In: Ders.: In der schönsten Stadt der Welt. Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt und herausgegeben von Roswitha Matwin-Buschmann. München, Wien 2006, S. 114–125, hier S. 121.

Tadeusz Różewicz: „Dichten nach Auschwitz“

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Aufgabe der Dichtung: aus dem Bündel trockener Haare in den Museumsschränken die einzelnen Strähnen zu lösen und ihnen die Einzigartigkeit und Heiligkeit einer Reliquie wiederzugeben. Ist das überhaupt möglich? Im angeführten Zitat aus Ausflug ins Museum wird auf eine weitere Schwierigkeit hingewiesen: nämlich auf den Eindruck, dass uns Relikte einer vergangenen Zeit vorgeführt werden, wenn wir die Museumsstücke in Auschwitz betrachten. Der Krieg mit all seiner unglaublichen Barbarei ist binnen einiger Jahrzehnte bereits in die abgeschlossene Sphäre einer fernen Vergangenheit gerückt; wir verdrängen ihn (individuell) ins Vergessen, und gleichzeitig wiederholen wir (gemeinschaftlich) – zumindest zu speziellen Anlässen –, dass wir nie vergessen dürfen. Dieses Paradox ist leicht zu erklären und aus der Lebenswelt kaum wegzudenken. Und weil Vergessen natürlich und unumgänglich ist, muss man sich immer wieder bemühen, das Eine, und nicht das Andere, ‚in Vergessenheit geraten‘ zu lassen. Es ist dies eine wichtige Aufgabe der Dichtung, die jedoch von Zeit zu Zeit ganz gegenständlich darauf hinweist, dass erst Akte des Vergessens an die Katastrophe anschließendes Leben ermöglichen. Ein solches Lob auf das Vergessen enthalten die letzten Strophen des Gedichts Ende und Anfang von Wisława Szymborska: Diejenigen, die wussten, worum es hier ging, machen denen Platz, die wenig wissen. Weniger noch als wenig. Und schließlich so gut wie nichts. Im Gras, das über Ursachen und Folgen wächst, muß jemand ausgestreckt liegen, einen Halm zwischen den Zähnen, und in die Wolken starrn.12

Różewicz plädiert konsequent dafür, das Gedächtnis an den Krieg zu bewahren. Ihm bot sich eigentlich keine Alternative, war er doch Zeuge. Er sah. Im Gedächtnis bleibt auch der ergreifende, zweimal wiederholte Ausdruck „ich sah“ aus dem Gedicht Gerettet. Jenes „ich sah“ ist figurativ und eines der wichtigsten Kriterien für die Glaubwürdigkeit der Dichtung nach Auschwitz, zügelt es doch besonders wirksam die Fantasie, schließt es doch jedwede Poetisierung der Kriegsgräuel aus. Die polnische Poesie ist in die Kriegszeit mit einer (in der Romantik verwurzelten) allzu ausschweifenden Fantasie eingegangen. Sie ästhetisierte und poetisierte den Krieg, fand ‚gefährliche‘ oder gar ‚bösartige Schönheit‘ faszinierend. Wie viel ist davon beispielsweise in den Gedichten Krzysztof Kamil Baczyńskis zu spüren! Aufs Geratewohl 12

Wisława Szymborska: Koniec i początek. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Wisława Szymborska: Ende und Anfang. In: Die Gedichte. Hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt/Main 1997, S. 272.

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schlage ich den II. Band seiner Gesammelten Werke auf, und auf aufeinander folgenden Seiten finde ich „rasende Haarflammen“, „der Flüsse silberne Geißel“ oder bekannte, von Ewa Demarczyk expressiv ausgesungene „blutig brennende Wiesen[.]“13 Solch fesselnde Bilder schuf die rein dichterische Fantasie. Und ein weiteres, ohne Zweifel gesehenes Bild, ist in Różewiczs Gedächtnis haften geblieben: Es lag ein nackter partisan die vögel trillerten und die ameisen wanderten über die wachsbleichen hände[.]14

In Baczyńskis Poesie wie in den antiken Epen beteiligt sich die Natur am menschlichen Sterben; demgegenüber wird in Różewiczs Gedicht vor allem der Kontrast betont: der tote Mensch und die lebendige Natur – taub und gleichgültig angesichts seines Schicksals. Auch nach dem makabren Tod des Waluś im letzten Akt des Stücks Unter der Erde ist das Trillern eines Waldvogels zu hören. Wenn ich die Bedeutung des Ausdrucks „ich sah“ in Różewiczs Poesie so stark betone, muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Verneinung derselben Aussage („ich sah nichts“) das gleiche Gewicht hat. Jene Negation richtet sich nun gegen die Dichtung der reinen Poesie, die Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Legende beliebig verbindet: Verstümmelt sah ich nichts keinen himmel und keine rose keinen vogel kein nest keinen baum keinen heiligen Franziskus keinen Achilles Hektor.15

Weiter folgt ein erschütterndes Un-Glaubensbekenntnis eines im Krieg verstümmelten Menschen, der die Worte (aus dem Johannesevangelium) „selig diejenigen, die nicht sehen, und doch glauben“ seines Lehrers ablehnt:

13

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Zitate aus drei Gedichten: Die Sieger, Zwei Lieben und ***Ich öffne dir den goldnen Himmel, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Krzysztof Kamil Baczyński: Zwyciężcy, Dwie Miłości, *** Niebo złote Ci otworzę. In: Utwory zebrane. Bd. II. Kraków 1970, S. 46, 47, 50. Die Anfangszeilen des Gedichts Schicksal, dem Gedenken an Kapral Smukły gewidmet, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Tadeusz Różewicz: Dola. In: Bd. I Poezja. Kraków 1988, S. 14. Tadeusz Różewicz: Lament. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Tadeusz Różewicz: Klage. In: Ders.: Gedichte. Stücke. Hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt/Main 1983, S. 15f., hier S. 16.

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Sechs jahre lang dampfte aus meinen nüstern blut Ich glaube nicht an die verwandlung des wassers in wein ich glaube nicht an die vergebung der sünden ich glaube nicht an die auferstehung der toten.16

Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mich einmal beim Vorlesen dieses Gedichts versprach, indem ich im zweiten Vers des zitierten Fragments „aus“ mit „in“ verwechselte. Und auf einmal wurde mir klar, wie stark dies die Gedichtfigur verändert. Ein Mensch, dem ‚aus den Nüstern Blut‘ dampft, ist offenkundig verstümmelt, vergiftet bis hinein in den hintersten Winkel seiner Lungen. Dagegen können „in die Nüstern“ verschiedenste Ausdünstungen dampfen. Noch etwas frappiert an Różewiczs Dichtung nach Auschwitz, was sich durch das Wörtchen ‚nach‘ entschlüsseln lässt: Sowohl die im vorliegenden Artikel zum Vergleich herangezogene Dichtung Baczyńskis als auch die erwähnten Kriegsgedichte von Broniewski, Gałczyński und Słonimski versuchen, die überwältigende Dynamik der Kriegsereignisse auszudrücken, es sind jene „blutig brennende[n] Wiesen“, jener „wirbelnde Donner.“17 Der Krieg ist ein reiner ‚Action-Film‘. Różewicz hingegen zeigt nicht das, was geschieht und sich unaufhörlich ändert, sondern das, was schon passiert ist – unwiderruflich und definitiv. In seiner Dichtung dominieren ‚danach‘-Bilder; statisch und regungslos fesseln sie den Blick und prägen sich tiefer ins Gedächtnis ein als ‚Filmaufnahmen‘, die Explosionen, zusammenbrechende Häuser, Exekutionsschüsse collagieren. Oft werden Lieder über die in den Kampf aufbrechenden Warschauer Kinder gesungen, die die Tragödie des Aufstands als ein kindliches Spiel erscheinen lassen. Und der Krieg – der tragischste Krieg unserer Geschichte – wird in der Kollektivfantasie wieder zu einem ‚Krieg-chen‘, zu einem bunten Abenteuer, das die in öden Friedenszeiten lebenden Generationen vermissen könnten. Gegen eine solche Infantilisierung des Krieges opponierte – allerdings mit geringem Erfolg – die polnische Literatur schon mindestens seit 1933; in der Kollektivfantasie behielten die „Ulanen, Ulanen, bunt bemalte[n] Kinder“18 leider die Oberhand. Gerade aus diesem Grunde ist Różewiczs Aussage „ich sah“ (sowie sein „ich sah nichts“) kaum zu unterschätzen. In diesem schlichten Ausdruck positioniert sich die Stellung eines Augenzeugen im Widerspruch zur anachronistischen Haltung des Dichters, der sich auf den Trümmern niederlässt und dem Spiel der Fantasie hingibt (erwähnenswert ist auch, dass diese Haltung bereits von Mickiewicz in Pan Thaddäus19 verspottet wurde). Aus dem Spiel der Fantasie ergaben 16 17

18 19

Ebd. Auszüge aus dem Gedicht Muttergottes-Gebet, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Krzysztof Kamil Baczyński: Modlitwa do Bogarodzicy. In: Utwory zebrane. Bd. II. Kraków 1970, S. 107. Die erste Zeile eines polnischen Kriegslieds unbekannten Autors (Anm. des Übers.). Vgl. Adam Mickiewicz: Herr Thaddäus. Zweites Buch: Das Schloß. (Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz. In: Ders.: Dziela (Werke). Bd. 4. Warszawa 1998, S. 57.

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sich riesige Kriegspanoramen, über der Stadt schwebende Kirchen und Warschauer Straßen, oder ganze Soldatentrupps, die direkt in den Himmel gingen. Różewicz stellte diesen poetischen ‚Action-Filmen‘ ein vergrößertes Bild von der nackten Leiche eines Partisanen, einen Mädchenzopf im musealen Glaskasten, schließlich auch das Taschenmesser des Professors gegenüber. Ganzen Reihen dynamischer Bilder setzte er einen regungslosen (toten oder vor Verzweiflung erstarrten) Einzelmenschen entgegen, ab und an auch einen kleinen Gegenstand, wie etwa das erwähnte Taschenmesser. Dieses ist als weiteres Fundstück aus der ‚zurückliegenden Epoche‘ zu werten – als Sonderfall, da man nach ihm nicht im unüberschaubar angehäuften Alteisen im Museum wühlen musste, lag das Taschenmesser doch schlicht lange Jahrzehnte auf dem Schreibtisch seines Besitzers, Prof. Mieczysław Porębskis. Den Gedichtband Das Taschenmesser des Professors, herausgegeben im Jahr 2001, ziert ein grauer Umschlag mit dem Foto dieses sonderbaren Gegenstands, dessen Beschreibung bereits dem Titelpoem zu entnehmen ist. Bevor wir jedoch die entsprechende Seite aufschlagen, sehen wir ein großes, zwei aufeinanderfolgende Seiten (inklusive Titelseite) umfassendes Bild, das Foto einer nackten Frauenleiche. Es stellt eine „tote KL-Insassin“ dar, so die Notiz am Ende des Bandes. Die Leiche liegt rücklings auf einer Schneedecke, in einer natürlichen Körperhaltung, fast, könnte man sagen, erotisch anmutend; das linke Knie etwas geknickt, die rechte Hand mit den leicht gebeugten Fingern ruht über der Brust. Das Gesicht (sofern man den Gesichtsausdruck von einem unscharfen Foto ablesen kann) verströmt Ruhe – keine Spur von Leid oder Schmerz. Solche Dokumente sehen wir selten; unsere Vorstellungen von den KL-Opfern sind durch zahlreiche Fotos und Filme beeinflusst, die fast zu Floskeln gewordene Häute und Gerippe oder „fuhren zerhackter menschen“20 darstellen. Jenes Foto aus dem Taschenmesser des Professors entreißt dem anonymen Massensterben eines seiner Opfer, indem es dem toten Menschen seine Individualität ‚zurückerstattet‘. Ebenso verfährt der Dichter, gleichzeitig muss er jedoch an die Existenz der Industrie des Todes erinnern, denn immer wieder gibt es Versuche, diese in Zweifel zu ziehen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schreibt Różewicz in seinem Gedicht Recycling: immer öfter liest man davon in neonazistischen deutschen zeitungen in amerikanischen zeitungen in polnischsprachigen ‚nationalen‘ zeitungen liest man artikel aus fremdsprachigen blättern es habe einen Holocaust nie gegeben immer öfter liest man an den mauern unserer städte inschriften in polnisch „Juden ins Gas“ und auf deutsch „Juden raus“ leichtfertige junge leute 20

Tadeusz Różewicz: Ocalony. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Karl Dedecius. Tadeusz Różewicz: Gerettet. In: Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. I Poesie 1. Hg. v. Karl Dedecius. Zürich 1996, S. 808.

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schlechterzogene jungs kinder zeichnen den Davidstern hängend am galgen21

Im zweiten Teil des Gedichts mit dem Titel Das Gold, dem das Zitat entnommen wurde, wiederholt der Autor gleich einem ironischen Refrain die Worte: „es habe einen Holocaust nie gegeben“, wobei er auf einen der bekanntesten Theatermonologe überhaupt anspielt, auf die Rede des Antonius nach Cäsars Ermordung, in der Tragödie von Shakespeare, die einen ebenso sarkastischen Refrain anstimmt: „Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann.“22 Nach fünfzig Jahren muss man wieder an die Tatsachen und Zeugnisse der Verbrechen erinnern, denn unermüdlich arbeitet der ‚Robigus‘: Robigus fast unbekannt dämon des rostes – von der zweiten götterreihe – frißt gleise schienen dampfzüge.23

Es ist kaum zu glauben, dass er das Taschenmesser des Professors bisher noch nicht gefressen hat. Der Widerstand der Dinge gegen die zerstörende Macht der Zeit hilft unserem Gedächtnis: dieser Zug fährt nicht ab aus meinem gedächtnis[,]24

sagt der Dichter und mahnt stetig: die güterwaggons die viehwaggons leberfarben blutfarben unzählig angekuppelte waggons beladen mit banalem Bösen banaler angst verzweiflung banalen kindern frauen mädchen im frühling ihres lebens hört ihr diesen schrei nach einem schluck nach einem schluck wasser 21

22 23 24

Tadeusz Różewicz: Recycling. Zitiert wird die deutsche Übersetzung von Henryk Bereska. Tadeusz Różewicz: Recycling. Ein Poem. Mit Collagen von Lutz Leibner. Berlin 2000 (Welt statt Berlin 10), S.10. William Shakespeare: Julius Cäsar. In: Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 4. Hg. v. Anselm Schlösser. Berlin 1975, S. 228. Tadeusz Różewicz: Die Züge fahren weiter, übers. von Monika Blidy nach der polnischen Originalausgabe. Tadeusz Różewicz: Pociągi odchodzą dalej. In: Bd. 4 Poezja. Kraków 1988, S. 80. Ebd., S.79.

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schreit die ganze menschheit nach einem schluck banalen wassers ich schlage die brücke die verbindet vergangenheit und zukunft25

Der Ausdruck ‚banal‘ wird auf den nachfolgenden Seiten noch einige Male wiederholt. Er entstammt bekanntlich dem Untertitel von Hannah Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem. Zur Banalität des Bösen. Die Wissenschaft tat ihr Bestes, um dieses Phänomen zu ergründen, um zu beschreiben, wie die Industrie des Todes funktioniert; aber die Wissenschaft ist gegenüber Robigus – dem Dämon des Rostes – machtlos. Szymborska beschwor ihn auch – allerdings nicht namentlich – in einem bereits zitierten Gedicht: Manchmal buddelt einer unterm Strauch durchgerostete Argumente aus und wirft sie auf den Müll.26

Różewicz kann und will sich nicht mit der vermeintlichen Unvermeidbarkeit des Vergessens abfinden und betont verzweifelt: die züge fahren los die güterwaggons und die viehwaggons beladen mit banalisiertem bösen fahren los vom osten vom westen vom süden und vom norden „güterzüge“ beladen mit banaler angst banaler verzweiflung bis heute über die wangen alter frauen fließen banale tränen nach dem krieg weinten wunderbilder und weinten überlebende frauen weinten skulpturen weinten menschen.27

Deswegen bemüht sich der Dichter – schon seit über 60 Jahren – um eine Brücke, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet: Die Brücke des Nicht-Vergessens. 25 26 27

Ebd., S. 82. Szymborska: Ende und Anfang (Anm. 12), S. 272. Różewicz: Die Züge fahren weiter (Anm. 23), S. 90.

BARBARA GUTKOWSKA

Das Testament der Zeitschrift Sztuka i Naród (Kunst und Volk). Zur Prosa Andrzej Trzebińskis

Das Programm und das Schaffen der Autoren, die sich um die von 1942 bis zum Warschauer Aufstand 1944 herausgegebene, rechtsorientierte Zeitschrift Sztuka i Naród (Kunst und Volk) gruppierten, fand nach dem Zweiten Weltkrieg keine Nachfolger. Ursache dafür waren einerseits der vorzeitige Tod dieser jungen Künstler, andererseits vor allem aber die Nachkriegspolitik der kommunistischen Regierung, die ab 1945 die polnische Wirklichkeit nach totalitärem Muster einrichtete. Dort gab es keinen Platz für die durch Sztuka i Naród propagierte Vorstellung vom Menschen, von der Kultur und vom Polentum. Die Erinnerung an den Kampf jener Generation um den Frieden und um die „neue Haltung des schaffenden Menschen“1 verwandelte sich in dem neuen gesellschaftlich-politischen Umfeld in einen Kampf um die geschichtliche Wahrheit, um das Selbstbewusstsein des Volkes und um eine Beschreibung der Geschichte der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Feststellung ‚Inter arma silent Musae‘ hat sich nicht bewahrheitet, zumal die Errungenschaften der Zeitschrift Sztuka i Naród „ein erstaunliches Zeugnis der Kontinuität polnischer Literatur trotz der geschichtlichen Umstände“2 ablegen. „Die ganze polnische Organisation der Informationsverbreitung muss zerschlagen werden. Den Polen sind keine Funkgeräte zu belassen, sondern nur leere Informationsjournale, auch keine Presse, in der bestimmte Ansichten präsentiert werden. Sie sollen grundsätzlich keine Theater, Kinos und Kabaretts haben, die ihnen nur immer wieder vor Augen führen, was sie verloren haben“, erklärten Hans Frank und Joseph Goebbels schon im Oktober 1939.3 Die Hitler-Männer waren sich von Anfang an der enormen Rolle der Kultureinrichtungen und Medien, dieser Zentren der Mei1 2 3

So der Titel des Programmartikels von Wacław Bojarski (Pseudonym Jan Marzec), in der 1. Nummer von Sztuka i Naród im Jahre 1942. Anna Nasiłowska: Trzydziestolecie 1914–1944. Warszawa 1995, S. 190. Zitiert nach Zdzisław Jastrzębski: Publicystyczne boje o kulturę w podziemiu. In: Konspiracyjna publicystyka literacka 1940–1944. Antologia. Bearbeitung und Einleitung v. Zdzisław Jastrzębski. Kraków 1973, S. 5–31, hier S. 6.

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nungsbildung und der Verbreitung von Ansichten und Wertsystemen im Leben jedes Volkes bewusst. Schon gleich nach dem Einmarsch in Polen setzten sie sich zum Ziel, die polnische Kultur und die intellektuelle Elite des Landes auszurotten. Sie sahen sich auch sofort mit einer durch die polnische Gesellschaft immer geschickter organisierten, breit angelegten militärischen und intellektuellen Widerstandsbewegung konfrontiert. Ein Anzeichen dafür war die Tatsache, dass schon am 10. Oktober 1939 die Zeitschrift Polska Żyje! unter der Redaktion von Witold Hulewicz zu erscheinen begann. Bald leiteten die Angehörigen verschiedener Gruppen des Untergrunds die Herausgabe von Zeitschriften des Widerstands in die Wege, deren Zahl Jerzy Święch, Autor der grundlegenden Untersuchung Literatura polska w latach II wojny światowej (Polnische Literatur in den Jahren des Zweiten Weltkrieges)4 auf über 1.500 Titel schätzt. Anfangs erschien vor allem Informationspresse, aber der anhaltende Zustand nationaler Unfreiheit und der Isolierung der polnischen Gesellschaft vom kulturellen Leben der Intelligenz gaben Anlass zur alsbaldigen Gründung von Kulturzeitschriften. Unter ihnen nahm Sztuka i Naród einen besonderen Platz ein. Von Wacław Bojarski und Andrzej Trzebiński ins Leben gerufen, hat diese Zeitschrift den Kreis der Studenten der ‚geheimen Warschauer Universität‘ um sich versammelt, die mit der rechtsorientierten ‚Konföderation des Volkes‘,5 einem Ableger des volkskatholischen Nationalradikalen Lagers verbunden waren. Diese war eine politisch-militärische Gruppierung, die seit 1940 einen Partisanen- und Sabotagekampf mit den deutschen Okkupanten führte und seit 1943 eine Abteilung der Polnischen Heimatarmee bildete. Diese Wurzeln des Nationalradikalen Lagers – der ‚Konföderation‘ – haben dazu geführt, dass die eher lockeren geistigen Verbindungen6 der Autoren von Sztuka i Naród zur rechtsradikalen Ideologie in der Tat ihren Ruf untergraben haben und nicht selten eine Rechtfertigung dafür waren, dass die Autoren und ihr Schaffen verschwiegen und verleugnet wurden.7 Zwischen April 1942 und Juli 1944 sind sechzehn Nummern dieser Zeitschrift erschienen, und zwar regelmäßig und ohne Unterbrechung, was angesichts des übermäßi4 5

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Jerzy Święch: Życie kulturalne pod okupacją. In: Literatura polska w latach II wojny światowej. Warszawa 1997, S. 21–64, hier S. 33. Der Gruppe gehörten neben Trzebiński und Bojarski auch Onufry Bronisław Kopczyński, Tadeusz Gajcy, Zdzisław Stroiński, Wojciech Mencel, Stanisław Marczak, Kazimierz Winkler, Jerzy Zagórski, Lesław Bartelski, Tadeusz Sołtan an. Die Zeitschrift hat sich eine gewisse intellektuelle Unabhängigkeit bewahrt, worauf folgende Autoren hinweisen: Stanisław Bereś in der Monografie Uwięziony w śmierci. O twórczości Tadeusza Gajcego. Warszawa 1992 und in der Einleitung zu: Tadeusz Gajcy: Wybór poezji. Misterium niedzielne. Warszawa 1992; Maciej Urbankowski in dem Artikel O Andrzeju Trzebińskim. In: Andrzej Trzebiński: Aby podnieść różę. Szkice literackie i dramat. Einleitung und Bearbeitung von Maciej Urbankowski. Warszawa 1999, S. 15–20; Paweł Rodak: Wizje kultury pokolenia wojennego. Wrocław 2000, S. 39. Siehe z.B. Jerzy Adamski: Witkacy i Gajcy. In: Upadek humanizmu. Warszawa 1986; Jan Marx: Erupcje histerycznej konfesji i poetyckie wyrobnictwo. In: Ders: Dwudziestoletni poeci Warszawy. Warszawa 1994; Elżbieta Janicka: Einleitung. In: Dies.: Sztuka czy naród? Monografia pisarska Andrzeja Trzebińskiego. Kraków 2006, S. 11.

Das Testament der Zeitschrift ‚Kunst und Volk‘. Zur Prosa Andrzej Trzebińskis

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gen Okkupationsterrors an sich schon eine Besonderheit war. Allerdings wechselte der Chefredakteur häufig, was durch die tragischen Kriegsumstände bedingt war. Sie kamen der Reihe nach ums Leben: Onufry Bronisław Kopczyński – Komponist und Publizist, im Jahre 1943 in Haft genommen und in Majdanek umgebracht; Wacław Bojarski – Dichter, Prosaist und Publizist, starb infolge einer Schusswunde während einer Aktion am Kopernikus-Denkmal; Andrzej Trzebiński – Prosaist, Dichter, Dramatiker, Literaturkritiker, erschossen während einer ‚Straßenexekution‘ im November 1943; Tadeusz Gajcy, Dichter, Dolmetscher, Prosaist, Literaturkritiker, ermordet im August 1944 im Warschauer Aufstand.8 Diese Zwanzigjährigen wurden Mittelpunkt eines ausgeprägten literarisch-kulturellen Lebens. Dank ihres Schaffens, ihrer Kreativität und ihres konsequenten Verhaltens kam es zu Autorentreffen, Diskussionsabenden, DichterWettbewerben; auf der ‚Experimentellen Szene‘ wurden Stücke aus dem Widerstand aufgeführt. Man gründete auch die Bibliothek Sztuka i Naród, in der drei Poesiebände herausgegeben wurden: Widma (1943) und Grom powszedni (1944) von Tadeusz Gajcy sowie Okno (1943) von Zdzisław Stroiński. Alle diese Aktivitäten zeugen nicht nur vom beachtlichen Umfang literarischer Produktion, sondern auch von einem einzigartigen, weil unter Kriegsumständen verlaufenen Aufbruch literarischer Talente, vom Mut, dem organisatorischen Talent und der Schaffensfreudigkeit der jungen Autoren, aber ebenso auch von dem Phänomen des kulturell reichen Lebens im Warschauer Untergrund. Die Bedeutung dieses Phänomens war und ist nicht zu überschätzen, weil es den Protest der jungen intellektuellen Elite gegen die kulturelle Degradierung bezeugt, die Kraft des Geistes und der schöpferischen Energie dieser Angehörigen der ‚KolumbusGeneration‘ veranschaulicht, die während des Zweiten Weltkriegs ins Erwachsenenleben eintraten und in einem noch nie dagewesenen Ausmaß das allgemeine, ganz alltägliche Entsetzen, die Not und die unmenschlichen Kriegsgreuel erfuhren. In diesem Sinne hat Tadeusz Gajcy anlässlich der Preisverleihung nach einem poetischen Wettbewerb festgestellt: „Bereit zum Kampf um die Staatsfreiheit stellen wir ruhig und entschieden fest, dass unsere innere Freiheit unberührt ist.“9 Die von der deutschen und seit dem 17. September 1939 auch von der sowjetischen Besatzung ‚unberührte‘ innere Freiheit war ein Ort des lebhaften, unbeschränkten Nachdenkens, des Studiums, der leidenschaftlichen Diskussion, der Ausformung von ethischen und weltanschaulichen Überzeugungen sowie der Prägung der eigenen Identität unter dem Druck der Geschichte. Die Redakteure der Zeitschrift Sztuka i Naród hatten das Gefühl, einer Generation und einer intellektuellen Formation anzugehören, deren Ziel es war, die vor der polnischen Literatur und Kultur liegenden Aufgaben neu zu formulieren. Die jungen Autoren, die an militärischen Schulungen ebenso wie an Diskussionen über französische Literatur und über Ausprägungen der avantgardisti8 9

Vgl. Portrety twórców „Sztuki i Narodu“. Hg. v. Jerzego Tomaszkiewicz. Warszawa 1983. s. b.: Rozstrzygnięcie konkursu poetyckiego. In: Sztuka i Naród 3–4 (1942). Zitiert nach: Konspiracyjna publicystyka literacka (Anm. 3), S. 27f.

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schen Metapher teilnahmen, engagierten sich in bewaffneten Sabotage- und Partisanenaktionen und in Aktionen der untergründigen Kolportage. Gleichzeitig entfesselten sie im Bereich der Kultur den Kampf um geistige, intellektuelle und moralische Werte, die für das Überleben von Individuum wie Kollektiv unerlässlich sind. Deswegen wurde als Motto für die Zeitschrift Sztuka i Naród eine Formel aus dem Promethidion von Cyprian Kamil Norwid gewählt: Der Künstler ist der Organisator der Volksfantasie. Als Zar Alexander II. im Jahre 1856 den Polen sagte: „Meine Herren, keine Träume!“, sprach er mit dieser Feststellung zugleich das Wesen jeder erfolgreichen Eroberung an: dem Volk die Träume zu nehmen, bedeutet, ihm die Ideale zu nehmen und auch den Glauben daran, die eigenen Ideale verwirklichen zu können; es bedeutet die Einkapselung im Schwächegefühl der eigenen Sehnsucht nach Freiheit und auch die Bestärkung der eigenen Ratlosigkeit. Das Denken an die Freiheit unter den Bedingungen der Unterdrückung erfordert Fantasie, weil man nur so viel Freiheit erkämpfen kann, wie man sich vorstellen kann. Infolgedessen lastet auch in der Situation der Niederlage, des Verlustes des eigenen Staatswesens, auf der Literatur die Pflicht, die gespaltene Volksgemeinschaft um ihren Mythos und um die Idee zu vereinigen, die die Kraft verkörpern, sich einem fatalistischen Verständnis von Geschichte zu widersetzen, damit Gegenwart und Zukunft nicht im Zeichen der Schwäche und der Sinnlosigkeit verbleiben. Genau vor diesem Hintergrund flammte der hoch bedeutsame Streit zwischen Andrzej Trzebiński und Czesław Miłosz um die Besetzung Polens auf, der als ein weiterer Grund dafür anzusehen ist, dass man Trzebiński und Sztuka i Naród aus dem polnischen kulturellen Gedächtnis der Nachkriegsjahre entfernen wollte.10 Das Zurückgreifen auf Norwid und sein Motto verweist auf die Romantik als Traditionsursprung, der diesen Autoren am nächsten lag. Andrzej Trzebiński bemerkte hierzu: „Die gegenwärtige, junge Kulturgeneration glaubt an die Notwendigkeit tiefer geistiger Wandlungen, zugleich studiert sie gründlich die Verhältnisse seit dem 19. Jahrhundert und weiß die bisher missachteten Werte der polnischen Tradition zu schätzen.“11 Es ist ebenjene Tradition, die in der Fantasie und dem Denken der Romantik wurzelt, nicht in den Stereotypen einer nationalen Befreiung und in den frommherzigen Klischees romantischer Provenienz, die nicht selten Gegenstand der bissigen Literaturkritik Andrzej Trzebińskis waren, z. B. mit Bezug auf Kwiaty polskie von Julian Tuwim. Die Kriegsgeneration erblickte in dem kritischen Romantizismus von Norwid, in den Schriften von Maurycy Mochnacki, auf den Trzebiński in seinem Tagebuch und in dem unvollendeten Roman Kwiaty z drzew zakazanych Bezug genommen hat, und im Schaffen Stanisław Brzozowskis, der das Bedürfnis nach Umformulierung der polnischen Kultur 10

11

Siehe Aleksander Kopiński: Ludzie z charakterami. O okupacyjnym sporze Czesława Miłosza i Andrzeja Trzebińskiego. Warszawa 2004, S. 189. Der Streit wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts fortgesetzt. Siehe: Paweł Rodak: Poeta, nie doktryner. In: Gazeta Wyborcza, 23.08.2001 und Czesław Miłosz: List do Pawła Rodaka. Gazeta Wyborcza, 30.08.2001. Andrzej Trzebiński: Pokolenie wojenne. In: Ders.: Aby podnieść różę (Anm. 6), S. 65.

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und Literatur postulierte, in der Folge auch eine Haltung der polnischen Intelligenz gegenüber der Welt im Umgang mit ihren geistigen Mentoren. Eben durch Vermittlung Brzozowskis entdeckten die jungen Autoren die Grundidee von Mochnacki, der „seine Verantwortung nicht in einer nationalen nebligen Mystik zerfließen ließ, ganz im Gegenteil: er strebte nach einer Potenzierung dieser Verantwortung und auch danach, einen klaren, bewussten, organisierten nationalen Willen zu entwickeln.“12 Mit Mochnacki, der das Scheitern des Novemberaufstandes miterlebt hatte, verband die Kriegsgeneration die Gemeinsamkeit der Erfahrungen: Polens Zerstückelung durch die Angreifer, die Politik der physischen, geistigen und moralischen Vernichtung des polnischen Volkes und seiner Kultur. Von ihm haben sie gelernt, dass die Nation nicht einfach eine Gruppe von Menschen ist, die ein durch Grenzen bestimmtes Gebiet bewohnen. Das Wesen der Nation besteht eher in der Vereinigung aller ihrer Vorstellungen, ihrer Begriffe und Gefühle, die mit ihrer Religion, ihren politischen Institutionen, ihrer Gesetzgebung und den Sitten und Gebräuchen im Einklang sind und die darüber hinaus aufs engste mit der geographischen Lage, dem Klima und anderen äußeren Bedingungen zusammenhängen.13

Der Begriff der Nation verfügte für Mochnacki und die nach ihm Kommenden – auch in der Publizistik der Zeitschrift Sztuka i Naród – also nicht nur über eine politische Dimension, sondern auch über eine geistige und intellektuelle und bezog sich somit auf den ganzen Bereich des literarischen und kulturellen Lebens. So gefasst, erweist sich eine Nationalliteratur als unerlässliche Voraussetzung dafür, dass ein Volk sein Selbstbewusstsein erlangt, ganz besonders im Moment des staatlich-politischen Untergangs, denn erst durch seine Literatur kann das Volk „sich selbst in seinem Wesen erkennen.“14 Ohne diese seine Literatur kann es nicht bestehen, denn sie ist „Ausdruck seines Geistes, in ihr leuchten seine kollektiven Gedanken auf, sie ist die Summe seiner Vorstellungen und Anschauungen, die das Wesen dieser Nation ausmachen.“15 Weil sie also das kollektive Gedächtnis manifestiert und Traditionserbe ist, muss die Nationalli12

13 14 15

Stanisław Brzozowski: O Maurycym Mochnackim. In: Ders.: Eseje i studia o literaturze. Bd. 2. Auswahl, Einleitung und Bearbeitung Henryk Markiewicz. Wrocław 1990, S. 1091. Über Mochnackis Denken mit Bezug auf das Polentum und die Geschichte der ganzen, sich unter ideologischem Gesichtspunkt unterscheidenden Kriegsgeneration, schrieben Tadeusz Sołtan in seinem Buch Motywy i fascynacje. Warszawa 1978, S. 34–38 und Zdzisław Jastrzębski in dem Werk Literatura pokolenia wojennego wobec dwudziestolecia. Warszawa 1969, S. 110f. Aber vor allem war das Schaffen Brzozowskis eine Lektüre für die ganze Kriegsgeneration, weshalb Tadeusz Sołtan ihn „den geistigen Mentor unserer Generation“ nennt (Pokolenie nie zmarnowane. In: W gałązce dymu, w ognia blasku… Wspomnienia o Wacławie Bojarskim, Tadeuszu Gajcym, Onufrym Bronisławie Kopczyńskim, Wojciechu Menclu, Zdzisławie Stroińskim, Andrzeju Trzebińskim. Bearbeitung Jozéf Szczypka. Warszawa 1977, S. 215). Vgl. auch: Paweł Rodak: Wizje kultury pokolenia wojennego. Wrocław 2000, S. 166f. Maurycy Mochnacki: O literaturze polskiej w wieku dziewiętnastym. Łódź 1985, S. 66. Ebd. Ebd.

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teratur zur Zukunft hin orientiert werden, für die sie ja allein die Überlieferung und einen Teil des gemeinsamen Mythos bereithält. Aus diesem Blickwinkel sind Kunst und Literatur ein Instrument der unermüdlichen Suche, der Umformulierung, der Wertebildung, der Welterkundung und der Wirklichkeitsbewältigung. Sie versprechen eine Öffnung in Richtung des Unbekannten und Endgültigen, sind Lebensessenz, wie Trzebiński im Tagebuch mit Bezug auf sein Schaffen geschrieben hat: „Wissen – das bedeutet nicht, zu leben, sondern ist eine ganz erhabene Sache – die Suche nach dem Tod.“16 Wacław Bojarski konstatierte, indem er zu „einer neuen Haltung des schaffenden Menschen“ aufrief: Heute glauben wir an einen starken Menschen, der mit einer Sprengkraft des Möglichen aufgeladen ist, von der noch keiner zuvor geträumt hat. Wir glauben an einen Menschen, der auf den Planeten kommt, um das Zeugnis der Wahrheit abzulegen‘. Wir bringen unsere Achtung der Verherrlichung des Lebens entgegen – dieses wunderschönen, einmaligen Faktums, das ein zweites Mal in derselben Form nicht vorstellbar ist. [...] Das Wesen der künftigen großen Kunst besteht darin, die Passivität der geistigen Prozesse aufzugeben. [...] Sagen wir dasselbe mit den Worten Norwids – kurz und bündig: ‚Der Künstler ist der Organisator der Volksphantasie.‘ Das ist die endgültige Wahrheit über die neue Haltung des schaffenden Menschen.17

Von Mochnacki, Norwid und Brzozowski haben die Autoren der Zeitschrift Sztuka i Naród das Modell des aktiven Künstlers übernommen, als eines Individuums, das sich tapfer mit der Wirklichkeit auseinandersetzt und den Bereich seiner eigenen und der nationalen Souveränität ausdehnt. Seine Pflicht war es, den neuen Polen-Mythos zu schaffen, der eine Quintessenz der Träume und Wünsche wäre, der Idee des Polen, die man hier und jetzt realisieren, um die man kämpfen soll. Eine aktive Lebenshaltung wurde als notwendige Voraussetzung für die persönliche, soziale und nationale Entwicklung postuliert. Weil diese Haltung in der nationalen Tradition ihre feste Stütze hat, kann man sie für künftige Generationen gemeinsam ausformen. Auch diese Lehre hat die Zeitschrift Sztuka i Naród von Norwid durch Vermittlung Stanisław Brzozowskis übernommen, der schrieb: „Der Mensch kann nur um Menschliches kämpfen; alle unsere Fragen lassen sich auf die neue Mitarbeit am kollektiven Leben der Menschheit und die Gestaltung ihrer Schicksale zurückführen.“18 Engagierte Literatur ist also keinesfalls eine Opfergabe des Autors auf dem Altar eines verspielten Vaterlandes; viel eher ist sie die stetige Neuschöpfung dieses Vaterlandes. Ihr Gegenstück wäre eine im freien Raum schwebende Literatur der Studierstube, die im Zeichen eines Historizismus mit den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart nichts zu tun haben will. Die Betonung des gemeinsamen Erbes steht also keineswegs im Widerspruch zur geistreichen Originalität und ästhetischen Invention. Auf sie hat Trzebiński Anspruch erhoben, als er das 16 17 18

Andrzej Trzebiński: Pamiętnik. Bearbeitung, Einleitung und Kommentar: Paweł Rodak. Warszawa 2001, S. 87. Im Folgenden im Text zitiert als (P mit entsprechender Seitenangabe). Wacław Bojarski: O nową postawę człowieka tworzącego. In: Konspiracyjna publicystyka literacka (Anm. 3), S. 51f. Stanisław Brzozowski: Testament Cypriana Norwida. In: Ders.: Eseje i studia o literaturze. Bd. 1. Auswahl, Einleitung und Bearbeitung Henryk Markiewicz. Wrocław 1990, S. 346.

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Schaffen der Okkupationszeit rezensierte, das Miłosz und Andrzejewski 1942 in der Anthologie Pieśń niepodległa zusammenstellten. Einerseits sah er darin die Oberflächlichkeit der messianisch-frommherzigen Stereotype, die das nationale Trauma zelebrieren, andererseits die Simplifizierung der Errungenschaften der Avantgarde, die sich in der Zwischenkriegszeit etabliert hatte: Allgemein gesagt: Die Lyriker haben mit dieser Anthologie ein Grab für die Avantgarde ausgehoben. Überspitzt könnte man sagen: dass es sogar ein Grab der Poesie ist. Die Poesie hat es nicht geschafft, auf eine originelle Art und Weise dem dauernden Krieg standzuhalten. Sie hat auf die Kunstfertigkeit verzichtet, sie hat auf die Frische verzichtet. Sie hat sich entschieden, ihren rein menschlichen Kummer, ihre Angst und Verzweiflung auszudrücken. Und da hat sich noch einmal herausgestellt: diese rein menschlichen Gefühle haben ihre Suggestivität und Dynamik verloren.19

Die Erlebnisse im Kontext der September-Niederlage, die Hindernisse und Grausamkeiten des Lebens im Besatzungsalltag spiegeln sich auf verschiedene Art und Weise in der Thematik und in der Sprache der Literatur wider. Czesław Miłosz hat während des Krieges die zerstörte Ordnung in Świat. Poema naiwne rekonstruiert, Julian Tuwim schrieb im Exil Kwiaty polskie, Władysław Broniewski verfasste Soldatenlyrik tyrtaischer Konvention. Gegen alle drei Autoren hat Andrzej Trzebiński heftig polemisiert. Er hat Miłosz bequemen Eskapismus, Tuwim Epigonalität und mangelnden Mut, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, und Broniewski Stereotypie und ‚Reimgeklingel‘ vorgeworfen. Die Auseinandersetzung mit den älteren Poeten trug Züge eines Generationenkonflikts, der in mehreren Nummern der Zeitschrift Sztuka i Naród ausgetragen wurde. Er brachte Skamander und die Krakauer Avantgarde in Misskredit; hingegen äußerte er sich zustimmend über die katastrophische Poesie von Józef Czechowicz und Czesław Miłosz, über die formale Gestaltung der avantgardistischen Gedichte von Julian Przyboś und über das groteske Schaffen von Witold Gombrowicz und – vor allem – Stanisław Ignacy Witkiewicz. Gleichzeitig sprach er dem in der Literatur der Zwischenkriegszeit dominierenden Determinismus, Lyrismus, Egotismus und auch der Metaphysik aktuelle kulturbildende Eigenschaften ab.20 Er stellte ihnen die aktive Erschaffung von Wirklichkeit entgegen: Die Kultur kann man ebenso wie jede gewöhnliche Erkenntnis nicht anders als durch die Tat erreichen. Erst aus der Wirklichkeitsgestaltung, erst durch freiwillige Verbundenheit mit der kollektiven Bewegung kann ein kultureller Wert in mir entstehen. In der Denkweise der Männer gilt es als absolut anerkannter Grundsatz, dass Individuum und Kollektiv im Widerspruch zueinander stehen müssen, dass ein Konflikt nicht zu vermeiden ist. 19

20

Stanisław Łomień [Andrzej Trzebiński]: Pieśń niepodległa. In: Sztuka i Naród 3–4 (1942). Abdruck in: Andrzej Trzebiński: Aby podnieść różę. Szkice literackie i dramat. Warszawa 1999. S. 93. In ähnlichem Ton hat sich Tadeusz Gajcy (Pseudonym Karol Topornicki) in seinem berühmten Artikel Już nie potrzebujemy (in: Sztuka i Naród 11–12 (1943)) über die Vorkriegsliteratur geäußert.

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Von dieser Annahme ausgehend hat tatsächlich jede Arbeit des Individuums im Dienste des Kollektivs den Charakter der Fronarbeit. Von dieser Annahme ausgehend bleibt in der Tat nur noch die Demokratie übrig, deren zaghafte Anforderungen an den Einzelnen ja leicht zu befriedigen sind.21

Trzebiński setzte seine Polemik fort in einem Manifest über den ‚Zwang der polnischen Kultur‘, Pokolenie liryczne i dramatyczne. Darin stellt er fest, dass „die Epoche der Worte in der Literatur abgeschlossen ist. [...] Es muss die Epoche der Taten beginnen.“22 Der bewussten Flucht der Poesie der Vorkriegszeit vor der Wirklichkeit in Richtung einer Kontemplation, die eine Domäne des amoralischen, subjektiven Wortes und mit dem „Prestige der Schwäche“23 belastet sei, stellte er den Bezug auf die Wirklichkeit gegenüber, der ein dramatisches, dialogisches Wort erzeuge, welches ein Ansatz des Handelns und Geschehens sei und die Annahme einer ethischen Haltung notwendig mache.24 Das Vorkriegspolen und seine Kultur bezeichnete er als „das phantastische Polen“, das unwirkliche Polen, das nicht den Ehrgeiz hatte, die Welt ganzheitlich zu betrachten. Deswegen postulierte er einen weit gefassten Realismus, den er als „Aufnahme der Menschen und ihrer Werke, die die Geschichte des 19. Jahrhunderts prägten, in die kulturelle Gegenwart“ und als „Kritik einer demokratischen wie auch einer totalen Kultur“ verstand. Das Ergebnis dieser Aktionen sah er darin, dass „wir selbst der polnischen Kultur eine glaubwürdige Rolle in den kulturellen Aufbrüchen Mitteleuropas und des Balkans bestimmen sollen.“25 In der Folge ist in der Zeitschrift Sztuka i Naród das Problem der literarischen Aufarbeitung des aktuellen geschichtlichen Moments und des nationalen Engagements verstärkt diskutiert worden. Diese Leitgedanken haben die jungen Redakteure mit dem Ziel verbunden, das sie in den apokalyptischen Kriegsjahren verfolgten: die Mentalität und die Art und Weise, wie die Polen über sich selbst im Kontext der Gegenwart und der Nachkriegszeit denken, zu verändern und die Polen zum Dialog mit der europäischen Kultur und mit Europa anzuregen. Trzebiński schrieb: „Die polnische Idee der Kultur wird nicht von der französischen, englischen oder überhaupt von der Weltkultur geprägt, sondern schafft aus sich selbst heraus ihre eigene Kultur, die dem Geist des Slawentums entspricht.“26 21 22 23 24

25 26

Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Udajmy, że istniejemy gdzie indziej. In: Sztuka i Naród 3–4 (1942). Abdruck in Trzebiński: Aby podnieść różę (Anm. 6), S. 38. Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Pokolenie liryczne i dramatyczne, In: Sztuka i Naród 5 (1942). Abdruck in: Ebd. S. 102. Vgl. Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Prestige słabości. In: Sztuka i Naród 9–10 (1943) Abdruck in: Ebd., S. 40ff. Vgl. Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Pokolenie liryczne i dramatyczne. In: Sztuka i Naród 5 (1942). Abdruck in: Ebd., S. 102–109. Dieses Programm hat er vor allem in seinem Drama Aby podnieść różę realisiert. Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Polska fantastyczna. In: Sztuka i Naród 11–12 (1943). Abdruck in: Ebd., S. 27. Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Przebudowa polskiej świadomości kulturalnej. In: Kuźnia. Miesięcznik Literacki Ruchu Miecz i Pług 2 (1943). Abdruck in: Ebd., S. 45.

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Seinen Versuch, den ‚imperialen‘ Kulturmythos zu schaffen, hat Trzebiński mit der Notwendigkeit erklärt, sich den Ängsten der Intelligenz vor einer politisch determinierten Kultur widersetzen zu müssen. Dem eigenen Gewissen und der verinnerlichten äußeren Wirklichkeit folgend, hatte diese ‚imperiale‘ Kultur die Aufgabe, alles Polnische ins Universelle umzuformen. In Verbindung mit dem Streben nach realistischer Wiedergabe der äußeren Realität bildete der Mythos die Grundlage dafür, eine breite Kulturbewegung anzuregen, die das gesellschaftliche und nationale Bewusstsein gestalten würde. Trzebiński war der Meinung: Es gibt gute Voraussetzungen für eine solche Bewegung der polnischen Kultur. Diese Voraussetzungen liegen in den bitteren vier Jahren eines Krieges, wie wir ihn in der bisherigen Geschichte noch nicht erlebt haben, der für die Schwachen tödlich war, die Starken dagegen noch weiter stählte. Wenn man aber andererseits die polnische Tradition der Minderwertigkeit, die Frage nach ethischer Verantwortung – die in Polen individuell begriffen wird –, den übertriebenen Ehrgeiz und den fehlenden geschichtlichen Stolz im Auge behält, [...] wenn man die polnische kulturelle Realität betrachtet, fällt es schwer, die Behauptung zu wagen, dass im Klima der imperialen Kultur und unter anderen günstigen Umständen die Früchte der Kriegsrevolution reifen könnten. Wenn man in Polen über das Reifen von irgendetwas spricht, grenzt das immer an Spott.27

Man sieht, dass mit der ‚imperialen‘ Rhetorik ein Postulat zusammenhängt, das in der polnischen Literatur gar nicht neu ist. Es geht darum, dass der polnische Intellektuelle und Künstler ‚Kleinkleckersdorf‘ verlassen möge. In dieser Hinsicht setzt Trzebiński Brzozowski, Irzykowski, Uniłowski und Gombrowicz fort (er ist auch ein Bindeglied, das die Zwischenkriegszeit mit der ‚Auseinandersetzung mit der Intelligenz‘ in der Prosa der Nachkriegszeit verbindet). Seine Aufgabe bestand darin, das Projekt einer nationalen Kultur zu unterstützen, die selbstständig und ‚imperial‘ ist und die auf dem Fundament des Christentums und des universellen Denkens ruht. Die Kultur gilt hier als Wegweiser eines sogenannten dritten Weges, eines Weges zwischen Liberalismus und Totalitarismus. Einige Forscher haben in dem Universalismus von Trzebiński eine Faszination für die faschistoiden Ideologien Bolesław Piaseckis und Pfarrer Józef Warszawskis28 gesehen. In dem Werk Metoda ‚złotego szczytu‘ zeigt sich dagegen die ganz persönliche Einstellung Trzebińskis diesem Problem gegenüber. Im Zentrum seines Denkens steht der historisch denkende Mensch, der in seinem Handeln die Gebote Gottes berücksichtigt und der sich des ewigen Konflikts zwischen dem Individuellen und dem Übergreifenden bewusst ist. Zwischen diesen beiden Polen verläuft der Prozess des individuellen Reifens, der Identitätsfindung, der Gewinnung einer eigenen ethischen Haltung:

27 28

Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: W klimacie kultury imperialnej In: Sztuka i Naród 13 (1943). Abdruck in: Ebd. S. 71. Vgl. Maria Janion: Płacz generała. Eseje o wojnie. Warszawa 1998, S. 54–61; Elżbieta Janicka: Sztuka czy naród (Anm. 7), S. 34–51.

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Der Universalismus – die Philosophie der Ausgewogenheit – zeigt jedem von uns seine eigene Bahn. Manchmal ist das schwer, bis zum Heulen. Man muss sein eigenes Verhältnis zu diesen beiden Polen herausbilden, zu diesen diametral entgegengesetzten Lebenswerten; man muss den komplizierten Weg finden, der nur für einen selbst gelten kann. Den Weg in die Atmosphäre des Lebens, nicht den zum Pol des Todes. [...] Eine Formel für die Ordnung des Herzens!29

Also eine Formel für ein reines Gewissen, für den Einklang mit sich selbst und das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben. Der Universalismus, der nichts anderes als ein Abriss der nationalen Gesellschaftsphilosophie ist, konfrontiert jeden Menschen mit dem Imperativ, sein eigenes Leben gezielt zu gestalten. Sein Motiv klingt in dem unvollendeten autobiographischen Roman Trzebińskis, Kwiaty z drzew zakazanych, an, den man zu den charakteristischen Gesellschaftsromanen aus der Prosa der Zwischenkriegszeit zählt. Die Handlung spielt unter jugendlichen Intellektuellen, die eine Zeitschrift redigieren und auf die kulturelle Bewegung konzentriert sind, die von dem Protagonisten Zbigniew initiiert wird, der zugleich Sprachrohr von Trzebiński ist. Der Roman entpuppt sich als kunstgerechte Antwort auf die Frage: Wer will ich sein, zum Teufel! Wer will ich sein? Man muss nicht nur mit dem Hedonismus Westeuropas kämpfen, sondern auch mit der konsequenten Missachtung der Geschichte der gegenwärtigen und realen Demokratien. Die gegenwärtigen Demokratien reden nie von der „Nation“, sie reden lediglich von der „Gesellschaft“, eben deshalb, weil mit der „Nation“ jene Geschlechterreihe gemeint ist, die meine Vergangenheit mit meiner Zukunft verbindet, während die „Gesellschaft“ nur unsere jetzt lebenden Zeitgenossen im Blick hat. Diese haben zwar bestimmte gemeinsame Eigenschaften, aber keine gemeinsamen geschichtlichen Spannungen.30

Zbigniew verfolgt die Aufgabe, die intellektuellen Auseinandersetzungen und Diskussionen auszulösen, die man schon als Themen aus den publizistischen Schriften Trzebińskis kennt. Die Autorität, derer sich Zbigniew erfreut, erhebt ihn in die Position des Mentors und Erziehers einer Elite, die mit Hilfe ihres Schaffens die Kultur und somit den Charakter der Epoche und des Volkes mitgestalten kann. Es ist wichtig, dass für Zbigniew bei der Realisierung seiner kulturellen Mission Gott das Fundament ist. An ihn richtet Zbigniew die Bitte: Du Gott, der die Geschichte als eine Gewissensaufgabe vor den Menschen stellt, der seit Ewigkeit den Weg durch die bahnbrechende, höllische Tür der Geschichte weist. Du Gott, schenke ihnen die Ambitionen, die meinen gleichzusetzen sind, oder [...] gib mir die Menschen, die alle Ambitionen endgültig aufgegeben haben. (K, 407)

Nach Trzebińskis Meinung hat der für die Demokratien charakteristische Kult der Gegenwart die geschichtliche Idee zerstört, situiert er doch den Menschen außerhalb von 29 30

Stanisław Łomień [A. Trzebiński]: Metoda „złotego szczytu“. (Glosy na temat uniwersalizmu). In: Sztuka i Naród 7 (1943). Abdruck in: Andrzej Trzebiński: Aby podnieść różę (Anm. 6), S. 60f. Andrzej Trzebiński: Kwiaty z drzew zakazanych. In: Kwiaty z drzew zakazanych. Proza. Einleitung und Bearbeitung Zdzisław Jarzębski. Warszawa 1972, S. 318. Im Folgenden im Text zitiert als (K mit entsprechender Seitenangabe).

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Ursache und Wirkung, von Entwicklung und Zerstörung, außerhalb der Metaphysik. Er führt den Menschen in Richtung eines bedenkenlosen Hedonismus, Ästhetizismus sowie einer schrankenlosen Immoralität (vgl. K. S. 320), drängt ihn also in die reine Aktualität. Indessen ist die Antwort auf die Frage nach der Identität des Einzelnen nur in einem ethischen, metaphysischen, geschichtlichen und national-gesellschaftlichen Kontext der Spannungen möglich, die alle Tätigkeiten eines Individuums stimulieren. Nach Meinung Zbigniews/Trzebińskis liegt die Quelle dieser Identität in der historischen Vergangenheit, in den dort geschaffenen Mythen und Vorstellungen: „Das neunzehnte Jahrhundert war für ihn immer ein intimes, persönliches, privates Eigentum. Und die Bibel zugleich.“ (K, 295) Die Bewunderung hervorragender Persönlichkeiten (Mochnacki in Kwiaty…, Brzozowski in Pamiętnik) wurde in der Prosa und im Leben Trzebińskis immer zum privaten Mythos, zur persönlichen Pflicht. Aus der extremen Kriegssituation deduzierte er einen Raum der Selbstrealisierung, der durchdachten Konstruktion des ‚Ichs‘, die ihn beständig mit der Welt zu verbinden vermag: „[K]einen Augenblick lang habe ich auf die Größe verzichtet, [...] ich will ein großer Mensch sein, etwas ohne Zuteilung, ein bisschen wie Calvin, Leonardo, Tolstoi, Hegel oder Mochnacki, was eine geschichtliche Epoche ausmacht.“ (K, 346). Trzebiński entwarf Zbigniew als ‚Protagonisten der Epoche‘ und schrieb gleichzeitig im Tagebuch: „Die Geschichte quält und blendet mich. Ich kann nicht außerhalb der Geschichte, außerhalb der Sphäre von Mythos und Legende leben [...]. Die Epoche zieht mich an – und die Politik kann das nicht schaffen, so wie die Literatur das nicht schaffen wird.“ (P, 213). Die individuelle und generationsübergreifende ‚epochale Größe‘, die darauf beruht, für eigenes Tun und für die Wirklichkeit, in der wir leben, ethisch verantwortlich zu sein, offenbart sich in der Aufgabe des Autors und Erziehers, die er in Korzenie i kwiaty myśli współczesnej umschreibt: [D]ie Intelligenz auf den richtigen Weg zum Absoluten hinweisen… Das Absolute erreicht man nicht durch ‚Trennung vom...‘, sondern durch Hineinwachsen, Verwurzelung und dadurch, dass man in der Welt seinen eigenen Standort findet. Durch Erlangung der Fülle seiner Individualität. Das Absolute ist ein Saft der Erde, in der wir verwurzelt sind, es ist der nicht hinterfragbare, einmalige Preis unseres Standorts auf der Erde.31

Die übergeordnete Frage im kulturellen Programm Andrzej Trzebińskis war also die Entwicklung eines jeden Individuums. Die Voraussetzung dieser Entwicklung stellt die Verankerung in der Tradition, Geschichte und Sprache der Vorfahren dar. Dank ihr lassen sich die Wegweiser zum Unveränderten, zum Absoluten schneller finden, was der menschlichen Existenz eine weitere Dimension verleiht. Es ermöglicht auch, sie in der Perspektive eines Ewigen zu betrachten und sich das Recht auf Größe zu erwerben. Wenn wir den Kontext des Krieges in Betracht ziehen, kann sich die starke Stimme des zwanzigjährigen Trzebiński, die aus dem okkupierten Warschau – das von Miłosz „Eu31

Stanisław Łomień Jastrzębski [A. Trzebiński]: Korzenie i kwiaty myśli współczesnej. In: Sztuka i Naród 5 (1942). Abdruck in: A. Trzebiński: Aby podnieść różę (Anm. 6), S. 55.

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ropas Anus“ genannt wurde – ertönte, als der tragische, groteske, aber mit Sicherheit präzis durchdachte Gestus der Auflehnung und einer Verwerfung westeuropäischer Kultur offenbaren, die den Krieg und die durch ihn hervorgerufenen unmenschlichen geschichtlich-politischen Prozesse nicht verhindert hat. Die Zeit der Missachtung und Zerstörung hat bei den jungen Autoren, die sich um die Zeitschrift Sztuka i Naród gruppierten, eine beschleunigte intellektuelle Reifung und Umorientierung in die Wege geleitet. Deswegen war auch das Zurückgreifen von Andrzej Trzebiński – der mit seinem während der Okkupation gebrauchten Pseudonym ‚Łomień‘ auf die Verbundenheit mit dem Denken Brzozowskis33 hinwies – auf die spezifische Form des Tagebuches34 eine logische Folge. Das zeugte auch davon, dass der Wert des Zusammenhangs des Lebens mit den postulierten Ideen, der sich in der Autobiografie Brzozowskis offenbart, emotional und intellektuell empfunden wurde. Das Tagebuch zeigt, wie aus der eigenen Existenz und dem eigenen Schaffen Einheit und gezielte Tat hervorgehen können. Es zeigt auch, dass diese Einheit unter der Voraussetzung erreicht werden kann, dass die Tradition überprüft, neue Wertehierarchien und eigene Formen hervorgebracht werden. Das Verhältnis, das sich zwischen den Schriften Brzozowskis und Trzebińskis etablierte, war ein Meister-Schüler-Verhältnis. Ähnlich wie auf das Tagebuch Brzozowskis35 muss man auch auf das Tagebuch Trzebińskis wie auf eine Realisierung der Subjektivität schauen, die im Rahmen eines existentiellen Projektes gedacht wird. Davon zeugt der subjektive und theologische Charakter der Selbstreflexion, die den Charakter, die Haltung und das Bild Trzebińskis antizipiert. Ich bin ein Mann und habe ein feurig und schrill gleißendes Ziel vor Augen – nichts kann mich brechen. Ich schreibe das nicht als ehrgeizige Lobeshymne – ich bin keineswegs ruhig und im Vertrauen auf meine Kräfte – ich schreibe das im Sinne eines bitteren, großen Befehls, den ich mir selbst erteilt habe. Ich unterscheide aber diese Tatsachen, ich empfinde die Belastung dieses Unterschieds.

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Czesława Miłosza autoportret przekorny. Die Gespräche hat Aleksander Fiut durchgeführt. Kraków 1998, S. 64. Wie allgemein bekannt, war Trzebiński mit der Zeitschrift Sztuka i Naród verbunden, jedoch haben nicht nur die Autoren dieser Zeitschrift an das Schaffen Brzozowskis angeknüpft. „Płomienie“ sind mit dem Motto aus dem Roman Brzozowskis versehen, es ist zugleich der Titel der Okkupationszeitschrift der jungen Sozialisten. Trzebiński schreibt den ersten Teil des Tagebuches, ähnlich wie Brzozowski, in Form von tagebuchartigen Notizen. Ich polemisiere gegen die Ansicht, dass die Autoren ihre Werke unreflektiert einer bestimmten Gattung zuordnen. Solch eine Ansicht ist lediglich mit der namenkundlichen Tradition verbunden, die es erlaubt, Gattungstermini synonym zu verwenden. Vgl. Paweł Rodak: Płomień. O Andrzeju Trzebińskim i jego „Pamiętniku“. In: Andrzej Trzebiński: Pamiętnik. Bearbeitung, Einleitung und Fußnoten Paweł Rodak. Warszawa 2001, S. 5–40, hier S. 15. Vgl. Barbara Gutkowska: Na początku był… „Pamiętnik“ Stanisława Brzozowskiego. In: Dies.: Odczytywanie śladów. W kręgu dwudziestowiecznego autobiografizmu. Katowice 2005, S. 18–46.

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O, Gott – Du allein weißt – wirklich Du allein, Gott, der doch existieren muss und an den ich momentan so sehr glaube – Du allein weißt, welch ein mühseliges, von Übel und von Bitterkeit übervolles Leben ich habe. Wie leicht wäre es, zu sterben. Vor allem, wie einfach. Aber ich habe mich darin einmal verwickelt, ich habe die Geschichte herausgefordert, ich bin im Allgemeinen, es muss nach mir in ihr mindestens ein Schatten weiterbestehen, auch wenn es ein roter, blutiger Schatten wäre. (P, 217)

Trzebińskis Aufzeichnungen in seinem Tagebuch, die er in den Jahren 1942/43 niederschrieb, weisen die Form facettenreicher Fragmente auf, die die Fragwürdigkeit, Inkohärenz und Labilität der beschriebenen Welt widerspiegeln. Sie wurden in Eile, im Schatten des Todes geschrieben, gleich dem gesamten Schaffen der Zeitschrift Sztuka i Naród. Sie zeichnen sich jedoch durch die Intimität des Bekenntnisses aus, durch eine persönliche ‚Abschiedsgeste‘, eine Art Vermächtnis, das sich an künftige Generationen richtet.36 Wenn man den Kontext des Krieges und das Wissen um die Schicksale der der Reihe nach erschossenen Mitglieder von Sztuka i Naród berücksichtigt, gewinnt jeder ihrer publizistischen, poetischen und prosaischen Texte an Zeugniskraft. Ich sehe sie als Testamente der Soldaten der Untergrundarmee und der Autoren zugleich, der Menschen, die das Wort mit dem Tun zu verbinden wussten. Sie waren sich bewusst, dass aus der kriegerischen Katastrophe Werte, moralische Haltungen und Ansichten in die Nachkriegszeit übertragen werden müssten, die eine neue Wirklichkeit erbauen und die Form der künftigen Welt beeinflussen helfen könnten. Am Beispiel von Trzebińskis Prosa kann man deutlich sehen, dass die Arbeit an sich selbst und die schöpferische Beharrlichkeit nicht unbedingt in der Falle der Egozentrik münden müssen, sondern auch in Richtung eines zeitlosen, universellen Ethos führen können. Es geht um den Dienst am Kollektiv und seiner Kultur, um den Willen zur Auflehnung gegen die geistige Verkümmerung, um die Entfaltung der persönlichen Verantwortung für die Wirklichkeit, um die Verbindung zwischen dem Wort und dem Tun und um die Suche nach dem Absoluten. Alles also Eigenschaften, die den Kern der menschlichen Kultur ausmachen, die ein Antidot gegen Ausrottung, Relativierung der Werte und Nihilismus bilden können. Als Tadeusz Borowski in seinem Gedicht Gdziekolwiek ziemia voraussah, dass ein „Alteisen / Und ein stummes, spottendes Lachen der Generationen nach uns“37 übrigbleibt, protestierte Wacław Bojarski: Eben nicht! Auch wenn uns die brachialen Schuhe des Henkers treten, wenn sie unsere Körper in die Erde hineindrücken würden, uns zerstört, kaputtgemacht, platt getreten hätten, auch wenn er unsere erbärmliche Waffe in einen Schutthaufen verwandeln würde: dann wäre doch unser unerfüll-

36

37

Vgl. Anna Legeżeńska: Gest pożegnania. Szkice o poetyckiej świadomości elegijno-ironicznej. Poznań 1999. Eine poetische Form des Testaments von Sztuka i Naród ist das Gedicht Do potomnego von Tadeusz Gajcy. Tadeusz Borowski: Pieśń. In: Ders.: Utwory wybrane. Bearbeitung: A. Werner, Wrocław 1991, S. 10.

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Barbara Gutkowska

ter, unerdrosselter, leidenschaftlicher Schrei für die künftigen Generationen – der Wunsch nach dem starken Guten.38

‚Der Wunsch nach dem starken Guten‘ ist die Essenz des Lebens und Schaffens der Zeitschrift Sztuka i Naród, ein Bestandteil des Wesens ihrer Beiträger. Um diesen Wunsch realisieren zu können, zögerten sie nicht, ihr eigenes Leben zu opfern, weil sie folgenden Standpunkt vertraten: „Das eben verpflichtet doch: es gibt, wie in jedem realen Leben, die Opfer, aber ihre Existenz – verpflichtet doch.“ (K, 410). Ihr moralisches Postulat, das mit dem Tod besiegelt wurde und zugleich in die Zukunft weist, ihre Verpflichtung zur Verantwortung für die Welt, vermag eine konstante, Kultur ermöglichende Diskussion über den Sinn des Kampfes und des Todes, über das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur, den Wert des Individuums, die Funktionen der Kultur, des Künstlers und der Gesellschaft anzuregen.

38

Jan Marzec [W. Bojarski]: Co po nas zostanie. In: Sztuka i Naród 6 (1943). Abdruck in: Konspiracyjna publicystyka literacka (Anm. 3), S. 218.

ALEKSANDRA UBERTOWSKA

Die Postmoderne und die polnische Holocaustliteratur – lokale Zusammenhänge

Die postmoderne Perspektive kontrastiert stark mit der tradierten Aufnahme der Holocaustliteratur, die den Vorzug dem faktographischen Bericht gibt und somit Anspruch auf ein Authentizität implizierendes Dokument erhebt, das seinen unverfälschten Ausdruck durch unaufdringliche Darstellungsstrategien und stark reduzierte künstlerische Gestaltung des Textes erlangt.1 Die postmoderne Literatur durchbricht diese anerkannten Grundsätze und setzt ihre eigenen epistemologischen wie ethischen Maßstäbe entschlossen, fast rebellisch, durch. Sie gilt als ein gesetzloses Spiel sowie eine bricolage, deren formelle Pluralität die Relativität der ästhetischen Ordnung enthüllt. Die postmoderne Kunst ist auch autotelisch – sie bedarf keiner intratextuellen Referenz. Die konträren Voraussetzungen für die Texterstellung führen zu der Annahme, dass die Postmoderne im Widerspruch zur Holocaustliteratur steht. Dabei gibt es Forscher, die den Standpunkt vertreten, dass die Postmoderne den begrifflichen und erkenntnistheoretischen Durchbruch initiierte, infolge dessen der Holocaust angemessenes Format und Resonanz gewann. Er sei eine beispiellose Umbruchsituation und eine bedeutsame Zäsur in der Geschichte der Moderne,2 deren Bedeutung weit über den geschichtlichen Kontext hinauswachse und dementsprechend auch im ideengeschichtlichen und philosophischen Diskurs widerhalle. Die postmoderne Geschichtstheorie von Hayden White, Frank Ankersmit, Dominick LaCapra und der philosophische Poststrukturalismus (u. a. Feuer und Asche von Jacques Derrida und Was von Auschwitz bleibt – ein Essay von Giorgio Agamben3) haben dokumentiert, wie die Erinnerung an die Judenvernichtung die europäische Selbsterkenntnis geprägt hat. 1 2 3

Vgl. Berel Lang: Przedstawianie zła: etyczna treść a literacka forma. In: Nazistowskie ludobójstwo: akt i idea, S. 131–172. Vgl. u. a. Przemysław Czapliński: Zagłada jako wyzwanie dla refleksji o literaturze. In: Teksty drugie 5 (2004). S. 9–22. Vgl. Alan Milchman und Alan Rosenberg: Eksperymenty w myśleniu o Holocauście. Auschwitz, nowoczesność i filozofia. Warszawa 2003.

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Aleksandra Ubertowska

In der theoretischen Auseinandersetzung mit der postmodernen Poetik klingt beständig der Vorwurf der Unfähigkeit zur angemessenen Holocaustdarstellung an, daher wird ihr das Recht darauf abgesprochen. Der postmoderne Roman von Anne Michaels, David Grossmann, Jonathan Foer, Bernhard Schlink, Elfriede Jelinek;4 Eva Prager, Jonathan Littell setzt diesen Vorwurf außer Kraft. Robert Eaglestone,5 ein englischer Philologe, behandelt die postmodernen Strategien, die zur literarischen Holocaustaufnahme entwickelt wurden, in einer Monographie.

Zwischen Autothematik und Postgedächtnis In Eaglestones Studie gilt die Identifikation als eine zentrale Kategorie, die in mancher Hinsicht die vom Holocaust gesetzten Grenzen der Repräsentation aufhebt. Die Besonderheit des Vernichtungsschrifttums soll in seiner Aufnahme liegen. Der Leser vertieft sich in die Holocaustliteratur ohne richtungsweisende Wahrnehmungsmuster. Der Holocaust besteht aus einer beispiellosen Erfahrung, die jedwede Identifikationsversuche zum Scheitern verurteilt. Eaglestone behauptet, Primo Levi und Elie Wiesel nähmen Bezug auf sprachliche Zeichen, die keine Denotate in der außersprachlichen Wirklichkeit haben, denn sie geben Erfahrungen wieder, die die menschliche Wahrnehmungs- und Erkenntnisgrenze weit überschreiten. Das Unvermögen der Identifikation potenziert jedoch im Leser das Bedürfnis nach Anteilname. Der neue Humanismus der Nachkriegszeit liefert die dafür erforderliche Begriffsbestimmung. Er definiert erneut die Menschlichkeit, indem er neue Maßstäbe für die Körperhülle setzt, die ihren zugehörigen Körperstatus wiedergewinnt und auch, wie Agamben postulierte, in ihrer zerbrechlichen Existenz respektiert wird. Der unbeholfene Identifikationsakt sei, nach Eaglestone, eine rein menschliche Aufnahmestrategie, die erfolgt, weil Lager- und Kriegsbericht narrativen Charakter haben. Dies schaffe die besten Voraussetzungen für die Identifikation mit der erzählten Geschichte. Die Kunst der Erzählung, die Anwesenheit des Erzählers, wie auch die ursächlich bedingte Handlung und ihre Kulminationen sollen prinzipiell zur emphatischen Aufnahme der dargestellten Welt auffordern. Die postmoderne philosophische Auffassung des Menschen, des Subjekts und des Textes, der die Rolle des Gedächtnisses übernimmt, bleibt nicht ohne Einfluss auf die Vernichtungsliteratur. Eaglestone umreißt Voraussetzungen und Umstände, die dem postmodernen Vernichtungsbericht zugrunde liegen; er beruft sich dabei auf Sue Vice. 1. Die Autothematik und die künstlerische Selbstreflexion kennzeichnen den postmodernen Bericht. Es sind Texte, die den Text selbst thematisieren und den Ursprung der

4

5

Vgl. Alexandra Pontzen: Die Wiederkehr des Verdrängten im Akt der Lektüre. Zu Elfriede Jelineks ‚Das über Lager‘ (1989) und ‚Die Kinder der Toten‘ (1995). In: NachBilder des Holocaust. Hg. v. Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln, Weimar und Wien 2007. S. 91–110. Robert Eaglestone: The Holocaust and the Postmodern. Oxford u.a. 2008.

Die Postmoderne und die polnische Holocaustliteratur – lokale Zusammenhänge

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6

Textualität begreifen wollen, meint Eaglestone. Der postmoderne Roman findet in der Regel besonderes Gefallen am Nebulösen und Strittigen im literaturtheoretischen Diskurs; er greift vor allem die Frage des Fiktiven und des Fiktionalen in der Prosa der Vernichtung auf. 2. Die Selbsterkenntnis und der Scharfsinn der Autoren werden durch den Text beglaubigt; seine undurchschaubare Textur und sein heterogener, sybillinischer Aufbau, der stilistische, typologische und sprachliche Pluralität auf der fiktiven und metatextuellen Ebene vereinbart, hebt endgültig die klare Grenze zwischen beiden Diskursen auf und löst somit ein ontologisches Chaos aus.7 3. Das Postgedächtnis – diese Kategorie stammt von Marianne Hirsch8 und bildet für die Holocaustliteratur einen signifikanten begrifflichen Inhalt, der die Nächsten der Kriegsopfer in den Diskurs integriert. Zur postmodernen Holocaustliteratur zählen auch autobiographische Texte der Nachkommen, in denen die ‚Poetik der Diaspora‘ anklingt. Den narrativen Rahmen für diese Geschichten bilden in der Regel Vertreibung, Umsiedlung, räumliche Opfergabe und das damit verbundene Gefühl der Entfremdung. Die Vernichtung und der Krieg erscheinen dort in gleichem Maße vergangen wie räumlich unnachweisbar und kulturell unergründlich.9 4. Die postmoderne Holocaustprosa verzichtet generell auf jeglichen externen Bezugspunkt, auf den referenziellen Wert, der der traditionellen Poetik des Zeugnisses zugrundeliegt. Sie führt zwei Arten von Tatbeständen ein: einerseits den logischen (faktographischen) Tatbestand, der auf die Übereinstimmung zwischen der Vorstellung und den realen Bedingungen zurückzuführen ist, und den ethischen Tatbestand, für den die beispiellose Grenzerfahrung des Lagers und des Ghettos maßgebend ist. Diese Ambiguität eröffnet der fiktionalen Literatur freien Raum für diverse künstlerische Experimente. Es liegt wohl an der kulturellen Entfremdung; die fehlende räumliche Unmittelbarkeit der Orte und der Architektur, die sich der Optik und der Haptik entziehen, relativiert die Wertmaßstäbe.10 5. Schließlich folgt eine Bemerkung, die den Standpunkt dieses Artikels am deutlichsten zum Ausdruck zu bringen vermag. Von Bedeutung sei nicht die Holocaustliteratur alleine, sondern auch der Leseakt an sich. Eaglestone will mit dieser Feststellung darauf

6 7 8 9 10

Vgl. ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 98. Marianne Hirsch: Family Frames. Photography, Narrative, and Postmemory. Cambridge 1997. Vgl. Eaglestone: The Holocaust and the Postmodern (Anm. 5), S. 99. Vgl. ebd.

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aufmerksam machen, inwieweit der Leser selbst durch den Akt der Lektüre die Aufnahme (mit-)bestimmt respektive den Text selbst mitgestalten kann.11 Demzufolge darf Bruchstücke von Benjamin Wiłkomirski auf zweierlei Arten ausgedeutet werden – als Fälschung respektive als verzerrtes Dokument einerseits, oder als eine Parodie, die in jeder Hinsicht auf die formellen Voraussetzungen dieser Gattung eingeht andererseits. Der Aufnahmeakt, der dem Leser eine gestalterische Befähigung zuspricht, hat auch einen kulturell-geschichtlichen Kontext. Der bewusste Leser interpretiert einen Text unter Berücksichtigung der Zeit und der Epoche. Diese Annahme gilt auch für die gegenwärtige polnische Literatur der Vernichtung, die sich beharrlich jeglicher Analyse entzieht, solange der ästhetische Untersuchungsrahmen nicht entscheidend auf das territorial-chronologisch Spezifische eingeschränkt wird. Dies dürfte auf die poststrukturalistische Holocaustprosa hindeuten, es bestehen jedoch viele Merkmale, die die polnische Literatur von der amerikanischen und der westeuropäischen unterscheiden (dies wird am Ende des Textes erneut zur Sprache gebracht). Die lokal beschränkten Zusammenhänge in der postmodernen Holocaustliteratur, die im Titel dieses Textes angedeutet wurden, dürfen unterschiedlich interpretiert werden: einerseits als ein räumlich und zeitlich bedingtes Phänomen (in Polen, wo sich der Holocaust vollzog, gewinnt der lokale Aspekt ein großes Gewicht) und andererseits als ästhetisch verwandte Gebiete, die übereinstimmende Punkte aufweisen. Trotz aller Einwände, die gegen die polnische postmoderne Literatur erhoben werden, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sie eine beachtliche Vielfalt vereint und von Autoren stammt, die alle die Nachkriegsgenerationen vertreten. Zu den bekanntesten gehören Romane von Piotr Rawicz, Marian Pankowski, Bogdan Rutha, Stanisław Lem wie auch Texte von Marek Bieńczyk, Piotr Szewc, Zyta Rudzka, Andrzej Bart, Bożena Umińska-Keff, Piotr Paziński, Agnieszka Drotkiewicz. Diese Sammlung weist Unterschiede in der Gattung wie auch in der künstlerischen Botschaft auf, aber der Stil verbindet alle genannten Autoren. All diese Texte entziehen sich einer klaren formellen Klassifikation und vereinbaren diverse Poetiken. Unter ihnen finden wir: einen Dekonstruktionsroman (Tworki von Marek Bieńczyk), einen autobiographisch-surrealistischen Roman (Blut des Himmels von Piotr Rawicz), eine Holocaustallegorie (Paris, London, Dachau von Agnieszka Drotkiewicz), fiktive Alternativgeschichten (Die Fliegenfängerfabrik von Andrzej Bart) und einen grotesken Mikroroman (Była Żydówka, nie ma Żydówki von Marian Pankowski). Trotz der gewissen Unterschiede im genealogischen Status, in der Generationszugehörigkeit der Autoren und in der Aufnahme der traditionellen Poetik des Zeugnisses und der Autonomie des Leseaktes gilt eine spezifische Strategie für alle Texte. Der Bericht geht auf den ethischen Tatbestand zurück und wird dem logischen vorgezogen. Diese Perspektive befähigt zur Darstellung einer fantasievollen, exzentrischen und kontroversen Holocaustgeschichte. 11

Vgl. ebd., S. 101.

Die Postmoderne und die polnische Holocaustliteratur – lokale Zusammenhänge

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Die Geschichte ist eine Narration Die Fliegenfängerfabrik von Andrzej Bart12 bietet eine festgelegte Rezeptionsstrategie. Die autothematischen Episoden und Digressionen bergen einen Schlüssel zur Aufnahme und Interpretation. Der Roman erzählt die Geschichte eines fiktiven Gerichtsverfahrens, das gegen Chaim Rumkowski, den Vorsitzenden des Judenrates im Lodzer Ghetto, geführt wurde. Der Text darf auf zweierlei Art gedeutet werden: in Bezug auf die Geopoetik wie auch auf die postmoderne Geschichtstheorie der Narrativisten. Der Raum spielt eine wichtige Rolle im Roman, er prägt ihn. Die Stadt darf nicht alleine auf das rein Substanzielle, auf den nachweisbaren Hintergrund und auf den Handlungsort beschränkt werden. Bart verwandelt Lodz in einen narrativen Raum, der die Spuren der Anwesenheit der längst verstorbenen jüdischen Stadteinwohner in die Geschichte dieser Gegend aufnimmt. Die Vergangenheit erstreckt sich über die Architektur und über die Onomastik. Die topographisch belegten Stationspunkte (die Fabrik von Poznański, der Radegaster Bahnhof, die Vorstadt Marysin im nördlichen Stadtgebiet von Lodz) in der Geschichte der jüdischen Gemeinde verwandeln die Stadt in einen historiographischen Text und das Wandeln durch die Stadt wird sodann zu einem Leseakt. Man kann sagen, Bart verwertet das Motiv des Flaneurs – des klassischen Lustwandlers von Baudelaire – und modifiziert seine Bedeutung, indem er eine direkte Verbindung zum Holocaust schafft, der als der tragische Ausklang der modernen Geschichte gilt. Die Fabrik und das Palais, die wichtigsten Gebäude in dieser Gegend, gehörten einmal einer Familie, deren einer Sohn ein gar nicht übler Tennisspieler gewesen war. Er spielte zwar nicht so gut wie die Gebrüder Stolarow, doch gewann er zwei Turniere an der Côte d’Azur. In die Geschichte Lodzs ging er als derjenige ein, der als Erster in Polen ein Bild Picassos kaufte. Über die beiden Männer, die es ihm verkauften, wusste ich viel, ich habe sogar einmal über sie geschrieben, doch tut das hier nichts zur Sache. Die zahleichen Lagerhallen und Großhändler waren fortgezogen, und von den hier geparkten Autos war nur ein verlassener, dazu noch angesengter Reifen zurückgeblieben. Niemand bewachte hier etwas, umso mehr verdienten die Alteisenhändler ein Lob. Von den Gleisen, die zur Fabrik führten und auf denen früher die Rohstoffe aus aller Welt angefahren und danach die fertigen Produkte weggebracht wurden, hatten sie nur jede zweite Schiene mitgenommen. Die Armen glaubten offenbar, dass hier noch einmal ein Zug auftauchen und dann auf den übrig gebliebenen Schienen irgendwie würde fahren können. Das Haus mit der Nummer 17 sah nicht gut aus. Einstmals stattlich, da es direkt neben dem Palais stand, erinnerte es jetzt an einen bekannten Rechtsanwalt, der vor den Augen der ganzen Stadt langsam verkam, bis ihm am Ende seines Lebens ein Rudel Hunde folgte und ständig das Hosentürchen offenstand. Blinde Fenster, alles grau in grau, Regenflecken bis zum ersten Stock, kurz, ein Gemäuer so tot wie die ganze Gegend. Soweit ich weiß, überlebten hier am längsten die Büros und ärztlichen Ambulanzen, und im Palais daneben ein Kinderhort oder Kindergarten. Ich weiß nicht, warum ich dafür so viel Tinte vergeude. Die einzige Rechtferti12

Andrzej Bart: Die Fliegenfängerfabrik. Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp. Frankfurt/Main 2011.

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gung, die mir dazu einfällt, ist der Wunsch, die eigene Aufmerksamkeit von der Tür abzuwenden, die bestimmt verschlossen ist und deren Klinke ich der Ordnung halber herunterdrücken sollte. Doch sie ist offen und quietscht nicht einmal.13

In dem Roman wird von Anfang an die Besonderheit des imaginären Raumes hervorgehoben – die Bildhaftigkeit, die illusorische Topographie der Stadt und deren wandlungsfähiges Wesen. Das Geschehen spiegelt sich im Raum wider; zuerst geht die Straße fließend in ein Labyrinth der Gänge (wahrscheinlich im Posener Residenzschloss) über, dann verwandelt sich der Gerichtssaal in eine Bühne, wo Schauspieler, während sie Shakespeares Dramen aufführen, die Ghettogeschichte in Szene setzen. Dem Ortsund Topographiewechsel folgt eine entsprechende Veränderung in der Sprache: an die Stelle des juristischen Jargons tritt Shakespeares indirekte und andeutungsreiche Sprache der Bühnendichtung, die Parallelen zwischen der Lebensgeschichte von Rumkowski und den fiktiven Figuren von Richard III und König Lear erkennen lässt. Dadurch wird es schwieriger, sich ein festes Urteil über die Taten von Rumkowski zu bilden. In der Geschichte wimmelt es von literarischen wie auch von kulturellen Interferenzen, die sowohl auf stilistischer als auch auf inhaltlicher Ebene erkennbar werden. Vor allem wird der Einfluss von Kafka und Schulz (Prosa), Reymont (seine modernen Romane), Gershom Scholem und Hannah Arendt (die Essayistik) und auch, was von Belang ist, von Winfried Georg Sebald (sein Erzählungsband Die Ausgewanderten), deutlich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die nostalgische Erzählkunst von Sebald und das Motiv der einsamen Gegend, an der besonders die Toten Gefallen finden, wichtige Inspirationsquellen für Bart darstellten, der ihre Semantik gewissermaßen radikalisiert. Die Zersplitterung der narrativen Ebene im Roman steht im direkten Zusammenhang mit der Aufnahmestrategie, die ich bereits zur Sprache gebracht habe. Die narrative Theorie besagt, dass die Vergangenheit durch die Erzählkunst am deutlichsten zur Geltung kommen mag, denn die Narration vereinbart vielfältige typologische, stilistische wie auch (White deutete es an) rhetorische Figuren, die den Diskurs am stärksten prägen.14 Die ersten Romanabschnitte weisen auf diese konkrete Strategie hin. Ein signifikantes Motiv der Holocaustkunst – der Zug – tritt in Erscheinung. Sein breites semantisches Feld wirft Licht auf den formellen Status des Romans. Somit wird der Zug im Geiste eines Balzac-Romans neben einer naturalistisch angehauchten frühkapitalistischen Industrie- und Wirtschaftsikone (es ist eine Anspielung auf Das gelobte Land von Reymont) angeführt, um schließlich in Anlehnung an gegenwärtige Romane wie etwa von Aharon Appelfeld (Badenheim) als ein postmodernes Motiv anzuklingen. Es werden sozusagen verschiedene Narrationsarten ‚getestet‘, die bestehende Matrizen als einen Ausgangspunkt für eigene Geschichten verwerten (neben dem fiktionalen Muster müssen der berühmte Prozessbericht von Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, und Der Kaufmann von Lodz von Adolf Rudnicki genannt werden). Diese Strategie wird bis zum Ende des Romans aufrechterhalten, daher bleibt der ontologische Sta13 14

Ebd., S. 40f. Vgl. Hayden White: Poetyka pisarstwa historycznego. Hg. v. Ewa Domańska. Kraków 2002.

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tus der fiktiven Realität instabil. Die Grenze zwischen der gültigen Realität, dem Traum, der Ebene des schöpferischen Ausdrucks und der Halluzination wird aufgehoben. Auf ähnliche Weise werden die Figuren dargestellt. Sie sind veränderlich und transitorisch in ihrem Wesen. Manchmal beherbergen sie konträre Identitäten, die unterschiedliche Kriegserfahrungen geprägt haben. Wie der Sohn eines Rabbis aus Bobowa, der zugleich den Enkel des deutschen Leiters der Ghettoverwaltung, Hans Biebow, verkörpert. Die fließende Grenze zwischen den einzelnen fiktionalen Ebenen wie auch der undurchschaubare Status des Autors und des Erzählers scheinen für die Geschichte schwerwiegende Folgen zu haben. Ein materielles Objekt bringt formelle Ordnung in die Geschichte. Ein Heft mit einem Wachseinband tritt in einem der ersten Abschnitte in Erscheinung – Chaim Rumkowski schreibt dort seine Notizen auf, was eventuell als erster Ansatz zur Autobiographie gelesen werden kann. Derselbe Text wird dann nach Jahren vom Autor-Erzähler vollendet. Dabei werden zwei Varianten der Aussiedlung und des Todes von Chaim Rumkowski dargeboten (nach der ersten Fassung wurde Rumkowski in einem Salonwagen nach Auschwitz abtransportiert, nach der zweiten kam er nach Auschwitz mit einem Sonderzug in einem Viehwagen und wurde von einem Sonderkommandomitglied aus Lodz in den Krematoriumsofen geworfen). Alles war wie zuvor. Sie gingen denseben Weg entlang, das Fabrikgleis, die Lager aus roten Ziegeln und die aufgestapelten Baumwollballen, vor allem aber der vertraute Wald von Schloten. Gingen sie rückwärts, dachte Marek, sähe es aus, als hätte der Mann aus dem Kino Rialto den Film von hinten abgespielt, wie es ihm oft passiert ist. Diesmal aber gab es keinen Salonwagen, Marek bemerkte es als Erster und schaute den Vorsitzenden und Pani Regina an. Sie schienen nicht überrascht zu sein, also wunderte er sich auch nicht. Über eine schräge Planke gingen sie wie über ein Fallreep in den Güterwagen, der sauber war und nach Desinfektionsmittel roch. Pani Regina setzte sich sogleich in eine Ecke, ohne abzuwarten, bis der Vorsitzende sich setzen würde. Auch das war neu für Marek. Der Vorsitzende nahm ihm wortlos den Stock wieder ab, und indem er damit gegen den Boden stieß, spazierte er in dem leeren Waggon auf und ab. Das Klopfen des Stocks auf dem Holzboden war monoton, dabei energisch, und für Marek klang es wie das Echo einer Militärtrommel. Als er von seiner Bank zu einem kleinen vergitterten Fenster hochkletterte, sah er, dass sich von der Fabrik her Menschen unterschiedlichen Alters näherten, die sich gegenseitig stützten und Koffer und Bündel mit sich trugen. Einige erkannte er von Weitem, auch wenn sie bei Tageslicht armseliger aussahen als im Gerichtsgebäude.15

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass gerade die widersprüchlichen Gerüchte über den Tod von Rumkowski der Narration zugrundeliegen. Der gleiche Unsicherheitsfaktor dürfte einst White zu der geschichtsphilosophischen Annahme geführt haben, dass wir im Umgang mit dem Vergangenen jeweils der Mittelbarkeit der Quelle, verschiedenen rhetorischen Strategien ausgesetzt werden und uns auf der Suche nach der Geschichte auf fremde Interpretationen berufen müssen.

15

Bart: Die Fliegenfängerfabrik (Anm. 12), S. 257f.

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Der variative Tod von Rumkowski zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die Idee der absoluten Wahrheit über eine Figur, die für die einen (wie Hannah Arendt) die Servilität und die Kollaboration des Judenrates verkörpert und für die anderen zum Inbegriff des politischen Geschicks wurde (Adolf Rudnicki), sich vielmehr als Derrida’sche Aporie und schlussendlich nicht belegbares Faktum enthüllt.

Die Vergangenheit als (eine makabere) Kindergeschichte Ähnliche künstlerische und geschichtsphilosophische Ziele scheint Marian Pankowski mit dem Roman Była Żydówka, nie ma Żydówki 16 (was in etwa mit ‚Es gab eine Jüdin, es gibt keine Jüdin mehr‘ zu übersetzen ist) zu verfolgen. Wieder fällt es schwer, den Text typologisch zuzuordnen: er ist ein ausgefallener Mikroroman, ein Bühnenstück, der Bericht einer Geretteten, dabei ein Drehbuch zu einem kurzen Videofilm und auch eine unverarbeitete Aufzeichnung und unvollständige Notizsammlung zur fiktiven Geschichte. Auch die Ästhetik des Textes hat hybriden Charakter: er ist zum Teil eine Groteske, eine Farce, ein Drama des Absurden und zu guter Letzt noch ein authentischer, ornamentloser Bericht eines Holocaustopfers. Der Erzähler (wie es scheint das Alter Ego des Autors) greift in den einführenden Partien auf ein gängiges Motiv der Unterhaltungsliteratur zurück. Er verkündet, dass er die Geschichte einer einzelnen Geretteten aufzuschreiben beabsichtigt, die von der Rampe geflohen ist und unter stiller Einwilligung von polnischen Wirten Unterschlupf in ihrer Scheune und in einer Försterei fand. Die Grundlage der Erzählstrategie, die der Erzähler am Anfang angedeutet hat, wird von ihm selbst durchbrochen, als er bei der Namenswahl ein demonstratives Spiel mit der literarischen Konvention betreibt, indem er auf die Vorschläge der anonymen Hauptheldin eingeht und zusammen mit ihr Überlegungen über die biblischen Namen Rachela und Estera anstellt. Schließlich fällt seine Wahl auf den Namen Fajga. Der Name trägt keine kulturell-literarische Nebenbedeutung, scheint trivial und gewöhnlich zu sein, er entstammt der ‚Jidyszkajt‘-Tradition der polnischen Juden. Die Strategie der stilistischen Undurchschaubarkeit dominiert in den weiteren Textteilen. Die Lebensgeschichte von Fajga Oberlender wird erst durch einen Bericht enthüllt, den die Heldin vor einer Gruppe amerikanisch-jüdischer Einwohner der Stadt Azojville erstattet. ‚Ich hatte damals kein festes Dach über dem Kopf… Es waren Schlupflöcher… unter einer Brücke, manchmal im Kirchenvorraum… Und als dann mein Äußeres großes Aufsehen erregte und die Fragen immer aufdringlicher wurden, warum meine Kleidung so zerknittert sei und wie sei eigentlich Stroh in meine Haare gekommen, ging ich nachts zu Familie R. Ich klopfte an die Tür und bat, mich hereinzulassen. Baśka, meine Schulfreundin… Die Ärmste… wegen der Schwangerschaft hat sie die Schule nicht zu Ende gemacht… erkannte meine Stimme, aber traute sich nicht, die Tür zu öffnen. Erst ihre Mutter hat mich hereingelassen – Fajgas Gesicht strahlte bei diesen Worten… In der gemütlichen Küche hat sie mir beim Ausziehen geholfen, 16

Marian Pankowski: Była Żydówka, nie ma Żydówki. Warszawa 2008.

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als ich Schicht für Schicht alles abgelegt habe, was mich in den letzten Wochen im Waggon am Sackbahnhof und unter der Brücke vor Kälte geschützt hat... Ich stand nackt in einer Spülschüssel … Während die Mutter mich gewaschen hat – Fajga lacht bei dem Gedanken – weinte Baśka. Bis heute kann ich mich genau an den Duft der einfachen Kriegsseife erinnern und auch an die Frische des Hemdes, das ich zum Anziehen bekommen habe. Dann bekam ich eine Kartoffelsuppe, ein Stück Brot… eine Decke und ging in den Schuppen, der unweit des Hauses stand. Abends kamen Baśka oder ihre Mutter, lüfteten das Holzbrett hinten am Schuppen, ihre Hände schlüpften geschickt durch die Ritze hindurch, sie brachten mir Suppe und Brot.‘ Hinten im Saal erhebt sich eine Hand: ‚What is a ‚Scheune‘?‘‚Es ist eine hölzerne, fensterlose Baracke… nur vier Wände und ein Dach. Dort hat Baśkas Großvater ein Pferd gehalten, dort standen immer das Fuhrwerk und der Schlitten.‘17

Die Unkenntnis der osteuropäischen Verhältnisse wie auch der hochgespannte Erwartungshorizont der Zuhörer erschwert die Aufnahme. Die Wahrheit über die Kriegserlebnisse scheint hier im Übertragungsakt, im System der Sprache völlig unterzugehen. Auch die Struktur des Textes beeinträchtigt die Rezeption. Er ist ein Mikroroman, in dem Kulminationen spurlos abklingen, wo der Bericht seinen Ursprung in einer unvollständigen Beschreibung und in willkürlich zusammengesetzten Dialogen hat und zugleich mehrere Erzähler in Erscheinung treten und jeweils eigene Standpunkte in den Vordergrund rücken. In diesem formalen Amalgam werden Elemente aus Volks- und Kindergeschichte dominant, daher überwiegen auch auf der stilistischen Ebene Mittel wie Diminutive und metaphorische Eigennamen (z. B. wird Polen als „Land des Bösen und Guten“ bezeichnet und Fajga ist keine „Gerettete“, sie ist ein „Geretel“18) und die Sprache wirkt ungehobelt, ‚porös‘ wie die Sprache des Volkes. Die Ästhetik der ‚albernden Groteske‘ tritt in den Vordergrund. Der Autor scheint die Geschichte Fajgas aus zwei Perspektiven zu erzählen: zum einen aus der Perspektive eines polnischen KZ-Häftlings, der über sich selbst witzelt und sich einen „lebendigen gestreiften Narren“ nennt, und zum andren aus der Perspektive des Autors, der eine ausgefallene und makabere Kindergeschichte über polnisch-jüdische Kriegserlebnisse verfasst. Die gleichberechtigte Aufnahme dieser konträren Perspektiven erzielt einen außergewöhnlichen sowie kontroversen Effekt. Die Erzählung Fajgas entwickelt sich am Rande der anerkannten Ästhetik, daher stellt sie die Geschichte einer Geretteten aus einer äußerst unorthodoxen, außergewöhnlichen Perspektive dar. Die fehlende Transparenz ist das signifikante Merkmal der Geschichte, in der die kommunikative Barriere auf die Anwesenheit der amerikanischen Rezipienten zurückgeführt wird, an die Fajga ihre Geschichte richtet. Dieses Merkmal kann aber auch metaphorisch ausgelegt werden. Der Holocaust offenbart sich in seiner inneren Struktur als ein unergründliches Ereignis, das sich der Erkenntnis entzieht. Selbst die Heldin scheint die Vergangenheit und die Errettung nicht nachvollziehen zu können. Ihr unbeholfener Bericht zeugt davon, dass sie den glücklichen Ausgang ihrer Kriegsgeschichte eher dem Zufall, einer 17 18

Ebd., S. 21. Es handelt sich hierbei um ein unübertragbares Wortspiel.

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günstigen Fügung aus Missverständnissen und Versäumnissen, beimisst. Daher scheint auch keine Figur, der Fajga auf dem Kriegsweg begegnet, eindeutig gut oder böse zu sein. Die Wege des Guten wie des Bösen überkreuzen sich unaufhörlich, aber das Gute und das Böse scheinen sich nebenbei aus den gedankenlosen Taten zu ergeben, sie stellen nie ein schlüssiges Resultat eines bewussten Plans dar. Die Geschichte mag wohl auch für den Autor unergründlich sein. Zwar hebt der Erzähler die eigene Allgegenwärtigkeit und demiurgische Kraft hervor und ergreift jede Möglichkeit, fiktive Welten und Figuren zu erschaffen (Titel und Kommentare weisen darauf hin, z.B. „Jetzt nimmt wieder der Autor die Erzählung auf“19), aber sein Status gewährt ihm keine absolute Kontrolle über die imaginäre Welt. Seine Weltschöpferkraft hat ihre Grenzen: der Roman wird autonom, die Geschichte gewinnt eine eigene textuelle Souveränität, als ob sie sich von ihm ablösen würde („Die Geschichte geht ihren Gang“20) und erstarrt im materiellen Objekt – in einem Heft, in einer Notizsammlung zum künftigen Roman. Die traditionelle Poetik verleiht dem Autor den Status eines Demiurgen, der gottgleiche Macht über den Text gewinnt. Die metatextuelle Ebene, auf der sich der Autor zu offenbaren vermag, wird in dem postmodernen Roman in Frage gestellt und somit wird der Autor um seine uneingeschränkte Macht gebracht. Im Roman Pankowskis wird noch eine andere Erklärung für diesen Sachverhalt angeführt. Der Autor bei Pankowski versteht, dass er eine postapokalyptische Welt zur Darstellung bringt, in der Gott längst tot ist und wo, wie Adorno hervorhob, es kein Wort mehr gibt, auch kein theologisches, das wiederum, wie auf dem Berg Sinai, erhallen dürfte.21 Pankowski formuliert im Roman sein eigenes Urteil über die kulturell-philosophische Realität. Sala Kramer und Goldmark Mina, Grunspan und Eichel, Fräulein Rotter, Fräulein Kanner und Fischel, Oberlender, Silber und Kampf! Endlich steht keiner mehr auf der schwarzen Liste. Das Feuer verschlingt die Namensregister. Die Stadt ist verwaist. Viertausend Juden – gesund und lebendig – lösten sich in Luft auf! In den Großstädten wurden ihre Namen mit einem goldenen Grabstichel im Marmor verewigt, ich gab mich mit einem Lindenrindenstück zufrieden… Da wissen die Ärmsten nicht, warum Gott nicht zum Zauberstab griff, um die Feuerflamme der Auschwitzöfen mit einem Regenguss zu ersticken. Nur ich weiß, dass er damals in dem Land weilte, ‚wo die Zitronen blühen‘, und in den Gärten von Castel Gandolfo Patiencen gelegt hat.22

Indem Pankowski in seinem Roman die Geschichte der ‚Geretel‘ aus der Perspektive des „gestreiften Narren“ erzählt, greift er die Rhetorik der posttraumatischen Kultur auf, die mitunter den Holocaust und die polnisch-jüdische Kriegsgeschichte verharmlost. Er erlaubte sich als Künstler und Schriftsteller, das Holocaustthema seinem primären Kon19 20 21 22

Ebd., S. 48. Ebd., S. 43. Vgl. Theodor W. Adorno: Dialektyka negatywna. Warszawa 1986, S. 516. Pankowski: Była Żydówka, nie ma Żydówki (Anm. 16), S. 8.

Die Postmoderne und die polnische Holocaustliteratur – lokale Zusammenhänge

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text zu entreißen und es im Rahmen einer neuen, unkonventionellen genealogischen Tradition zu verankern. Somit schuf er eine bewegende, moderne Geschichte der Vernichtung mit einer transparenten und zugleich aufrichtigen Botschaft.

Der Körper ist eine Signatur der Geschichte Der Roman Doktor Josefs Schönste von Zyta Rudzka23 scheint eine weitere Exemplifikation der postmodernen Poetik zu sein. Ein zeitgenössisches Seniorenheim bildet den zeitlich-räumlichen Rahmen für die Geschichte. Die Beschreibung und Funktion dieser Anstalt deuten darauf hin, dass der Roman zwischen einer realistischen und einer allegorischen Darstellungsperspektive oszilliert. Unter den Insassen befinden sich ehemalige KZ-Häftlinge (wie die Titelheldin, die im Konzentrationslager den pseudomedizinischen Versuchen von Doktor Mengele unterzogen wurde) und auch andere alte, traumatisierte Menschen, die in ihrem Leben viel Leid erfahren haben. Rudzka entfaltet in ihrem Roman ein narratives Schema, das sich mittlerweile in der polnischen Holocaustliteratur aller Generationen etabliert hat und zu einem wichtigen Topos erhoben wurde. Eine Seniorenanstalt spielt in dem unvollendeten Roman von Bogdan Wojdowski (Tamta strona (‚Jenseits‘), in Die Geretteten von Stanisław Benski und auch in dem preisgekrönten Roman von Piotr Paziński, Pensjonat (Seniorenheim) eine Rolle. Dort gilt sie, wie die biblische Arche Noah, als eine Art von Asyl für die Kriegsbetroffenen, die dort ihre Lebensgeschichten ungestört, in Ruhe nacherzählen können. In mancher Hinsicht erinnern diese Romane an frühere Texte – vor allem an den krypto-autobiographischen Roman von Stanisław Lem, Das Hospital der Verklärung, wie auch an Opowieści z Davos (‚Davos‘) von Bogdan Rutha. Dies deutet auf eine längere Tradition dieses Leitmotivs in der polnischen Literatur hin, es deckt aber auch eine wichtige intertextuelle Spur auf. Das Motiv führt zurück zu Thomas Manns Der Zauberberg und lässt eine intentionale Bezugnahme erkennen. Die postmoderne Rekursstrategie beschränkt sich jedoch vielmehr auf eine polemische Auseinandersetzung mit dem Roman, die eher zu seiner Wiederaufnahme bewegt. Der deutsche Bürgerroman par excellence (der ironisch den Untergang dieser Romangattung weissagte) wird mit der ‚polnisch-jüdischen‘, fragmentarischen Überlebenden-Saga konfrontiert, die im Vergleich mit der formal-stilistischen Raffinesse des deutschen Romans eher den Aufzeichnungen einer hysterischen, emotionalen ‚talking cure‘ ähnelt. Wissen Sie was, ich kann mich an meine Mutter überhaupt nicht erinnern. Ist das normal? Ich war zwölf, als wir getrennt wurden. Und keine einzige Erinnerung? Seltsam, das ist so seltsam. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich als Kind ausgesehen habe. Nach dem Krieg, im Kinderheim, wurden keine Fotos gemacht. Und die aus dem Lager... Ich hatte viele Fotos. Auf der Bahre. Auf dem Operationstisch. Mit Doktor Josef, wie er mir den Arm um die Taille legt. Mit einem Arm konnte er mich umfassen. Ein mageres Stöckchen war ich. Dieser weiße Ärmel... Das sah aus wie ein Gürtel. Er hat mir dieses Foto gezeigt. Er hat sich über die Bahre gebeugt 23

Zyta Rudzka: Doktor Josefs Schönste. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Zürich 2009.

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und es mir gezeigt. Ich konnte sein Rasierwasser riechen. Er lächelte und fragte, ob ich schon wisse, daß mein Vater tot sei. Er hatte großes Interesse an mir, wissen sie... Er gab sogar seinem Assistenten die Anweisung, ich solle in der Baracke erfahren, warum mein Papa mir nicht mehr winkte... Und sein Rasierwasser... Das rieche ich bis heute. Er hat mir selbst gesagt, daß mein Papa in den Ofen mußte.24

Zyta Rudzka gehörte ehemals zum literarischen Zirkel ‚Literarische Revolution‘ von Henryk Bereza, der als Literaturkritiker Schriftsteller um sich versammelte, die linguistische Prosa verfassten. Daher steht die Sprache im Vordergrund ihrer Geschichte. Die Handlung entspringt alleine dem Sprechakt, dem therapeutischen Monolog (‚talking cure‘). Doktor Josefs Schönste ist ein narrativer Artikulationsstrom, in dem die Stimmen der Romanfiguren ertönen, sich begegnen und schließlich abklingen. Diese narrative Strategie hebt die traditionelle Bedeutungshierarchie auf. Die tragischen Erfahrungen und die außergewöhnlichen Biographien der Anstaltsinsassen verdienen eine adäquate Darstellung, einen angemessenen epischen Rahmen; hier hallt das Kriegstrauma kaum vernehmbar und unaufdringlich im Monolog wider, irgendwo am Rande der Sprache, im kommunikativen Suburbium – in den Digressionen und in den Marginalien. Das Kriegstrauma vermag erst durch mündliche Überlieferung und einen lebendigen, unmittelbaren Bericht zur Geltung zu kommen, der für die Holocaustliteratur einen authentischen Wert impliziert. Die Körperlichkeit und die Physiologie liegen der Existenz der alten Menschen zugrunde. Die Beschreibung des Körperversagens klingt unaufhörlich in der Narration an und wird ohne jede Rücksicht auf das körperliche Dekorum naturalistisch und wirklichkeitsnah dargestellt. Die Hitze ließ die Gesichtszüge der Heimbewohner schärfer hervortreten. Die Wangen wurden schlaffer, die Knochen schienen sich durch die Haut zu bohren. Sie stumpften ab. Verwilderten. Wurden unsäglich müde. Die mit den abgekauten Fingernägeln aufgekratzte Haut schuppte sich, man sah die Ansätze der Kanülen, die blauen Flecken von den Einstichen, die entzündeten Mückenstiche. Die Haut war dehydriert, erinnerte an Pergament, sah aus, als ließe sie sich Schicht um Schicht abblättern, als bestehe sie aus mürben Löschblättern. Das Lüften der Zimmer half nichts. Überall herrschte derselbe säuerliche Geruch. Der Geruch von Erbrochenem, Urin und Kot mischte sich mit dem zarten ätherischen Duft des trockenen Grases und der Blumen.25

Die Geschichte beschriftet den Körper, verwandelt ihn in einen ‚somatischen Text‘. Die Erfahrung des Krieges wird in den Wunden, in der Körperbehinderung und im Schmerz verschlüsselt, wie im Falle Frau Czechnas, die zum Opfer der medizinischen Versuche von Doktor Mengele wurde. In ihrer Erzählung verwandelt sich der misshandelte Leib in die anmutige Körperhülle von ‚Miss Auschwitz‘. Dieses Phantom gewinnt dann körperliche Autonomie und wird zu einer Kompensation des vom Krieg verstümmelten Körpers. 24 25

Ebd., S. 74f. Ebd., S. 276.

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Der Körper wird im Roman von Rudzka auch zu einem Gedächtnisträger. Die alltägliche ärztliche Versorgung und die Pflege rufen in den Anstaltsinsassen Erinnerungen wach. Die retrospektiven Narrationen nehmen ihren Anfang im Körper – in der Beschreibung von Wunden und der Verstümmelung. Die Behinderung des Körpers gibt den Anstoß zum Erzählen, sie treibt den Gedächtnismechanismus an. Die Erinnerung an den Krieg und an das Lager durchdringt diese geschlossene Anstalt. Die Atmosphäre der Isolation und die herrschende Disziplin wecken in den Patienten negative Assoziationen – das Krankenhaus gilt hier metonymisch als Konzentrationslager. Die Zweideutigkeit offenbart sich auf der stilistischen und auf der metaphorischen Ebene in der Sprache. Die somatische und funerale Lexik eröffnet in diesem postmodernen Roman einen Raum für existenzielle wie philosophische Fragen, die von den Figuren oft aufgeworfen und nicht selten gar zur fixen Idee werden (davon zeugt z.B. die wiederkehrende Frage in den Gesprächen der beiden CzechnaSchwestern, ob sie eingeäschert oder begraben werden wollen). Der Körper wird schon dafür Sorge tragen, die Figuren an den Tod, die Vergänglichkeit und die Auslöschung des Menschlichen zu erinnern. Die Analyse der postmodernen Perspektive in der polnischen Holocaustliteratur würde neue Einsichten gewinnen durch einen ergänzenden Einblick in solche Romane wie Tworki von Marek Bieńczyk, Vernichtung von Piotr Szewc oder Kieszonkowy atlas kobiet (‚Das Taschenlexikon der Frauen‘) der feministischen Schriftstellerin Sylwia Chutnik. Dabei sollte vor allem die Ausführung der Kontraste, die die polnische postmoderne Literatur von dem Werk Jonathan Foers, Bernhard Schlinks oder Jonathan Littells unterscheidet, Gelegenheit zur aufschlussreichen Debatte bieten. Eine pauschale Behandlung der polnischen postmodernen Holocaustliteratur führt direkt zu der Annahme, dass sie viel neurotischer und düsterer sei. Dies mag auf die räumliche Unmittelbarkeit der Vernichtungsstätten (Umschlagplatz, Sobibor oder Auschwitz-Birkenau) zurückgeführt werden, die sich den konventionellen Regeln der Darstellungskunst entziehen und die traditionelle Symbolik für ungültig erklären. Somit verwandeln sie sich in jene traumatischen Orte, von denen Aleida Assmann geschrieben hat.26 Diese Orte unterscheiden sich wesentlich von den leeren Städten und Häusern, deren Beschreibung bei Sebald und Foer den nostalgischen Verlust wie das Gefühl der Leere zum Ausdruck bringt. Die traditionellen Darstellungsstrategien und auch die postmodernen, die ein besonderes Gefallen an der Metafiktion finden, scheitern an den polnischen traumatischen Orten. Das aposteriorische Wesen jener traumatischen Orte prägt die polnische Holocaustprosa von Chutnik, Masłowska, Rymkiewicz und Stefan Chwin, wo Warschau und Danzig zu Nekropolen, zu wortwörtlichen ‚Grabstädten‘ werden, deren unterirdischer Raum die anonymen Gräber der Massenmordopfer birgt. 26

Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 328–343.

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Die traumatische Leere, die nach dem Zusammenbruch der polnischen Judenwelt entstanden ist, besitzt eine ontologische Greifbarkeit und Substanz, die vor der postmodernen Ästhetik des Postgedächtnisses bestehen. Demzufolge erlauben sie kein blindes und skurriles Spiel mit der Form, lehnen jegliche gegenstandslose Groteske und Metafiktion ab und bringen beharrlich ein authentisches Leid zur Darstellung, das sich nicht relativieren lässt und nie alleine einer kompulsiven künstlerischen Darbietung dient. Die polnische Holocaustliteratur hat sich nur zum Teil von der postmodernen Poetik inspirieren lassen und glich sich dann der führenden schriftstellerischen Konvention an, für die der traumatische Realismus,27 ein Begriff von Michael Rothberg, eine treffende Bezeichnung darstellt.

27

Michael Rothberg: Traumatic Realism. The Demands of Holocaust Representation. Minneapolis und London 2000.

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Ein anderes Gedächtnis? Kriegserinnerungen der Frauen im Wandel

Gedächtnis ist eine Voraussetzung für die Geschichtsschreibung, aber nicht für die Unterscheidung zwischen history und herstory. Obwohl dieses Sprachspiel nur im Englischen möglich ist, wird es auch in anderen Ländern übernommen, um es in der feministischen Historiographie programmatisch anwenden zu können und die Geschichtsforschung in den Bereichen weiterzuentwickeln, welche lange Zeit im wissenschaftlichen Diskurs nicht beachtet wurden. ‚Alltag‘ ist eine solche Kategorie, oder die ‚politisch unwichtigen‘ Ereignisse, jene, die nicht direkt zum Regierungshandeln gehören. Da die Gender-Unterscheidung in der Erinnerungspolitik noch wenig berücksichtigt wird, setzt sie sich nur langsam und mit Schwierigkeiten in den Verlagen durch, wie wir es am Beispiel des autobiographischen Buches von Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend,1 beobachten können. Auf Empfehlung des damals schon bekannten Prosaautors Martin Walser schickte die Autorin es zuerst an den Suhrkamp Verlag. Nach längerer Bedenkzeit wurde es von diesem abgelehnt. Der Autorin wurde mitgeteilt, dass ihr Text den Verlagsstandards nicht entspreche, wobei nicht erklärt wurde, was damit gemeint war. Ruth Klüger kommentierte diese Antwort im Kreise befreundeter Germanistinnen und Germanisten um Albrecht Schöne in Göttingen dergestalt, dass der Verlag wohl genug von Texten über den Holocaust habe, dies jedoch nicht direkt sagen wolle. Veröffentlicht wurde das Buch schließlich doch, und zwar im damals noch kleinen Wallstein Verlag, der damit 1993 den Nerv des Lesepublikums traf: es wurde ein Bestseller. Dadurch gewann der Verlag sogar selbst an Bedeutung. Den Text lobte außerdem Reich-Ranicki in der deutschen TV-Sendung Das Literarische Quartett. Dies war insofern überraschend, als sich Ruth Klüger in ihrem Text dezidiert als Feministin definiert, was dem Literaturkritiker, wie man weiß, nicht gerade als Qualitätsmerkmal gilt. Jedoch gerade diese eindeutige Perspektive ist für Klügers Werk so wichtig, weil es dadurch nicht einfach einen weiteren Text über den Holocaust bedeutet, sondern einen, der auch ein politisches Programm für die Frauenbewegung von heute und eine 1

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992.

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Herausforderung für die historische Forschung beinhaltet. Somit schreibt sich Ruth Klüger in eine Erinnerungstradition ein, in der die feministische Perspektive eine zentrale Rolle spielt. Die Tatsache, welchen Texten das kollektive Gedächtnis etwas abgewinnen kann, hängt also nicht nur von ihren Inhalten ab, sondern auch von Faktoren, die sowohl Verlage als auch Marktregeln mitbestimmen. Im Falle von weiter leben gab es eine besondere Koinzidenz all dieser Faktoren, unter denen die Tatsache am wichtigsten war, dass die Autorin im germanistischen Milieu von Göttingen vernetzt war. Auf dem polnischen Buchmarkt waren Kriegserinnerungen von Frauen bis in die neunziger Jahre hinein nur selten präsent. Seit den neunziger Jahren änderte sich die Situation langsam, und zu den Jahrestagen des Kriegsausbruchs, des Kriegsendes oder des Warschauer Aufstandes erschienen immer mehr Erinnerungstexte von Frauen. Dieses Phänomen verbindet sich unter anderem mit der Tatsache, dass Frauen heutzutage mehr Mut haben, sich an den Krieg öffentlich zu erinnern. Weder der Krieg noch die Erinnerung an ihn stellen weiterhin exklusiv männliche Metiers dar. Zu dieser Erkenntnis kam man in Polen weniger durch Debatten über die Rolle der Frauen in der Armee oder feministische Diskussionen, ob Frauen Gewehre in die Hand nehmen sollen,2 wie es in Deutschland der Fall war. Sogar der NATO-Beschluss, dass Frauen den gleichen Zugang zur Armee haben sollen wie Männer, wurde ohne besonderes Interesse wahrgenommen und kaum reflektiert. Die polnische historische Forschung erinnert seit den siebziger Jahren daran, dass Frauen im Krieg nicht nur Opfer waren, sondern auch aktiv an ihm teilgenommen haben, sogar als Offiziere, nicht nur als Soldatinnen.3 Der Buchmarkt öffnet sich immer mehr für Erinnerungstexte von Frauen über den Zweiten Weltkrieg, vielleicht auch deswegen, weil der Erinnerungsvorrat der Männer langsam ausgeschöpft ist. In Deutschland sensibilisierten dagegen die oben erwähnten Debatten das Lesepublikum für die Geschichten der Frauen. Parallel dazu kam es langsam zur Enttabuisierung der deutschen Opferproblematik, die in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang verschwiegen worden war. So steht man heute auch den Kriegserinnerungen von Frauen nicht mehr so gleichgültig gegenüber wie noch Ende der fünfziger Jahre, als 2

3

Vgl. Gender und Militär. Internationale Erfahrungen mit Frauen und Männern in Streitkräften. Hg. v. Ruth Seifert und Christine Eifler sowie der Heinrich-Böll-Stiftung. Königstein/Taunus 2003. Es handelt sich um ein Resümee historischer und zeitgenössischer Beobachtungen und Debatten um Frauen im Krieg und in der Armee. In Polen sind solche Veröffentlichungen sehr selten. 1978 veröffentlichte der Verlag Książka i Wiedza nur eine Sammlung mit Beiträgen unter dem Titel By nie odeszły w mrok zapomnienia. Udział kobiet polskich w II wojnie światowej (Damit sie nicht in die Dämmerung der Vergessenheit geraten. Die Teilnahme der polnischen Frauen am Zweiten Weltkrieg, Warschau 1978), herausgegeben von Zofia Polubiec, in der es um verschiedene Aktivitäten der polnischen Frauen im Krieg auf polnischem Gebiet geht. Zehn Jahre später erschien ein interessantes Buch von Dioniza Wawrzykowska-Wierciochowa: Rycerki i samarytanki (Ritterinnen und Samariterinnen, Warschau 1988), in dem das Thema historisch seit den Anfängen des polnischen Staates erfasst wird.

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Eine Frau in Berlin anonym erschien. Damals wurde dieses Buch kaum wahrgenommen. Erst die Verfilmung von 2008 unter der Regie von Max Färberböck stieß auf großes Interesse. Die Folge war eine Neuauflage des Textes, die dann zusammen mit dem Film intensiv diskutiert wurde, was in der Presse eine Welle von Berichten über bisher verschwiegene Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten nach ihrem Einmarsch in Berlin nach sich zog.4 Hinzu kommt die feministische Forschung, die die Kriegserinnerungen von Frauen seit längerer Zeit in Deutschland aus dem Schatten der Kombattantenliteratur herauszuholen sucht. Dabei entstehen auch neue Erinnerungsformen wie etwa Stille Post. Eine andere Familiengeschichte von Christina von Braun, die 2007 gleich zwei Auflagen erlebte. Es ist ein innovatives Buch, in dem die Geschichte einer Familie aus der Frauenperspektive erzählt wird. Der Text ist nicht einheitlich, er besteht aus Dokumenten, Fotos, belletristischen Fragmenten und kulturwissenschaftlichen Analysen. Christina von Braun setzt sich hier radikal mit der Vergangenheit ihrer Vorfahren auseinander. Das Leitmotiv ist dabei die Rolle der Frauen in dieser Familie. Die Erinnerungen der Großmutter der Autorin, mit denen das Buch beginnt, inspirieren Christina von Braun zu der Beschreibung, auf welch verschiedene Weise sich die Familienmitglieder am Zweiten Weltkrieg beteiligt haben. Das Spektrum reicht von der begeisterten Bejahung des Dritten Reiches bis zum aktiven Widerstand. Von Braun gelingt es nicht, wie sie selbst betont, die Familiengeschichte von der Geschichte Deutschlands zu trennen, genauso wenig wie die Geschichten der einzelnen Familienmitglieder voneinander, trotz ideologischer Differenzen. Am Ende ihrer Einleitung schreibt sie: „In diesem Buch möchte ich versuchen, den Dialog mit meiner Großmutter aufzunehmen und die mir zugedachte Erbschaft endlich zu akzeptieren.“5 Die Erinnerungen der Großmutter stellen das Ausgangsmaterial für den ganzen Prozess dar, an dessen Ende ein positives Resümee steht: „Adieu, liebe Großmutter, Deine Botschaften sind bei mir angekommen, und ich habe sie weitergeleitet, so gut ich konnte.“6 Das ist die Vermittlung eines Wissens, das durch die stille Post angelangt ist. Es ist ein Wissen, das sich in das Unterbewusstsein aufeinanderfolgender Generationen einschreibt. Von Braun benennt es als „psychisches Wissen“, das ein unklares, irgendwie autonomes Gedächtnis entwickelt. Indem die Menschen sein Alphabet beherrschen, gelingt es ihnen, nicht nur die Vergangenheit besser zu verstehen, sondern auch, ihre aktuellen Spannungen und Konflikte mit jenen, die ihre eigene Vergangenheit verschweigen, nachzuvollziehen. Für Christina von Braun stellt die Mutter eine solche Person dar. Im ganzen Text haben wir es einerseits mit einer persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und andererseits mit einer intellektuellen Entdeckung der Situiertheit des eige-

4 5 6

Vergleiche zu der Verfilmung von Eine Frau in Berlin den Aufsatz Der Zweite Weltrieg im Film des vereinten Deutschlands von Marek Kryś in diesem Band. Christina von Braun: Stille Post. Eine andere Familiengeschichte. Berlin 2007, S. 17. Ebd., S. 406.

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nen Wissens zu tun, mit der Entdeckung, warum sich Erinnerungen in bestimmte Texte einschreiben.7 Trotz aller Neuerungen und Versuche, die traditionelle Grenze zwischen Belletristik und Dokumentarliteratur, zwischen Fiktion und historischem Fakt zu verwischen, sieht man, dass literarische und dokumentarische Erinnerungstexte in zwei verschiedenen Diskursordnungen entstehen. In meinem Artikel Gibt es eine weibliche Ästhetik literarischer Auseinandersetzung mit dem Krieg?8 von 1997 verglich ich Dymy nad Birkenau (Rauch über Birkenau) von Seweryna Szmaglewska mit Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend. Der erste Text erschien 1946 unmittelbar nach Szmaglewskas Flucht während eines Häftlingstransports. Die Autorin war zu dieser Zeit 29 Jahre alt. Der zweite Text entstand etwa fünfzig Jahre nach der Flucht von Ruth Klüger, ebenfalls aus einem KZ-Transport. Der Vergleich hat ergeben, dass hier nicht von einer weiblichen Ästhetik im eigentlichen Sinne gesprochen werden sollte. Differenzen, die beim Vergleich zum Vorschein kamen, verbinden sich mit dem Geschlecht der Autorinnen nur indirekt. Viel wichtiger ist die Zeit, in der ihre Texte erschienen. Davon hängt wesentlich die ästhetische Gestaltung literarischer Räume ab, in denen sich Frauenfiguren bewegen. Beide Autorinnen zeigen das Konzentrationslager zwar aus der Frauenperspektive, aber im Moment des Schreibens befanden sie sich in zwei völlig verschiedenen symbolischen Ordnungen. Szmaglewska, die über das Frauen-KZ, über den Mut der weiblichen Häftlinge, über ihre Ausdauer schreibt, beendet ihr Buch mit einer Szene, in der ein Mann und nicht eine Frau zum Repräsentanten des Kriegsleidens wird. Szmaglewska stilisiert ihn zum symbolischen Kriegshelden; ein KZ-Flüchtling, der hoffnungsvoll auf die Zukunft der Nationen schaut, die im Moment seiner Flucht noch feindlich zueinander eingestellt sind. Auf diese Weise füllt Szmaglewska den imaginären ‚Raum‘ mit einer männlichen Gestalt, die, wie damals üblich, mit dem Krieg verbunden wird. Ihre eigenen Erfahrungen im KZ und die Flucht reichten nicht aus, um die literarische Tradition einer solchen Darstellungsweise des Krieges, in der Männer die Hauptrolle spielen, zu durchbrechen. Ruth Klüger ist hingegen, da sie nach dem Krieg eine amerikanische Germanistin wurde und in den sechziger Jahren eine Aktivistin der zweiten Frauenbewegung, die Tatsache, dass Geschlechterrollen Frauen und Männern zugeschrieben werden, so bewusst, dass sie in ihrem Erinnerungsbuch direkt feststellt: „Die Kriege gehören den Männern, daher auch die Kriegserinnerungen. Und der Faschismus schon gar, ob man nun für oder gegen ihn gewesen ist: reine Männersache. Außerdem: Frauen haben keine Vergangenheit. Oder haben keine zu haben. Ist unfein, fast unanständig.“9 7

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Im Falle von von Braun sind das kulturwissenschaftliche Texte, verbunden mit der Psychoanalyse, der Geschichte der Hysterie und mit der damit zusammenhängenden Kategorie der Weiblichkeit und der jüdischen Problematik. Bożena Chołuj: Gibt es eine weibliche Ästhetik literarischer Auseinandersetzung mit dem Krieg? (Seweryna Szmaglewska und Ruth Klüger). In: Krieg/War. Eine philosophische Auseinandersetzung aus feministischer Sicht. Hg. v. Wiener Philosophinnen-Club. München 1997, S. 261–268. Klüger: weiter leben (Anm. 1), S. 10.

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Diese Worte fallen gleich am Anfang des Buches und bestimmen die Perspektive, aus der es geschrieben wird. Die Erzählerin ist hier eine Frau, die mit ihrer jüdischen Tradition hart ins Gericht geht, weil diese ihr aufgrund ihres Geschlechts lediglich bestimmte Funktionen bei religiösen Ritualen zuwies, ihr jedoch verantwortliche Positionen vorenthielt. Das empfand sie als eine verletzende Einschränkung. Sie setzt sich auch mit der Ignoranz junger Frauen in den USA auseinander, die nichts davon wissen wollen, was sich in Europa im Krieg ereignete. Damit schreibt sich Klüger – anders als Szmaglewska – in die traditionelle Nachkriegsliteratur nicht ein, sondern versucht, mit jeder Seite ihres Buches den Männern das Erinnerungsmonopol bezüglich des Krieges, ihnen einen Teil der Geschichte zu entreißen und sie den Frauen als Recht zu übergeben, sich an diese Vergangenheit zu erinnern, und damit ihre eigene Kriegsgeschichte zu produzieren. Klügers Buch ist – wie gesagt – ein Erinnerungs- und ein Programmbuch zugleich, das mit dem stereotypen Denken über Frauen im Krieg bricht und in dem die Autorin einer neuen literarischen Erinnerungstradition den Weg bereitet. Sie zeigt, dass die Tradition nie geschlechterneutral war. Auf diese Weise legitimiert sie deren Erweiterung um andere, nicht nur männliche Erfahrungen. Anders gestalten sich Texte rein faktographischen Charakters, die von Frauen stammen. Ihre autobiographischen Notizen aus der Kriegszeit stehen nicht in der Tradition des literarischen Kriegsdiskurses. Sie gehören zu einer anderen Ordnung, einer Ordnung, die vor allem davon abhängt, wie die Autorinnen den Rang des Erlebten selbst bewerten. Irma Zembrzuska, die ihre Nachkriegsjahre in London verbrachte und danach dreißig Jahre als Ansagerin in der polnischen Abteilung des Senders ‚Freies Europa‘ tätig war, überlegt am Anfang ihres Buches Z Warszawą w sercu (Mit Warschau im Herzen): Die Arbeit beim Entziffern dieser Notizen hat mich viel Zeit gekostet. Ich habe es zum 50. Jahrestag des Aufstandes nicht geschafft, obwohl ich es wollte. Warum habe ich damit eigentlich so spät angefangen? Vielleicht waren sie für mich nicht besonders wichtig; besonders in jungen Jahren dachte ich, ich habe noch Zeit, vielleicht mache ich das irgendwann, und außerdem haben das viele andere schon getan… Heute, nach Jahren, sehe ich, wie wenig Zeit mir übrig geblieben ist.10

Zembrzuska fragt nach den Gründen, warum sie so spät begonnen hat, Erlebtes zu sortieren und in Form zu gießen, und erst 1996 gibt sie ihre Erinnerungen auf Basis der Notizen heraus, die sie in Form eines Tagebuchs in den Jahren 1944–1947 und in Form von Gedichten verfasst hatte. „Ich habe sie nicht für wichtig gehalten[,]“ stellt sie fest und führt das auf ihr junges Alter zurück. Einerseits verständlich, wenn man bedenkt, dass dieses junge Alter kulturell mit der Erwartung verknüpft ist, Frauen mögen sich im Familienleben engagieren, mit der Erziehung der Kinder beschäftigen. Traditionell sind das ihre wichtigsten Aufgaben. Zembrzuska hat aber noch während der Vorbereitung ihrer Publikation Zweifel: „Ich glaube, ich muss mit diesem Schreiben Schluss machen. 10

Irma Zembrzuska: Z Warszawą w sercu (Mit Warschau im Herzen). Warschau 1996, S. 7. Übersetzungen im Text von der Verfasserin.

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Bis zu einem gewissen Grad ist es zu einem inneren Zwang geworden, aber hat das noch einen Sinn? Wird das jemandem nützen? Wem? – Vielleicht nur mir selbst, um mich irgendwann, wenn ich diese Seiten umblättern werde, an die vergangene, abgeschlossene Zeit zu erinnern…“11 Die Unsicherheit, ob diese Notizen überhaupt brauchbar sein können, erweckt den Eindruck, dass die Autorin nicht weiß, ob ihr Zeugnis von der Vergangenheit über mehr als einen individuellen Wert verfügt. Davon zeugt vielleicht ihr seltsames Gefühl, das Niederschreiben der Erinnerungen sei zu ihrem inneren Zwang geworden. Zuletzt stellt sie fest, dass diese Notizen wenigstens einen Wert für sie selbst haben können, der darüber hinaus gehende Zwecksetzungen nachrangig macht. Jenes „sich erinnern an die vergangene, abgeschlossene Zeit“ klingt schon wie die Gewinnung der eigenen Vergangenheit, der eigenen Geschichte, des eigenen Seins, und damit auch von sich selbst. Aber die Zweifel bleiben, denn „außerdem haben das viele andere schon getan…“12 Diese ‚anderen‘ waren vor allem Männer. Der Gedanke, dass es schon viele andere Erinnerungen gibt, entspricht auch der Ordnung des historiographischen Diskurses, wie die Reaktionen von Historikern bestätigen. Andrzej Pomian z.B. unterstreicht im Nachwort zu Zembrzuskas Erinnerungen von 1996, dass sie eine andere, weibliche Perspektive vertritt: „Zembrzuskas Buch unterscheidet sich von den bisherigen Erinnerungen von Männern. Als Frau sah sie die Ereignisse wohl in etwas anderem Licht, was auch den Lesern erlaubt, auf diese anders, ja vielseitiger zu schauen.“13 Diese Worte implizieren, dass die Erinnerungszeugnisse bis 1996 in Polen einen nicht so vielseitigen Charakter hatten, weil sie aus nahezu ausschließlich männlicher Feder stammen. Jerzy Topolski dagegen konstatiert in der Einleitung zu Klementyna Mańkowskas Buch Moja misja wojenna (Meine Kriegsmission) von 1998 zwar etwas Ähnliches, jedoch auf ganz andere Weise: „Die polnische Veröffentlichung dieses Buches freut ihn [den Historiker, d. Verf.] wie jede andere, die auf eine besondere Art und Weise über diesen wichtigen historischen Zeitraum erzählt, auch wenn sie an Ereignisse aus der – geschichtlich gesehen – zweiten Reihe erinnert.“14 Mit der Bezeichnung „Ereignisse aus der – geschichtlich gesehen – zweiten Reihe“ weist Topolski auf die weibliche Autorschaft der Erinnerungen hin, was er auch noch betont: „Diese Erinnerungen verändern weder das allgemeine Bild der Zeit, das in der Historiographie funktioniert, noch dessen interpretatorische Hauptlinien. Dies verhinderte aber nicht, dass das Buch von Klementyna Mańkowska eine gewisse Berühmtheit und Anerkennung erreichte.“15 Den historiographischen Mainstream und „seine inter11 12 13

14

15

Ebd., S. 113. Ebd. Vgl. ebd., S. 171. Jerzy Topolski: Trzy grosze historyka (Einige Bemerkungen eines Historikers). In: Klementyna Mańkowska: Moja misja wojenna. (Meine Kriegsmission). Warschau 2003, S. 19. Übersetzungen im Text von der Verfasserin. Ebd.

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pretatorischen Hauptlinien“ definiert Topolski zwar nicht, er legt sie jedoch als unklare Bedeutungsmaßstäbe an die Erinnerungen der Frauen an, in diesem Fall an die Erinnerungen von Klementyna Mańkowska. Solch eine relativierende Bewertung verwundert, denn Mańkowska war immerhin eine Verschwörerin im doppelten Sinne: Als Agentin der wichtigen Konspirationsorganisation Muszkieterowie und als Teilnehmerin an strategischen Aktionen, die mit der Untergrundspionage verbunden waren. Topolski war in Polen ein hochangesehener Methodologe der historischen Forschung und nicht etwa jemand, der unreflektiert seine Eindrücke über die Vergangenheit zusammenschreibt. Seine Worte waren also für die allgemeine Wertschätzung der Erinnerungen von Frauen repräsentativ, es waren Meinungen, die die Frauen verinnerlichten, wie man den Worten Mańkowskas entnehmen kann.16 Das Notieren und Sammeln von Erlebnissen und Erinnerungen durch Frauen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges hat nie eine größere Rolle gespielt, und die Memoiren als Gattung haben sich als Medium für gewollte, gezielte Vermittlung des Zeitgeschehens in der Zeit des Realsozialismus nicht so richtig etabliert, vor allem nicht unter Frauen. Wie aber der Einleitung Andrzej Szczypiorskis zu Mańkowskas Erinnerungen zu entnehmen ist, können solche Notizen eine besondere Bedeutung haben, auch für die Demythologisierung der Nation: Ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen darf man wohl schon sagen, dass jene, die damals das Risiko des Kampfes auf sich genommen haben, zur Minderheit gehörten, obwohl die Nachkriegslegende von der Opposition und dem Kampf der ganzen Nation erzählt, was gleichzeitig nicht in Frage stellt, dass die Nation tatsächlich in der Atmosphäre des totalen Okkupationsterrors und der permanenten Lebensgefahr lebte.17

Szczypiorski liest aus diesem Text etwas anderes als Topolski, und zwar, dass gerade der Mainstream der Geschichte eine Legende ist. Topolski hat jedoch in einem Punkt Recht: „Mikrogeschichte hat den Wert, die Erhabenheit subversiv in Frage zu stellen, ja sie zu zersetzen, jene Erhabenheit, die für das geschichtliche Narrativ besonders charakteristisch ist, vor allem aus der allgemeinen Perspektive, die immer ideologisch bzw. politisch inspiriert wird.“18 16

17 18

Diese Verinnerlichung erfolgt so automatisch, dass sogar Aktivistinnen der zweiten Frauenbewegung davon betroffen sind, denn sie sammeln bis heute nicht nur keine Zeugnisse ihrer Aktivitäten, sondern vernichten diese sogar. Ein krasses Beispiel hierfür ist eine der ersten feministischen Frauen-NGOs, die nach der politischen Wende von 1989 in Polen gegründet wurde und nach zwanzig Jahren aus finanziellen Gründen aufgelöst werden musste. Beim Aufräumen ihrer Räumlichkeiten, die sie nicht mehr bezahlen konnte, wurden alle Dokumente, Plakate, Broschüren als Müll weggeworfen, obwohl sie nicht nur ein Zeugnis ihrer Existenz, sondern auch der Anfänge der Geschichte der polnischen zweiten Frauenbewegung darstellen. Auf dem Müll landete alles, außer den Büchern. Diese Dokumente wurden von Jennifer Rammé, einer Doktorandin, gerettet, die über die zweite Frauenbewegung in Polen eine Dissertation im Rahmen eines Volkswagen-Projektes des Wissenschaftszentrums Berlin verfasst. Topolski: Einige Bemerkungen eines Historikers (Anm. 14), S. 8. Ebd., S. 23.

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Und tatsächlich, wenn man die unzähligen Details liest, die für die sich erinnernden Frauen eine wichtige Rolle gespielt haben, erkennt man, dass diesen selbst ein subversiver Charakter innewohnt, und dies nicht nur in Bezug auf die Art und Weise, wie diese Erinnerungen heute erzählt werden, sondern auch in Bezug auf Situationen von damals, als Frauen sogar im Krieg dem Detail eine große Bedeutung zuschrieben. Mańkowska schreibt, selbst darüber verwundert, dass sich daraus absurde Konstellationen ergaben: Die Situation wurde absurd. Ein dreijähriger Knabe aus einer patriotischen polnischen Familie sitzt auf dem Schoß eines deutschen Stabsoffiziers und singt die polnische Nationalhymne in Anwesenheit des künftigen Führers der Konspirationsarmee, während im Zimmer nebenan weibliche Mitglieder einer anderen konspirativen Organisation Dokumente des deutschen Militärs und der deutschen Verwaltung fälschen.19

Diese Absurdität ergab sich aus den höchst kommunikativen Bemühungen Mańkowskas um private Kontakte mit dem Feind, damit dieser seine Rolle vergessen und beginnen möge, ihr selbst und den Personen, die sie ihm nennt, zu helfen. Szczypiorski relativiert die Rolle Mańkowskas mittels der Information, dass sie aus einer aristokratischen Familie stammte und dadurch privilegiert war, weil die Aristokratie von den Deutschen im Generalgouvernement nicht so verfolgt wurde wie andere Gruppen. Dennoch – ohne List und Ideen, ohne absolute Souveränität und weiblichen Charme hätte sie viele Gefahren, in deren Nähe sie sich permanent befand, nicht umgehen können. Ihre Verhaltensweise, in der sie ihre persönlichen Kontakte mit dem Feind bewusst instrumentalisierte, erleichterte ihr den Zugang zu hohen Offizieren. Sie konnte die Vielfalt dieser Gruppe kennenlernen. Ein Offizier der Wehrmacht war für sie weniger gefährlich als ein SS-Mann, aber auch von Letzterem war sie imstande, sich Hilfe zu holen, wodurch sie ihre zwei kleinen Söhne retten konnte. Jadwiga Kosuń Kwaśnik Badmajew widmet dagegen den Details in ihrem Pamiętnik Jagody (Jagodas Tagebuch) nicht so viel Aufmerksamkeit, sondern konzentriert sich darauf, dass die Frauen an der Front die Kriegsordnung stark destabilisierten. So geschah nach der Niederlage des Warschauer Aufstands das Folgende: 10.000 Männer und 2.000 Frauen sind gefangengenommen. Für die Deutschen waren diese 2.000 eine Herausforderung. So viele Frauen...! Anfangs versuchten sie, alles zu tun, damit wir auf die Rechte als Kriegsgefangene verzichteten. Dann hätten sie uns nämlich zur Arbeit in die Munitionsfabriken schicken können. Es ist ihnen aber nicht gelungen. Stur bestanden wir auf unsere Rechte aus der Genfer Konvention.20

Deutsche kannten keine Frauen als Offiziere, umso mehr waren sie überrascht, als es sich erwies, dass es so viele Frauen in diesem Rang gab. Diese Zahl bereitete ihnen, wie gesagt, organisatorische Probleme. Die Erzählung von Badmajew über das Verlassen von Warschau nach der Niederschlagung des Aufstandes ist in erster Linie die Erzäh19 20

Ebd., S. 74. Jadwiga Kosuń Kwaśnik Badmajew: Pamiętnik Jagody (Jagodas Tagebuch). Warschau 2003, S. 15.

Ein anderes Gedächtnis? Kriegserinnerungen der Frauen im Wandel

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lung eines weiblichen Offiziers. Ähnliche Erzählungen sammelte der Regisseur Paul Meyer für den Dokumentarfilm Konspiratorki – Polki w Ruchu Oporu 1939–45 (Konspiratorinnen. Polinnen in der Widerstandsbewegung 1939–45), in dem Frauen im Militärdienst zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gezeigt werden. Die angeführten Erinnerungen der Frauen, die sich im Kriegsgeschehen engagierten, unterscheiden sich stark von den Erzählungen der Opfer. Ein Beispiel ist Wanda Lurie, die am 10. Dezember 1945 von einer polnischen Bezirkskommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen verhört wurde. In ihrem Bericht geht es um die Erschießung von Zivilpersonen im Warschauer Ursus-Betrieb nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes vom Sommer 1944. Diese Erzählung hat nichts gemeinsam mit der Beschreibung von Zembrzuska oder Mańkowska, sie erinnert auch in keiner Hinsicht an das, was Jagoda Badmajew oder die Frauen im Film von Meyer erzählen. Und doch – trotz großer Differenzen haben alle diese Berichte einen gemeinsamen Nenner: unzählige Details, die eine Mikrogeschichte ausmachen. Wenn wir bei der Formel bleiben, dass das Gedächtnis eine Wissensform ist, die man in der Vergangenheit erwirbt und die man aus den Erinnerungen erarbeitet, hat dieses Wissen den gleichen ‚situierten‘ Charakter wie das wissenschaftlich erarbeitete Wissen, über welches Christina von Braun in ihrem Buch reflektiert und von dem Donna Haraway, die diese Situierung von der Beobachtung ableitet, schreibt, dass das wissenschaftliche Wissen meist als objektives Wissen ausgegeben wird.21 Man kann sich jedoch kein Narrativ vorstellen, das Wissen ohne konkrete Perspektive mitteilt: „Ich möchte die Körperlichkeit aller Vision hervorheben und auf diese Weise das sensorische System reformulieren, das zur Bezeichnung des Sprungs aus dem markierten Körper hinein in den erobernden Blick von nirgendwo benutzt wird.“22 Diese These von dem „erobernden Blick von nirgendwo“ kann man auf die bisherige Produktion der Kriegserinnerung übertragen, die im Grunde immer aus einer bestimmten Perspektive kreiert wurde, was aber so lange unbemerkt blieb, bis Frauen anfingen, selbst über ihre Kriegsvergangenheit zu schreiben. Die sich an den Krieg erinnernden Frauen, die hier angeführt wurden, verkörpern ein situiertes Wissen. Dieses, d.h. ihre Erinnerung, gehört jedoch nach wie vor nicht zum Mainstream. Mainstream ist nach Haraway ein Ergebnis von Macht. Diese Macht haben die Frauen in der Historiographie noch nicht, und wenn sie ihre Erinnerungen entwickeln, dann tun sie es aus einer unterlegenen Position, ohne sich des Wertes dieses Vorgangs bewusst zu werden. Haraway schreibt über diese Positionierung in Bezug auf die Wissenschaft: Die Positionierungen der Unterworfenen sind von einer kritischen Überprüfung, Dekodierung und Interpretation keineswegs ausgenommen, d.h. sie entziehen sich weder den semiologi21

22

Donna Haraway: Situiertes Wissen. Die Wissensfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur. Übersetzt von Helga Keller. Frankfurt/Main 1995, S. 73–97. Ebd., S. 80.

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schen noch den hermeneutischen Ansätzen einer kritischen Forschung. Die Standpunkte der Unterworfenen sind keine ‚unschuldigen‘ Positionen. Sie werden im Gegenteil gerade deshalb bevorzugt, weil sie prinzipiell weniger anfällig sind für eine Leugnung des kritischen und interpretativen Kerns allen Wissens. Sie haben die Techniken des Leugnens durch Unterdrückung, Vergessen und Verschwindenlassen kapiert und mit ihnen die Mittel, nirgendwo zu sein und zugleich den Anspruch auf eine umfassende Sicht aufrechtzuerhalten. Die Unterworfenen haben eine passable Chance, dem göttlichen Trick mit seinen blendenden – und deshalb blind machenden – Illuminationen auf die Schliche zu kommen. ‚Unterworfene‘ Standpunkte werden bevorzugt, weil sie angemessenere, nachhaltigere, objektivere, transformierendere Darstellungen der Welt zu versprechen scheinen. 23

Ob die Darstellungen des Krieges, wie sie in den Erinnerungen von Frauen zu finden sind, genauso vielversprechend sind, ist zu bezweifeln. Eines wiederholt sich aber: der Krieg, der in ihren literarischen Texten und Memoiren beschrieben wird, wird nicht mit Heroismus verbunden. Wenn es dort um besondere Leistungen geht, dann ergeben sich diese meist aus der Konfrontation der traditionellen Weiblichkeit mit den extrem schwierigen Überlebensbedingungen. Daher haben wir es nicht nur mit einer unterschiedlichen Situierung des Wissens vom Krieg zu tun, sondern auch mit einer divergierenden Art, sich an ihn zu erinnern. Es ist eine zweifache Situierung: durch individuelle Erlebnisse einerseits und durch die historiographische Wertung dieser Erlebnisse andererseits. Es ist ein Wissen, das seine eigene Macht noch nicht erfahren konnte, weil es nicht zum Mainstream gehört. Würde es dazugehören, dann sähen z.B. Diskussionen über die Vertreibungen im deutsch-polnischen Kontext ganz anders aus. Einen Versuch in diese Richtung unternahm das Warschauer Frauen-Zentrum im Projekt ‚Herstories‘. Es besteht aus mehreren CDs mit Interviews, in denen Frauen berichten, wie sie als kleine Kinder aus Deutschland und Polen die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten. Viele von ihnen erzählen über ihr Leiden auf ähnliche Art und Weise. Diese polnischen und deutschen Interviews werden so zusammengestellt, dass sie ein Narrativ bilden, das sich zur Zeit zugunsten keiner politischen Richtung instrumentalisieren lässt, auch nicht zugunsten der Idee der Nation. Man könnte der Form dieser Erinnerungen vorwerfen, dass sie apolitisch sind, weil die Fokussierung auf das Leiden und auf Details die ‚große‘ Politik und politische Verantwortung aus dem Blickfeld verdrängt. Als Wissen, das in der Erfahrung von Frauen und Kindern verankert, ja situiert ist, gibt es zwar keinen Grund für die klaren, eindeutigen Fronten mit ihren Schuldigen, bildet aber eine bedingungslose Ablehnung eines jeden Krieges. Bereits die wenigen angeführten Textbeispiele bilden eine so vielfältige Palette von unterschiedlich situierten Erinnerungen von Frauen, dass aus ihnen kein homogen weibliches Gedächtnis gefolgert werden kann. Diese Erinnerungen sensibilisieren jedoch die Leserschaft für Abweichungen in den Kriegsdarstellungen, aus denen sich eine flächendeckende Vorstellung von diesem Zeitgeschehen ergibt, dem heute kein Sinn mehr abzugewinnen ist, weder in Bezug auf den Aufbau von heroischen Legenden noch auf das heroische nationale Heldentum. 23

Ebd., S. 84.

HANNELORE SCHOLZ-LÜBBERING

Die Kaninchen von Ravensbrück1 – Erlebnisberichte von Polinnen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

Im Mittelpunkt meines Beitrages stehen Erlebnisberichte von betroffenen Polinnen, die als Versuchspersonen für medizinische Experimente in Ravensbrück missbraucht wurden.2 Ergänzend stütze ich mich auf die eingesehenen Archivmaterialien in Ravensbrück von 2010 und Freya Kliers Studie Die Kaninchen von Ravensbrück (1994). In der deutschsprachigen Literaturwissenschaft und der Frauenforschung gibt es seit Ende der siebziger Jahre Bemühungen, auf unterschiedlichen Gebieten das Thema ‚Frauen im Nationalsozialismus‘ zu bearbeiten. Innerhalb der jüngeren Debatte um Mittäterinnen und die Aneignung der Geschichte als „negatives Eigentum“3 bis zum sogenannten Historikerinnenstreit4 gerieten vorwiegend bürgerliche deutsche Frauen ins Blickfeld.

1 2

3

4

Titel in Anlehnung an Freya Klier: Die Kaninchen von Ravensbrück. Medizinische Versuche an Frauen in der NS-Zeit. München 1994 [im Folgenden im Text zitiert als: Klier]. Vgl. Wanda Poltawska: Und ich fürchte meine Träume. Abensberg 1993; Ursula Wińska: Wspomniena z Ravensbrück (Die Werte siegten, Erinnerungen an Ravensbrück). Dt. Übersetzung in der Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, Ü 88/57-1 GA-D-3-6. Gdansk 1985 (im Folgenden im Text zitiert als: Wińska); Übermenschliches Maß. Opfer der Hölle Ravensbrück sprechen. Hg. v. Wanda Symonowicz. Warschau 1970; Gerda Szepansky: Frauen leisten Widerstand: 1933–1945. Lebensgeschichten nach Interviews und Dokumenten. Frankfurt/Main 1983. Lerke Gravenhorst: Nehmen wir Nationalsozialismus und Auschwitz ausreichend als unser negatives Eigentum in Anspruch? Zu Problemen im feministisch-sozialwissenschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland. In: Töchter-Fragen. NS-Frauen-Geschichte. Hg. v. Lerke Gravenhorst und Carmen Tatschmurat. Freiburg 1990, S. 17–37. Vgl. Gisela Bock: Die Frauen und der Nationalsozialismus. Bemerkungen zu einem Buch von Claudia Koonz. In: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 563–579; Claudia Koonz: Mütter im Vaterland, Frauen im Dritten Reich. Freiburg 1991; Gisela Bock: Ein Historikerinnenstreit? In: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S.400–404.

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Jüdische Frauen und Angehörige ethnischer Minderheiten kritisieren die Ausgrenzung aus diesen Untersuchungen. Ein Großteil der polnischen Erlebnisberichte war noch nicht übersetzt. Die Diskrepanz zwischen der mangelhaften Aufarbeitung der Geschichte von Frauen im KZ Ravensbrück und dem Bedürfnis ehemals internierter Frauen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, erklärt die Fülle autobiographischer Publikationen.5 Die Ursachen für die späte Aufarbeitung sind auch darin zu sehen, dass erst im Jahr 1959 die Gedenkstätte Ravensbrück als eine der drei großen Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR gegründet wurde. Erschwerend kam hinzu, dass, abgesehen vom Gedenkareal am Ufer des Schwedtsees, das ehemalige KZ-Gelände von Mai 1945 bis Ende Januar 1994 von der sowjetischen Armee bzw. den GUS-Streitkräften militärisch genutzt wurde.6 Mein besonderes Interesse gilt solchen polnischen Autobiographien und Berichten von Inhaftierten, die aus dem politischen Widerstand kamen. Eine zentrale Frage ist die nach frauenspezifischen Diskriminierungen, nach weiblichen Widerstandsformen und Überlebensstrategien. Weitergehend muss gefragt werden, wie Frauen aufgrund ihres Geschlechts gedemütigt und entwürdigt wurden. Diese Fragen zu stellen, bedeutet für mich keinesfalls, weibliche gegen männliche Leiden abzuwägen, vielmehr stellen sie den Versuch dar, die Kategorie ‚Geschlecht‘ aus dem Begriff ‚der Häftling‘ herauszufiltern. Die von mir eingesehenen weiblichen Autobiographien und Berichte von Polinnen dokumentieren den Terror und die Gewalt der SS, die darauf abzielten, die persönliche Identität und damit die Geschlechtsidentität der Inhaftierten zu zerstören. Viele Frauen berichten, dass sie nach dem Einlieferungsschock das Gefühl hatten, keine Frau mehr zu sein. Schon die demütigenden Prozeduren der Aufnahme, aber auch die beschriebenen medizinischen Versuche zeigen, wie wichtig es ist, die Kategorie Geschlecht ebenso wie die der Religion, Nationalität und ethnischen Zugehörigkeit einzubeziehen. Unter diesen Gesichtspunkten ist das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück von besonderer Bedeutung. Allerdings wurde die weibliche Lagergemeinschaft in Ravensbrück stark durch die divergierenden Herkunftsorte der politischen Häftlinge geprägt: Margarete Buber-Neumann7 z.B. kam aus dem stalinistischen Arbeitslager Karaganda (Sibirien) über das Gefängnis Butirka in Moskau und wurde von dort nach Ra5

6

7

Vgl. die Titel der Signatur PRO FO 371/57645 der Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Ich danke der Bibliothekarin Frau Monika Schnell der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und Frau Ingrid Panse für die hilfreiche Unterstützung bei der Sichtung des Materials. Vgl. Monika Herzog und Bernhard Strebel: Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In: Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen – Ravensbrück. Hg. v. Claus Füllberg-Stolberg et al. Bremen 1994, S. 13–42. Vgl. weiterführend Hannelore Scholz-Lübbering: Margarete Buber-Neumann: Unfreiwillige Grenzgängerin zwischen Hitler und Stalin. In: Kulturelle Identitäten im Wandel – Grenzgängertum

Erinnerungen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

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vensbrück deportiert. Hier lernte sie Milena, die Freundin Kafkas, kennen. Milena überlebte Ravensbrück nicht. Sie kam aus dem tschechischen Widerstand, und Margarete Buber-Neumann erfüllte ihr Vermächtnis: Sie schrieb ihre Biographie Milena, Kafkas Freundin.8

Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück (1939–1945)9 In dem idyllischen preußischen Dorf Ravensbrück, nahe dem Luftkurort Fürstenberg, ließ die SS 1939 das größte Frauenkonzentrationslager auf deutschem Gebiet errichten. Es sollte Himmlers ‚Musterlager‘ werden. Im Frühjahr 1939 wurden die ersten weiblichen Häftlinge aus dem Konzentrationslager Lichtenburg nach Ravensbrück verlegt. Im April 1941 wurde ein Männerlager angegliedert, das ebenfalls dem Kommandanten des Frauenlagers unterstand. Im Juni 1942 kam in unmittelbarer Nachbarschaft das sogenannte Jugendschutzlager Uckermark für junge Frauen und Mädchen hinzu. Das Frauenkonzentrationslager wurde bis 1945 ständig erweitert; als Häftlingsunterkünfte ließ die SS mehr und mehr Baracken aufstellen, im Herbst 1944 ein Zelt. Innerhalb der Lagermauer entstand ein ‚Industriehof‘ mit Produktionsstätten für traditionelle Frauenarbeiten wie Schneidern, Weben und Flechten. Neben dem KZ-Gelände errichtete die Firma Siemens & Halske 20 Werkshallen, in denen Häftlinge ab Spätsommer 1942 zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Mit Fortgang des Krieges entstanden über das ganze Reich verteilt mehr als 40 Außenlager, in denen Ravensbrücker Häftlinge Zwangsarbeit leisteten. In den Jahren 1939 bis 1945 wurden etwa 132.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.000 weibliche Jugendliche als Häftlinge registriert. Die nach Ravensbrück Deportierten stammten aus über 40 Nationalstaaten, Religions- und Volksgemeinschaften sowie intellektuellen und kulturellen Gruppierungen, unter ihnen Jüdinnen, Kommunistinnen, Bibelforscherinnen, Zeugen Jehovas sowie Sinti und Roma.10 Zehntausende wurden getötet, starben an Hunger, Krankheiten oder durch medizinische Experimente. Im Rahmen der Aktion ‚14f13‘ wurden Häftlinge ermordet, die als behindert bzw. arbeitsunfähig galten. Mit ihnen wurden auch jüdische Häftlinge in der Gaskammer der ‚Heil- und Pflegeanstalt Bernburg‘ ermordet.

8 9

10

als literarisches Phänomen. Hg. v. Mirosława Czarnecka und Christa Ebert. Berlin 2006 (Ost-WestDiskurse 6), S. 17–39. Margarete Buber-Neumann: Milena, Kafkas Freundin. München 2002. Die Geschichte des KZ Ravensbrück ist aufgearbeitet in Füllberg-Stolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6); vgl. auch Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück: Quellenlage und Quellenkritik. Tagungsdokumentation der Freien Universität Berlin. Hg. v. Insa Eschebach und Johanna Kootz. Berlin 1997; Bernhard Strebel: Das KZ Ravensbrück – Geschichte eines Lagerkomplexes. Paderborn 2003. Die meisten Insassen kamen jedoch aus dem Widerstand.

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Ende 1944 richtete die SS im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in einer Baracke neben dem Krematorium eine provisorische Gaskammer ein. Hier ließ die SS im Zeitraum von Ende Januar bis April 1945 ca. 5.000 bis 6.000 Häftlinge vergasen. Kurz vor Ende des Krieges evakuierten das Internationale, das Schwedische und Dänische Rote Kreuz ca. 7.500 Häftlinge nach Schweden, in die Schweiz und nach Frankreich. Aufgrund eines Räumungsbefehls Himmlers ließ Lagerkommandant Fritz Suhren die noch im Lager verbliebenen mehr als 20.000 Häftlinge in mehreren Marschkolonnen zu Fuß in Richtung Nordwesten treiben. Am 30. April 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Ravensbrück mit den ca. 2.000 dort zurückgelassenen Kranken. Bereits im Juli 1939 wird Ravensbrück als ‚Musterlager‘ präsentiert: Wecken durch Sirenengeheul, Waschen und exakter Bettenbau, ein kärgliches Frühstück, erneutes Sirenengeheul und Zählappell in preußischer militärischer Ordnung. In diesen ersten Jahren ist das Himmler’sche Ideal der nationalsozialistischen Umerziehung Programm: Es gibt Schlaf- und Tagesräume in den Blöcken, zwischen dem Todeszaun werden Bäume gepflanzt, Blumenbeete angelegt und der Appellplatz ist von Rasenstreifen umsäumt. Dies scheint sich bis Ende 1940 nicht sehr verändert zu haben. Margarete BuberNeumann beschrieb das KZ Ravensbrück als – ihrer Wahrnehmung gemäß – idyllisch anmutend, als erholsamen Anblick trotz des faschistischen Drills.11

Polinnen aus dem Widerstand als ‚Versuchskaninchen‘ Am 23. September 1941 trifft in Ravensbrück ein ‚Sondertransport‘ aus Warschau und Lublin ein. 400 Polinnen aus dem Widerstand, von der Gestapo schwer gefoltert, zum Tode verurteilt (aber ohne Todesurteil). Sie kamen aus den Todeskellern und waren froh, den Verfolgungen entkommen zu sein. Schon bald zeigte sich, dass diese Hoffnung ein Trugschluss war. Für die katholischen Frauen waren die Aufnahmeprozeduren entwürdigend: Sie mussten stundenlang nackt vor den SS-Lagerärzten und Gestapomännern stehen. Im Weiteren wurden sie zu Schwerstarbeit eingeteilt. Übereinstimmend finden sich in den Autobiographien und Berichten positive Reflexionen darüber, dass sie gemeinsam untergebracht wurden und die polnische Sprache pflegen, gemeinsam singen, beten und hoffen konnten. Dennoch haben sie wie die Jüdinnen den Status sogenannter ‚Verfügungshäftlinge‘, für sie alle steht ‚Vernichtung durch Arbeit‘ auf dem Programm (im Gegensatz zu den Politischen, Kriminellen, Prostituierten, Bibelforscherinnen). Eine Weile wirkt sich die starke religiöse und nationale Identität positiv aus, aber die tödliche Erschöpfung zwingt zum nackten Überlebenskampf. Sie müssen 11

Bedingt durch ihre Erfahrungen in stalinistischen Arbeitslagern gewinnt der Vergleich an Verständlichkeit. Vgl. Margarete Buber-Neumann: Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Eine Welt im Dunkel. Frankfurt/Main 1993; vgl. auch Dieselbe: Die erloschene Flamme. Schicksale meiner Zeit. München/Wien 1976.

Erinnerungen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

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lernen, alle menschenunwürdigen Behandlungen ohne Widerstand zu ertragen, nur Anpassung ist eine Chance, dem sicheren Tod zu entgehen. Mit der Verlagerung des Schwerpunktes von Umerziehung auf ‚Vernichtung aller Arbeitsfähigen‘, ein Prozess, der 1942 noch geheim gehalten wird, bis zur Massentötung im Jahre 1945 nehmen die Zahlen der Inhaftierten rapide ab. In den letzten Ravensbrück-Jahren entstehen ein ‚Isolierbau‘, ein Krematorium und eine Vergasungsanlage. Die neuen Aufseherinnen im KZ, deren Zahl ständig steigt (in sechs Jahren arbeiteten hier 3.500 Frauen als Wärterinnen), werden sofort bei der Einführung in ihre Tätigkeit mit dem Massenmorden vertraut gemacht. Im Januar 1941 inspiziert Himmler sein Vorzeigelager. Er ist mit Ausstattung und Lagerordnung zufrieden – nicht jedoch mit dem obersten Lagerarzt. Aus einem Brief Himmlers (Reichsführer SS) an Grawitz (Reichsarzt SS) vom 03.02.194112 geht hervor, dass er neben seinem ‚Interesse‘ an Rassenwahn, Massenmord, Naturheilkunde und Biodynamik befahl, ‚Tripperversuche‘ an Frauen durchzuführen. Zu diesem Zweck wurden in der Folge Prostituierte gesucht, die in zwei Kategorien (die erste Kategorie tripperfrei für die SS, die zweite Gruppe infiziert für die Häftlinge im Männer-KZ) eingeteilt wurden. Dies stellte eine rentable Einnahmequelle für die SS dar, den Frauen wurde zugesagt, dass sie nach einem halben Jahr ‚Einsatz‘ entlassen würden. Die meisten kehrten geschlechtskrank nach Ravensbrück zurück und wurden von „Braunen Schwestern“ (Klier, 129) ‚abgespritzt‘. Mit Himmlers Geheimbefehl ‚14f13‘ wurde Hitlers primäres Euthanasieprogramm ‚T4‘ ausgeweitet. ‚T4‘ meint ‚Gnadentod durch Vergasen‘. Es betraf zunächst die Heil- und Pflegeanstalten der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Bernburg, wo ‚den unheilbar Kranken der Gnadentod‘ gewährt wurde. Mit dem Programm ‚14f13‘ wurden nicht nur körperlich und geistig Behinderte in den Gastod geschickt, sondern auch TBC-Kranke, Jüdinnen sowie alle auf längere Sicht Arbeitsunfähigen. Im Frühjahr 1942 läuft die Aktion äußerst geheim an: Den ahnungslosen 150 TBC-Kranken wird mitgeteilt, sie kämen in eine Heilstätte. Das kalkulierte Massenmorden setzt in Ravensbrück 1942 ein, als das nazistische Deutschland auf der Höhe seiner Macht steht. Der SS-Arzt Rosenthal beginnt mit ‚Fluraufnahmen‘ zum ‚Abspritzen‘. Neben diesen Tötungsprozeduren führt der Arzt auch Abtreibungen durch; auf Anordnung Himmlers wird ab Mitte 1942 im KZ Ravensbrück prinzipiell jede Leibesfrucht abgetrieben, die ein Ausländer oder Jude gezeugt hat. Die wegen ‚Rassenschande‘ eingelieferten Frauen kommen sofort vom Bad aus ins Krankenrevier, wo die Abtreibungen und Tötungen von lebenden Säuglingen bestialisch vorgenommen werden.13

12 13

Vgl. Aktenzeichen: 754/21, Ablage persönlicher Stab Himmler. Archiviert im Document Center Berlin. Eines der wichtigsten Dokumente in diesem Zusammenhang ist das Geburtenbuch. Vgl. FüllbergStolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 158f. Zu den Kindern von Ra-

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Auch die SS-Ärztin Oberheuser gibt – wie sie es später nennen wird – ‚Sterbeerleichterungen‘. Sie spricht von jenen Spritzen, die nach wenigen Minuten den Herzstillstand bewirken. Sie ist auch an der ersten Versuchsreihe der Massensterilisierung von sogenannten ‚minderwertigen Frauen‘ 1941 beteiligt. Neben den Massenankünften von Ukrainerinnen und Russinnen werden im Frühjahr 1942 auch Norwegerinnen, Finninnen, Holländerinnen, Belgierinnen und Französinnen ins Lager verschleppt. Bevor jedoch diese Masse das Lager erreichte, waren auch aus der Tschechoslowakei Häftlinge als ‚Vergeltungsmaßnahme‘ eingetroffen, da am 27.05.1942 das Attentat auf Heydrich, den Chef der Sicherheitspolizei und Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, erfolgreich verübt worden war. Diesen Zuwachs kann das ‚Musterlager‘ nicht verkraften; der Zerfall beginnt: Epidemien sind unvermeidlich, die gequälten Menschenmengen sind ausgemergelt, von Wanzen und Läusen geplagt. Am 18. April 1942 findet die erste Exekution in Ravensbrück statt. Während des Appells werden dreizehn Lubliner Widerstandskämpferinnen erschossen, unter ihnen auch die 21jährige Grażyna Chrostowska. Ihre Gedichte blieben, da sie in Geheimbriefen das Lagertor passieren konnten, erhalten.14 Im gleichen Kriegsjahr werden weibliche polnische Häftlinge zu militärischen Zweckforschungen missbraucht: Für Wehrmedizin, Kampfstoff- und Seuchenforschung, für nachwuchsfreie Arbeitsheere, Meerwasser-, Höhen- und Kälteversuche werden die wehrlosen Frauen von Ravensbrück bedenkenlos benutzt. Es werden Eingeweide zerfressen, Körper erhitzt, unterkühlt, Frauenbeine zerschnitten, Eileiter verklebt. Neben Ravensbrück werden diese Versuche in Dachau, Natzweiler und Buchenwald (Fleckfieber- und Virusforschung) durchgeführt. Am 27. Juli 1942 startet die erste Versuchsreihe in Ravensbrück. Im Frühherbst 1942 wird Dr. Sumpfegger (später Leibarzt von Hitler) beauftragt, sich in Ravensbrück an Verpflanzungen von Knochen und Muskeln zu versuchen. Die Versuche laufen parallel. An 74 polnischen Opfern und einer Ukrainerin werden die Operationen durchgeführt; ihre Beine sind für immer zerstört.15 Da die Dokumentation der Experimente zum größten Teil vernichtet wurde, verweise ich neben Freya Kliers Studie auf die Zeugen- und Angeklagtenvernehmungen des Nürnberger Ärzteprozesses und des Hamburger Ravensbrückprozesses. Darüber hinaus gibt es einzelne Berichte von Opfern, in denen diese ihre Erfahrungen überliefert haben.16

14

15 16

vensbrück vgl. Christa Wagner: Geboren am See der Tränen. Berlin 1987; Charlotte Müller: Die Klempnerkolonne in Ravensbrück. Erinnerungen des Häftlings Nr. 10787. Berlin 1981. Vgl. …und dennoch blühten Blumen – Dokumente, Berichte, Gedichte und Zeichnungen vom Lageralltag 1939–1945. Hg. v. Helga Schwarz und Gisela Szepansky. Berlin 1994 (Publikation der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung). Die Liste mit den Namen der Opfer und ihren Häftlingsnummern befindet sich in der Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Signatur: KL 128-8A. Vgl. z.B. Loretta Walz: Man nannte uns „Kaninchen“. Videofilm mit Berichten 1995; Loretta Walz: Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag. Die Frauen von Ravensbrück. München 2005.

Erinnerungen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück

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Seit den neunziger Jahren liegen auch Übersetzungen von Protokollen gerichtsmedizinischer Untersuchungen vor, die im August 1946 von der Bezirkskommission für Untersuchungen deutscher Verbrechen in Gdańsk (Gesetzblatt R.P. Nr. 51, Pos. 293) durchgeführt wurden.17 Es lassen sich die in Ravensbrück durchgeführten Humanversuche an inhaftierten Frauen neben den Sterilisationsexperimenten in drei Hauptgruppen einteilen: 1. Sulfonamidversuche; 2. Knochen-, Muskel-, Nerventransplantations- und Regenerationsversuche; 3. willkürliche Experimentaloperationen.18 Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939 begann auch die Verfolgung der polnischen Zivilbevölkerung; noch im September erreichte der erste Transport Ravensbrück,19 im November folgten weitere aus den Ostgebieten (Pomorze, der Woiwodschaft Poznań und aus Pabianice bei Łódź). Im April 1940 kamen etwa 80 Frauen, überwiegend Lehrerinnen, aus dem Durchgangslager Dzialdowo nach Ravensbrück, nachdem sie die Liquidation der Intelligenz im Gebiet des nördlichen Masowiens überlebt hatten. Im August 1940 begannen die Deportationen polnischer Frauen aus den Gefängnissen des Generalgouvernements nach Ravensbrück, wodurch die Gruppe der Polinnen ihre zahlenmäßige Dominanz im Lager erhielt. Besonders die Transporte vom 23. September 1941 und 21. Mai 1942 aus den Gefängnissen Lublins und Warschaus sollten eine besondere Rolle spielen. Nach dem Ausbruch des Warschauer Aufstandes 1944 wurden etwa 12.000 Frauen nach Ravensbrück deportiert. Damit wuchs die Zahl der Polinnen auf 40.000 an. Bis auf wenige Ausnahmen wurden sie als politische Häftlinge registriert und trugen deshalb den ‚roten Winkel‘ mit dem Buchstaben ‚P‘ für ‚polnische politische Schutzhäftlinge‘. Unter ihnen befanden sich allerdings mehrheitlich Ostarbeiterinnen20 – also keine politisch Tätigen. Die Transporte aus dem Generalgouvernement waren sogenannte ‚Sondertransporte‘, 4.000 Frauen erreichten Ravensbrück.

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20

Vgl. z.B. Leonarda Bien: Signatur KL/ 28-7 (Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück). Vgl. Prof. Dr. Stanisław Sterkowicz: Medizinische Experimente im Konzentrationslager Ravensbrück. Signatur KL/ 28-13 (Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück); Hubert Fischer: Ärztliche Versorgung, sanitäre Verhältnisse und Humanversuche im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. In: Gesnerus 45 (1988), S. 49–66. Es waren vorwiegend Funktionäre polnischer Bildungseinrichtungen und Vereine. Vgl. Wanda Kiedrzyńska: Ravensbrück. Dt. Übersetzung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Warszawa 1961. Die meisten wurden zwangsverpflichtet. Einige hatten sich auch zur Arbeit in Deutschland freiwillig gemeldet, weil sie der deutschen Propaganda Glauben schenkten und sich bessere Lebensbedingungen erhofften.

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Bei der Unterschiedlichkeit der Inhaftierungsgründe vereinte sie in der solidarischen Lagergemeinschaft folglich auch nicht der rote Winkel, sondern das ‚P‘ für Polen, ihr Land. Der polnische Patriotismus, geprägt durch Jahrhunderte andauernder Freiheitsund Unabhängigkeitsbestrebungen, vereinte sie ebenso wie ihr starker katholischer Glaube.

Strategien des Überlebens Nach der Einlieferung mussten die Polinnen (wie auch alle anderen Inhaftierten) die entwürdigenden Einlieferungsrituale über sich ergehen lassen (nackt vor SS-Ärzten posieren, Entlausung, Bad). Sie wurden meist von den als ‚kriminell‘ eingestuften Häftlingen durchgeführt. Im Jahr 1941 änderte sich diese Situation jedoch, und die ersten Polinnen übernahmen derartige Funktionen.21 Die Ankommenden wurden zunächst in einer Baracke isoliert. Ursula Wińska schildert: Das während der Quarantäne illegal eingeleitete geistige Leben (Erzählungen, Vorträge über die Geschichte, patriotische Gedichte, Gebete, Gesang) lenkte von der Lagerrealität ab, stellte die Welt der Werte wieder her und verband die Frauen innerlich. Die Fähigkeit, in der Gemeinschaft zu leben, musste entwickelt werden. (Wińska, 40)

Die Angst vor dem Tod und Hunger bewirkten, dass einige Frauen, unabhängig von ihrem kulturellen und intellektuellen Niveau, ihre Würde verloren, die Probe nicht bestanden. Aber in jedem Transport der ins Lager gebrachten Frauen befand sich immer eine Gruppe von erfahrenen, hervorragenden Persönlichkeiten, die durch ihre Haltung, ihre moralischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Vorzüge auf die anderen Einfluss ausübten und zum persönlichen Vorbild wurden. Weder die Zugehörigkeit zu einer Partei bzw. politischen Gruppe noch die Weltanschauung war von Bedeutung. Es galt der gesellschaftlich aktive, verständnisvolle und intelligente Mensch, der keine egoistischen Bestrebungen zeigte, sondern der in jeder Situation alles von sich geben konnte. (Wińska, 40) Die Prägung einer polnischen Lagergemeinschaft begann sofort, die Norwegerin Sylvia Salvesen kommentiert: „Im ganzen hielten die Polinnen zusammen. Als eine Nation wurden sie als die Fähigsten im Lager angesehen[,] […] ich habe niemals vornehmere und intelligentere Frauen getroffen, als diese, die ich unter ihnen traf.“22 Einer der bedeutendsten Fixpunkte der Überlebensstrategie war nach vielen Berichten der Glaube: „Glaube“, so Ursula Wińska, „wurde zur Quelle unserer seelischen Kraft, aus der Zuversicht kam, daß die Tyrannei und die Brutalität nicht siegen können, daß das Gute, 21

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Vgl. Irmtraud Bernhard und Heike Strebel: Häftlingsselbstverwaltung und Funktionshäftlinge im Konzentrationslager Ravensbrück. In: Füllberg-Stolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 89–98. Sylvia Salvesen: Vergebt – doch vergeßt nicht. Dt. Übersetzung in der Bibliothek der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Oslo 1947, S. 79.

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die Wahrheit und die Gerechtigkeit gewinnt.“ (Wińska, 131) Anna Burdówna konkretisiert: Der Glaube rettete vor Selbstmord, vor Wahnsinn, indem er die Proportionen zwischen dem Absoluten und der menschlichen Nichtigkeit offenbarte. […] Die Liebe zu Gott konnte durch die Dankbarkeit für jede Zuwendung zu dem ihn anflehenden Menschen realisiert werden, und die Liebe zu den Menschen konnte durch die samaritische Hilfe, durch eine geteilte Brotschnitte, ein Lächeln, einen Händedruck, Freundlichkeit, Verständnis, durch die Mitteilung von einer Neuigkeit usw. verwirklicht werden. Die Liebe forderte nicht nur die Hilfe für die Mitleidenden, sondern auch das Erweisen des letzten Dienstes für die Sterbenden und Verstorbenen, die der Tod unseren Reihen entriß. Es war ein Gebet, das Schließen der Augen, die letzte Verabschiedung, manchmal auch eine Feldblume oder Ähren, die die auf dem Feld arbeitenden Kolonnen mitbrachten und auf die Leiche legten, bevor sie auf die Haufen zu den anderen Leichen geworfen und ins Krematorium gebracht wurde.23

Wie sehr gerade diesem Moment des Glaubens eine ganz eigene, polnische Prägung innewohnte und dieses somit zur Festigung der polnischen Lagergemeinschaft beitrug, erläutert Zofia Maria Orlicz: „Wir betrachteten unsere Leiden als eine auferlegte Buße, als Opfer für die Befreiung Polens und für das Glück der Menschheit.“24 Die Teilnahme am religiösen Leben war eine wichtige Grundlage solidarischen Verhaltens, so z.B. die Marianische Bruderschaft, die von Maria Szpitterowna initiiert wurde. Dieses religiöse junge Mädchen gründete ebenfalls die Gemeinschaft des lebenden Rosenkranzes. Insgesamt erwuchs aus der Kraft der Religion jedoch ein großer Zusammenhalt, die Frauen dichteten in polnischer Sprache Messen und Oratorien, da ihnen alle Bücher genommen wurden, die Lagergebete von Ursula Wińska sind erhalten. Solche religiösen Dichtungen und Gebete waren wichtige emotionale Stützen im Überlebenskampf, so auch das Ravensbrücker Oratorium von Mirosława Grupinska (Häftlingsnummer: 119569). Das Motto lautet: Wir sprechen Dich an, Vorübergehender, In einem Augenblick der Andacht; Mit der Kraft unserer Erinnerung, Die die Asche in einen Diamanten verwandelt, Unser Augenausdruck und die Stirnfalte, Und manche Narbe auf dem Körper spricht Dich an, Ob du uns verstehen wirst, Vorübergehender, Ich weiß es nicht…

Die Inhaftierten gaben sich auch ein ‚ungeschriebenes Gesetz der Polinnen‘: Das Gesetz der innerlich freien Menschen. Laß dich nicht auf das Niveau des Henkers herabsetzen. Bemühe dich, seine Pläne zu vereiteln. Verliere die Hoffnung nicht, wir werden frei sein. 23 24

Bericht von Anna Burdówna. In: Wińska: Wspomniena z Ravensbrück (Anm. 2), S. 132. Bericht Zofia Maria Orlicz. In: Ebd., S. 134.

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Durch deine Haltung, sei Stütze für die andren. Zu jeder Zeit sei bereit, der Mitgenossin zu helfen. Wenn du Lebensmittelpakete erhältst, teile sie mit denen, die keine Pakete bekommen. Setze die in der Freiheit geltenden Gesetze nicht herab, z.B. sogar beim schlimmsten Hunger stiehl deiner Kameradin nichts und auch nicht aus der Küche der Gefangenen. Befreie dich nicht von der Pflicht, die hygienischen Grundsätze trotz der Schwierigkeiten einzuhalten. Es ist wichtig nicht nur für dich, sondern es soll auch ein Beispiel für die Mitgefangenen sein. Bemühe dich, deine Interessen und dein Wissen zu erweitern. Wenn du einer Kameradin irgendetwas beibringen kannst, tu das. (Wińska, 50)

Die Lagergedichte von Zofia Górska-Romaniczowa und Halina Golczowa wurden auswendig gelernt und bildeten eine wichtige Informationsquelle: „Das Gedicht wurde zu der besten Form und Methode der ‚Inhaltsverbreitung‘ im Lager, weil die Strophen, Reime und der Rhythmus des Werkes seinen Sinn ‚in Schranken‘ hielten und keine Entstellung zuließen.“ (Wińska, 258) Ursula Wińska war Journalistin. Sie schuf 70 überlieferte Texte (Reportagen, Skizzen, Gedichte). Polnische Kultur im deutschen KZ – eine fast bizarre Vorstellung. Erst die Methodendiskussion der Oral History der letzten zwei Jahrzehnte hat die Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt gelenkt, ohne ihn pauschal als Verharmlosung des Lebens im KZ zu werten. Die größte innovative Anregung für Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück ging von Polinnen aus. Die Frauen schrieben Gelegenheitsgedichte und -lieder zu Geburtsund Namenstagen, aber auch zu illegalen geheimen Gottesdiensten und religiösen Zusammenkünften (vgl. Wińska, 253; 259). Sie stellten für viele einen wichtigen Halt dar, mobilisierten geistige Kräfte, stärkten die Hoffnung auf Befreiung und formierten Solidarität.25 Die polnische Kunstmalerin Maria Hiszpańska schuf auf Pappe und Papierfetzen Zeichnungen des Lagerlebens.26 Damit die sehr krankheitsanfällige Polin nicht zur Arbeit musste, fälschte Milena Jesenská ihre Innendienstkarte, stahl Papier und Bleistifte. Andere gefährdete Polinnen brachte sie in den Baracken der Bibelforscherinnen unter. Die realistischen Zeichnungen versteckte Hiszpańska nachts unter dem Strohsack, die meisten der ca. 400 Zeichnungen kamen abhanden oder wurden vernichtet; sie hat einen großen Teil 1946 aus der Erinnerung rekonstruiert. Die im Lager entstandenen Werke sind Klage und Anklage, Verurteilung und Behauptung zugleich. Sie halfen den Frauen, die zeitlich nicht absehbaren unerträglichen Lebensbedingungen physisch und psychisch besser zu ertragen. Die Pfadfindergruppen (1941, Die grauen Reihen) gelobten, Gott, Polen und den Mitmenschen zu dienen. Der polnische Unterricht von Kindern und Jugendlichen war „eine der wichtigsten Bastionen des Verteidigungskampfes ge-

25

26

Vgl. Susanne Minhoff: Ein Symbol der menschlichen Würde. Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück. In: Füllberg-Stolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 207– 220. Ebd., S. 213f.

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gen den Verlust der inneren Würde […].“ Sowohl Schülerinnen als auch Lehrerinnen überwanden dadurch für Stunden die erdrückende Schwere des Lagerlebens und erschufen sich eine eigene Welt der geistigen Interessen. Der Unterricht in polnischer Sprache und Kultur stellte aber auch einen bedeutenden Beitrag zur Formierung einer polnischen Identität unter den widrigen Lagerumständen dar.

Die Opfer der medizinischen Humanversuche Die meisten Opfer dieser qualvollen Humanversuche waren polnische politische Gefangene. Die Jüngste unter ihnen war die 16jährige, viermal operierte Barbara Pietrzyk, die Älteste mit 45 Jahren Apolonia Rakowska. Frau Pietrzyk hat die an ihr durchgeführten Experimente sowie die Lagerhaft zwar überlebt, starb jedoch 1948 an den Folgen der Inhaftierung. Frau Rakowska wurde mit noch nicht verheilten Wunden im Jahr 1943 im Lager erschossen. Das Schicksal der insgesamt 74 polnischen Inhaftierten steht im Folgenden im Fokus der Darstellung. Berücksichtigt werden ihre Schilderungen, die sie in zahlreichen Berichten, Aussagen im Nürnberger Ärzteprozess und im Hamburger Ravensbrückprozess sowie in Interviews dargelegt haben. Die für die medizinischen Experimente ausgewählten Polinnen kamen mit drei Transporten. Am 23.09.1941 trafen erste Transporte aus Warschau und Lublin in Ravensbrück ein, ein weiterer folgte, ebenfalls aus Lublin, am 31.05.1942. Der Mehrzahl der verhafteten Polinnen wurde ihre Zugehörigkeit zum Verband des bewaffneten Kampfes (Organisation der Verteidiger Polens – KOP) zur Last gelegt. Die Frauen des ersten Sondertransports bekamen den Befehl, bei der Kommandantur anzutreten, um von Ärzten aus Hohenlychen (einer nahegelegenen Forschungs- und Heilanstalt) begutachtet zu werden. Einige Tage später mussten sie vor dem Krankenrevier erscheinen; von den anwesenden jüngeren Frauen unter 40 wählte man zehn Frauen für medizinische Experimente aus. In den ersten Oktobertagen starben Weronika Kraska und Alfreda Prus, die ersten Opfer der Versuchsoperationen, und bereits eine Woche später folgten Zofia Kiecol, Aniela Lefanowicz und Kazimierza Kurowska. Nachdem bereits fünf Frauen ihr Leben durch die Experimente verloren hatten, herrschte blanke Angst. Die Gedanken dieser Frauen, die am 31. Oktober in das Revier gerufen wurden, schildert Izabela Rek-Koper exemplarisch mit folgenden Worten: Ich erstarrte, der Becher fiel mir aus der Hand, die Welt wirbelte vor meinen Augen herum. Eliza sagte, ich solle im Block zu Abend essen, denn dort würde ich nichts mehr bekommen, aber ich spürte keinen Hunger mehr. Bisher war der Hunger für mich schrecklich gewesen. Er verließ mich keinen Augenblick, niemals […] Aber jetzt überwanden ihn Angst, Verzweif27

Wanda Kiedrzyńska: Ravensbrück. Dt. Übersetzung in drei Bänden in der Bibliothek der Mahnund Gedenkstätte Ravensbrück. Warschau 1961, S. 176; vgl. auch Bernhard Strebel: Sabotage ist wie Wein. Selbstbehauptung, Solidarität und Widerstand im FKL Ravensbrück. In: FüllbergStolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 167–192.

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lung, vor allem aber Haß. Was jetzt eingetreten war, war für mich schrecklicher als der Tod. Denn der Tod ist etwas Menschliches.28

Die Verzweiflung der Insassin ist vor allem auf den Tatbestand zurückzuführen, dass sie bereits zweimal vor dem Zeitpunkt obiger Schilderung zu Operationen beordert worden war. Die unterlassene Aufklärung über den bevorstehenden Eingriff und insbesondere die ohne Einwilligung29 vollzogene Operation verstießen gegen jegliches Menschenrecht, dennoch blieben alle Proteste erfolglos. Nach der Rückkehr aus dem Operationssaal erwachten die Frauen mit starkem Brechreiz und furchtbaren Schmerzen in den Beinen, so bezeugt etwa Hegier-Rafalska: Wir bekamen hohes Fieber und wir hatten ein Gefühl, als ob man zwei Eisenstäbe auf die Beine gelegt hätte: Ich faßte längere Zeit nicht den Mut, zu schauen, was mit den Beinen los ist, weil ich Angst hatte, daß mir die Beine weggenommen wurden. Als ich es endlich wagte, hatte ich gesehen, daß beide Unter- und Oberschenkel mit Pflastern zugedeckt und bandagiert waren. Der Schmerz war furchtbar, deshalb hat man mir Morphium gegeben.30

Die Schmerzen, Bandagen sowie Gipsverbände und Operationsnummern waren zunächst die einzigen Anzeichen des Vorgegangenen. Außer den Informationen, welche die im Revier tätige polnische Häftlingsärztin Maczka trotz der strengen Geheimhaltungspolitik durch ihre Tätigkeit als Röntgenologin erhalten hatte und weitergeben konnte, stand den Frauen nur noch die Möglichkeit zur Verfügung, durch eine Mitarbeiterin von Prof. Dr. Karl Gebhardt31 aus Hohenlychen an Informationen über ihre Operationen zu gelangen. Doch die Wunden sollten bald für sich sprechen: Auch ich blickte mein Bein an, das die Schwestern inzwischen vom Verband befreit hatten, und sah es zum ersten Mal seit zwei Wochen. Ich blickte hin und erschrak. Ich sah auf dem ganzen Raum von der Kniegegend bis zur Ferse den Knochen völlig freiliegen und zu beiden Seiten zwei Rollen grünen, mit stinkendem Eiter bedeckten Fleisches. Auf der Außenseite dann noch eine Wunde, vom Knöchel bis zum Knie, mit mehreren Nähten. Der Anblick war so schrecklich, daß mir schwach wurde. Ich konnte nicht begreifen, daß dies mein Bein war.32

Sie fährt fort: Wir alle bekamen hohes Fieber, und die Wunden entzündeten sich noch mehr. Bei Stanislawa entstand wildes Fleisch. Maria Kuśmierczuks Bein schwamm in stinkendem Eiter, und auch bei mir wurde die Entzündung schlimmer und aus den Wunden am linken Ober- und am rechten Unterschenkel floß lange Zeit hindurch grüner Eiter. [...] Die einen lagen unbeweglich da, auf einen Punkt starrend, andere saßen, was einen noch unheimlicheren Eindruck machte. 28 29 30 31 32

Bericht von Izabela Rek-Koper. In: Symonowicz (Hg.): Übermenschliches Maß (Anm. 2), S. 176. In den Interviews des Films von Loretta Walz bezeugen drei Opfer diesen Tatbestand, vgl. Anm. 16. Zitiert in: Dunja Martin: Versuchskaninchen – Opfer medizinischer Experimente. In: FüllbergStolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 118. Chefarzt der Heilanstalt Hohenlychen. Zitiert nach: Bericht von Eugenia Mikulska-Turowska. In: Symonowicz (Hg.): Übermenschliches Maß (Anm. 2), S. 132 f.

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Grünbleich, mit tief eingefallenen Augen und Wangen, stöhnten sie nicht einmal. Auch dazu fehlte ihnen schon die Kraft. Die Beine schwammen einfach in einer Flut stinkenden Eiters.33

Die postoperative Versorgung oblag dem SS-Revierpersonal, das hier erneut Willkür und Sadismus walten ließ: Am nächsten Tag war am sehr frühen Morgen ärztliche Visite. Es kam die ganze Suite, um sich das wunderbare Werk der Hände von Prof. Gebhardt anzuschauen, der uns diesmal mit seiner Anwesenheit nicht beehrte. Dr. Schiedlansky, Dr. Rosenthal und Dr. Oberheuser traten in die Mitte des Saals und fragten mit Siegermiene, freudig und hochmütig lächelnd, ironisch: ‚Gut?‘ Wir schauten ihnen direkt in die Augen und schwiegen beharrlich! Von unserer unversöhnlichen Haltung nicht beschämt, verließen sie scherzend und lärmend den Saal.34

Auch die Verbände wurden nur sporadisch gewechselt. So griffen die Frauen in ihrer Not zur Selbsthilfe: „Um mir selbst zu helfen, begann ich die Wunden selbst zu versorgen. Wir hatten einen Vorrat an Papierverbänden und Lebertransalbe organisiert. Manchmal drückte ich zweimal täglich den Eiter heraus und wechselte den Verband, danach spürte ich große Erleichterung.“35 Doch immer wieder wurden die Frauen durch den Anblick ihrer Wunden gepeinigt. Es gab darüber hinaus keine spezifische, ausreichende Ernährung für die Versuchsopfer, sie bekamen die gleichen Rationen, wie sie auf den Blöcken ausgegeben wurden. Besonders quälend war jedoch die mangelnde Versorgung der fiebernden Frauen mit Trinkwasser. Die Erschießung der ersten beiden operierten Frauen, Maria Gnas und Maria Pajaczkowska, führte bei den Polinnen zu einem mutigen Protest: „Die düstere Prozession der Krüppel, die auf Krücken, am Stock humpelten und von denen einige auf Händen getragen wurden, schleppte sich mühevoll über die ganze Lagerstraße direkt zum Büro der Oberaufseherin, die damals die Langefeld war.“36 Die Aufseherin dementierte die Vorwürfe jedoch. Fest entschlossen, sich nicht derart abweisen zu lassen, schickten die Opfer am darauffolgenden Tag ein Schreiben an den Lagerkommandanten mit der Bitte um Klärung der Frage, weshalb die bisher operierten Frauen, von denen fünf Opfer bereits tot waren, ohne ihr Einverständnis operiert worden waren. Doch auch der Lagerkommandant nahm nicht Stellung. Diese eindrucksvolle Demonstration der Solidarität und der Willensstärke konnte jedoch nur symbolisch bleiben, zu mächtig war das eilig herbeigerufene SS-Personal. Die erneut aufgerufenen Frauen wurden brutal aus den Reihen der sie schützenden Kameradinnen gezerrt und gewaltsam in den Bunker geschleppt. Dort operierten die SS-Ärzte die Frauen an den ungewaschenen Beinen, ohne Rücksicht auf hygienische und aseptische Standards. Der Block, der sich mutig für sie eingesetzt hatte, wurde dafür drei

33 34 35 36

Ebd. Bericht von Helena Hegier-Rafalska. In: Symonowicz (Hg.): Übermenschliches Maß (Anm. 2), S. 156. Ebd., S. 155. Bericht von Leokadia Kwiecińska. In: Symonowicz (Hg.): Übermenschliches Maß (Anm. 2), S. 91.

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Tage bei geschlossenen Fensterläden und Essensentzug in der Augusthitze sich selbst überlassen. In den Augusttagen des Jahres 1943 fanden die letzten Versuchsoperationen an den polnischen Frauen statt. Anfang Februar 1945 erfuhren die operierten Polinnen, dass sie in das Lager Groß Rosen transportiert werden sollten. Das Evakuierungstransportmittel war ein fahrbarer Eisenbahnwaggon, präpariert für Vergasungen. Nach dieser bestürzenden Nachricht delegierten die Opfer zwei Deutsch sprechende Frauen, die die Weigerung aller Inhaftierten an die Aufseherin Binz herantrugen. Die Aktion blieb wirkungslos. Daraufhin begann eine in der KZ-Historie einmalige Rettungsaktion der Operierten: Am 05.02.1945 ertönte erneut die Aufforderung an die Versuchsopfer, sich für den Transport bereitzuhalten. Die Blockältesten meldeten, dass nur noch zwei deutschsprachige Insassinnen anwesend wären, alle Weiteren seien unauffindbar. Diese beiden erwiderten mutig: „Wir melden uns zu dieser Exekution nicht.“37 Die Russinnen waren als Offiziere der Roten Armee technisch gut ausgebildet; sie schalteten in der Nacht das gesamte Licht im Lager aus, sodass im dunklen Durcheinander die Flucht in andere Blöcke oder Unterschlupfmöglichkeiten gelang. Fast drei Monate lebten die Opfer in ihren Verstecken. Es kam zu keiner Denunziation, die Versorgung funktionierte, weil die starke Solidarität und gute Organisation der Lagerinsassinnen die Bedingungen hierfür schufen. In der starken Überfüllung durch die Evakuierungstransporte aus Auschwitz und anderen Konzentrationslagern war eine organisierte Übersicht jedoch nicht mehr gegeben. Die Polinnen versuchten, mittels Rückgriff auf Namen und Häftlingsnummern verstorbener Frauen, ihre Identität als ‚Versuchskaninchen‘ auszulöschen. Im April 1945 versprach der Kommandant von Ravensbrück den noch verbliebenen Opfern, dass sie mit ihm das Lager verlassen könnten, wenn sie bestätigen würden, dass er die Exekution verhindert habe. Am 27. April evakuierte die SS das Lager. Die polnischen Operierten wurden von den anderen getrennt und verließen unter Bewachung von SS-Männern mit dem Kommandanten das Lager. Der Weg in ihre polnische Heimat sollte für jedes der Opfer eine unbeschreibliche Odyssee werden, da sie teilweise getrennt wurden. Stanislawa Bafia berichtet: „Meine Gruppe ging einen anderen Weg und kam zu der Ortschaft Zirtow, und da haben die SS-Leute uns in eine Scheune gehen lassen und einer ist geblieben, uns zu bewachen, während die anderen gegangen sind. Wir haben dort ein Brett herausgerissen und sind alle hinaus in den Wald geschlichen.“38 Von dort aus machten sie sich auf den Weg in ihre Heimat. Frau Bafia erreichte am 30. Juni 1945 Krakau.39 37

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Bericht von Stanislawa Bafia. Interview vom 08.03.1992, zitiert in Dunja Martin: Versuchskaninchen – Opfer medizinischer Experimente. In: Füllberg-Stolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 120. Ebd., S.121. Vgl. ebd., S.121f.

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Der Nürnberger Ärzteprozess, der von Dezember 1946 bis Juli 1947 stattfand, befasste sich im Laufe seiner Verhandlung auch mit den in Ravensbrück durchgeführten Versuchen. Der angeklagte Prof. Gebhardt wurde zum Tode verurteilt, die ebenfalls angeklagten Ärzte Fischer und Oberheuser erhielten jeweils eine lebenslängliche bzw. eine zwanzigjährige Gefängnisstrafe. Beide wurden jedoch vorzeitig aus der Haft entlassen. Vor dem Militärtribunal in Nürnberg traten als Zeuginnen für die Anklage auch vier ehemalige Opfer der Experimente auf, Maria Kuśmierczuk, Jadwiga Dzido, Wladyslawa Karolewska und Maria Plater-Skassa. Zusätzlich nahm sich die Hauptkommission zur Untersuchung der Verbrechen des Hitlerregimes in Polen dieser Frauen an. In ihrem Auftrag wurden sie von Ärzten der Medizinischen Akademie in Danzig im Sommer 1946 untersucht. In die Untersuchungsprotokolle wurden die Aussagen der Frauen sowie die Ergebnisse der äußeren und radiologischen Untersuchungen aufgenommen. Die radiologische Untersuchung der fünfmal experimentell operierten Barbara Pietrzyk ergab den Befund: „Beide Knochen des Unterschenkels sind an der Stelle, an der ihr unterer Teil aneinandergrenzt, verunstaltet.“40 Diese Untersuchungen wiesen bei einigen der Frauen gar das Fehlen von Knochen nach, die ihnen operativ entfernt worden waren. Die Frauen litten teilweise unter schweren Depressionen aufgrund der ihnen im Lager widerfahrenen Experimente sowie der Entstellung ihrer jungen Körper, sie litten an Schmerzen an den operierten Beinen, Lähmungserscheinungen, Bewegungsproblemen, Nervenschmerzen, rheumatischen Beschwerden, Rückgratverkrümmungen aufgrund der Entnahme von Muskelkomplexen, periodisch auftretenden Eiterungen und Entzündungen der Hautoberfläche. Im April und Mai 1957 wurden dieselben Frauen sowie neun weitere Opfer der Experimente, die bei der ersten Untersuchung nicht dabei gewesen waren, von der Danziger Kommission untersucht. Ein Jahr später nahm sich der amerikanische Journalist Norman Cousins dieser polnischen Versuchsopfer an und organisierte für sie über die amerikanische Hiroshima Peace Center Association einen Besuch in den USA, um dort ärztliche Hilfe zu ermöglichen. Ihrem Krankheitsbild entsprechend wurden sie in Spezialkliniken behandelt. In der Folge hat Deutschland meines Wissens bis heute den noch lebenden Opfern keine angemessene Entschädigung oder eine Rente zukommen lassen.

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Dunja Martin: Menschenversuche im Krankenrevier des KZ Ravensbrück. In: Füllberg-Stolberg et al. (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern (Anm. 6), S. 118.

ANDRZEJ SULIKOWSKI

Womit spricht die gegenwärtigen Polen Hans Graf von Lehndorffs Ostpreußisches Tagebuch 1945– 1947 an?

Das Ostpreußische Tagebuch von Hans Graf von Lehndorff (*1910 in Graditz bei Torgau, † 1987 in Bonn) zählt in der deutschen Ausgabe fast 300 Seiten. Es wurde in der Bundesrepublik Deutschland über 30 Mal aufgelegt.1 Der Text entstand auf Basis der Notizen und Erinnerungen des bekannten Chirurgen. Im Vorwort erklärt der Autor: Dieser Bericht ist 1947 niedergeschrieben worden, teils nach herübergeretteten Tagebuchaufzeichnungen, teils aus der noch überwachen Erinnerung. Der Verfasser hat ihn bisher zurückgehalten, weil er selber noch keinen genügenden Abstand dazu gewinnen konnte. Inzwischen aber ist aus dem Geschehen der damaligen Zeit Geschichte geworden und das Persönliche aus den Grenzen der Person herausgetreten. (OPT, 7)

Die ersten Kapitel wurden in den nördlichsten Teilen von Ostpreußen verfasst: zunächst in Insterburg, dann in Königsberg, dessen Belagerung und Tragödie Lehndorff ergreifend darstellt, dann in Rothenstein, dem Übergangslager für Deutsche. Als der Autor vor Hunger und Hoffnungslosigkeit beinah schon völlig erschöpft war, entschloss er sich, zu Fuß aus dem von den Sowjets geplünderten Königsberg nach Südwesten zu fliehen, in Richtung seiner Heimat im Ermland. Er hatte über 200 Kilometer unter außergewöhnlich schwierigen Bedingungen zurückzulegen. Vom NKWD2 verfolgt, wanderte er meist nachts in Frost, Hunger und von allerlei Unbequemlichkeiten geplagt. Er konnte jeden Augenblick entweder von Sowjets, von der polnischen Miliz oder gar von den sich zurückziehenden Gestapo-Leuten getötet werden. Auf seinem Weg fehlte es auch nicht an bewaffneten Räubern, die im Niemandsland ihren dunklen Geschäften nachgingen. Anfang 1945 wurde Königsberg unter der Herrschaft der Sowjets von Hunger geplagt. Der Verfasser des Ostpreußischen Tagebuchs, selbst ausgezehrt, beobachtete 1

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Ich stütze mich auf die folgende Ausgabe: Hans Graf von Lehndorff: Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945–1947. 23. Aufl. München 1997. Im Folgenden im Text zitiert als (OPT mit entspr. Seitenangabe). Volkskommissariat des Inneren (sowjetische politische Geheimpolizei, Anm. d. Übers.).

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scharf seine gänzlich erschöpften Patienten (er handelte ähnlich wie Gustaw HerlingGrudziński in Inny świat in der polnischen Literatur; es lässt sich ohne Schwierigkeiten eine geistige Verwandtschaft der beiden Bücher feststellen): Ein merkwürdiges Sterben ist dieser Hungertod. Nichts von Revolte. Die Menschen machen den Eindruck, als hätten sie den eigentlichen Tod schon hinter sich. Sie gehen noch aufrecht, man kann sie auch noch ansprechen, sie greifen nach einem Zigarettenstummel – eher übrigens als nach einem Stück Brot, mit dem sie nichts mehr anzufangen wissen –, und dann sinken sie auf einmal in sich zusammen, wie ein Tisch, der unter einem Höchstmaß an Belastung so lange noch standhält, bis das zusätzliche Gewicht einer Fliege ihn zusammenbrechen lässt. (OPT, 145)

Ein Großteil des Buches – die Kapitel VI-VIII (benannt nach den Ortschaften: Grasnitz, Januschau, Rosenberg) – betrifft das Gebiet des heutigen Ermlandes, welches die Polen Mitte 1945 besiedelten und bis heute bewirtschaften. Lehndorff betrachtet hierin die Anfänge der polnischen Verwaltung in Ostpreußen, er versucht, den moralischen Standpunkt der neuen Behörden zu verstehen. Er bemerkt, dass alle neuen Ansiedler in einer Frage zusammenhalten: sie hegen keine warmen Gefühle den Sowjets gegenüber, sie versuchen stattdessen – sogar die Staatsbeamten der Sicherheitsbehörde – auf jede erdenkliche Art und Weise die Souveränität der noch schwachen polnischen Gewalt zu stützen. Lehndorffs scharfer Beobachtungssinn sowie seine Unparteilichkeit erwecken beim polnischen Leser große Sympathie, denn tatsächlich zeigten sich die Russen zwar als starker, jedoch zugleich auch problematischer Verbündeter. Sie plünderten Ostpreußen und alle anderen Gebiete respektive Länder auf ihrem Marsch nach Berlin, kümmerten sich ausschließlich um ihre eigenen Interessen, entführten z.B. landwirtschaftliche Maschinen und ganze Fabriken. So mussten die Polen bei dem Wiederaufbau der hiesigen Wirtschaft mit den Fundamenten anfangen, was Lehndorff zwei Jahre lang beobachtete. Die im zweiten Teil des Ostpreußischen Tagebuchs dargestellten Gebiete sind naturkundlich attraktiv, es sind Reiche von Wasser und Wald. Im Dorf Januschau sind die Überreste des Palastes der Lehndorff-Familie erhalten geblieben, in dem der Autor seine Jugendzeit verbrachte. Seine Heimat ist auf dem Gebiet der Eylauer Seenplatte zu finden, ungefähr im Viereck Deutsch-Eylau-Osterode-Saalfeld-Rosenberg in Westpreußen. Heutzutage stellt dieses Viereck ein ökologisch gesondertes Gebiet dar, den Landschaftspark der Eylauer Seenplatte. Lehndorff ist in erster Linie Arzt, erst dann Mensch, und nur zu gewissen Gelegenheiten auch ostpreußischer Aristokrat, der wegen des durch Deutschland hervorgerufenen und verlorenen Krieges seines Vermögens enterbt und seiner hohen sozialen Stellung enthoben wurde. Von seiner kläglichen Lage erzählt er stets mit Sinn für Humor und führt dabei komische Motive an: bei Untersuchungen der Patienten findet er oft ihm gut bekannte Familienwäsche mit Monogrammen aus dem Palast in Januschau. Aber er fordert das gestohlene Eigentum nicht zurück, weil er davon ausgeht, dass es eine Unmenge von Armen gibt und er selbst schon zurechtkommt. Im Sommer 1945

Womit spricht die gegenwärtigen Polen das ‚Ostpreußische Tagebuch‘ an?

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schleicht er sich aus dem Zentralkrankenhaus in Königsberg hinaus und gelangt heimlich in die Vorstadt, zur Pferderennbahn. Hier stößt er auf noch frische Erinnerungen an seine Familie: Bei diesen Unternehmungen gerät man innerlich oft gewaltig in Bewegung, nicht allein wegen der Spannung, die das gefahrumlauerte Gelände bietet, sondern auch durch das Ausmaß der Kontraste, die wir hier erleben. Besonders die Rennbahn hat es mir angetan. Es gab eine Zeit, da kulminierte hier unser Leben. Ausschließlich in Feiertagsstimmung betraten wir sie, um uns an Pferden zu begeistern und um Menschen zu sehen und uns von ihnen sehen zu lassen. Wie herrlich war alles gepflegt und geordnet. Man lehnte am Zaun, führte ein flüchtiges Gespräch, nickte hier jemand zu, sah dort jemandem nach und kam sich durchaus vollständig vor. Und nun lehnte ich wieder am Zaun, angetan mit einer schilfleinenen Jacke, ausgefransten Hosen, gefundenen Stiefeln, ohne Hemd und Strümpfe, und beobachtete eine kleine Gruppe von Kühen, die, von einem russischen Posten bewacht, zwischen den ehemaligen Hindernissen weidet. Wenn eine davon in meine Nähe gerät, will ich versuchen, ihr etwas Milch abzuzapfen. Um mich herum nichts als Unkraut. Schutt und Trümmer. Nur der Himmel ist der gleiche geblieben. Und ich frage mich, welche von beiden denn nun die Wirklichkeit ist, zu der wir eigentlich gehören. (OPT, 148f.)

Lehndorff als Chirurg rettete die Gesundheit und das Leben der Menschen (sowohl der Deutschen und Polen als auch der Russen), ohne dabei auf politische Gesinnung, Nationalität oder persönlichen Gewinn zu achten. Er operierte unter schwierigen Bedingungen und trotzdem in den meisten Fällen erfolgreich. Im Krankendienst bemühte er sich vor allem darum, ein guter Arzt und als solcher von Nutzen zu sein. Indem er sich vor der UB3 in der Gegend von Rosenberg in Westpreußen oder Januschau verbarg, setzte er einen viele Kilometer langen täglichen Weg eines freiwilligen ‚Arztganges‘ über die dortigen Dörfer fest, um den Einheimischen und der sich gerade niederlassenden polnischen Bevölkerung selbstlos zu helfen. Da es keinerlei praktizierende Mediziner oder gar Spezialisten gab, praktizierte er allseitig. Er zieht vereiterte Zähne, stellt Diagnosen als Internist, versucht, den mit venerischen Krankheiten Infizierten zu helfen, im Notfall betreut er Schwangere und assistiert auch bei Geburten. Wenn Kinder geboren werden, die durch Sowjets bei den Vergewaltigungen deutscher Frauen gezeugt wurden, beobachtet er aufmerksam, wie die ungewollten Säuglinge in den Mehrgenerationenfamilien aufgenommen werden. Mehr noch, er vertritt Pastoren, organisiert Festgottesdienste für die Einwohner, predigt kurze Exerzitien und tauft sogar Kinder. Den polnischen Leser erinnern diesen Szenen an Figuren wie Doktor Judym oder Doktor Janusz Korczak. Indem wir uns Stefan Zeromskis Die Heimatlosen vor Augen führen, lernen wir die Originalität von Hans von Lehndorff schätzen, der unbewusst einen wichtigen Samariter-Faden der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts fortführt. Offensichtlich wurzeln die Motive für Lehndorffs Taten in den Evangelien. Er zeigt sich als ein heroischer Christ, legt ein Zeugnis der ökumenischen Berufung ab und ist somit der historischen Zeit um einige Jahrzehnte voraus. 3

Polnische Sicherheitsbehörde (Anm. d. Übers.).

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Dank den biographischen Abschnitten des Ostpreußischen Tagebuchs von Hans von Lehndorff erfahren wir allmählich die Geschichte einer angesehenen Adelsfamilie, die sich im 14. Jahrhundert in Ostpreußen niedergelassen hatte. Innerhalb von über 500 Jahren trug sie zum Aufblühen der lokalen Wirtschaft und Kultur bei. Einige Vertreter der Familie von Lehndorff hatten wichtige Staatsfunktionen im Deutschen Kaiserreich inne. Für Polen erfüllten Familien wie Lubomirski, Czartoryski, Potocki, Radziwiłł diese Funktion. Die europäische Aristokratie trug mindestens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entstehung der Nationalstaaten bei, und die Lehndorffs zeigten ein deutlich ausgeprägtes Pflichtgefühl der Gesellschaft gegenüber. Für die Grafen von Lehndorff war Ostpreußen in gewisser Weise ‚das Zentrum der Welt‘. Sie versuchten, die einheimischen Wälder zu schützen, indem sie Sondergebiete schufen, die als prototypisch für die heute bekannten Landschafts- oder Nationalparks gelten. Das Naturbewusstsein des Hans von Lehndorff wuchs mit der wachsenden Vertrautheit mit der Landschaft stetig. Seine außergewöhnliche Kenntnis der umgebenden Topographie war dem Flüchtling aus Königsberg sehr nützlich, insbesondere während der Fußwanderungen, bei denen Lehndorff seine früheren Jagderfahrungen im geräuschlosen Herangehen an das Wild nutzte. Diesmal war er selbst zwei Jahre lang der gesuchte ‚Keiler‘ oder ‚Hase‘, was er ein paar Mal nicht ohne Selbstironie erwähnt, als er seine Flucht aus Königsberg beschreibt.4 Er beschloss jedoch, bis zum Schluss um sein Leben zu kämpfen, in einer aufrechten Haltung zu sterben und nicht auf Knien. Mit seinem ethischen Maximalismus erinnert er uns an die Gestalt des Herrn Cogito aus den Gedichten von Zbigniew Herbert. Hier einige Überlegungen des durch die sowjetischen Schützen verfolgten Flüchtlings: Mir ist nicht ganz klar, ob ich von oben her genügend gedeckt bin, darf mich aber jetzt nicht bewegen, um das festzustellen. Es vergehen ein paar Sekunden, in denen ich mich ganz als Hase fühle – dann setzen sich die Füße wieder in Marsch und verschwinden aus meinem Gesichtskreis. Etwas später wird es noch einmal kritisch, als mehrere Russen gleichzeitig durch die Sträucher dringen. Ich ziehe die Beine an und warte sprungbereit – im Liegen will ich mich nicht abknallen lassen. Dann ist auch das vorüber und ich habe endgültig Ruhe. (OPT, 92)

Die Natur bildet also einen wichtigen, überzeitlichen epischen Bestandteil des Ostpreußischen Tagebuchs. Hans von Lehndorff ist nicht nur ein Ästhet, wie der Graf aus Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz, sondern er behandelt die Schönheit der Natur als eine Manifestation des Schöpfers; wenn er auf die Wasservögel schaut, betrachtet er im Grunde das Schöpfungswerk in seiner religiösen Ordnung. Sogar in schwierigen Au4

Am 17. April 1945 schreibt er Folgendes: „Die Nacht ist merkwürdig schnell herumgegangen. Ich muss geschlafen haben, ohne etwas davon zu merken. Nicht weit von meinem Versteck entfernt wird Holz geschlagen, und schwere Fahrzeuge rollen auf einer Straße nach beiden Richtungen. In meiner näheren Umgebung ist der Wald zu licht, um sich bei Tageslicht darin verbergen zu können. Ehe es hell wird, muß ich einen besseren Platz gefunden haben. Wie ein angeschossener Keiler suche ich Deckung.“ (OPT, 91)

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genblicken der Fußwanderung empfindet er Dankbarkeit für das durch die Gottesgnade geschenkte und auch mittels heroischer Taten zu verteidigende Leben. Die geistigen Dimensionen der Schilderung bedingen, dass das gegenwärtig ins Polnische übersetzte Buch ähnliche Erinnerungen der deutschen Offiziere, Ärzte oder sozial Engagierten übertrifft, deren Ansichten wir mit einer fünfzigjährigen Verspätung im freien Polen erst nach dem Fall der kommunistischen Zensur kennenlernen können. Hans Graf von Lehndorff studierte noch vor dem Zweiten Weltkrieg an einigen europäischen Universitäten, zuerst Rechtswissenschaften, dann Medizin.5 Während er sich in der Schweiz, in Paris oder England aufhielt, lernte er intensiv Fremdsprachen, was sich als brauchbar erwies in schwierigen Situationen während des Krieges, wenn er ausländische Medikamente in Eile verabreichen musste. In Insterburg und Königsberg als Chirurg angestellt, gewann er bereits dort unter seinen Vorgesetzten und Kollegen Anerkennung als rechtschaffener, verantwortungsbewusster Arzt, der mit Patienten leicht Kontakt knüpfte und stets den ganzen Menschen sah, nicht nur den ‚Fall‘. Die berufliche Zuverlässigkeit des Hans von Lehndorff wird im Ostpreußischen Tagebuch indirekt bestätigt. Auch wenn er in primitiven Lazaretten operierte, trotz erheblicher äußerer Behinderungen (Artilleriebeschuss des Krankenhauses durch die Sowjets, Beschädigung der Konstruktion des Gebäudes, in dem sich der Operationssaal befand), konnte er positive Ergebnisse erzielen. Während er in Königsberg als Chirurg im Militärkrankenhaus arbeitete, blieb er im Grunde genommen Zivilarzt, ohne in die Wehrmachtstrukturen eingegliedert zu werden. Seine Erlebnisse glichen denen der polnischen Ärzte zur Zeit des Warschauer Aufstands und denen der russischen während z.B. der Belagerung von Stalingrad. Er war sich darüber im Klaren, dass Europa und der Welt von Seiten und aufgrund der aggressiven, im Grunde selbstzerstörerischen Politik Hitlerdeutschlands großes Leid widerfuhr. Als die Rote Armee im Anmarsch war, begann er das Tagebuch zu schreiben, war sich währenddessen jedoch bewusst, dass gerade ein historischer Prozess begann, der die Gestalt Europas verändern und die Leistungen der Deutschen in Preußen sowie in Kurland zunichtemachen würde. Dieser apokalyptischen Zeit trat er als Christ entgegen, der seit Insterburger Tagen mit der evangelischen Bekennenden Kirche verbunden war.6 Der religiöse Faden des Ostpreußischen Tagebuchs ist ein besonders ergreifender Bestandteil der Schilderung. Der Verfasser notiert am 19. Januar 1945 in Insterburg: Und abends bei Dunkelheit bin ich noch einmal in unserer Kirche. Seit dem Bombenangriff im letzten Sommer sind wir hier täglich zur Abendandacht zusammengekommen. Die Türen sind herausgeschlagen, durch den Haupteingang läuft eine Schneewehe zwischen den Bänken hin. 5

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Auf diese Zeit blickt Hans von Lehndorff in seiner Autobiographie Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen (1. Aufl. München 1980) zurück, insbesondere im Kapitel Studentenzeit. Lehndorffs Buch Die Insterburger Jahre. Mein Weg zur Bekennenden Kirche (1. Aufl. München 1969) thematisiert die religiöse Wende im Leben des Autors, also die Jahre 1941–44, in denen er als Assistenzarzt im Insterburger Krankenhaus arbeitete.

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Ich setze mich unter die Kanzel und singe zum Abschied das Lied: ‚Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du, Herr Jesus Christ. Dich will ich lassen walten‘. (OPT, 13)

Angestellt im Königsberger Krankenhaus erlebte Lehndorff die Belagerung der Stadt durch die Sowjets und dann die totale Vernichtung der Stadtmitte und zahlreicher weiterer Stadtteile. Er beobachtete die sowjetische Besatzung und schreckliche Leiden der beiden Seiten, die einen Kampf auf Leben und Tod führten. Als viele seiner Mitarbeiter nur noch den Tod herbeiwünschten, rettete Lehndorff die menschliche Hoffnung, und dies vor allem den zahlreichen vergewaltigten Frauen, indem er sich auf evangelische Argumente berief. Als Lehndorff den baldigen Einmarsch der Russen in Königsberg erwartete, dachte er am 27. Januar 1945 über eine Bibelstelle nach: Die Losungen haben heute eine besondere Überraschung für uns: ‚Gib mir, mein Sohn, dein Herz und laß deinen Augen meine Wege wohlgefallen.‘ Das ist mein Taufspruch und kann nur höchste Alarmbereitschaft bedeuten. Bleib hier, halt die Augen offen! Denk nicht mehr: Wie komm’ ich hier heraus? Sieh doch, wie sie alle den Kopf verlieren, die so denken. Bleib hier, ganz nah bei mir, dann sollst du meine Herrlichkeit sehen. (OPT, 22)

Als Lehndorff 1947 zögernd Polen verließ, glaubte er, dass eine wunderbare Errettung wie die seine dazu verpflichte, den Schmerz und den Tod der vielen, die seinen Weg kreuzten, in Erinnerung zu bewahren. Daher begann er nach der Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland mit der Sichtung und Ordnung seiner Notizen und entschloss sich, die Handschrift des Ostpreußischen Tagebuchs (1. Auflage 1961) für den Druck fertigzustellen. In den 1960er Jahren wurde dieses Buch zum Bestseller auf dem deutschsprachigen Buchmarkt und ist es bis heute geblieben. Lehndorffs Ostpreußisches Tagebuch hat einen hervorragenden literarischen Wert und zugleich einen fühlbaren philosophischen Hintergrund. Es fesselt die Aufmerksamkeit des Lesers und verlangt als ein tief ergreifendes und glaubwürdiges Zeugnis eine intensive Lektüre. Das Tagebuch schildert das Schicksal der Deutschen in Ostpreußen; dem polnischen Leser bringt es die Ereignisse der Jahre 1945–47 näher, die von der Schul-, sogar der Universitätshistoriographie meist übergangen werden. Es leistet einen wertvollen Beitrag die ‚Vertreibung‘ der Deutschen betreffend, die heutzutage so oft und so einseitig diskutiert wird, besonders von Personen, die keine blasse Ahnung vom alltäglichen Schicksal der Vertriebenen haben – ob Polen oder Deutsche oder Russen. Der Autor jedoch dokumentiert den Weg der Vertriebenen oder Flüchtlinge, wobei er selbst tödlicher Gefahr durch NKWD und UB ausgesetzt war. Das Ostpreußische Tagebuch, mit Objektivität und überdies mit einem eigenartigen Sinn für Humor verfasst, macht auf das Schicksal aller Opfer des Zweiten Weltkrieges aufmerksam. Als Lehndorff aus Osterode nach Westen geht, gibt er deutlich zu, dass es die Deutschen sind, die die alleinige Schuld an der Entfesselung des Krieges und an der bestialischen Behandlung der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen sowie an der Vergeltung der Russen und Polen tragen. Er wertet den Hitlerismus als ein großes Unglück der Deutschen und als eine politische Richtung, die die deutsche Nation schließlich in die Selbstzerstörung führte. Angesichts der Niederlage der Wehrmacht blieben

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der Bevölkerung von Königsberg und Umgebung als Ausweg häufig nur Ampullen mit Zyankali. Bei all dem spürt man, dass das Denken des Autors tief im Religiösen wurzelt. Hans von Lehndorff vergaß auch in der Königsberger Apokalypse nicht, dass Hoffnung aus einer übernatürlichen Dimension herrührt. Diese Haltung des Tagebuchschreibers hat eine lange Tradition in der Weltliteratur, besonders bei polnischen Autoren. Hier kann man sich auf Jan Józef Szczepański berufen, der im Polnischen Herbst die Niederlage vom 17. September 1939 beschreibt. Lehndorff, der in den Kolonnen der Kriegsgefangenen nach dem Sieg der Sowjets über die Verteidiger von Königsberg marschierte, notierte am 10. April 1945 wertvolle geschichtsphilosophische Reflexionen, in denen seine Vorstellungskraft sogar weiter reicht als die des Autors des Polnischen Herbsts: Die Königstraße herauf, über den Roßgärter Markt hinweg und weiter zum Schloß hin wälzt sich eine Riesenschlange einrückender Truppen, in die wir nun hineingeraten. Ich kneife heftig in meinen Oberschenkel, um mich zu vergewissern, dass dies alles Wirklichkeit ist und kein Traum. ‚Königsberg 1945‘ sage ich zu wiederholten Malen in mich hinein. Dass man es der guten alten, ehrwürdigen Stadt, die man nie so ganz für voll nahm, früher nicht angesehn hat, dass sie nur noch auf dies grandiose Schauspiel wartete, um dann zu verlöschen! Wie gut hat sie es verstanden, ihr Geheimnis vor uns zu hüten, als wir noch vor gar nicht langer Zeit in ihren gleichbleibend freundlichen Falten ahnungslos und mit überlegener Miene einhertrotteten. Erst die Stürme des letzten Sommers, die beiden englischen Fliegerangriffe, rissen ihr die Maske vom Gesicht und machten sie äußerlich reif für diesen Augenblick. Wir schwimmen inmitten eines Lavastromes, der sich von einem boshaften Stern auf die Erde ergießt. Nun macht er einen Bogen nach rechts – warum? Ach so, ja, hier haben ja Häuser gestanden, und hier ungefähr wohnte einmal unser Zahnarzt. Da oben in der Luft hat er gearbeitet. Vielleicht hat er früher auch manchmal aus dem Fenster auf die friedliche Straße gesehn, so als ob er auf irgendetwas wartete. Nun wälzt sich zwischen flammenden Trümmern ein wüster, johlender Haufen die Straße entlang, ohne Anfang und Ende. Ist das wirklich heute, an diesem Tage? Ist das nicht schon vor zweitausend, vor zehntausend Jahren oder ebensoviel später? Die Zeit ist doppelt, dreifach in diesem Augenblick. Nicht zu beschreiben, was sich da alles fortbewegt an Menschen, Tieren und Fahrzeugen. Ich weiß nur das eine: Dies ist der Sieg, der Sieg, wie er im Jahre 1945 aussieht, aussehen muß. Die lächerlichen und grauenvollen Einzelheiten, aus denen das Bild sich zusammensetzt, erscheinen mir wie Zwangshandlungen, Reaktionen innerhalb eines einheitlichen physikalisch-dynamischen Vorgangs. Die schiefe Ebene scheint mir dabei eine Rolle zu spielen, und ich frage mich betroffen, ob denn Königsberg immer schon soviel tiefer gelegen hat als Innerasien, dass die graue Lava so verrutschen konnte. Darin schwimmend, auf- und wieder untertauchend, Gestalten, Gestalten! Nein!, nein! Man selbst ist eine solche Gestalt. Ich sehe mich stehen, weiterstolpern, gaffen mit verwehtem, vergessenem Gesicht. Wer bin ich heute? Wer sind die anderen? Wie merkwürdig zu denken, dass Menschen sich früher stundenlang angestellt haben, um Vorbeimärsche zu sehen. Auch hier vielleicht, an dieser Stelle einmal. Es muß also doch etwas Sehenswertes daran sein. Und nun dies hier, alles Vorstellbare maßlos übertreffend, für wen geschieht es, wer sieht es überhaupt? Ist es nicht ganz und gar zwecklos? Oder macht sich Gott hier selbst etwas vor? Wir treiben weiter, auf das Schloß zu. Aus den Ruinen erhebt sich, wie ein Ausrufungszeichen, der Turm, der Länge nach gespalten, von tausend Geschossen zerfetzt, gekämmt, zerhackt. Man sieht in ihn hinein – da oben hängt noch die Glocke. Und auf einmal ist eine Stimme in

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mir, die gibt Antwort, und sie befiehlt mir: Mach nur die Augen auf und sieh, dann in der Tat wäre das, was hier vorgeht, sinnlos, zwecklos, höllisches Gelächter, wenn du es nicht sähest. Dies ist nicht ein Augenblick der Weltgeschichte – irgendeiner, der wieder vergeht –, das ist Weltgeschichte in einem Augenblick, in deinem Augenblick. Darum sieh nur hin, so wirst du die Herrlichkeit Gottes erkennen. Und dieser schmutzige, erschöpfte Menschenwurm, der ich bin, erschauert vor tiefer Seligkeit. (OPT, 69ff.)

An dieser Stelle ist erwähnenswert, dass das Motto des Buches lautet: „wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ Der deutsche Herausgeber gibt die Quelle des Zitats nicht an, das aus dem Prolog zum Evangelium des Heiligen Johannes (1,14) stammt. Die Anführung so schöner Worte am Anfang einer dramatischen und nicht selten tragischen Schilderung zeugt von einer erstaunlichen religiösen Zuversicht des Autors. Kennzeichnend ist, dass der Tagebuchschreiber die heimatliche Gegend nicht verlässt, er flieht nicht vor dem eigenen und fremden Leid, er bleibt hier auch nach dem Zweiten Weltkrieg und gewinnt das Ansehen der Einheimischen, ja sogar der polnischen Verwaltung. Sogar die Sicherheitsbehörde respektiert ihn wegen seiner Opferbereitschaft, und gegen Ende seines Aufenthalts bekommt er, zu seinem Erstaunen, ausgerechnet von einem angetrunkenen UB-Kommandanten einen unbeholfenen Dank für seine selbstlose Arbeit. Man sollte hinzufügen, dass die Familie der Grafen von Lehndorff von Anfang an die Hitlerregierung entschieden ablehnte, insbesondere die NSDAP-Ideologie. Manche Angehörigen, darunter auch ein Vetter des Autors, wurden wegen der Vorbereitung des missglückten Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 hingerichtet. Auf der anderen Seite entzogen sich Hans von Lehndorffs Brüder dem Militärdienst bei der Wehrmacht nicht und zwei von ihnen fielen an der Front. Im Ostpreußischen Tagebuch ist ein ethischer Faden eingeflochten, der mit der Opposition gegen den Nazismus verbunden ist. Der Tagebuchschreiber erinnert sich am 16. April 1945 an seinen Vetter Heinrich, mit dem er noch ein Jahr zuvor in seinem Heimatland zusammen auf die Jagd ging: Ein halbes Jahr später suchte er mich eines Nachts in Insterburg auf und berichtete von einem Attentat auf den Führer, das für die nächsten Tage geplant war. Seine Frage, ob ich bereit wäre, mich dafür zur Verfügung zu stellen, falls es noch an einem weiteren Helfer fehlen sollte. Da ich schon wusste, dass diese Frage kommen würde, hatte ich einen jungen Pfarrer, dem ich vertraute, gebeten, mich zum Bahnhof zu begleiten. Wir saßen dort mehrere Stunden auf einer Bank, und während des Wartens suchten wir Rat aus der Heiligen Schrift. Dabei machte uns – wie konnte es auch anders sein – das 13. Kapitel des Römerbriefs besonders zu schaffen. „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“ Sollte man sich als Christ in der Verantwortung für sein Vaterland wirklich alles gefallen lassen müssen? Sollte man weiter untätig zusehn, wie ein Wahnsinniger das Volk ins Verderben riß? Eins jedenfalls wurde uns klar: Unter Berufung auf den Römerbrief sich zu drücken, um das eigene Seelenheil zu retten, dazu bot uns der Apostel Paulus keine Handhabe. Er ließ uns nur erkennen, wie schwer die Entscheidung wog, vor die wir uns gestellt sahen. Hier gab es nur noch zwischen Schuld und Schuld zu wählen. (OPT, 90)

Lehndorffs Mutter wurde 1944 von der Gestapo verhaftet und im Gefängnis in Allenstein interniert, wegen Aussageverweigerung in der Angelegenheit eines befreundeten

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Pastors, der illegal Radio gehört hatte. Dieser außergewöhnlichen Frau, der Mutter einer großen Familie, die zusammen mit dem ältesten Sohn durch die Sowjets während der Flucht nach Westen 1945 ermordet wurde, setzt Lehndorff ein literarisches Denkmal. Die Person des Autors verkörperte die zivilisierten Formen des christlichen Deutschland. Lehndorff war überzeugt, ein Deutscher zu sein sei ehrenhaft, weil in der Geschichte dieses Volkes die Perioden der humanen Behandlung der Mitmenschen sich als die wertvollsten erwiesen haben. Das Zeitalter des Hitlerismus hielt er, ähnlich wie seine Nächsten, für eine Zeit der Verwilderung und des totalen Zivilisationsuntergangs. Die Deutschen sollten für ihre Taten sühnen, obwohl die Schuld einzelner Individuen rein hypothetisch sei. Obwohl 25 Jahre seit dem Tod des Autors des Ostpreußischen Tagebuchs vergangen sind, sprechen seine Worte den Leser mit ungebrochener Überzeugungskraft an. Lehndorff zeigt die Wanderung als Rückkehr in das Heimatland, zu seinen Nächsten. Er nimmt ohne Zögern die Aufgaben des Alltags auf sich: bei seiner Tante hackt er Holz zum Heizen, holt Wasser aus dem entfernten Bach, beteiligt sich am Kartoffelstapeln. Mehr noch, er vervollkommnet sich auf dem Gebiet der Schusterarbeiten; aus Autoreifen, Drähten und anderen Ersatzstoffen fertigt er Holzschuhe für sich selbst und für den Tauschhandel. Naturkundliche Motive des Ostpreußischen Tagebuchs sind für die heutigen Leser eine wichtige ökologische Mahnung. Sie machen uns bewusst, dass die Landschaft des Ermlands und der Masuren, vor tausenden Jahren geformt, Schutz und Pflege aller hier existierenden Generationen oder auch solcher, die hier lediglich Erholung suchen, verdient. Ich bin der Meinung, dass die Polen, besonders die Angehörigen der jüngeren Generation, sich auch mit dem Inhalt dieser in Polen bisher nicht publizierten Veröffentlichung bekannt machen sollten.7 Dank den Aufzeichnungen Lehndorffs können wir das Leid der unschuldigen Deutschen kennen lernen, die auch zu Opfern des Dritten Reiches wurden, ähnlich wie Polen, Franzosen, Russen, Juden und andere Nationen, Konfessionen und Gruppierungen. Das Ostpreußische Tagebuch verbirgt in den Tiefenstrukturen des Textes einen in die Zukunft gerichteten, überzeitlichen Lebensvorschlag. Europa braucht nicht ein Kontinent des Hasses und der Nationalismen zu sein. Es gibt ein durch Jahrhunderte erprobtes Modell einer Zivilisation der Koexistenz, wo jeder Mensch täglich seine Berufung entdeckt, indem er seinen alltäglichen Aufgaben nachgeht. Die Aufnahme und das Aufrechterhalten der Zusammenarbeit sind möglich dank der gegenseitigen Anerkennung und der Kunst der Vergebung.

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Vollständig wurde nur das Schlusskapitel veröffentlicht in der Anthologie von Kazimierz Brakoniecki und Winfried Lipscher: Borussia. Ziemia i ludzie. Übersetzt von Andrzej Kopaniecki. Olsztyn 1999, S. 354–365.

THOMAS F. SCHNEIDER

How to Treat the Germans. Emil Ludwigs politisch-publizistisches Engagement im USamerikanischen Exil

Geist und Macht Kanonisierungsprozesse sind Selektionsprozesse. Die Kriterien für einen Kanon in den Künsten und damit auch der Literatur bleiben dabei in der Regel implizit – und sie spiegeln die Wertungskriterien zum Zeitpunkt der Entstehung des Kanons, nicht universelle Kategorien und Kriterien. Die Kanonisierungsprozesse der nationalsozialistischen Kultur- und Literaturpolitik sind – wie das Beispiel der Literatur der Weimarer Republik und der Exilliteratur verdeutlicht – trotz aller Revisionsversuche vor allem seit den 1970er Jahren weiterhin erfolgreich in dem Sinne, dass kaum eine Autorin oder ein Autor, der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre oder zu Beginn der 1930er Jahre ihren oder seinen ‚Durchbruch‘ erlebte, heute noch zum Kanon der Literatur der Weimarer Republik zählt, der damit eine extreme Schieflage beinhaltet. Doch sind Kanonisierungsprozesse nicht nur von Wertungskriterien abhängig, sondern auch von politischen oder individuellen Interessen der Meinungsführer in Sachen Literatur geleitet, wie das Beispiel des deutschen Schriftstellers Emil Ludwig (1881–1948) in extremer Weise verdeutlicht. Emil Ludwig ist sowohl als Schriftsteller wie auch als Akteur in politischen Debatten heute weitgehend vergessen; aktuelle Studienbücher zur Literatur der Weimarer Republik, zur Exilliteratur oder zur deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erwähnen ihn nicht.1 Die literaturwissenschaftliche Ludwig-Forschung liegt brach, die Anzahl der Veröffentlichungen lässt sich an zwei Händen abzählen.2 1

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Dies beklagte schon Franklin C. West Mitte der 1980er Jahre, sein Befund lässt sich nahezu nahtlos auf die Gegenwart übertragen: Vgl. Franklin C. West: Success Without Influence. Emil Ludwig during the Weimar Years. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute 30 (1985), S. 169–189, hier bes. S. 169ff. Die Forschung konzentriert sich auf zwei Bereiche: die Debatte um die ‚Historische Belletristik‘ und Ludwigs Aktivitäten im Exil, hier jedoch nahezu ausschließlich auf die Debatte mit Paul Tillich und anderen Emigranten. Die Vielfalt des Werkes von Emil Ludwig, das neben Biographien

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Dieser Befund steht in einem extremen Widerspruch zu Ludwigs international anerkannter Bedeutung zu seinen Lebzeiten und außerhalb des deutschsprachigen Raums bis in die 1970er Jahre. Neben der exorbitanten Zahl von mehr als 100 selbstständigen Veröffentlichungen und vermutlich an die 1.000 unselbstständigen Publikationen,3 die allein noch keinen Hinweis auf ‚Bedeutung‘ welcher Art auch immer liefert, gilt Ludwig als Initiator zahlreicher kulturpolitischer Debatten in der Weimarer Republik4 und während des Exils sowie mit Werner Hegemann als Begründer der von den Zeitgenossen als „historische Belletristik“5 diffamierten neuen Form der Biographik, die weniger auf die im Positivismus gründende Faktenwiedergabe fokussierte, sondern die Entwicklung und den Wandel des Charakters ihres Gegenstandes vor dem jeweiligen historischen Kontext in den Vordergrund stellte und somit das Modell moderner Biographik lieferte. Aufgabe: die innere Welt eines Menschenlebens aus allen Symptomen zu erneuern. Mittel: alle von der Philologie anerkannten Quellen, vornehmlich autobiographische. Innerer Weg: von der Vision einer Gestalt zur Nachprüfung des Vorgefühlten im Studium der Akten. Äußerer Weg: von der Feststellung eingeborener Art über ihr Wachstum im Leben bis zur höchsten Auswirkung vor dem Tode. Ziel: die Landschaften der Seele, von der Jugend bis zum Alter, in langsamer Verschiebung aufgerollt. Ideal: historische Wahrheit eines Kalenders, psychologische Wahrheit einer Dichtung.6

Ludwig verstand es darüber hinaus, von den zunächst historischen biographischen Gegenständen zu abstrahieren und sein Verfahren auf zeitgenössische Gegenstände zu übertragen. Er löste damit und mit seiner Biographie Wilhelms II.7 sowie seiner Analyse des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges in Juli 148 eine der heftigsten kulturpolitischen Kontroversen der Weimarer Republik aus.9 Diese Kontroverse,10 deren Parteien

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und politischen Texten eine Vielzahl Romane, Theaterstücke, Reiseliteratur, zwei Autobiographien und Arbeiten für den Film umfasst, harrt noch der Entdeckung. Eine kleine Auswahl für die Weimarer Republik bietet: Emil Ludwig: Für die Weimarer Republik und Europa. Ausgewählte Zeitungs- und Zeitschriftenartikel 1919–1932. Hg. v. Franklin C. West. Frankfurt/Main u.a. 1991. Einen guten Überblick über die Aktivitäten in der Weimarer Republik mit zahlreichen Literaturhinweisen gibt West: Success (Anm. 1). Siehe auch Emil Ludwig: Geschenke des Lebens. Ein Rückblick. Berlin 1931. Historische Belletristik, ein kritischer Literaturbericht. Hg. v. der Schriftleitung der historischen Zeitschrift. Einleitung von Wilhelm Schüssler. Texte von E. Ludwig, W. Hegemann, P. Wiegler, F. Eulenberg. München 1928. Emil Ludwig: Goethe. Geschichte eines Menschen. Bd. 1: Genius und Dämon. Stuttgart u.a. 1920, S. VIII. Emil Ludwig: Wilhelm der Zweite. Berlin 1926. Emil Ludwig: Juli 14. Berlin 1929. Vgl. als Zeitgenossen Wilhelm Mommsen: »Legitime« und »Illegitime« Geschichtsschreibung. Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig. München, Berlin 1930. Eine gute Zusammenfassung bietet West: Success (Anm. 1), S. 183ff. Dort auch zahlreiche Literaturhinweise. Siehe auch Helmut Scheuer: Historische Belletristik am Ausgang der Weimarer Republik. Emil Ludwig und Stefan Zweig. In: Geschichte in der Öffentlichkeit. Hg. v. Wilhelm von

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zugleich die politischen Positionen für und wider die Weimarer Republik repräsentierten,11 endete für Ludwig, der seit 1932 die Schweizer Staatsbürgerschaft besaß, mit einem endgültigen und publizistisch breit kommunizierten Verlassen Deutschlands noch vor 193312 und mit einem ‚Spitzenplatz‘ auf der Liste der nationalsozialistischen Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933: „Gegen Verfälschung unserer Geschichte und Herabwürdigung ihrer großen Gestalten, für Ehrfurcht vor unserer Vergangenheit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Emil Ludwig und Werner Hegemann.“13 Dies wäre nun als das ‚normale‘ Schicksal eines demokratisch und humanistisch gesinnten Schriftstellers der Weimarer Republik zu werten, hätte Ludwig nicht spätestens seit seiner Tätigkeit als politischer Korrespondent in Konstantinopel, London, Wien und Berlin für das Berliner Tageblatt, die Vossische Zeitung und die Wiener Neue Freie Presse ab 1912 Zugang zu höchsten politischen Kreisen gehabt und diese intimen politischen Kontakte nicht auch für seine im Bereich der Publizistik geführten politischen Zielsetzungen genutzt.14 So ist die Ermordung des persönlichen Freundes Walther Rathenau 1922 als Zäsur in Ludwigs politischen Überzeugungen zu betrachten,15 der danach die Bewahrung der Weimarer Demokratie und die Installation eines auf Demokratie und Toleranz gründen-

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Kampen und Hans Georg Kirchhoff. Stuttgart 1979, S. 172–193; Sebastian Ullrich: Im Dienste der Republik von Weimar. Emil Ludwig als Historiker und Publizist. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), 2, S. 119–140; Hans-Jürgen Perrey: Der Fall Emil Ludwig – Ein Bericht über eine historiographische Kontroverse der ausgehenden Weimarer Republik. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 169–181; Sebastian Ullrich: Der Fesselndste unter den Biographen ist heute nicht der Historiker. Emil Ludwig und seine historischen Biographien. In: Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hg. v. Wolfgang Hardtwig und Erhard Schütz. Stuttgart 2005, S. 35–56; Sebastian Ullrich: Ernst H. Kantorowicz und Emil Ludwig. Zwei Kritiker der Weimarer Geschichtswissenschaft und die »Krisis des Historismus«. In: Sozial.Geschichte 21 (2006), 2, S. 7–33. Siehe für eine zeitgenössische Bewertung der Diskussion Adolf Waas: »Historische Belletristik«. Eine kritische Auseinandersetzung mit Emil Ludwig. In: Hefte für Büchereiwesen 14 (1931), 4, S. 177–189. Vgl. Emil Ludwig: Mein Schweizer Bürgerrecht. In: Neue Zürcher Zeitung, 19.08.1932. Siehe Joseph Wulf: Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1983, S. 50. Einige der für das Berliner Tageblatt verfassten Texte erschienen auch in Buchausgaben gesammelt: Emil Ludwig: Die Fahrten der Emden und der Ayesha. Nach Erzählungen des Kapitänleutnants von Muecke, seiner Offiziere und Mannschaften. Berlin 1915 (Sammlung von Schriften zur Zeitgeschichte 6); Emil Ludwig: Der Kampf auf dem Balkan. Berichte aus der Türkei, Serbien und Griechenland 1915/16. Berlin 1916; Emil Ludwig: An die Laterne! Bilder aus der Revolution. Berlin-Charlottenburg 1919. Siehe u.a. Emil Ludwig: Erinnerung an Rathenaus Tod. In: Neue Freie Presse (Wien), 29.06.1924 (Morgenblatt) sowie zahlreiche weitere Publikationen zu Rathenau im In- und Ausland in den 1920er Jahren.

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den, geeinten Europas zu seiner politischen Zielsetzung machte: „In anderer Form suche ich gegen den Krieg zu wirken, dessen heutige Technik den Heroismus ausschließt. Europa ist ein höheres Vaterland geworden; seit das Flugzeug Berlin und Paris zu Nachbarländern gemacht hat sind europäische Kriege Bürgerkriege geworden.“17 Ludwig vereinte nun sein biographisches Verfahren mit seiner intimen Kenntnis politischer Prozesse und setzte sie zur Aufklärung eines internationalen Publikums ein. Stützen konnte er sich dabei spätestens seit der Veröffentlichung seiner dreibändigen Goethe-Biographie (1920)18 auf eine immense internationale Popularität, die in der deutschen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihresgleichen sucht und wohl nur mit der Thomas Manns vergleichbar ist.19 In den 1930er Jahren interviewte Ludwig nun nahezu sämtliche politischen Größen seiner Zeit, wobei die zum Teil mehrwöchigen Gespräche auf Ludwigs persönlicher Integrität und seiner Popularität gründeten. Das aus heutiger Sicht von Ludwigs Wissen um den GULAG und die Säuberungen geprägte Interview mit Stalin20 vom Dezember 1931 wurde international breit publiziert und lieferte der Welt buchstäblich21 wohl erstmals ein nicht von stalinistischer Propaganda oder sozialistischer Doktrin geprägtes Bild des Diktators. Konnte dieses hellsichtige Interview von Ludwigs antifaschistischen Zeitgenossen noch goutiert werden, so verscherzte sich Ludwig deren Sympathien mit seinen 1932 veröffentlichten mehrwöchigen Gesprächen mit Mussolini,22 die nach Meinung der Zeitgenossen ein zu positives Bild des faschistischen Diktators zeichneten. Doch bleibt diese Beurteilung der Interviews, zu denen weitere hinzuzuzählen wären, unausgewogen, bleiben doch die im Umfang vergleichbaren Gespräche mit dem Grün16 17

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Ludwig stand der Pan-Europa-Bewegung nahe und berichtete über sie, vgl. Emil Ludwig: Union der Republiken. Zum Ersten Paneuropa-Kongreß. In: Vossische Zeitung (Berlin), 02.10.1926. Emil Ludwig: Autobiographie. In: Emil Ludwig im Urteil der Weltpresse. Berlin 1928, S. 5–9; hier S. 9; siehe auch die zentralen Beiträge: Emil Ludwig: Krieg und Frieden. In: Nord und Süd 51 (1928), 12, S. 1073–1091; und Emil Ludwig: Europe in 1930 – A Retrospect and a Forecast. In Spectator 145 (1930), 05.07.1935, S. 6–8. Emil Ludwig: Goethe. Geschichte eines Menschen. Bd. 1: Genius und Dämon. Stuttgart u.a. 1920; Emil Ludwig: Goethe. Geschichte eines Menschen. Bd. 2: Erdgeist. Stuttgart u.a. 1920; Emil Ludwig: Goethe. Geschichte eines Menschen. Bd. 3: Tragischer Sieg. Stuttgart u.a. 1920. Siehe West: Success (Anm. 1), S. 169. Zuerst publiziert als Emil Ludwig: Unterredung mit Stalin. In: Neue Freie Presse, 02.06.1932, 03.06.1932 und 04.06.1932. Das Stalin-Interview erschien auch als Emil Ludwig: Joseph Stalin. An interview with the German author Emil Ludwig. Moskau 1932; Emil Ludwig: Stalin. Las seis condiciones para la victoria. Madrid 1932 (Colección La Nueva Rusia. Hechos, Verdades 1); J. Staline: Le Marxisme et l’histoire Entretien de Staline avec Emil Ludwig, 13 décembre 1931. Paris 1938; sowie in: Bolshevik, 30.04.1932; sowie Emil Ludwig: Chez Staline. In: Lu 1 (1932), 1 (01.01.1932); und Emil Ludwig: The Fears and Hopes That Sway Russia. In: New York Times, 10.07.1932, S. SM8. Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig. Berlin, Wien, Leipzig 1932. Zeitgenössische Ausgaben auf Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch, Serbokroatisch, Spanisch und Tschechisch sowie Auszüge in zahlreichen Tageszeitungen.

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der der Tschechoslowakei, Masaryk, unberücksichtigt. Diese 1934 geführten und 1935 publizierten Gespräche mit Masaryk,23 die weitgehend den Eindruck eines zwischen Interviewer und Interviewtem im Vorfeld abgesprochenen politischen Pamphlets machen, verdeutlichen Ludwigs Position, die eine an Humanismus und Demokratie orientierte Weltordnung fordert und damit eine klare und eindeutige Absage an die zeitgenössischen totalitären Systeme formuliert.24 Diese Biographik zeitgenössischer Politiker und seine Popularität, die es vermochte, dass Ludwig auf Vortragsreisen durch die USA Mitte der 1930er Jahre vor Hunderten Zuhörern sprach, und die es ihm ermöglichte, genug internationalen Druck aufzubauen, um den Schriftsteller Raoul Auernheimer 1938 aus dem KZ Dachau zu befreien, öffneten ihm schließlich die Tore zur Macht: Ab Mitte der 1930er Jahre arbeitete Ludwig an Biographien nach bewährtem Muster des kanadischen Ministerpräsidenten MacKenzie King (publiziert 1944)25 und des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt (publiziert nach einem Vorabdruck in Liberty 1938)26 und trat zu diesem Zweck mit beiden Politikern mehrmals in persönlichen Kontakt. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zählte Ludwig zu den führenden intellektuellen Köpfen Deutschlands im Exil, hatte Biographien aller führenden zeitgenössischen politischen Personen vorgelegt,27 genoss eine ungeheure internationale Reputation und hatte enge Kontakte zur politischen Führung der USA. Nachdem er noch einen Entwurf einer Verfassung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vorgelegt hatte,28 floh Ludwig am 15. Mai 1940 von seinem Schweizer Wohnsitz in Moscia bei Locarno über Paris in die USA.

Know Your Enemy Das Thema ‚Der Zweite Weltkrieg in der Literatur‘ wird gemeinhin motivisch verstanden und konzentriert sich auf die zumeist retrospektive Behandlung des Kriegsgeschehens in literarischen Texten. ‚Kriegsliteratur‘ wird so zu einem retrospektiv handelnden 23 24 25 26 27

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Emil Ludwig: Gespräche mit Masaryk. Denker und Staatsmann. Mit einem Lebensbild. Amsterdam 1935. Besonders deutlich in Emil Ludwig: Three Portraits. Hitler, Mussolini, Stalin. New York, Toronto 1940. Emil Ludwig: Mackenzie King. A portrait sketch. Toronto 1944. Emil Ludwig: Emil Ludwig’s Life of Roosevelt. In: Liberty (New York), 11.12.1937–19.02.1938. Emil Ludwig: Roosevelt. Studie über Glück und Macht. Amsterdam 1938. Zu den erwähnten kommen hinzu: Emil Ludwig: Führer Europas. Nach der Natur gezeichnet. Amsterdam 1934 (enthält Portraits von Nansen, Masaryk, Briand, Rathenau, Motta, Lloyd George, Venizelos, Mussolini, Stalin); Emil Ludwig: The life of Adolf Hitler ... as published in Look magazine. New York 1939; Emil Ludwig: Three Portraits. Hitler, Mussolini, Stalin. New York, Toronto 1940. Emil Ludwig: Les États-Unis d’Europe. Projet d’une Constitution. In: Emil Ludwig: La Prusse et l’Europe. Paris 1940, S. 47–82; spanisch als Emil Ludwig: Los alemanes tales como son. Les Allemands tels qu’ils sont. Los Estados Unidos de Europa (Proyecto de una Constitución). »Die Verinigten [sic] Staaten von Europa« (Entwurf einer Verfassung). Santiago de Chile 1940.

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Genre, das perspektivisch auf die Darstellung, Einordnung und Bewertung eines Krieges im kollektiven kulturellen und/oder historischen Gedächtnis des jeweiligen Landes abzielt, damit langfristig das Verhältnis zu diesem historischen Ereignis zu klären versucht und hiermit untrennbar verbunden den Stellenwert des politischen Mittels Krieg einer negativen oder positiven Bewertung unterzieht. Literaturwissenschaftliche Forschung schließt sich dieser Matrix an und analysiert die literarischen Produkte im Hinblick auf die präsentierten Kriegsbilder, die Interpretationen des historischen Ereignisses, ihre Wirkungsintentionen und die tatsächlich erzielte Wirkmächtigkeit. Als zweiter großer Strang der ‚Kriegsliteratur‘ gelten jene Texte, die noch während des Krieges publiziert werden und mit der Publikation auf den Verlauf des Krieges Einfluss zu nehmen versuchen, patriotische oder eben auch kriegskritische Positionen zum Ausdruck bringen und durch diese Vorgehensweise wirken wollen. Literaturwissenschaftlich stehen nun Aspekte und Fragen der literarischen Wertung dieser Texte im Vordergrund, ihre intendierte und tatsächlich erzielte Wirkung, ihre Einbindung in als ‚Propaganda‘ klassifizierte Institutionen und Mechanismen. Deutlich ist im Hinblick auf die literaturwissenschaftliche Behandlung dieser Texte ihre Zweitrangigkeit, sofern sie nicht eindeutig dem aktuell herrschenden Konsens der Bewertung des historischen Gegenstandes entsprechen – also gemeinhin ihr kriegskritisches Potential, ihr Widerstand gegen herrschende Diskurse und (drittrangig) ihre ästhetische Qualität. Die unterschiedlichen Hierarchien der Wertungskriterien für beide Textgruppen sind offenkundig, hiervon wieder abhängig ihre Kanonisierung. Unabhängig von der ästhetischen Bewertung steht die Selektion anhand des Primats des Inhalts, das wiederum abhängig ist vom zeitgenössischen und nicht vom historischen Wertungs-Konsens über den jeweils behandelten Krieg. Die tatsächliche historische Bedeutung eines Textes scheint somit (literaturwissenschaftlich) irrelevant.29 Der Fall Emil Ludwig erscheint vor diesem Hintergrund in mehrfacher Hinsicht problematisch und zugleich signifikant. Ludwig war bemüht, direkt in das Geschehen des Zweiten Weltkriegs und – mehr noch – in seine politischen Folgen einzugreifen. Er stand im Dienst einer der kriegführenden Parteien. Seine Texte sind als ein Teil der Maßnahmen zu sehen, die der Autor ergriff, um seine Zielsetzungen zu erreichen. Neben diesen Texten, die Bücher, Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen umfassen, stehen eine Vielzahl von Vorträgen (ca. 500) sowohl vor der Bevölkerung eines zunächst nicht direkt in den Krieg involvierten, dann kriegführenden Staates (der USA) als auch vor ehemaligen Soldaten der gegnerischen kriegführenden 29

Siehe meine Überlegungen in Die Wiederkehr der Kriege in der Literatur. Voraussetzungen und Funktionen ›pazifistischer‹ und ›bellizistischer‹ Kriegsliteratur vom Ersten Weltkrieg bis zum Dritten Golfkrieg. In: Osnabrücker Jahrbuch Frieden und Wissenschaft 12 (2005), S. 201–221; sowie in der Einleitung zu Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914–1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Hg. v. Thomas F. Schneider, Julia Heinemann, Frank Hischer et al. Göttingen 2008 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 23), S. 7–14.

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Partei sowie direkte und persönliche Gespräche mit Politikern des kriegführenden Staates, zudem die Gründung einer nicht-staatlichen politischen Gesellschaft, der wiederum Publikationsorgane zuzuordnen sind, und schließlich die zumindest intendierte direkte Teilnahme am Kriegsgeschehen. Wie bereits in der Weimarer Republik war Ludwig im US-amerikanischen Exil auf zahlreichen Gebieten tätig, wobei er seine Aktivitäten einer Zielsetzung, in diesem Fall dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, zu- und unterordnete. Ludwig war mit seinem Konglomerat aus Tätigkeiten außerordentlich erfolgreich; es ist vermutlich nicht übertrieben zu behaupten, dass er mitverantwortlich war für die Neuordnung Europas nach Kriegsende. Die von ihm vertretene Position allerdings, die im Widerspruch zu der deutscher Meinungsführer im US-amerikanischen Exil und im Nachkriegsdeutschland stand, verwehrte es ihm, dass seine Bedeutung in Deutschland erkannt, gewürdigt und kommuniziert wurde. Hiervon wird im Folgenden zu reden sein. Unmittelbar nach seiner Ankunft in den USA im Juni 1940 reiste Ludwig nach Kalifornien,30 um dort eine Stelle als Lehrbeauftragter am Santa Barbara College aufzunehmen, die seinen Lebensunterhalt sicherte. Doch war er vermutlich zu diesem Zeitpunkt aufgrund seiner persönlichen Kontakte zu Präsident Roosevelt inoffiziell bereits damit beauftragt, durch Vortragsreisen durch die gesamten USA die Bevölkerung über das nationalsozialistische Deutschland aufzuklären und die mehrheitlich isolationistische Meinung der US-Amerikaner zugunsten eines Kriegseintritts zu beeinflussen.31 Noch in Europa hatte Ludwig begonnen, seine politische Position und vor allem seine Interpretation des nationalsozialistischen Deutschlands im Hinblick auf eine Nachkriegsordnung publizistisch zu vertreten. Dies setzte er neben den zahllosen Vorträgen in den USA nun mit seiner monumentalen Geschichte der Deutschen 1941 fort.32 Hierin schildert Ludwig die deutsche Geschichte seit Caesar unter dem Primat der als Opposition gedachten Leitlinien von ‚Geist‘ und ‚Macht‘. Die preußische Hegemonie spätestens seit der Reichsgründung 1871 habe in Deutschland zu einem gesellschaftlichen System geführt, in dem der Einzelne sich innerhalb einer hierarchischen Pyramide verorte und sein Leben von militärischen Strukturen sowohl in der privaten als auch beruflichen Lebenswelt durchzogen sehe. Die Folge sei zwar eine effektive Arbeitsweise, aber auch die seelische Verkrüppelung des Einzelnen zu einem unspontanen und unfreien Individuum. Das Verlangen nach staatlicher Kontrolle sei an die Stelle von eigenverantwortlichem Handeln getreten, was wiederum zu einem Mangel an Selbstvertrauen und Selbstbestimmung des Einzelnen führe. 30

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Einen Überblick über das Exil in den USA gibt Johanna W. Roden: Emil Ludwig. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Hg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern 1989, S. 554–569. Siehe Walter Kummerow: Emil Ludwig. In: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 7. Hg. v. Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm et al. München 1990, S. 367. Vgl. Emil Ludwig: The Germans. A double history of a nation. Boston 1941; sowie wiederum in zahlreichen Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften.

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Dieser grundsätzlich negativen Beschreibung des Charakters des deutschen Volkes – die primär an die US-amerikanische Bevölkerung respektive deren Führungspersönlichkeiten adressiert war – stellt Ludwig die ästhetische Seite der deutschen Geschichte gegenüber. Das künstlerische und innovative Potential der Deutschen sei immens, habe aber bis in die Gegenwart hinein keine Verbindung zu den militärischen und politischen Eliten gehabt; es seien seit jeher zwei getrennte Sphären gewesen, die sich nur gering bedingten, da sich die Künstler in Deutschland mit wenigen Ausnahmen bewusst politischer Verantwortung entzogen hätten. Zudem gebe es einen starken Unterschied zwischen dem von militärischem Denken und halbfeudalen Strukturen geprägten Preußen und West- und Süddeutschland. Durch diese strikte Trennung zwischen ‚Geist‘ und ‚Macht‘ konnten sich zwei koexistente gesellschaftliche Kreise entwickeln. Eine gewisse Liebe der Führungsschichten zu Kunst und Musik sei nicht ausgeschlossen, bleibe aber ohne Konsequenzen. Die Zweiteilung habe darüber hinaus dazu geführt, dass der Einzelne in zwei Welten lebe: einerseits in der Welt des alltäglichen Lebens, andererseits in der romantisch geprägten Phantasiewelt der Künste. Deutschland sei daher von allen revolutionären und aufklärerischen Entwicklungen seit dem 18. Jahrhundert nicht beeinflusst worden, worauf die Künstler mit einem weiteren Rückzug aus dem politischen System reagiert hätten. Ludwigs Fazit: It is in the separation of the spirit from the State, that we must seek the reasons why all German intellects and artists of eminence, reformers and revolutionaires, from Luther to Goethe, from Schiller to Nietzsche, judged their homeland with a bitterness so much greater than it is found with other nations.33

Begleitet wurde diese Buchpublikation34 der Geschichte der Deutschen durch vielfältige, thematisch verwandte Veröffentlichungen im New Yorker Aufbau,35 in dessen Advisory Board Ludwig 1941 eingetreten war. In dieser Position bei der einflussreichsten und auflagenstärksten deutschsprachigen Exil-Zeitung in den USA hatte sich Ludwig nun nahtlos eine Ausgangslage geschaffen, um publizistisch zu wirken, die der vor seiner Flucht aus Europa vergleichbar war. Ludwig sah das Exil somit nicht als persön33

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Ludwig: The Germans (Anm. 32), S. 100. Vgl. insgesamt zusammenfassend Sarah Harms: Emil Ludwigs Re-Education-Pläne im US-amerikanischen Exil. Osnabrück (Master-Arbeit) 2010, S. 14– 34. Bereits in Europa hatte Ludwig durch diverse Publikationen die Arbeit am Thema begonnen: Emil Ludwig: Nochmals ›Les deux Allemagnes‹. In: Das Neue Tage-Buch (Paris, Amsterdam) 7 (1939), 34 (19.08.1939), S. 814–815; Emil Ludwig: Die neue heilige Allianz. Über Gründe und Abwehr des drohenden Krieges. Strasbourg 1938; Emil Ludwig: Barbares et musiciens. Les Allemands tels qu’ils sont. Paris 1940 (Notre Combat. No special hors serie. Supplement au 10); Emil Ludwig: La Prusse et l’Europe. Paris 1940. Emil Ludwig: Die Deutschen. Das doppelte Gesicht einer Nation. In: Aufbau (New York) 7 (1941), 31 (01.08.1941), S. 4; Emil Ludwig: Hitler als Deutscher [1]. In: Aufbau (New York) 7 (1941), 45 (07.11.1941), S. 3; Emil Ludwig: Hitler als Deutscher [2]. In: Aufbau (New York) 7 (1941), 46 (14.11.1941), S. 6.

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liche Katastrophe – dazu war er viel zu sehr Kosmopolit –, sondern als Chance zu aktivem Eingreifen in politische Prozesse. Über den Aufbau hinaus publizierte er u.a. in der New York Times (dort seit den 1920er Jahren), der Los Angeles Times oder der Chicago Daily News.36 Mit dem Kriegseintritt der USA änderte sich Ludwigs Rolle. Er war nun nicht mehr damit beschäftigt, über das nationalsozialistische Deutschland zu berichten, seine Entstehung aus dem Volkscharakter der Deutschen herzuleiten und dies einem möglichst breiten Publikum mitzuteilen. Die Rolle der nun kriegführenden USA bei der Neuordnung Europas zu definieren – Ludwig war stets von einer Niederlage Deutschlands überzeugt37 – stand ab 1942 im Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Seine Deutschlandanalyse bildete hierzu die Grundlage. Nach einem Treffen mit Roosevelt im April 1942 hielt Ludwig auf der Kundgebung ‚Win the War – Win the Peace‘ vor Meinungsführern im Biltmore Hotel in Los Angeles die Rede, die für seine zukünftige Bewertung im deutschen Kulturkontext entscheidend sein sollte. Der verkürzende Bericht über die Rede in der New York Times vom 6. Juli 1942 mit der zentralen Zusammenfassung „Germany is Hitler and Hitler is Germany“ provozierte den kollektiven Zorn der deutschen Emigranten. Ludwig wurde nun den ‚Vansittartisten‘ zugerechnet, deren Vorstellungen den auf eine einflussreiche Rolle im Nachkriegsdeutschland hinarbeitenden Emigranten jegliche Legitimationsgrundlage entziehen würden.38 Ludwig, der von einer Kollektivschuld der Deutschen überzeugt war, sah somit durch die Deutschen selbst keine Möglichkeit der Re-Education und damit einer Wiedereingliederung Deutschlands in den Kreis zivilisierter Nationen.39 Seine Position unterschied sich von denen der ‚Vansittartisten‘ jedoch fundamental: Weder wollte er Deutschland zu einem Agrarstaat umfunktionieren, noch in zahllose Kleinstaaten aufsplittern. Seine Position war auf der Grundlage der Geschichte der Deutschen subtiler und differenzierter. Diese Position konnte er US-Präsident Roosevelt, Innenminister Harold L. Ickes und Vize-Außenminister Sumner Welles persönlich vortragen und erhielt Gelegenheit, sie dem Committee on Foreign Affairs des Kongresses am 26. März 1943 zu vermitteln (meines Wissens als einzigem Repräsentanten des deutschen Exils, dem eine solche

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Exemplarisch Emil Ludwig: Mr. Ludwig on the Germans. In: New York Times, 22.07.1942, S. 18; Emil Ludwig: Dictator Feared Caesar’s Fate Awaited Him. In: Los Angeles Times, 26.07.1943, S. 2. Exemplarisch Emil Ludwig: Pourquoi les Allemands ne peuvent dominer le monde et pourquoi… In: Le Petit Parisien, 18.12.1939, S. 1. Emil Ludwig: Hitler Will Fall. In: Look, 20.06.1939. Die Kontroverse vor allem mit Paul Tillich und Hannah Arendt ist gut dokumentiert bei Matthias Wobold: Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg. Münster 2005 (Tillich-Studien 17), S. 68ff. Siehe zusammenfassend Wulf Köpke: Die Bestrafung und Besserung der Deutschen. Über die amerikanischen Kriegsziele, Völkerpsychologie und Emil Ludwig. In: Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949. Hg. v. Thomas Koebner, Gert Sautermeister und Sigrid Schneider. Opladen 1987, S. 79–87.

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Gelegenheit vergönnt war). Vortragsreisen in den Jahren 1943 und 1944 durch die gesamten USA standen ebenfalls im Zeichen der Re-Education, wie auch zahlreiche Beiträge in den bekannten führenden Publikationsorganen41 und schließlich die beiden Bücher How to Treat the Germans (1943)42 und The Moral Conquest of Germany (1945).43 Ausgehend von seiner Analyse des Charakters des deutschen Volkes sah Ludwig die Aufgabe der Re-Education vor allem in einer Eliminierung des Einflusses Preußens auf den Rest Deutschlands.44 Er schlug daher eine Teilung Deutschlands in zwei Staaten – Preußen bezogen auf die Gebiete östlich der Elbe und Oder einerseits (also ohne die im 19. Jahrhundert einverleibten westlichen Provinzen) und West- und Süddeutschland inklusive Österreichs – vor, die er 1945 in eine Dreistaatenlösung mit einem selbstständigen Österreich modifizierte. Die Maßnahmen für Preußen sollten wesentlich restriktiver sein als die für das übrige Deutschland und sich vor allem auf eine völlige gesellschaftliche und ökonomische Neuordnung konzentrieren. Hier nähern sich Ludwigs Vorstellungen denen der ‚Vansittartisten‘. Trotz der militaristischen Grundeinstellung der Deutschen hielt Ludwig eine ReEducation für möglich und durchführbar. Erziehung der Bevölkerung und dies insbesondere zur Demokratie sah Ludwig als zentralen Punkt einer Wiedereingliederung der dann zwei deutschen Staaten in die internationale Staatengemeinschaft und langfristig in die ‚Vereinigten Staaten von Europa‘; allerdings reduzierte er die Fähigkeit zur Umerziehung auf die bei Kriegsende 15 bis 16jährigen und jüngeren Deutschen, da die älteren Generationen zu lange unter dem Einfluss des preußischen Militarismus gestanden hätten. Die Perspektive für eine Entlassung der deutschen Staaten in die Unabhängigkeit und für einen Abzug der alliierten Besatzungsmächte verschob sich damit um mindestens eine Generation. Die Inhalte der Erziehung an Schulen und Universitäten müssten grundlegend überarbeitet, das Personal mit Ausnahme nachgewiesener Kriegsgegner ausgetauscht werden, wozu ein Entnazifizierungsverfahren notwendig sei, das unter der Ägide der Alliierten durchgeführt werden müsse. Zielsetzung müsse die Erziehung zur Demokratie 40

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Die Anhörung wurde publiziert als Emil Ludwig: The German People. Testimony of Mr. Emil Ludwig before the committee of foreign affairs, house of representatives, seventyeighth congress, first session of the German people. Friday, March 26, 1943. Washington, D.C. 1943. Sowie mindestens eine landesweite Radiosendung, publiziert als Emil Ludwig, Samuel Grafton, Louis Nizer: How should the Axis War Criminals be Tried? Broadcast by stations of the Blue network, February 10, 1944. Columbus/OH 1944. Emil Ludwig: How to Treat the Germans. New York 1943; gekürzt als Emil Ludwig: How to Treat Defeated Germany. In: Collier’s (Springfield/OH) 112 (1943), 14 (02.10.1943), S. 18f. und 46–47. Emil Ludwig: The Moral Conquest of Germany. New York 1945; gekürzt in: Reader’s Digest 46 (1945), 278 (Juni 1945). Die folgende Zusammenfassung beruht vorrangig auf The Moral Conquest of Germany. Ludwigs Überlegungen variieren leicht von Publikation zu Publikation und sind über einen Zeitraum von fünf Jahren naturgemäß Veränderungen unterworfen.

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und zum Pazifismus sein, wozu in ersten Schritten die Verbrechen und die Verantwortung der Deutschen deutlich gemacht, die traditionellen Werte desavouiert und durch solche der Demokratie, Toleranz, Fairness ersetzt werden sollten. Vorbilder könnten in der deutschen Geschichte unter Intellektuellen und Künstlern gefunden werden. Offensichtlich ist an dieser – hier nur skizzierten – Position, dass Ludwig die von ihm in der Geschichte der Deutschen konstatierten zwei Grundlinien deutscher Geschichte und deutschen Charakters in zukünftigen deutschen Staaten versöhnt sehen wollte. Seine Position unterscheidet sich dahingehend nicht sehr von den Re-EducationPlänen anderer Emigranten.45 Was seine Überlegungen auszeichnet, ist das grundlegende Misstrauen in eine Fähigkeit der Deutschen und insbesondere Preußens, ohne äußere Hilfe zur Demokratie zu finden, sondern dass dies nur unter einer Jahrzehnte dauernden Besatzung, Anleitung und Kontrolle durch die Alliierten erfolgen könne. Dies und die geforderte Teilung Deutschlands, die beide die Kollektivschuld der Deutschen voraussetzen, provozierte den Widerspruch der Emigranten, zugleich aber die Unterstützung durch die amerikanische Führung.46 In einem eigens für die deutsche Ausgabe von Geschichte der Deutschen verfassten „Epilog 1945“, der bereits die Entwicklung seit Kriegsende berücksichtigte und sich erstmals direkt auch an ein deutsches Publikum richtete, gab Ludwig seiner grundsätzlichen Hoffnung erneut Ausdruck: Auf solchen Wegen ließe sich schon in einer Generation das deutsche Volk zu einem Mitgliede der europäischen Familie machen, dessen Gaben es mit denen der andern Völker vereinte. Wenn dann die äußeren Schäden teilweise wieder gutgemacht, wenn Europa mit deutscher Hilfe wieder aufgebaut, wenn ein neues Geschlecht in den Grundsätzen der Toleranz aufgewachsen und von ihm durchdrungen sein wird, dann werden die Deutschen reif sein, ihre Regierung wieder in eigene Hände zu nehmen. Dann werden sie einsehen, daß [...] der Geist auf die Dauer stärker ist als das Schwert.47

Eine noch unveröffentlichte Studie48 hat jüngst gezeigt, dass zwischen Ludwigs Überlegungen und der tatsächlich erfolgten Re-Education-Politik in der amerikanischen Besatzungszone zahlreiche, bis in die Details reichende Parallelen nachzuweisen sind.49 Auch scheinen einige Gemeinsamkeiten gemessen an der geschichtlichen Entwicklung vor allem der drei Westzonen und der Bundesrepublik offensichtlich. Ein eventuell zu konstatierender direkter Einfluss Ludwigs ist jedoch nicht messbar, da keine Dokumente existieren, die einen solchen direkten Zusammenhang beweisen. Aber wie sollten diese Dokumente auch aussehen? Ludwig verstand sich zunächst als Theoretiker, der den Rahmen setzte, innerhalb dessen sich praktische Politik zu orientieren hatte. Lud45 46 47 48 49

Vgl. Köpke: Bestrafung (Anm. 39). Vgl. ebd. und Roden: Emil Ludwig (Anm. 30). Emil Ludwig: Geschichte der Deutschen. Studien über Geist und Staat. Bd. 2. Zürich 1945, S. 300f. Siehe Harms: Re-Education-Pläne (Anm. 33). Insbesondere die Handbooks für die Besatzungstruppen sowie die in den Westzonen durchgeführte Schulreform. Vgl. Harms, Re-Education-Pläne (Anm. 33), S. 66–84, insb. S. 70–76.

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wig entwarf die Leitlinien des Diskurses, weil er die Gelegenheit und Kontakte hatte, diese Leitlinien bei Meinungsführern zu ‚implementieren‘. Dies unterscheidet ihn fundamental von den zahlreichen anderen Emigranten, die von staatlicher Seite, zumeist vom CIA-Vorläufer Office of Strategic Services (OSS) ab 1943 aufgefordert wurden, ihre Überlegungen zur Re-Education zu formulieren, von denen wiederum unbekannt ist, ob sie den Schreibtisch des jeweiligen OSS-Mitarbeiters je verließen.50 Ludwig dagegen konnte persönlich vortragen, konnte in intimen persönlichen und zum Teil freundschaftlichen Kontakten Einfluss nehmen und galt als zuverlässig und integer, da er keinen Zweifel an seiner Position ließ. Mit der Landung der Alliierten in Europa, insbesondere nach dem D-Day, wurden Ludwigs Vorschläge konkreter und zugleich wechselten seine Überlegungen hin zu einer Überprüfung der anscheinend mit Erfolg implementierten Re-Education-Pläne an der Praxis. Im September 1944 publizierte Ludwig noch breit seine Fourteen Rules for the American Occupation Officer,51 die nahezu wörtlich in die Verhaltensmaßregeln für Besatzungssoldaten in Deutschland übernommen wurden. Im Januar 1945 traf sich Ludwig erneut in Washington mit Roosevelt sowie mit Vizepräsident Harry S. Truman und US-Außenminister Edward R. Stettinius. Zu diesem Zeitpunkt bereitete er bereits seine Rückkehr nach Europa vor, von ihm projektiert als Erkundungsreise unmittelbar hinter den vorrückenden alliierten Truppen. Mit einem Geleitzug erreichte er Großbritannien, ging nach Paris und erlitt einen Herzinfarkt. Ludwig hatte bis zur totalen Erschöpfung gearbeitet, geschrieben, Vorträge gehalten, lobbyiert. Er war verbraucht, doch er gab nicht auf. Für die führende US-Nachrichten-Agentur United Features interviewte er die einflussreichsten und populärsten US-Generäle des europäischen Kriegsschauplatzes, Patton,52 Clay und Eisenhower, zog mit ihnen ins eroberte Deutschland, entdeckte ‚nebenbei‘ die Särge Goethes und Schillers,53 und überprüfte die Situation.54 50

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Siehe die Beiträge in: Deutschland nach Hitler (Anm. 39); sowie Heinrich Placke: Remarques Denkschrift Practical Educational Work in Germany after the War (1944) im Kontext zeitgenössischer Konzeptionen für das nahende Nachkriegsdeutschland (Denkschrift und Tagebuch als kontrastierende Gebrauchstextsorten). In: Erich Maria Remarque Yearbook 12 (2002), S. 60–96. Emil Ludwig: Fourteen Rules for the American Occupation Officer in Germany. In: Prevent World War III (New York) 1 (1944), 3, S. 15–16; auch publiziert unter General Behavior in: Ludwig: Moral Conquest (Anm. 43), S. 137–140. Das Portrait Pattons wurde veröffentlicht in Emil Ludwig: Galerie de portraits. Paris 1948, S. 307– 314. Emil Ludwig: Wie ich die Särge Goethes und Schillers wiederentdeckte. In: Aufbau (New York) 11 (1945), 30 (27.07.1945), S. 32. Publiziert als Artikelserie in der Los Angeles Times: Ludwig, In Europe, Studies, Reactions. In: Los Angeles Times, 20.05.1945, S. 1; German Generals Still Pompous. In: Los Angeles Times, 21.05.1945, S. 2; Nazi Industrial Tycoon Disclaims Any War Guilt. In: Los Angeles Times, 22.05.1945, S. 7; Eisenhower Simplicity. In: Los Angeles Times, 23.05.1945, S. 2; Ludwig Finds Caskets of Goethe and Schiller. In: Los Angeles Times, 24.05.1945, S. 4; Germans Feel No War Guilt. In: Los Angeles Times, 25.05.1945, S. 4; Reunion Across Rhine. In: Los Angeles Times,

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Bereits 1944 hatte er in den USA die Society for the Prevention of World War III mitgegründet, die explizit Einfluss auf die Gestaltung Nachkriegseuropas nehmen und einem Wiedererstarken des Nationalsozialismus und damit einem von Deutschland ausgehenden Dritten Weltkrieg durch Informationen über Deutschland und die Deutschen entgegenwirken wollte.55 In der societyeigenen Zeitschrift, Prevent World War III, aber auch in zahlreichen weiteren Periodika, darunter weiterhin Aufbau, Los Angeles und New York Times, positionierte sich Ludwig nun als Warner und Mahner. Er überprüfte permanent die US-Besatzungs- und Re-Education-Politik, wies auf Fehler und Missstände hin und drängte zur Eile.56 Sein Publikum waren nicht die Deutschen – nicht ein Beitrag erschien in einem Periodikum der Besatzungszonen –, sondern die USA und deren politische Führer. Doch gesundheitlich extrem geschwächt und in der Schweiz fernab von den Zentren der Macht war sein Einfluss nun erheblich gesunken. Und: mit dem beginnenden und nun teilweise offen zutage tretenden Kalten Krieg hatten sich die Prämissen der Realpolitik zugunsten einer Stärkung des westlichen Deutschlands verschoben. Ludwigs Position, so sehr er auch daran festhielt, war überholt und den Zielsetzungen der westlichen Alliierten nun nicht mehr dienlich.

Sentiments of the German People57 Kanonisierungsprozesse sind Selektionsprozesse. Emil Ludwig starb am 17. September 1948 in Moscia. Literaturgeschichtlich gesehen ein extrem ungünstiger Zeitpunkt. Ludwig hatte gerade begonnen, sich im zuvor von den Deutschen besetzten Nachkriegseuropa publizistisch zu positionieren, was ihm in Frankreich auch übergangslos gelungen war; in den Besatzungszonen jedoch nicht. In der Folge hätte sein Werk Fürsprecher benötigt, um es ohne Teilhabe des Autors bei alten oder neuen Verlagen zu positionieren. Diese Fürsprecher hatte Ludwig wegen der überaus heftigen Kontroversen mit anderen Emigranten in den USA jedoch nicht. Mehr noch: Die Situation seiner Familie war dramatisch; Ludwig, der stets über seine Verhältnisse gelebt hatte, hinterließ Schulden, sodass seine Witwe Elga Ludwig andere ins Tessin zurückgekehrte Exilanten um Unterstützung bitten musste.

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26.05.1945, S. 3; Germans Still Try to Fool People. In: Los Angeles Times, 27.05.1945, S. 4; Spring Flowers in Sharp Contrast to Reich Ruins. In: Los Angeles Times, 28.05.1945, S. 5; Migrations at War’s End. In: Los Angeles Times, 29.05.1945, S. 5. Vgl. das Statement of Policy in den ersten Ausgaben der Zeitschrift, z.B. in: Prevent World War III (New York), 2 (June-July 1944), Umschlaginnenseite. Vgl. u.a. Emil Ludwig: Last Warning. In: Prevent World War III (New York), 13 (February-March 1946), S. 13–14; Emil Ludwig: A Year Lost. In: Prevent World War III (New York), 15 (June-July 1946), S. 11–12; Emil Ludwig: Der Fehlspruch von Nürnberg. In: Aufbau (New York) 12 (1946), 42 (18.10.1946), S. 5f.; Emil Ludwig: Education – Key of the German Question. In: Prevent World War III (New York) 20 (April-May 1947), S. 22–23. Zugleich Titel eines Beitrags von Emil Ludwig: Sentiments of the German People. In: Prevent World War III (New York), 10 (July-August 1945), S. 17–19.

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Zudem war Ludwig im Exil nicht müde geworden, sich als schweizerischer, nicht als deutscher Autor zu definieren. In welche Nationalliteratur sollte er nun integriert werden, sofern es überhaupt Überlegungen dieser Art je gegeben haben sollte? Von Seiten der Literaturwissenschaft, die bis in die 1970er Jahre hinein das Exil geflissentlich ignorierte, war kein Vorstoß in dieser Hinsicht zu erwarten. Und da die in den 1970er Jahren einsetzende Erforschung des deutschen Exils zunächst von ehemaligen Emigranten initiiert und dominiert war, hatte Ludwigs Werk keine Chance.58 Mit Ausnahme einer sehr kurzen Renaissance im Kontext der Fischer-Debatte, die vor allem seine Publikationen zum Ersten Weltkrieg zu Neuausgaben führte,59 und den ein sehr breites Publikum ansprechenden Napoleon-, Goethe- und Cleopatra-Biographien60 blieben Ludwigs Schriften im deutschen Sprachraum nach 1948 ungedruckt – sowohl die vor 1933 erschienenen als auch insbesondere die im Exil entstandenen. Ungefähr ein Drittel der ca. 100 Bücher61 Ludwigs ist nie auf Deutsch erschienen – inklusive seiner zweiten Autobiographie.62 Ein anderes Bild im internationalen Rahmen: Hier wurde Ludwig bis in die 1970er Jahre hinein weiter gedruckt und gelesen, die letzte Auflage einer (unvollständigen) fünfbändigen Werkausgabe erschien in Barcelona 1976.63 Seither herrscht allerdings weitgehend Schweigen. Einer der erfolgreichsten, wirkmächtigsten, einflussreichsten Autoren der deutschen Literatur nicht nur des 20. Jahrhunderts, der sich nach der traumatischen Erfahrung des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen Zeit seines Lebens kompromisslos und nachdrücklich gegen Krieg und Unterdrückung und für Demokratie, Toleranz und ein unter dem Leitgedanken der Versöhnung von ‚Geist‘ und ‚Macht‘ vereintes Europa einsetzte, ist aus dem deutschen und internationalen kollektiven Gedächtnis – nahezu – verschwunden. Oder in den Worten Franklin C. Wests: What the flames (and enforced prohibitions) of dedicated National Socialists did not accomplish, more than a generation of scholarly uninterest, well-fortified by a variety of unexamined prejudices, has very largely done.64

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Mit Ausnahme der Beiträge Köpke: Bestrafung (Anm. 39), und Roden: Emil Ludwig (Anm. 30). Emil Ludwig: Wilhelm der Zweite. Mit einem Nachwort von Imanuel Geiss. München 1964 und weitere Ausgaben; Emil Ludwig: Juli 14. Vorabend zweier Weltkriege. Mit einem Nachwort von Fritz Fischer. Hamburg 1961. Emil Ludwig: Napoleon. Baden-Baden, Stuttgart 1952, und weitere Ausgaben (zuerst 1925); Emil Ludwig: Kleopatra. Geschichte einer Königin. Paris, Hamburg 1960, und weitere Ausgaben (zuerst 1937). Ein Werkverzeichnis existiert nicht, die Angaben von Ludwig selbst in seinen Publikationen, in Emil Ludwig: Books. Moscia 1947, sowie bei Johanna W. Roden: Emil Ludwig (1881–1948). In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 4: Bibliographien. Hg. v. John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt und Sandra H. Hawrylchak. Bern, München 1994, S. 1156–1169, sind unvollständig. Emil Ludwig: Autobiografia de un biografo. (Memorias). Madrid 1953 (Colección literaria); Emil Ludwig: Memórias. Rio de Janeiro 1952. Emil Ludwig: Obras completas. Prólogo de Carlos Soldevilla. Barcelona 1976 (Clásicos y modernos). West: Success (Anm. 1), S. 189.

JENS EBERT

Feldpostbriefe: authentische Quelle oder literarischer Text?

Der Briefroman als literarisches Genre ist seit Jahrhunderten belegt. Im Zusammenhang mit der literarischen Gestaltung moderner Kriege wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend auf Ego-Dokumente wie Briefe zurückgegriffen, um sich angesichts der als undurchschaubar empfundenen, übermächtigen Ereignisse einer wie auch immer gearteten ‚Realität‘ zu vergewissern. War Feldpost zuerst nur als Dokument der gehobenen Stände, also von Offizieren oder Heerführern von Belang, fanden mit der Alphabetisierung auch Zeugnisse von Soldaten Eingang in Publikationen, wenn sie als Beispiel für die ‚vaterländische Gesinnung‘ des Volkes in nationale Zusammenhänge kommentierend eingeordnet werden konnten. Diese Briefe, falls überhaupt authentisch, wurden unzweifelhaft zumindest stilistisch bearbeitet. Die 1886 erschienenen Betrachtungen eines ‚alten Soldaten‘ über Leistungen der Norddeutschen Feldpost1 des Obristen H. von Wulffen lesen sich eher wie eine Erzählung Adalbert Stifters denn als historischer Bericht. Um seine zweifellos richtige These zu illustrieren („Die Feldpost hat dem deutschen Heere 1870/71 wesentlich mit zu den errungenen Siegen verholfen!“), zitiert Wulffen aus ihm vorgeblich zugänglich gemachten Feldpostbriefen und entwickelt daraus eine zumeist patriotische Geschichte, die er fortführt, als er Empfänger oder Verfasser nach dem Krieg besucht. So entsteht gleichsam ein militärisches Sittengemälde jener Zeit. Während des Ersten Weltkriegs, der generell einen wesentlichen Anteil an der Durchsetzung des Briefes als Medium im privaten Verkehr hatte, kam es zu einem bis dahin ungekannten Umfang von Veröffentlichungen der Feldpostbriefe in Zeitungen und Zeitschriften. In der Weimarer Republik gab es ebenfalls ein breites Interesse an diesen Texten, das durch Sammelbände bedient, teilweise jedoch auch erst geweckt wurde, als bekanntestes Beispiel gilt der Band Kriegsbriefe gefallener Studenten.2 An 1 2

H. v. Wulffen: Betrachtungen eines „alten Soldaten“ über Leistungen der Norddeutschen Feldpost während des Krieges mit Frankreich 1870–71. Berlin 1886. Kriegsbriefe gefallener Studenten. Hg. v. Philipp Witkop. München 1928.

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ihm lassen sich sinnfällig Grund und Zielrichtung solcher Publikationen festmachen. Sie dienten, sorgsam ausgewählt, vornehmlich der deutschnationalen Erziehung – oder Erbauung. Mit der tragischen Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges wurde nicht zuletzt der Boden für den Zweiten bereitet. Der heute weitgehend vergessene Kriegsroman Alf3 von Bruno Vogel, erschienen 1929 im Gefolge von Remarques Bestseller Im Westen nichts Neues, einem Buch, das hartnäckig als Bericht gelesen wurde, aber eben doch eine fiktionale Geschichte darstellt, basiert zum größten Teil auf Feldpostbriefen, wenn auch, wie zu vermuten ist, auf teilweise fiktiven. Hier ist eines der zentralen Probleme bei der Verwendung von Feldpost in der schöngeistigen Literatur benannt: die Seriosität und Authentizität der Quellen. Eigentlich sollte diese Frage bei literarischen, also fiktionalen Werken keine Rolle spielen, doch gerade die erzählende Literatur der Weltkriege wurde von großen Teilen der Rezipienten hartnäckig als ‚wahre‘ Erlebnisberichte gelesen. Die Romanschreiber kamen dieser – äußerst verkaufsfördernden – Rezeptionshaltung durchaus entgegen und gaben vor, über den Krieg zu berichten, „wie er wirklich war.“ Eine eigene, spannende Geschichte der Publizierung und Literarisierung haben Feldpostbriefe aus Stalingrad bis in die Gegenwart. Als die Schlacht beendet war, begann sofort der Kampf um ihre Deutung und Wertung. Von Anfang an wurde Stalingrad in mythischen Dimensionen beschrieben. Zur Befestigung und Legitimierung der Mythen griff man oft und gern auf authentische Texte, zumeist Feldpostbriefe, zurück. Eine ästhetisch gelungene Literarisierung von Feldpost ist der erste über die Schlacht erschienene Roman Stalingrad von Theodor Plievier. Der Autor war wie viele andere Emigranten nach Kriegsausbruch aus Moskau evakuiert worden. Gestrandet in Ufa, im Süd-Ural, ließ ihm Johannes R. Becher, zum Teil noch während die Schlacht um Stalingrad tobte, säckeweise Feldpostbriefe zukommen, die aus abgeschossenen Postflugzeugen stammten oder auf andere Art erbeutet worden waren. Gerade Becher hatte schon früh den Wert der Quelle Feldpostbrief erkannt, wie ein Gedicht von ihm dokumentiert: Schreibt einen Brief! Schreibt ihn sofort! Vielleicht ists morgen schon zu spät. Die Liebe heilige jedes Wort Das in dem Brief geschrieben steht! Die Schwester ihrem Bruder schreib, Und dem Verlobten schreib die Braut, Damit er ihr am Leben bleib, Sein Leben ist ihr anvertraut!

3

Bruno Vogel: Alf. Berlin 1929.

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Du, Mutter, schreibe deinem Sohn! Ihr, Frauen, schreibt an euren Mann! Schreibt an die Front! Ihr wißt es schon, WIE man darüber schreiben kann –4

Natürlich erhielten Becher, Plievier und andere Schriftsteller die abgefangenen Feldpostbriefe nicht, um die deutsche Literatur zu befördern, sondern die Rote Armee wünschte, durch die Auswertung der privaten Äußerungen Informationen für die psychologische Kriegsführung zu gewinnen. Den deutschen Dichtern hingegen ging es um mehr. Sie wollten nicht weniger, als anhand der Briefe ein Psychogramm der deutschen Gesellschaft unter dem Hakenkreuz erstellen. Plievier war nicht der Einzige, der in dieser Zeit fremde Feldpostbriefe las und auswertete, aber der Einzige, der daraus nicht nur Propaganda machte, sondern ein großes Kunstwerk schuf. Die Lektüre der Feldpostbriefe führte allerdings bei den Emigranten, die schon viele Jahre im Exil lebten und nur wenig Informationen über das reale Leben unter der nationalsozialistischen Diktatur hatten, zu einer gewissen Frustration ob des mangelnden Widerstandsgeistes bei den Landsleuten. Auch ihr Glaube an eine schnelle Umerziehbarkeit der Landser wurde erschüttert. Die Emigranten nahmen die Feldpostbriefe sehr ernst und korrigierten Vorurteile und Illusionen, sodass Becher 1943 vorsichtig formulierte: [...] nachdem sozusagen die früheren Grenzen zwischen Deutschland und uns gefallen sind in dem Sinne, daß wir die Möglichkeit haben, Originalbriefe in großen Mengen zu lesen, daß sich auf Grund dieser Erfahrung auch eine etwas andere Einstellung ergibt, als wir sie früher zu manchen Dingen gehabt haben.5

Die Form des dokumentarischen Romans scheint für Plievier die geeignete Form, den überbordenden Bildern, Phrasen und Verdrehungen der nationalsozialistischen Mythisierung zu begegnen. Das erzählte Geschehen umfasst ca. 100 Tage. Die Chronologie des Erzählten folgt streng dem Verlauf der Kriegshandlungen. Das Erzählen gleicht einem kontinuierlich fließenden, breiten Strom, aus dem der Autor immer wieder einzelne Episoden bzw. Figuren heraushebt. Den vielfältigen Schicksalen der mehr als 300.000 Soldaten im Kessel versucht Plievier mit einer Vielzahl von Figuren und wirklichen oder nur vermeintlichen Dokumenten, oft Feldpostbriefen, beizukommen. Er schreitet damit das ästhetische Modell des klassischen Romans bis an seine Grenzen aus. Wohin die von Plievier bearbeiteten Briefe nach seiner Rückkehr nach Moskau kamen, ist leider bis heute ungeklärt. Daher ist auch nicht zu rekonstruieren, wie viel authentisches Material genau in die Fiktion eingegangen ist. Erkennbar aber ist, dass sich Plievier eng an die Welt der Feldpostbriefe hält, wie sie aus anderen Beständen bekannt ist. Genau wie in den Briefen bildet auch im Roman der äußere Verteidigungsring die 4 5

Johannes R. Becher: Dank an Stalingrad. Moskau 1943, S. 19ff. Johannes R. Becher: Briefe 1909–1958. Berlin und Weimar 1993, S. 251 (Brief an Dora Wentscher, Moskau, 16. Januar 1943).

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Grenze des Mitgeteilten. Ebenso selten wie in den Briefen wird im Roman diese Welt verlassen, werden Ereignisse außerhalb des Kessels einbezogen. Gemäß seines künstlerischen Credos „Pas vérité sans fiction“ entwickelte Plievier aus wohl authentischen Brieftexten die mögliche Geschichte des Adressaten oder Empfängers. Mehrere Erzählungen nach diesem Muster – augenscheinlich Vorarbeiten zum Roman – erschienen 1943 in der von Becher herausgegebenen Moskauer Zeitschrift Internationale Literatur. Deutsche Blätter. Plievier beschreibt die Geschichte der Schlacht als Geschichte des Sterbens. Er ist sehr nah an dem, was nicht nur Angehörige der medizinischen Einheiten in ihren Briefen nach Hause schrieben: der Untergang ist nicht Resultat militärischer Kämpfe, sondern Resultat von Hunger, Verelendung und Krankheiten. Nicht mehr der äußere Abwehrkampf ist der primäre Todesbringer, sondern der innere Zustand der Armee. Der Krieg tötet die Soldaten auch ohne den Einsatz militärischer Mittel. Dr. Erich Weber, ein in Stalingrad vermisster Stabsarzt, schrieb am 14. Dezember: Wir liegen hier in einer der üblichen ‚Schluchten‘, hausen in den Erdlöchern – genannt Bunker! – und sind froh, daß wir wenigstens ein ‚solches Dach‘ über dem Kopfe haben! [...] Die Operationsgelegenheit ist primitiver denn je, ich hätte früher nie für möglich gehalten, daß man unter solchen Umständen überhaupt noch eine einigermaßen gute Arbeit leisten kann. Ein kleiner Omnibus ist als ‚Operationssaal‘ hergerichtet, daß sich da alles im Raum stößt, wirst Du Dir denken können. Dazu die Misere mit der Beleuchtung, manchmal klappt es mit dem elektrischen Licht, aber noch öfter müssen wir beim Schein einer Kerze oder Karbidlampe operieren.6

Im Roman ist es Oberarzt Viktor Huth, der versucht, die immer größer werdenden Wellen von Elenden zu versorgen, die in sein – Lazarett kann man es nicht nennen – Todeslager fluten. Doch seine Mühen sind vergebens. Die Ärzte können amputieren, Wundränder säubern und Steckschüsse entfernen, den Patienten „reinliche Quartiere, erträgliche Witterungsverhältnisse, sorgfältige Desinfektion, saubere Leibwäsche“7 und vor allem ausreichend Nahrung verschaffen können sie nicht. Der Sanitätssoldat Paul Gerhardt Möller schreibt am 24. November: Die Tage, die hinter uns liegen, waren grauenvoll. Eine Beschreibung zu geben, ist mir nicht möglich. Diese Scharen Verwundeter, die wir bekamen! Sie gehen nun wieder alle durch meine Hand. [...] Und wie schneidet es ins Herz, wenn ein Offizier kommt und meldet, daß er 4, 12, 15 Schwerverwundete auf dem Lastwagen hat – aus einem aufgelösten Feldlazarett einer anderen Truppe – + um Aufnahme bittet, + ich muß ihm sagen, daß er weiter muß mit seinen Leuten (Befehl vom General!), weil wir überbelegt sind. Heute morgen meldete ich 285 Mann Belegung! Und etwa 60 warteten noch auf ärztl. Versorgung! – 1.000 Mann, Verwundete, teils schwere, sogar Leute mit Lungen- + Bauchschüssen, bewegten sich in einem Elendszuge 40

6 7

Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943. Hg. v. Jens Ebert. Göttingen 2003, S. 144. Theodor Plievier: Stalingrad. Berlin und Weimar 1984, S. 69.

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km weit zu uns + mussten weitergeschickt werden. Es ist ein unbeschreiblicher Jammer, der durch die – menschlich – hoffnungslose Lage weit, weit größer ist als alles im Herbst Erlebte.8

Die Situation verschlechtert sich täglich. Selbst die primitivste Versorgung ist kaum mehr möglich. Plieviers Arzt stellt seine Tätigkeit ein, als seine einzige ‚Hilfe‘ nur noch darin besteht, die Verwundeten in den eisigen Wind zu legen, um ihnen so einen schnelleren und schmerzfreieren Tod durch Erfrieren zu bereiten. So präzise wie Huth Krankheiten und die Situation analysiert, so indifferent ist bei ihm – genau wie bei den realen Ärzten – der Blick auf die Vergangenheit, auf die Verstrickung ins NS-System. Kaum eine andere Berufsgruppe war im Dritten Reich der NS-Ideologie so erlegen, dem System durch Mitgliedschaften in Partei und Organisationen so verbunden wie das medizinische Personal. Plieviers Roman fand in der Nachkriegszeit wegen der überzeugenden Totalität der beschriebenen Ereignisse und der sachlichen, sich deutlich von der Sprache des Dritten Reiches, aber auch von der der zitierten Feldpostbriefe abhebenden Tonart und seiner Nähe zum authentischen Geschehen zeitweise große Resonanz. Nach seinem Weggang aus der SBZ wurde Plievier im Osten Deutschlands bis 1984 jedoch nicht mehr gedruckt. Im Westen Deutschlands aber passte die scharfe Kritik an einer unfähigen und verbrecherischen Generalität schon wenige Jahre nach Kriegsende nicht mehr in das sorgsam entworfene und fortan gehütete Bild der ‚sauberen Wehrmacht‘. Zeitgleich mit Plievier plante noch jemand anders ein Buch unter Verwendung von Feldpostbriefen aus Stalingrad: NS-Propagandachef Goebbels. Er gab bei Heinz Schröter von der Propagandakompanie der 6. Armee die Publikation Heldenlied Stalingrad in Auftrag. Doch die authentischen Briefe sperrten sich gegen eine Instrumentalisierung durch die NS-Propaganda. Goebbels persönlich soll die Auswahl als „untragbar für das deutsche Volk“ empfunden haben. Das Material verschwand im Heeresarchiv, wo es schließlich nach einem Bombenangriff 1945 verbrannte. Dass einige Abschriften im Militärarchiv der DDR überlebten, wurde erst Mitte der achtziger Jahre bekannt. 1950 erschien das Buch Letzte Briefe aus Stalingrad im Verlag Die Quadriga, wurde später vom Bertelsmann-Verlag übernommen und prägte fortan maßgeblich das Bild der Stalingrader Schlacht im öffentlichen Bewusstsein. In einer ‚Vorbemerkung des Verlages‘ wird eine Verbindung zur Goebbels’schen Propagandabroschüre hergestellt. Zwar wurden die Letzten Briefe aus Stalingrad anonym herausgegeben, doch alle Spuren führen zu Heinz Schröter. Tatsächlich ist die Anzahl der in der Anthologie abgedruckten Briefauszüge identisch mit der Sammlung für die Propagandabroschüre. Die Briefe der Anthologie enthalten keinerlei nachprüfbare Angaben wie Verfasser, Empfänger, Feldpostnummer und Datum. Die Auszüge für die Broschüre enthalten hingegen nachprüfbare Daten. Auch lassen sich in keinem Fall textliche Übereinstimmungen zwischen den beiden Sammlungen nachweisen. Bei den Letzten Briefen handelt es sich also wohl um eine Fälschung. Dies erhärtet sich, prüft man die Briefe genauer. Das 8

Ebert (Hg.): Stalingrad (Anm. 6), S. 77.

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letzte Flugzeug flog Mitte Januar aus dem Kessel aus. Manche Briefe hingegen stammen bereits aus der Vorweihnachtszeit. Die in den Briefen detektierbaren zeitlichen Bezüge und die Standorte der Verfasser im Kessel sind so unterschiedlich, dass man kaum von einer einheitlichen Postsendung ausgehen kann. Aufmerken lässt ebenfalls die Tatsache, dass sich in den Briefen häufig erklärende Anreden oder Zitate finden, die in persönlichen Briefen durchaus unüblich sind, für den Leser (alle Briefe sind anonymisiert) allerdings notwendige Verstehenshilfen darstellen: „Du bist Seelsorger, Vater“; „Du bist Oberst, lieber Vater, und Generalstäbler“; „Du bist die Frau eines deutschen Offiziers“ etc. Die Anthologie ist sichtlich um die Wiedergabe eines weiten Stimmungsspektrums bemüht. Auflehnung gegen den greifbaren Untergang, Todesangst, aber auch Schuldzuweisungen an die politische Führung in Deutschland werden beschrieben und Fragen von persönlicher Kriegsschuld und moralischer Verantwortung gestellt; all dies Themen, die in authentischen Briefen in der Regel ausgespart werden. Dort dominieren Normalität, Banalität und Alltäglichkeit. Doch wie das so ist mit Fälschungen, nicht selten entwickeln sie ein Eigenleben, so auch im vorliegenden Fall. Die Letzten Briefe aus Stalingrad wurden allgemein als authentisch angesehen und ins Russische, Französische und in andere Fremdsprachen übersetzt. Schnell erreichten sie einen großen Bekanntheitsgrad und galten schließlich auch in wissenschaftlichen Werken als zitierbar. Dass die Briefe so gern zitiert werden, mag daran liegen, dass sie sich alle durch ein hohes sprachliches Niveau und einen literarischen Stil auszeichnen. Die Sprache der Briefe ist elegant, bilderreich und poetisch – und darin einheitlich. Auch das Pathos der Briefe eint sie, ebenso wie der sinnfällige Versuch, beim Leser Mitleid für die lediglich ‚verführten‘ und später ‚verratenen‘ Soldaten und Offiziere zu erzeugen. Ob die Briefe nun von Resignation oder Gottgläubigkeit, von Auflehnung oder Hilflosigkeit künden – immer ist ihnen eine elegische, tragische oder heroische Haltung eingeschrieben. Der Charakter der Briefeschreiber erscheint stets als nobel. Mit den verklärenden Schilderungen eines Opfertodes entsprach die Briefanthologie in der Nachkriegszeit dem westdeutschen Bedürfnis nach ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit. Ein in den Briefen berichtetes Erlebnis fand sogar direkten Eingang in Literatur und Film. Ein in Zukunft berufsunfähiger, weil während der Kämpfe an beiden Händen verletzter Pianist schreibt: Kurt Hahnke, mir ist so, Du kennst ihn aus dem Kollegium 37, hat auf einem Flügel in einer kleinen Seitenstraße am Roten Platz vor acht Tagen die Appassionata gespielt. So was erlebt man nicht alle Tage, direkt auf der Straße stand der Flügel. Das Haus ist gesprengt worden, aber das Instrument haben sie wohl aus Mitleid vorher herausgeholt [...]. Kurt hat unerhört gespielt, er wird bald in der vordersten Front stehen.9

9

Letzte Briefe aus Stalingrad. Gütersloh 1957, S. 9.

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Diese unglaubwürdige Geschichte findet sich auch in dem üblen Landser-Roman Hunde, wollt ihr ewig leben von Fritz Wöss und der zugehörigen Verfilmung (Mitarbeit am Drehbuch: Heinz Schröter). Deutliche Vorbehalte gegen die Authentizität und den Realitätsgehalt der Briefe wurden schon früh von Überlebenden der Schlacht geäußert, so u. a. 1986 vom Philosophiehistoriker Wilhelm Raimund Beyer, der Stalingrad. Unten wo das Leben konkret war10 als Soldat erlebt hatte. Danach wurde es ruhig um die Letzten Briefe aus Stalingrad, bis 2002 der 60. Jahrestag der Schlacht fast zu einer Renaissance geführt hätte. Das allgemeine Medieninteresse nutzend, hatte der französische Komponist Aubert Lemeland die Texte musikalisch umrahmt. Die so bereits 1998 entstandene Sinfonie sollte in der zentralen Feierstunde des Bundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge anlässlich des Volkstrauertages 2002 im Deutschen Bundestag durch das Musikkorps der Bundeswehr aufgeführt werden. Doch die Problematik wurde öffentlich, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nahm sich der Angelegenheit an.11 So wurden die Briefzitate wenige Tage vor der Aufführung kurzerhand ausgetauscht und durch solche aus authentischen Editionen ersetzt. Immerhin bewirkte der Eklat, dass die Sinfonie nie wieder aufgeführt wurde. Besten Ersatz für die gefälschten Briefe präsentierte der Deutschlandfunk im gleichen Jahr der Öffentlichkeit mit einer Sendestaffel. Er hatte seine Hörer aufgefordert, bislang unveröffentlichte Feldpostbriefe aus Stalingrad dafür einzuschicken. Das umfangreiche neue Material, von Historikern geprüft, spiegelt viele Facetten des Kriegserlebnisses wider und berührt ein breites Spektrum individueller Sichtweisen, was zwangsläufig zu einem widersprüchlichen, deswegen aber umso aufschlussreicheren und erweiterten Bild der Schlacht führte.12 1956 erschien der Stalingrad-Bestseller schlechthin: Konsaliks Kolportageroman Der Arzt von Stalingrad. Dessen angeblich authentischer Kern, falls es ihn überhaupt gegeben hat, ist heute nicht mehr rekonstruierbar. Er soll auf Begebenheiten aus dem Leben des Dr. Ottmar Kohler basieren, die aber schon vorher in der Boulevard-Presse kolportiert wurden. Alle gehen auf eine einzige Quelle zurück: Dr. Ottmar Kohler selbst. Auch bei Konsalik tauchen ähnliche Beschreibungen auf wie in der Feldpost: die katastrophalen medizinischen Verhältnisse, die schlechte Ernährung, das Elend. Doch Konsalik verortet sie nicht in den von Deutschen verantworteten Todeszonen Stalingrads, sondern in den Lagern des überfallenen, später siegreichen Gegners. Er verlegt sie zudem aus den Kriegsjahren in die Zeit Anfang der fünfziger Jahre. Das garantierte Akzeptanz und Erfolg in der westdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft. Konsalik ist ähnlich wie Plievier durchaus nahe an dem, was deutsche Soldaten in ihren Feldpost10 11 12

Wilhelm Raimund Beyer: Stalingrad. Unten wo das Leben konkret war. Frankfurt/Main 1987. Brief von Wolfgang Thierse an den Verfasser vom 04.11.2002. CD Feldpostbriefe aus Stalingrad. Deutschlandfunk 2002. Die Buchausgabe Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943 ist im Wallstein-Verlag Göttingen 2003 erschienen.

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briefen aus Stalingrad mitteilen. Doch er betreibt ideologische Transformationsarbeit, projiziert verübtes Unrecht als Erfahrung erlittenen Unrechts in das Lager des Feindes, der bei Erscheinen des Buches in Westdeutschland wieder als Gegner im Kalten Krieg stigmatisiert wurde. Auch die negativen Zeichnungen des ‚Russen‘ kommen so in Feldpostbriefen vor, vorgeprägt durch die unkritisch aufgenommene NS-Propaganda. Sowohl Plievier als auch in transformierter Weise Konsalik beziehen sich auf die in Feldpostbriefen vermittelten Realerfahrungen deutscher Soldaten. Die Frage ist also nur bedingt die nach der Authentizität und Belegbarkeit von Erfahrungen, wie sie uns in der Feldpost gegenübertreten. Die bedeutsamere Frage ist: in welches Koordinatensystem werden sie bei der Interpretation, Deutung und Wertung einbezogen? Die Geschichte von Konsaliks Arzt hat an sich nicht zwingend mit Stalingrad zu tun. Sie könnte in jedem sowjetischen Gefangenenlager spielen. Stalingrad ist nur insofern bedeutsam, als sich hier eben der Arztmythos mit dem des deutschen Opfers verbinden lässt. Schon die NS-Propaganda hatte das Opfer von Stalingrad heroisiert, um das militärische Versagen zu kaschieren und in der BRD diente es dazu, Fragen nach Verantwortlichkeiten für den Vernichtungskrieg abzuschneiden. Wer selbst Opfer geworden war, war eben nicht mehr verantwortlich für das, was geschah. Auf dieser Konstruktion baute Konsalik genau wie die gesamte national-konservative westdeutsche Öffentlichkeit sein Kriegsbild auf. Vom literarischen Vorbild Dr. Ottmar Kohler sind keine Feldpostbriefe zugänglich, jedoch von einem Kollegen: Dr. Horst Rocholl. Dieser hat gleichsam eine StalingradGeschichte in Briefen hinterlassen, die doch deutlich anders klingt als die von Ottmar Kohler. Beide Ärzte kommen übrigens im Dezember 1953 mit dem gleichen Gefangenentransport nach Deutschland. Beide waren in Stalingrad in Gefangenschaft geraten, beide nach dem Krieg zu Zwangsarbeit verurteilt, beide zehn Jahre in sowjetischen Lagern, wo sie sich auch begegneten. Doch die Lebensansichten und die weitere Entwicklung dieser Ärzte aus Stalingrad könnten nach ihrer Rückkehr nicht unterschiedlicher sein. Obwohl beide aus Westdeutschland stammen, entschließt sich der eine, Rocholl, als der Zug in Frankfurt (Oder) hält, in der DDR zu bleiben. Kohler fährt mit dem Zug weiter und steigt in einer ganz anderen Welt, im niedersächsischen Friedland, aus. Rocholls Lebens- und Arztgeschichte ist nie literarisch geworden, obwohl sie es sehr wohl verdient hätte. Erst Jahre nach seinem Tod sind seine aufschlussreichen Gedanken, seine Erlebnisse, Reflexionen und Wandlungen einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. Als in den sechziger Jahren in der DDR der Verlag der Nation Rocholls Memoiren drucken will, sagt dieser nach anfänglichem Interesse ab. Zu ungerade scheint ihm sein Lebensweg. Und ihn nachträglich zu begradigen, entspricht nicht seinem Charakter. In Rocholls Briefen, die nicht nur aus dem Stalingrader Kessel, sondern bereits vom Vormarsch durch die Ukraine und aus den anschließenden zehn Jahren Gefangenschaft überliefert sind, liest man die Irr- und Umwege deutscher Geschichte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Es finden sich Hinweise auf Praktiken des Vernichtungskrieges

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gegen Juden, Partisanen und vermeintliche Kommissare. Rocholls Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung, besonders gegenüber verwundeten Rotarmisten, passt allerdings nicht ins NS-System. Als Arzt fühlt er sich auch für sie verantwortlich. Der Militärarzt orientiert sich in seinem Verhalten am Hippokratischen Eid und nicht an Hitlers Mein Kampf: „Ich wünsche auch, daß der deutsche Sieg dem Russenvolk neues, schöneres Leben geben wird. Es wird dazu viel ehrliche, begeisterte Arbeit nötig sein.“13 Oder: „Die blutigen Verluste der Russen an Toten und Verwundeten sind recht beträchtlich. Ein paar verwundete Russen konnten wir aus einem Kornfeld bergen, sodaß sie nicht versehentlich kaputtgedrückt wurden.“14 Den greifbaren Untergang der 6. Armee sowie den eigenen vor Augen schreibt er am 14. Januar 1943: „Ich bin ja doch ein Mensch, keine Bestie, habe die verwundeten Feinde versorgt, so oft ich konnte, so oft meine sonstigen Aufgaben die Möglichkeit dazu gaben. Ich habe es getan, nicht aus Mitleid, sondern weil ich in ihnen Soldaten sah, wenn auch feindliche.“15 Der voraussehbare Untergang lässt Rocholl zunehmend nachdenklicher werden. Zwar ist er immer noch Nationalsozialist, aber er erkennt, dass der Krieg ins Verderben führt. Vieles kann er durch seine unermüdliche Tätigkeit jedoch verdrängen. In seinem letzten Brief vom 23. Januar 1943 schreibt er: Mich kann nichts mehr erschüttern, außer dem unsagbaren Leid anderer Menschen, das ich gerade in diesen Tagen mit ansehen muß. Wenn der letzte von ihnen abflöge, könnte ich neidlos der letzten Ju nachsehen und aufs Tiefste befriedigt sterben. Das Wetter ist etwas trüber geworden. Hoffentlich landen dann viele Maschinen hier, damit Verwundete wegkommen. Brot habe ich seit 7 Tagen nicht mehr gegessen. Ich habe etwas Nudeln, mit denen ich mir immer mal was kochen kann, denn ich muß bei Kräften bleiben, weil ich Tag und Nacht immer arbeiten muß.16

Die Gefangenschaft führt bei Rocholl zu einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Trotzdem wird er 1948 nicht wie erwartet in die Heimat entlassen, sondern verhaftet und später zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Doch sein Wandlungsprozess dauert an. Es ist eine in Deutschland seltene einschränkungslose Anerkennung von Schuld, wenn er 1985 rückblickend in der deutschsprachigen sowjetischen Zeitschrift Sputnik schreibt: Nach dem II. Weltkrieg mit allen durch Deutsche begangenen Verbrechen sah ich keinen Anlaß, mich über meine Verurteilung zu beklagen, wenn ich auch der Meinung bin, dass ich von 1948 bis 1953 in der DDR viel Gutes hätte tun können. Mein Untersuchungsrichter in der Butyrskaja sagte zu mir: ‚Ich weiß nicht ob Sie ein sehr ehrlicher Mensch sind oder ein bewusster Verbrecher. Deshalb werden wir sicherheitshalber eine Freiheitsstrafe verhängen.‘17

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Ein Arzt in Stalingrad. Feldpostbriefe und Gefangenenpost des Regimentsarztes Horst Rocholl. Hg. v. Jens Ebert. Göttingen 2009, S. 297. Ebd., S. 177. Ebd., S. 294. Ebd., S. 302. Nachlass Dr. Horst Rocholls. Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der DDR beim Bundesarchiv Berlin (SAPMO-BARCH), NY 4554, K2.

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Dass die Grenze zwischen authentischen und fiktionalen Feldpostbriefen in der Literatur verwischt ist, liegt an der Eigenart künstlerischer Produktion. Wahrheit ist ohnehin keine Kategorie ästhetischer Beurteilung. Und wie sehr ‚Wahrheiten‘ differieren, selbst wenn sie auf analogen Wirklichkeiten beruhen, weil sie eben von der Individualität des Briefschreibers abhängen, verdeutlicht die so unterschiedliche Entwicklung und Positionierung von Rocholl und Kohler in der Nachkriegszeit. Feldpostbriefe, im Zweiten Weltkrieg gab es allein auf deutscher Seite ca. 40 Milliarden, können einen sehr spezifischen, individuellen und anschaulichen Zugang zu den Kriegsereignissen vermitteln. Für ‚die Wahrheit‘ zeugen können sie nicht.

ERHARD SCHÜTZ

„…diesmal für den Film.“ Der Luftkrieg gegen Polen in der Propaganda des Nationalsozialismus

Gegenangriff „Die Wehrmacht hat in Erfüllung ihres Auftrages, der polnischen Gewalt Einhalt zu gebieten, Truppen des deutschen Heeres heute früh über alle deutsch-polnischen Grenzen zum Gegenangriff antreten lassen[,]“ – so informiert das Radio im Film Die Degenhardts (Regie Werner Klingler), der am 11. August 1944 uraufgeführt wurde. In diesem Film, der erstmals die Folgen des Bombenkriegs an der Zerstörung Lübecks in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 thematisierte, um so gegen die angloamerikanischen ‚Luftterroristen‘ und ‚Kulturbarbaren‘ propagandistisch Stimmung zu machen, wird dergestalt an die vorgebliche Ursache erinnert, durch die dieser Krieg, der nunmehr als Bombenkrieg leidvoll in der Heimat zuschlug, begann – die polnische Provokation und Aggression... Die Geschichte des deutschen Überfalls auf Polen und der aus diesem heraus entwickelten deutschen Verbrechen, Grausamkeiten und Widerwärtigkeiten, der Beginn einer sich entfesselnden Vertreibungs-, Versklavungs- und Vernichtungspolitik könnten – einschließlich der realen Verbrechen polnischer Nationalisten an den sogenannten Volksdeutschen, die in gigantischer Überzeichnung der deutschen Propaganda fortan zur stereotypen Rechtfertigung dieses Überfalls dienten – allgemein bekannt sein, wenn man es denn wissen wollte. Zuletzt wurde dieses Wissen durch die Übersetzung dreier gewichtiger Werke der angloamerikanischen Geschichtsschreibung ins Deutsche noch einmal in die Feuilletons getragen.1 Gleichwohl dürfte das Gemenge aus seither tradierten Mythologemen nicht aus der Welt zu bringen sein – die Geschichten eben von den polnischen Gräueltaten an den Volksdeutschen, vom Aufstand in Bromberg (Bydgoszcz), von den polnischen Lanzenreitern gegen deutsche Panzer, von der feige nach 1

Vgl. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007; Richard Evans: Das Dritte Reich. Bd. III: Krieg. München 2009; Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. München 2009.

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Erhard Schütz

Rumänien geflüchteten Regierung, von den Russen, die erst einfielen, als die polnische Niederlage sich abzeichnete, von der deutschen Überlegenheit im Blitzkrieg und nicht zuletzt auch von der ritterlichen Wehrmacht sowie der perfiden SS. Während Letzteres ein Narrativ aus den Jahren nach 1945 darstellt, freilich im Militär zuvor schon vorbereitet, ging alles andere in diesem Konglomerat auf die Propaganda des Nationalsozialismus zurück, die freilich die in den vielen Jahrzehnten zuvor bereits gepflegten Vorurteile, unter denen das von der ‚polnischen Wirtschaft‘2 noch das harmloseste war, oft lediglich zu aktualisieren brauchte. Folgend soll es nun nicht um eine Gesamtrekonstruktion der propagandistischen Inszenierung um den Überfall auf Polen und seine Folgen gehen, sondern um einen – allerdings besonders signifikanten – Ausschnitt daraus, nämlich um die vorzugsweise filmische Darstellung des Luftkriegs gegen Polen. Dies vor allem deshalb, weil die Luftwaffe nicht nur als Ausweis technischer Überlegenheit, als genuiner nationalsozialistischer Beitrag zur Wiederherstellung deutscher Wehrhaftigkeit, sondern auch als Hort moderner Kriegshelden galt – letzte Ritter und „adlige Vettern“3 der Lüfte – und nicht zuletzt dadurch besonders verlockend (und verführerisch) für die Jugend war.

Deutscher Aufflug und polnische Niedertracht Jas, Sohn des Tschort, geboren in einem „verkrümmte[n] preußische[n] Grenzdorf im Östlichen[,]“ unweit „begann schon Polen, das russische Polen, mit seinen flinken Kosaken. Sonst aber waren dort die Menschen arm und schlecht und dumm.“ Jas, der Protagonist in August Scholtis gleichnamigem Roman von 1935 begegnet dreizehnjährig einem Flieger des Deutschen Palästinakorps; dieser ist fortan sein Sehnsuchtsheld. Ihn zu suchen, lässt der nach Berlin übergesiedelte Oberschlesier Scholtis Jas nach Berlin ausbüchsen, wo er in den Inflationsjahren darbt, um – unerzählt – das folgende Jahrzehnt zu überstehen, bis er am Schluss in Kolonne Unter den Linden marschieren kann, als Flieger in Görings Wehrmacht, der überm Heimatdorf Kapriolen fliegt, ehe „die Maschine majestätisch steigt und röhrend verschwimmt im unendlichen Äther.“4 Derart wurde die deutsche Fliegerei als Befreiung aus persönlichem wie nationalem Elend gefeiert, nicht nur im Roman. Als sie dann in Polen ihre angebliche „Feuertaufe“ 2

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Vgl. Hubert Orłowski: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996; vgl. auch Orłowski: Die Lesbarkeit von Stereotypen. Der deutsche Polendiskurs im Blick historischer Stereotypenforschung und historischer Semantik. 2. Aufl. Wrocław, Görlitz 2005. Gerd Gaiser: Die sterbende Jagd. München 1955, S. 200. August Scholtis: Jas der Flieger (1935). Frankfurt/Main 1987, S. 10, 16 u. 190. Ewa Mazurkiewicz ist ausführlich auf diesen Roman eingegangen, hat sich aber auf die konkrete Situation seines Endes nicht eingelassen. Vgl. Ewa Mazurkiewicz: Der oberschlesische Flaneur Jas in der Großstadt Berlin – Scholtis’ Jas der Flieger. In: August Scholtis 1901–1969. Modernität und Regionalität im Werk von August Scholtis. Hg. v. Bernd Witte und Grażyna B. Szewczyk. Frankfurt/Main u.a. 2004, S. 203–208, hier S. 208.

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erhielt – so Hermann Göring und so der Titel eines dokumentarisch daherkommenden Films von Hans Bertram, der den Feldzug in Polen (auch das ein Filmtitel) glorifizierte – hatte sie schon ihre Unschuld verloren: im spanischen Bürgerkrieg, im Einsatz der Legion Condor. Nun ließ sich die Luftwaffe als Träger des Blitzkriegs feiern, Ausweis technischer wie rassischer Überlegenheit. Noch 1939 erschien ein Buch von Peter Supf, der bis dahin als Fliegerdichter und Anthologist von Fluggeschichten und -gedichten hervorgetreten war, die in gesammelter Form den unmissverständlichen Titel: Luftwaffe schlägt zu! trugen – und denen Hermann Göring im Geleitwort wünschte, „daß [sie] den Weg in die Hand eines jeden Deutschen finde[n] als ein lebendes [sic] Denkmal der Heldentaten unserer siegreichen Luftwaffe […]!“5 Das Buch setzt ein mit einer Idylle an einem „Nebelmorgen im polnischen Grenzland“. Gut getarnte deutsche Flugzeuge warten mit ihren Piloten auf den Einsatz. Denn einmal mehr verkünden die Nachrichten „von neuen Gräueltaten der verhetzten Polen. [...] Tief erregt, voll Zorn und ehrlicher Empörung“ warten die jungen Soldaten auf den erlösenden Befehl. Supf erläutert sodann die Hintergründe der Situation. Der Führer will endlich die Revision des Versailler Vertrags und darum Danzig und den Korridor. Der ‚Weltpolizist‘ England aber hetzt die Polen auf. „Die grausamen Instinkte des polnischen Volkes wandten sich gegen die unter ihnen lebenden Deutschen und machten sich in ungeheuerlichen Verbrechen Luft, deren ganzes furchtbares Ausmaß erst nach der Besetzung Polens aufgedeckt wurde.“6 Was das Propagandaministerium in den Monaten vor dem Überfall auf Polen in einer konzertierten Kampagne in Presse, Rundfunk und Wochenschau in immer neuen Varianten als polnische Gräueltaten an den Volksdeutschen angeprangert hatte, das steht auch hier am rechtfertigenden Beginn der großen Siegeserzählung. Und auch das, was Goebbels wider besseres Wissen in sein – zu späteren propagandistischen Zwecken gedachtes – Tagebuch am 1. September 1939 eintrug, der „polnische Angriff auf den Sender Gleiwitz“ erscheint hier in rechtfertigender Ausführlichkeit: „Neue entsetzliche Morde an Volksdeutschen und neue Grenzüberfälle hatten sich in der Nacht vom 31. August zum 1. September ereignet. Zum erstenmal [sic] hatten in der vergangenen Nacht sich auch reguläre polnische Soldaten an diesen Überfällen auf deutsches Reichsgebiet beteiligt.“7 Keine propagandistische Darstellung wird fortan ohne diesen Auftakt auskommen. Und auch die Filme werden ihn immer wieder illustrieren.

5

6 7

Hermann Göring: Zum Geleit! In: Luftwaffe schlägt zu! Der Luftkrieg in Polen. Mit Unterstützung des Oberbefehlshabers der Luftwaffe. Nach Frontberichten und eigenen Erlebnissen v. Peter Supf. Militärische Darstellung von Major Lothar Schüttel. Berlin 1939, o. P [S. 5]. Luftwaffe schlägt zu! (Anm. 5), S. 9, 10 u. 13f. Ebd., S. 15.

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Exkurs: Flüchtlinge und Heimkehr Goebbels hatte bereits am 4. Februar 1940 die Idee zum „antipolnischen Hetzfilm“8 Heimkehr erwähnt. Allerdings sollte es noch bis zum 24. Oktober 1941 dauern, ehe er uraufgeführt werden konnte, als, wie Goebbels befriedigt notierte, „großartige[r] politische[r] und künstlerische[r] Erfolg[,]“ der eine „erzieherische Erinnerung für das ganze deutsche Volk“9 sein sollte. Der mit dem höchsten Prädikat, nämlich „staatspolitisch und künstlerisch besonders wertvoll“ und gar als „Film der Nation“ ausgezeichnete Film, zeitnah zum stattgehabten Überfall auf Polen konzipiert, kam zwar relativ spät in die Kinos, stellte aber mit seiner Geschichte wie mit seinen Bildern die Brücke zur nunmehr vollends offensiven Rassepolitik her. Die Bilder der polnischen ‚Untermenschen‘, schreibt Felix Moeller zu Recht, fügten sich bruchlos zu den Gesichtern der ‚asiatischen‘ Soldaten der Roten Armee.10 Der von Gustav Ucicky nach dem Drehbuch des Kriegsdramatikers und vielfachen Lieferanten einschlägiger Filmstoffe, Gerhard Menzel, realisierte Film raffinierte, was der am 7. November 1940 uraufgeführte Film Feinde in der Regie von Viktor Tourjansky noch recht primitiv gestaltet hatte; er raffinierte gewissermaßen auch dessen Primitivität derart, dass Courtade/Cadras – einschlägiger Sympathien wahrlich unverdächtig – ihm attestierten, ein „sorgfältig, gut ausgearbeiteter Film“ zu sein. „Selbst heute fällt es schwer, sich von der Handlung nicht mitreißen zu lassen und nicht mitfühlend das harte Schicksal dieser verlorenen Schar in feindlicher Umgebung nachzuvollziehen.“11 Der Vorspann von Feinde hatte einmal mehr die propagandistische Formel exordial verkündet: Ewig unvergessen stehen im Gedächtnis aller Menschen die namenlosen Leiden der Volksdeutschen in Polen. Die gesamte Nachkriegszeit war für sie ein einziger Opfergang. Politische Entrechtung, wirtschaftliche Knechtung, Terror und Enteignung hießen seine Meilensteine. Im Jahre 1939 entfachte das englische Garantieversprechen die polnische Mordfurie. Zehntausende unschuldiger Volksdeutscher wurden unter furchtbaren Martern verschleppt. 60.000 wurden viehisch ermordet.12

Die edlen und guten Deutschen, allen voran der Sägewerksinspektor Willy Birgel, können sich vor den Drangsalen der saufenden, randalierenden, brandschatzenden und 8 9 10 11 12

Felix Moeller: Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich. Berlin 1998, S. 227. Zitiert nach ebd., S. 261. Vgl. ebd., S. 261. Francis Courtade und Pierre Cadras: Geschichte des Films im Dritten Reich. Mit einem Nachwort von Gerd Albrecht. Frankfurt/Main u.a. 1976, S. 162. Tatsächlich waren es ca. 15.000 Volksdeutsche, die auf den Marsch in den Osten Polens gezwungen worden waren. Die Forschung geht davon aus, dass etwa 2.000 umgebracht wurden. Goebbels hatte zunächst die deutschen Opfer auf 5.800 beziffert. Im Februar 1940 wurde die Zahl dann – wahrscheinlich auf Anweisung Hitlers – verzehnfacht. Vgl. Evans: Das Dritte Reich (Anm. 1), S. 24 f.; und Mazower: Hitlers Imperium (Anm. 1), S. 73.

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mordenden Polen – die polnischen Arbeiter rebellieren und ermorden den Sägewerksbesitzer – nurmehr durch Flucht retten, indem Brigitte Horney sie durch gefahrvollen Sumpf in die ‚alte Heimat‘ geleitet. Auch in Heimkehr13 gibt es einen entsprechenden Vorspann, in dem zur sinfonischen Bearbeitung des Programmlieds „Nach der Heimat möcht’ ich wieder“ von „Schicksal, Leiden und Bewährung einer Handvoll Deutscher“ die Rede ist, die zu jenen gehörten, die schon seit Jahrhunderten ihr Deutschtum „gegen wütende Angriffe des Polentums“ bewahrt hatten. Auch hier sind – unter Mitwirkung polnischer Schauspieler14 – die Polen frech, dreckig, faul, verschlagen und heimtückisch. Die Volksdeutschen werden drangsaliert, ihre propere Schule wird in eine Polizeistation verwandelt, der uneigennützige deutsche Arzt heimtückisch angeschossen und erblindet, ein Volksdeutscher wird in einem Kino vom patriotisch verhetzten Mob schwer verletzt. Vom Krankenhaus abgewiesen („Deutsche werden nicht mehr aufgenommen“), stirbt er den Märtyrertod. Besonders schlimm: Einer jungen, blondbezopften Frau wird ihr Hakenkreuzkettchen vom Hals gerissen, ihrer Vergewaltigung entkommt sie um den Preis der Steinigung durch die polnische Meute. Die Behörden sehen in allen Instanzen vom Bürgermeister bis hin zum Botschafter weg, zeigen sich hämisch oder leugnen einfach die Vorfälle. Währenddessen sind die Deutschen unter menschenunwürdigsten Bedingungen in einem Keller eingepfercht und harren ihrer Liquidierung. Hier bleibt nurmehr, sehnsüchtig auf Entsatz durch die deutsche Armee zu hoffen, sich am heimatlichen Liedgut aufrecht haltend, bis, tatsächlich von deutschen Soldaten gerettet, die Gruppe auf den Treck in die alte Heimat gehen kann: „Wir kehren ja heim, Vater, heim, nach Hause. Ist das nicht das Schönste im Leben? Nach Hause dürfen, heim!“ Dazu nun noch ein überdimensioniertes Hitler-Plakat – und das Deutschlandlied. Es bildet den späten, von seiner Schlussposition her unwidersprochenen Kontrapost zur polnischen Nationalhymne, die, im ersten Teil des Films, die begeisterte Zuschauermenge in einem Kino mitsingt. Diese Szene verdient besonders hervorgehoben zu werden. Denn in ihr findet man – wie nicht selten im NS-Film – spiegelbildlich die Projektion eigener Intentionen, die Beschwörung aufputschender Wirkungen des Mediums Film. Während ‚Fox Tönender Wochenschau‘ schläft ein Deutscher bei den Bildern einer Parade der polnischen Armee ein und wird angeherrscht: „Deutsche haben zu kuschen!“ und „Man sollte sie ausrotten, diese Saubande von Deutschen!“ Als dann die Deutschen bei der polnischen Hymne sitzen bleiben, werden sie vom Mob attackiert. Ein schwerstverletzter Deutscher bekommt von der eintreffenden Polizei keine Hilfe und wird vom – jüdisch konnotierten – Kinobesitzer erbarmungslos hinausgeworfen. Unschwer lässt sich das gegen den Strich lesen – als Wunschprojektion der eigenen Propagandawirkung… 13

14

Eine ausführliche Inhaltsangabe und Kommentierung gibt Klaus Kanzog: „Staatspolitisch besonders wertvoll“. Ein Handbuch zu 30 deutschen Spielfilmen der Jahre 1934 bis 1945. München 1994, S. 287–296. Näheres dazu bei Bogusław Drewniak: Der deutsche Film 1938–1945. Ein Gesamtüberblick. Düsseldorf 1987, S. 322f.

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Und zu solcher Wirkung bedurfte es nicht einmal des ‚polnischen Themas‘. Ucicky hatte das Muster bereits zu Beginn des Dritten Reichs erfolgreich erprobt, in Flüchtlinge. Der am 8. Dezember 1933 uraufgeführte und mit dem erstmals verliehenen ‚Staatspreis‘ ausgezeichnete Film spielte zwar im Jahr 1928 und fernab von Polen: In Harbin, an der russisch-chinesischen Grenze fliehen Wolgadeutsche, verfolgt von den sowjetischen Russen, in den Wirren der japanischen Besetzung und des beginnenden chinesischen Bürgerkriegs in die Internationale Zone, wo ihnen allerdings keine Hilfe zuteilwird, denn die Hohe Kommission ist eine bürokratisch quasselnde, selbstlähmende Institution, Zerrbild von deutschem Parlament und Völkerbund gleichermaßen. Da erwächst in Gestalt von Hans Albers der rettende Führer: „Für etwas sterben zu können ist doch das Beste.“ In der Heimat war er als Patriot ins Gefängnis geworfen worden; der Märtyrer der nationalen Sache ist nun Instrukteur der Kuomintang. Unter dramatischen Wirren und Kämpfen, Verlusten und Opfertod gelingt es dem Unbeugsamen am Ende, gegen alle Widerstände und Fährnisse eine Lokomotive eigenhändig instand und den Zug in Richtung Heimat und Freiheit unter Dampf zu setzen.15 Topisch festgeschriebene Verfolgung und Heimweh, Vertreibung und Heimkehr der Deutschen grundieren propagandistisch die inverse Realität: Eroberung, Expansion und Unterwerfung der anderen. Auf dieser Folie erscheint der Krieg nurmehr als rettende Befreiungsbewegung, technisch exakt wie überlegen, blitzschnell, effizient – und natürlich erfolgreich.

Luftwaffe schlägt zu! „Deutschlands junge Adler haben ihre Schwingen entfaltet, und schon ihre ersten Flüge haben gezeigt, dass sie sie kühn und kraftvoll zu regen verstehen“ – unter Rekurs auf das propagandistisch noch und noch kodierte Bild entfaltet Supf in seinem Buch ein lebhaft wechselndes Bild des Krieges aus der Vogelperspektive und Einzelerlebnissen. „Über zurückweichende polnische Kolonnen, über brennende Dörfer, über liegengebliebene und von den Polen geplünderte Eisenbahnzüge“ – was alles man aus der Luft sehen kann! –, „über eingestürzte Brücken brausen unsere Maschinen.“16 Zwischen all den triumphalen Schilderungen wird dann immer mal wieder erinnert, warum dies alles sein muss, z. B. weil der 3. September 1939 zum „Blutsonntag von Bromberg“ wurde: „Frauen und Mädchen wurden geschändet und mit Gewehrkolben erschlagen. Andere müssen zusehen, wie man ihre Männer und Kinder abschlachtet.“ Und so der illustrierenden Grausamkeiten noch einige mehr, bis die deutschen Truppen in Bromberg einziehen, „in eine Stadt des tausendfachen Martertodes.“17 Selbst abgeschossen oder abgestürzt sind die deutschen Flieger noch überlegen, entkommen findig den hilflosen 15

16 17

Vgl. dazu grundsätzlicher Manuel Köppen: Mit dem ‚Dritten Reich‘ um die Welt. Kodierungen der Fremde im fiktionalen Film. In: Kunst der Propaganda. Der Film im Dritten Reich. Hg. v. Manuel Köppen und Erhard Schütz. 2. Aufl. Bern u.a. 2009, S. 247–282, hier bes. S. 247ff. Luftwaffe schlägt zu! (Anm. 5), S. 31 u. 34. Ebd., S. 48.

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Polen, um sich alsbald wieder zum Kampf zurückmelden zu können. Strikt nach kriegsrechtlichem Komment halten sie sich daran, lediglich militärische Ziele anzugreifen. Doch leider beteiligt sich auch, „[f]anatisiert und aufgehetzt[,]“ die Zivilbevölkerung am Widerstand. „Von allen Dächern, aus allen Fenstern wurde auf die vorgehenden deutschen Truppen geschossen.“ Da kann man diese denn leider nicht mehr schonen. Stolz wird schließlich bilanziert, dass der Angriff auf Warschau bisher „der größte Einsatz von Flugzeugen“ war, „der in der Kriegsgeschichte aller Völker auf ein Ziel, selbst von der Größe einer Millionenstadt, erfolgt ist.“18 „Jetzt setzt das Inferno ein, jetzt beginnt der Höllentanz. Zahllose deutsche Flugzeuge stürzen aus dem Wolkenhimmel wie gespenstige Schatten herab auf die verlorene Stadt. Brände lodern auf, vom Morgenwind zu hellen Flammen entfacht. Schwarze Rauchwolken ziehen über flatternde Feuerfahnen.“ Und so fort. Was die Schrift, bei aller sprachlichen Beschwörungskraft und Assistenz durch reproduzierte Fotografien, nur unzulänglich darstellen kann, wird dann im Film zur Apotheose infernalischer Vernichtung gesteigert.

Feuertaufe „Die deutsche Luftwaffe hat im polnischen Feldzug ihre erste große Feuertaufe empfangen. Sie hat sie siegreich und heldenhaft bestanden. Mit blitzschnellen, wuchtigen Schlägen wurde die Widerstandskraft des Gegners zur Luft innerhalb zweier Tage gebrochen.“19 – das Stichwort, das Göring dem Buch vorangestellt hatte, wird vom Titel des großangelegten ‚Dokumentar‘-Films aufgenommen: Feuertaufe. Anders als der am 8. Februar 1940 in der Regie von Fritz Hippler aufgeführte Film Feldzug in Polen, war Hans Bertrams Dokumentation Feuertaufe, die am 6. April 1940 uraufgeführt wurde, explizit als Hohelied der jungen Luftwaffe gedacht. Hans Bertram war prominent durch seinen Bestseller Flug in die Hölle (1933),20 der bis 1945 eine Auflage von 7 Millionen erlebte, vor allem aber war er neben Karl Ritter der Regisseur, der sich auf Flieger- und Luftwaffenfilme spezialisiert hatte. „Die Aufnahmen sind entstanden während der Kampfhandlungen. Echt und schlicht sind diese Bilder. Hart und unerbittlich wie der Krieg selbst.“ Das sollte die Darstellung beglaubigen, zusätzlich authentifiziert durch die Namen derer, die dabei als Kriegsberichterstatter für ‚Volk und Vaterland‘ gefallen waren. Auch hier fehlt nicht die begründende Exposition: England hatte Polen einen ‚Freibrief‘ zur Vertreibung der Volksdeutschen und zur Attacke auf das Reich ausgestellt. Dem folgt die Sequenz eines Zuges Vertriebener: „Was haben diese Menschen leiden müssen! Und nur, weil sie Deutsche sind.“ Im Wechsel von Sequenzen des Lufteinsatzes, seiner jeweiligen Wirkungen am Boden, dazu immer wieder animierte Karten, die die Dynamik des Frontverlaufs illustrie18 19 20

Ebd., S. 93. Göring in ebd. Hans Bertram: Flug in die Hölle. Bericht von der ‚Bertram-Atlantis-Expedition‘. Berlin 1933.

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ren, liefert der Film – im Gegensatz zu den Wochenschauen, die immerhin Ruhe- und Ablenkungsszenen einbauten – insgesamt ein unentwegtes Stakkato an Destruktionssequenzen, in einer „Art Zweischichten-Erzählung. Oben sind die Deutschen mit ihrer Technik in geordneten Formationen, unten die Polen im Chaos.“21 Unter dem Gesang von Norbert Schultzes Bomben auf Engelland – hier singt man allerdings einstweilen noch von „Bomben auf Polenland“ – fliegen sie los. Weihevoll kommentiert: „Weit hinein in Polens Herz stößt des deutschen Schwertes Spitze vor.“ Dabei wird auch hier wieder die ausschließliche Aufgabe, „militärische Ziele [zu] treffen[,]“ besonders betont: „Aufmarschstraßen, Bahnlinien, Flugplätze, Nachschubkolonnen.“ Ebendies wird nun Sequenz für Sequenz illustriert. Luftaufnahmen in Vogelperspektive wechseln mit Querblicken der Flugzeuge untereinander: „Achtung! Aufmarschstraße. Klar machen.“ Oder: „Eisenbahnknotenpunkt“ „Fertig. Los!“ Treffer werden zunächst aus der Luftperspektive gezeigt – sichtbar als Explosionen und Rauchwolken. Kommentiert: „Im Stahlgewitter hat sich die geballte Kraft der deutschen Luftmacht entladen. [...] Die Aufgabe ist erfüllt.“ Gefolgt von einer langen Einstellung, mit Blick von oben, auf die Auswirkungen. Die nächste Aufgabe wird ebenfalls aus Vogelperspektive angekündigt: „Deutsche Stukas werden die Bunker dieser Befestigung zusammenhämmern.“ Wieder werden die Konsequenzen aus der Luft dokumentiert. So folgen Angriffs- und RückkehrSequenzen in ständigem Wechsel. Zunehmend erweitert sich die Konstellation. Zunächst wieder Stukas mit Blick nach unten und quer, Sturzaufnahmen. Dann bewegte Kartenbilder und nun auch ein Blick von unten auf die Luftgeschwader. „Wir sind in Feindesland. Wollen einmal feststellen, wie es nach einem Luftangriff auf der Erde aussieht.“ Jetzt folgt aus der Bodenperspektive ein ausgiebiges Panorama der Zerstörung von Infrastrukturen wie Bahnen, Gleisen, Anlagen und Fabriken: „Alles wichtige militärische Ziele. […] In wenigen Tagen zerstört.“ Unterlegt mit getragener Musik: „Hier, was von der polnischen Luftwaffe übrig blieb. Skelett bei Skelett. Ein einziger Trümmerhaufen.“ Weiter geht es mit nun wieder freudig schmetternder Musik: „Wir fliegen von Bromberg nach Thorn.“ Das vorgebliche Ziel des Feldzugs wird einmal mehr in Erinnerung gebracht: „Über den Strom kehren Volksdeutsche in die befreite Heimat zurück.“ Und: „Der Vormarsch geht weiter.“ Darauf eine lange Sequenz von Kriegshandlungen am Boden. „17. September. Der letzte Tag der großen Entscheidungsschlacht im polnischen Feldzug. Das Ende der Vernichtungsschlacht im Weichselbogen. Die Luftwaffe greift in den Erdkampf ein.“ Geschwader werden von unten gezeigt, dazu in parallelen Sichtverbindungen. Gesang: „Wir fliegen zur Weichsel und Warthe.“ Es folgen Blicke von oben auf brennende Orte. Gesang: „Bomben auf Polenland.“ Unter wagnerianisierender Musik: „…und nun drauf mit Tod und Verderben.“ – „Bomben regnen vom Himmel. Ein Stahlhagel.“ Bilder vom „Rückzugsweg des zer21

Manuel Köppen: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg 2005, S. 330.

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schlagenen polnischen Heeres,“ wieder Blicke aus der Vogelperspektive auf Straßen und Ketten von Rauchsäulen. Immer wieder Flug, Rückkehr, Munition laden, Flug: „Noch einmal sind sie gestartet, das nächtliche Schlachtfeld zu erleben. Und wir werden diese Bilder niemals vergessen.“ Wieder von oben: „Feuersbrunst an Feuersbrunst,“ dann eine Fahrt in das Kampfgebiet, „in dem Polens Niederlage besiegelt wurde[:]“ „Durch die verwüsteten Straßen trägt der Wind das Feuer von Haus zu Haus“ und Nahaufnahmen von brennenden Fassaden, qualmenden Trümmern, Silhouetten von Ruinen. Flammen. Qualmwolken. So sind nun unter der Hand aus den ausschließlich militärischen Zielen bereits Wohngebiete und zivile Häuser geworden. Immer wieder ausgiebige Trümmerschwenks. Dann eine Ju 52, die mit Verwundeten beladen wird: „Ohne Verluste ist der große deutsche Sieg nicht erfochten worden. Die Ju 52 wird als Lazarettflugzeug eingesetzt [...]. So werden schwer verwundete Kameraden, die nur durch eine schwere Operation zu retten waren, in zwei Stunden sanft und sicher nach Berlin gebracht.“ Gefolgt von einer knappen Sequenz mit Blick auf eine kleine Gruppe Holzkreuze. Nach diesem retardierenden Memento geht es nun zum dramatischen Höhepunkt über: in den Kampf um Warschau. Zu Bildern von brennenden Häusern und rauchenden Trümmern heißt es jetzt auch explizit: „Große Städte und Dörfer im Kampf oder beim Rückzug verbrannt. Und von Häusern stehen nur noch Kamine wie Leichensteine auf einem Gräberfeld.“ Dieses Panorama geht über in Bilder des zerstörten Flugfelds von Warschau. Flugblätter werden abgeworfen, doch die Aufforderung zur Kapitulation bleibt erfolglos: „Die Geduld der Heeresleitung ist zu Ende.“ Es ist der 25. September. Man will jetzt endgültig den „Widerstand brechen.“ Wieder mit getragenem Pathos: „Das Drama einer Stadt vollendet sich. Am frühen Morgen beginnt das Bombardement.“ Die Metapher vom Kriegstheater setzt sich auch bildlich um. Der Luftkampf wird zum Schauspiel eines gleichsam göttlichen Strafgerichts, die Zuschauer blicken wie aus Götterlogen zur Bühne hinab: „Nach wenigen Stunden schon schwebt wie ein schwarzgrauer Vorhang eine Rauchwolke über dem Häusermeer.“ Lange Luftaufnahmen der brennenden Stadt werden kommentiert mit der abermaligen Erinnerung an angebliche Ursachen und an das „Verbrechen“, die offene Stadt in eine Festung verwandelt zu haben. Weiterhin Überflüge bei pathetisch-getragener Musik. Rauchschwaden und Wolken im Wechsel. Brennender Boden, Luftwaffe, Boden, Luftwaffe in ständigem Wechsel. Dazwischen kurze Rückkehr zur Rollbahn. „Während der Zwischenlandung einen Schlag aus der Gulaschkanone. Dann geht’s wieder los über die Stadt. Flug um Flug.“ Nun im Pathos des Naturerhabenen: „Grell steht die Sonne auf den weißen Kumuluswolken, die durch die Brandhitze zu starren Türmen emporgehoben, wie ein gigantisches Gebirgsmassiv aufragen. Darunter liegt die Hölle.“ – „36 Stunden später kapituliert Warschau.“ Inszeniert wird so ein quasi göttliches Strafgericht von oben,22 Strafe für die Folgen von Versailles und Strafe für die Vergehen gegen die Volksdeutschen. Dem folgt die 22

Vgl. ebd., S. 330f.

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Illustration der Folgen dieser Strafaktion buchstäblich auf dem Fuß, nämlich aus Bodenperspektive: Schier endlose Bilder der zerstörten Stadt, ausgiebige, lange Schwenks vermitteln Eindrücke vom Ausmaß. „Noch darf niemand die Stadt verlassen. Außer einer Gruppe von Waisenkindern.“ Nun noch einmal Überflug: „Auf diesem Flug sollte uns Herr Chamberlain begleiten.“ Wieder mit getragener Trauermusik unterlegt, Bilder um Bilder der Zerstörungen aus Luftperspektive: Rauchwolken, Trümmer, Ruinen. Sieben Minuten lang. „Was sagen Sie nun, Herr Chamberlain? Hier haben Sie das Ergebnis Ihrer gewissenlosen Kriegspolitik. [...] So ist es, wenn die deutsche Luftwaffe zuschlägt. Sie wird auch den Schuldigsten der Schuldigen zu treffen wissen.“ Daran schließen sich Bilder der Kapitulation an, Reihen gefangener Polen. Am 28. September marschiert eine deutsche „Vorhut“ in Polens Hauptstadt ein, begleitet wiederum von Sequenzen – nun überblendeter – Trümmer. Nach diesen ausgiebigen Eindrücken der Zerstörung wird die Bevölkerung von der Wehrmacht mit Lebensmitteln versorgt. Darauf noch eine Parade, Bilder von Hitler dazwischen geschnitten. Erneuter Überflug. In einer abschließenden Sequenz spricht der für die Luftwaffe zuständige Hermann Göring in die Kamera: „Bilder von höchster Eindringlichkeit vermitteln in diesem Film dem deutschen Volk den gewaltigen Eindruck des Polenfeldzugs, in Sonderheit der Tätigkeit der Luftwaffe. Diese Luftwaffe hat hier Beispiele vollbracht, die für immer unvergänglich sein werden.“ Was sie in Polen versprochen habe, werde „diese Luftwaffe in England und Frankreich halten. Auch hier wird sie den Feind treffen, schlagen und vernichten.“ Neuerlicher Aufstieg und Flug – nun begleitet vom Lied: „Bomben auf Engelland“. Was mit allen Mitteln darauf angelegt war, filmisch die absolute Überlegenheit und gnadenlose Unausweichlichkeit der kriegerischen Strafaktion zu demonstrieren, die unbedingte Wucht dieser Bilder totaler Zerstörung, im Verein mit einer damals – noch – ungewohnten, überdeutlich aggressiven Tonspur aus heulenden Motoren, MG-Salven und Kampfliedern, das zeitigte allerdings beim deutschen Publikum zwiespältige Wirkung. Es trug, so geheime Berichte des Sicherheitsdienstes, insbesondere beim weiblichen Teil, „wenig zur Kriegsbegeisterung bei.“23 Selbst Joseph Goebbels hatte in sein ‚Tagebuch‘ am 6.4.1940 notiert: „Der Film wirkt grandios, aber in seiner übersteigerten Realistik etwas zermürbend. Dementsprechend war auch am Schluß die Stimmung.“24 Vielleicht auch deshalb wurde dieser dokumentaristische um einen Spielfilm ergänzt, der mehr Raum zur Exposition narrativierter Handlungen, Konturierung einzelner Helden und vor allem auch Gelegenheit fürs Private ließ. Auch bei diesem führte Hans Bertram Regie. Kampfgeschwader Lützow wurde Ende Juni 1940 mit Außenaufnahmen im ‚Generalgouvernement‘ begonnen und hatte am 28. Februar 1941 in Berlin Uraufführung. Er war als Sequel von D III 88 konzipiert, zu dem Bertram das Buch geschrieben hatte. Am 26. Oktober 1939 uraufgeführt, hatte dieser Film in der Regie von Her23 24

Felix Moeller: Der Filmminister (Anm. 8), S. 234f. Vgl. auch Klaus Kreimeier: Die UFA-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. München und Wien 1992, S. 362. Nach Felix Moeller: Der Filmminister (Anm. 8), S. 235.

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bert Maisch noch in Vorkriegszeiten gespielt, in denen die neu errichtete Luftwaffe allerdings schon in ihren Manövern die nahe Zukunft antizipierte. Zugleich hatte der Film dazu gedient, die explizite Verbindung zu den Fliegerhelden des 1. Weltkriegs herzustellen und damit die Luftwaffe als deren legitime Erbin zu zeigen. In Kampfgeschwader Lützow befindet sich nun das Personal im ‚wirklichen‘ Krieg. Der Film – dessen Spielhandlung, die Rivalität zweier Fliegerkameraden um eine Frau, hier ignoriert werden kann – bezog sein dokumentarisches Material aus Feuertaufe. Seine Handlung setzt ein im August 1939, beginnend mit Luftaufnahmen: Flug, Wolken, Me 111,25 der Blick senkt sich auf einen Fliegerhorst. Dort sind Mannschaften und Maschinen zum Empfang des neuen Kommandeurs aufgestellt. Oberst Mithoff übernimmt das Geschwader. „Der wievielte Feldzug ist das denn jetzt bei Ihnen, Herr Oberst?“ „Weltkrieg, Baltikum, bißchen China, Spanien und nun Polen.“ Das zeigt nicht nur die Erfahrung des alten Haudegens, sondern illustriert auch die kriegerische Kontinuität bis dahin. Dann gibt es Alarm. Die Me 111 fliegen auf. Das Zielgebiet von oben. Bomben ab. Die Kamera gleitet am Boden über zerstörte Maschinen auf einem polnischen Flugplatz. Dann der aus Feuertaufe schon bekannte Wechsel Luft/Boden. Ob im Kampf mit altertümlichen polnischen Doppeldeckern oder im Bombardement einer Brücke – „Hinein!“ „Und auf ein Neues!“ –, die Angriffe gelten natürlich auch hier ausschließlich militärischen Zielen. Während des Rückfluges vom Kampfeinsatz entdeckt man auf der Straße eine Gruppe: „verschleppte Volksdeutsche.“ Aus der Luftperspektive sieht man rennende Zivilisten, von polnischen Soldaten verfolgt. Ein Pole reißt ein Fahrrad an sich. „Schweinebande.“ Man attackiert die Polen aus der Luft. Sie fliehen. Die beiden Protagonisten landen und fordern die Gruppe auf, „nur zwei, drei Tage durchzuhalten.“ „In zwei Tagen sind deutsche Truppen hier.“ Deutsche Soldaten stürmen voran. Stukas kippen ab. Sturzflug auf Häuser. Einschläge, Explosionen, Trümmer. Wechsel Flugzeug/Wirkung. Dann wiederum von oben fliehende Zivilisten und stürmende Soldaten. Ruinen. Panzer dringen in ein brennendes Dorf ein. Auch hier versorgt anschließend die Feldküche Zivilisten. Volksdeutsche Zivilisten und Soldaten mit Ziehharmonika singen herzerweichend heimatliche Lieder. Einmal mehr wird so der angebliche Kriegsgrund illustriert. Während eines weiteren Kampfeinsatzes muss eine Maschine in einem Sumpfgebiet notlanden. Die Kameraden können nicht zu ihr vordringen. Die vier Notgelandeten versuchen mithilfe einer Draisine auf den Eisenbahnschienen über den Fluss zu gelangen. Diese Episode ähnelt auffallend einer aus Peter Supfs Buch: Da berichten zwei notgelandete Stuka-Flieger, wie sie nachts mithilfe einer Draisine Richtung Südwesten fahren, bis plötzlich einen Meter vor ihnen ein Abgrund sich auftut. Es ist ein riesiger Bombenkrater. Den hatten sie, wie sich angeblich an der Silhouette der Umgebung 25

Nicht Stukas, wie ich fälschlicherweise im ansonsten ausführlicher und grundsätzlicher das hier Verhandelte einbettenden Aufsatz Flieger-Helden und Trümmer-Kultur. Luftwaffe und Bombenkrieg im nationalsozialistischen Spiel- und Dokumentarfilm. In: Köppen, Schütz (Hg.): Kunst der Propaganda (Anm. 15), S. 89–136, hier S. 109, geschrieben hatte.

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herausstellt, selbst erzeugt. „Mensch, da haben wir uns ja selbst den Rückzug damit abgeschnitten!“26 Im Film nähern sich die Protagonisten einer Brücke, auf die justament da ein Stuka seinen Bombenangriff fliegt. Sie können sich gerade eben noch retten: „Meine Herren. Von unten hat die Sache doch gewisse Schattenseiten!“ So wird, was in Feuertaufe illustrativ wuchtig ausgebreitet worden war, mittels Schnoddrigkeit angesprochen und zugleich abgebogen. Später in diesem Film fliegt man dann schon Kampfeinsätze über England. Bei einem darf einer der Protagonisten sich für die Kameraden opfern und den Heldentod sterben. Ein eingeblendetes Telegramm deutet es uns: „Gefallen für Großdeutschland,“ dann: erneuter Flug: „Wir fliegen gegen Engelland...“ Wolken. Ende.

„ – diesmal für den Film“ Mit diesem Weiterzug gen England könnte man die Darstellung des zunehmend weniger gloriosen Luftkriegs hier enden lassen, in der Gewissheit, dass der propagandistische Furor ebenso zunehmend von der Realität Lügen gestraft wurde, in der Gewissheit allerdings auch, dass die Deutschen, ob in der Heimat oder an der Front, ob sie an die propagandistischen Verheißungen noch glauben wollten oder nicht, während die Realität immer perniziöser, die Flimmerwelt des Films insgesamt immer heiterer und harmloser wurde, sich verzweifelt wie verbissen an diesen Krieg und sein verbrecherisches Regime klammerten, sodass sie am Ende durch die Alliierten vor sich selbst geschützt und von sich selbst befreit werden mussten. Indes soll hier ein Text die Koda bilden, der es nicht beim Siegestriumph beließ, sondern die Opfer noch einmal verhöhnte – und eine Ahnung gibt vom Ausmaß der rassistischen Verachtung, die in die Vernichtungsmaschinerie führte. Dabei scheint dieser Text auf den ersten Blick ganz harmlos: Ein Bericht vom Set, nämlich bei den Dreharbeiten für Kampfgeschwader Lützow. Gerhart Weise, einer der eifrigen Multifunktionsschreiber des Propagandaministeriums,27 besuchte, nachdem er schon im August in einer großformatigen Folge im Angriff aus dem besetzten Paris berichtet hatte, im September 1940 für diesen das deutsche Drehteam um Hans Bertram bei seinen Außenaufnahmen in Polen, im nunmehrigen ‚Generalgouvernement‘. Die Schlagzeilen des ganzseitigen, illustrierten Textes verkünden – kleiner – „Ein polnischer Fliegerhorst wird zerschlagen[;]“ und fett: „Noch einmal Krieg in Polen[,]“ wobei passenderweise die Punkte auf den beiden ‚i‘ durch Zeichnungen von Explosionen ersetzt sind. Untertitelt: „Die Hölle von Wyschkow – diesmal für den Film.“28 Das ca. 60 Kilometer nördlich von Warschau gelegene Wyschkow, das übrigens auch bei Supf 26 27 28

Luftwaffe schlägt zu! (Anm. 5), S. 71. Vgl. ausführlich zu Gerhart Weise und seinem Umfeld Eva Züchner: Der verschwundene Journalist. Eine deutsche Geschichte. Berlin 2010. Gerhart Weise: Noch einmal Krieg in Polen. Die Hölle von Wyschkow – diesmal für den Film. In: Der Angriff, 22. September 1940, S. 3.

Der Luftkrieg gegen Polen in der Propaganda des Nationalsozialismus

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als Wyszkow erwähnt und abgebildet wurde, bekommen die Leser erklärt, wurde im Zuge der Eroberung der Bug-Übergänge durch Bomben und Artilleriefeuer zerstört. „Und hier kam dazu, dass eine Horde vertierter Polen deutsche Verwundete in den Straßen erschossen hatte. Von Wyschkow ist wenig übriggeblieben. Die Bewohner des Dorfes haben es nicht anders gewollt.“ Ausgerechnet an diesem Ort haben die deutschen Filmer ihr Quartier aufgeschlagen, in sechs Salonwagen des einstigen Nordexpress. „Ein echter Fliegerfilm braucht frische Luft, Natursonne, wirkliche fliegerische Perspektive und echte Atmosphäre.“ Der Film, erläutert Weise, solle Wochenschauaufnahmen und Dokumentarfilm „mit der – während des Kampfes ja unmöglichen – Darstellung beider Fronten ergänzen.“ Der „ganze Krieg ist im verkleinerten Format noch einmal in Polen eingezogen,“ und: „Der Feind, den man sonst nur von oben, aus der Ferne oder gefangen zu sehen bekam, spielt mit.“ Durchaus kundig berichtet Weise sodann von den technischen Zurichtungen und Kameratricks, aber auch von den als Requisiten eingesetzten Beutewaffen, Tanks und Kanonen, die, das hebt er hervor, allesamt aus England und Frankreich stammten. Wenn die Sonne gut ist, bieten nun die Tage von Wyschkow am Bug ein eigenartiges Bild. Lehmgelbe polnische Tanks rollen in langer Kette […] durch windschiefe kleine Panjedörfer. In den Türmen stehen polnische Soldaten. Am Himmel kreuzen ein paar Curtiß [= Curtiss, in England produzierte polnische Militärflugzeuge, der Verf.] friedlich neben MesserschmittJägern. Und später fallen die Stukas vom Himmel, um ein paar der Ruinen, die äußerlich wiederhergerichtet worden sind, aus dem Mörtel zu heben und in Sprengfontänen zu pulverisieren. […] Der Krieg in Polen ist wieder in Gang. Stichflammen, Rauch in langen Schwaden, das Peitschen der Schüsse, das dumpfe Getöse einschlagender Bomben, das Orgeln der Granaten, das Plärren einstürzender Giebel, das wilde Laufen mit gezogenen Maschinenpistolen blindwütig hinein in das berstende Chaos – auf einmal ist das alles wieder da.30

So evoziert Gerhart Weise, der bis zuletzt selbst nie Soldat war, lebhaft den Krieg, um, was ein nachdenklich stimmendes Moment traumatisierender Zerstörung hätte sein müssen, effektbewusst in jene rassistische Verachtung zurückzuführen, die am Anfang von all dem stand und zu einem da noch ungeahnten, furchtbaren Ende führen sollte: „Die Polen von Wyschkow kommen aus ihren Kellern und Bretterbuden und stellen sich mit leeren Gesichtern und glotzenden Augen am Rande der fürchterlichen Erinnerung auf. Sie sind vollkommen gleichgültig. Sie sind stumpf. Sie haben all das hinter sich.“

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Vgl. Luftwaffe schlägt zu! (Anm. 5), S. 20f. und 110. Weise: Noch einmal Krieg in Polen (Anm. 28), S. 3.

ANDRZEJ GWÓŹDŹ

Als es noch keine deutschen Staaten gab… Kriegsbilder im deutschen Zonenkino 1945–1949

Die Jahre 1945–49 bilden keine klar umrissene, einheitliche filmhistorische Zäsur, sondern lediglich einen schemenhaften Rahmen innerhalb der politischen Geschichte Nachkriegsdeutschlands. Auch wenn es lohnt, sich auf den Vorteil des Kriegsendes auf der einen und die Teilung Deutschlands auf der anderen Seite zu berufen, muss man dies selbstverständlich in dem Bewusstsein tun, dass die Politik selten in einem solchen Maß über die künstlerischen Erscheinungen entschied, ja, ihnen sogar einen geopolitischen Rahmen zuwies, wie zu jener Zeit im in Besatzungszonen aufgeteilten Deutschland. Diese Situation verkomplizierte sich zusätzlich durch die Tatsache, dass der Charakter jener Zäsur weitgehend konventioneller Natur war, lassen sich Filmproduktionen doch kaum in Gänze durch die Dynamik des politischen Lebens fremdbestimmen: Filme, die während der Besatzungszeit entstanden, wurden in West- bzw. Ostdeutschland fertiggestellt und sind als solche in die Kinogeschichte eingegangen, wohingegen diejenigen, deren Produktion unter der Vormundschaft der Sowjetunion vor der Entstehung der DEFA im Mai 1946 begonnen hatte, automatisch zu DEFA-Produktionen wurden, so auch der Film Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte oder Irgendwo in Berlin von Gerhard Lamprecht, ein anderer DEFA-Film, der bereits vor der Gründung der AG in Produktion ging (im Vorspann gibt es noch kein Logo der DEFA, dafür aber den vollen Namen der Firma). Es ist schwer, von einem ‚letzten‘ Film oder ‚letzten‘ Filmen zu sprechen, denn ob ein Film vor September, im September oder gegen Ende 1949 beendet wurde, wird kaum als frappierender Unterschied wahrgenommen werden können. Die DEFA, als Deutsche Film Aktiengesellschaft kraft sowjetischer Lizenz im Mai 1946 ins Leben gerufen, wurde ab November des darauffolgenden Jahres in eine sowjetisch-deutsche Gesellschaft umgewandelt, die unter der faktischen Führung von Ilja Trauberg sowie der Kontrolle des Unterausschusses des Zentralkomitees der SED stand, welcher, als inneres Organ in die Verwaltungsstrukturen der Partei eingeschrie-

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ben, die Studios in Babelsberg im Rahmen der Kriegsreparationen unter absoluter Kontrolle hatte (Deutsche durften das Studiogelände erst ab 1948 betreten).1 Man darf nicht außer Acht lassen, dass das Gesetz 191 der Alliierten vom 24. November 1944 jegliche Aktivitäten der Deutschen, die mit der Produktion oder dem Vertrieb von Filmen sowie der Leitung von Kinos (wie überhaupt mit jeglicher Tätigkeit im Bereich der Medien) verbunden waren, verbot und dass Überarbeitungen desselben Gesetzes, die gleich nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 12. Mai 1945 in Kraft traten, solche Aktivitäten nur nach Einholung einer Erlaubnis bzw. Lizenz zuließen. Demzufolge muss die ökonomische Basis des Kinos als brüchig bezeichnet werden, die mit dem Film verbundenen Unternehmen waren äußerst diffus und kurzlebig zugleich. Nur die DEFA bildete verhältnismäßig klar umrissene Strukturen,2 die einheitliche ökonomische Herstellungsgrundlagen entstehen ließen (dafür sahen sich die hier produzierten Filme am stärksten dem Druck der Ideologie ausgesetzt), die – institutionalisiert in der Gestalt eines staatlichen Unternehmens – bis zum Ende der DDR eine Monopolstellung innehatten. Trotz der Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen kann bis ins Jahr 1949 hinein von einem ‚gesamtdeutschen‘ Kino gesprochen werden,3 denn die Produktionen in den verschiedenen Besatzungszonen unterscheiden sich weder in Bezug auf ihre Thematik noch auf die Wahl filmischer Mittel wesentlich voneinander, wenngleich sich die Filme der DEFA durch einen Überschuss an persuasiven Elementen im Geiste der kommunistischen Ideologie auszeichnen. Des Weiteren sind die damaligen Filme thematisch teils eng verbunden, da sie ein grob als ‚antikriegerisch‘ zu bezeichnender Wesenszug eint, wobei diesem Merkmal noch kein dezidiert vergangenheitsbewältigendes Element innewohnen muss. Übrigens war der Ruf nach einem vereinten deutschen Kino, jenseits der Einteilung in Besatzungszonen, auch während des ersten (und einzigen) Deutschen Kongresses der Filmautoren zu vernehmen, der im Juni 1947 auf Antrag aller Besatzungsmächte in Ostberlin einberufen wurde. Maetzig warnte damals davor, auf „Richt1

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Den Kern der DEFA bildete ein sechsköpfiges Filmaktiv, das aus Filmschaffenden bestand, die entweder Mitglieder der KPD oder mit dem proletarischen Kino der Weimarer Republik verbunden waren. Ihm gehörten u. a. Kurt Maetzig, Alfred Lindemann sowie Hans Klering an; vgl. Ch. Mückenberger: Zeit der Hoffnungen 1946 bis 1949. In: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946–1992. Hg. v. R. Schenk. Berlin 1994, S. 14–15. Das Anfangskapital der DEFA spielte die noch durch den Propagandaapparat von Goebbels produzierte Fledermaus von Geza von Bolváry ein, welche 1946 auf die Leinwand gebracht wurde und das Kino des Dritten Reiches unter der Fahne der DEFA sanft in eine neue Zeit leitete. Zu den mit den Anfängen der filmischen Produktion in der sowjetischen Besatzungszone verbundenen Einzelheiten vgl. H.-O. Weichenhan: Neuer Anfang unter sowjetischer Ägide. In: Babelsberg. Ein Filmstudio 1912–1992. Hg. v. W. Jacobsen. Berlin 1992, S. 271–276. Vgl. Th. Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme. In: Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946–1963. Hg. v. H. Hoffmann, W. Schober. Frankfurt/Main 1989, S. 32–59, hier S. 35. Vgl. S. Hake: Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895. Reinbek bei Hamburg 2004, S. 158.

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linien von oben“ zu warten, „welche Filme wohl jetzt ‚erwünscht‘ und welche ‚unerwünscht‘ wären […], denn dem Künstler, der innerlich frei ist, das heißt, der die Vergangenheit überwunden hat, sind heute keine Schranken in seinem künstlerischen Schaffen gesetzt.“4 Der konsequente Antifaschismus, der, damals noch nicht zu einer einzig gültigen Parteidoktrin erstarrt, die Filme für vorläufige politische Zwecke zu instrumentalisieren trachtete (zumindest in Ostdeutschland), verband einstweilen die Kreativen aus Ost und West. Es kommt noch hinzu, dass sich Künstler zum damaligen Zeitpunkt frei zwischen den Zonen bewegen und an Produktionen teilnehmen konnten, sofern die verschiedenen Besatzungsmächte ihre Lizenz erteilten. Dass die Kreativen selbst keinen großen Wert auf geopolitische Gegebenheiten legten, da sie sich glücklich schätzen konnten, überhaupt eine mit ihrem Beruf verbundene Arbeit gefunden zu haben, unterläuft die starre Differenzierung in Ost- und Westkino (der Deutsche aus dem Westen, Wolfgang Staudte, wird noch 1955 Brechts Mutter Courage und ihre Kinder in der DDR verfilmen, sein Film wird jedoch unvollendet bleiben). Diese Situation änderte sich mit dem Fortschreiten des Kalten Krieges: während bis 1949 eine Mehrheit der Filme der ostdeutschen DEFA auch in den westlichen Besatzungszonen gezeigt wurde, nahm dieser Wert drastisch ab, sodass von den Produktionen aus dem Jahre 1950 nur vier Filme aus Ostdeutschland in der BRD erschienen.5 Um es kurz zu fassen: Filme, die in der Zeit zwischen Kriegsende und der Herausbildung zweier deutscher Staaten entstanden sind (und dazu gehören mehr als 50 Produktionen6), sind keine ‚deutschen Filme‘ im engen Sinne des Wortes, denn noch existiert kein deutsches Staatswesen (obwohl eine zentrale deutsche Verwaltung in der sowjetischen Besatzungszone bereits am 10. August 1945 ins Leben gerufen wird), es sind vielmehr Filme, die auf deutschem Boden innerhalb der vier Besatzungszonen und unter völliger Kontrolle der alliierten Mächte entstanden sind, mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Produktion, allen voran der Notwendigkeit des Lizenzeinholens. Dennoch sind die Filme, von denen im Folgenden die Rede sein wird, mitnichten Kriegsfilme im Sinne der Gattung (denn solche gab es zur damaligen Zeit schlichtweg nicht); der Krieg wird in ihnen vielmehr mit der historischen Zeit gleichgesetzt, in der die fiktive Handlung spielt. Selbstverständlich ist es haltlos, von Filmen der unmittelbaren Nachkriegszeit große Schlachtenmalereien von der Front zu erwarten, ist doch die Abwesenheit des Krieges in ihrer Funktion als zentrales Narrativ zu bedenken. Jener Eskapismus wird meist durch die Strategie der Ersetzung des Krieges (und seiner parallelen Instrumentalisierung) durch andere Erzählstränge herbeigeführt. Die meisten die4 5 6

Zit. nach D. Wolf: Gesellschaft mit beschränkter Haftung. In: W. Jacobsen (Hg.): Babelsberg (Anm. 1), S. 257. Zit. nach Th. Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer (Anm. 2), S. 41. Ein detailliertes Verzeichnis der Produktionsfirmen mit den in der unmittelbaren Nachkriegszeit produzierten Spielfilmen liefert P. Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm 1946–1948. Münster 1965, S. 459f.

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ser Produktionen stellen nämlich zeitgenössische Werke dar, in denen der Krieg in Form von mehr oder weniger ausgebauten Rückblicken und/oder Introspektionen (oft stellen diese nur kurze Einschübe dar) auftritt, die den Prozess der moralischen Erneuerung der Helden legitimieren, welche sich vor sich selbst und vor ihren Nächsten, sehr selten jedoch vor der Geschichte, verantworten müssen. Dies geschieht jedoch unter Ausschluss jedweder vertieften Reflexion über die Ursachen des Krieges, über die Schuldfrage und die Verantwortung für den Krieg, oder der Krieg wird so schematisch dargestellt, dass er im Grunde seiner Natur als historisches Ereignis zugunsten der Interpretation als einer nicht näher bestimmten zivilisatorischen Katastrophe, nach der etwa Städte in Schutt und Asche gelegt wurden, beraubt wird. Der Krieg nimmt plakative Züge an, er tritt als Bildfolge von zerbombten Städten, Luftangriffen, Kellern und Bunkern und somit als allgegenwärtiger Angst- und Elendstopos in Erscheinung; manchmal sind es Schnappschüsse von der Front (so etwa in Liebe ’47 von Wolfgang Liebeneiner, der auf Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür basiert) – hier erscheint der Krieg als wenig mehr denn ein bloßer Handlungskatalysator, nicht selten gar durch eine von vornherein feststehende Lesart, meist eine kommunistische (in den antifaschistischen Filmen der DEFA) oder existenzielle (in jenen mit der Lizenz der westlichen Behörden) prädisponiert.7 Das bedeutet, dass der Krieg in diesen Filmen eine Art Bindeglied zwischen Altem und Neuem ist, obschon er selbst keine vertiefte politische Auslegung erfährt und vielmehr eine notwendige Episode darstellt, die aufgrund einer der Handlung zugeschriebenen ideologischen Aussage erscheinen muss. Diese Rolle hat der Krieg als Konstrukt innerhalb filmischer Artefakte der unmittelbaren Nachkriegszeit inne – und zwar ungeachtet aller ästhetischen Unterschiede sowohl in den Filmen aus der SBZ (Die Buntkarierten von Kurt Maetzig, 1949) als auch in jenen aus dem Westen (Berliner Ballade von Robert A. Stemmle, 1948, der mit drei Lizenzen entstanden ist: der britischen, amerikanischen und französischen, und Film ohne Titel von Jugert, mit einer amerikanischen Lizenz). Es geht also, allgemein gesagt, um Filme mit dem Krieg im Hintergrund, 7

Es erstaunt, dass der Krieg wohl nur in einem Film aus jener Zeit (und nicht nur dieser), in Die Brücke von Artur Pohl (DEFA, 1949), als die Ursache der Umsiedlungen aus dem Osten (vieles spricht dafür, dass es um die Gegend um Bolesławiec/Bunzlau geht) dargestellt wird. Die Umgesiedelten sind ‚die Fremden‘ in der neuen Stadt – dies bestimmt die Handlung des Films in so starkem Maß, dass er als reiner Umgesiedelten- oder Vertriebenenfilm bezeichnet werden kann, zumal der Krieg außerhalb der filmischen Handlung verbleibt. Motive der Umsiedelung erscheinen noch in einigen Filmen aus dieser Zeit: im Film Liebe ’47 von Liebeneiner ist die Heldin aus Ostpreußen geflohen, in Film ohne Titel von Rudolf Jugert (1948) stoßen wir auf eine Ehe aus Breslau, in In jenen Tagen von Helmut Käutner (1948) sehen wir eine Schlesierin auf dem Wege nach Hamburg, in Zwischen Gestern und Morgen von Harald Braun (1948) gibt es eine Stettinerin, die sich in München einzuleben versucht. Im Allgemeinen sind es im besten Fall mehr oder weniger als Vorwand dienende Retrospektiven, die anderen Erzählsträngen untergeordnet sind und keinen großen Einfluss auf die Aussage des Films haben, meist handelt es sich außerdem lediglich um verbale Informationen.

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welche den Folgen des Krieges (meist jenen moralischer Natur) bzw. seinen politischgesellschaftlichen Konsequenzen gewidmet sind. Die ideologischen Konflikte spielen sich in ihnen häufig zwischen Generationen ab, obzwar es nicht zwingend Konflikte weltanschaulicher Natur sein müssen. So geht es in dem ersten kraft amerikanischer Lizenz gedrehten Film ... und über uns der Himmel von Josef von Báky, 1947, mit dem UFA-Star Hans Albers in der Hauptrolle, um ‚Rechenschaftsberichte‘ innerhalb der Familie, die sich aus der Konfrontation des Fronttraumas des temporär erblindeten Sohnes8 mit der schwarzmarktgeschulten Schläue des Vaters ergeben.9 Der Held des Films trägt eindeutig Züge des Stars der UFA, sein Comeback wird als Wiederkehr des Schauspielers ‚aus dem Krieg‘ betrachtet. In den Filmen der DEFA dagegen verläuft die Grenze der ideologischen Front (in diesem Fall ist sie eindeutig politisch) quer über den Familientisch (Unser täglich Brot von Slatan Dudow, 1949),10 und der Krieg stellt in ihnen eine tragische, obschon unabwendbare Kulmination der imperialistischen Politik Deutschlands dar, die in das frühe Wilhelminische Reich zurückgeht. Dies wird stets gleichförmig dargestellt aufgrund der in ein moralisches Prinzip transformierten Lehre Johannes R. Bechers, die bereits während des Gründungsaktes der DEFA am 17. Mai 1946 in der Ansprache des Präsidenten der Zentralverwaltung für Volksbildung, Paul Wandels, in die Form einer ideologisch gefärbten Proklamation für das Kino gegossen wird: Der Film muß heute Antwort geben auf alle Lebensfragen unseres Volkes. Er muß den Erfordernissen gerecht werden, die die Zeit ihm stellt. Er darf nicht mehr Opium des Vergessens sein, sondern soll den breiten Schichten unseres Volkes Kraft, Mut, Lebenswillen und Lebens-

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Das Motiv der Blindheit des Sohnes wird in der Filmhandlung meisterhaft instrumentalisiert: die Autofahrt durch Berlin in die Augenklinik wird zum Anlass, die Trümmerstadt mit ihrem Bild vor der Zertrümmerung durch den Krieg, das der Held sich in Erinnerung ruft, zu konfrontieren. Es fällt die Mode jener Zeit auf, die Filme mit der Konjunktion ‚und‘ zu betiteln, in zwei Fällen werden noch untypisch vor das ‚und‘ Auslassungspunkte gesetzt – dies ist ein Beweis dafür, dass man eine gewisse Kontinuität in Zeiten bewahren will, in denen eigentlich ein totaler Neubeginn Sollnorm war. Neben dem Film von von Báky und Und finden dereinst wir uns wieder von Hans Müller (1947, britische Lizenz) betrifft dies den DEFA-Film Und wieder ’48 von von Wangenheim (1948) sowie …Und wenn’s nur einer wär von Wolfgang Schleif (1949); vgl. Th. Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer (Anm. 2), S. 32f. Traktoren, die die Fabrik des Sohnes verlassen, der den guten, weil sozialistischen Weg der Entwicklung des Landes (jenes tägliche Brot des ‚Arbeiter-und-Bauern-Staates‘) gewählt hat, und der moralische Verfall des bösen Sohnes, der sich mit den Kriminellen aus Westberlin eingelassen hat, werden miteinander kontrastiert – es ist dies einer der lebendigsten Gründungsmythen der DDR und zugleich ein konstantes ikonographisches Motiv des Sozialrealismus der DEFA, das noch in die späten fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts reicht, was man exemplarisch im Film Berlin – Ecke Schönhauser von Gerhard Klein (1957) sehen kann.

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freude spenden. Vor allem aber muß das Filmschaffen getragen sein von innerer Ehrlichkeit, die die Wahrheit sucht, die Wahrheit verkündet und das Gewissen wachrüttelt.11

Als Muster für jene Ideologie des Krieges als ‚Quintessenz des imperialistischen Übels‘ kann bis heute der DEFA-Film Rotation von Wolfgang Staudte (1949) angesehen werden, der, ähnlich wie Die Buntkarierten, die Geschichte einer Berliner Familie sowie viele Abschnitte enthält, welche die Endetappe der Kämpfe um Berlin zeigen. Staudte hat auf enorm suggestive Weise die Aufnahmen des monumentalen Dokuments von Julij Rajzman, Berlin (UdSSR 1945), mit der inszenierten Handlung verbunden und zeigt die letzten Tage der Hauptstadt des Dritten Reiches aus der Perspektive einer durch den Faschismus zersetzten Berliner Familie: der Sohn zeigt seinen Vater an, der die Produktion illegaler Anti-Kriegs-Schriften unterstützt und zugleich Mitglied der NSDAP ist, weil nur dies ihm ermöglicht, seine Arbeit zu behalten. Dieser wiederum kommt dank der Befreiung durch die Rote Armee gerade noch mit dem Leben aus den Moabiter Kasematten davon, die Mutter wird durch eine Kugel tödlich getroffen, als sie ihrem Ehemann zu Hilfe eilt, und der Hitlerjunge erreicht erst nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft ein adäquates Stadium der Reife, um seinen Fehler schließlich einzusehen und mit seiner Freundin gen strahlende Zukunft zu schreiten.12 Der Krieg um Berlin erscheint in Staudtes Film jedoch vor allem in Form des Motivs der Überflutung der Berliner Untergrundbahn infolge einer Sprengung der Brücken. Diese erscheint wahrheitsgemäß als ein unmenschlicher Akt der nationalsozialistischen Verachtung des Lebens der Zivilbürger, vorzugsweise der Frauen und Kinder, und wird in vollem Ausmaß als Hölle auf Erden dargestellt, versehen mit allen Attributen des filmischen Naturalismus und mit einer für den Regisseur typischen Fähigkeit, Dinge mit doppeltem Sinn zu belegen. So reicht das Leitmotiv des Gitters vom Laufgitter des kleinen Jungen, der bereits in seiner Jugend in die Fänge der nazistischen Ideologie gerät, über die Gitterstäbe eines mit Kanarienvogel im Wasser versinkenden Käfigs oder das Gitter, welches die Befreiung aus der Falle unmöglich macht, bis zur Eroberung des Gefängnisses in Moabit durch die Rote Armee. Kein Film über den Krieg ist auch Morituri von Eugen York (1948 mit der Erlaubnis der französischen Mächte gedreht), obwohl er der einzige in der Zeit von 1945–1949 entstandene Film ist, welcher sich vollständig im Bannkreis des Krieges bewegt und sich restlos durch die Dramatik der kriegerischen Grundstimmung determiniert zeigt. Morituri ist dennoch kein Kriegsfilm, sondern ein Okkupationsfilm, da sich seine Hand11

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Zit. nach H. Klering: Das erste Jahr. Ein neuer Anfang (unveröffentlichtes Manuskript von 1951); zit. nach Ch. Mückenberger: Zur Geschichte der DEFA bis 1949. In: Zur DEFA-Geschichte. Spielfilme 1946–1949. Folge II ‚Filmwissenschaftliche Beiträge‘ (1981), Nr. 1 (Sonderband), hier S. 57. Ein fast identisches Handlungsmuster, selbstverständlich mit gegensätzlichen Vorzeichen, exploriert der Hitler-Film Blutsbrüderschaft von Philipp Lothar Mayring (1940): der Druck der illegalen Pro-Hitler-Schriften bildet hier die Waffe, mit der gegen die kommunistische Bedrohung für Deutschlands Sache gekämpft wird. Solch eine Umkehrung war im Kino des Dritten Reiches nicht selten; ein typisches Beispiel bleibt der Film Hitlerjunge Quex von Hans Steinhoff (1933), der sich eines umgekehrten Schemas der proletarischen Filme der Weimarer Republik bedient.

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lung in Polen vollzieht. Der Film basiert übrigens auf der Biografie des Produzenten Artur Brauner, einem polnischen Juden, dem es gelungen ist, aus dem Lodzer Ghetto zu fliehen. Dieser Film von York und Brauner mit der Musik von Wolfgang Zeller (dem Autor der Filmmusik zu Jud süß von Veit Harlan) und mit Aufnahmen von Werner Krien, benutzt in seiner dramaturgisch-plastischen Konzeption die Klischees, die der filmische Expressionismus (einer der Szenographen ist Hermann Warm, der Mitschöpfer der plastischen Konzeption von Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene, 1919) und die UFA-Ästhetik, vor allem aus der Nazizeit mit ihrer klischeehaften Ikonographie, ihrer Neigung zu übertriebenen Nahaufnahmen, ihrem Überschuss an suggestiver, illustrierender Musik aufgestellt haben, wobei zugleich versucht wird, alles dies mit den Bruchstücken des Neorealismus zu verknüpfen. Diese Stilcollage wird auf die Topographie Polens übertragen, zu nennen sind hier die Strohdächer und Schwengel auf dem Dorfe, ferner der Wald, der mehr an Grimm’sche Märchen als polnisches Walddickicht erinnert sowie das schlechte Polnisch, das die Dialoge der deutschen Schauspieler, die die Rollen von Lidia, Bronek und anderen spielen, verunstaltet. Die gewichtigen Beobachtungen, dass man bereits 1948 die polnische Sprache als Sprache der vom Nazismus unterdrückten Nation auf der Leinwand hören kann sowie die Evidenz der Stilisierung des polnischen Lagerarztes zum positivsten Helden des Films (verheiratet mit einer Deutschen), welcher die Flucht einer Gruppe von Häftlingen aus aller Welt ermöglicht, verdienen Beachtung und Aufmerksamkeit. Wäre der Lodzer Brauner nicht stur und idealistisch genug gewesen, hätten wir auf die Zeichnung der polnischen Nation im deutschen Kino sicher länger warten müssen. Der Film von York richtet sich besonders deutlich gegen das vermeintliche Recht auf Selbstjustiz und die Zuschreibung einer kollektiven Verantwortung der deutschen Nation. Diese Faktoren dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung des Films in der sowjetischen Besatzungszone verboten wurde.13 Ebenfalls darf nicht vergessen werden, dass Morituri überhaupt der erste im Nachkriegsdeutschland realisierte Spielfilm ist, welcher ein Konzentrationslager zeigt. Er tut dies auf so paradigmatische Art und Weise, dass er bald als Darstellungskonvention des Lagerfilms kanonisiert wurde, insbesondere mit Blick auf die Initialszene des Appells.14 Die Mehrzahl der Filme aus den frühen Nachkriegsjahren verwendet eine für die Trümmerfilme typische Poetik. Eine Untergattung stellen die sogenannten Heimkehrerfilme dar, die sich – im Falle der Produktion unter DEFA-Bedingungen – meist durch eine ‚antifaschistische‘ Prägung auszeichnen und mit der Zeit in einem staatlich und 13

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Zu den sensationellen Einzelheiten aus der Produktion und dem Vertrieb des Filmes siehe mehr bei: Artur Brauner und die CCC. Filmgeschäft, Produktionsalltag, Studiogeschichte 1946–1990. Mit einer Filmografie von Rüdiger Koschnitzki und einem Anhang von Bernd Eichhorn. Hg. v. C. Dillman-Kühn. Frankfurt/Main. 1990, S. 27–38. Vgl. R. R. Shandley: Trümmerfilme. Das deutsche Kino der Nachkriegszeit. Berlin 2010, S. 143– 144. Es wäre weiterführend ein interessantes Unterfangen, diesen Film mit Die letzte Etappe von Wanda Jakubowska, der gleichzeitig in Polen realisiert wurde, zu vergleichen.

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politisch dekretierten Dogmatismus erstarren. Das narrative Muster dieser Filme reproduziert ein ziemlich einfaches Modell: Ein Mann kommt nach Kriegsende in seine Heimat zurück, sieht sich mit den allgegenwärtigen Zeichen der Zerstörung konfrontiert und zugleich gezwungen, seiner eigenen und – gleichsam als Verallgemeinerung – der Tragödie Deutschlands einen Sinn zuzuschreiben. Die Ruinen veranschaulichen dabei die ersehnte Auslöschung der Vergangenheit und das Versprechen eines Neuanfangs, der im Mythos von der Stunde null chiffriert war. Die Ruinenlandschaft der Großstadt gab aber vor allem die Kulisse für den notwendigen Schritt von Verzweiflung und Resignation zu Hoffnung und Selbstvertrauen ab.15

Es sind zumeist ‚Berliner Filme‘ – vor allem mit einem stark symbolisch akzentuierten Bild der Hauptstadt des Dritten Reiches als Synonym des zertrümmerten Deutschtums überhaupt (z. B. Berliner Ballade von Stemmle). In einer Art Sühnegeste der Filmemacher verweisen diese Filme auf Erlösung und Wiedergutmachung der Schuld durch die angekündigte Erneuerung der Filmhelden.16 Die soeben beschriebenen Trümmerfilme bilden die wohl einzige sich deutlich abzeichnende Strömung in der genannten Periode. Unabhängig davon, ob sie aus Babelsberg kommen oder in anderen über ganz Deutschland verstreuten Filmstudios verwirklicht wurden, sanktionieren sie auf diese Weise die Einheit der Produktionen aus Ostund Westdeutschland. Wenn man bedenkt, dass sowohl die einen als auch die anderen die programmatischen Ziele des Obersts Sergej Tulpanow realisieren, die während der feierlichen Verleihung der Lizenz der DEFA am 17. Mai 1946 benannt wurden (was praktisch die Inbetriebnahme der Nachkriegsproduktion von Filmen auf deutschem Boden bedeutete) – „Kampf um den demokratischen Aufbau Deutschlands und die Ausrottung der Reste des Nazismus und des Militarismus aus dem Gewissen eines jeden Deutschen, das Ringen um die Erziehung […] besonders der Jugend im Sinne der echten Demokratie und Humanismus, um damit Achtung zu erwecken für andere Völker und Länder“17 – bekommen wir ein weiteres Argument für die ideologische Einheit des damaligen Kinos in Deutschland. Dennoch sehen sich diese Filme ernsthaften Vorwürfen ausgesetzt, dass der Krieg in ihnen etwa in weite Ferne rückt und dadurch quasi ‚außerhalb der Reichweite‘ des Zuschauers bleibt (was die Wahrung einer gewissen Abstraktheit des Krieges nach sich zieht), und dass, wenn es der Krieg dann auf die Vorderbühne der Leinwand schafft, (was unter den genannten Titeln nur den ersten betrifft), er dann in eine keinesfalls adäquate Poetik des Kinos eingeschrieben wird. Und, was noch schlimmer ist, der Krieg wird entpolitisiert, jeglicher historisch-sozialer

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S. Hake: Film in Deutschland (Anm. 3), S. 166f. Die Strukturen, die diesen Filmen entsprechen, lassen sich bereits in den Filmen des Dritten Reiches erkennen, die von Staudte und Käutner, den Großen der ‚Stunde Null‘, realisiert wurden. Vgl. Th. Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer (Anm. 2), S. 55. Aufmerksam darauf macht R. R. Shandley: Trümmerfilme (Anm. 14), S. 274. Zit. nach Ch. Mückenberger: Zeit der Hoffnungen (Anm. 1), S. 14.

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Voraussetzungen beraubt, als wären ihm seine Täter und Vollstrecker, seine Henker und Opfer, nicht inhärent. Es irritierte (und irritiert bis heute viele) die expressionistische Konvention des ersten deutschen Films nach dem Kriege, Die Mörder sind unter uns von Staudte, die unverändert als sichtbares Zeichen dafür betrachtet wird, wie wenig sich in dieser Materie verändert hat.18 Zwar könnte man hier und da den Film von Staudte mit dem italienischen Neorealismus assoziieren und sogar versuchen, ihn in den Darstellungscode des amerikanischen ‚schwarzen Films‘ einzuschreiben (nota bene leiht dieser sich dank der deutschen Emigranten viel vom Kino der Weimarer Republik), oder in ihm eine Symbiose von Western und Melodrama zu identifizieren,19 die dominante Tradition, auf die er anspielt, bleibt doch der deutsche Caligarismus der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der im Dritten Reich als ‚entartete Kunst‘ diffamiert und verboten wurde. Es geht hier nicht nur um das plastische Design des filmischen Bildes (expressionistische Helldunkeleffekte, die in dämonisch beleuchteten Canyons der Ruinen als ikonische Symbole des Gemütszustands der Helden kulminieren), sondern auch um eine generelle ideologische Auslegung des Films: die Psychologisierung von Schuld und Strafe. Doktor Mertens ist doch in der Gegenwartshandlung des Films ein vom Trauma des Krieges noch immer nicht erwachter Cäsar – ein Mensch im Kriegsdelirium –, im Gegensatz zu seinem Untergebenen an der Front, der seine Persönlichkeit in der unmittelbaren Nachkriegsrealität Deutschlands ausgezeichnet zu restituieren vermag, wenn er als Fabrikant die Helme der Soldaten in die von der Nation vermissten Töpfe umformt. Die Kriegssequenz des Films, besonders naturalistisch im Kontext der Kriegsbilder im deutschen Kino der Jahre 1945–1949, beinhaltet alle Elemente einer Kinorhetorik des Kriegsverbrechens, aber in dem Film von Staudte erscheint dieses Verbrechen immer noch nicht autorisiert – es ist ein allgemeines Übel, das in einem nicht identifizierten, abstrakten System steckt. Die Datierung des ersten Höhepunkts des Films (die Erschießung der Polen) an Heiligabend 1942 und des zweiten (die nicht vollbrachte Selbstjustiz Mertens an dem Kapitän aus dem Krieg) am gleichen Tag drei Jahre später ist eines derjenigen Verfahren, die organisch die Erzählweise des Films in die expressionistische Konvention einschreiben. Und dank einer geschickten Erschließung der metaphorischen Bedeutung der einfachen Gegenstände – jener doppelten Kodierung der Dinge (Röntgenaufnahmen aus der Vorkriegssammlung des Doktors als Lückenbüßer in den Fenstern ohne Scheiben, ein Soldat in der Uniform an der Tür eines Hauses im okkupierten Polen mit dem volkstümlichen, ‚polnisch‘ konnotierten Motiv, in der Nähe ein zweckentfremdetes Kreuz als Haken für Helme in einer polnischen Hütte, und das alles in Waldzeichnungen eingehüllt) – wird 18

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Mitgewirkt bei der Szenografie des Films hat Otto Hunte, der Szenograf der großen Klassik des deutschen Expressionismus, Autor der Bauten zu den Filmen von Fritz Lang, Dr. Mabuse, der Spieler (1922), Die Nibelungen (1925), Metropolis (1927), Spione (1928), und früher zu den Superproduktionen von Joe May, Der Tiger von Eschnapur (1921) und Das indische Grabmal (1921). Siehe R. R. Shandley: Trümmerfilme (Anm.14), S. 59 f.

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Staudte zum Erben des Kammerspielfilms. Ebenfalls wurde dem Debüt von Kurt Maetzig (einem der Mitglieder des Filmaktivs, aus dem die DEFA entstanden ist, und auch dem Mitbegründer der DDR-Wochenschau Der Augenzeuge), dem Film Ehe im Schatten, die Kolportage des UFA-Stils vorgeworfen, insbesondere des Melodramatischen, das sich in eine „Ästhetik der Moral“21 verwoben findet. Die Handlung des von der DEFA 1947 realisierten Films wird zwar u.a. auch in die Kriegszeit versetzt, aber das Bild des Krieges betrifft die ‚zivilen‘ Fragen, die ihren Ursprung in den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 und sogar früher haben, denn sie entwickelten sich bereits seit Hitlers Machtergreifung in Gestalt des Drucks, der auf die ‚arischen‘ Künstler ausgeübt wurde, damit sie ihre Ehen mit ‚nicht-arischen‘ Ehepartnern für ungültig erklärten. In diesem Sinne ist der genannte Film in erster Linie zu werten als Werk über den Ursprung des Holocaust, nur dass er mit denselben Mitteln gemacht ist, die im Kino des Dritten Reiches benutzt wurden, als man Filme aus nazistischer Perspektive drehte (ein ähnlicher Vorwurf betraf den Hotelthriller Zwischen Gestern und Morgen von Harald Braun von 1948, in welchem man bis zu einem gewissen Grad eine westliche Entsprechung des Films von Maetzig sehen kann). Es ist unter diesen Gesichtspunkten besonders aufschlussreich, dass Ehe im Schatten als einziger DEFA-Film gleichzeitig Premiere in allen Zonen Berlins feierte und in den Jahren 1948/49 zu den acht Filmen aus Ostdeutschland gehörte, die auch in den westlichen Besatzungszonen vertrieben wurden.22 Man kann sich also kaum über den Eindruck des im Jahre 1946 in der Uniform eines amerikanischen Offiziers der Filmkontrolle nach Deutschland zurückkehrenden, bedeutenden Produzenten des deutschen Vorkriegskinos, Erich (jetzt Eric) Pommer, wundern, der sich nach Jahren irritiert erinnern wird: „Als ich zum ersten Mal seit 1933 wieder Deutschland sah, konnte ich es nicht fassen: Der Geschmack dieses Publikums war nicht nur an der gleichen Stufe stehen geblieben, nein, er hatte sich zurückentwickelt!“23 20 21

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Treffend macht darauf Christiane Mückenberger aufmerksam. Vgl. Ch. Mückenberger: Zeit der Hoffnungen (Anm. 1), S. 28f. R. R. Shandley: Trümmerfilme (Anm. 14), S. 130. Es war vermutlich jener Stil, aber auch das Fehlen der Klassenperspektive, die darüber entschieden haben, dass die Filme Mörder sind unter uns und Ehe im Schatten erst lange nach ihrer Produktion auf polnischen Leinwänden erschienen sind (der erste nach zehn, der zweite nach neun Jahren); im Gegensatz zu den Filmen mit einer eindeutig marxistischen Aussage (wie Die Buntkarierten, Rotation oder Unser täglich Brot), die fast sofort eingeführt wurden. Dafür sind bereits zwölf Filme, die damals in den westlichen Besatzungszonen produziert wurden, in den Kinos der sowjetischen Zone erschienen. Vgl. P. Pleyer: Deutscher Nachkriegsfilm (Anm. 6), S. 37, 44. Interview mit Erich Pommer aus der Kölnischen Rundschau vom 2.3.1952; zit. nach Brandlmeier: Von Hitler zu Adenauer (Anm. 2), S. 35. Den Zustand des filmischen Bewusstseins des deutschen Zuschauers beklagte auch 1947 Helmut Käutner, der darin die Quelle der Enttäuschung sah, die der deutsche Film als solcher bereitete. Vgl. Helmut Käutner: Demontage der Traumfabrik. In: Film Echo (1947), Nr. 5, Juni; zit. nach R. R. Shandley: Trümmerfilme (Anm. 14), S. 42. Im Sommer 1945 schickte Hollywood Billy Wilder nach Deutschland, damit dieser günstige Bedingungen für

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Doch wie hätte dies anders sein können, wo doch die meisten UFA-Schöpfer ohne weitere Probleme in die Gesellschaft des Kinos der Nachkriegszeit aufgenommen worden waren, zusammen mit ihren Vorlieben und ihrer künstlerischen Weltanschauung, die unter der Vormundschaft der Propaganda von Goebbels (die übrigens auch in anderen Kinematographien zur Norm wird, wie z. B. in der italienischen, die die Kontinuität des Kinos des Faschismus und der Nachkriegszeit bestätigt) ausgebildet wurde. Es geschah so u.a. deswegen, weil – in diesem Fall anders als z. B. in Italien, wo es gelang, auch unter den Filmemachern eine antifaschistische Front zu bilden – das Kino des Dritten Reichs vollständig durch das Hitlerregime befriedet wurde, es gab folglich angesichts dessen keinen Nährboden für Abrechnungen mit dem Nationalsozialismus nach dem Krieg. So konnten die von den Alliierten unter den Filmemachern ergriffenen Entnazifizierungsmaßnahmen keine Resultate zeitigen und förderten in der Tat keine unerwarteten Reaktionen zutage. Auch wurde die Filmkultur Nachkriegsdeutschlands, größtenteils Erbin der vergangenen Epoche, ihrer Chancen beraubt, die durch das Kino des Dritten Reiches kompromittierte Poetik ad acta zu legen.24 Signifikant bleibt in dieser Hinsicht der Film Zwischen Gestern und Morgen von Braun, der 1948 ein wahres Star-Festival des faschistischen Kinos bot: es tritt nicht nur die Schauspielerelite der UFA auf, manche Darsteller wie Sybille Schmitz und Willy Birgel zitieren gar ihre Rollen aus den jeweiligen Spezialgebieten der nazistischen Filme. „Aber es hilft doch nichts, es muß weiter gelebt werden, nicht?“ – sagt die von Hildegard Knef gespielte Heldin des Films, ein gewissermaßen berechtigter Kommentar.25

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den Export der amerikanischen Filme in Deutschland aushandeln möge. Nicht ohne Zusammenhang mit dieser Mission entstand im Jahre 1948 der Film Eine auswärtige Affäre (A Foreign Affair, USA 1948), zu welchem, wie die Überschrift im Vorspann informiert – „die meisten Aufnahmen in Deutschland entstanden sind.“ Z. B. ist der Komponist Wolfgang Zeller mit seinen Kompositionen zu Jud Süß von Veit Harlan (1940) problemlos zuerst zum Film Ehe im Schatten und dann zu Morituri von York ‚übergelaufen‘; der Kameramann Werner Krien (Münchhausen) ging zu Irgendwo in Berlin und …und über uns der Himmel über. Und selbst Harlan (Jud Süß, Die goldene Stadt, 1942, Kolberg, 1945) kehrte nach einem kurzen Prozess schnell ans Set zurück. Wolfgang Liebeneiner, der Autor des Filmes Liebe ʼ47, war seit 1938 künstlerischer Leiter der Deutschen Filmakademie Babelsberg. Ein Jahr danach wurde er auf die renommierte Stelle des Leiters der Berufsgruppe der Filmschaffenden in der Fachschaft Film der Reichsfilmkammer berufen, um in den Jahren 1942 bis 1945 den Posten des Produktionschefs der UFA zu bekleiden. Für ein Verzeichnis der 189 Drehbuchautoren und Regisseure, die sowohl im Kino des Dritten Reiches als auch nach dem Krieg beruflich tätig waren, siehe H.-P. Kochenrath: Kontinuität im deutschen Film. In: Film und Gesellschaft in Deutschland. Dokumente und Materialien. Hg. v. W. Bredow und R. Zureck. S. 286–292. Hildegard Knef war zumindest zweimal die Ikone der Verbindung der alten Zeit mit der neuen – wenn es sowohl um den Status der von ihr gespielten Figuren als auch um den Stil des Schauspielens geht. In der Pastiche Film ohne Titel von Jugert, die eine selbstreferentielle Geschichte darüber ist, wie das Kino „vor dem düsteren Hintergrund der Epoche“ möglich sein kann, wird es eine Verbindung von Willy Fritsch (der vor allem durch die Musikfilme der Weimarer Republik gefördert wurde), der hier sich selbst spielt, mit einem jungen Mädchen aus der deutschen Provinz sein, deren Schicksale aus dem Kriege und der unmittelbaren Nachkriegszeit Gegenstand der Debatte der

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Deswegen bildeten fast neunzig Prozent des Repertoires der deutschen Kinos bis zur Zeit der Währungsreform 1948 die sogenannten Reprisen, also Filme, die vor 1945 entstanden waren (hauptsächlich aus der Zeit des Dritten Reiches) und von den alliierten Mächten in die Kinos transferiert wurden sowie die sogenannten Überläufer, die vor dem 8. Mai 1945 entstanden waren, ihre jeweiligen Premieren jedoch erst nach dem Krieg feierten (es gibt ihrer mehr als 30, unter ihnen der von Leni Riefenstahl gedrehte Film Tiefland, der erst 1954 erstaufgeführt werden sollte).26 Ähnliches trifft übrigens auf den Film In jenen Tagen von Helmut Käutner (1947) zu, der mit britischer Lizenz in der Hamburger Firma des Regisseurs (Camera-Film) gedreht wurde – einer Art westlichem Pendant zum DEFA-Film von Staudte. Auf keinen Fall hat dieser den Gattungscode des Kinos aufgefrischt; ganz im Gegenteil, er hat wohlbekannte Erzähl- und Handlungsprinzipien in einer riskanten Geste der Entideologisierung des Krieges zugunsten der Personalisierung seiner Folgen unter den unschuldigen, guten Deutschen stabilisiert. Dank der Zeitperspektive, welche die nazistische Vorkriegszeit, den Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit umfasst, entwarf Käutner ein moralisches Panorama ‚jener Tage‘. Beide Filme sind also, mit anderen Worten gesprochen, als Zwillingspaar aus verschiedenen Besatzungszonen zu werten, nur dass dieser der erste Nachkriegsfilm war, der sich ausschließlich auf die unmittelbare Vergangenheit konzentrierte, ohne auf Retrospektiven im Rahmen der jeweiligen Erzählung zurückzugreifen. Das Bild des Krieges erscheint in beiden Filmen jedoch als wohl vollständigstes unter den hier genannten Titeln, obwohl weder der eine noch der andere als Kriegsfilm zu werten ist. Beide nutzen die Darstellung des Krieges aus ähnlichen Gründen: sie zeigen, wie der Mensch trotz der Hekatombe des Krieges und manchmal gegen sie seine Menschlichkeit bewahren oder zu ihr reifen kann. Im Falle des Films von Käutner geht es um einen ziemlich naiv interpretierten, utopischen Humanismus, für den der Krieg nur den zeitlichen Rahmen bildet, in dem sich besonders das Konfliktpotenzial verschiedenartiger Interessen offenbart. In sieben Episoden und der Rahmenhandlung des Films, welche die Jahre 1933–1945 umfasst (der Film beginnt und endet wie die ‚Trümmerfilme‘, zu welchen man ihn auch bis zu einem gewissen Grad zählen muss), bildet ein untypischer ‚Erzähler‘ den Mittelpunkt des Geschehens: ein Opel, Baujahr 1933, der den Untertitel des

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Filmschaffenden aus dem Filmnarrativ werden. Bei Harald Braun, im Film Zwischen Gestern und Heute, erfolgt die Konfrontation einer jungen Frau aus den Trümmern in München, Kat, mit der männlichen Routine von Viktor de Kowa, eines Liebhabers der UFA, der früher und privat NSDAP-Mitglied war und, ähnlich wie Fritsch, kraft der sogenannten ‚Gottbegnadeten-Liste‘ von Goebbels von 1944 zu den unabkömmlichen deutschen Künstlern dieser Zeit gehörte (was wirksam vor der Front schützte, selbst vor der Heimatfront). Vgl. H. Theuerkauf: Goebbels’ Filmerbe. Das Geschäft mit unveröffentlichten UFA-Filmen. Berlin 1998, S. 136–156. Die Amerikaner haben z.B. den Vertrieb aller 854 ihnen zur Entscheidung gestellten Titel zugelassen, die Engländer willigten in eine noch größere Zahl ein, lehnten jedoch 300 Filme ab, dagegen verboten die Franzosen nur noch 39 Produktionen. Es liegen keine Daten aus der sowjetischen Besatzungszone vor – vgl. R. R. Shandley: Trümmerfilme (Anm. 14), S. 32.

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Films begründet: Geschichten eines Autos. Aus ebenjener Perspektive des Opels werden wir in einer Folge von sieben Retrospektiven, die zwölf Jahre der Geschichte Deutschlands umschließen, mit den Schicksalen seiner sieben Besitzer konfrontiert; Schlüsselereignisse, die von der ‚Machtergreifung‘ Hitlers über den Reichstagbrand, die Pogrome von 1938, bis hin zum Ende des Krieges reichen. Auf diese letzte Retrospektive beziehen sich vier Episoden auf unmittelbare Art und Weise: Zunächst (in Des Glückes Schmied) erzählt das Auto mit der Stimme des Regisseurs aus dem Off „sachlich, vorurteilsfrei oder herzlos“ von einer Frau, die ihren Ehemann verliert, einen Widerstandskämpfer, der zugleich Liebhaber ihrer eigenen Schwester (seine Mitarbeiterin im Untergrund) und Opfer der Gestapo ist, geistesgegenwärtig aber ihre Schwester vor dem Verdacht der Mitarbeit im Untergrund zu schützen vermag und die ganze Schuld auf sich nimmt. In der zweiten Episode (Der Neue) nimmt der Opel an einer Kriegshandlung im Osten teil, wenn auch hinter der Front; in der dritten (Versuchte Flucht) beteiligt er sich an dem Versuch, ein ehemaliges Zimmermädchen zu befreien, welches die Mutter eines Beteiligten des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 ist. In der letzten Episode (Maria und Josef) begleitet der Opel einen Soldaten, der, statt den kürzesten Weg zu seiner Einheit einzuschlagen, eine zufällig getroffene, aus Schlesien fliehende Frau mit einem Kind im Arm nach Hamburg fährt; dem von der Gendarmerie ertappten und der Fahnenflucht angeklagten Mann bietet sich jedoch eine Chance zur Flucht, die er bereitwillig ergreift. Das Motiv des Krieges ist also jedes Mal eine Art Lackmustest, der den moralischen Zustand der Helden anzuzeigen vermag, und gleicht als Ganzes der Antwort auf die von den demobilisierten Soldaten aufgeworfene Frage: „Gibt es noch Menschen?“ Der Rezensent des Magazins Vorwärts konstatiert im Juni 1947: Der Film „paßt jetzt noch nicht zu uns“ und fügt hinzu: „Die Mörder sind unter uns war manchmal in der Anlage zu hart. Dieser war zu weich, viel zu weich.“27 Sein Urteil bezieht sich vermutlich darauf, dass ein toter Gegenstand (wie ebenjenes Auto) jenseits bewusster Entscheidungen steht und in Situationen hineinmanövriert werden kann, die somit der menschlichen Wahrnehmung entzogen sind, was zwar aus rein medialer Perspektive interessant ist, aber „außerhalb der Ideologie“28 verbleibt. Und noch etwas erscheint bemerkenswert: die Geschichten werden von einem Auto erzählt, das in Teile zerlegt wird, also im Prinzip demobilisiert, ‚tot‘, einfach ein ‚Wrack‘ ist. Die Tatsache, dass das ganze filmische Geschehen durch den begrenzten Horizont des Autos vermittelt wird, erzeugt selbstverständlich interessante dramatische Effekte. Auf der anderen Seite bemerkt das Auto nie die Hitlerknechte, die dank der Wahrnehmungsbegrenzung des Autos völlig aus der erzählten Welt ausgeschlossen werden und sich in der Optik verflüchtigen. Man hat in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hingewiesen, dass das Verbergen der Gesichter des Nationalsozialismus bereits eine Norm des Kinos im Drit27 28

H. Müller: Anständige Menschen. In: Vorwärts vom 18. Juni 1947; zit. nach 70 Filme – Eine Auswahl. In: H. Hoffmann und W. Schober (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen (Anm. 2), S. 341. Vgl. R. R. Shandley, Trümmerfilme (Anm. 14), S. 92.

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ten Reich war, und insofern bleibt der Film In jenen Tagen, nicht nur in dieser Hinsicht, ein Erbe der damaligen filmischen Poetik.29 Käutner hat in seinen Filmen im Grunde nie etwas demaskiert – sogar im Dritten Reich ließ man es geschehen, dass er am Rande der propagandistischen Hauptströmung des Kinos produzierte.30 Ebenso verhält es sich mit dem ersten Film in der hier zugrunde gelegten Chronologie, der zur Zeit der Bombenangriffe der Alliierten auf Berlin beendet wurde: Unter den Brücken. Legitimiert mittels Entscheidung der Hitlerbehörde im März 1945, sollte er seine Premiere erst 1950 feiern (obwohl er schon früher, im Jahre 1946, auf dem Filmfestival in Locarno gezeigt wird) und umschließt mindestens zwei, unter Berücksichtigung der Zäsur des Jahres 1949 sogar drei politische und filmische Epochen. Unter den Brücken ist somit ein klassischer ‚Überläufer‘ – ein Deserteur-Film aus einer vergangenen Epoche. Die Geschichte von zwei Schiffern auf einem Kahn zwischen Berlin und Potsdam und ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit einer zufällig auf einer Brücke getroffenen Frau hätte als Vorbote des Neorealismus in die Geschichte des deutschen Kinos eingehen können, wenn er nur gezeigt worden wäre. Da er dies jedoch nicht tat, sollte man den Film innerhalb einer anderen, retroaktiven filmischen Tradition verorten, die ihm am nächsten steht, d. h. in der Nähe des poetischen Realismus des französischen Kinos des 20. Jahrhunderts. Unter den Brücken ist folglich ein außerordentliches und einmaliges Werk, „ein Regime-Film“, wenn man ihn vornehmlich als aus Hitlerdeutschland kommend begreift, gleichzeitig weit davon entfernt, ein Sprachrohr der Goebbels’schen Propaganda zu sein, und ein Kriegsfilm, der die genealogische Bedeutung dieser Sparte eigentlich nicht teilt, weil er selbst unter Kriegsbedingungen realisiert wurde, und dennoch sein eigenes kategoriales Gegenteil, den Antikriegsfilm, begründet. Käutners Unter den Brücken ist ein totaler Kriegs-Deserteur, er flieht nicht nur das Schlachtfeld, sondern bleibt sogar dem mutmaßlichen Kriegsgeschehen fern, welches die Handlungszeit des Films bestimmt. Der Krieg als der „große Abwesende“ wird gänzlich ausgeblendet und jeglicher Wahrnehmbarkeit beraubt. Selbstverständlich hat das Hitler-Kino es – mit Ausnahme der Wochenschau – vermieden, den Krieg direkt zu zeigen und ersetzte ihn einfach durch kommunikative Sequenzen, in welche im Höchstfall Soldaten in Uniformen einbezogen wurden, meist spielten sich diese Unterhaltungen jedoch fern der Front ab. Wenn die Front überhaupt als Teil des filmischen Geschehens in Erscheinung trat, dann nur als Ausgeburt männlicher Abenteuervorstellungen. (Wunschkonzert von Eduard von Borsody, 1940, Die große Liebe von Rolf Hansen, 1942). In Unter den Brücken spielt die Handlung jedoch im Potsdam und Berlin der damaligen ‚Jetztzeit‘, und der Vorspann zeigt demonstrativ 29 30

Vgl. ebd., S. 95. Aus dem nazistischen Code des Kinos scherten alle seine Filme aus, die im Krieg entstanden waren, darunter: Auf Wiedersehen, Franziska! (1941), Romanze in C-Moll (1943), Große Freiheit Nr. 7 (1944), die dem Eskapismus der sogenannten Kalligraphen im faschistischen italienischen Kino nahestehen, folglich hat sich der Regisseur zu Recht den Namen des ‚Outsiders‘ des Kinos der damaligen Epoche verdient.

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das Aussehen der einstmals ‚heutigen‘ Stadt. In einem – tief paradoxen – Sinn ist er dennoch ein ‚Antikriegsfilm‘, als eine Allegorie der ‚ewigen Stadt‘, als ‚Nicht-Ort‘; ein Film außerhalb der Grenzen der Geopolitik, der in einem Stadtraum steckenbleibt, aus dem zwar Leere klafft, die unfreundlich und bisweilen feindlich ist (was in nicht unerheblichem Maße durch die düstere Musik von Bernhard Eichhorn bewirkt wird), welcher aber trotzdem von den Bränden des Krieges verschont wurde. Einen nicht eben geringen Anteil an solch einem Bild Berlins hat vermutlich auch die spezielle Kameraführung Igor Oberbergs auf die Brücken, Straßen und Gebäude der deutschen Hauptstadt aus der Froschperspektive, in einer straffen Verknappung dieser Perspektive (leben die Helden doch auf einem Kahn, welcher das Medium darstellt, durch das die Stadt wahrgenommen wird). Man kann mit dem Lauf des Flusses ins Nichtsein zurückkehren – in illo tempore –; auch zu dem poetischen Realismus (des französischen Kinos) der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, was Käutner vortrefflich gelungen ist. Die hier zur Sprache gebrachten Filme stellen keine Abrechnung mit der propagandistischen Kriegsmaschinerie des Dritten Reiches dar, sie begnügen sich mit der Darstellung der Schicksale von Einzelhelden, was mancherorts – wie im Falle von In jenen Tagen – die Problematik des Opferseins auf soziale Techniken des Überlebens der vollkommen unschuldigen Deutschen in einer schuldhaften Zeit reduziert. Es ist in ihnen nicht die Rede von einer Verantwortung für die Kriegsverbrechen, die über die Psychologie der Henker und Opfer hinausgehen würde, es sind höchstens Einzeltäter, die bestimmte Normen übertreten und sich dadurch privaten negativen Konsequenzen seitens der mehr sensiblen Frontgefährten aussetzen (Die Mörder sind unter uns). Darüber hinaus werden in ihnen auf fragwürdig simplifizierende Art und Weise die Nachkriegsschicksale der Deutschen als Nation mit den Schicksalen der Opfer des Hitler-Regimes zusammengeworfen. Was jedoch am meisten wundert: es sind Filme, die fast vollständig (mit Ausnahme einiger Episoden in den DEFA-Produktionen) eines Diskurses über Ursächliches beraubt sind, sodass nicht diskutiert wird, was die Katastrophe herbeigeführt haben könnte. Obzwar sie sich deswegen nicht von den Solidaritätsgesten mit den durch den Faschismus Unterdrückten fernhalten (Morituri), dominiert in ihnen ein Eskapismus, der mit Hinweisen auf psychologische Motivationen verfeinert ist. In diesem Sinne scheint der Film Unter den Brücken von Käutner – obschon er aus einer anderen sozial-politischen Ordnung kommt – emblematisch für alle hier besprochenen Werke zu sein. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die hier besprochenen Filme, als Einheit betrachtet, einen Meilenstein auf dem Weg der Verarbeitung der nazistischen Vergangenheit und ihrer Umformung in kollektive Vorstellungen des jungen Nachkriegsdeutschlands darstellen. Sie bilden die Grundlage jener Erinnerungsdiskurse, auf die sich das Kino beider deutschen Staaten – obschon verschieden intensiv und mit divergenten Folgen – schon bald berufen wird. 31

Ein stummer Held des Films ist die Glienicker Brücke in Potsdam, der Ort, an dem Agenten aus dem Osten und Westen ausgetauscht wurden – und späteres Symbol der Wiedervereinigung Deutschlands.

TADEUSZ MICZKA

Pferde gegen Panzer. Der Kavalleriemythos im Film Lotna von Andrzej Wajda1

Im Leben vieler Gemeinschaften spielen Mythen eine wichtige kulturschöpferische Rolle. Sie übertragen das so genannte ‚heilige Wissen‘ und den ‚Wertekanon‘ von Generation zu Generation. Wie Fakten beeinflussen sie das Verständnis von Geschichte und Gegenwart. Die Forschung bewies, dass das mythische Gedankengut unabhängig von der sozialen Entwicklung konkreter Kollektive und der Verbreitung der rationalistischen Einstellungen und materialistischen Weltanschauungen eine wichtige Form des menschlichen Bewusstseins ist, das – meist auf festgefahrene Überzeugungen zurückgreifend – holistische Weltvisionen formt. Mythische Narrationen, die hochgradig symbolisch und synthetisierend sind, werden meist als nützliche Formen des sozialen Zusammenlebens betrachtet, wobei oft auf ihren großen, destruktiven Einfluss auf Individuen und Gemeinschaften hingewiesen wird. Mythen können die Geschichte verzerren, indem sie die Differenzen zwischen Abstrakta und Konkreta, zwischen Mentefakten und Artefakten verwischen, manchmal auch die Vergangenheit aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein verdrängen. Gefährlich werden sie (worauf Leszek Kołakowski überzeugend hindeutet) „durch ihre Neigung zur unbegrenzten Expansion; ein Mythos kann wuchern wie Krebsgewebe, kann gewaltsam die Veränderung des positiven Wissens, des Rechts anstreben, kann versuchen, sich fast aller Bereiche der Kultur zu bemächtigen, kann mit Despotismus, Terrorismus und Lügen überwuchert werden“. Deshalb – so Kołakowski – sollte in jeder Kultur solch eine „Arbeitsteilung [existieren], die den einen die einseitige Würde der Beschützer des Mythos, und den anderen die einseitige Würde seiner Kritiker verleiht[,]“ da „Mythologie […] nur sozial fruchtbar sein kann, wenn sie ununterbrochen verdächtigt und konstant überwacht wird, damit ihr natürlicher Drang, zu einem Rauschmittel zu werden, zunichte gemacht wird.“2 Ich teile Kołakowskis Meinung, aber anhand der 1 2

Die erste Version dieses Textes erschien in: Opowiedzieć historię. Prace dedykowane Profesorowi Stefanowi Zabierowskiemu. Hg. v. B. Gontarz und M. Krakowiak. Katowice 2009, S. 173–186. L. Kołakowski: Obecność mitu. Paris 1974, S. 103f.

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Tadeusz Miczka

Analyse der Konkretisierung des Kavalleriemythos auf der Leinwand würde ich gerne zeigen, dass manche Mythen, besonders diejenigen, die wie Krebsgewebe wuchern, in der Kunst sowohl ihren Beschützern als auch ihren Kritikern wie auch den ambitionierten Künstlern, die versuchen, solche Mythen gleichzeitig in beide Rahmen der Kulturinterpretation ‚einzupassen‘, entgleiten. In seinem Buch über die Erinnerungen der Polen aus dem Zweiten Weltkrieg verweist Stefan Zabierowski im Kapitel Mit Lanzen auf Panzer auf die Verankerung des Kavalleriemythos in der Romantik, auf seine Wiederbelebung nach dem Wiedererlangen der Unabhängigkeit und Souveränität durch Polen im Jahre 1918, auf seinen von polnischen und deutschen Chronisten festgehaltenen propagandistischen Charakter im September 1939, auf seinen bedeutsamen Platz in der Nationalliteratur nach 1945 (zunächst als Gegenstand von Kritik und Spott, und in den sechziger und mehr noch in den siebziger und achtziger Jahren als Gegenstand der Faszination), und auf seine Etablierung im modernen historischen Roman, dessen Tendenz als antiquarisch3 bezeichnet wird. Am Ende seiner Überlegungen versucht der Autor das Phänomen der Popularität des Kavalleriemotivs zu erörtern, das auch nach der Transformation des politischen Systems in Polen weiterhin fasziniert, und schreibt unter anderem: „Der Ulanenmythos war in der polnischen Kultur zu stark verwurzelt, […] die Kavallerie war diese Art von Waffe, die durch ihre Ästhetik bestach […] und das wahrscheinlich wichtigste: die Kavallerie wurde zu einer Ikone des Polentums, zu einem Symbol der polnischen nationalen Identität, zum Ausdruck der polnischen nationalen Psyche, die heroische Gesten schätzte.“4 Diese These Zabierowskis bestätigt der Film Lotna von Andrzej Wajda aus dem Jahr 1959. Dieses nach einer kurz nach dem Kriegsende von Wojciech Żukrowski geschriebenen Erzählung gedrehte Werk gehört zur so genannten Polnischen Filmschule (1956–65), die sich – gegen das Diktat der Ästhetik des realen Sozialismus – nationaler Komplexe wie der Septemberniederlage 1939, der polnischen Untergrundarmee Armia Krajowa, des Warschauer Aufstands bemächtigte und die Parteiversion der polnischen Geschichte untergrub.5 Lotna ist allerdings das Beispiel eines Films, der durch den Mythos besiegt und von einem Künstler, der zugleich Kritiker und Beschützer des Kavalleriemythos sein wollte, gedreht worden war. Wajda wurde in Suwałki geboren, wo er auch seine Kindheit verbrachte. Die Stadt war vor dem Krieg eine Garnisonsstadt, in der das 3. Chevauleger-Regiment, das 2. Ulanenregiment, das Grenzgebiet-Schutzcorps, das Pferdeartilleriebataillon und das 41. Infanterieregiment stationierten. Im Letztgenannten diente sein Vater. Die Faszination für den Kavalleriemythos war also für den zukünftigen Künstler etwas Natürliches und formte seine ästhetische Sensibilität, der Wajda in seinen Memoiren Ausdruck verleiht: 3 4 5

S. Zabierowski: Z lancami na czołgi. In: Ders.: Wojna i pamięć. Katowice 2006, S. 21–45. Ebd., S. 45. Vgl. u.a. A. Werner, Z. Załuski: Dwa spojrzenia na szkołę polską. In: Kino 7 (1975), S. 57–64; Polska szkoła filmowa. Poetyka i tradycja. Hg. v. J. Trzynadlowski. Wrocław 1976 und E. Nurczyńska-Fidelska, B. Stolarska: Szkoła polska – powroty. Łódź 1998.

Der Kavalleriemythos im Film ‚Lotna‘ von Andrzej Wajda

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Das Leben der Stadt war vom Militär geprägt. […] Das größte Ereignis war das Defilee am 3. Mai; fast so imposant wie in Warschau. Ein paar Tausend Soldaten defilierten, zwei Kavallerieorchester spielten […]. Im Winter – Ball im Offizierskasino […]. Dann und wann ein feierliches Militärbegräbnis […]. Diese Bilder sind in meinem Gedächtnis für immer geblieben. In den Augen eines Kindes sah es natürlich viel imposanter aus. Ich sah ein von sechs Pferden gezogenes Geschütz auffahren, das in nur wenigen Sekunden aufgestellt und schussfertig gemacht wurde. Ein Regisseur, der heutzutage so eine Szene zeigen möchte, wäre machtlos. Um diese Gewandtheit zu erreichen, brauchte man drei Jahre Drill – nicht der Menschen, sondern der Pferde, die länger als die Soldaten dienten... Es passierte, dass Rekruten, die Säbelhiebe übten, mitsamt der Weidenrute ein halbes Pferdeohr abschlugen. Oder Übungen mit Lanzen. In vollem Galopp stießen sie diese in einen aufgehängten Sack, ritten an der hängenden Puppe vorbei und zogen die Lanze von hinten heraus. Waghalsig und außergewöhnlich geschickt. Es sah besser als eine beeindruckende Zirkusvorstellung aus... Und schließlich der Aufbruch der Truppen aus der Kaserne, als ganze Regimente mit Tross ins Manöver zogen. Die Stadt wurde leer, […] der Abzug des Militärs nahm ihr das Leben […].6

Tiefe Erlebnisse aus der Kindheit haben meist einen großen Einfluss auf das spätere Schaffen der Künstler, aber im Falle Wajdas waren für die Faszination für den Kavalleriemythos noch andere Umstände ausschlaggebend. Noch während des Krieges war Wajda fest davon überzeugt, seine Bestimmung sei die Malerei. In den Jahren 1942–1946 besuchte er die von Wacław Dobrowolski geleitete Schule für Zeichnung, Malerei und Bildhauerei in Radom. Im Jahre 1943 machte eine Ausstellung alter japanischer Kunst, die er in Krakau besuchte, immensen Eindruck auf ihn. Im Jahre 1945 arbeitete er als Hilfsarbeiter von Eugeniusz Pisarek, Wiktor Langner und Adam Stalony-Dobrzański an der Restaurierung von Wandmalereien in diversen Dorfkirchen mit. Im selben Jahr versuchte er sich als Bühnenbildner im Laientheater und entwarf das Bühnenbild für Sophokles’ Antigone. In den Jahren 1946–1949 setzte er seine Ausbildung im Fachbereich Malerei an der Krakauer Kunstakademie fort, wo er aktives Mitglied der Jugendbewegung wurde. Mentor dieser Bewegung war Andrzej Wróblewski, der Autor von Ukrzesłowienie (Verstuhlung), ein Künstler, der von Kunsthistorikern als einer der häufig dramatisierenden Interpreten der polnischen Nachkriegsgeschichte betrachtet wurde und der ein unversöhnlicher Mensch war. Wajda erinnert sich an ihn als einen polnischen Maler der „letzten romantischen Linie“ und den spiritus movens der so genannten Selbstbildungsgruppe, die ein Manifest herausgab, das die Anpassung der Kunst an die neue Realität forderte.7 Wajda war sich in vielen Fragen mit seinem Meister nicht einig, führte jedoch in den eigenen Filmen Zitate und Reminiszenzen an dessen Malerei an. In Lotna erscheinen beispielsweise auf der Leinwand tote Fische, die von einer Katze gefressen werden.8 6 7

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Nach S. Janicki: Marzenia filmowe Andrzeja Wajdy. In: Film na Świecie 329–330(1986), S. 29. Vgl. u.a. Andrzej Wróblewski w 10-lecie śmierci. Referate und Widerhalle in der Diskussion von der Konferenz, die am 4. Mai 1967 in Rogalin stattfand (u.a. die Aussage von A. Wajda). Poznań 1971. Der Regisseur kommentierte dieses ‚Zitat‘: „Fische – damals nannte man es ein Bild über das Grauen des Krieges. Darauf werden Fische in Militärgrün dargestellt. Jeder ist in der Mitte durch-

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Tadeusz Miczka

Die meisten Bezüge zu seiner Kunst findet man natürlich im autothematischen und autobiografischen Film Wszystko na sprzedaż (Alles zum Verkauf, 1969). Am nächsten stand Wajda jedoch die polnische Malerei aus dem neunzehnten Jahrhundert sowie die neoromantische Malerei, deren Protagonisten Ulanen und Pferde waren. Manchmal waren es nur weiße Pferde ohne Reiter, die im Nebel zwischen kahlen Bäumen verschwanden, solche wie diejenigen, die in der Verfilmung des Dramas Wesele (Die Hochzeit, 1973) erschienen. Polnische Maler fanden Gefallen an diesen Motiven und setzten sie als historische Mythen und Symbole ein. Ihnen ist zu verdanken, dass das Pferd zu einem permanenten optischen Zeichen des Polentums und der Volksverbundenheit wurde.9 Wajda knüpft direkt an diese Tradition an: sowohl Pferde als auch Ulanen werden zu Gestalten, die in seinen Filmen als etwas mehr als symbolische Wesen fungieren, weil sie mühelos die Grenzen der stark überästhetisierten Leinwandwelt überschreiten und zu „authentischen“ Elementen der meist mythologisierten Situationen werden. Der Künstler stattet seine Protagonisten fast immer mit einem oberflächlichen Realitätssinn aus: in seinen Filmen agieren Pferde und Reiter in konkreten Situationen, die Handlungen, an denen sie teilhaben, sind Teil der poetischen Gedankenwelten, resultieren aus Hirngespinsten und sind übertrieben. Von der Vorliebe für so eine Art der Ikonographie und für die Kompaktheit der Expression zeugt die Tatsache, dass bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts in allen seinen Filmen, von denen die meisten das Ulanenund das September-1939-Motiv überhaupt nicht ansprechen, Pferde, oft weiße, erscheinen. Sie bewegen sich in jenen Filmen im Hintergrund, wie zum Beispiel in Kanał (Der Kanal, 1957) und Popiół i diament (Asche und Diamant, 1958). Im letzteren, einer Verfilmung des Romans von Jerzy Andrzejewski, ‚erscheinen‘ weiße Pferde oftmals auf Gemälden der Kossaksippe, die an den Wänden der gefilmten Wohnungen hängen, oder treten als Möbel zierende Porzellanfiguren in Häusern polnischer Patrioten auf. Ein lebendiges, prächtiges, weißes Pferd führt eine tödlich anmutende Unruhe in die Stimmung des ersten Liebesabenteuers der Protagonisten des Filmes ein. Das Pferd symbolisiert in Wajdas Werk diverse Werte und Situationen, die sich jedoch immer auf die polnische Identität und nationale Traditionen beziehen. Im Abschluss von Wszystko na sprzedaż galoppiert der Schauspieler Daniel Olbrychski auf einem Pferd und übernimmt somit im polnischen Kino und in Wajdas Filmen die Ideale, die früher von dem an den Folgen eines Unfalls gestorbenen Zbigniew Cybulski (dem ‚polnischen James Dean‘) verkörpert wurden. In Kronika wypadków miłosnych (Chronik der Liebesfälle, 1986), einer Verfilmung von Tadeusz Konwickis Roman, deuten Kavalleristen und wiehernde Pferde nicht nur die Tragödie des polnischen Septembers 1939 an, sondern

9

geschnitten, und diese Schnitte sind rot. Das Bild wurde auf glattem weißem Hintergrund gemalt. […] Fische, die die Katze in Lotna frisst, sind eine Reminiszenz dieser Malerei. Es sind irgendwelche Quellen dessen, was ich Surrealismus nenne. Es ist kein formeller Surrealismus, sondern ein geistiger.“ Zitiert nach B. Mruklik: Andrzej Wajda. Warszawa 1969, S 41f. Vgl. A. Osęka: Koń (Das Pferd). In: Przegląd Kulturalny 51–52 (1962), S. 16.

Der Kavalleriemythos im Film ‚Lotna‘ von Andrzej Wajda

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auch das tragische Ende des ersten Liebesabenteuers der Abiturienten. Die Kreativität des Regisseurs war in diesem Bereich enorm, er begründete sie oft in öffentlichen Auftritten mit der Meinung, dass Kavalleristen ein markantes Zeichen des Polentums seien und sich in fast allen Bereichen der Nationalkultur bemerkbar machen. Für den Ulanenmythos im Filmwerk von Wajda ist ein weiterer Faktor von großer Bedeutung. Der Regisseur konstatiert: „Um mit dem Krieg abzuschließen, brauchte ich einen Film über die Kavallerie.“10 Dies bedeutet, dass in der Auseinandersetzung der Polen mit der Geschichte, vornehmlich mit dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen nationalen Komplexen, die durch das kommunistische Regime noch vertieft wurden, die Kavallerie, obwohl sie durch die Ereignisse des tragischen Septembers die Kriegsthematik einleitet, eine besondere Rolle spielte, da sie nicht nur ein prägnantes Zeichen dieser Geschichte war, sondern auch die Geschichten darüber abschloss, da sie eine Erzählung über das Ende einer Epoche war. Aleksander Ledóchowski, der die Zusammenhänge zwischen der polnischen Malerei und Wajdas Filmwerk analysierte, bemerkte treffend, dass sich abhängig von dem Vorhaben die Bedeutung des einzelnen Elements ändert – einmal ist es Gegenstand einer anatomischen Studie seiner materiellen Konsistenz, fast ein niederländisches Stillleben (Sequenzen der Fleischbänke und Fische in Lotna), ein andermal Symbol von Gegenständen und Landschaften in ihrer emotionellen Bedeutung (die letzten Szenen in Lotna), noch ein andermal eine über-realistische Vision, in der die Grenze zwischen der objektiven Realität und ihrem subjektiven Bild aufgehoben wird (Ulanenszenen). Es stimmt, dass sich alle diese Tendenzen aus der Malerei ableiten lassen, aber ihr Einsatz im Film ergibt einen neuen Wert – einen filmischen, keinen plastischen. Dies geschieht durch ein neues Wahrnehmungssystem, dessen Wesen der Gesichtspunkt der Malerei und plastische Konzepte sind. Im Film wurde die Statik der Malerei durch die Dynamik des Films ersetzt.11

Diesen Überlegungen sollen noch einige weitere Bemerkungen hinzugefügt werden, weil die dargestellte mythische Ordnung in Lotna anders als in Żukrowskis Erzählung realisiert wird, und zwar durch Hervorhebung verschiedener Elemente des plastischen Kontexts, hauptsächlich des bildhaften Programms der Ikonographie und des farblichen Konzepts des Films (Lotna ist der erste Farbfilm des Regisseurs). Das Repertoire der plastischen Symbolik ist für den Zuschauer durchaus lesbar: er sieht nicht nur die weiße Stute Lotna, sondern auch Pferde auf Gemälden in den Kammern des Gutshofs, Pferde aus weißem Porzellan auf Möbeln, einen Adligen wie auf Matejkos Gemälden, Statuen antiker griechischer Helden über Wiesen und Gärten verstreut und Skulpturen ohne Köpfe vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen. In Erinnerung bleiben wahrscheinlich am ehesten die überästhetisierten Aufnahmen des stilvollen, während eines Luftangriffes zerspringenden Spiegels, der Fische auf dem Herd, der Bauern mit Sensen, der roten Äpfel in einem Sarg, des vor einem Kreuz betenden Mädchens (wie auf den Bil10 11

Janicki: Marzenia… (Anm. 6), S. 25. A. Ledóchowski: Płótno obrazu – płótno ekranu. (Z zagadnień związków między filmem a plastyką w dwudziestoleciu powojennym). In: Kwartalnik Filmowy 12 (1964), S. 45.

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Tadeusz Miczka

dern von Artur Grottger), der mit dem Lauf eines Panzers gekreuzten Schwerter, des die Bäume wie ein Spinnennetz bis ins Unendliche umhüllenden Schleiers und der Gestalt des Geigenspielers. Durch ihre Bildhaftigkeit fasziniert vor allem die letzte Szene des Films, die einen ins Nichts führenden Weg, eine Windmühle und ein Schlachtfeld, auf dem Weiden wachsen, zeigt.12 Die polnische Kritik und Wissenschaft, auch der Großteil des polnischen Publikums haben Lotna sehr schlecht aufgenommen und den Film als ‚Gemälde‘, das die Septemberkatastrophe vor dem Hintergrund des tragischen Schicksals eines Kavalleriepferdes thematisiert, abgestempelt. Den Zuschauern missfiel der Leinwandgutshof, mit Gegenständen überladen, die die herrlichen Traditionen des Adels symbolisieren sollten: Bilder, Trophäen, Heerführerinsignien, Wandteppiche. Besondere Missbilligung erfuhr die Szene, in der sich die Lieblingsstute des Gutsbesitzers über sein Sterbebett beugt, eine in der Poetik des Gemäldes von Julius Kossak realisierte Szene, die dem vom Maler festgehaltenen Moment des Todes von Stefan Czarnecki ähnelt. Die Kritiker vertraten die Meinung, dass diese Form der polnischen Tradition, die in der Malerei von unter anderem Aleksander Orłowski, Józef Chełmoński und Piotr Michałowski, also der Visionäre der romantischen Ulanenvergangenheit, fortgesetzt wird, in Lotna eine negative visuelle Widerspiegelung fand. Offensichtlich ist, dass in einem Film, in dem die Hauptfigur ein weißes Pferd ist, ein Symbol der polnischen Kultur, des Adels, der Ritterlichkeit, der Liebe und der nationalen Vergangenheit, derartige Anspielungen auf die Malerei weitgehend gerechtfertigt sind. 1959 fanden die Kritiker sie allerdings anachronistisch. Bolesław Michałek meldete Zweifel an: „Man kann sogar behaupten, dass Grottger und Kossak in ihren besten Jahren dem nationalen und menschlichen Streben gerecht wurden, das zeitgenössische soziale Bewusstsein bejahten. Aber heute?“13 Seiner Ansicht nach waren der plastische Stil und die grausamen Bilder in Lotna nur stilistische Mittel. Mit Nachsicht behandelten den Film diejenigen Interpreten, die den Versuch unternahmen, Wajdas Poetik aus der Perspektive einer konkreten Geschichts- und Kulturphilosophie historisch zu erklären. In diesem Sinne äußerte sich über den Film Barbara Mruklik und bewies, dass der Regisseur die Diskrepanz zwischen einer zu Grunde gehenden soziokulturellen Form und einer aufkommenden neuen Ordnung zeigte; um das zu erreichen, konstruierte der Künstler jede Szene aus zwei unterschiedlichen und gegensätzlichen Perspektiven: einer faktographischen, in der der Ulanenmythos die führende Rolle spielte, und einer subjektiven, einer Vision der Apokalypse, in der der gleiche Mythos dominierte, allerdings verstrickt in malerische Zusammenhänge und Interpretationen.14 12

13 14

Eine präzise Analyse des ‚Malerischen‘ in Lotna habe ich in nachfolgendem Buch durchgeführt: Inspiracje plastyczne w twórczości filmowej i telewizyjnej Andrzeja Wajdy. Katowice 1987, insbes. S. 39, 44ff., 58f., 75 u. 106. S. Michałek: Szkice o filmie polskim. Warszawa 1960, S. 93. B. Mruklik: Andrzej Wajda (Anm. 8), S. 41.

Der Kavalleriemythos im Film ‚Lotna‘ von Andrzej Wajda

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Das Problem ist, dass der Film nicht eindeutig Wajdas Einstellung als Beschützer oder Kritiker des Kavalleriemythos zeigt. Sicherlich ist es schwierig für einen Künstler, der so eng mit dem Mythos verbunden ist, gleichzeitig beide Gesichtspunkte zu vertreten, aber in diesem Fall ist die mangelnde Entschlossenheit zu auffällig. Dadurch wirkt der Film in jeder Hinsicht nicht einheitlich, eklektisch und manchmal aufgeblasen und künstlich. Interessant ist jedoch, dass man erst nach mehreren Jahrzehnten in Polen die positiven Auswirkungen dieser Zerrissenheit des Künstlers bemerkte und Lotna breiter deutete. Siebenunddreißig Jahre nach der Uraufführung schrieb Ewelina NurczyńskaFidelska: Dieser Film zeigt einen Moment in der Geschichte einer Nation, die für kurze Zeit die Staatsidentität zurückerhielt [1918–1939, d. Verf.] und kurz darauf der immensen Macht des Eindringlings, eines der Besatzer, unterlag. Die Frage nach den Selbstbestimmungschancen des Volkes, dem Fatum der Geschichte kehrt zurück, denn an dieser Stelle die Nation der Schwäche als Quelle der Katastrophen zu bezichtigen, ist nicht mehr berechtigt. Lotna sprengt die Dimension der eigenen nationalen Geschichte und vermittelt Bilder, die als endgültiger Abschied von den Wertsystemen und Vorbildern der Völker Europas und der Welt überhaupt zu verstehen sind. Im Allgemeinen als sehr polnisch wahrgenommen, vom romantischen Geist abgeleitet, versinnbildlicht der Ulanenangriff auf deutsche Panzer symbolisch die Niederlage dieser Systeme, nicht nur im polnischen historischen Kontext der zivilisatorischen Erfahrungen und der Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts.15

Meiner Meinung nach geht die Autorin mit der Interpretation der Botschaft dieses Films zu weit, weist jedoch zugleich auf die richtige Spur der Interpretation hin, die mit den universellen Determinanten des Hauptthemas verbunden ist. Gegen diesen Film können noch mehr Vorwürfe erhoben werden, weil es Wajda weder gelang, einen einheitlichen Stil auszuarbeiten, noch, die Geschichte überzeugend zu erzählen, aber – so scheint es – es ist ihm tatsächlich gelungen, den Kavalleriemythos als Zeichen des Polentums zu universalisieren, was eine Reihe von überwiegend ausländischen Interpretationen von Lotna belegt. Pierre Pitiot befasst sich in seinem ausgezeichneten Buch über ‚den Tod des Kinos‘ und die ‚barocke‘ Filmform ausführlich mit ebendiesem Werk von Andrzej Wajda. Seiner Meinung nach ist die im Film dargestellte Vision der Welt die Veranschaulichung von Ideen, die ihren Ursprung in der Philosophie des Barock haben: der Idee des vervielfältigten Todes, des Todeskampfes des Menschen verbunden mit der Vision des Endes der Kultur, wie auch der Idee des Gesellschaftsuntergangs.16 Er argumentiert überzeugend, dass sich Wajda, ähnlich wie die barocken Künstler, für die Vergangenheit und ihre in der Gegenwart sterbenden Symbole und Attribute interessiert und die dadurch ausgelöste Wehmut artikuliert. Darüber hinaus behauptet Pitiot, das Hauptthema von Lotna sei die Lage der ins Nichts suspendierten Gesellschaft: die Zäsur ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs, der eine neue Gesellschaftsordnung und das Verschwinden einiger sozialer und beruflicher Schichten 15 16

E. Nurczyńska-Fidelska: Historia i romantyzm. Szkic o twórczości Andrzeja Wajdy. In: Kino polskie w dziesięciu sekwencjach. Hg. v. ders. Łódź 1996, S. 11. P. Pitiot: Cinéma de mort. Esquisse d’un baroque cinématographique. Fribourg 1972, S. 16.

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wie der Aristokratie und der Ulanen mit sich bringt; dieses Phänomen symbolisiert auf der Leinwand die ständige Präsenz der nicht zu zähmenden weißen Stute. Besonders interessant ist seine Analyse der letzten Sequenz des Films. Der Held überschreitet eine Grenze und rettet somit sein Leben, aber der Zuschauer weiß nicht, um welche Grenze es sich handelt. Der Grenzpfahl wurde – so der Kritiker – im Bild platziert, um einen Übertritt zu symbolisieren, um die Rolle des Motivs des Übergangs in eine andere Welt zu spiegeln.17 Die Motive aus der Malerei in Wajdas Filmen, obwohl tief in der polnischen Geschichte verwurzelt, bereiten den ausländischen Kritikern keine größeren Probleme. Klaus Kreimeier beginnt die Analyse von Lotna mit folgender Beobachtung: „Die Kavalleriesymbolik ist in Form eines Stilllebens komponiert: zwei gekreuzte Säbel, eine Offiziersmütze, Kerzen.“18 In seiner Interpretation des Films taucht der Begriff des Sakralen auf, der in polnischen Analysen von Lotna erst gegen Ende der 1990er Jahre verwendet wird. Laut Magdalena Krośnicka kreierte der Regisseur die Zeit der September-Kampagne als ein Bild des polnischen orbis interior, als einen offenen Raum, in dem der sich fortbewegende Kavallerietrupp „mit seiner Anwesenheit seine sich zunehmend in Folge des Krieges verändernden Grenzen bestimmt.“19 Die Kritikerin weist nach, dass in Wajdas Werk „die Aufgabe, das Universum zu schaffen, ein weißes Pferd – Lotna – übernimmt. Gleichzeitig wird sie zum Symbol der axis mundi.“20 Krośnicka weist auf die Tatsache hin, dass Lotna ein todbringendes Motiv ist. Die Protagonisten des Films betonen mehrfach ihre negative Kraft. Mit anderen Worten vermittelt sie zwischen zwei Leinwandwelten – Sacrum und Profanum. Das Schicksal des Trupps ist in gewissem Sinne mit dem Schicksal von Lotna verknüpft. Das Pferd bricht ein Bein und stirbt, erschossen von Feldwebel Latoń und Leutnant Wodnicki. Über ihrem symbolischen Grab (sie wird mit grünen Tannenzweigen bedeckt) bricht Wodnicki seinen Offizierssäbel. Diese Gesten sind im Film eine Art Metapher des Schicksals der Vorkriegswelt, ‚des adligen Polens‘, einer Welt, deren Werte Wajda in diesem Film vor dem Vergessen zu bewahren suchte.21

Wajda würde Lotna gern noch einmal drehen. Er spricht oft darüber und betont, dass er nach der Uraufführung dieses Films einen eigenen Stil entwickelte, in dem es ihm gelungen war, die Ästhetik von Kino und Malerei zu vereinen. Außerdem gebührt dem Kavalleriemythos ein besonderer Platz in der polnischen Kunst. Der Regisseur schuf und verkündete sein künstlerisches Programm mehrere Male, und immer nannte oder 17 18 19

20 21

Ebd. K. Kreimeier: Nach der Schlacht. In: Andrzej Wajda. Hg. v. P. W. Jansen und W. Schütte. München 1980, S. 7–60, hier. S. 31. M. Krośnicka: Sacrum według Wajdy. Przestrzeń sakralna w filmach: „Lotna“, „Kanał“, „Popiół i diament“. In: „Szkoła polska“ – powroty. Hg. v. E. Nurczyńska-Fidelska und B. Stolarska. Łódź 1998, S. 101. Ebd., S. 102. Ebd., S. 104.

Der Kavalleriemythos im Film ‚Lotna‘ von Andrzej Wajda

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betonte er die Bedeutung von Lotna. Im Jahre 1969 schrieb er ein ungewöhnliches „Geständnisszenario“, in dem er sein eigenes ikonographisches Repertoire präsentierte und auf den festen Zusammenhang zwischen dem Nationalgeschichtlichen und dem Persönlichen in seinem Werk verwies. Hier ein Fragment des Textes: Ich möchte einen wunderschönen Film machen. Ich fühle mich alt, und habe es satt nachzuäffen und die Zunge zu zeigen. Ich möchte in meine Kindheit zurück. Ich glaube, dass ich nach fünfzehn Jahren Filmemachen die Chance habe, so einen Film zu machen… Baden im Fluss; Ich auf dem Pferd – Vater, Mutter; Kavallerieorchester; Vorspann; Die Gutsherrin spannt Pferde ein – sie will sich den Kavallerieangriff ansehen... Oder – Vater gibt mir Reitunterricht; Defilee und Soldatenbegräbnis (hinter dem Zaun), Die Auffahrt eines Geschützes; Kasino und Kossaks Bilder; Nach dem Vorspann – ein Ball; Wir (mein Bruder und ich) in Tschakos in einem Zelt; Picknick – Vater und Mutter (Beata); Ein Trauerzug betritt eine Hochzeit... Ende: Ein weißes Pferd auf Schnee und eine Blutlache...22

Mehrfach versuchte Wajda, dieses Geständnis in ein konkretes Drehbuch umzuwandeln, aber er gibt zu, dass er zu viele Ideen für Fabel und Ikonographie hat, um eine Wahl zu treffen. Einmal möchte er eine einfache Welt auf die Leinwand zaubern, in der der Kavalleriemythos „das Verschwinden dieses Landes voller Äpfel, Apfelgärten, golden schimmernder Weiden, violetten Herbsthimmels“23 bedeuten würde, ein anderes Mal scheint es ihm, dass Lotna ein Film über seine Eltern sein sollte, über seinen Vater, der in den Krieg ging und in Katyn starb, und über seine Mutter, die mit den Kindern vor den Deutschen floh. Er zieht auch andere Versionen des Drehbuchs in Erwägung, und da er so anschaulich und überzeugend darüber spricht, lassen wir ihn noch einmal erzählen: Einen Film aus vier, fünf knappen, geschlossenen Erzählungen machen, deren Handlung sich auf der Flucht abspielt. Sie mit der Geschichte von Lotna verbinden, aber nur betonen, dass jedes Mal, wenn wir sie sehen, jemand anderer sie reitet. Es könnte ein wunderschönes altpolnisches Ritterepos über ein Pferd entstehen, eine dezente Skizze vor dem Hintergrund der Apokalypse einer sterbenden, untergehenden Vorkriegswelt (hier die Todesszene im Kornlager). An Material fehlt es nicht. Tagebücher, die Erzählungen von Andrzejewski, etwas aus seiner Szosa Zaleszczycka […]. Das Drehbuch bestand aus ein paar Erzählungen. Sie werden 22 23

Ausschnitt aus dem Text der Einladung zum Empfang zu Ehren einer Delegation von britischen Filmemachern im Dezember 1969. Zitiert nach Miczka: Inspiracje… (Anm. 12), S. 76f. Zitiert nach Janicki: Marzenia… (Anm. 6), S. 30.

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durch die Gestalt eines Mannes verbunden, in dessen Hände durch Zufall wichtige Militärdokumente fallen. Er verfolgt den Empfänger. Am Ende stellt sich natürlich heraus, dass die Papiere wertlos sind. […] Wir haben uns furchtbar mit diesem Drehbuch abgeplagt […]. Allerdings hatte es eine gute Struktur und enthielt ein paar Szenen, die Lotna bereichern oder sogar retten könnten. Man könnte aus Lotna auch einen Western machen. Eine Geschichte von vier Männern, die ein Pferd begehren. Den ganzen Text müsste man neu schreiben, da es Lotna an psychologischen Szenen fehlt – Szenen der Eifersucht. Anfang des Films: die Schwadron steht irgendwo in der Nähe der sich formenden Front. Eine Garnisonsstadt. Ein Palast – ein alter Gutsbesitzer – ein wunderbares Pferd. Wir sehen die Schwadron während der Übungen – herrliche, gut eingespielte Jungs... Defilees, Bälle... Und plötzlich – Krieg. Ich muss es nicht ausdenken, diese Bilder erscheinen vor meinen Augen.24

Aus Wajdas Worten muss man den Schluss ziehen, dass Lotna ihn in solchem Maße ‚verfolgt‘, dass er weder ihr Beschützer sein kann, der wirksam den Kavalleriemythos aktualisieren, gar modernisieren würde, noch ihr Kritiker, der ein wichtiges Argument in die Auseinandersetzungen über die nationale Geschichte einbringen könnte. Darüber hinaus erregen seit 1989 die alten polnischen Mythen nicht mehr so ein großes Interesse bei den Polen, wie sie es zur Zeit des ‚realen Sozialismus‘ taten. Wenn man alles Beliebige mit dem Mythos tun kann, wenn die Zensur nicht mehr stört, werden die bis dato dringlichsten Dinge auf einmal zweitrangig; wenn man nach Erfolg bei den Rezipienten strebt, müsste man sie in den populären Konventionen der modernen Massenkultur platzieren. Wajda ist sich des Risikos, das die Auseinandersetzung mit nationalen Mythen mit sich bringt, bewusst. Er nimmt dieses Risiko ständig auf sich, jedoch wird die Realisierung der neuen Version von Lotna von dem achtzigjährigen Künstler weiterhin aufgeschoben. Er kann sich nicht entscheiden, welche von den ihm vor Augen stehenden Bildern auf die Leinwand übertragen werden sollten, damit der Kavalleriemythos die Zuschauer des 21. Jahrhunderts wahrhaft, tief und überzeugend bewegen könnte.

24

Ebd., S. 27f.

JUTTA RADCZEWSKI-HELBIG

Liebe im Krieg. Zu dem Film Gruppenbild mit Dame (1977) von Aleksandar Petrovic nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Böll

Seit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung hat sich viel verändert, auch die Perspektive der Deutschen auf die Zeit des Dritten Reiches. Im letzten Jahrzehnt sind zahlreiche Bücher und Filme über die Leiden und Qualen der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, während Flucht und Vertreibung sowie beim Untergang der deutschen Städte im Bombenhagel erschienen, durch die das Volk der Täter langsam begonnen hat, sich auch als ein Volk der Opfer zu begreifen, ohne je die Schuld an Holocaust und Krieg verleugnen oder vermindern zu wollen; denn in dieser neuen Phase der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Terror und seinen Folgen handelt es sich weniger um faktische Geschichte als vielmehr um erlebte Geschichten.1 Der Kritiker Andreas Kilb bemerkt denn auch schon in seiner Besprechung von Jörg Friedrichs Aufsehen erregendem Buch über den Bombenkrieg, Der Brand,2 es gehe nicht mehr darum, „Schuld festzustellen“, sondern vielmehr „um die Feststellung des Schmerzes.“3 Doch all diese Themen sind nicht neu, sie brechen keine vermeintlichen Tabus, denn sie begleiten die Deutschen schon seit 1945, im privaten wie auch im öffentlichen Leben.4 Einer der Ersten, der seine persönlichen Kriegserlebnisse und -erfahrungen in Literatur umsetzte, war Heinrich Böll (1917–1985). In seinem bedeutendsten Werk, Gruppenbild mit Dame (1971), findet sich präfiguriert, was heute als Novum gilt. Anhand einer inhaltlich und formal breit angelegten Familiensaga nimmt er noch einmal die verschiedensten Aspekte politischen Geschehens und individueller Berichte aus 1 2 3

4

Vgl. Norbert Frei: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen. München 2009, S. 25. Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945. München 2002. Andreas Kilb: Das Zeugnis. Jörg Friedrichs Buch hat nur einen Feind: den Bombenkrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. November 2002, S. 35. Vgl. auch Christoph Kucklick: Terror gegen den Terror? Der Bombenkrieg gegen Nazi-Deutschland. In: GEO. „Tabu-Thema“ Bombenkrieg. Verbrechen gegen die Deutschen? 02 (2003), S. 122. Vgl. Norbert Frei: Deutsche Lernprozesse. In: 1945 und wir (Anm. 1), S. 42.

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Jutta Radczewski-Helbig

Kriegs- und Nachkriegszeit auf, geht jedoch einerseits bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, und erinnert andererseits mittels Schilderung der Schicksale der Handlungsträger und einer Gruppe fiktiver Auskunftspersonen an die Luftangriffe auf seine Heimatstadt Köln, die Nachkriegszeit in Trümmern und den Wiederaufbau. Obwohl die Figur der naiv-unschuldigen Leni Gruyten den Roman zusammenhält, handelt es sich hier nicht nur um die ‚einfache‘ Lebens- und Liebesgeschichte einer Frau, sondern um deren Einbindung in ein Gesellschaftspanorama, das in seiner Vielschichtigkeit hier nicht in Gänze thematisiert werden kann und bereits höchst moderne literarische Ansätze wie die Dekonstruktion (Jacques Derrida; Paul de Man), Erinnerung (Pierre Nora; Aleida und Jan Assmann) und Intertextualität (Julia Kristeva) vorausnimmt, in sich vereint. Aus deutscher Sicht durch den sogenannten Verfasser (Verf.) scheinbar objektiv dokumentiert, in Wirklichkeit aber sehr subjektiv, mit ironischem Unterton dargestellt, fragt auch Böll nicht nach den Schuldigen, sondern appelliert an das Mit-Leiden, an die Einsicht in die Universalität des Schmerzes und in das Wunder des Überlebens. In der Sekundärliteratur kommen diese Anliegen des Autors meist zu kurz, steht doch meist die Leistungsverweigerung gegenüber der Wirtschaftswundergesellschaft in der jungen Bundesrepublik im Vordergrund. Dabei sollte man Bölls Roman vor allem als poetische Utopie, als idealistischen Entwurf einer christlich-humanen Gegenwelt zur gesellschaftlichen Realität begreifen, in der mutige Menschen in ihrem alltäglichen Umfeld gegen das offensichtliche oder verborgene Unrecht verletzender, unwürdiger Normen ankämpfen, auch wenn sie dadurch des ‚Abfalls‘ bezichtigt werden, weil sie eben von der offiziellen politischen Linie abweichen, ‚abfallen‘. Insofern könnte man Bölls Gruppenbild insgesamt im Zeichen der Verweigerung betrachten, wobei Verweigerung als Variante des Widerstands gelesen werden muss. Richard Löwenthal betont, es gebe radikal verschiedene Formen des Widerstands, und weiter, dass Widerstand im totalen Staat immer nur der Widerstand einer Minderheit, also niemals Repräsentant des Volkswillens sein könne. Auch die Verweigerung Einzelner gehöre dazu; als Beispiel nennt er die individuelle Hilfe für vom Regime Verfolgte oder für „einen bei der Arbeit getroffenen Fremdarbeiter, wodurch Menschlichkeit politische Qualität erlange.“5 Diese Analyse trifft genau auf die schon erwähnte Hauptfigur des Romans zu: Die Tochter des wohlhabenden Bauunternehmers Hubert Gruyten, Leni, eigentlich Helene Maria,6 geboren am 17. August 1922, hasst den Krieg – und jegliche Form von Unmenschlichkeit. Ihre Vornamen verweisen denn auch auf eine Amalgamierung von Antike und Christentum, von Sinnlichkeit und Glauben, die 5

6

Richard Löwenthal: Widerstand im totalen Staat. In: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933–1945. Hg. v. Richard Löwenthal und Patrik von zur Mühlen. Bonn 1997, S. 11, 13 und 22– 24. Vgl. Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame. 14. Aufl. München 1986, S. 126f.; dazu: Hans Küng: Ein heimatloser Katholik? Heinrich Böll und die Sehnsucht nach Humanität. In: Anwälte der Humanität. Hg. von Walter Jens und Hans Küng. München und Zürich 1993, S. 241–315, hier: S. 287f.: „Schon in seinen ‚Köln-Gedichten‘ (1968) hatte Böll die christlich heidnische Ambivalenz der Marienverehrung […] durchschaut […]: ‚stolpert die Madonna hinter Venus her […].‘“

Der Film ‚Gruppenbild mit Dame‘ von A. Petrovic nach dem gleichnamigen Roman von H. Böll 367

sich in ihrer Person zu einem ganzheitlich-‚heilen‘, bzw. zu einem ‚heiligen‘ Bild weiblicher Liebe und Barmherzigkeit zusammenfügen und die Grundlage zu ihrem ‚Widerstand des Herzens‘ bilden. Untrennbar mit diesem Widerstand verbunden sind jedoch auch ein natürliches Moralbewusstsein sowie alle Stufen emotional geprägter Nächstenliebe. Gerade darum schildert der Roman ausschließlich verschiedene sanfte Formen der Liebe, die auch im Krieg möglich und tatsächlich sind, verzichtet also auf Darstellungen von Gewalt gegen Frauen, Verschleppung, Vergewaltigung und physischen Tod. Im Vordergrund stehen hier die seelischen Regungen und Reaktionen der Menschen in ihrem Glück, ihrer Angst und Trauer. Gerade diese Eigenschaften und Umstände dürften den damals wohl bekanntesten serbischen Cineasten Aleksandar Petrovic (1929–1994) fasziniert und inspiriert haben, Bölls Roman zu verfilmen.7 Wie der deutsche Verfasser der Vorlage will auch der jugoslawische Filmregisseur weniger heroisch, sondern eher alltäglich von der Vergangenheit sprechen und darüber hinaus von der zeitgenössischen Realität Jugoslawiens Zeugnis ablegen. Seine Motivation gründet in persönlichen Erfahrungen mit dieser Diktatur, die ihn, seiner anti-kommunistischen Einstellung wegen, 1973 zwang, die Leitung der Belgrader Filmakademie abzugeben und das Land zu verlassen. Wenige Jahre später stößt er auf Bölls Gruppenbild und adaptiert den Roman in einer deutsch-französischen Koproduktion von Martin Hellstern.8 Angesichts der Unmöglichkeit, der ungeheuren Dichte des Romans in einem Film von knapp 90 Minuten Spieldauer gerecht zu werden, schreibt er selbst mit Jürgen Kolbe, zunächst unter Bölls Mitwirkung, ein Drehbuch, das sich im Wesentlichen auf Ausschnitte aus Lenis Leben in der NS-Diktatur sowie ihre Liebe zu dem sowjetrussischen Kriegsgefangenen Boris Lvovic Koltowski mitten im Luftkrieg konzentriert. Obwohl Petrovic die Handlung von Köln nach Berlin verlegt, ist er ansonsten bemüht, die Vieldeutigkeit und Symbolik der literarischen Vorlage in Text und Bild zu transferieren.9 Er streicht jedoch den ‚Verfasser‘, vereint vielmehr dessen Erzählerfunktion mit der ohnehin schon bedeutenden Rolle des Gärtnereibesitzers Walter Pelzer, der so zur Verbindungsfigur zwischen Menschen, Orten und Zeiten avanciert. Auch der Film betont die Kerngeschichte des als Triptychon gestalteten Romans, in dem die Zeiträume und Geschehnisse zwischen 1899 und 1943 sowie von 1946 bis 1970 wie Seitenflügel eines Altars wirken, in dessen Mittelbild die Heilige Familie erscheint: Leni mit Boris und ihrem Sohn Lev (geboren am 2. März 1945) im Schutz der Beauchamp-Kapelle und der katakombenartigen Grüfte des Kölner Zentralfriedhofes,10 umgeben von Trümmern. Der Filmregisseur behält also die zeitliche Dreiteilung bei und damit die zentrale, von 1943 bis 1945 zwischen Pelzers Friedhofsgärtnerei und Luftschutzkellern spielende 7 8 9 10

Vgl. Aleksandar Petrovic: Gruppenbild mit Dame. Film. Uraufführung in Cannes, 26. Mai 1977. Vgl. http:// fr.wikipedia.org/wikij – Zu Aleksandar Petrovic und seinem Schaffen. Vgl. Christian Ferber: Romy ganz ausgeschöpft. Petrovics Film ‚Gruppenbild mit Dame‘ in Cannes uraufgeführt. In: Die Welt, 26. Mai 1977, S. 23. Vgl. Böll: Gruppenbild mit Dame (Anm. 6), S. 252.

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Haupthandlung, begleitet von Ausschnitten aus Lenis Vor- und Nachgeschichte, die aber nun den Zeitraum von 1936 bis 1985/86 umfassen. Die verschiedenen Szenen stehen zwar immer mit Lenis Erfahrungen und Entwicklungen im Zusammenhang, können jedoch vom Betrachter oft nur schwer als solche erkannt werden, weil der filmische Inhalt gleichzeitig zu reichhaltig und zu lückenhaft ist und ohne Kenntnis des Romans unverständlich bleibt. Böll lag das Drehbuch 1976 in der deutschen Version von Milo Dor vor, doch aufgrund „erheblicher Mängel“ distanzierte er sich von dem Filmprojekt.11 Nach der Uraufführung bei den Filmfestspielen in Cannes am 26. Mai 1977 hagelte es jedenfalls schlechte Kritiken, die von negativen Besprechungen bis zu gemeinen Verrissen reichten; allein Titel wie Hinrichtung eines Böll-Romans von Hans C. Blumenberg12, Im Rasierspiegel von Hellmuth Karasek13, und erst recht Kopf-Salat statt Gruppenbild von Ruprecht Skasa-Weiß14 verweisen auf die radikale Verkürzung und teilweise Verformung der literarischen Vorlage wie auch auf die allzu häufig angewandte Großbild-Technik.15 Allerdings werden einige Äußerungen weder der künstlerischen Intention des Filmregisseurs noch den darstellerischen Leistungen der Schauspieler gerecht.16 Der Film beginnt mit einem Vorspann aus dem Jahr 1936, der mehrere Nonnen in der Halle jenes Klosters zeigt, in dem Leni einige Schuljahre verbrachte, doch zunächst kann niemand ahnen, dass es sich um eine Gerichtssitzung über die jüdische, zum Katholizismus konvertierte Schwester Rachel Maria Ginzburg handelt, die die Schülerinnen durch biologistische Lehren verdorben haben soll. In Wirklichkeit wird Rachel Lenis Vorbild, ihr verdankt sie die eigenständig-natürliche Empfindungs- und Urteilskraft, durch die sie unabhängig vom jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Umfeld ihre Menschlichkeit bewahrt. Doch 1936 sind die verwerflichen Erziehungsmethoden nur ein Vorwand, um sich der jüdischen Nonne zu entledigen, der angesichts der nationalsozialistischen Rassentheorie weder ihr christlicher Glaube noch ihre humanistische Einstellung zu helfen vermögen. Fortan lebt sie versteckt im Kloster wie in einem Verlies, wo sie 1943 trotz Lenis heimlicher Hilfe vor Hunger und Kälte stirbt. Hier deutet sich jener unbewusste passive Widerstand aus Freundschaft und Mitgefühl bereits an, der die Hauptfigur auszeichnet. Und noch etwas anderes kommt zum Vorschein: Dem 11 12 13

14 15 16

Vgl. Werner Bellmann: Heinrich Böll. Gruppenbild mit Dame. Stuttgart 2002 (RUB, Erläuterungen und Dokumente, 16028), S. 193. Vgl. Hans C. Blumenberg: Hinrichtung eines Böll-Romans. In: Die Zeit, 27. Mai 1977. Vgl. Hellmuth Karasek: Im Rasierspiegel. In: Der Spiegel, 6. Juni 1977, S. 198: „Bölls Gruppenbild mit Dame […], eine angenehm verschlampte Geschichte von einer Frau […]. Eine Schnulze [von] einem Mädchen, das sich nach Heidekraut unterm Hintern sehnt […]. Nostalgie aus dem Ramschladen der Oberflächlichkeit.“ Vgl. Ruprecht Skasa-Weiß: Kopf-Salat statt Gruppenbild. In: Stuttgarter Zeitung, 31. Mai 1977. Vgl. Franz Moellmann: Cinéma et Littérature. Deutsches Kino und Literatur. Paris 1996, S. 243. Vgl. Ruprecht Skasa-Weiß: Kopf-Salat statt Gruppenbild. In: Stuttgarter Zeitung, 31. Mai 1977: „Romy Schneider, man weiß, spielt die Leni – und wie nun? […] [D]iesmal hat sie fast etwas von einer holsteinischen Milchkuh […].“

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Schicksal der Edith Stein nachempfunden,17 repräsentiert Rachel die Heilige, die über ihren Tod hinaus wirkt und Wunder tut, denn ab 1943 blühen auf ihrem Grab jedes Jahr im Dezember Rosen; sie blühen als Zeichen ihrer Freude an Lenis und Boris’ Liebe, bilden aber nach Boris’ Tod eine Parallele zu den Rosen auf seinem Grab.18 Noch zu ihren Lebzeiten ist Rachel Lenis engste Vertraute und als solche eingeweiht in Lenis Liebe zu ihrem Vetter Erhard Schweigert. Durch diese Figur artikulieren Böll wie Petrovic recht ambivalente Gefühle, die wohl die romantische Liebe des jungen Mannes offenbaren, mehr noch aber seine radikale Ablehnung des Nationalsozialismus demonstrieren; den verzweifelten Hass auf Hitler-Deutschland teilt er mit Lenis Bruder Heinrich, beide bezahlen ihn mit dem Tod durch Erschießen, als sie in einem Schlauchboot von Dänemark nach Schweden desertieren wollen.19 Im Roman begeht Leni daraufhin ihren „existentiellen Fehltritt“, muss aus Anstandsgründen Alois Pfeiffer heiraten, der jedoch bereits wenige Tage später in Grodno an der Ostfront fällt.20 Während Böll ein weiteres typisches Soldaten- und Kriegsschicksal konstatieren will und Leni zugleich ihrer absoluten Reinheit enthebt, spart der Film diese Episode aus; Leni bleibt stets das Fräulein Gruyten und gerät aus Not und im Zuge des allgemeinen nationalsozialistischen Arbeitszwangs in Walter Pelzers Friedhofsgärtnerei. Schon bald erweist sie sich als äußerst geschickte Kranzbinderin, und bald tritt auch der junge sowjetische Kriegsgefangene Boris Koltowski in dieses „kriegswichtige Unternehmen“ ein, begleitet von dem einäugigen Wachsoldaten Boldig, heimlich geschützt durch einen „hochgestellten Herrn“, hinter dessen Namenlosigkeit sich wohl Alfried Krupp verbirgt.21 Die Belegschaft stellt jedoch nicht nur Kränze für die Gräber gefallener Soldaten her, sondern spiegelt vor allem verschiedene Auffassungen des nazistischen Systems wie des Krieges wider. Der junge Invalide Kremp, ein fanatischer Anhänger des Regimes, zeigt ganz offen seinen Hass auf Deutschlands Feinde, vor allem die Russen. Seine Unverschämtheiten gegenüber Boris lösen jedoch bei Leni Mitleid, Wut und Widerstand aus, denn ‚mit dem Herzen sehend‘ (Antoine de Saint-Exupéry), erkennt sie, über alle Vorurteile erhaben, das Wesen dieses Mannes. Herkunft, Nation, Konfession, auch Krieg und Nazi-Ideologie werden bedeutungslos. Leni zeigt sich spontan dem jungen Gefangenen zugeneigt und nimmt ihn als „subversive Madonna“ unter ihre Fittiche.22 Progressiv verteidigt sie sein Recht, als Mensch behandelt zu werden. Und ungeachtet der üblen Bemerkungen, der empörten oder erstaunten Blicke und aller Gefahren, hebt sie ihm gleich eingangs seine zu Boden gefallene Brille auf. In der – im Buch wie im Film –berühmten Kaffeeszene, übergeht sie geflissentlich Kremps grobe Versuche, Boris von 17

Vgl. Bellmann: Heinrich Böll (Anm. 11), S. 84. Vgl. Böll: Gruppenbild mit Dame (Anm. 6), S. 242 und S. 306–308. 19 Vgl. ebd., S. 74. 20 Vgl. ebd., S. 117. 21 Vgl. Bellmann: Heinrich Böll (Anm. 11), S. 57. 22 Vgl. Die subversive Madonna. Ein Schlüssel zum Werk Heinrich Bölls. Hg. u. mit einem Vorwort versehen. v. Renate Matthaei. Köln 1975. 18

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der Kaffeepause auszuschließen und schenkt dem jungen Russen im Ausgleich einen Becher ihres eigenen, echten Bohnenkaffees ein. Aus ihren christlich-humanen Gesten der Nächstenliebe werden politische, doch als sie Boris eines Tages unauffällig die Hand streichelt, als lege sie ihm ihre segnend auf, wird ihre Liebe zu ihm besiegelt. Diese Situation ist für beide jedoch höchst riskant, denn dem Gesetz, das sexuelle Beziehungen mit dem Feind strengstens verbot, zum Trotz werden Leni und Boris ein heimliches Liebespaar, das die Bombenangriffe nutzt, um sich ungestört in einer Friedhofskapelle zu treffen. Während ringsum die Stadt in Trümmer fällt, sind Leni und Boris glücklich. Ihre Liebe zeigt, dass sich Zuneigung und Verstehen nicht durch politisch geschürte Feindschaft und angedrohte Strafe unterdrücken lassen; insofern ist sie auch Vorbotin einer neuen Zeit und Gesellschaft. Noch können sich diese Gefühle nur versteckt äußern, sei es im Schutz des „katakombenähnlichen Gruftsystem[s]“ des Zentralfriedhofs,23 sei es durch Poesie. Indem Heinrich Böll Boris, den russischen Ingenieur und Intellektuellen, über erstaunliche Kenntnisse der deutschen Sprache und Literatur verfügen und für Leni Gedichte rezitieren lässt – darunter auch einige von Georg Trakl,24 die die heimlichen Liebesgefühle wie auch erste Todesahnungen aussprechen – mahnt der Autor auf seine Weise, ähnlich wie schon Max Frisch, dass man sich ‚kein Bildnis‘ anderer Menschen machen solle. Doch nur die Liebe vermag diese Freiheit zu schenken. Bei Leni und Boris offenbart sie sich im gemeinsamen Gesang: Beide singen während der Arbeit, und diese lyrischen Momente versinnbildlichen die seelische Harmonie einer durch Geheimnis und „Intensität mystisch gewordenen Liebe[,]“25 bilden von daher geradezu „die poetische Antithese des Lebens gegen den gesellschaftlichen Tod.“26 Die melancholischen, von Leni auf zarte Schubert-Melodien27 übertragenen Verse ziehen die Kranzbinder in ihren Bann. Im Roman heißt es: „Das war doch ein wahrer Sonnenschein, wenn die Leni mal was sang. […] Man konnte schon sehen, hören, spüren, dass sie nicht nur verliebt war, auch geliebt wurde – aber in wen und von wem – das hätte doch keiner von uns geahnt, weil der Russe so ganz still immer dabeistand und stur weiterarbeitete.“28 Doch ganz so still ist Boris nicht, er kennt viele deutsche Volksweisen und hat laut Pelzer „auch die Adelaide von Beethoven […] gesungen, musikalisch makellos in makellosem Deutsch“… Aber auch „etwas zuviel Liebeslie-

23 24

25 26 27 28

Vgl. Böll: Gruppenbild mit Dame (Anm. 6), S. 252. Vgl. ebd., S. 205: „Der Ahnen Marmor ist ergraut“; „Mädchen stehen an den Toren, schauen scheu ins farbige Leben, ihre feuchten Lippen beben und sie warten an den Toren.“; „Oft am Brunnen, wenn es dämmert, sieht man sie verzaubert stehen, Wasserschöpfen, wenn es dämmert, Eimer auf und niedergehen.“ Und S. 206: „Abends kehrt in alte Garten, Sonjas Leben, blaue Stille […].“ Arpad Bernath: Zur Stellung des Romans ‚Gruppenbild mit Dame‘ in Bölls Werk. In: Matthaei (Hg.): Die subversive Madonna (Anm. 22), S. 38. Matthaei (Hg.): Die subversive Madonna (Anm. 22), S. 8. Im Roman und im Film wird Lenis Sensibilität durch ihr Klavierspiel von Schubert-Sonaten hervorgehoben. Böll: Gruppenbild mit Dame (Anm. 6), S. 206.

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der.“29 Pelzer, der ewige Opportunist, damalig noch NS-Parteigenosse mit recht undurchsichtigen Verbindungen, weiß also um dieses Liebesverhältnis und schützt es. In ebenjener Situation soll Boris durch einen deutschen Ausweis vor drohenden Gefahren geschützt werden. Lenis Freundin, die Lazarettschwester Margret, kann helfen. Da sie ihre Kriegsexistenz ohnehin durch Prostitution zu bessern sucht, schläft sie auch mit Boldig, diesmal, um für Boris das Soldbuch des Gefallenen Alfred Bullhorst zu stehlen, also aus ehrenwerten Motiven und dem Willen zu helfen. Niemand kann ahnen, dass diese neue Identität Boris zum Verhängnis wird und seine Heiratspläne mit Leni zerstört: Kurz nach dem Krieg, ohne Entlassungspapiere, wird er von einer amerikanischen Militärstreife verhaftet und nach Frankreich abgeschoben, wo er in einem lothringischen Bergwerk umkommt. Diese Wende zeigt die ganze Tragik der Vergeblichkeit: Boris stirbt, nachdem er die höchst prekären Jahre des Krieges, der Gefangenschaft und der Luftangriffe auf die Stadt überlebt hat, so auch das erschütternd dargestellte Bombardement in den letzten Tagen vor der deutschen Kapitulation. Obwohl die Auswahl dieser Szenen nur fragmentarisch, schattenhaft Todesangst und Verlassenheit der dem Geschick absolut ausgelieferten Menschen darzustellen vermag, vermittelt sie etwas von dem Unaussprechlichen, das sich in den Bunkern abgespielt haben mag. Die Ausdrucksskala der Verzweiflung reicht von Apathie und Resignation über Gebete, Tränen, Schreie, Zähneklappern bis zum spontanen Liebesakt eines Mannes mit einer fremden Frau; angesichts des Ausmaßes der Vernichtung lösen sich Grenzziehungen auf. Es ist klar: „Das zentrale Thema von Böll ist ‚die Liebe im Krieg‘.“30 Schwierige Situationen stellen geradezu die Voraussetzungen für diejenige Liebe dar, die Böll darstellen will, eine Liebe mit vielen Gesichtern, die in Extremsituationen, im Angesicht von Diktatur und Krieg, eine besondere Qualität erreicht, indem sie sich im Gewand der Sympathie, der Freundschaft und Nächstenliebe mit der Verweigerung von Unrecht, Hass, Feindschaft und Tod verbindet und bewährt. Ebendarum lassen sich die der Liebe eigene Vielfalt und ihre eigentliche Funktion nur in einem äußerst komplexen gesellschaftlichen Kontext erfassen. Böll bündelt die Grundvarianten der Liebe in der klassisch-religiösen Trinität des Weiblichen: der Entsagenden, der Mutter und der Hure. Da jede aus Barmherzigkeit handelt, ist jede in ihrem Selbstverständnis heil, selbst Margret; Rachel und Leni sind von einer madonnenähnlichen Aura der Heiligkeit umgeben, die sich aus ihrer reinen, vorurteilslosen Menschenliebe speist und bereits durch den Beinamen Lenis, Maria, und das Attribut der Rosen offenbart wird. Aleksandar Petrovic kündigt Lenis Sohn Lev nur an, er lässt ihn nicht in Erscheinung treten, blendet also die Assoziierung mit der Heiligen Familie aus, versucht aber teilweise, andere religiöse Nuancen zu konkretisieren, wie die bereits erwähnte Geste des Handauflegens der 22jährigen Leni (als Kennzeichnung des Beginns ihrer Liebe) und der Wachtraum der 65jährigen Leni, die darin auf geradezu übernatürliche Weise ‚ihre‘ 29 30

Ebd., S. 207 u. 209. Bernath: Zur Stellung des Romans ‚Gruppenbild mit Dame‘ in Bölls Werk (Anm. 25), S. 34.

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Verstorbenen wiedersieht, ihnen Kekse reicht, als wären sie Oblaten. Und in ebendieser Schwebe, zwischen Erinnerung und Imagination, erlebt sie verlorene Kommunion und Kommunikation als Utopie einer absoluten Harmonie. Vielleicht scheinen Roman und Film manchmal zu weit von der Realität des Krieges entfernt, doch als Kunstwerke streben sie nicht nach dokumentarischer Genauigkeit in der Darstellung der ‚äußeren‘ Umstände, sondern vielmehr nach Worten und Bildern, die die geistig-seelische Innenwelt zu erfassen suchen und zeigen wollen, dass Liebe und Kunst stärker sind als Angst, Feindschaft und Zerstörung. Sie verweisen gleichzeitig auf die Universalität des Schmerzes und damit auf den Opferstatus aller Menschen. Dies gelingt Heinrich Böll in einer Mischung aus ironischer Distanz und religiös geprägter Menschlichkeit, während die von Aleksandar Petrovic ausgewählten Episoden gerade durch ihre psychologische Aussagekraft wie Illustrationen des Romans wirken. Unter diesen Aufklärung und Widerstand, Verständnis und Gerechtigkeit erfordernden Vorzeichen konnten und durften Autor wie Filmregisseur schon lange vor der Wende Positionen offenbaren und vertreten, die erst heute diskutiert und nachvollzogen werden.

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Paweł Komorowskis und Klaus Emmerichs filmische Kriegsbilder: Ptaki ptakom (1976) und Die erste Polka (1979)

„Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden […]. Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar.“1 Mit diesen Worten reflektiert Thomas Bernhard die Unmöglichkeit der Objektivität in der Geschichtsdarstellung. Was sich erzählen lässt, erfolgt immer und zwangsläufig unter der Bedingung und Herrschaft des Subjektiven, das sich einerseits aus dem in der menschlichen Natur liegenden Drang zur Individualisierung seiner Erinnerung ergibt, andererseits mit der Unvollkommenheit der Mittel zur Realisierung des Erzählten, seien es Worte oder Bilder, in enger Verbindung steht. Es sind hier zahlreiche Studien zur Erinnerungskultur zu erwähnen, deren Schlussfolgerungen auf die Hervorhebung der subjektiven Materie der Erinnerung und ihres Konstruktcharakters abzielen. Untersucht man im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses die Begebenheiten des Zweiten Weltkriegs und dies noch in den als fiktional paradigmatisierten Künsten der Literatur oder des Films, so stößt man nolens volens auf zweierlei Hindernisse: das der erwähnten Nicht-Darstellbarkeit oder Schwierigkeit der Darstellung der eigenen Erinnerung, unter der Annahme, dass Zeitzeugen zu Wort kommen, wie etwa in literarischen oder filmischen Dokumentationen, und das der künstlerischen Verarbeitung der Begebenheiten, die eine zusätzliche Distanzierung entstehen lassen, auch wenn das jeweilige Kunstwerk in mimetischer Schwärmerei an Gefühle des Empfängers in direkter Weise appelliert. Die in den Anfängen der Filmgeschichte gepriesene Objektivität der filmischen Bilder fällt zwangsläufig der Unmöglichkeit der objektiven Kultur- und Geschichtswahrnehmung zum Opfer, deren Fundamente die Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann stifteten2 und die bis heute in diversen Variationen unsere Kulturwahrneh1 2

Thomas Bernhard: Der Keller. Eine Entziehung. Salzburg 1976, S. 42f. Vgl.: Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main1969.

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mung prägen. Soziale Beziehungen, Rollen und Traditionen scheinen die entscheidenden Faktoren bei der Herausbildung des kulturellen Gedächtnisses zu sein, was wiederum in der Herausbildung der Mythen seinen Widerhall findet. Bernhards „Wahrheitswille[]“ steht somit für den Konstruktwillen, der bei der Fixierung einer jeden Erinnerung eine entscheidende Rolle spielt. Schließlich handelt es sich nicht immer um die Wahrheit von damals, sondern um das Bild der Wahrheit, das im ‚Hier und Jetzt‘, im Punkt ihrer Entstehung, eingebettet ist. Kurzum seien Erinnerungen allesamt Konstrukte menschlicher Kultur und als solche gewähren sie Einsicht nicht in die Geschichte, sondern vielmehr in die Gegenwart, in der das Historische erinnert wird. Denn nicht zuletzt in den kultivierten Erinnerungen kommen Inhalte zu Wort, aus denen Aussagen und Mitteilungen entstehen. Die suggestive Beschaffenheit der „Weise des Bedeutens[,]“3 wie Roland Barthes den Mythos nennt, lässt mit Gewissheit behaupten, dass manche von ihnen lange bestehen, keine jedoch in die Kategorie der ewigen Mythen fallen,4 wenn dies auch in manchen Fällen, wie etwa in diesem, das Heldentum der polnischen Jugend im Zweiten Weltkrieg preisenden, unwahrscheinlich scheint. In seinem für das Verständnis der Mythenbeschaffenheit ausschlaggebenden Werk untersucht Barthes Form, Aussagekraft wie auch Funktion und Wirken des Mythos. Nach Aleida Assmann passen sich Bilder „anders als Texte der Landschaft des Unbewussten an; es gibt eine flüssige Grenze zwischen Bild und Traum, wobei das Bild zur Vision gesteigert und mit einem Eigenleben ausgestattet wird.“5 Dieser Bestimmung nach seien Bilder anfälliger und suggestiver für die Herausbildung von mythischen Aussagen. Über eine so breit angelegte Reflexion hinaus kann – und vielleicht sogar soll – man einem anderen, dem bloßen Auge sich entziehenden Phänomen – der zweiten, quasi als Nebeneffekt entstandenen Seite der immer noch einen Medaille – genauere Aufmerksamkeit schenken. Wie die Fotografie nach Walter Benjamin der Psychoanalyse ähnelt, da „an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt[,]“6 so können Filme ebenfalls manches verraten, was bei üblicher Betrachtungsweise unbeachtet bleibt; und als bedeutungstragender Rohstoff der mythischen Aussage verstecken sie mehr, als der auf ihnen bauende Mythos vermittelt. Beides ergänzt einander und lässt somit den Gegenstand auf das Bewusste und Unbewusste hin überprüfen. Untersucht man die Bilder des Krieges in den im Titel genannten Filmen, deren Handlungen sich in zwei schlesischen Städten abspielen und deren Gemeinsamkeiten von der Zeit, in der sie entstanden sind (1976 und 1979) weit bis hin zur Darstellung der Jugendlichen im Krieg bzw. vor dem Hintergrund des Krie3 4 5 6

Roland Barthes: Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut Scheffel. Frankfurt/Main 1970, S. 85. Vgl. ebd., S. 86. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006, S. 228. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II. 1, hg. v. dens. Frankfurt/Main1977, S. 368–385, hier S. 371.

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ges reichen, so wird sichtbar, dass bei aller Ähnlichkeit der visuellen Realisierung (wie etwa in Bezug auf die Darstellung des Kriegs im Paradigma des Spiels) ganz verschiedene Aussagen, Botschaften, Mitteilungen erzielt werden können. Der Film Ptaki ptakom7 (1976) thematisiert den Widerstand der polnischen Skauten (Harcerze), Mitglieder der im September 1939 im Widerstand gegen die Wehrmacht aktiv mitkämpfenden Organisation, die sich vor allem durch die Verteidigung des Kattowitzer Fallschirmsprungturms verdient gemacht hat und dadurch in die Geschichte Polens eingegangen ist. Die zentrale Figur – Leutnant Karol Profaska, Gymnasiallehrer, der die Kämpfe um das polnische Kattowitz überlebte – versteckte sich eine Zeit lang mit einer kleinen Gruppe Verteidiger in Abwasserkanälen und Kellern, bis er von den Nazis gefangen und am 17. September 1939 hingerichtet wurde. Durch die dem Film vorangehende, an die Skauten gerichtete Zueignung erhält das Werk von Komorowski einen fest umrissenen Interpretationshinweis und wird somit filmhistorisch im Kontext der sogenannten patriotisch-heroischen Kunst verortet, die in der polnischen Kultur bereits seit dem 18. Jahrhundert insbesondere in der Literatur einen wichtigen Aspekt darstellt und auch in letzter Zeit im öffentlichen Bewusstsein in Polen an Intensität gewann. Nicht zuletzt verdankt der Film dies seinem Prototyp – dem 1967 veröffentlichten Roman von Wilhelm Szewczyk mit gleichnamigem Titel.8 Dazu schreibt Krystyna Heska-Kwaśniewicz: Die Beschreibungen der von den Aufständischen und den Skauten unternommenen Verteidigung von Kattowitz, der Kämpfe um Dom Powstańca (das Haus eines Aufständischen) in der Matejkostraße in Kattowitz und um den Kościuszki-Park werden in der klassischen Weise für die märtyrologische Strömung in unserer Literatur realisiert: Treue zu der verlorenen Sache, pure Tragik ohne Wahl – um den Wert zu bewahren, muss der Mensch zugrunde gehen.9

Unbestritten kann bei der Explikation des Films dieser Linie nachgegangen werden, was in den Bearbeitungen und Kritiken oftmals geschah. Zu nennen sind hier etwa die Beiträge von Felix Netz und Janusz Skwara. Der Plot zielt nicht lediglich auf die scharfe Konturierung der Tragik der in den Kampf verwickelten jungen Leute, sondern weist über das Hier-und-Jetzt-Geschehen hinaus transzendental angelegte Begebenheiten auf, die nicht zuletzt in den Bildern des klaren Himmels, in verlangsamten Sequenzen des heroischen Sterbens, in der Musik von Wojciech Kilar, aber auch in den Dialogen hervortreten. So reagiert der Hauptmann Musioł auf den verspäteten Leutnant Profaska mit scherzhafter, aber warmer Ironie: „Wie wirst du wohl jetzt ein Held werden?“10 Held zu sein ist unter diesen Umständen eine Selbstverständlichkeit. Die Stilisierung des Heldentums mag aus der heutigen Sicht befremden, was auch nicht ohne künstlerische 7 8 9

10

Ptaki Ptakom (1976), Regie Paweł Komorowski, Polen. Wilhelm Szewczyk: Ptaki ptakom. Warszawa 1967. Krystyna Heska-Kwaśniewicz: Ptaki ptakom: powieść – scenopis –film. In: Andrzej Gwóźdź (Hg.): Odkrywanie prowincji. Z dziejów X Muzy na Górnym Śląsku. Hg. v. Andrzej Gwóźdź. Kraków, S. 92–112, hier S. 94. (Übersetzung vom Verfasser.) Paweł Komorowski: Ptaki ptakom… Scenopis. Katowice 1975, Szene 9.

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Bedeutung bleibt. Um dies visuell in Szene zu setzen, bedient sich Komorowski diverser lyrischer Ausdrucksmittel. Die Intensität ihrer Bildhaftigkeit, sei es in der Darstellung der am klaren Himmel herumirrenden Tauben, in den kontrastreichen Bildern der Blumen und der Gewehre (wie etwa in der Szene eines Attentats auf einen NaziOffizier), in der Art der Inszenierung des erschossenen, aus dem Fallschirmspringturm von den Nazis heruntergeworfenen Mädchenkörpers, oder in der bewegenden, menschliche Rührung hervorrufenden Musik, variiert von Szene zu Szene und hält somit den Zuschauer einerseits in ständiger emotionaler Spannung, die jeweils abwechselnd mit Bildern der Grausamkeiten des Krieges und mit Szenen der Routinetätigkeiten der Kämpfenden in einer Kontrastbeziehung angelegt ist, andererseits lässt sie eine Distanz zum Dargestellten entstehen. Nicht ohne Grund bezeichnete man den Film als eine Ballade. Für Netz ist er eine „poetische Erzählung, die die geistigen Farben jener Ereignisse ausmalt […]. Der Film hat einen Balladencharakter und ist dabei ein Gruppenbild und in der Erinnerung des Zuschauers bleibt vor allem das Bild der Gruppensolidarität der Verteidiger von Kattowitz.“11 Der Filmemacher stand zweifelsohne vor der schwierigen Aufgabe, sich mit einem lebendigen Mythos messen zu müssen. Höchstwahrscheinlich aus diesem Grund entschied sich Komorowski für die poetischen Bilder, die den Mythos des Fallschirmspringturms in seiner Ausdruckskraft bestärken. Komorowski, der sein Werk selbst als eine „lyrische Reportage“ bezeichnet, sagt dazu: Ich beschloss, ein Portrait der Gruppenemotion zu malen, zumal die Legende von den die Stadt Kattowitz im Park Kościuszki verteidigenden Skauten, die ein historisches Faktum ist, eben auch eine Legende ist. Das bedeutet, dass sie, weil sie über dreißig Jahre lang weiter vermittelt wurde, verschiedene Formen annahm, doch eins war unveränderbar: die Temperatur des patriotischen Aufstandes. Und um diesen Grundwert herum beschloss ich, den ganzen Film zu konstruieren.12

Bei aller detaillierten Schilderung der Ereignisse und aller Neigung zur Exaktheit im Aufzeigen der historischen Begebenheiten intendiert der Film also eher die subjektive Wahrheit als das objektiv Historisch-Nachweisbare in seiner Schärfe zu profilieren, das Höhere im Alltäglichen zu erkennen und dem tragischen Schicksal einen versteckten Sinn zu verleihen. Das erkennt man am deutlichsten in den Worten eines gefangenen Mädchens im Transport zum Hinrichtungsort. Um die Schicksalskommilitonen zu trösten, sagt sie quasi wider die Realität: „Es ist nichts passiert, denk daran nicht, du bist stark und gesund … wir alle sind stark und gesund… Es ist nichts passiert.“13 An einer anderen Stelle tröstet man sich mit ähnlichen Resümees: „Es tut weh mal hier, mal da, der Tod tut weh, aber wir lassen uns nicht niederschlagen.“14 Die auf das PatriotischHeroische reduzierte Menschlichkeit der Protagonisten, die zwar in den tragischen Momenten ihre Gemütsbewegungen zeigen, jedoch zugleich quasi ungeachtet ihrer 11 12 13 14

Felix Netz: Ptaki ptakom… In: Panorama 12 (1977), S. 18. Ebd. Paweł Komorowski: Ptaki ptakom… Scenopis. Katowice 1975, Szene 15. Ebd., Szene 21.

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psychologischen Natur darauf angelegt sind, aus diesen Erfahrungen Kraft zu schöpfen, deutet auf das Konstrukthafte der für die Dramaturgie des Films plausiblen Figurenkonzeption. Die Szene, in der Trutka, eine der Verteidigerinnen des Turms, erschossen wird, verstärkt den Eindruck, dass das ganze Unternehmen (gemeint ist sowohl das Vorhaben der Kämpfenden als auch die filmische Realisierung der Legendendarstellung) auf die Emotionalisierung des tragischen Schicksals abzielt. Die filmischen Augenzeugen sind sich der Tragik der Situation nicht bewusst. Ihrer Meinung nach macht das Mädchen bloß Spaß. Umso schmerzlicher wird die Konfrontation ihrer Vorstellung mit der brutalen Realität, die von der Musik und den lyrischen Bildern des Turmes in der Sonne in ihrer dramaturgischen Aussagekraft entsprechend überzogen wird. Die Jugendlichen trauern, sie sind schockiert, können nicht glauben, dass eine von ihnen nicht mehr unter den Lebenden ist, trotzdem wollen sie weiterkämpfen. Der Glaube an den Sinn ihrer Aufopferung lässt einen neuen, über das Reale hinausgehenden Raum der Vorstellung entstehen, in dem sich das Eigentliche abspielen wird. In der Unbeirrbarkeit der jungen Leute, in ihrer Entschlossenheit, das Kostbarste, was sie besitzen, also ihr eigenes Leben, preiszugeben, in der sie umgebenden Utopie, die ihr Leben ausmacht, steckt ein tief verwurzelter, den Drang zu leben in Frage stellender Idealismus. Möglich und verständlich kann das nur unter der Annahme sein, dass außerhalb der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit eine Instanz waltet, die für diese Harmonie sorgt. Die Entschlossenheit der Figuren im Tun und Denken mag zweifelsohne von der tiefen, beinahe instinktiven Überzeugung von der Richtigkeit ihrer Entscheidungen zeugen, die der Glaube an die Idee ermöglicht. Die Skauten kämpfen und opfern ihr Leben nicht nur für ihre Stadt, sondern vor allem für das Gute und gegen das Böse. Der Film – balladenartig konzipiert – verzichtet auf die Kolorierung der Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß. Polnische Verteidiger symbolisieren lediglich positive Eigenschaften, Deutsche dagegen werden mit nur einer Ausnahme mit eindeutig negativen Attributen versehen. Sie zerstören die bestehende Weltordnung, und um die Harmonie wieder herzustellen, muss auch das Sterben der Jugendlichen einen Sinn haben. Gerade in dieser Überzeugung wurzelt der Idealismus, aus dem sich die Legende um die Verteidigung des Fallschirmspringturms im Kattowitzer Kościuszki-Park speist. Betrachtet man diese Begebenheiten aus einem anderen Blickwinkel, so entsteht der Eindruck, dass allen im Film gezeigten Handlungen eine quasi prosaische, aber für jede Kultur, darunter auch die Erinnerungskultur, relevante Idee – die Idee des Spiels – zugrunde liegt. Bereits in der ersten Kampfszene des Films lässt sich in den ernsthaften, schwerwiegenden Handlungen das spielerische Potenzial erkennen. Im Grubengelände eines der Kattowitzer Kohlebergwerke schleichen die Schatten der Kämpfenden durch die Treppen und Schächte. Ihre Gesichter bleiben beinahe unkenntlich, lediglich dunkle Silhouetten eilen herbei vor dem Hintergrund eines klaren, weißen Himmels. Die Szene des Kampfes wird von einer gewissen Leichtigkeit getragen, vom ernsthaften Pathos des Krieges ist hier keine Spur. Umso stärker ruft sie die Erinnerung an Spielerisches herbei, die nicht zuletzt in der visuellen Realisierung ihre Form erlangt. Im Spiel findet Komorowski die am besten

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geeignete Ausdrucksform zur Darstellung der tragischen Begebenheiten, die die Diskrepanz zwischen den spielerischen Tätigkeiten des Kämpfers an sich und den schwerwiegenden Folgen ihrer Handlungen, die im günstigsten Fall im Gefängnis, im schlimmsten im Tod enden, explizit macht. Schon das Thema des Filmes – die Legende von den Skauten, über deren Erfolg oder Niederlage nicht langjährige, methodische und vor allem planmäßig durchgeführte Vorbereitung, sondern einzig und allein Glück oder Pech entscheidet – evoziert Assoziationen mit dem Spiel. Umso größer erscheint vor diesem Hintergrund der dem Spiel inhärente tragische Gehalt. Der Eindruck eines Spiels wird durch den Handlungsraum des Geschehens bekräftigt. Schlesien – der Schmelztiegel der Kulturen mit seiner verwickelten Geschichte und den nicht minder verwickelten Familienkonstellationen – entbehrt eindeutiger und klarer Positionen. „Wir erkennen uns an Gesichtern“,15 erklärt einer der am Kampf Beteiligten mit rührendem Ernst, da dies für ihn eine Selbstverständlichkeit darstellt. Die am Kampf Beteiligten wären unter anderen Umständen Kommilitonen, die gemeinsam zusammenarbeiten, ja gemeinsam leben könnten. Indem sie kämpfen, spielen sie ein Spiel, dessen Regeln klar festgelegt sind: man bildet zwei Gruppen, die entsprechend feindliche Seiten darstellen, also vortäuschen sollen, da sie sich sonst gut kennen und gemeinsame Interessen haben. Sie stammen aus demselben Stadtviertel, wohnen oft in denselben Mietshäusern, spielten als Kinder in denselben Höfen, sind manchmal gar miteinander verwandt. Am deutlichsten veranschaulicht das ein Familienmitglied Parusels, ein auf polnischer Seite kämpfender Freiwilliger, den er selbst als „chachor“ oder „pieron“16 bezeichnet und lediglich mit dem Attribut „dumm“ versehen kann. Nachdem der Kampf beendet ist, rufen die Ehefrauen und Mütter ihre strapazierten Männer und Söhne zur Mahlzeit. Die Atmosphäre des Spiels tritt umso deutlicher hervor, als dieses in der Regel zeitlich begrenzt und lediglich in einem vorbestimmten Rahmen zu vollziehen ist. Die Skauten erfüllen ihre Rolle im Kampf um Kattowitz mit absoluter Ernsthaftigkeit, doch bei allem Ernst und aller Würde, die sich mit der zunehmenden Legendenbildung um den Fallschirmspringturm in Kattowitz intensivierten und durch den Film zweifelsohne in dieser Tendenz noch bekräftigt wurden, haben die Bilder, die Komorowski wählt, um die Temperatur der Ereignisse zu versinnbildlichen, etwas Kindliches an sich, getragen von einer sympathischen Naivität, die zu den professionellen Kriegshandlungen der Armee, sei es der polnischen oder der deutschen, in klarer Opposition steht. Auf die Frage, warum die Armee nichts tue, um die Stadt zu retten, antwortet einer von ihnen: „Die Armee hat ihre eigenen Aufgaben an der Front und wir haben unsere.“17 Die Jugendlichen scheinen also Hilfskräfte für die kämpfende Armee zu sein, doch um ihre wahren Leistungen zu zeigen sind sie noch zu jung, zu unerfahren, sie lernen es im Moment des Quasi-Spiels. Arbeit findet andernorts statt – an der Front – hier dominiert das Spiel. Die Kinder spielen Erwachsene, sie kämpfen, sie ver15 16 17

Ebd., Szene 13. Beide Wörter stehen für Schuft, Schurke oder Halunke. Paweł Komorowski: Ptaki ptakom… Scenopis. Katowice 1975, Szene 44.

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teidigen die Stadt, im Großen und Ganzen gehören sie eher der Zivilbevölkerung als den Soldaten an. Hier kommt die tragische Ironie zum Ausdruck. Im Verzicht auf die Psychologisierung der Figuren – mit Ausnahme des verhafteten Mädchens – sieht Komorowski das notwendige Mittel zum Aufrechterhalten der Legende. Im Bewusstsein des anrückenden Todes, kurz vor dem Verhungern, erschöpft und verzweifelt, bewahren die Mädchen auf dem Turm noch ihre Würde und den Willen zum Kampf. Gerade im Spiel manifestiert sich ja der Sinn aller Kulturen, da es, um Johan Huizinga zu zitieren, „über die Grenzen rein biologischer oder doch rein physischer Betätigung hinaus“18 eine durchaus sinnvolle Funktion besitzt. „Im Spiel ‚spielt‘ etwas mit, was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbetätigung einen Sinn hineinlegt.“19 Es wundert nicht, dass das Spiel zumeist in zwei Formen auftritt: der des Kampfes oder der der Darstellung. „Diese beiden Funktionen können sich auch vereinigen, in der Weise, daß das Spiel einen Kampf um etwas ‚darstellt‘ oder aber ein Wettstreit darum ist, wer etwas am besten darstellen kann.“20 Umso interessanter scheinen die Kriegsbilder, die gerade in ein performatives Paradigma eingespannt wurden, dessen polarisierte Standpunkte – Ernst und Spaß, Erwachsensein und Kindheit, schließlich Erfahrung und Naivität – gerade die anthropologische Perspektive bestimmen. Eine ähnliche Dichotomie, deren Komponenten sich bei genauerem Hinschauen als zwei Pole ein und desselben Raumes entpuppen, bestimmt die Textur der Ersten Polka21 von Klaus Emmerich. Der an deutsche Adressaten gerichtete Film erzeugt suggestiv die Atmosphäre „der Spannung und Verzweiflung in Gleiwitz, der Grenzstadt am Tag vor dem Kriegsausbruch.“22 In der Mikrowelt der familiären Begebenheiten der Pionteks, die den Handlungsplot ausmacht, spiegelt sich ein allgemeines, die Makrowelt der außerfamiliären, politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse umfassendes Prinzip wider. Emmerich malt das Bild einer Welt, die dem Untergang geweiht ist, das letzte Porträt einer multikulturellen Stadt, voller Unstimmigkeiten und Konflikten zwischen Deutschen, Polen und Juden, die in ihrem physischen Bestand endgültig verloren geht und einzig und allein in der Erinnerung ihre Fortexistenz sichern kann. Aus diesem Grund hat die pathetisch-anrührende Szene, in der ein Pfarrer während der Hochzeitsfeier in seiner Rede die oberschlesische Sprache, die zugehörigen Sitten, Bräuche und Traditionen als Kulturgüter verteidigt und an die Humanität der im Saal versammelten Hochzeitsgäste appelliert, einen besonderen Stellenwert im Film inne. Die Szene ist umso wichtiger, als, wie Grażyna Szewczyk betont, „sie als Schlüssel 18 19 20 21 22

Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 9. Ebd. Ebd., S. 22. Die Erste Polka (1979). Regie Klaus Emmerich, BRD. Grażyna Barbara Szewczyk: Utracona prowincja. O filmowej adaptacji powieści Pierwsza polka Horsta Bienka. In: Odkrywanie prowincji. Z dziejów X Muzy na Górnym Śląsku. Hg. v. Andrzej Gwóźdź. Kraków 2002, S.114–129, hier S. 127.

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zum Verstehen […] der komplizierten Geschichte Oberschlesiens, eines deutschpolnischen Grenzgebietes, aufzufassen“23 ist. Die erste Polka thematisiert den Krieg kaum, die Handlung spielt am letzten Augusttag 1939, und dennoch kann man dem Film mancherlei Kriegsbilder entnehmen. Es werden Kriegsvorbereitungen getroffen, eine Kolonne schwerer Wagen zieht durch Schlesien, der Held wird Augenzeuge des Überfalls auf den Gleiwitzer Rundfunksender und am Ende hört man die berühmte Rede Hitlers vom 1. September 1939. Ähnlich wie Komorowski wählt Emmerich die Perspektive eines Minderjährigen, des Kindes Josel. Doch anders als dort sehen wir ein Kind mit allen Attributen, die seinem Alter eigen sind. Josel ist alles andere als ein Held. Die Geschehnisse am Vortag des Kriegsausbruchs betrachtet er mit einer gewissen kindlichen Naivität, aber auch mit voller Bereitschaft zur Akzeptanz. Während die Skauten im Film von Komorowski über eine Vision der Stadt und des Lebens verfügen, deren Realisierung sie anstreben und für die sie sterben, ist der Gleiwitzer Protagonist nur kindlich neugierig. Der Krieg ist für ihn etwas Besonderes, in dem man Neues sehen und erfahren kann. Wenn der Krieg ausbricht, muss man nicht zur Schule gehen, konstatiert mit kindlicher Unbefangenheit der junge Piontek. Mit ähnlichem Interesse verfolgt er diverse Begebenheiten, die seine Mikrowelt bestimmen, er sieht die Mobilisierung der deutschen Truppen, macht einen Fahrradausflug mit seinem Cousin Andreas, am Abend in seinem Zimmer zeigen sich die Jungen ihre nackten Körper und sprechen über ihre Erfahrungen mit Mädchen. In der Gleichwertigkeit der Geschehnisse kommt gerade das Realistische der Kinderperspektive zum Ausdruck. Doch ähnlich wird auch Josels Zugehörigkeit zur Hitlerjugend mittels einer ‚Ästhetik der Belanglosigkeit‘ dargestellt. Die Hitlerjugend ist einfach da, bildet einen Teil der Lebenswelt, zu der man gehört. Von der Rolle der Organisation, ihrem Einfluss auf die Gemüter junger Leute oder die Methoden, derer sie sich bei der Herausbildung bestimmter Haltungen bei jungen Menschen bediente, ist im Film keine Rede. Die Perspektive der Vorstellung ist einzig und allein die mütterliche und lässt sich in den kurzen Sätzen Valeskas zusammenfassen: „Jeden Tag wird es später. Möchte ich mal wissen, was ihr so lange treibt […]. Du hast ganz schwarze Ringe unter den Augen. Wenn es so weiter geht, werde ich mit dem HJ-Führer sprechen.“24 In ähnlicher Weise kommen andere Kriegsbilder zum Vorschein: gemeinsam mit dem aus Berlin angekommenen Andreas übt Josel aus dem Fenster das Schießen mit Gewehren, indem sie auf Vögel zielen; sein künftiger Schwager zeigt ihm, wie man mit einer Pistole umgeht, die für den Jugendlichen ein außerordentlich interessantes gadget darstellt, ebenso wie ein Soldatenhelm oder eine Kolonne von Militärwagen. Durch ein solches Vorgehen entsteht das Bild der ludischen Kriegsspiele. Das Spielen mit dem Gewehr oder die aktive Tätigkeit bei der HJ wie auch andere Bilder und Elemente lassen eine dramatisierte Version der anrückenden Kriegsgeschehnisse erkennen, denen sowohl ein deutlicher Repräsentationscharakter als auch eine identitätsstiftende Funktion innewohnt, 23 24

Ebd., S. 125. Die Erste Polka (1979), Regie Klaus Emmerich, BRD.

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wobei man bemerken muss, dass die am Spiel Beteiligten, wie sehr sie sich auch mit ihren Rollen identifizieren, das Realitätsbewusstsein nicht verlieren: „Das Kind spielt in vollkommenem – man kann mit vollem Rechte sagen – heiligem Ernst. Aber es spielt und weiß, daß es spielt […]. Der Spielcharakter kann den erhabensten Handlungen eigen bleiben.“25 Soll der Bezug zur Realität abgebrochen werden, muss man aus dem Spiel herausfallen, es wird nicht mehr länger Spiel sein und muss zwangsläufig tragisch enden. Alle Protagonisten des Films scheinen sich dieser Regel bewusst zu sein, mit Ausnahme von Montag, einem das Gartenhaus der Familie Piontek bewohnenden Juden. Er ist derjenige, der Josel auf den Ernst des Lebens hinzuweisen versucht. Dies manifestiert sich u.a. in der Szene der Beerdigung eines Vogels, den Josel beim Spielen mit dem Gewehr erschossen hat. Die Beerdigung und die im Film zum Schluss gefeierte Hochzeit bilden zwei bedeutende Pole der tradierten Kultur einerseits und der identitätsstiftenden Zeremonien andererseits. Paradoxerweise ist es gerade Montag, der am Spiel nicht Beteiligte, der den Pubertierenden in Sachen Leben und Vergehen belehrt. Montag ist ein Außenstehender, ein Beobachter, ein Fremder in der eigenen Heimat, er spielt nicht mit, er wetteifert nicht, er steht auf keiner Seite. Dieser Raum ‚dazwischen‘ lässt ihn beinahe emotionslos, ruhig und gelassen, sympathisch aber befremdlich in einer primär trieborientiert dargestellten Welt wirken. Die von Emmerich gewählte Fenster- oder Türrahmenperspektive bestärkt derartige Empfindungen, indem sie den Szenen einen Hauch von Intimität verleiht und den Zuschauer zum gewissermaßen voyeuristischen Betrachten der Begebenheiten einlädt. Der Rahmen des Fensters bzw. der Tür schafft eine Klammer für das, was bisher in den Kategorien des Ernstes und nicht selten des Pathos zum Ausdruck kam – den Überfall auf den Rundfunksender in Gleiwitz und die Kriegsvorbereitungen, letztlich den Kriegsausbruch. Die hier eingesetzte Technik nimmt den historischen Begebenheiten ihre offizielle Beschaffenheit und drängt sie in die Banalität des Alltags. Beide Filme weisen Gemeinsamkeiten auf: sie zeigen Kriegsbilder und kreieren sie zugleich künstlerisch, sie fokussieren den Krieg auf Kinder. Komorowski und Emmerich verlassen die Ebene der neutral-objektiven Dokumentation, stattdessen unternehmen sie Exkursionen in Kriegsräume, die sich sonst der Betrachtung entziehen. Nicht der Krieg an sich herrscht formalästhetisch in ihren Filmen vor, sondern die Kreatur, das Konstrukt, da sie jeweils etwas anderes als ‚Krieg pur‘ darzustellen suchten: Komorowski die abstrakte Emotion, Emmerich das Eingebettetsein in die biologischnatürlichen Kontexte. Komorowski treibt den Vektor des Krieges in die Höhe, indem er die Kriegsgeschehnisse lyrisch und dramatisch konnotiert, Emmerich zeichnet den Weg nach unten, in den Grund, seine Protagonisten leben und erleben ihre eigenen, privaten Erfahrungen. Bei Komorowski leben die Skauten sozusagen für den Krieg, für eine höhere Idee, für Emmerich ist der Krieg einer von mehreren Zuständen, die dem jungen Menschen widerfahren. 25

Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 27.

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Der Zweite Weltkrieg im Film des vereinten Deutschlands

Der Kriegsfilm gehört zu den klassischen Genres des Kinos. Amerikanische Filmwissenschaftler unterscheiden dabei zwei Hauptarten: den Schlachtenfilm (combat film) und das Kriegsdrama (war drama). Während die Werke aus der ersten Gruppe Kriegshandlungen bzw. Partisanenkämpfe darstellen, konzentrieren sich Produktionen aus der zweiten eher auf eine Analyse der Haltungen und psychischen Reaktionen der Protagonisten, die in der Hauptsache Soldaten, aber auch Zivilisten sind.1 Kaum ein bewaffneter Konflikt erweckte das Interesse der Filmschaffenden in jenem Maße, wie es der Zweite Weltkrieg tat; kaum eine nationale Filmindustrie, die im Laufe der Nachkriegszeit nicht wenigstens eine Produktion aus dieser Epoche beigesteuert hätte. Die ersten Spielfilme, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren, entstanden bereits im Laufe der Kriegshandlungen, z.B. In die japanische Sonne (Air Force, 1943) von Howard Hawks, Landung in Salerno (A Walk in the Sun, 1945) von Lewis Milestone, In Which We Serve (1942) von David Lean auf Seite der Alliierten oder Eduard von Borsodys Wunschkonzert (1940) und Alfred Weidenmanns Junge Adler (1944) in Deutschland. Auf diese meist situativen, häufig propagandistisch geprägten Bestandsaufnahmen folgten nach dem Kriegsende Produktionen, in denen die Kriegshandlungen auf komplexere Weise analysiert wurden, wie in Roberto Rossellinis Paisa (1946), Billy Wilders Stalag 17 (1953), Andrzej Wajdas Der Kanal (1959), Kon Ichikawas Nobi (1959) oder Franklin J. Schaffners Patton (1969). Bis heute entstehen aufwendige Filmproduktionen, die durchaus als klassische Kriegsfilme bezeichnet werden können, man denke nur an Steven Spielbergs Der Soldat James Ryan (1998) oder Clint Eastwoods beeindruckendes Diptychon, bestehend aus Flags of Our Fathers (2006) und Letters from Iwo Jima (2006). Auch in Deutschland versuchte man, sich filmisch mit dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Eine populäre Kriegsfilmwelle setzte hier mit der Wiederbewaffnung 1

Vgl. Łukasz Plesnar: Wojenny film. In: Encyklopedia Kina. Hg. von Tadeusz Lubelski. Kraków 2003, S. 1022.

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der Bundesrepublik ein. Beispiele waren 08/15 (1954) von Paul May nach dem gleichnamigen Roman von Hans Hellmut Kirst, Canaris (1954) von Alfred Weidenmann oder Der Arzt von Stalingrad (1958) von Géza von Radványi nach einem Roman von Heinz G. Konsalik. Wie sich vielleicht bereits aus den Buchvorlagen schließen lässt, wurden in diesen Filmen deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs als tapfere, unpolitische Kämpfer gezeigt, deren Handlungen eigentlich nur vage mit dem NS-Regime zusammenzuhängen scheinen. Darüber hinaus erschöpfte sich ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in dieser Zeit weitgehend in einigen Filmen zum militärischen Widerstand gegen Hitler. Hier ist insbesondere Der 20. Juli (1955) von Falk Harnack zu nennen, der während der Nazizeit selbst als Widerstandskämpfer tätig war. Ende der 1950er Jahre entstand mit Bernhard Wickis Die Brücke (1959) laut Pressestimmen einer der „härtesten, bittersten Antikriegsfilme, die je über eine Leinwand liefen“2 bzw. der bis dato „ehrlichste und erschütterndste deutsche Film über den zweiten Weltkrieg[,]“3 welcher „kompromißlos in die Heimatfilmverlogenheit der fünfziger Jahre einbrach.“4 Zu einem der populärsten deutschen Filme überhaupt wurde mehr als zwanzig Jahre später die auf dem gleichnamigen Roman von Lothar-Günther Buchheim basierende Produktion Das Boot (1981) von Wolfgang Petersen, eine aufwendig inszenierte und häufig kritisierte Schilderung des Kampfeinsatzes eines deutschen U-Boots. Der Mauerfall in Berlin und die gerade gefeierte Wiedervereinigung Deutschlands übten nicht unbedingt unmittelbar Einfluss auf das deutsche Kino im Allgemeinen bzw. auf Filme über den Zweiten Weltkrieg im Besonderen aus. Überhaupt stellten das Ende der 1980er und die frühen 1990er Jahre keine günstige Zeit für das Kino in Deutschland dar. Die Zuschauerzahlen gingen zurück, nach 1990 stiegen sie zwar wieder an, jedoch nur unwesentlich.5 In diese Zeit fällt die Entstehung des ersten bedeutenden Films über den Zweiten Weltkrieg nach der Wiedervereinigung, nämlich Joseph Vilsmaiers Stalingrad von 1992. Der Film erzählt die Geschichte dreier Rekruten, die aus Italien, wo sie zu Filmbeginn stationiert sind und wo das Kriegsgeschehen etwas ruhiger ist, zu einem Sturmtrupp an die Ostfront verlegt werden. Dort sollen sie wichtige Versorgungswege der russischen Armee blockieren. Niemand scheint zu ahnen, was die deutschen Soldaten erwartet: Allzu bald sehen sich die Truppen von der Roten Armee eingekesselt und in Stalingrad eingeschlossen. Die vernichtende Niederlage soll zur endgültigen Wende im Zweiten Weltkrieg führen und für die Soldaten zum persönlichen Schicksalsschlag werden. In der letzten Kameraeinstellung sieht man zwei Soldaten im Schneesturm sitzen, der eine lässt seinen Kopf im Schoß des anderen liegen – ein Sinnbild der Kapi2 3 4 5

Elisabeth Wicki-Endriss und Arne Schneider: Die Brücke. Ein Film von Bernhard Wicki. Filmbegleitheft. München 2004, S. 20. Ebd. Adolf Heinzlmeier und Berndt Schulz: Filme im Fernsehen. Hamburg 1990, S. 111. Kinobesuche in Deutschland 1925 bis 2005 (1945 bis 1990 West-Deutschland).

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tulation. Im eingeblendeten Abschlusstext wird beschrieben, dass in Stalingrad über eine Million Menschen ihr Leben ließen, sei es durch Beschuss, Kälte oder Hunger. Der Film bekam gemischte Kritiken. Auf der einen Seite sah man in der Schilderung von Kälte, Hunger und gnadenlosem Kampf ohne Hoffnung eine bedrückende Analyse der Schlacht. Wohlwollend wurde außerdem bewertet, dass die Verbrechen der Wehrmacht an der russischen Zivilbevölkerung ebenso zur Sprache kommen wie das privilegierte Leben der deutschen Generalität und des Offizierskorps im Gegensatz zum einfachen Soldaten und der russischen Bevölkerung. Es wurden jedoch auch kritische Stimmen laut, die dem Film Oberflächlichkeit bis hin zu Verharmlosung vorwarfen: „Das mit großem Aufwand vor Augen geführte Kampfszenarium soll abschreckende Wirkung haben, aber die schwach konstruierte Handlung mit ihren stellenweise nicht sehr glaubhaften Zügen schadet dem Gesamteindruck.“6 Trotz des Erfolgs von Stalingrad beim Publikum sollten einige Jahre vergehen, bis sich andere Filmemacher dem Thema Zweiter Weltkrieg erneut widmeten. Eine Zäsur markiert in diesem Fall die Jahrtausendwende, nach der Jahr für Jahr neue Produktionen dieses Genres ins Kino kamen, meist in Form von Kriegsdramen. Der als deutsch-niederländische Koproduktion im Jahr 2003 entstandene Film Rosenstraße Margarethe von Trottas basiert auf authentischen Ereignissen, die im Winter 1943 in Berlin stattfanden. Die Handlung setzt aber im heutigen New York ein, wo die etwa 30jährige Hannah auf ihre in Deutschland liegenden Wurzeln stößt. Sie erfährt von der Existenz einer Frau namens Lena Fischer, die ihre jüdische Mutter während des Zweiten Weltkriegs vor den Nazis gerettet haben soll, findet diese in Berlin und befragt sie zu ihren Erlebnissen während der Naziherrschaft, ohne ihre eigene Identität zu offenbaren. So erfährt Hannah – und mit ihr der Zuschauer – nach und nach von Ereignissen, die sich 1943 in der Berliner Rosenstraße zugetragen haben, in der seinerzeit jüdische Männer und Angehörige sogenannter Mischehen zusammengetrieben und inhaftiert wurden. Mit Lena Fischers Erzählung setzen Szenen ein, die im Jahr 1943 spielen: Vor dem Gebäude in der Rosenstraße finden demnach immer mehr Ehefrauen zusammen und harren der Freilassung ihrer Männer, verbaler Protest wird laut. Wie Hannah erfährt, wurden die Inhaftierten schließlich tatsächlich freigelassen. Trotz einiger Auszeichnungen evozierte der Film teils heftige Kritik von Historikern. Sie entzündete sich an einer Information zu Beginn des Films, in der die Authentizität des Films, bzw. die Kongruenz mit tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1943 postuliert wird. Wolfgang Benz, Leiter des Instituts für Antisemitismusforschung in Berlin, kritisierte in der Süddeutschen Zeitung: „Unterhaltung, der freie Umgang mit historischem Stoff, ist legitim. Aber im Vorspann den Eindruck zu erwecken, das Gebotene sei authentisch und habe sich so zugetragen, dann die Geschichte auf den Kopf zu stellen und neue Mythen zu erfinden, das ist unredlich und macht Aufklärung zur Klamotte.“7 In einer anderen Rezension heißt es in ähnlichem Ton: „Rosenstraße bestätigt so ziemlich 6 7

Lexikon des internationalen Films 2001. 48.000 Filme mit Kurzkritiken. CD-ROM (Systhema). Wolfgang Benz: Kitsch as Kitsch can. In: Süddeutsche Zeitung, 18.09.2003.

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jeden Einwand, der sich überhaupt gegen Spielfilme über reale Ereignisse während der Nazi-Zeit vorbringen lässt: Er zeigt nicht einen einzigen der über 6 Millionen Toten, er zeigt Nazis nur als harmlose Fratzen, er zeigt nicht die Mörder und die Opfer, sondern die Überlebenden und die Retter.“8 In ihrer ausführlichen Darstellung zum Film hat die Historikerin Beate Meyer die inhaltlichen Fehler beleuchtet, so z.B. die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der in der Rosenstraße festgehaltenen Juden nicht zum Tragen des Judensterns verpflichtet war und ihn auch nicht trug.9 Die Rezeption im Ausland konzentrierte sich weniger auf Fragen geschichtlicher Authentizität, betonte dagegen die menschliche Seite der dargestellten Geschichte: „Das große Verdienst der deutschen Filmemacherin liegt darin, diese denkwürdige Begebenheit aus der Versenkung zu holen und sie mit realistischen, überzeugenden Figuren erneut lebendig werden zu lassen.“10 Anerkennend wurde auch der erzählerische Ansatz der Filmemacherin erwähnt: „Es ist der Schmerz, mit dem sie die Geschichte ihrer Mutter entdeckt, der uns an diesem Film zu berühren vermag.“11 Nur ein Jahr später schrieb sich ein anderer prominenter Vertreter des deutschen Kinos in die Stoffgeschichte des Zweiten Weltkriegs ein, und zwar Volker Schlöndorff mit Der neunte Tag, einer deutsch-luxemburgischen Koproduktion. Während Margarethe von Trotta ein Originaldrehbuch verfilmte, handelt es sich hierbei um das Tagebuch des Luxemburger Paters Jean Bernard, der zwanzig Monate lang in Dachau interniert war, auf dessen Basis das Szenario für Schlöndorffs Film entstand. Die Hauptfigur, Abbé Henri Kremer, wird für neun Tage aus dem KZ Dachau entlassen, um seinen Vorgesetzten dazu zu bewegen, mit der deutschen Besatzungsmacht zu kooperieren. Für den Fall seiner Flucht droht man ihm damit, seine luxemburgischen Priesterkollegen aus dem Pfarrerblock des Lagers zu ermorden. In seiner Heimat muss sich Kremer täglich beim jungen Untersturmbannführer Gebhardt melden, der selbst Priester werden sollte. Zwischen dem überzeugten Nationalsozialisten und dem Priester entwickelt sich im Laufe der neun Urlaubstage ein von theologischen und politischen Spitzfindigkeiten gekennzeichnetes Rededuell: Gebhardt will den Priester nämlich zum Verrat verführen. Als der Plan misslingt, verlangt Gebhardt ein Bekenntnis Kremers zur nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Zuerst wird Kremer nicht beim Bischof vorgelassen, doch als das Gespräch schließlich doch zustande kommt, hat auch dieser keinen Rat für Kremer, außer auf sein Gewissen zu vertrauen. So fällt der Priester seine Entscheidung in existenzieller Einsamkeit. Er widersteht dem Versucher Gebhardt und kehrt am neunten Tag ins KZ zurück.

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Rüdiger Suchsland: Der Faschismus ist genau 100 Meter lang. www.artechock.de/film/text/kritik/r/rosens.htm Vgl. Beate Meyer: Geschichte im Film: Judenverfolgung, Mischehen und der Protest in der Rosenstraße 1943. In: Zeitschrift für Geschichtsforschung 52 (2004), S. 23–36. François-Guillaume Lorrain: Rosenstrasse. In: Le Point, 10.06.2004. Adrien Gombeaud: Rosenstrasse. In: Positif, Juni 2004.

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Die Existenz von Konzentrationslagern, die eine tiefe Wunde nicht nur in den christlichen Glauben riss, und das Problem der Theodizee bilden das Fundament von Schlöndorffs Film, dessen Hauptfigur von Verzweiflung, Anfechtungen und Schuldgefühlen heimgesucht wird. Vor eine existenzielle Entscheidung gestellt, droht ihm eine Instrumentalisierung durch die politischen Institutionen des Nationalsozialismus – zum Zweck der Vereinnahmung der katholischen Kirche und, weitergehend, zum Zweck, den passiven Widerstand eines hohen Kirchenvertreters gegen die nationalsozialistischen Besatzer in Luxemburg zu brechen. Die Kritiker blieben aber skeptisch ob des unternommenen Versuchs, das komplexe Thema der Beziehungen zwischen katholischer Kirche und NS-Staat darzustellen: „Die Politik der katholischen Kirche und die Umarmungsversuche der Nazis werden dabei zur Nebensache. Doch weil es das übergeordnete Thema ist und Schlöndorff […] eine authentische Geschichte verfilmt hat, zwingt er Kremer immer wieder in die Rolle des Stellvertreters für das Dilemma der Geistlichen in den damaligen Machtverhältnissen.“12 In einem FAZ-Artikel wird jedoch die Kraft betont, die Schlöndorffs Film trotz einiger Mängel durch die Kargheit der filmischen Mittel auszustrahlen vermag: Denn Volker Schlöndorff hat aus dem Tagebuch […] eben nicht das gemacht, was er auch daraus hätte machen können – eine grausige Schmonzette über Priester im KZ. Das alles gab es ja wirklich: den Pfarrerblock in Dachau, die Entlassung auf Zeit, das Verhör durch die Gestapo. […] Aber Schlöndorff und seine Drehbuchautoren […] haben sich für die ärmere Variante entschieden. Sie zeichnen den Alltag im Konzentrationslager so, wie er der getrübten Wahrnehmung der Opfer erschienen sein muss, als filmisches Pasticcio aus Geräuschen, Schreien, Schlägen, hastigen Bewegungen, dann wieder lähmender Stille. Den Rest überlassen sie der Phantasie des Zuschauers.13

Im selben Jahr, sogar kurz vor Schlöndorffs Film, kam eine weitere Produktion in die deutschen Kinos (auch hier eine Koproduktion, in diesem Fall zwischen Deutschland, Italien und Österreich), für die meisten Zuschauer im In- und Ausland wohl der Inbegriff des modernen deutschen Films über den Zweiten Weltkrieg und einer, bei dessen Beschreibung nur allzu häufig Superlative gebraucht werden müssen, zudem sicherlich eine der teuersten und auch populärsten Produktionen der deutschen Filmgeschichte – Der Untergang von Oliver Hirschbiegel, nach dem Drehbuch sowie produziert von Bernd Eichinger. Als Grundlage dienten hierzu Joachim Fests Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches (2002) und die Memoiren Traudl Junges, der ehemaligen Privatsekretärin Hitlers, welche unter dem Titel Bis zur letzten Stunde 2002 in Buchform erschienen und kurz danach verfilmt wurden (Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin, Dokumentarfilm aus dem Jahr 2002 von André Heller und Othmar Schmiderer). Hirschbiegels Untergang schildert die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und das Ende des Dritten Reichs: Während die Rote Armee bereits vor den Toren der Haupt12 13

Oliver Hüttmann: Der Untergeher. In: Spiegel Online, 12.11.2004. Andreas Kilb: Priester, Tod und Teufelchen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.2004.

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stadt steht, hat sich Adolf Hitler mit engsten Vertrauten im Führerbunker der Berliner Reichskanzlei verschanzt. Obwohl die verbliebenen Truppen ohne Nachschub und personelle Reserven sind und die militärische Niederlage unabwendbar scheint, befiehlt der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels noch den Volkssturm mit halben Kindern und alten Männern ins offene Geschützfeuer der gegnerischen Armee. Auch der innerlich längst gebrochene Hitler verweigert die Kapitulation bzw. jedwede Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung. Während auf den Straßen Tausende von Menschen in den letzten Atemzügen des Krieges sinnlos ihr Leben verlieren, will kaum jemand im Führerbunker die Realität akzeptieren oder Konsequenzen aus ihr ziehen. Am Ende begehen Hitler und Eva Braun Selbstmord, ebenso das Ehepaar Goebbels, nachdem es zuvor seine fünf Kinder umgebracht hat. Der Film entfachte eine große Diskussion, bei der die Meinungen weit auseinandergingen. Wim Wenders sprach von einem „Film ohne Haltung“ und warf den Autoren „Verharmlosung“ vor. Er konstatierte ebenfalls einen „Mangel an Erzählhaltung“, welcher die Zuschauer „in ein schwarzes Loch [führe], in dem sie auf (beinahe) unmerkliche Weise dazu gebracht werden, diese Zeit doch irgendwie aus der Sicht der Täter zu sehen, zumindest mit einem wohlwollenden Verständnis für sie.“14 Auch der SpiegelRezensent Andreas Borcholte äußerte sich kritisch und schrieb von einem „letztlich überflüssigen Film“ aufgrund des notwendigen Rückzugs vor jedweder Wärme, Epik und Interpretation. „Für die banale Erkenntnis, dass das Böse im Menschlichen existiert, hätte es keiner 13 Millionen Euro teuren Kinoproduktion bedurft, die auf der Leinwand so harmlos und flach wie ein besserer TV-Zweiteiler wirkt[,]“ so sein Urteil.15 Julia Anspach beklagte die praktische Ausblendung des geschichtlichen Kontexts: „Ein Film, der den Nationalsozialismus fern von historischen oder politischen Erklärungsansätzen als menschliche Tragödie stilisiert, kann bestenfalls als abschreckendes Beispiel für die zeitgenössische Rezeption und Inszenierung des Nationalsozialismus herhalten.“16 Dagegen konstatierte Frank Schirrmacher in der FAZ, der Film sei „trotz all seiner Schwächen und Lücken“ ein Meisterwerk. Alle Einwände würden sich seiner Meinung nach verlieren „angesichts der beklemmenden Gewalt und psychischen Intensität, die dieser Film auf den Zuschauer ausübt.“ Schirrmacher sah in dem Film „nicht nur ein großes Kunstwerk, sondern ein wichtiges Datum unserer Verarbeitungsgeschichte.“ Man solle aber nicht glauben, „daß jetzt irgendetwas leichter geworden ist. Es ist unheimlicher geworden um uns herum. Nähergerückt ist es auch.“17 Im Ausland überwogen jedoch deutlich die kritischen Stimmen. So bemängelte man die Weigerung

14 15 16 17

Wim Wenders: Tja, dann wollen wir mal. In: Die Zeit, 21.10.2004. Andreas Borcholte: Die unerzählbare Geschichte. In: Spiegel Online, 15.09.2004. Julia Anspach: Der Untergang – ein Trauerspiel. In: Kritische Ausgabe 2 (2004), S. 56–59, hier: S. 59. Frank Schirrmacher: Die zweite Erfindung Hitlers: „Der Untergang“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2004.

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der Autoren, Hitler als Toten zu zeigen; somit habe man „die einmalige Chance vergeben, dem Gedächtnis ein starkes und notwendiges Bild anzubieten.“18 Nur wenige Monate später, im Februar 2005, hatte ein anderes Kriegsdrama Premiere, das ähnlich viel Aufmerksamkeit auf sich zog wie Der Untergang, wenngleich mit ganz anderen Mitteln. In Sophie Scholl – Die letzten Tage erzählt Marc Rothemund nach dem Drehbuch von Fred Breinersdorfer das Ende der Münchener Widerstandsgruppe ‚Weiße Rose‘ nach. Interessanterweise ist es nicht der erste Film zu diesem Thema, bereits in den 1980er Jahren waren zwei entstanden, nämlich Michael Verhoevens Die weiße Rose und Percy Adlons Fünf letzte Tage (beide 1982). Nach einer Flugblattaktion in der Münchener Universität werden 1943 die Geschwister Hans und Sophie Scholl verhaftet. Der Gestapo-Beamte Mohr verhört Sophie Scholl mehrere Tage lang, doch lässt sie sich nicht einschüchtern und stellt seiner Ideologie Werte wie Integrität des Gewissens, Moral und Gottesfurcht entgegen. Am Tag vor dem Prozess erhält sie die Anklageschrift und sieht ihren Pflichtverteidiger zum ersten Mal. Selbst vor dem brüllenden Richter des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, wahrt sie die Fassung und steht auch weiterhin zu ihren Idealen und Überzeugungen. Der eilends angesetzte Schauprozess ist eine Farce: Der gefürchtete Richter lässt die Angeklagten kaum zu Wort kommen, eine Verteidigung besteht nur zum Schein, da das Urteil ohnehin feststeht. Ihr couragiertes Verhalten kostet Sophie Scholl und ihre Mitstreiter das Leben, nach dem Todesurteil werden sie am gleichen Tag mit dem Fallbeil hingerichtet. Im Abspann heißt es, dass das letzte Flugblatt der Weißen Rose, das über den Umweg Skandinavien zurück nach Deutschland fand, millionenfach von alliierten Flugzeugen über Deutschland abgeworfen wurde. Sophies Standfestigkeit wird nur durch Einblicke in ihre Gedankenwelt nachvollziehbar, die der Film bietet: nach den Idealen religiöser Sittlichkeit und politischer Freiheit erzogen, sehen Sophie und Hans die Welt mit anderen Augen als die Nationalsozialisten, Begriffe wie Freiheit und Ehre werden von ihnen gegensätzlich interpretiert. Angesichts der NS-Schreckensherrschaft, aufgrund der nazistischen Grausamkeit im Umgang mit Juden sowie der ‚Euthanasie‘ ist für sie Widerstand Pflicht. Der Film wurde durchweg positiv aufgenommen, nicht zuletzt erhielt er einige Preise auf der Berlinale 2005 (Silberner Bär für die beste Regie sowie die beste Hauptdarstellerin und den Preis der ökumenischen Jury), wenngleich man es in diesem Fall mit einem für das Kino typischen Problem zu tun hat, das der taz-Rezensent Stefan Reinecke folgendermaßen umschreibt: „Das Gute hat es im Kino schwer. Die Bösen sind facettenreich, widersprüchlich, faszinierend und verführerisch. Das Gute verführt niemanden. Es ist meist vorhersehbar und neigt zur Eindeutigkeit. Das Böse tritt als Körper in Erscheinung, das Gute als Idee oder Moral, was naheliegenderweise etwas kompliziert in Bilder zu übersetzen ist.“19 Hanns-Georg Rodek beantwortet die Frage nach dem Entstehungsgrund des Films folgendermaßen: 18 19

François-Guillaume Lorrain: La Chute. In: Le Point, 25.11.2004. Stefan Reinecke: Chronist des Opfers. In: TAZ, 14.02.2005.

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Das erste, was bei Marc Rothemunds Film auffällt, […] ist die relative Abwesenheit brauner Insignien. […] Es ist unverkennbar München im Februar 1943, aber es ist nicht sehr auffällig, das München von damals […]. Auch aus den Kostümen spricht eine historische Allgemeingültigkeit […]. Marc Rothemunds neue Sophie […] ist eine Heldin für die Gegenwart – in historischem Gewand.20

Ähnlich wurde der Film in der Zeit kommentiert: „Sophie Scholl ist in Julia Jentsch so unabweisbar gegenwärtig, als käme sie aus der heutigen Zeit und als sei sie eine von uns. Bruchlos geht die Heldin in der Schauspielerin auf, und schon bald trägt die eine den Namen der anderen.“21 Der wohlwollenden Rezeption in Deutschland standen viele kritische Stimmen im Ausland gegenüber, man sah in dem Film sogar „das merkwürdige Unternehmen, das darin besteht, das deutsche Volk zum Opfer zu erklären (Nazis wider Willen?).“22 Drei Jahre später, im Oktober 2008, lief ein weiterer Film über den Zweiten Weltkrieg in deutschen Kinos an, ähnlich wie Rosenstraße und Sophie Scholl mit einer Frau als Hauptfigur. Anonyma – Eine Frau in Berlin von Max Färberböck basiert auf der autobiografischen Vorlage Eine Frau in Berlin von Marta Hillers und spielt im April 1945, als die Rote Armee in die Hauptstadt einmarschiert und zahllose Frauen Opfer von Vergewaltigungen werden. Eine von ihnen ist die knapp 30jährige ehemalige Journalistin und Fotografin aus dem Titel, deren Name nicht genannt wird. Für ihren Lebensgefährten, der vor Jahren an die Ostfront abkommandiert wurde, hält sie die Geschehnisse in einem Tagebuch fest. In der Not der täglich drohenden Übergriffe und Vergewaltigungen fasst sie den Entschluss, sich einen russischen Offizier zu suchen, der sie beschützen soll und dafür mit ihr schlafen darf. Doch langsam beginnt sie, sich ihrem Beschützer, dem höflich-melancholischen Andrej, anzunähern. Dennoch trennt die beiden eine Barriere, die unüberwindbar bleibt. Als ihr Freund Gerd schlussendlich zurückkehrt, hat sie sich von diesem entfremdet. Die Reaktionen auf Färberböcks Film waren überwiegend negativ. Der FAZRezensent fällte ein vernichtendes Urteil: Anonyma ist ein schrecklicher Film – nicht durch das, was er erzählt, sondern durch die Art, wie er seine eigene Vorlage bloßstellt. Die Autorin des Buches […] musste sich von ihren deutschen Lesern bei der Erstveröffentlichung 1959 als Nestbeschmutzerin und kommunistische Sympathisantin beschimpfen lassen. Färberböck liegt auf seine Weise genauso weit daneben. Scham, Schuldgefühl und körperliches Glück sind ihm zu wenig – es muss gleich Liebe sein, wenn die Frau in Blau den Major empfängt. So übermalt er das historische Zeugnis in den Bonbonfarben des Melodrams. […] Der Film taucht diesen freien Blick in Kitsch und macht ihn dadurch blind.23

Ähnlich sahen es andere Kritiker, wie die folgende Äußerung exemplarisch belegt: „Zu erkenntlich ist das Ziel, ein unterhaltsames Kinostück mit attraktiven Frauen und hin 20 21 22 23

Hanns-Georg Rodek: Das Richtige tun. In: Die Welt, 12.02.2005. Thomas Assheuer: In unser aller Auftrag. In: Die Zeit, 24.02.2005. Gérard Lefort: Sophie Scholl. In: Libération, 14.02.2005. Andreas Kilb: Kitsch und Vergewaltigung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.2008.

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und wieder lustigen Dialogen zu machen. Es sollen nicht allzu böse Russen vorkommen und eine Berliner Kriegskulisse, in der es – trotz alledem – irgendwie immer fidel zugeht.“24 In den weit weniger zahlreichen Kommentaren, die Anonyma Positives abgewinnen konnten, wurde meist das folgende Argument vorgebracht: „Immerhin wagt sich der Film an ein Thema, das an viele Tabus und Empfindlichkeiten der historischen Aufarbeitung stößt. Liegt hier doch ein Trauma der deutschen Nachkriegsgeschichte begraben, das nur selten so deutlich thematisiert wurde.“25 Doch es bleibt nur ein Teilerfolg, denn „gerade in seinem Versuch, alles richtig zu machen, stößt der Film an seine Grenzen. Die Grausamkeiten bleiben unvorstellbar. Das ist sicherlich gut so. Was angedeutet wird, ist schlimm genug. Doch weil es sich Färberböck ganz offensichtlich zum Ziel gesetzt hat, allen Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, geht der Film zu oft Kompromisse ein.“26 Damit ist die Liste der deutschen Filme, die nach 1990 den Zweiten Weltkrieg thematisierten, jedoch bei weitem noch nicht komplett. Sehenswert ist sicherlich Nirgendwo in Afrika von 2001, in dem Caroline Link die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt, die 1938 vor den Nazis nach Kenia flüchtet. 2003 wurde die Produktion als einer von zwei deutschen Filmen nach 1990 (neben Das Leben der Anderen) mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet. In Das Himmler-Projekt aus dem Jahre 2000 lässt Romuald Karmakar einen Schauspieler drei Stunden lang eine berüchtigte Rede Himmlers vorlesen, ohne erkennbare Emotion, ohne Kostüm, vor einer grauen Wand sitzend, mit allen Versprechern. Hinzu kommen Filme, die von der Globalisierung in der Sphäre des Kinos Zeugnis ablegen, weil sie als internationale Koproduktionen entstanden sind und zugleich als deutsche Filme gelten können. Zu diesen zählt beispielsweise Moloch von Alexander Sokurov (1999), der das Porträt Adolf Hitlers aus einem ungewöhnlichen weil fast privaten Blickwinkel betrachtet. Moloch bildete den Anfang einer Trilogie über totalitäre Diktatoren, die mit Taurus (2000, über Lenin) und Die Sonne (2005, über Hirohito) fortgesetzt wurde. Ein anderer Film aus diesem Bereich ist Duell – Enemy at the Gates (2001), in dem der französische Regisseur Jean-Jacques Annaud die Schlacht um Stalingrad aus der Sicht zweier Scharfschützen inszeniert (der Russe wurde von einem Engländer gespielt, der Deutsche von einem Amerikaner). Ebenfalls in Koproduktion entstand Operation Walküre – Das Stauffenberg Attentat (2008), ein Film, der zu Beginn der Dreharbeiten vor allem deswegen in den Fokus von Medien und Politik geriet, weil Hauptdarsteller Tom Cruise bekennender Scientologe ist. Überraschenderweise wurde der Film von vielen Kritikern positiv beurteilt, z.B. von Michael Althen in der FAZ: „Operation Walküre ist – man glaubt es kaum – der spannendste Thriller der letzten Zeit. Graue Menschen stehen in grauem Dekor und reden viel und doch ist das großes Kino[,]“27 wenngleich eindeutig auf Unterhaltung ausgerichtet. 24 25 26 27

Renée Zucker: Schweigen und gucken. In: TAZ, 22.10.2008. Andrian Kreye: Männer, von Natur aus feige. In: Süddeutsche Zeitung, 22.10.2008. Ebd. Michael Althen: Verhaften Sie den üblichen Verdächtigen! In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2009.

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Man hat sogar versucht, über Hitler und die NS-Zeit filmisch zu lachen, vor allem in dem Spielfilm Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (2007) des Schweizers Dani Levy und in der Fernsehproduktion Goebbels und Geduldig (2001) von Kai Wessel. Insbesondere der erste Film erhitzte die Gemüter, bereits im Vorfeld des Filmstarts äußerten viele Bedenken. Auch nach der Premiere gingen die Meinungen auseinander: manche sahen in Mein Führer eine „Karikatur, die berührt[,]“28 andere schrieben von den „wirklich plattesten Plattheiten.“29 Damit sind zwar die wichtigsten deutschen Spielfilme aus der Zeit nach 1990 erwähnt, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren, doch die Darstellung bliebe unvollständig, wenn man auf die Erwähnung zahlreicher Fernsehfilme verzichtete, die meist mit großem Aufwand produziert wurden und ein Millionenpublikum erreichten. Zu diesen Produktionen zählen u.a. Dresden (Roland Suso Richter, 2005), Die Flucht (Kai Wessel, 2007) und Die Gustloff (Joseph Vilsmaier, 2007). Diese Filme entstehen meist als zweiteilige Fernsehproduktionen nach einem einfachen Rezept: geschichtliche Ereignisse werden melodramatisch aufbereitet. Sie sind auch überladen mit Familientragödien, zahlreichen Handlungssträngen und einer eigenwilligen Auslegung der Geschichte. Dabei waren alle drei sehr erfolgreich und haben sicherlich ein größeres Publikum erreicht als die erwähnten Spielfilme, den Untergang ausgenommen. Die Rolle des Fernsehens als Produktionsstätte sehen manche folgendermaßen: Sicherlich hat das deutsche Fernsehen in den letzten Jahrzehnten so einige cineastische Meisterwerke möglich gemacht, Talenten zum ersten Durchbruch verholfen, sich an unangenehme Themen gewagt. Und doch prägt die massenkompatible Primetime-Dramaturgie mit ihren flachen Spannungskurven, ihrer Scheu vor allzu roher Emotionalität und ihren öffentlichrechtlichen Harmoniezwängen hier eine Geschichte, die letztlich nur aus Tiefen besteht.30

Vor allem im Ausland, beispielsweise in Polen, wird diese Strömung äußerst kritisch beäugt. Man meint, die Autoren dieser Filme würden häufig ganz offen die Opfer des NS-Regimes mit den Ostdeutschen gleichsetzen, die ihre Heimat verlassen mussten.31 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass deutsche Spielfilm- und Fernsehfilmproduktionen, die nach 1989 entstanden, verstärkt den Zweiten Weltkrieg thematisieren. In Genres eingeordnet reicht das Spektrum von subtilen Kammerspielen, etwa Sophie Scholl – Die letzten Tage, bis zu opulenten Kriegsfilmen im Stil von Der Untergang. An das Thema wagen sich sowohl etablierte Regisseure, etwa Volker Schlöndorff oder Margarethe von Trotta, aber auch Vertreter jüngerer Generationen. Facettenreich inszeniert werden sowohl das Kriegsgeschehen selbst als auch der Widerstand gegen das NS-Regime, die Judenverfolgung sowie Konflikte zwischen den Nationalsozialisten und der katholischen Kirche. Interessanterweise spielt die Handlung der meisten Pro28 29 30 31

Jürgen Schmieder: Heil mir selbst! In: Süddeutsche Zeitung, 5.01.2007. Michael Althen: Die wirklich plattesten Plattheiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2006. Andrian Kreye: Männer, von Natur aus feige. In: Süddeutsche Zeitung, 22.10.2008. Vgl. Konrad J. Zarębski: Niemcy: sprawcy czy ofiary? In: Kino 5 (2009), S. 14–17.

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duktionen in der Zeit zwischen 1943 und dem Kriegsende, was an sich zwar nicht fragwürdig erscheint, jedoch angesichts von Produktionen wie Anonyma oder Fernsehfilmen wie Dresden, Die Flucht und Die Gustloff auf einen mindestens tendenziellen Perspektivwechsel hindeutet: Immer häufiger zeigen die Filmemacher Deutsche als Kriegsopfer, manchmal ohne den geschichtlichen Kontext hinreichend zu erklären. Sicherlich ist diese Tendenz nicht allein auf Spezifika des Kinos zurückzuführen, sie hängt vielmehr damit zusammen, dass der seit Mitte der 1980er Jahre weithin geltende Erinnerungskonsens […] in den vergangenen Jahren auf überraschende und vielfach geradezu verstörende Weise in Frage gestellt [wurde], nachdem gerade erst mit der Zerstörung der Legende von der sauberen Wehrmacht die letzte Bastion einer ‚unbewältigten Vergangenheit‘ geschleift zu sein schien. Unterstützt durch die mediale Karriere des Zeitzeugen, hat sich das Opfernarrativ aus den Schranken einer aufklärerischen Vergangenheitsbewältigung gelöst und ist von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfern zurückgekehrt.32

Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung sich der deutsche Film in den nächsten Jahren entwickeln und welche Rolle dabei das öffentlich-rechtliche Fernsehen spielen wird.

32

Martin Sabrow: Den Zweiten Weltkrieg erinnern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 36–37 (2009), S. 14–20, hier: S. 19.

LEON MARKIEWICZ

Widerspiegelung der Kriegserlebnisse im Schaffen polnischer Komponisten

Nach dem Sieg des faschistischen Deutschland über Polen im Jahre 1939 wurde jegliche öffentliche, anspruchsvolle künstlerische Tätigkeit im Lande verboten. Die restriktiven Maßnahmen haben besonders Warschau getroffen: Theater und Konzertsäle wurden geschlossen. Die ab diesem Moment arbeitslosen Künstler – Schauspieler und Musiker – traten allerdings weiter auf – in Privatwohnungen, wo sie patriotische Dichtungen vortrugen oder Konzerte gaben, in denen unter anderem die damals verbotenen Werke Frédéric Chopins gespielt wurden, deren Bedeutung für die Stärkung des Nationalbewusstseins nicht zu überschätzen ist. Die findigen Warschauer sind den restriktiven Verordnungen der Besatzungsmacht ausgewichen und erfanden eine neue Form der öffentlichen Konzerte, die in bekannten Cafés wie ‚Ziemiańska‘, ‚Adria‘, ‚U Aktorek‘, ‚Sztuka i Moda‘ und in der Galerie ‚Zachęta‘ stattfanden. Es waren geheime Begegnungsorte der Elite der polnischen Intelligenz, der die Deutschen ihre künstlerische Tätigkeit verboten hatten und die unter dem Vorwand, Tee oder Kaffee zu trinken, gern an Veranstaltungen auf höherem intellektuellen und künstlerischen Niveau teilnahm. In den Cafés traten unter anderem Musiker auf, die zu den berühmtesten zählten, wie die Geigerinnen Irena Dubiska und Eugenia Umińska, die Klavierspielerin Maria Wiłkomirska und ihr Bruder, der Cellospieler Kazimierz, der Komponist Bolesław Woytowicz, der neben den eigenen Auftritten auch Konzerte für andere Künstler organisierte, wie auch Andrzej Panufnik und Witold Lutosławski, die als Pianoduo auftraten. In diesen Konzerten, getarnt als Caféhausmusik, wurden neben vielen Solo- und Kammerwerken des anspruchsvollen klassischen und romantischen Repertoires einige moderne Werke von Igor Strawinski oder Claude Debussy, Duke Ellingtons Jazzstücke und einiges von George Gershwin gespielt.1 Neben der hohen Kunst der Caféhauskulturzentren wurde der Bevölkerung Warschaus als eine Form der Unterstützung des immer stärker werdenden Widerstandes 1

Vgl. Kazimierz Wiłkomirski: Wspomnienia. Kraków 1971, S. 530ff.

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Unterhaltungsmusik geboten. Es waren spontan entstehende Lieder – satirische, die Besatzer verspottende oder Partisanenlieder, die lyrischer und patriotischer gefärbt waren, zum Ausharren und zum Freiheitskampf aufriefen. Meistens stammten Musik und Text von anonymen Autoren. Die Lieder, die in den Druckereien der Untergrundbewegung vervielfältigt wurden, waren im ganzen Land in Abschriften oder durch mündliche Überlieferung bekannt. Dieses Phänomen wurde kurz nach dem Kriegsende, im Jahre 1947, im Film Zakazane piosenki (Verbotene Lieder) unter Regie von Leonard Buczkowski gezeigt. Unter diesen Liedern gab es auch solche, die von Berufsmusikern geschaffen worden waren, darunter Vertreter der damaligen Avantgarde, Witold Lutosławski und Andrzej Panufnik. Besonderer Popularität erfreute sich das Lied von Andrzej Panufnik, der das Gedicht Warszawskie dzieci (Warschauer Kinder) des Dichters Stanisław Ryszard Dobrowolski „schon während des Warschauer Aufstandes 1944 vertonte, ein Gedicht mit einem besonders stark patriotisch gefärbten Refrain[:]“ Warschauer Kinder, wir ziehen in den Kampf, Jedem Deiner Steine, Hauptstadt, bringen wir unser Blutopfer, Warschauer Kinder, wir ziehen in den Kampf, Wenn Dein Befehl ertönt, zeigen wir den Feinden unseren Zorn.2

In dieser Zeit entstanden zwei Werke polnischer Komponisten, in denen die Kriegserlebnisse widergespiegelt werden. Das erste ist die Tragische Ouvertüre von Andrzej Panufnik, über deren Entstehungsgeschichte der Autor schrieb: Das ganze Jahr lang habe ich nichts geschrieben […] und ich versuchte die fürchterlichen Rauchschwaden über dem Ghetto nicht zu sehen und die Maschinengewehre nicht zu hören. Meine Ratlosigkeit und aufgezwungene Muße schienen mir schwieriger zu ertragen als die Teilnahme an einer Aktion. Manchmal stellte ich mir vor, dass ich mich mit einer Gruppe von Freunden – wir konnten ja das Leid der dort Festgehaltenen nicht mildern, nur unsere Einstellung manifestieren – mit bloßen Händen auf den Stacheldrahtzaun stürze, um endlich im Hagelfeuer der uns alle hinstreckenden Maschinengewehre die innere Ruhe zurück zu gewinnen. Um schließlich nicht verrückt zu werden, beschloss ich, die ‚Tragische Ouvertüre‘ zu schreiben […]. Als das Werk schon fertig war, konnte ich mir ein sardonisches Lächeln nicht verkneifen, weil ich feststellen musste, dass ich mich an die mir auferlegten Regeln nicht halten und mein Unterbewusstsein nicht unterdrücken konnte – in der Ouvertüre tauchen immer wieder überraschend onomatopoetische Fragmente auf, zum Beispiel der Klang der abgeworfenen Bombe (Schlagzeug), der leise Klang des Motors eines sich entfernenden Flugzeuges (Glissando der Posaune), eine Maschinengewehrserie (Schlagzeugsalve in den letzten Takten). Der Schlussakkord des ganzen Orchesters klang wie das Stöhnen eines Sterbenden und ein Verzweiflungsschrei.3

2 3

Andrzej Panufnik: Warszawskie dzieci. Pieśni Walki Podziemnej. Zesz. III Polskie Wydawnictwo Muzyczne. Kraków 1948, S. 6. Ders.: Panufnik o sobie. (Compositoring myself.) Übersetzt von Marta Glińska. Niezależna Oficyna Wydawnicza. Warszawa 1990, S. 127.

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Die vorstehenden Bekenntnisse des Komponisten beweisen, dass der Name der Ouvertüre, die er seinem im Warschauer Aufstand gefallenen Bruder, einem Offizier der Untergrundarmee ‚Armia Krajowa‘, widmete, ein deutliches musikalisches Zeugnis der tragischen Situationen während des Zweiten Weltkrieges ist. Dieses kurze Werk wurde zum ersten Mal bereits 1944 unter der Leitung von Panufnik während eines Benefizkonzerts aufgeführt, das von den Besatzern organisiert wurde, höchstwahrscheinlich nur deshalb, weil die deutsche Zensurbehörde die außermusikalische Botschaft des Werkes, die allerdings vom polnischen Publikum sehr gut begriffen wurde, nicht erkannte. Obwohl während des Warschauer Aufstandes die Partitur vernichtet wurde, konnte der Komponist sofort nach Kriegsende seine Komposition rekonstruieren. Die Ouvertüre wurde dann mit großem Erfolg im In- und Ausland gespielt und rief durch ihre besondere Wirkmächtigkeit einschlägige Erinnerungen an die dramatischen Ereignisse wach. Ein anderes Werk, das von der unmittelbaren Reaktion des Komponisten auf die Kriegsgeschehnisse zeugt, ist die Zweite Symphonie von Bolesław Woytowicz, die auch Die Warschauer genannt wird. Von ihrer ideologischen Verankerung zeugt eindeutig die Widmung: „Andrzej, der im Warschauer Aufstand gefallen ist.“ Im Vergleich zu der straff organisierten Tragischen Ouvertüre von Panufnik ist die Symphonie von Woytowicz ein weitatmiges Werk, dessen vier Teile nach dem Motto ‚per aspera ad astra‘ aufeinander folgen. Mit dem düsteren Trauermarsch des ersten Teils (Largo) kontrastiert das dramatische Scherzo, und auf den lyrisch gefärbten dritten Teil (Andante) folgt das optimistische Finale (Vivo). Besonders beeindruckend ist das Scherzo, weil der Komponist eine Stimmung schuf, die eindeutige Assoziationen mit dem Kampf hervorrief. Betont wurde dies durch den Einbezug der Melodie des Warschauer Liedes (Warszawianka). Dieses ist ein Lied mit einem von Casimir Delavigne stammenden Text und der Musik von Karol Kurpiński, das allen Polen seit dem Novemberaufstand des Jahres 1830/31 gut bekannt ist. Der Text ist ein Aufruf zum Kampf gegen den russischen Zaren, einen der Besatzer Polens. Die patriotische Wirkung des Liedes ist nur mit der der polnischen Nationalhymne, Noch ist Polen nicht verloren, vergleichbar. Anfang des 20. Jahrhunderts hat man sogar erwogen, das Warschauer Lied zur Nationalhymne zu erklären. Im Text der ersten Strophe des Warschauer Liedes findet man folgende Inhalte: Dies ist der Tag von Blut und Ruhm Möge er der Tag der Auferstehung sein. Zum Stern der Polen schauend, flog der Adler in den Himmel, Voller Hoffnung ruft er uns von oben zu: ‚Steh auf, Polen, zerreiß die Fesseln, Heute ist dein Triumph oder Tod!‘

Vor dem Hintergrund des stürmischen Scherzos erklingt heldenhaft dreimal das Hauptmotiv dieses Liedes, intoniert durch Posaunen, Hörner und Trompeten, um abrupt abzubrechen und lyrisch durch das Vibraphon weitergeführt zu werden. Sollte es etwa Ausdruck der Sehnsucht nach dem geknechteten Vaterland sein? Oder des Gedenkens

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der im Kampf Gefallenen? Dasselbe lyrische Fragment taucht erneut vor dem optimistischen Finale dieser ungewöhnlichen Symphonie auf. Bemerkenswert ist, dass beide Werke die einzigen waren, in denen die Komponisten unmittelbar ihre Kriegserlebnisse reflektierten. Nach dem Sieg über den Faschismus haben sich die Komponisten zunächst in Werken geäußert, in denen sie die ihnen vertrauten stilistisch-ästhetischen Mittel einsetzten. Der Krieg als Thema ist aus ihrem Schaffen verschwunden. Zehn Jahre nach dem Kriegsende taucht allerdings das Kriegsmotiv wieder auf. Mitte der fünfziger Jahre haben zeitgleich mehrere polnische Komponisten gegen den Angriff der UdSSR auf das sich 1956 gegen das kommunistische System auflehnende Ungarn protestiert. Es waren zwei den kämpfenden Ungarn gewidmete Werke, deren Titel auf den ersten Blick weit entfernt vom Ursprung des Protestes waren: das dramatische Symphoniepoem Hungaria von Artur Malawski (1956), das den Untertitel Allegro Barbaro führt, und Oda Bela Bartok in memoriam des jungen Wojciech Kilar, mit der so kurzen wie ausdrucksstarken Widmung Den Ungarn. Aus anderen, universell-reflexiven Gründen hatte der Autor der Tragischen Ouvertüre, Andrzej Panufnik, der 1954 Polen verlassen hatte und ins Ausland gegangen war, seine zweite Symphonie Elegica (1957) „[d]en Opfern des zweiten Weltkrieges“ gewidmet. Zehn Jahre später schrieb er das Katyń Epitaph (Epitafium katyńskie), das er mit einer anklagenden Widmung versah: „Im Gedenken an die fünfzehntausend wehrlosen polnischen Offiziere, die Kriegsgefangenen, in Katyn ermordet.“ Dieses Thema konnte er nur im Ausland aufgreifen, als polnischer politischer Emigrant, denn in seinem Vaterland wurde jede Erwähnung des Mordes in Katyn von der Zensur verboten. Aber nicht nur im Ausland, auch in Polen erschienen immer mutigere Musikstücke über den Krieg. Anfang der sechziger Jahre hatten zwei Werke von Krzysztof Penderecki – das Klagelied für die Hiroshimaopfer (1960) und das Oratorium Dies Irae (1960), den Auschwitzopfern gewidmet, internationalen Ruhm erlangt. Der Komponist schrieb in der für Polen so tragischen Zeit vor und während des Kriegszustands in den Jahren 1980–1984 Das polnische Requiem und widmete einige Teile des Werkes den Opfern von Katyn, den Helden des Warschauer Aufstandes, des Warschauer Ghettos und dem in Auschwitz zum Hungertode verurteilten Pater Maksymilian Kolbe, der dann von Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde. Auch Wojciech Kilar gedachte Pater Kolbe in seinem Requiem. Mieczysław Wajnberg, ein in der UdSSR wirkender Komponist, schrieb die Oper Pasażerka (Die Zugreisende), die Auschwitzerlebnisse thematisiert (die polnische Erstaufführung fand erst am 08.10.2010 in Warschau statt). Der Leitgedanke der 1976 entstandenen dritten Symphonie Trauerlieder von Henryk Mikołaj Górecki war Protest gegen das durch den Krieg verursachte Leid. Im vorliegenden Aufsatz wurden außer der Tragischen Ouvertüre Panufniks und der Warschauer Symphonie Woytowiczs nur die bekannteren Werke polnischer Komponisten genannt, in denen der Krieg unmittelbaren Ausdruck fand. Es sind Werke, die spontan entstanden, als Manifestation patriotischer Gesinnung und als leidenschaftlicher

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Protest gegen persönliche oder ein ganzes Volk betreffende Tragödien, und als Reflexion ‚in memoriam‘ über das Böse. Gewiss müsste eine breitere Erörterung dieses Problems eine ganze Reihe anderer Werke polnischer Komponisten mit ähnlicher Thematik einbeziehen.

IWONA MELSON

Benjamin Brittens War Requiem als musikalischer Protest gegen den Krieg

2009 fand im neuen Konzertsaal der Musikhochschule in Katowice ein besonderes Konzert statt. Junge Musiker aus den Ländern des Weimarer Dreiecks, also Frankreich, Deutschland und Polen, führten das War Requiem des englischen Komponisten Benjamin Britten (1913–1976) auf. In diesem internationalen, den sechzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchs ehrenden Konzert wurde somit die der Uraufführung des Werkes zugrundeliegende Idee erneuert.1 Die erste Aufführung fand 1962 statt und verlieh der erneuten Konsekration des Doms im englischen Coventry Glanz. Die St Michael’s Cathedral war zweiundzwanzig Jahre früher, im Jahr 1940, fast gänzlich zerstört worden. Es passierte während eines nur eine Nacht dauernden Bombenangriffs der Deutschen auf eine in dieser Stadt befindliche Munitions- und Waffenfabrik. Die ungewöhnliche Architektur des heutigen Doms, in dem, in Verbindung mit den alten, aus dem Krieg erhaltenen Mauern, neue Wände errichtet wurden, brachte den Komponisten auf die Idee eines ebenso kollagierten musikalischen Werks. In seiner Komposition verbindet Britten Altes mit Neuem, denn er verknüpft den mittelalterlichen lateinischen Text einer Trauermesse mit den Gedichten des englischen Dichters Wilfred Owen (1893–1918), der als Soldat, fünfundzwanzigjährig, eine Woche vor dem Ende des ersten Weltkriegs fiel. So wurde die religiöse Vision des Weltendes und das Gebet der vor Gottes Gericht erscheinenden Seele mit der in den Gedichten dargestellten Sinnentleertheit des Krieges, ausgedrückt durch blinden Hass und Grausamkeit dem anderen, unbekannten Menschen gegenüber, vereint. Diese außergewöhnliche Koexistenz traditioneller und dadurch in gewisser Weise universeller Texte mit der sehr emphatischen Wiedergabe des Kriegsalltags eines jun1

Vgl. Benjamin Britten: War Requiem. op. 66. Aufführungsmaterial. Berlin: Boosey & Hawkes o.J; Ders.: War Requiem. 2 CDs mit Beiheft. Unter der Leitung von John Eliot Gardiner. Deutsche Grammophon 437 801–2. Hamburg: Polygram 1993; Programm des 43. Internationalen Festivals ‚Międzynarodowy Festiwal Wratislavia Cantans‘. 4.-14. September 2008. S. 425ff; Andrzej Tuchowski: Benjamin Britten – twórca, dzieło, epoka. Kraków. Musica Iagiellonica 1994.

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Iwona Melson

gen Menschen wird durch die Einteilung des Ensembles in Gruppen noch betont. Mit der Interpretation der Texte der Todesmesse betraute Britten einen Sopransolisten, einen gemischten Chor sowie ein großes Symphonieorchester. Die Gedichte des englischen Dichters sollten abwechselnd, beziehungsweise seltener im Duett, ein Tenor und ein Bariton unter Begleitung eines Kammerorchesters intonieren. Britten plante noch eine dritte Gruppe, und zwar einen Knabenchor unter Begleitung einer kleinen Orgel. Die sanften Kinderstimmen, die Engelsstimmen ähneln und von den sanften Tönen eines einzelnen Instruments begleitet werden sollten, wurden mit dem Singen dieser Fragmente des Requiems betraut, die sich auf die göttliche, ideale Welt beziehen und mit der Sehnsucht nach erträumter Ruhe und einem Gefühl der Sicherheit assoziiert werden; so hört man schon im ersten Teil: „Te decet hymnus, Deus in Sion“ (Dich, o Herr, gebühret uns mit einer Hymne auf dem Sion zu verehren). Das Werk besteht aus sechs Teilen und wiederholt in traditioneller Form die Inhalte der Trauermesse. Schon vor Britten entstanden in der Geschichte der Musik ebensolche Werke, in denen die Komponisten die mit Namen bekannten Verstorbenen ehren, oft begleitet von dem Versuch, mittels ihrer Kunst ihre eigene Einstellung zum Tod – entweder aus religiöser oder aus universeller, menschlicher Perspektive – darzulegen. Dabei bedienten sie sich des lateinischen Textes der Messe und des Trauergottesdienstes, manchmal verbanden sie diverse Fragmente der Bibel miteinander. Benjamin Britten ging in seinem Werk jedoch anders vor: er artikuliert auf verschiedene Art und Weise seinen Widerspruch gegenüber jeglicher Gestalt des Krieges und seiner Grausamkeit. Da er bestrebt war zu zeigen, wie weit ins menschliche Abseits der Verstoß gegen traditionelle Normen führen kann und wie barbarisch der Krieg ist, stellte er in jedem Teil seiner Komposition dem jahrhundertealten Text der Messe Worte des jungen Dichters Owen gegenüber, Worte, die oft ironisch, manchmal gar höhnisch anmuten im Kontext der ihnen vorausgehenden religiösen Inhalte. Schon im ersten Teil des War Requiem, der mit den Worten des Gebets „Requiem aeternam dona eis Domine“ (Ewige Ruhe gib ihnen, o Herr) einsetzt und von einer Röhrenglocke begleitet wird, scheint der Komponist mit einem Fragment des Gedichts die Eingangsworte zu verspotten: „Welche Glocken begleiten diejenigen, die wie Vieh sterben?“ Im nächsten Teil mit Namen Dies irae, der das Jüngste Gericht beschreibt, wendet sich der Sopran voller Furcht an Gott und singt „Rex tremendae […] salva me“ („O schrecklicher König […] erlöse mich“), worauf Tenor und Bariton scharf entgegnen: „Dort, außen, waren wir mit dem Tod vertraut […]. O, der Tod war niemals unser Feind.“ Es gibt auch ausgesprochen lyrische Fragmente, in denen der Dichter für einen Moment sanfter wird. In ebendiesem zweiten Teil, wenn der Chor die grauenerweckende, das Jüngste Gericht verkündende Engelstrompete ankündigt, beschreibt der Baritonsolist in Owens Worten die den Tag beendende Stille und besänftigt: „Die Trompeten erklangen und füllten die Stimmung des Abends.“

Benjamin Brittens ‚War Requiem‘ als musikalischer Protest gegen den Krieg

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Den größten Kontrast zwischen göttlicher und menschlicher Realität zeigt der Komponist im dritten Teil, Offertorium, also der ‚Opferung‘: Den liturgischen Kontext bildet das Opfern verschiedener Gaben der Gläubigen, in der katholischen Liturgie vor allem Brot und Wein. An dieser Stelle führt Britten das Gedicht Owens, The Parable of the Old Man and the Young, also die ‚Parabel von alten und jungen Menschen‘, ein. Dieses Gedicht knüpft an die Geschichte Abrahams an, dem Gott befahl, den eigenen Sohn, Isaak, zu opfern. Aus der Bibel ist hinlänglich bekannt, dass dies nur eine Prüfung Abrahams darstellte, es genügte – neben der Opferbereitschaft Abrahams – die tatsächliche Opfergabe eines Lämmchens. Der Dichter bedient sich dieser Geschichte wie einer Metapher für die Kriegssituation und schließt seine Schilderung dramatisch anders: „Aber der Greis hörte nicht und schlachtete seinen Sohn ab, und dann die Hälfte der Jünglinge in Europa, einen nach dem anderen.“ Diese erschreckenden Worte werden von einem lebhaften, tänzerischen, beinahe grotesken Akkompagnement des Orchesters begleitet. Der emotionalste, voller Extreme steckende, finale Part, welcher zugleich den Höhepunkt des Werks verkörpert, ist Libera me, also ‚Erlöse mich‘, betitelt. Der liturgische Text dieses Fragments gehört nicht mehr zum Requiem, er stammt aus der Totenmesse, während der man zu Gott um die Reinigung der Seele des Toten von allen Sünden betet, damit sie von den Höllenqualen verschont bleibt. Auf musikalischer Ebene kommen die Bitten aus dem Dunkel der leisen und tiefen Register des Chors wie des Orchesters. Die nächsten sieben Minuten gewinnen sie allerdings so an Intensität, dass das Ende dieses Anwachsens schauerlich wirkt, und wieder einmal wird – durch das Durcheinander besonders starker Töne – das Bild des Jüngsten Gerichts heraufbeschworen. Jedoch verstummt im Weiteren in einem Moment beinahe alles, und der überraschte Zuhörer findet sich in Owens Hölle wieder, in welcher der Soldat aus dem Gedicht Strange Meeting (‚Eine sonderbare Begegnung‘) nach dem Tod auf seinen Feind stößt, den er vor kurzer Zeit getötet hat. Diese Begegnung wird von Orchestertönen begleitet, die eine irreale Atmosphäre effizieren, und da zusätzlich noch jeder musikalische Puls verstummt, gewinnt man den Eindruck, das Vorige habe außerhalb der Zeit stattgefunden. Beide jungen Menschen erzählen ihre jeweilig eigene Geschichte vom Krieg, in dem beide gegeneinander kämpften und der sie zu guter Letzt beide an denselben Ort führt. Schließlich, als sich das Gespräch der jungen Männer seinem Ende nähert, formulieren sie gemeinsam den Wunsch „Let us sleep now…“ („Lass uns jetzt schlafen…“), und die Musik gewinnt ihren Rhythmus zurück. An dieser Stelle setzt der Komponist das einzige Tutti im ganzen Werk ein, engagiert also alle Musiker auf einmal, nicht, um ihre Kraft zu nutzen, sondern mehr, um ihre Einheit zu zeigen, um – in den Worten der Trauermesse – mit einer Stimme die Hoffnung wiederherzustellen. Wir hören also „In paradisum deducant te Angeli“, was übersetzt ‚Die Engel mögen dich ins Paradies führen‘ bedeutet. Der letzte Gedanke, eigentlich das letzte Gebet des Werks, lautet „Requiescant in pace“, als ‚Ruhe in Frieden, Amen‘ zu übersetzen.

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Für Benjamin Britten stellte das War Requiem eine Auftragsproduktion dar. Er komponierte ein symbolisch reich bestücktes Werk, dessen Dimension weit über das hier Besprochene hinausreicht, und zugleich ein überzeitliches Musikkunstwerk. In die Partitur bezog er auch sehr private Gedanken mit ein, denn er versah sie mit einer Widmung für seine vier Freunde, die an den diversen Fronten des zweiten Weltkriegs ums Leben gekommen waren. Vor allem nutzte er die Gelegenheit, um seine persönliche, absolut negative Einstellung zum Krieg, zu jeder Form des Krieges zu manifestieren. Auf dem Titelblatt finden wir das von ihm angeführte Motto aus der Dichtung Wilfred Owens, das ein übereinstimmender Gedanke von Komponist und Dichter zu sein scheint. Es lautet folgendermaßen: Mein Thema ist der Krieg und das Elend des Krieges Dieses Elend ist Lyrik …. Alles, was heute ein Dichter machen kann, ist warnen.

Die erste Plattenaufnahme des Werks fand ein Jahr nach der Uraufführung, also 1963, statt. Dieses Unternehmen atmete – ähnlich wie die ganze Partitur – die vom Komponisten intendierte friedliche Botschaft: Die Solopartien sangen die Russin Galina Wischnewskaja, eine Sopranistin, der Engländer Peter Pears, Tenor, und Dietrich FischerDieskau, Bass. Vor einiger Zeit wurde die Idee einer internationalen Aufführung des War Requiem von der Musikhochschule in Katowice erneut aufgenommen. Im Konzertsaal erschienen Solisten – eine Polin, ein Franzose sowie ein Engländer –, Chöre aus Frankreich und Polen und das deutsche Symphonieorchester unter der Leitung von Klaus Arp. Da es eines sehr großen Ensembles bedarf, wird dieses Werk nicht allzu häufig gespielt, somit war die Möglichkeit, es zu hören, ein außerordentliches Erlebnis. Wilfred Owens Motto gemäß kann der Dichter nur warnen. Indem sich Britten auf diesen Gedanken beruft, artikuliert er, dass auch Komponisten, Sänger, Musiker, überhaupt alle Künstler, ausschließlich warnen können.

Namensregister

Abramowicz, Mieczysław 181 Achternbusch, Herbert 12, 123–134 Adamski, Jerzy 238 Adler, Hans-Günther 49 Adlon, Percy 389 Adorno, Theodor W. 23, 68, 230, 260 Agamben, Giorgio 251 Aischylos 97 Albers, Hans 330, 343 Albrecht, Friedrich 109 Althen, Michael 391f. Améry, Jean 138, 144, 148f., 157 Anders, Władysław 42 Andersch, Alfred 11, 28, 34, 36–39, 42 Andrzejewski, Jerzy 243, 358, 363 Angress, Ruth (vgl. Klüger, Ruth) 22 Ankersmit, Frank 251 Annaud, Jean-Jacques 391 Anspach, Julia 388 Appelfeld, Aharon 256 Arendt, Hannah 41, 55f., 141, 236, 256, 258, 309 Aristoteles 96 Arp, Klaus 404 Assheuer, Thomas 390 Asshoff, Carmen 148 Assmann, Aleida 136, 143, 263, 366, 374

Assmann, Jan 366 Auernheimer, Raoul 305 Aurelius Augustinus 111 Ausländer, Rose 116 Baczyński, Krzysztof Kamil 231–233 Badmajew, Jadwiga 272f. Bafia, Stanislawa 288 Báky, Josef von 343 Băleanu, Avram Andrei 111 Balzac, Honoré de 256 Bart, Andrzej 13, 254–257 Bartelski, Lesław 238 Barthes, Roland 182, 374 Bartoszewski, Władisław 10 Bartsch, Rudolf 20 Bathrick, David 25 Batt, Kurt 110 Baumgardt, Rudolf 177 Becher, Johannes R. 316–318, 343 Becker, Jurek 11, 22f., 29 Beckett, Samuel 53 Beethoven, Ludwig van 74, 151 Begley, Louis 187, 189, 191f. Bellmann, Werner 368f. Benesch, Eduard 87 Benjamin, Walter 374

406 Benski, Stanisław 261 Benz, Wolfgang 34, 385 Bereś, Stanisław 238 Bereza, Henryk 262 Bergengruen, Werner 157 Berger, Christel 24 Berger, Peter L. 373 Bernard, Jean 386 Bernath, Arpad 370f. Bernhard, Irmtraud 282 Bernhard, Thomas 373f. Bernig, Jörg 50 Berthold, Will 159 Bertram, Hans 14, 327, 331, 334, 336 Beyer, Wilhelm Raimund 32 Bien, Leonarda 281 Bieńczyk, Marek…254, 263 Biermann, Wolf 22 Biller, Maxim 221, 223, 225 Birgel, Willy 328, 349 Bismarck, Otto von 87 Bloch, Ernst 40 Blumenberg, Hans C. 368 Bobrowski, Johannes 22f. Bock, Gisela 275 Boerner, Maria Christina 60 Bojarski, Wacław 237–239, 242, 249 Böll, Heinrich 11, 14, 28, 34–36, 38f., 42, 46, 93, 365–372 Bolváry, Géza von 340 Borchert, Wolfgang 12, 199–209, 342 Borcholte, Andreas 388 Borninkhof, Christoph 123 Borodziej, Włodzimierź 186 Borowski, Tadeusz 12, 199–209, 249 Borsody, Eduard von 352, 383 Brambilla, Marina Marzia 148 Brandlmeier, Thomas 340f., 343, 346, 348 Brasch, Thomas 22 Braun, Christina von 13, 267f., 273 Braun, Eva 388

Namensregister Braun, Harald 342, 348f., 350 Brauner, Artur 345 Brecht, Bertolt 23f., 25, 75, 97, 341 Bredel, Willi 23 Breinersdorfer, Fred 389 Breuer, Ulrich 123f. Briegleb, Klaus 28, 45 Britten, Benjamin 14, 401–404 Broniewski, Władysław 229, 233, 243 Bruegel, Pieter 213 Brycht, Andrzej 220–222 Brzozowski, Stanisław 240–242, 245, 247f. Buber-Neumann, Margarete 276–278 Buchheim, Lothar-Günther 384 Buczkowski, Leonard 396 Burdówna, Anna 283 Bürger, Gottfried August 43 Buss, David M. 206, 208 Cadras, Pierre 328 Camus, Albert 61 Celan, Paul 23, 28, 143 Cepl-Kaufmann, Gertrude 182 Chamberlain, Houston Stewart 103 Chełmoński, Józef 360 Chopin, Frédéric 395 Chrostowska, Grażyna 280 Chutnik, Sylwia 263 Chwin, Stefan 12, 180, 183, 263 Clay, Lucius D. 312 Corneille, Pierre 95 Courtade, Francis 328 Cousins, Norman 289 Cruise, Tom 391 Cybulski, Zbigniew 358 Czapliński, Przemysław 251 Czarnecki, Stefan 360 Czechowicz, Józef 243 Damß, Martin 176 De Bruyn, Günter 27

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Namensregister De Kowa, Viktor 350 De la Rosa, Francesco Martinez 95 Dean, James 358 Debussy, Claude 395 Delavigne, Casimir 397 Demarczyk, Ewa 232 Demetz, Peter 30 Deppert, Fritz 46 Derrida, Jacques 251, 258, 366 Descartes, René 199 Diettrich, Fritz 157 Diner, Dan 28 Dobrowolski, Stanisław Ryszard 396 Dobrowolski, Wacław 357 Dohm, Ernst 87 Dohm, Hedwig 86f. Domin, Hilde 116 Dor, Milo 28, 368 Dostojewski, Fjodor 79 Drewniak, Bogusław 329 Drewnowski, Tadeusz 227 Drews, Jörg 123, 127, 130 Drotkiewicz, Agnieszka 254 Dubiska, Irena 395 Dudow, Slatan 343 Dzido, Jadwiga 289 Eaglestone, Robert 252f. Eastwood, Clint 383 Ebert, Jens 49, 319 Edel, Peter 23 Edvardson, Cordelia 117 Egyptien, Jürgen 49, 58 Eich, Günter 28 Eichendorff, Joseph von 175f., 177 Eichhorn, Bernhard 353 Eichinger, Bernd 14, 387 Eichmann, Adolf 23 Eisenhower, Dwight D. 312 Ellger, Hans 190 Ellington, Duke 395

Emmerich, Klaus 14, 373–381 Emmerich, Wolfgang 25, 27f. Erdmann, Franz 178 Eschwege, Helmut 26 Eshel, Amir 23 Evans, Richard 325, 328 Fabri, Albrecht 43 Fallada, Hans 46 Färberböck, Max 14, 267, 390f. Fechner, Eberhard 23 Federau, Wolfgang 177 Ferber, Christoph 367 Fest, Joachim 387 Fink, Ida 187, 190f. Fischer, Fritz → Historiker 314 Fischer, Fritz → Lagerarzt 289 Fischer, Gudrun 110 Fischer, Hubert 281 Fischer-Dieskau, Dietrich 404 Fiut, Aleksander 248 Flegel, Silke 27 Foer, Jonathan Safran 252, 263 Forster, Albert 179 Forster, Leonard 152 Forte, Dieter 50 Foucault, Michel 141 Fox, Thomas C. 20, 22, 24, 26 Franco, Francisco 88 Frank, Hans 237 Frei, Norbert 365 Freimüller, Tobias 140 Freisler, Roland 389 Friedländer, Saul 186, 197 Friedrich, Jörg 365 Frisch, Max 370 Fritsch, Werner 126, 130 Fritsch, Willy 349f. Früchtl, Joseph 123 Fühmann, Franz 11, 20, 27, 29–31, 93–105 Fürnberg, Louis 22

408 Gaiser, Gerd 326 Gajcy, Tadeusz 238f., 243, 249 Gałczyński, Konstanty Ildefons 229, 233 Gauger, Klaus 197 Gebhardt, Karl 286, 289 Gerlach, Jens 22 Gershwin, George 395 Gnärich, Ernst 160 Gnas, Maria 287 Goebbels, Joseph 28, 237, 319, 327f., 334, 340, 349f., 352, 388 Goethe, Johann Wolfgang von 65f., 78, 151, 312 Golczowa, Halina 284 Goldberg, Oskar 72 Gombeaud, Adrien 386 Gombrowicz, Witold 243, 245 Górecki, Henryk Mikołaj 398 Göring, Hermann 326f., 331, 334 Górska-Romaniczowa, Zofia 284 Grass, Günter 12, 28, 178, 182, 186, 193 Gravenhorst, Lerke 275 Grawitz, Ernst-Robert 279 Gregor-Dellin, Martin 23 Groehler, Olaf 25f. Grossmann, David 252 Grottger, Artur 360 Grupinska, Mirosława 283 Günther, Egon 20 Günther, Hans F. K. 103 Günther, Helmut 44 Gutkowska, Barbara 248 Haas, Erika 111 Haas, Georg Ralph 159–172 Hagelstange, Rudolf 157 Hajduk, Ryszard 41 Hake, Sabine 340, 346 Hanke, Karl 169f. Hansen, Rolf 352 Haraway, Donna 273f.

Namensregister Harlan, Veit 345, 349 Harms, Sarah 308, 311 Harnack, Falk 384 Harpprecht, Klaus 75 Hartung, Hugo 11, 34, 38f., 42, 159–172 Hauser, Harald 18 Hausmann, Manfred 157 Hawks, Howard 383 Hegel, G.W.F. 199, 209 Hegemann, Werner 302 Hegier-Rafalska, Helena 286f. Heiduczek, Werner 23, 27 Heinrich, Willi 48 Heinzlmeier, Adolf 384 Heller, André 387 Heller, Hermann 117 Hellstern, Martin 367 Hensel, Georg 11, 51–64 Herbert, Zbigniew 294 Herf, Jeffrey 26 Herling-Grudziński, Gustaw 292 Hermand, Jost 49, 52, 64 Hermlin, Stephan 19f., 22, 24, 26f., 29 Herzog, Monika 276 Heska-Kwásniewicz, Krystyna 375 Heukenkamp, Ursula 49 Heydrich, Reinhard 280 Heym, Stefan 22f., 24, 27, 29 Hillers, Marta 390 Hilzinger, Sonja 112 Himmler, Heinrich 277–279, 391 Hippler, Fritz 331 Hirohito 391 Hirsch, Marianne 253 Hirsch, Rudolf 23 Hirschbiegel, Oliver 387 Hiszpánska, Maria 284 Hitler, Adolf 25, 62, 75, 77, 87, 89f., 117f., 133, 280, 298, 323, 328, 334, 348, 351, 380, 384, 387–389, 391f. Hobbes, Thomas 102

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Namensregister Hoffmann, Wilhelm 117 Hofmann, Frank 27 Hofmannsthal, Hugo von 95, 151 Hölderlin, Friedrich 151 Höllerer, Walter 28 Holmsten, Georg 17 Holthusen, Hans Egon 12, 147–157 Holthusen, Walter 152 Horbach, Michael 48 Horney, Brigitte 329 Hörnigk, Therese 24 Horowitz, Sara R. 190 Huelle, Paweł 12, 182 Huizinga, Johan 379, 381 Hulewicz, Witold 238 Hunte, Otto 347 Huntington, Samuel P. 197 Hüser, Rembert 128, 131 Hüttmann, Oliver 387 Huxley, Aldous 89 Ichikawa, Kon 383 Ickes, Harold L. 309 Irzykowski, Karol 245 Jakubowska, Wanda 345 Janicka, Elżbieta 238, 245 Janicki, Stanisław 357, 359, 364 Janion, Maria 245 Jastrzębski, Zdzisław 237 Jelinek, Elfriede 252 Jens, Walter 28 Jentsch, Julia 390 Jesenská, Milena 284 Johannes Paul II. 398 John, Michael 133 Johnson, Uwe 31 Joho, Wolfgang 18 Judt, Tony 186f., 192, 197 Jugert, Rudolf 342, 349 Junge, Traudl 387

Jünger, Ernst 44, 202 Kafka, Franz 256, 277 Kaléko, Mascha 148 Kant, Hermann 27 Kant, Immanuel 29, 209 Kanzog, Klaus 329 Karasek, Hellmuth 368 Karmakar, Romuald 391 Karolewska, Władysława 289 Kaschnitz, Marie Luise 116 Käutner, Helmut 342, 346, 348, 350, 352f. Kemp, Friedhelm 151, 154f. Kessler, Heinz 41 Kiecol, Zofia 285 Kiedrzyńska, Wanda 281, 285 Kierkegaard, Søren 79 Kijowska, Marta 187f. Kilar, Wojciech 375, 398 Kilb, Andreas 365, 387, 390 Kindermann, Heinz 176 King, Mackenzie 305 Kirsch, Sarah 22 Kirsch, Stefan 25 Kirst, Hans Hellmut 384 Kittsteiner, Heinz Dieter 29 Klein, Gerhard 343 Kleist, Heinrich von 68f., 71 Klering, Hans 340, 344 Klier, Freya 275, 279f. Klingemann, August 95 Klingler, Werner 325 Klüger, Ruth (vgl. Angress) 13, 22, 212, 215, 265f., 268f. Knef, Hildegard 349 Kochenrath, H.-P. 349 Kohler, Ottmar 321f., 324 Kołakowski, Leszek 355 Kolbe, Jürgen 367 Kolbe, Maksymilian 398 Komorowski, Paweł 14, 373–381

410 Königsdorf, Helga 24 Konsalik, Heinz G. 13, 321f., 384 Konwicki, Tadeusz 358 Koonz, Claudia 275 Kopczyński, Onufry Bronisław 238f. Kopelew, Lew 110 Kopiński, Aleksander 240 Köpke, Wulf 309, 311, 314 Köppen, Manuel 218, 222, 330, 332f. Korczak, Janusz 293 Korte, Hermann 157 Kosiński, Jerzy 187, 191–193 Kossak, Julius 360 Kraft, Thomas 34, 39 Kraska, Weronika 285 Kreimeier, Klaus 334, 362 Kreye, Andrian 391f. Krien, Werner 345, 349 Kristeva, Julia 366 Kröll, Friedhelm 51f. Krośnicka, Magdalena 362 Krupp, Alfried 369 Kucklick, Christoph 365 Kühl, Arnold 177 Kulak, Teresa 161, 163–168, 170–172 Kummerow, Walter 307 Kunce, Aleksandra 199 Kunert, Günter 22f. Küng, Hans 366 Kurowska, Kazimierza 285 Kurpiński, Karol 397 Kurzke, Hermann 72 Kuśmierczuk, Maria 289 Kwiecińska, Leokadia 287 LaCapra, Dominick 251 Lamprecht, Gerhard 339 Lang, Berel 251 Lang, Fritz 347 Lange, Carl 176 Langgässer, Elisabeth 116f.

Namensregister Langner, Ilse 187, 193–195 Langner, Wiktor 357 Lanzmann, Claude 131, 211f. Lauckner, Nancy 22 Lean, David 383 Ledig, Gert 46, 48 Ledóchowski, Aleksander 359 Lefanowicz, Aniela 285 Lefort, Gérard 390 Legeżeńska, Anna 249 Lehndorff, Hans Graf von 13, 291–299 Lehndorff, Heinrich von 298 Lem, Stanisław 254, 261 Lemeland, Aubert 321 Lenin, Wladimir Iljitsch 391 Lenz, Hermann 194 Lenz, Siegfried 28 Leonhard, Rudolf 22 Levi, Primo 192, 197, 216, 252 Levy, Dani 392 Liebeneiner, Wolfgang 342, 349 Liersch, Werner 27 Lind, Jakov 49 Lindemann, Alfred 340 Link, Caroline 391 Lipski, Jan Jósef 10 Littell, Jonathan 252, 263 Loest, Erich 20, 27 Loimeier, Manfred Georg 131 Lorrain, François-Guillaume 386, 389 Lothringer, Sylvère 186 Loti, Pierre 204 Louis, Raffaele 52f. Löwenstein, Hubertus von 90 Löwenthal, Richard 366 Luckmann, Thomas 373 Ludwig, Elga 313 Ludwig, Emil 13, 301–314 Lukács, Georg 110 Lurie, Wanda 273 Lutosławski, Witold 395f.

411

Namensregister Lysko, Alfons 41 Maczka, Zofia 286 Maetzig, Kurt 340, 342, 348 Maisch, Herbert 335 Malawski, Artur 398 Man, Paul de…366 Mánkowska, Klementyna 271–273 Mann, Erika 84, 86, 88 Mann, Golo 84–86, 145 Mann, Heinrich 85f., 89 Mann, Katia 84f. Mann, Klaus 11, 83–91 Mann, Monika 86 Mann, Thomas 11, 65–81, 84–86, 91, 261, 304, 309 Mannzen, Walter 51, 58 Marczak, Stanisław 238 Marmein, Peter 157 Martin, Dunja 286, 288 Marx, Jan 238 Marzec, Jan 250 Masaryk, Jan 305 Masłowska, Dorota 263 Matejko, Jan 359 May, Joe 347 May, Paul 384 Mayring, Philipp Lothar 344 Mazower, Mark 325, 328 Mazurkiewicz, Ewa 326 Meichsner, Dieter 46 Memling, Hans 180 Mencel, Wojciech 238 Meng, Michael 197 Menzel, Gerhard 328 Meyer, Beate 386 Meyer, Paul 273 Michaels, Anne 252 Michałek, Bolesław 360 Michałowski, Piotr 360 Mickiewicz, Adam 233, 294

Miczka, Tadeusz 360, 363 Mikulska-Turowska, Eugenia 286 Milchman, Alan 251 Milestone, Lewis 383 Miłosz, Czesław 228, 240, 243, 247f. Minhoff, Susanna 284 Mitscherlich, Alexander 136, 140f. Mitscherlich, Margarete 115, 120, 136 Mittenzwei, Werner 25 Mochnacki, Maurycy 240–242, 247 Moczarski, Kazimierz 104 Moeller, Felix 328, 334 Moellmann, Franz 368 Möller, Paul Gerhardt 318 Molo, Walter von 80 Mommsen, Wilhelm 302 Moses, Katja 53 Mozart, Wolfgang Amadeus 79 Mrowiec, Alfons 41 Mruklik, Barbara 358, 360 Mückenberger, Christiane 340, 344, 346, 348 Müller, Armin 187, 195f. Müller, Charlotte 280 Müller, Hans 343, 351 Müller, Heidi 22 Mundstock, Karl 20 Münkler, Herfried 25 Musioł, Józef 41 Mussolini, Benito 304 Nahrgang, Wilbur Lee 46f. Nasiłowska, Anna 237 Naumann, Uwe 88f. Netz, Felix 375f. Nida-Rümelin, Julian 102 Niedenthal, Chris 182 Niehoff, Hermann 170 Nietzsche, Friedrich 65f., 69 Nitsche, Jürgen 21 Noll, Dieter 21

412 Nora, Pierre 366 Norwid, Cypriam Kamil 240, 242 Nurczyńska-Fidelska, Ewelina 356, 361 O’Doherty, Paul 22–24 Oberberg, Igor 353 Oberheuser, Herta 280, 289 Olbrychski, Daniel 358 Omankowski, Willibald 173–177 Orlicz, Zofia Maria 283 Orłowski, Aleksander 360 Orłowski, Hubert 83, 186, 326, 360 Ort, Claus-Michael 124f., 132 Otto, Herbert 20 Owen, Wilfred 401–404 Pajaczkowska, Maria 287 Pankowski, Marian 13, 254, 258–260 Panse, Ingrid 276 Panufnik, Andrzej 14, 395–397 Patton, George S. 312 Pätzold, Kurt 26 Paziński, Piotr 254, 261 Pears, Peter 404 Penderecki, Krzysztof 398 Perrey, Hans-Jürgen 303 Petersen, Wolfgang 384 Petrovic, Aleksandar 365–372 Pfahlmann, Hans 190 Pfeifer, Jochen 47–49, 51f., 58 Piasecki, Bolesław 245 Picker, Henry 133 Pietrzyk, Barbara 285, 289 Pisarek, Eugeniusz 357 Pitiot, Pierre 361 Placke, Heinrich 312 Plater-Skassa, Maria 289 Plesnar, Łukasz 383 Plessen, Elisabeth 117f. Pleyer, Peter 341, 348 Plievier, Theodor 18, 316–319, 321f.

Namensregister Pohl, Arthur 342 Poltawska, Wanda 275 Pomian, Andrzej 270 Pommer, Erich (Eric) 348 Pontzen, Alexandra 252 Posmysz, Zofia 201 Prager, Eva 252 Prus, Alfreda 285 Przyboś, Julian 243 Raabe, Mechthild 149, 157 Racine, Jean 110 Radvanyi, Laszlo 107 Rajzman, Julij 344 Rakowska, Apolonia 285 Rammé, Jennifer 271 Rappoport, Daniel 19 Rathenau, Walther 303, 305 Rawicz, Piotr 254 Rehn, Jens 48 Reich-Ranicki, Marcel 100, 265 Rein, Hans 17 Reinecke, Stefan 389 Reinhard, Wolfgang 206, 209 Rek-Koper, Isabela 285f. Remarque, Erich Maria 316 Reymont, Władysław 256 Richter, Hans 30 Richter, Hans Werner 28, 45, 58 Richter, Roland Suso 392 Riefenstahl, Leni 350 Rilke, Rainer Maria 147 Rinser, Luise 116 Riss, Barbara 187f. Ritter, Karl 331 Roberts, Ulla 120 Rocholl, Horst 13, 322–324 Rodak, Paweł 238, 240f. Rodek, Hanns-Georg 389f. Roden, Johanna W. 307, 311, 314 Roosevelt, Franklin D. 87, 305, 307, 309

Namensregister Rosenberg, Alan 251 Rosenberg, Alfred 95, 98–101, 103f. Rosenthal, Rolf 279 Rossellini, Roberto 383 Rothberg, Michael 264 Rothemund, Marc 389 Różewicz, Tadeusz 12f., 196, 216–219, 221, 223f., 227–236 Rudnicki, Adolf 256, 258 Rudzka, Zyta 13, 254, 261–263 Rumkowski, Chaim 255f., 257f. Rutha, Bogdan 254, 261 Rymkiewicz, Jarosław Marek 263 Sabais, Heinz Winfried 196 Sabrow, Martin 393 Sachs, Nelly 116 Saint-Exupéry, Antoine de 369 Salvesen, Sylvia 282 Sanders-Brahms, Helma 120 Sartre, Jean-Paul 62f. Schaffner, Franklin J. 383 Scheuer, Helmut 302 Scheunemann, Herbert 177 Schiller, Friedrich 43, 150, 312 Schimmel-Falkenau, Walter 159–172 Schindel, Robert 221, 225 Schirrmacher, Frank 388 Schlant, Ernestine 29, 138 Schleif, Wolfgang 343 Schlink, Bernhard 211, 221, 223f., 252, 263 Schlöndorff, Volker 14, 386f., 392 Schmiderer, Othmar 387 Schmidt, Mirko F. 127 Schmieder, Jürgen 392 Schmitz, Sybille 349 Schneider, Arne 384 Schneider, Rolf 22 Schneider, Romy 368 Schneider, Thomas F. 306 Schnell, Monika 276

413 Scholem, Gershom 256 Scholl, Hans 389 Scholl, Sophie 389 Scholtis, August 9f., 326 Scholz, Hans 29 Scholz-Lübbering, Hannelore 276 Schöne, Albrecht 265 Schöne, Lothar 216, 221, 225 Schreckenberg, Heinz 103 Schröter, Heinz 319, 321 Schubert, Franz 370 Schubert, Helga 11, 120f. Schultze, Norbert 332 Schulz, Berndt 384 Schulz, Eberhard Günter 195 Schulz, Max Walter 23, 27 Schütz, Erhard 335 Schütz, Paul 175 Schwab-Felisch, Hans 44 Schwachhofer, René 22 Schwarzkopf, Klaus 133 Sebald, Winfried Georg 12, 135–145, 256, 263 Seghers, Anna 11, 18, 22f., 27, 107–114 Seneca 95 Serke, Jürgen 115 Seydel, Heinz 22 Shakespeare, William 235, 256 Shandley, R. R. 345–348, 350f. Siegler, Hans-Georg 178 Simmel, Georg 172 Skasa-Weiß, Ruprecht 368 Skwara, Janusz 375 Slánsky, Rudolf 18 Słonimski, Antoni 227–229, 233 Sokurov, Alexander 391 Sołtan, Tadeusz 238, 241 Sophokles 11, 21, 98f., 119, 357 Sorel, Georges 73 Spengler, Oswald 151 Spielberg, Steven 383

414 Spielhagen, Wolfgang 168 Stalin, Josef 26, 304 Stalony-Dobrzański, Adam 357 Staudte, Wolfgang 339, 341, 344, 346–348, 350 Stein, Edith 369 Steinberg, Werner 20, 159–172 Steinhoff, Hans 344 Stemmle, Robert A. 342, 346 Sterkowicz, Stanisław 281 Stern, Fritz 185, 198 Stettinius, Edward R. 312 Stifter, Adalbert 315 Stolarska, Bronisława 356 Strawinski, Igor 395 Strebel, Bernhard 276f., 285 Strebel, Heike 282 Strittmatter, Erwin 27 Strohmeyr, Armin 86 Stroiński, Zdisław 238f. Stroop, Jürgen 104 Suchsland, Rüdiger 386 Suhren, Fritz 278 Sumpfegger, Ludwig 280 Supf, Peter 327, 330, 335f. Suttner, Bertha von 86f. Święch, Jerzy 238 Symonowicz, Wanda 275, 286f. Szczepański, Jan Józef 297 Szczypiorski, Andrzej 187f., 271f. Szepansky, Gerda 275 Szewc, Piotr 254, 263 Szewczyk, Grażyna Barbara 326, 379 Szewczyk, Wilhelm 375 Szmaglewska, Seweryna 268f. Szpitterowna, Maria 283 Szymborska, Wisława 236 Taterka, Thomas 18 Theuerkauf, Holger 350 Thierse, Wolfgang 321

Namensregister Thomas, Louis-Vincent 203, 209 Thompson, Dorothy 87 Thürk, Harry 20, 27 Tillich, Paul 301, 309 Tooze, Adam 325 Topolski, Jerzy 270f. Töteberg, Michael 89, 127 Tourjansky, Viktor 328 Trakl, Georg 370 Trauberg, Ilja 339 Treitschke, Heinrich von 209 Trotta, Margarethe von 14, 385f., 392 Truman, Harry S. 312 Trzebiński, Andrzej 13, 237–250 Tschesno-Hell, Michael 23 Tschörtner, H. D. 159f. Tuchowski, Andrzej 401 Tulpanow, Sergej 346 Tuwim, Julian 240, 243 Ucicky, Gustav 328, 330 Uhse, Bodo 18 Ullrich, Sebastian 303 Umińska, Eugenia 395 Umińska-Keff, Bożena 254 Uniłowski, Zbigniew 245 Urbankowski, Maciej 238 Valentin, Karl 125 Verhoeven, Michael 389 Vice, Sue 252 Vietta, Silvio 157 Vilsmaier, Joseph 14, 384, 392 Virilio, Paul 186 Vogel, Bruno 316 Vogt, Jochen 113 Völker, Klaus 25 Voltaire 95 Waas, Adolf 303 Wagenbach, Klaus 26f., 212

415

Namensregister Wagener, Hans 49, 51f., 61, 64 Wagner, Christa 280 Wajda, Andrzej 14, 355–364 Wajnberg, Mieczysław 398 Waldheim, Kurt 131, 134 Walser, Martin 28, 265 Walz, Loretta 280, 286 Wandels, Paul 343 Wander, Fred 22 Wangenheim, Gustav von 343 Wantuła, Leon 41 Warm, Hermann 345 Warsinsky, Werner 49 Warszawski, Józef 245 Wawrzykowska-Wierciochowa, Dioniza 266 Weber, Erich 318 Wehdeking, Volker Christian 51 Weichenhan, H. O. 340 Weidenmann, Alfred 383f. Weil, Grete 11, 119f Weise, Gerhart 336f. Weiß, Christoph 212 Weiß, Ernst 110 Weiss, Peter 12, 212–217, 220 Welles, Sumner 309 Wenders, Wim 388 Werner, Andrzej 356 Wessel, Kai 392 West, Franklin C. 301f. Westphal, Helene 176–178 White, Hayden 251, 256f. Wichmann, Karl 166 Wickham, Christopher 130 Wicki, Bernhard 384 Wicki-Endriss, Elisabeth 384 Wiene, Robert 345 Wiesel, Elie 252 Wilder, Billy 348, 383 Wiłkomirska, Maria 395

Wiłkomirski, Benjamin 254 Wiłkomirski, Kaziemierz 395 Winkler, Kazimierz 238 Wińska, Ursula 275, 282–284 Wischnewskaja, Galina 404 Witkiewicz, Stanisław Ignacy 243 Wobold, Matthias 309 Wojdowski, Bogdan 261 Wolf, Christa 11, 30f., 108f., 112, 193 Wolf, Dieter 341 Wolf, Friedrich 22 Wöss, Fritz 32 Woytowicz, Bolesław 14, 395, 397f. Wróblewski, Andrzej 357 Wulf, Joseph 303 Wulffen, H. von 315 York, Eugen 344f., 349 Young, James Edward 214, 217f. Zabierowski, Stefan 356 Zagórski, Jerzy 238 Załuski, Zbigniew 356 Zand, Herbert 46 Zarębski, Konrad J. 392 Zehl-Romero, Christiane 108, 112 Zeller, Eva 11, 117f. Zeller, Wolfgang 345, 349 Zembrzuska, Irma 269f., 273 Zeromski, Stefan 293 Zimmermann, Bernhard 95 Züchner, Eva 336 Zucker, Renée 391 Żukrowski, Wojciech 356, 359 Zwarra, Brunon 179–181 Zweig, Arnold 22f., 27 Zweig, Stefan 302 Zwerenz, Gerhard 11, 34, 40f.