181 53 73MB
German Pages 343 [344] Year 1996
MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Bamer, Hermann Bausinger, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 40
Matthias Hurst
Erzählsituationen in Literatur und Film Ein Modell zur vergleichenden Analyse von literarischen Texten und filmischen Adaptionen
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hurst, Matthias: Erzählsituationen in Literatur und Film : ein Modell zur vergleichenden Analyse von literarischen Texten und filmischen Adaptionen / Matthias Hurst. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 40) NE: Medien in Forschung + Unterricht / A ISBN 3-484-34040-1
ISS N 0174-4399
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren
»... erstens ist jedes Buch unverfilmbar und zweitens nur so lange, bis es verfilmt wird.« Andreas Kilb: ich bin so groß wie Gott. Über David Cronenbergs "Naked Lunch", Martin Scorseses "Kap der Angst", Eric Rohmers "Wintermärchen" und andere Filme auf der Berlinale 1992, In: Die Zeit, Nr. 10, 28.2.1992, S. 57f., S. 57.
Danken möchte ich an dieser Stelle folgenden Personen, die mir auf unterschiedlichste Art und Weise geholfen und so zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben: Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Instituts für Filmkunde, Frankfurt a.M. - allen voran Frau B. Capitain -, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der EDV-/AVMedien-Stelle der Universitätsbibliothek Heidelberg und deren Leiter, Herrn B. Homann, Herrn Professor Dr. D. Borchmeyer (Universität Heidelberg), Herrn Professor Dr. Dr. F. K. Stanzel (Universität Graz), Johannes Haasemann, Angelika & Martin Waßmer, Uwe Werner und meinen Eltern. Mein besonderer Dank gilt schließlich Herrn Professor Dr. H. Kiesel (Universität Heidelberg), der mich in allen Phasen meiner Arbeit wohlwollend unterstützt und motiviert hat.
Gewidmet sei dieses Buch Bärbel & Lilian
INHALT
Einleitung
l
TEIL l: THEORETISCHE GRUNDLAGEN
13
1.
Die ErzähMtuationen epischer Literatur
13
L 2. 3. 4. 5.
13 18 21 23
5.1 5.2 5.3 6. 6. l 6.2
Mittelbarkeit Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur Mittelbarkeit und Literanzität Typische Erzählsituationen - Der Typenkreis Stanzeis Erzähltheorie im Spiegel der Kritik Gegenentwürfe Leibfried Füger Petersen Vorteile der Erzähltheorie Stanzeis Kognitive Ökonomie - Ein Exkurs Kategoriales und dimensionales Modell
II.
Mittelbarkeit des Films
50
1. 2. 3. 4. 4. l 4.2
Film als "unmittelbares Medium"? "Film ais Kunst" Kunst und Kino - Ein Exkurs Das Transformationsmodell des Films Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur des Films Der kinematographische Code
50 58 65 74 74 78
29 31 35 37 42 43 47
VIII .
Erzählsituationen des Mediums Film generell
85
1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3
Literatur als Vorbild des Films Der Erzähler des Films Erzählperspektiven des kinematographischen Codes "Illusion der Unmittelbarkeit" Innenperspektive - Subjektive Kamera und Ich-ES Außenperspektive: Der Zuschauer als Voyeur
85 87 89 89 96 99
IV.
Mittelbarkeit durch nicht-kinematographische Codes Sprache und Text im Film
104
1. 2. 3. 4. 4.1 4.2
Literarizität durch Mittelbarkeit Episierung des Films - Auktoriale ES und Ich-ES Funktionen sprachlich-literarischer Elemente Sprache und Bild im Konflikt "Der Kampf um den Film" Ungleichgewicht zwischen Sprache und Bild
104 106 114 118 118 122
V.
Mittelbarkeit durch den kinematographischen Code
126
1. 2, 2, l 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
Methodische Vorüberlegung Funktionen des Erzählvorgangs Prädikative und illokutive Akte des Erzählens Kinematographische Konnotationen Paradigrnatische Konnotationen Syntagmatische Konnotationen Kombination von paradigmatischen und syntagmatischen Konnotationen 3, Gestaltung des Erzählvorgangs 3.1 Gebundene Kamera - gelöste Kamera 3.2 Dichotomie des kinematographischen Codes 3.2.1 Die Ebene der Mise-en-Scene 3.2.2 Die syntaktische Ebene
126 128 128 130 131 133 136 137 137 140 140 141
IX
3.2.3 3.2.4 3.3 4. 5.
Narrative Syntagmen und rhetorisch-stilistische Syntagmen Gebundene und gelöste Point of Vfcw-Einstellungen Zwei 'Filmsprachen' Kinematographische Erzähl Situationen und Konnotationen .. Übersicht
TEIL 2: PRAKTISCHE ANWENDUNGEN
144 145 146 148 151
.. 154
VI.
Erzähl Situationen in Literatur und Film
154
1.
Wechsel von personaler ES zu auktorialer ES: Der Roman "Fabian" von Erich Kästner und die Verfilmung von Wolf Gremm Der Roman "Fabian" Der Film "Fabian" Konsequenzen der veränderten Erzählperspektive
154 154 158 162
Auktoriale ES und personale ES im Wechsel: Die Erzählung "Tonio Kroger" von Thomas Mann und die Verfilmung von Rolf Thiele Die Erzählung "Tonio Kroger" Der Film "Tonio Kroger" D ichotomie der Er zähl Situationen
168 168 174 178
1.1 1.2 l .3 2.
2. l 2.2 2.3 3.
3.1 3.2 3.3
3.4
Auktorialer Einschub in personaler ES: Die Erzählung "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann und die Verfilmung von Luchino Visconti Die Erzählung "Der Tod in Venedig" Der Film "Der Tod in Venedig" "Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war." - Auktorialer Einschub in personaler ES Nähe und Distanz - Ambivalenz der kinematographischen Gestaltung
182 182 186
191 195
4.
Ich-Erzähler und auktoriale Bildgestaltung: Der Roman "Homo faber" von Max Frisch und die Verfilmung von Volker Schlöndorff Der Roman "Homo faber" , Erlebendes Ich - Erzählendes Ich - Verdrängendes Ich Strukturierendes Ich Der Film "Homo faber" Kommentare des Ich-Erzählers Die visuelle Gestaltung Ich-ES und auktoriale Bildgestaltung "Die Berge sehen aus wie schlafende Dinosaurier." Verlust der Subjektivität und der mythologischen Bedeutungsebene
235
VII.
Die Grenzen des Films
245
1. 2. 3.
Der Roman "Berlin Alexanderplatz" Filmische Schreibweise Vergleich zwischen auktorialer ES und personaler ES: Die Verfilmungen des Romans "Berlin Alexanderplatz11 von Phil Jutzi und Rainer Werner Fassbinder Der Film " Berlin Alexanderplatz" von Phil Jutzi (1931) .... Der Film "Berlin Alexanderplatz" von Rainer Werner Fassbinder (1979/80) Fassbinders "Alexanderplatz": Emotionale Nähe und distanzierende Künstlichkeit ,
245 253
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
3.1 3.2 3.3
VIII. Schlußbemerkung 1. 2.
Darf man literarische Texte und ihre filmischen Adaptionen miteinander vergleichen? Montageroman als Montagefilml
199 199 208 219 223 225 231
263 265 269 273
284
284 286
XI
IX.
Literaturverzeichnis
293
1. 2. 3.
Primärliteratur Sekundärliteratur Artikel und Kritiken zu den Literaturverfümungen in Zeitschriften und Zeitungen DieFilme .,
293 294
4.
314 326
Einleitung
In immer stärkerem Maße öffnet sich die germanistische Literaturwissenschaft dem Medium Film. Zum einen gilt ihr Interesse dem wechselseitigen Einfluß der beiden narrativen Medien Literatur und Film, der sich vor allem in einer Durchmischung ihrer spezifischen Erzähltechniken und somit in Phänomenen wie beispielsweise der filmischen Schreibweise und des literarischen Films zeigt. Zum anderen richtet sie ihr Augenmerk auf die Literaturverfilmung, die sie endlich aus ihrem Status der Ächtung und generellen Geringschätzung erlöst und als eine Form interpretative! Auslegung und als eine populäre Möglichkeit der Rezeption literarischer Werke erkannt hat. Dabei gehören Literaturverfümungen seit langem schon zum alltaglichen Angebot der audiovisuellen Medien; Kino und Fernsehen bieten regelmäßig eine Vielzahl von Filmen nach literarischen Werken an und versäumen es auch nicht, oftmals betont auf das literarische Vorbild hinzuweisen, so als gelte es, dem Programm durch die Prädikats verleihung Literaturverfilmung ein besonderes Qualitätssiegel aufzudrücken. Tatsächlich werden literarische Stoffe verfilmt, seit es den Film gibt. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literaturverfilmungen allerdings schien lange Zeit problematisch. Die Filmwissenschaft maß der Tatsache, daß einem Film ein literarisches Werk zugrunde liegt, nur unzureichend Bedeutung zu, legte also nicht wesentlich andere Kategorien an eine Verfilmung an als an herkömmliche Filme nach Originalstoffen. Die Literaturwissenschaft hingegen verhielt sich Verfilmungen gegenüber lange Zeit äußerst zurückhaltend und skeptisch. Ihr Mißtrauen in das jüngere Medium Film bewirkte eine generelle Ablehnung literarischer Adaptionen; die Tendenz, Literatur und Film in hierarchische Ordnungen zu pressen, den Kunstwert des Films als eigenständige Gattung im Vergleich mit der Literatur zu leugnen oder nur in wenigen Ausnahmefallen anzuerkennen, verhinderte so eine adäquate Analyse und Bewertung der Qualität und künstlerischen Aussagekraft von Literaturverfilmungen. Allzu schnell
lehnte man eine Verfilmung als platte, dem literarischen Vorbild in keiner Weise gerecht werdende Verzerrung des ursprünglichen Kunstwerks ab. "Alle Anzeichen verraten", so stellte Koebner aber 1985 fest, "daß sich Germanisten dazu imstande sehen, den Film in das Repertoire ihrer Untersuchungsgegenstände einzufügen [...]. Nicht selten fuhrt die Beschäftigung mit der Ästhetik des Films wieder zur Literatur zurück und hilft, dort spezifische Prinzipien genauer zu sehen."1 Bereits zwei Jahre später diagnostizierte Scheunemann resigniert das Ende dieser Entwicklung: "Der Aufbruch in die weitere MedienLandschaft, den die sechziger und siebziger Jahre der Literaturwissenschaft verhießen, scheint sich gegenwärtig zum Nebelsireif zu verflüchtigen. Eifersüchtiger denn je präsentiert sich die Disziplin als eine textausdeutende Wissenschaft, leicht zurücklassend das kaum geborgene Quentchen an Aufklärung über die Variabilität der Präsentationsweisen, die die Literatur in der Moderne entfaltete." Ähnlich enttäuscht urteilte Nerlich zu Beginn der neunziger Jahre über das Verhältnis der Literaturwissenschaft zu den visuellen Medien: "Ein Versagen der Literaturwissenschaft ist einzugestehen: seit nunmehr einhundertfünfzig Jahren gibt es die Photographie, seit knapp einhundert Jahren den Film, und obwohl kein Zweifel daran bestehen kann, daß beide Erfindungen - in welcher Hinsicht auch immer - für die Literatur von (zunehmend) grundlegender Bedeutung gewesen sind, ja sie streckenweise sogar (z.B. in der Übernahme 'filmischer' Thomas Koebner: Medium Film - doch kein Ende der Literatur! Eine Vorbemerkung. In: Albrecht Schöne (Hrsg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 10: Vier deutsche Literaturen? Literatur seit 1945 - nur die alten Modelle? Medium Film - das Ende der Literatur? Herausgegeben von Karl PestaSozzi, Alexander von Bormann und Thomas Koebner. Tübingen 1986, S. 265f., S, 266. Dietrich Scheunemann: Epische Gesänge, gedruckte Bücher und der Film. Vermischte Notizen zum Status und zu den Präsentationsweisen der Literatur. In: Norbert Oellers (Hrsg.): Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie: Selbstbestimmung und Anpassung. Vorträge des Germanistentages Berlin 1987. Bd. 2: Politische Aufgaben und soziale Funktionen von Germanistik und Deutschunterricht. Tübingen 1988, S. 191204,8. 191.
Techniken in die Literaturproduktion) wesentlich verändert, vielleicht sogar mit dem jüngsten Ableger Fernsehen/Videotapes (zumindest in bestimmten Bereichen) an den Rand der {buchlichen) Existenz gedrängt haben, nimmt die Wissenschaft von der Literatur, oder sagen wir besser: nehmen (vor allem, aber nicht nur) auf deutschem Boden die Institutionen, die sich akademisch-Wissenschaft! ich in Forschung und Lehre mit Literatur befassen, wenn überhaupt, dann nur am Rande von Photographic und Film Notiz. [,..] ja man darf sogar konstatieren, daß die Beschäftigung mit Photographic, Film und Femsehen für manchen institutionellen Gralshüter noch immer Ausweis der Unseriosität darstellt und im übrigen durchaus nicht förderlich für eine akademische Karriere ist [...]." 3 Die Ansichten Scheunemanns und Nerlichs mögen zunächst übertrieben pessimistisch anmuten, denn eine Vielzahl von Publikationen beweist, daß die Literaturwissenschaft ihr Interesse an den audiovisuellen Medien und vor allem an der Literaturverfilmung nicht verloren hat. Gleichwohl scheint sich kein einheitliches Bild, kein überzeugender Zugang zu diesen Medien abzuzeichnen. Eine "Unsicherheit in filmästhetischen Einschätzungen, in der Beurteilung des Verhältnisses von Wort, Bild und Musik, des Ausdruckswertes der Schnittformen, der Kameraführung etc."4 beraubt die literaturwissenschaftlichen Ausflüge in die Domäne des Films häufig ihrer Überzeugungskraft und trägt dazu bei, den Eindruck einer Stagnation bei der Annäherung an das Medium Film entstehen zu lassen.5 Michael N er i ich: Literaturwissenschaftliche Reflexionen zum Verhältnis Text und Film. Und ein Exkurs zu Alain Robbe-Grület. In: Knut Hickethier/Siegfried Zielmski (Hrsg.): Medien/Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten, Unter Mitarbeit von Gabriele Bock, Gabriele Fuhrich, Reiner Matzker und Peter Vorderer. Berlin 1991, S. 291-327, S. 291. Willy Michel: Literaturverfilmung - Funktionswandel eines Genres. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und Literatur, Heft 9, 1985 (Vol. 40), S. 1015-1027, S. 1022. Vgl. dazu Achim Haag: Fassbinder ver-filmt 'Berlin Alexanderplatz'. Bilder und Töne jenseits ihrer Vorlage: Wider eine Dogmatik der Literaturverfiliming. In: Werner Stauffacher (Hrsg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien: Münster 1989 - Marbach a.N. 1991. (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe
Eine Äußerung wie Leders polemischer Angriff gegen die Germanisten, die sich dennoch mit dem Medium Film auseinandersetzen, "Nichts gegen Germanisten. Mir ist allerdings noch der letzte Handschriften-Maniac eines nie fertigwerdenden Projekts einer HistorischKritischen Gesamtausgabe lieber als all die abgehalfterten Gattungspoetologen, die sich in ihren Seminaren mit der 'Literaturverfilmung' beschäftigen, weil sie die Studenten anzieht, die hoffen, hier nicht lesen zu müssen. Und die wie ihre Professoren, böse gesagt, weder von Literatur noch vom Film viel verstehen und das mit endloser Begriffshuberei zu verdecken suchen."6 - eine solche Äußerung kann also nur als Herausforderung angesehen werden. Es bleibt aber festzuhalten, daß trotz des bestehenden Interesses an Literaturverfilmungen der Vergleich zwischen literarischer Vorlage und filmischer Adaption die Literaturwissenschaft auch weiterhin vor Probleme stellt. Da bislang keine gültigen Kriterien entwickelt wurden, die eine ästhetische Einschätzung der Adaption unter Berücksichtigung ihrer Vorlage ermöglichen würden, kann eine adäquate Analyse nur bedingt durchgeführt, ein angemessenes Urteil nur in Einzelfällen einsichtig und überzeugend begründet werden. Ein Begriff wie 'Werktreue' hilft kaum weiter, da er einerseits relativ unpräzise ist, andererseits kein wirklich zuverlässiges Kriterium darstellt. Eine freiere Adaption vermag in manchen Fällen mehr von
fl
A, Kongressberichte; Bd. 33) Bern/Berlin/Frankfurt a.M./New York/Paris/ Wien 1993, S. 298-316, S. 298: "Generell gilt: Um den medialen Transformationsprozeß - wie er sich bei der Literaturverfilmung vollzieht - überhaupt wahrnehmen und verstehen zu können, sind grundlegende Kenntnisse des Mediums Film unabdingbare Voraussetzung. [...] Solange die kritische Beschreibung der medialen Umsetzung vom Ausgangsmedium Literatur in das Zielmedium Film durch dilettantisches Unverständnis filmischer Ästhetik geprägt ist, bleibt ein methodologisch einwandfreier, nach Objektivität strebender Vergleich bloße Fiktion, Bisher gereicht - aus Unkenntnis seitens der Literaturwissenschaftler (...] - ein Vergleich zwischen literarischem Ausgangstext und seiner filmischen Verarbeitung dem Film in den meisten Fällen zum Nachteil. {...] Und mehr noch: Solange diese Sensibilität für die vielfaltigen filmischen Codes fehlt, sind medientheoretisch, im besonderen, und kunsttheoretisch, im allgemeinen, keine neuen Erkenntnisse zu erwarten." Dietrich Leder: Licht und Schatten. In: W & M. Weiterbildung und Medien, Nr. 6, 1989, S. 3441, S, 34.
den Qualitäten ihrer Vorlage zu vermitteln als eine 'werkgetreue' Verfilmung, die jedes Wort peinlich genau und ohne jegliche Abweichung umsetzt. Wertende Aussagen und Argumente können bei einer abwägenden Beurteilung unter dem Aspekt der Werktreue oft kaum objektiviert werden, so daß subjektive Vorstellungen und individuelle Vorlieben die Einschätzung von Literaturverfümungen prägen. Dieser Mangel an einem objektivierbaren Beschreibungs- und Bewertungssystem führt dazu, daß es zwar eine große Zahl von Veröffentlichungen zum Thema Literaturverfilmung gibt, diese sich jedoch meist nur auf einzelne Werke unter bestimmten Gesichtspunkten beziehen und um subjektive Eindrücke und Urteile der jeweiligen Autorinnen und Autoren kreisen, insgesamt jedoch eine gemeinsame Basis mit vergleichbaren Kriterien vermissen lassen.7 Daß dies nicht nur als Nachteil angesehen werden darf, beweisen die Vielfalt und die Bandbreite der verschiedenen Ansätze, die durch zahlreiche Publikationen dokumentiert werden, Ein Pluralismus dieser Art erscheint durchaus wünschenswert.8 Vgl, dazu Günter Giesenfeld: Filmanalyse und Filmgeschichte. In: Hickethier/Zielinski (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 275-280, S, 278f.: Giesenfeld betrachtet kritisch die gegenwärtige Praxis der Filmanalyse und Filmgeschichtsschreibung und stellt dabei die Tendenz fest, einzelne Filme in essayistisch anmutenden Aufsätzen nach subjektiven Maßstäben abzuhandeln, eine Methode also, die "mit der wünschenswerten Einbeziehung subjektiver und sozialgeschichtlicher Elemente der Rezeption in die wissenschaftliche Reflexion auch die Gefahr der Spekulation enthält." (Ebd., S. 279.) Vgl. dazu die verschiedenen Arbeiten in Gerald Peary/Roger Shatzkin (Hrsg.): The Modern American Novel and the Movies. New York 1978; Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis/Henry A. Lea (Hrsg.): Film und Literatur, Literarische Texte und der neue deutsche Film. (13. Amherster Kolloquium zur Deutschen Literatur) Bern/München 1984; Schöne (Hrsg.) 1986, a.a.O., S. 263-375 und in Franz-Josef AIbersmeier/Volker Roloff (Hrsg.): Literaturverfilmungen. Frankfurt a.M. 1989. In ihrem Überblick über die Arbeiten zum Thema Literaturverfilmung bis ca. 1979 stellt Gabriele Seitz allerdings (noch) fest, daß, "[gjemessen an der Tatsache, daß Literaturadaptionen einen bestimmenden Faktor der gesamten Geschichte und der Ästhetik des Films darstellen, wie Verfilmungen auch einen wichtigen Teil der literarischen Rezeptionsgeschichte bilden, [.,.] die Publikationen zu dieser Problematik nicht zahlreich [sind]." (Gabriele Seitz: Film als Rezeptionsform von Literatur. Zum Problem der Verfilmung von
6 Irmela Schneiders Versuch einer übergreifenden, von semiotischen Überlegungen beeinflussten "Theorie der Literaturverfilmung"^ hingegen scheint den Rezipienten mit seiner Komplexität und unüberschaubaren Fülle von Teilaspekten regelrecht zu erschlagen, wobei allerdings auch für ihn Faulstichs allgemeine Kritik an filmsemiotischen Forschungsansätzen gilt: "Soweit Filmsemiotik sinnvoll und verständlich ist, ist sie banal. Und: Sie ist für die Analyse einzelner Filme vollständig überflüssig."10 Dennoch macht Schneiders umfassende Arbeit die Problematik des Vergleichs zwischen Literatur und Film deutlich, zeigt, wie behutsam und umsichtig sich die kritische Auseinandersetzung mit filmischen Adaptionen gestalten muß, und stellt daher einen wichtigen und bedeutsamen Beitrag zur medienorientierten Literaturwissenschaft dar;J J gleichwohl begegnet man auch bei Schneider einigen Unzulänglichkeiten, die die Beschreibung filmischer Gestaltungsformen und deren exakte Abgrenzung voneinander betreffen.12 Daß der semiotische Weg nicht unbedingt zum erwünschten Ziel führt, zuweilen den Blick von diesem Ziel - der vernünftigen methodiThomas Manns Erzählungen "Tonio Kroger", "Wälsungenblut" und "Der Tod in Venedig". 2. Auflage, München 1981, S. 328.) Darüber hinaus vermerkt sie - überaus kritisch und deutlich unzufrieden mit dem Stand der Forschungslage und dem Niveau der Forschungsliteratur - "die methodischen Schwierigkeiten, die das Thema der Literaturverfilmung einer theoretischen Untersuchung bietet", und "die Diskrepanz zwischen Themenstellung und Ausführung" (Ebd., S. 328) bei zahlreichen der von ihr referierten Arbeiten. Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. (Medien in Forschung + Unterricht, Bd. 4) Tübingen 1981. Werner Faulstich: Einführung in die Filmanalyse. (Literaturwissenschaft im Grundstudium, Bd. 1) 3., bearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1980, S. 55. Ein wichtiger Beitrag zum Thema Lueraturverßlmung ist auch Michaela Mundts Buch "Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung." (Medien in Forschung + Unterricht, Bd. 37), Tübingen 1994, das für diese Arbeit leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte. So z.B. die unpräzise Trennung zwischen Mise-en-scene und Montage und die damit verbundene ungenaue Beschreibung von mimetischen und informativen Aspektendes filmischen Erzählens. (Schneider 1981, S. I90ff.)
sehen Betrachtung von literarischer Vorlage und Verfilmung - eher noch ablenkt und in einem sich ständig selbst reflektierenden Spiegellabyrinth theoretischer Fragen und undurchschaubarer Teilprobleme gefangenhält, scheint längst kein bloßer Verdacht mehr zu sein.13 Besonders enttäuschend und nichtssagend wirkt denn auch der einzige kurze Absatz, den der profilierte Literatur- und Medienwissenschaftler Schanze in einem Aufsatz über "Problem und Geschichte der literarischen Vorlage" der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Vorlage und Verfilmung widmet: "Das Problem des Verhältnisses von 'Vorlage' und 'Film1 ist, wie die Adaptionsdiskussion ergeben hat, wesentlich ein semiotisches. Der Kode der 'Vorschrift' ist digital, der des bewegten Bildes von der Wahrnehmung her analog. Zwischen beiden kann ein Transformationsprozeß stattfinden, der je nach den Randbedingungen als 'Adaption', 'Verfilmung' oder 'Verarbeitung' bezeichnet werden kann."14 Einen vielversprechenden Weg abseits ausgetretener semiotischer Pfade schlägt Walter Hagenbüchle mit seiner Untersuchung "narrativer Strukturen in Literatur und Film" ein,15 Sein Vorschlag, literarische Vorlage und filmische Adaption auf der Ebene der Erzählstmkturen zu vergleichen, um damit die jeweils medienspezifische narrative Gestaltung zu berücksichtigen, ist sehr weitsichtig und erschließt die Möglichkeit, den Besonderheiten und narrativen Ausprägungen beider Medien gerecht zu werden. So vielversprechend Hagenbüchles Ansatz aber ist - seine Annäherung an die "narrative Struktur als tertium comparationis zwischen Film und Literatur"16 liegt auch der vorliegenden Arbeit als zentraler Aspekt zugrunde -, so enttäuschend wirkt mitunter die i:^ Vgl. dazu die Kritik an semiotischen Theorien und Modellen bei Nerlich,
14
16
a.a.O., S. 293ff.; Achim Haag; "Deine Sehnsucht kann keiner stillen." Rainer Werner Fassbinders BERLIN ALEXANDERPLATZ. Selbstbildreflexion und Ich-Auflösung. München 1992, S. 15f. und ders. 1993, S. 300. Helmut Schanze: Geschriebene Bilder. Zu Problem und Geschichte der literarischen Vorlage. In: Hickethier/Zielinski (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 281-290, S, 288. Walter Hagenbüchle: Narrative Strukturen in Literatur und Film. Schiiten - ein Roman von Hermann Burger. Schiiten - ein Film von Beat Kuert. Bern/Frankfurt a.M,/New York/Paris 1991. Ebd., S. 65.
8
Ausführung. Er reißt zu viele unterschiedliche Bereiche an, ohne jeweils greifbare, überzeugende Ergebnisse vorlegen zu können, er operiert mit Begriffen unterschiedlicher Erzähltheorien, ohne diese präzise zu fassen oder in ihrer Widersprüchlichkeit zu erklären.18 Letztlich sind seine Aussagen nur an dem gewählten Analysebeispiel dem Roman "Schiiten" von Hermann Burger und der Verfilmung durch Beat Kuert - überprüfbar, und selbst hier vermißt man zuweilen ein erzähltheoretisches Fundament mit klaren Begriffen und verläßlichen Kategorien.19 So erscheint das Ergebnis seiner Untersuchung, nämlich die Feststellung, daß eine adäquate Umsetzung einer literarischen IchErzählform in eine entsprechende filmische Form äußerst problematisch, prinzipiell sogar unmöglich sei, etwas blaß und unoriginell. Interessante Anmerkungen und Beobachtungen, die man sich ausführlicher dargestellt und detaillierter begründet wünscht, werden
18
So thematisiert er beispielsweise Filmsemiotik (ebd., S. 18ff.), Filmsprache (ebd., S. 21 ff.), die Genetik des Films (ebd.. S, 33ff,), Einflüsse zwischen Film und Literatur (ebd., S. 36ff.), die Verfilmbarkeii von Drama, Lyrik und Epik (ebd., S. 58ff.) und die Montage von Raum und Zeit in Literatur und Film (ebd., S. 93ff.). Hagenbüchle benutzt Überlegungen und Begriffe aus den Arbeiten von Kate Hamburger, Eberhard Lämmert, Friedrich Spielhagen, Franz K. Stanzel u.a, Ohne Differenzierung und ohne spezifische Festlegung bewegt er sich durch unterschiedliche Modelle und Terminologien der erzähltheoretischen Literaturwissenschaft, So ist es unvermeidbar, daß es zu Unscharfen und Verwirrungen kommt, Verwechslungen beispielsweise von personaler Erzählsituation und IchErzählsituation. (Ebd., S. 80.) Die Analyse des Films "Schiiten" von Beat Kuert gelingt leider auch nicht immer überzeugend. So ist zum Beispiel der folgende interpretatorische Kommentar Hagenbüchles zu einer Szene am Beginn des Films nicht recht nachvollziehbar, zumal die "Großaufnahme Wiederkehrs" eher als eine Nah- oder Halbnahaufnahme zu bezeichnen wäre und die "hohe Schnittfrequenz" lediglich aus einem Schnitt, d.h. zwei Einstellungen, besteht: "Durch die Montage der Großaufnahme Wiederkehrs und der Ankunft des Postautos kann der Film bedeutsame Zusammenhänge ohne Worte transportieren: Da stossen Wirklichkeit und deren abartige Stilisierung aufeinander; die Mimik von Wiederkehrs Gesicht und die hohe Schnittfrequenz im Schuß-Gegenschuß Verfahren [sie!] sind Metaphern für die Darstellung von distanziertem Eigensinn eines Sachwalters über alle Vorgänge um den Schiltener Schulbezirk," (Ebd., S, 166.)
von dem Gesarateindruck und einigen krassen Fehlleistungen20 leider überschattet. Dennoch: Hagenbüchle stößt eine Pforte auf, die mit der folgenden Untersuchung durchschritten werden soll; es lohnt sich, der Richtung zu folgen, die er angegeben hat. Die vorliegende Arbeit - basierend auf der gleichen zentralen Überlegung wie Hagenbüchles Ansatz, nämlich dem Vergleich zwischen literarischen und filmischen Erzählstrukturen - stellt ein Kriterium vor, das möglicherweise mehr leistet als der weitläufige Begriff 'Werktreue', ein Kriterium, das als Fundament eines neuen Modells zur Analyse von Literaturverfilmungen einen angemessenen Vergleich zwischen den beiden Medien Literatur und Film erlauben könnte: die Erzählsituation. Ausgehend von der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie Stanzels21 soll im ersten Teil der Arbeit (Kapitel I-V) eine allgemeine Grundlage geschaffen werden, auf der eine kritische Betrachtung der beiden Medien und eine qualitative Einschätzung von Literaturverfilmungen mit objektiven Maßstäben möglich wird. Kapitel I stellt Stanzeis Theorie der Mittelbarkeit und der drei typischen Erzählsituationen der epischen Literatur kurz vor. Kritische Einwände gegen diese Theorie und entsprechende Gegenmodelle werden l
21
Hagenbüchles Behauptung, "die ersten Filme bis 1921 [seien] Kurzfilme {gewesen]" und Charlie Chaplins "The Kid" (USA 1920/Uraufflihrung: Februar 192!) "der erste programmfullende Film" (ebd., S. 34 und Anm. 70), ist schlichtweg falsch. Bereits 1915 drehte David W. Griffith mit "The Birth Of A Nation" ein Filmepos von über drei Stunden Spielzeit (212 Minuten bei 16 B/sec), 1916 den noch längeren Film "Intolerance" (252 Minuten bei 16 B/sec). Seine Vorbilder waren die frühen italienischen Monumentalfilme "Quo Vadis?" (1912) von Enrico Guazzoni und "Cabiria" (1914) von Giovanni Pastrone, die es bei 16 B/sec auf eine Länge von 125 Minuten, bzw. 150 Minuten brachten. Auch Ernst Lubitsch vermochte mit seinen historischen Filmen "Madame Dubarry" (Deutschland 1919, Länge: ca. 109 Minuten bei 18 B/sec) und "Anna Boleyn" (Deutschland 1920, Länge: ca. 121 Minuten bei 18 B/sec) bereits vor 1921 das Programm zu füllen; Robert Wienes "Das Kabinett des Dr. Caligari" (Deutschland 1919) hat eine Laufzeit von ca. 83 Minuten bei 16 B/sec und Stellan Ryes "Der Student von Prag" (Deutschland 1913) immerhin 74 Minuten bei 16 B/sec, Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 4. durchgesehene Auflage, Göttingen 1989.
10
erläutert, die jeweiligen Vor- und Nachteile summarisch erörtert und die Entscheidung für Stanzeis Modell als Ausgangsposition für die folgende Untersuchung begründet. Kapitel II beschreibt das Medium Film hinsichtlich einer vergleichbaren Mittelbarkeit im Sinne Stanzeis; dabei wird die Frage nach dem Kunstcharakter des Films thematisiert, die im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, als der Film in Konkurrenz zu den damals traditionellen Formen der narrativen Kunst trat, heftig diskutiert wurde. In Kapitel III schließlich wird das filmische Erzählen in Beziehung zum literarischen Erzählen gesetzt. Erzählperspektivische Wirkungen des Films werden beschrieben, die Erzählsituationen des Mediums Film in seiner allgemeinsten Form erläutert und mit den literarischen Erzählsituationen verglichen. Nach dieser ersten generellen Übersicht widmen sich die beiden folgenden Kapitel den spezielleren Formen filmischer, beziehungsweise kinematograpbischer Mittelbarkeit: Kapitel IV handelt von den Gestaltungsmitteln Sprache und Text im Film, von deren Wirkungen und möglichen Konflikten mit der dominierenden visuellen Komponente des Mediums; Kapitel V beschreibt die rein visuellen GestaltungsmÖglichkeiten des Films, die Funktionen des kinematographischen Erzählvorgangs und die Prinzipien, mit denen sich spezifische Erzählsituationen erzeugen lassen. Der zweite Teil der Arbeit (Kapitel VI und VII) stellt anhand ausgewählter Beispiele die praktische Anwendung der theoretisch erarbeiteten Kriterien zum Vergleich der Erzählsituationen in literarischen Werken und deren filmischen Adaptionen vor. Die Verfilmungen von Erich Kästners Roman "Fabian", Thomas Manns Erzählungen "Tonio Kroger" und "Der Tod in Venedig" und Max Frischs Roman "Homo faber" übernehmen in Kapitel VI eine exemplarische Funktion, um in einem ersten Schritt die Möglichkeiten anzudeuten, die dieser komparative Ansatz in sich birgt; weitere Schritte mit weiterführenden Ergebnissen sind denkbar, können jedoch im Rahmen der vorliegenden Arbeit, die sich zunächst nur als Anregung für erschöpfendere Überlegungen versteht, nicht geleistet werden. Gleichwohl sollen die Analysen der gewählten Beispiele einen Eindruck von den Anwendungs-
11
möglichkeiten und den zu erwartenden Ergebnissen der vorgeschlagenen Methode vermitteln. Die Wahl der Texte und Verfilmungen erfolgte mit Absicht nach dem Prinzip der Bekanntheit. Um ein neues Modell der Beschreibung und Bewertung von Literaturverfilmungen vorzustellen, schien es ratsam, auf Werke zurückzugreifen, deren Popularität für sich spricht und deren literarische Bedeutung keiner weiteren Ausführungen bedarf. Die Erzählungen und Romane und deren Verfilmungen sind bequem greifbar, so daß die Analysen des sechsten Kapitels leicht nachvotlzogen werden können. Der Roman "Homo faber" und dessen filmische Adaption von Volker Schlöndorff aus dem Jahre 1990 wurden dabei etwas großzügiger und ausführlicher behandelt als die übrigen Beispiele. Dies hat zwei Gründe: Zum einen stellt die "Homo faber1'-Verfilmung das jüngste und damit aktuellste der besprochenen Beispiele dar und wurde bislang weder von medien- noch von literaturwissenschaftlicher Seite näher untersucht. Zum anderen handelt es sich dabei um den Versuch der filmischen Umsetzung einer literarischen Ich-Erzählform. Gerade die Ich-Erzählform aber gilt allgemein als schwer verfilmbar und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Kapitel VII führt abschließend am Beispiel des Romans "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin und dessen Verfilmungen die Grenzen des Films vor Augen; die literarische Dynamisierung der Erzählsituationen und das Phänomen der finnischen Schreibweise werden dabei thematisiert und mit den gestalterischen Möglichkeiten des narrativen Spielfilms verglichen. Kapitel VIII rundet die Arbeit mit einer kurzen Zusammenfassung und einigen Anmerkungen über Tendenzen und Möglichkeiten der Literaturverfümung ab. Eine deduktive Vorgehens weise bot sich an, da der Weg von der Theorie zur praktischen Anwendung und Überprüfung am Einzel fall eine Konzentration auf den Aspekt der Erzählsituationen gewährleistet und dadurch auch Übersichtlichkeit und Stringenz garantiert; die Betrachtung der konkreten Verfilmungen an erster Stelle hätte andere, nicht minder interessante Gesichtspunkte und Ansätze ergeben, deren Be-
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rücksichtigung allerdings auf Umwege und in werkspezifische Untersuchungsbereiche geführt hätte, in denen allgemeine Aussagen über das Verhältnis zwischen Film und literarischer Vorlage kaum möglich gewesen wären. Filme erscheinen in ihren Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten so komplex, daß eine Reduktion auf bestimmte Aspekte notwendig wird, will man sich nicht in unüberschaubaren Einzelheiten und bemerkenswerten Einzelphänomenen verlieren. Es bieten sich viele Aspekte an, unter denen man literarische Werke und ihre Verfilmungen untersuchen könnte. Die jeweilige Gestaltung der Erzählsituationen ist nur einer davon, doch er kann von entscheidender Bedeutung für ein besseres Verständnis der Vorlage wie auch der Adaption sein. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dies zu verdeutlichen und den Vergleich der Erzählsituationen in Literatur und Film somit als angemessene und erfolgversprechende Methode bei der Betrachtung von Literaturverfilmungen vorzustellen. "Die 'klassische' Erzählforschung formalistischer Prägung [...]", so Wulff in seinem Bericht über eine Tagung, die unter dem Motto 'Erzählen in Literatur und Film' im Dezember 1989 in Berlin stattfand, "spielt in der Arbeit heute an Erzählforschung beteiligter Wissenschaftler keine zentrale Rolle mehr. [...] Es steht zu befürchten, daß unter dem Sog von kognitiver Psychologie, Schematheorie und Konnexionismus die Ergebnisse und der Reichtum dieser Tradition der Erzählforschung zunächst wieder verschüttet wird, Will sagen, daß der Rekurs auf die Tradition des eigenen Forschungsgebietes im Moment ganz zurücktritt hinter die psychologistische Neuorientierung."22 Dies zu verhindern, ist ein weiteres Ziel dieser Arbeit.
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Hans J. Wulff: Berliner Tagung "Erzählen in Literatur und Film". In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie, Heft 6, 1990 (Vol. 36), S. 1027^1033, S, 1033.
TEIL 1: THEORETISCHE GRUNDLAGEN I. Die Erzählsituationen epischer Literatur 1. Mittelbarkeit "Die Geschichte, die wir erzählen wollen, - nicht um seinetwillen (denn der Leser wird einen einfachen, wenn auch ansprechenden jungen Menschen in ihm kennenlernen), sondern um der Geschichte willen, die uns in hohem Grade erzählenswert scheint (wobei zu Hans Castorps Gunsten denn doch erinnert werden sollte, daß es seine Geschichte ist, und daß nicht jedem jede Geschichte passiert): diese Geschichte ist sehr lange her, sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen. Das wäre kein Nachteil für eine Geschichte, sondern eher ein Vorteil; denn Geschichten müssen vergangen sein, und je vergangener, könnte man sagen, desto besser für sie in ihrer Eigenschaft als Geschichten und für den Erzähler, den raunenden Beschwörer des Imperfekts. Es steht jedoch so mit ihr, wie es heute auch mit den Menschen und unter diesen nicht zum wenigsten mit den Geschichtenerzählern steht: sie ist viel älter als ihre Jahre, ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen; mit einem Worte: sie verdankt den Grad ihres Vergangenseins nicht eigentlich der Zeit, - eine Aussage, womit auf die Fragwürdigkeit und eigentümliche Zwienatur dieses geheimnisvollen Elementes im Vorbeigehen angespielt und hingewiesen sei." *
Der Beginn von Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" zeigt deutlich den Charakter epischer Literatur, deutlicher als viele andere Werke epischer Erzählkunst: Epische Literatur wird erzählt - nicht von ihrem jeweiligen Autor, sondern von einer Erzählerfigur, die der Autor zur Vermittlung seiner Fiktion eingesetzt hat. Der Autor schreibt einen literarischen Text, und er gestaltet dabei - mehr oder weniger spürbar einen Erzähler. Thomas Mann: Der Zauberberg (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2., durchgesehene Auflage, Frankfurt a.M. 1974, Bd. III), S. 9.
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Im vorliegenden Fall hat Mann als Autor die Worte wohl geschrieben, aber - pointiert formuliert -: er erzählt sie nicht. Die Instanz, die sich bereits iin ersten Satz als "wir" vorstellt und angibt, die Geschichte erzählen zu wollen, weil sie "in hohem Grade erzählenswert scheint", fungiert als eigentlicher Erzähler, sie ist ein Produkt Manns, der sie erschaffen hat, indem er den Roman quasi aus der Perspektive dieser fiktiven, allwissenden Figur verfaßt hat. Seine Allwissenheit präsentiert dieser auktoriale Erzähler durch seine Überlegenheit und seine umfassende Kenntnis der Dinge, die geschildert werden sollen; so kennt er bereits den Protagonisten der Geschichte, kann diese auch zeitlich einordnen und macht dabei vorausdeutende Bemerkungen über das Wesen der Zeit, eines der zentralen Themen des Werkes, und er äußert sich sogar über die Qualität der Geschichte hinsichtlich des Erzähl Vorgangs, die sie dank ihres Alters selbst gewinnt. All dieses Wissen hat der Autor des Textes sozusagen dem Erzähler verliehen, tritt selbst ganz hinter dessen Worte zurück und läßt ihn, gleichsam ein Teil des fiktiven Kosmos, die Geschehnisse aus seiner Sicht berichten. Bei dem genannten Charakteristikum epischer Literatur handelt es sich also um die Trennung zwischen Autor und Erzähler. Auch in Fällen, in denen sich eine Erzählerfigur nicht so einfach zu erkennen gibt wie in Manns "Zauberberg", muß man stets von dieser Unterscheidung ausgehen. Selbst wenn sie noch so schwer zu ermitteln ist, wenn der "'Erzähler' [...] nur noch eine funktionelle Größe innerhalb des Erzählwerks [ist]", so betont Kanzog, "[ist] aber seine 'Anwesenheit' im Text [...] nicht zu bezweifeln."2 "Es gilt für alle Erzählkunst", stellt Kayser entsprechend fest, "daß der Erzählende nicht der Autor ist, sondern eine geschaffene Rolle, die der poetischen Welt zugeordnet ist, "3
Klaus Kanzog: Erzahlstrategie. Eine Einführung in die Normeinübung des Erzählens. Heidelberg 1976, S. 72. Wolfgang Kayser: Das Problem des Erzählers im Roman. In: Bruno Hillebrand (Hrsg.): Zur Struktur des Romans. (Wege der Forschung, Bd. 488) Darmstadt 1978, S, 188-202, S. 193.
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Metz, der auch zwischen Autor und Erzähler unterscheidet, geht noch einen Schritt weiter.4 Erzählungen mögen keinen eindeutig identifizierbaren Autor haben, stellt er fest, doch immer ein erzählendes Subjekt; die Möglichkeit der Wahrnehmung dieses erzählenden Subjekts ist dabei keineswegs von dessen tatsächlichem Auftreten abhängig, sondern allein von der narrativen Qualität eines Textes. "Der Eindruck, daß jemand spricht, ist nicht gebunden an die empirische Existenz eines bestimmten und bekannten oder erkennbaren Sprechers, sondern an des Konsumenten unmittelbare Perception des sprachlichen Charakters des Objektes, das er gerade konsumiert; da gesprochen wird, muß jemand sprechen."5
Die Gegenposition hierzu bezieht Hamburger, die behauptet, es gäbe keine Erzählerfigur im obengenannten Sinne: "Einen fiktiven Erzähler, der, wie es offenbar vorgestellt wird, als eine Projektion des Autors aufzufassen wäre [...], gibt es nicht [...]. Es gibt nur den erzählenden Dichter und sein Erzählen."* Dagegen spricht sie von einer Erzählfunktion des Autors, der durch seine Arbeit eine Fiktion erschafft, Figuren und Handlungen erfindet, die vorher, also vor ihrem Entstehen durch die Erzählfunktion, nicht existent sind. "[...] die epische Fiktion, das Erzählte ist nicht das Objekt des Erzählens. Seine Fiktivität, d.i. seine Nicht-Wirklichkeit bedeutet, daß es nicht unabhängig von dem Erzählen existiert, sondern bloß ist kraft dessen, daß es erzählt, d.i. ein Produkt des Erzählens ist. Das Erzählen, so kann man auch sagen, ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion, die der erzählende Dichter handhabt wie etwa der Maler Farbe und Pinsel. Das heißt, der erzählende Dichter ist kein Aussagesubjekt, er erzählt nicht von Personen und Dingen, sondern er erzählt die Personen und Dinge; die Romanpersonen sind erzählte Personen so wie die Figuren eines Gemäldes gemalte Figuren
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Christian Metz: Semiologie des Films. München 1972, S. 41. Ebd., S. 41. Kate Hamburger: Die Logik der Dichtung. 2., stark veränderte Auflage, Stuttgart 1968, S. 115. Ebd., S. 113.
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Durch diese Gebundenheit an den "erzählenden Dichter" selbst, durch die Realisierung der Fiktion erst im Augenblick seines Erzählens, fällt die Rolle einer zusätzlichen erzählenden Person oder Figur weg. Daß diese sich scheinbar widersprechenden Überlegungen - die Annahme einer Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler einerseits und die entschiedene Ablehnung einer fiktiven Erzählerfigur andererseits - tatsächlich auf einer gemeinsamen Basis zusammengeführt werden können, hat Stanzel gezeigt.8 Darauf soll im folgenden Abschnitt kurz eingegangen werden. Die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler, seit dem Ende der fünfziger Jahre nahezu anerkannt,9 mag trivial oder als lange schon bekannte und verbreitete Banalität anmuten, aber es schadet keinesfalls, sie sich noch einmal bewußt zu machen, ist sie doch von entscheidender Bedeutung für eine literaturwissenschaftliche Theorie des Erzählens. Sie ist als ein Charakteristikum der epischen Literatur die Voraussetzung für das Erkennen eines spezifischen Gattungsmerkmals der Epik, das es von der Dramatik grundlegend unterscheidet - der Mittelbarkeit. Indem der Autor eines literarischen Werkes eine Erzählerfigur gestalten kann, die ihrerseits den Stoff an die Leser weitergibt, schafft er eine vermittelnde Instanz; nicht er selbst spricht also zu den Rezipienten, sondern eine dritte, oft völlig unscheinbare Person, die aus einer bestimmten Perspektive, die nicht unbedingt die Perspektive des Autors sein muß, das Geschehen wiedergibt. Die "Stimme eines Erzählers" wird zu einem "Mittler"1^1, zu einem Vermittler der Geschichte, die Erzählerfigur selbst wird zum Zeichen der Mittelbarkeit. Auf die spezifische Bedeutung der Mittelbarkeit und die Funktion eines Erzählers weist auch Petersen zu Beginn seiner umfassenden Untersuchung epischer Erzählsysteme hin: "Im Gegensatz zum Stoff, zum Thema, zum Inhalt des Erzählens, die also gattungsunspezifisch sind, bildet der Narrator, bildet die Mittelbarkeit epischer Darstellung das entscheidende gattungsspezifische, das Epische von allen anderen 8 9 10
Stanzell989, S. 31 ff. Ebd., S. 27, Ebd., S. 15.
17 Gattungen auf außerordentlich charakteristische Weise trennende Merkmal. Schon daraus ergibt sich, daß man den Narrator auf keinen Fall mit dem Autor verwechseln darf. Autoren bilden auch bei Dramen und Gedichten den produktiven Ausgangspunkt; dies unterscheidet das erzählende Genre also nicht von anderen. Aber daß das Gesagte mittelbar, nämlich durch ein Medium weitergegeben wird, dies ist ein episches Spezifikum." l 1
Durch diese Mittelbarkeit hebt sich die Epik nun aber nicht nur von der Dramatik, sondern auch generell von nicht-literarischen Texten ab; Füger hält gerade sie für das entscheidende Kriterium bei der Unterscheidung zwischen einem wahren Bericht und einem fiktiven literarischen Werk, somit also für ein Anzeichen des Kunstcharakters epischer Literatur.12 Daher betont auch er eindringlich die Notwendigkeit, die Trennung zwischen Autor und Erzähler zu beachten: "Der in der Erzählung explizit oder implizit stets mitgelieferte Erzählvorgang als solcher scheidet diese prinzipiell vom bloßen Bericht, Im Bericht schildert ein Autor ein Geschehen unmittelbar, ohne jede Zwischeninstanz, z.B. ein Journalist berichtet über einen Unfall. [...] Entscheidend hierbei ist [ . , . ] - im Gegensatz zur Fiktion - der unmittelbare Bezug zwischen Autor und Stoff. Der Autor steht als historische Person voll hinter seinen Aussagen, er verbürgt sich für deren faktische Gegebenheit, engagiert sich existentiell für die zumindest intendierte Richtigkeit seiner Geschehensdarstellung. Anders in der Erzählung. Hier können selbst die in einem autobiographisch gestalteten Roman gemachten Ich-Aussagen nicht ohne weiteres als persönliche Selbstaussagen des Autors als historische Privatperson verstanden werden. Eine derartige Annahme wäre naiv und würde zu gravierenden Fehl Interpretationen führen. Autor und Erzähler sind deshalb streng zu trennen: Tristram Shandy ist nicht Sterne, Stephen Dedalus nicht Joyce. "^
Die Mittelbarkeit, die sich durch die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler ergibt, erweist sich somit als ein konsumtives Element der epischen Literatur, Folgerichtig stellt Andreotti fest, "daß die
Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart/Weimar 1993, S. 15f.
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Wilhelm Füger: Zur Tiefenstruktur des Narrativen. Prolegomena zu einer generativen 'Grammatik' des Erzählens. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Vol. 5, 1972, S. 268-292, S. 268ff. Ebd.,S.269f.
18 Gestaltung des Erzählers resp, der Erzählposition ein Strukturelement epischer Texte bildet."14
2, Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur Die Mittelbarkeit der epischen Literatur stellt den entscheidenden Faktor bei der Formung des Stoffes zu einem literarischen Kunstwerk dar. Stanzel macht diesen Arbeitsprozeß deutlich, indem er zwischen einer Tiefen- und einer Oberflächenstruktur des epischen Textes unterscheidet; 15 er verweist dabei auf den Ursprung dieses Modells in den linguistischen Theorien der generativen Transformationsgrammatik, betont aber gleichzeitig bestimmte Differenzen, um eine allzu unüberlegte Übernahme von Vorstellungen aus der Linguistik in die Literaturwissenschaft zu verhindern.i6 Die Tiefenstruktur beinhaltet zum einen den Stoff als ungeformte Idee und zum anderen alle Faktoren und Prozesse, die mit dem Akt des Schreibens, der "gattungsgemäße[n] Genese eines Erzähltextes"17 zusammenhängen. Die Oberflächenstruktur zeigt sich im niedergeschriebenen Text, d.h. sie beinhaltet alles, was aus dem vorliegenden, abgeschlossenen Erzähltext 'lesbar1 ist. Andreotti bezeichnet sie entsprechend als "unmittelbare Erscheinungsform eines literarischen Textes"1**, Die Transformation eines reinen Stoffes aus der Tiefenstruktur in den Text der Oberflächenstruktur, also in das literarische Werk, ist die künstlerische Arbeit des Autors. Er kann dabei aus verschiedenen womöglich beliebig vielen - Formen der Präsentation seines Stoffes * 15 16
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Mario Andreotti: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textanalyse. Bern/Stuttgart 1983, S. 95. Stanzel 1989, S, 31 ff. Vgl. zum Themenkomplex Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur auch Füger, a.a.O., und Joachim Schulze: Histoire, Discours, Ersetzungsregeln, Zu einer Tiefenstruktur des Narrativen'. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Vol, 9, 1977, S. 196-216. Stanzel 1989, S. 36. Andreotti, a.a.O., S. 19.
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(der Tiefenstruktur) wählen; er gestaltet den Stoff, und indem er sich für eine Form entscheidet, legt er die Erzählperspektive fest. Aus einer Vielzahl möglicher Erzählerfiguren erweckt er eine zum Leben, die als Erzähler des epischen Textes zum Präsentator der Erzählung (der Oberflächenstruktur) wird, zum Vermittler zwischen Autor und Rezipienten. Es wird nun deutlich, daß die fiktive Erzählerfigur eines epischen Werkes - sei es nun ein auktorialer Er-Erzähler oder aber ein Ich-Erzähler mit eingeschränkter Sicht - Bestandteil der Oberflächenstruktur ist; die Erzählperspektive ist im Text erkennbar, sie ist eine entscheidende Konstituente der literarischen Formung. Alle Aussagen über eine Erzählerfigur - und damit natürlich zunächst die Trennung zwischen Autor und Erzähler an sich - können sich also nur auf die Oberflächenstruktur beziehen.19 Hamburgers Erzählfiinktion hingegen verweist auf die Tiefenstruktur; ihre Annahmen über den Autor als einziger erzählenden Instanz und die daraus resultierende Ablehnung einer Erzählerfigur werden von Stanzel als Aussagen über die Tiefenstruktur erkannt und somit nicht als eine seiner eigenen Position widersprechende Meinung abgelehnt,20 Die Unterscheidung zwischen Tiefen- und Oberflächenstruktur macht es möglich, beide Positionen zu akzeptieren; Voraussetzung dabei ist jedoch, daß man sich diese Unterscheidung stets vor Augen hält und erzähltheoretische Aussagen dem jeweils betreffenden Strukturenbereich eindeutig zuordnet, Aussagen über die Entstehung eines Erzähltextes und die damit verknüpfte erzählende Tätigkeit des Autors im konkreten Sinne des Schreibens der Tiefenstruktur und Aussagen über den gestalteten Text, über Erzählperspektive und vermittelnde Erzählerfiguren der Oberflächenstruktur.21 Die spezifische Art eines Textes, seine kunstvolle Form entsteht also durch den Prozeß der Schaffung einer Oberflächenstruktur aus einer Tiefenstruktur, und da die Oberflächenstruktur generell das eigentliche Medium der Vermittlung zwischen Autor und Lesern darstellt, nimmt 19
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Vgl. dazu ebd., S. 99: "[...] diese Verengung der Erzählperspektive in der IchErzählsituation verändert nur die Oberflächen-, nicht aber die Tiefenstrukturen epischer Texte." Stanzel 1989, S. 32f. Vgl. ebd., S. 36.
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der "Mittler" selbst, die Erzählerfigur, oder genauer gesagt: die Wahl einer Erzählerfigur, eine entscheidende Rolle bei der Formung dieser Struktur ein. Die Oberflächenstruktur ist direkt abhängig von der Erzählperspektive; sie ist vollständig durch sie bestimmt. Man kann sich daher ohne weiteres vorstellen, daß ein Stoff, d.h. eine Tiefenstruktur, durch die Wahl verschiedener Erzählerfiguren, beispielsweise eines auktorialen Er-Erzählers und eines Ich-Erzähler s, zu zwei verschiedenen Oberflächenstrukturen, also zwei verschiedenen Erzähltexten, transformiert werden kann. Es zeigt sich hier die Bedeutung der Erzählerfigur, denn selbstverständlich ist es keineswegs egal, für welche Art der Vermittlung sich ein Autor entscheidet, und letztendlich trägt diese Entscheidung auch zur Qualität des entstehenden Werkes bei.22 —
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Daß die Wahl einer bestimmten Erzählperspektive, bzw. Erzählsituation Einfluß auf die Rezeption eines literarischen Textes nimmt, scheint unbestritten zu sein. In diesem Zusammenhang muß jedoch auf die empirischen Arbeiten von HansWerner Ludwig und Werner Faulstich hingewiesen werden, die in einer Reihe von Untersuchungen Unterschiede in Rezeptionsverhalten und -leistungen ihrer Versuchspersonen analysierten, denen erzählperspektivische Varianten literarischer Texte, beispielsweise Ernest Hemingways Kurzgeschichte "Old Man at the Bridge", vorgelegt worden waren. Es ergaben sich keinerlei signifikanten Unterschiede bei der Rezeption der unterschiedlichen Textvarianten, d.h. die verschiedenen Erzählsituationen hatten keinen nachhaltigen Einfluß auf das Rezeptionsverhalten der Versuchspersonen. "Nach dem erzielten Befund kann der Erzählsituation keinerlei empirisch ersichtliche konkretisationsrelevante Steuerung mehr zugeordnet werden [...]. Damit wurde ein Hauptaktionsfeld der hermeneutisch orientierten Literaturwissenschaft traditioneller Prägung als Spielwiese offengelegt: Die Beschreibung und Analyse der Erzählsituation eines literarischen Prosatextes bietet keinen objektiven Zugang zu seiner Bedeutung." (Hans-Werner Ludwig/Werner Faulstich: Erzählperspektive empirisch. Untersuchungen zur Rezeptionsrelevanz narrativer Strukturen. Tübingen 1985, S. 136.) Diesem Ergebnis kann hier nicht ohne weiteres zugestimmt werden; die Untersuchungen von Ludwig und Faulstich müßten - wie alle empirischen Studien einer genauen Prüfung unterzogen werden, um sie hinsichtlich ihrer Validität und Reliabilität abzusichern. Dessen sind sich auch die Autoren selbst bewußt. Da eine solche Prüfung im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden kann, muß der Hinweis, daß im folgenden die Methode der Beschreibung und Analyse von Enählsituaiionen äußerst fruchtbar und im Hinblick auf die gesteckten Ziele erfolgversprechend angewandt wurde, genügen, um das erneute
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Die Frage, ob zum Beispiel Thomas Manns "Zauberberg" auch als Roman mit einem Ich-Erzähler hätte geschrieben werden können, oder Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull" als Roman mit einem auktorialen Er-Erzähler, kann hier gestellt werden, muß aber unbeantwortet bleiben.
3. Mittelbarkeit und Uterariutät Stanzel weist sehr zu Recht darauf hin, daß gerade die Gestaltung der Mittelbarkeit entscheidenden Einfluß auf die literarische Qualität eines Textes nimmt.23 Bedeutende Werke der Weltliteratur zeichnen sich häufig durch eine innovative, von der Norm abweichende Erzähl weise aus; nicht so sehr die erzählte Handlung steht bei ihnen an erster Stelle, sondern der Erzählvorgang selbst.24 Indem dieser auf eine neue, über-
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Betreten des von Ludwig und Faulstich scheinbar als Spielwiese entlarvten Aktionsfeldes der Literaturwissenschaft zu legitimieren. Stanzel 1989, S. 17ff. Vgl. ders,: Typische Formen des Romans. 10., durchgesehene Auflage, Göttingen 1981, S, 6. Diese grobe Vereinfachung muß natürlich relativiert werden, da sich bei Erzähltexten hoher literarischer Qualität normalerweise Handlung (Inhalt) und Gestaltung des Erzählvorgangs (Form) gegenseitig bedingen und nicht unabhängig voneinander gewählt und geformt werden; gerade die in manchen Fällen zwingend erscheinende Zusammengehörigkeit und Verschmelzung von Form und Inhalt macht ja den ästhetischen und literarischen Wert aus. Petersen betont in diesem Zusammenhang: "In einem sprachlichen Kunstwerk sind alle Elemente miteinander funktional verbunden und machen als diese Verbindung das artistische Gebilde aus. Die Wahl der jeweiligen Erzählform, der Erzählers tandorte, der Erzählperspektiven, des Erzähl Verhaltens usf. erfolgt nicht unabhängig von der ästhetischen Gesamttendenz des Textes, die sie selbst mitbestimmt, wie ja auch die 'inhaltlichen' Elemente der Handlung, der Dialoge, der Personnage etc. ihrerseits nicht unabhängig von dieser ästhetischen Richtung gewählt und gestaltet werden." {Petersen 1993, S. 3.) Vgl. dazu Andreottis Ablehnung der "traditionelle[nj Form-Inhalt-D ichotomie", an deren Stelle er "eine ganzheitliche Betrachtungsweise" bevorzugt, "die den literarischen Text als Einheit resp. als Organisation von Elementen begreift, welche die alten Grenzlinien zwischen 'Inhalt 1 und 'Form' überschneiden, die also die traditionellen Begriffe 'Inhalt' und 'Form' in sich einschließen und damit völlig bedeutungslos werden lassen." (Andreotti, a.a.O., S. 18.)
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raschende Art und Weise gestaltet wird und dabei ganz bewußt auch Produktions- und Rezeptionsgewohnheiten, also die Vermittlung zwischen Autor, Erzähler und Leser, thematisiert, erhält er einen weitaus wichtigeren Stellenwert im Gesamtzusammenhang des literarischen Werkes als beispielsweise der rein fiinktionelle Erzählvorgang im Bereich trivialer Literatur. Die Form der Mittelbarkeit, die Wahl und Gestaltung der Erzählperspektive kann zum wichtigen Kriterium literarischer Einschätzung werden; hohe Literarizität, d.h. die Betonung des Literarischen an sich, und ästhetische Qualität entspringen oft sogar alleine einer stark ausgeprägten Mittelbarkeit. Stanzel gibt als Beispiele solcher Werke Cervantes "Don Quijote", Sternes "Tristram Shandy", Flauberts "Madame Bovary" und Joyces "Ulysses" an.25 Aus dem Bereich deutscher Literatur wären beispielsweise die Erzählwerke Döblins zu nennen, vor allem sein Montageroman "Berlin Alexanderplatz", der durch eine kraftvoll-neue Gestaltung des Erzähl Vorgangs besticht.26 Auf die Mittelbarkeit als spezifischem Gattungsmerkmal epischer Literatur und auf die künstlerischen Möglichkeiten, die mit der Gestaltung des Erzählens selbst verknüpft sind, weist auch Monaco hin, indem er feststellt, daß die Literatur sich hauptsächlich und am erfolgreichsten in diesem Bereich weiterentwickelt hat: "Wie die Malerei hat sich die Prosa im zwanzigsten Jahrhundert von der Nachahmung abgewandt und der Selbstforschung zugewandt. [...J Dieser künstlerische Roman hat sich seit James Joyce ähnlich wie die Malerei entwickelt. Wie die Maler lernten auch die Romanciers [...], ihre Kunst zu analysieren und zu begreifen. Vladimir Nabokov, Jorge Luis Borges, Alain Robbe-Grillet, Donald Barthelme und viele andere schrieben und schreiben Romane über das Romanschreiben [...], genauso wie viele Maler heute Bilder über das Malen von Bildern malen. Die Abstraktion beschränkt sich nicht mehr allein auf die menschliche Erfahrung, sondern wendet sich den Ideen über diese Erfahrung zu, wird letztlich zu einem Interesse an der Ästhetik des Gedankens. Jean Genet, Dramatiker und
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Stanzel 1989, S. 17. Siehe Kapitel VII/1.
23 Romancier, hat gesagt: 'Ideen interessieren mich nicht so sehr wie die Form der Ideen. 1 " 27
Der 'ästhetische Vorsprung' der Literatur vor anderen narrativen Medien ist ihr Reichtum und ihre Flexibilität in der Gestaltung des Erzählvorganges, ihre reflexive Thematisierung der eigenen Mittelbarkeit durch den Einsatz schillernder Erzählerfiguren und dadurch ihr bewußter Bruch mit Erzähltraditionen und -normen, aus dem sich neue, kunstvolle Formen der Vermittlung zwischen Autor und Leser entwikkeln können.
4. Typische Erzählsituationen - Der Typenkreis Die Mittelbarkeit eines epischen Erzähltextes wird hauptsächlich durch seine spezifische Erzählperspektive gestaltet. Stanzel unterscheidet in seiner umfassenden Theorie des Erzählens zunächst drei idealtypische Erzählsituationen (ES), die Ich-ES, die auktoriale ES und die personale ES,28 In der Ich-ES ist die Erzählerfigur ein Bestandteil der fiktiven Welt, d.h. eine Person, die selbst innerhalb des Kosmos der erzählten Handlung beheimatet ist und die Geschehnisse somit aus ihrer - in der Fiktion tief verwurzelten und häufig eingeschränkten - Perspektive berichtet. "Es besteht volle Identität zwischen der Welt der Charaktere und der Welt des Erzählers."29 Ein wichtiger Aspekt der Ich-ES ist aber die Unterscheidung zwischen erzählendem Ich und erlebendem Ich?® Es handelt sich bei bei27 28
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James Monaco: Film verstehen, Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theoriedes Films. Reinbek bei Hamburg 1984, S. 42ff. Stanzel 1989, S. 15f. und S. TOff. Vgl. ders. 1981, S. 16ff.
Stanzel 1989, S. 15f. Vgl. Stanzel 1981, S. 31 ff. und ders. 1989, S. 258ff. und 27 Iff. Vgl. dazu Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 6,, unveränderte Auflage, Stuttgart 1975, S. 72; Jürgen H. Petersen: Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Vot 9., 1977, S. 167-195, S. 174ff. und ders. 1993, S, 55f.
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den selbstverständlich um die gleiche Person, doch mit jeweils anders ausgeprägtem Bewußtseinsstand; so weist das erzählende Ich eine deutlich größere Distanz zur Handlung auf, die es ja selbst berichtet und somit überblickend gestaltet, während das erlebende Ich als eine Schöpfung des Ich-Erzählers sozusagen mit spürbar eingeschränktem Wissen in der erzählten Welt existiert. Am deutlichsten wird diese Aufspaltung in literarischen Werken, in denen der fiktive Ich-Erzähler als älterer Mensch quasi autobiographisch zurückblickt und aus seinem Leben berichtet. Er tritt dann sowohl als erzählendes Ich auf und kommentiert in dieser Funktion seine Vergangenheit, als auch als erlebendes Ich, das die erzählten Ereignisse der Vergangenheit gerade durchlebt.31 Petersen spricht von einer "Identität des Ich in seiner Differenz"32 gemeint ist die Differenz zwischen erzählendem und erlebendem Ich -, die "als Dipoligkeit des Leseerlebnisses zur Wirkung [kommt]"33, denn der Leser erhält in der Ich-ES gleichzeitig Informationen über den Erlebenden (das Ich mit dem geringeren Bewußtheitsgrad) und über den Erzählenden (das Ich mit dem höheren Bewußtheitsgrad). Diese Dipoligkeit erzeugt eine "innere Spannung zwischen dem Ich als Helden und dem Ich als Erzähler"34, abhängig von der "Erzähldistanz, die zeitlich, räumlich und psychologisch die beiden Phasen des Erzähler-Ich trennt"35. Die Spannbreite der Gestaltungsmöglichkeiten kann sich dabei "von Identifikation bis zu völliger Entfremdung zwischen erzählendem und erlebendem Ich"36 erstrecken. Wurde oben behauptet, der Ich-Erzähler berichte häufig aus einer eingeschränkten Perspektive, so kann man nun präziser feststellen, daß diese eingeschränkte Perspektive hauptsächlich das erlebende Ich als •l l
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32 33 34 35 36
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Man denke z.B. an Manns "Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull". Stanzet 1989, S. 273, nennt als weitere Beispiele für diese fiktive autobiographische Erzählform Defoes "Moll Flanders", Salingers "Fänger im Roggen" und Grass' "Blechtrommel". Petersen 1977, S. 175 und ders. 1993, S. 56. Petersen 1977, S. 176 und ders. 1993, S. 56. Stanzel 1989, S. 271. Ebd. ,5.272. Ebd., S. 272.
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handelnde Figur in der erzählten Welt kennzeichnet, während das erzählende Ich durchaus über eine erweiterte Perspektive verfugen kann. Beide jedoch sind eine Person, deren Lebensbereich - in der idealtypischen Ausprägung der Ich-ES - identisch ist mit der erzählten Welt, Der Erzähler einer auktorialen ES hingegen steht mehr oder weniger allwissend und distanziert über der fiktiven Welt, von der er berichtet; er ist kein Teil dieser Welt der Romanfiguren, sondern ein ungebundener Beobachter, dem keine räumlichen oder zeitlichen Grenzen oder Einschränkungen des Erkennens oder Verstehens vorgegeben sind. Die personale ES schließlich zeichnet sich "durch die Illusion der Unmittelbarkeit"37 aus, indem die Erzählerfigur durch eine Reflekiorfigur ersetzt wird. Dieser Reflektor erzählt nun nicht das Geschehen, sondern scheint es selbst gerade zu durchleben, d.h. der Leser nimmt die Handlung wie aus der Perspektive dieser Reflektorfigur, die meist Protagonist des epischen Textes ist, wahr, Stanzel charakterisiert den Reflektor als "[eine] Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Hier blickt der Leser mit den Augen dieser Reflektorfigur auf die anderen Charaktere der Erzählung."38 Als stilistische Elemente, die diese Form der Rezeption verstärken, begegnen dem Leser dabei häufig erlebte Rede und innerer Monolog. Da also im Falle der personalen ES nicht eigentlich erzählt wird, entsteht der Eindruck der Unmittelbarkeit, die Vermittlung zwischen Autor und Leser scheint aufgehoben durch das direkte Miterleben mit dem Reflektor.39 Diese drei typischen Erzählsituationen ordnet Stanzel den drei Konstituenten seiner Erzähltheorie zu, den Konstituenten Person, Perspektive und Modus,,40 die als graduelle Formenspektren zwischen zwei
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40
Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Vgl. zur Charakteristik der personalen ES auch Franz K. Stanzel: Die Opposition Erzähler - Reflektor im erzählerischen Diskurs. In: Eberhard Lämmert (Hrsg.): Erzählforschung. Ein Symposion. (Germanistische Symposien-Berichtsbände 4) Stuttgart 1982, S. 173-184. Stanzel 1989, S. 70ff.
26 polaren Gegensätzen jeweils einen bestimmten Aspekt der gestalteten Mittelbarkeit, also der Erzählsituation, abdecken, Die Konstituente Person bezieht sich auf die Person des Erzählers, genauer: auf sein Verhältnis zu der fiktiven Welt des Erzähltextes, und erstreckt sich zwischen den beiden Polen Identität und Nichtidentität der Seins- oder Existenzbereiche des Erzählers und der fiktiven Personen des epischen Werkes. So entspricht also die eine der beiden extremen Möglichkeiten, die Identität der Existenzbereiche des Erzählers und der Romanfiguren, der Ich-ES, in der ja - wie bereits erwähnt - die Erzählerfigur ein Element der fiktiven Welt ist. Die andere Möglichkeit, die Nichtidentität der Seinsbereiche, weist auf eine auktoriale ES hin, die durch einen übergeordneten, von der fiktiven Welt völlig unabhängigen Erzähler gekennzeichnet ist.
Person Identität der Seinsbereiche
Nichtidentität der Seinsbereiche
Stanzel aber setzt bewußt Prioritäten und verbindet die auktoriale ES daher eher noch mit einem Pol der Konstituente Perspektive, nämlich der Außenperspektive, die im Falle einer auktorialen Erzählerfigur tatsächlich am stärksten ausgeprägt ist. Die Alternative auf diesem Kontinuum, die Innenperspektive, liegt wiederum näher bei der Ich-ES oder der personalen ES.
Perspektive Außenperspektive *
> Innenperspektive
Die dritte Konstituente Modus deckt das Spektrum zwischen einer deutlich gestalteten Erzählerfigur und einer Reflektorflgur, die nicht erzählt, sondern die Geschehnisse des epischen Werkes quasi direkt erlebt, ab. Während die erste Möglichkeit dieses Kontinuums, die Er-
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zählerfigur, auf auktoriale und Ich-ES verweist, bezieht sich die zweite, die Reflektorfigur, auf die personale ES; denn in der personalen ES tritt der Reflektor an die Stelle des Erzählers und erzeugt dadurch das Gefühl unmittelbaren Miterlebens.
Modus Erzählerfigur ^
*· Reflektorfigur
Die drei Konstituenten Person, Perspektive und Modus bilden ein System, in dem alle Erzählvarianten möglich werden, die sich zwischen den jeweils polaren Positionen ergeben können; die idealtypischen Erzählsituationen sind lediglich Fixpunkte, die je an einem der Pole der Konstituenten liegen: die Ich-ES an der Konstituente Person (Identität der Seinsbereiche von Erzähler und epischen Figuren), die auktoriale ES an der Konstituente Perspektive (Außenperspektive) und die personale ES an der Konstituente Modus (Reflektor). Die Abbildung auf der folgenden Seite, der von Stanzel entworfene Typenkreis, verdeutlicht das triadische System der Konstituenten und der typischen Erzählsituationen.
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Ich-ES
ig
\ Auktoriale ES
\ \"
ErzählerReflektor- Grenze
Erzähler- ReflektorGrenze
Personale ES
(Vereinfachte Fassung des Typenkreises nach Stanzel, aus: Stanzel 1989, S. 81 und Faltblatt nach S. 339.)
Auf diesem Typenkreis, einem in sich geschlossenen Konttnuum, lassen sich entlang der Konstituentenpole und zwischen den drei Idealtypen beliebige Erzählsituationen einordnen. Es muß aber betont werden, daß diesem Modell eine Uterarische Praxis gegenübersteht, die sich keinerlei System verpflichtet fühlt und sich daher keine Einschränkungen in der Gestaltung des Erzähl Vorganges auferlegt;41 eine absolut zutreffende Einordnung wird also nicht immer gelingen. Zudem können sich Erzählsituationen bereits innerhalb eines epischen Erzähltextes ändern, so daß ein facettenreicher Gesamt4l
Vgl. Stanze) 1989, S. 86f. und ders, 1981, S. 8.
29
eindruck entstehen mag,42 der nur schwerlich auf dem Typenkreis abbildbar ist. Stanzel selbst räumt ein, daß ihm "ein Begriff wie 'der auktoriale Roman1 oder 'der personale Roman1, selbst wenn er ideal typisch gemeint ist, fast schon zu gewagt, ein zu allgemeines Konstrukt [sei]. Zeigt sich doch jeder Roman bei eingehenderer Betrachtung als Abfolge von vielfach modulierten Erzählsituationen, unter denen die auktoriale Erzählsituation oder die personale Erzählsituation gleichsam nur der basso fermo, der durch ständige Wiederkehr tragende Grundton der Erzähl weise ist, der sich allerdings durch diese beständige Wiederkehr stärker im Bewußtsein des Lesers einprägt als seine verschiedenen Modulationen."43 Dennoch bietet Stanzeis Modell eine fruchtbare Methode, literarische Werke anhand ihrer Erzähl Perspektive zu klassifizieren und in einem durchdacht konzipierten System anzuordnen, das eines ihrer Hauptmerkmale - ihre Mittelbarkeit durch spezifische Erzählsituationen - überaus wirkungsvoll und einsichtig erfaßt und komparativ verdeutlicht.44
5. Stanzeis Erzähltheorie im Spiegel der Kritik - Gegenentwürfe Seit ihrem ersten Erscheinen im Jahre 1955 5 geriet Stanzeis Typologie der Erzählsituationen ins Kreuzfeuer der Kritik und blieb bis auf den heutigen Tag umstritten. jt A
43 v
·
Vgl, hierzu Stanzeis Ausführungen über die Dynamisierung der Erzählsituation (Stanzel 1989, S. 89ff.). Stanzel 1981, S. 78. Stanzel 1989, S,88f., verdeutlicht auch die Bedeutung des Typenkreises im Hinblick auf historische Vergleiche epischer Erzählformen und die historische Entwicklung der Epik schlechthin; es zeigt sich, daß diese Entwicklung Schritt für Schritt entlang der durch den Typenkreis gegebenen Erzählsituationen nachvollzogen werden kann: "So betrachtet, erscheint das Schema des Typenkreises als ein Strukturprogramm für den Roman, das von der Geschichte des Romans, wie es scheint, Zug um Zug realisiert wird." (Ebd., S, 88.) Franz K, Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an "Tom Jones", "Moby-Dick", "The Ambassadors", "Ulysses" u.a. Wien/ Stuttgart 1963 (Unveränderter Nachdruck von 1955).
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Stanzeis Modell war nicht der erste und blieb nicht der letzte Versuch, eine Theorie des Erzählens zu entwerfen. Dennoch scheint es so, als hätten sich seine Überlegungen und vor allem seine Terminologie unaufhaltsam einen festen Platz in der Literaturwissenschaft gesichert.46 Betrachtet man aber die zahlreichen überaus kritischen Auseinandersetzungen mit Stanzeis Systematik und die nicht minder zahlreichen Gegenentwürfe, so stellt sich die Frage, weshalb sich das Modell der typischen Erzählsituationen so fest innerhalb der Erzählforschung etablieren konnte. Geschah dies etwa weniger aus eigenem Verdienst, nämlich durch Überzeugungskraft, Stringenz und Anwendbarkeit, sondern vielmehr aufgrund des Umstands, daß die alternativ vorgeschlagenen Modelle noch viel weniger überzeugend, stringent und anwendbar erschienen? Hat lediglich die häufige Nennung der Terminologie Stanzeis, wenn auch in meist abwertendem Kontext, zu ihrer
Vgl. dazu Dieter W. Adolphs: Zur Neubestimmung des Begriffs der Erzähl situation im Rahmen interkultureller Hermeneutik. In: Alois Wierlacher (Hrsg.): Perspektiven und Verfahren interkultureller Germanistik. Akten des I. Kongresses der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik. München 1987, S. 595610, S. 5%: Um einen Überblick über die Verbreitung der Erzähltheorie und Terminologie Stanzels zu erhalten, trug Adolphs die in der "International Bibliography of Books and Articles" der Modern Language Association of America nachgewiesenen Beiträge der internationalen Forschung zu diesem Themenkomplex zusammen: "Für den Zeitraum zwischen 1975 und 1986 werden hier über siebzig wissenschaftliche Veröffentlichungen ausgemacht, die sich mit Fragen der Erzählsituation oder Erzählperspektive befassen. Etwa zwanzig Beiträge sind allgemeine, zumeist literaturgeschichtliche Untersuchungen zum Thema Erzählperspektive. Die Mehrzahl der übrigen Arbeiten benutzt diesen oder einen verwandten - Terminus zur Analyse des Erzählstils einzelner Schriftsteller und ihrer Werke, vor allem mit historisch-klassifizierender und typologischer Absicht. Nur die wenigsten Beiträge befassen sich dagegen mit einer theoretischen Erörterung oder gar mit der begrifflichen Bestimmung der von ihnen gebrauchten Ausdrücke wie 'Erzählperspektive' und 'Erzählsituation'. Der Grund hierfür ist offensichtlich: Diese Termini werden von der Literaturwissenschaft als gegeben vorausgesetzt, wobei man sich in der Germanistik ganz auf Franz K. Stanzels Definition der typischen Erzählsituation im Roman verläßt. [...] Auch heute erfreut sich dieser Begriff nach wie vor weltweiter Beliebtheit."
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Verbreitung beigetragen? Und lediglich der Mangel an einer augenscheinlich besseren Erzähltheorie zu ihrer Akzeptanz geführt? Eine bestätigende Antwort auf diese Fragen würde den wissenschaftlichen Wert der Erzähltheorie Stanzeis beträchtlich mindern. Ein kurzer Blick auf die Kritik an Stanzeis Modell und entsprechende Gegenentwürfe soll an dieser Stelle mehr Klarheit schaffen.47 5,1 Leibfried Leibfrieds Ansicht nach ist Stanzeis Terminologie "nicht prägnant"48 genug; vor allem der Begriff Erzählsituation verwirre nur unnötig, da sich eine Untersuchung der Erzählformen eigentlich auf die Erzählperspektive beschränken könne. Folglich unterscheidet Leibfried nur zwischen zwei Kategorien des Erzählens,49 wobei er in der Enählperspektive, also der Dichotomic Innenperspektive - Außenperspektive, das fundamentale Kriterium sieht. Darüber hinaus entscheidet die Wahl der grammalischen Form, nämlich die Er- oder die Ich-Form, über die narrative Struktur eines
49
Die folgende Darstellung von erzähl theoretischen Modellen und Gegenentwürfen beschränkt sich auf ausgewählte Ansätze der germanistischen Literaturwissenschaft. Nicht berücksichtigt wurde z.B. Dietrich Webers "Skizze zum Erzähler", die - wie viele andere Arbeiten zu diesem Themenkomplex - keine überzeugenden Antworten auf die Frage nach dem Erzähler epischer Texte geben kann. Vielmehr macht gerade Webers Aufsatz deutlich, wie der Versuch, bereits bestehende Theorien und Modelle durch neue Ideen und Vorstellungen zu ersetzen, dazu führen kann, daß das Thema zerredet und unnötig strapaziert wird, ohne tatsächlich zu produktiven Ergebnissen zu fuhren. (Vgl. Dietrich Weber: Skizze zum Erzähler. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre, Heft 3, 1991 [Vol. 41}, S. 471487.) Auf erzähltheoretische Arbeiten aus dem angloamerikanischen und französischsprachigen Raum sei an dieser Stelle nur hingewiesen: Norman Friedman: Point of View in Fiction. The Development of a Critical Concept. In: PMLA. Publications of the Modern Language Association of America, Nr. 5, 1955 (Vol. 70), S. 1160-1184. Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst. 2 Bande. Heidelberg 1974. Gerard Genette: Narrative Discourse. An Essay in Method. Oxford 1980. (Engl. Übersetzung von: Discours du recit. [1972]) Erwin Leibfried: Kritische Wissenschaft vom Text. Manipulation, Reflexion, transparente Poetologie. 2., teils verbesserte und mit einem Vorwort versehene Auflage, Stuttgart 1972, S. 244. Ebd.,S.246ff.
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literarischen Textes. Indem Leibfried jeweils die zwei Möglichkeiten seiner beiden Kategorien miteinander verknüpft, erhält er vier Erzähltypen: Die Er-Erzählform mit Außenperspektive oder mit Innenperspektive des Erzählers und die Ich-Erzählform mit Außen- oder Innenperspektive des Erzählers. Stanzeis Konzeption der Ich-ES und dessen Unterscheidung zwischen erzählendem und erlebendem Ich lehnt Leibfried entschieden ab.50 Seine Argumentation erweist sich jedoch als unhaltbar. "[...] der Ich-Erzähler", so Leibfried, "muß nicht notwendig, wie Stanzel annimmt, mit dem Geschehen verbunden sein; er kann die Funktion ausüben, welche auch ein außenstehender Erzähler erfüllt, also nur das Geschehen irgendwie verfremden, perspektivisch verzerren, ohne jedoch Handelnder zu sein [...]. Die Annahme Stanzeis, daß der Ich-Erzähler immer zur Welt der Romancharaktere gehöre, ist irrig [...]. Diese Verwirrungen sind möglich, weil nicht streng getrennt wird zwischen Perspektive und grammatischer Form. Stanzel gelangt so zur Annahme eines Ich-Ich-Schemas, indem er erzählendes und erlebendes Ich unterscheidet [.,.]. [...] Damit wird deutlich greifbar, was Stanzel vermischt: das Dargestellte und die Perspektive der Darstellung. In dem erzählenden Ich liegen zwei Einstellungen vor: einmal die naiv erlebende, gleichsam stoffsammelnde und sodann die sich darauf richtende, dieses Erlebte referierende. Mit diesen zwei Einstellungen sind aber noch nicht [...] zwei verschiedene Ich gegeben. Dann müßte jeder sich laufend in Egos auflösen: denn jetzt sehe ich, dann denke ich über das Gesehene nach, dann fingiere ich dieses Gedachte in der Phantasie um, usw. " 51 Aus zwei Gründen muß man Leibfried widersprechen: Zum einen gilt Stanzeis Behauptung, der Ich-Erzähler gehöre immer zur Welt der Romancharaktere, in dieser Ausschließlichkeit nur für die idealtypische Ich-ES. Darüber hinaus aber beschreibt Stanzel selbst die Möglichkeit einer zunehmenden Ablösung des Ich-Erzählers aus der fiktiven Lebenswelt der Figuren; er bezeichnet diesen Prozeß als "Auk-
50 51
Ebd., S, 245f, Ebd., S. 245f.
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torialisierung des Ich-Erzählers"52. Leibfrieds Vorwurf erscheint somit völlig ungerechtfertigt.53 Zum anderen entkräftet Leibfried seine eigene Argumentation, wenn er einerseits die Trennung zwischen erlebendem und erzählendem Ich ablehnt, andererseits aber selbst von "zwei Einstellungen" und - unmittelbar anschließend - von "verschiedenen Zuständen1'54 des Ich-Erzählers spricht. Er weist also lediglich die Terminologie Stanzeis zurück, nicht aber den Sachverhalt an sich, den er seinerseits sogleich mit äußerst unklaren und vagen Begriffen erneut beschreibt. An Prägnanz und Präzision bleibt er dabei eindeutig hinter Stanzel zurück. Das scheinbar erzähl theoretische Problem entpuppt sich als rein terminologisches. Dominierender Aspekt in Leibfrieds Modell ist die Kategorie Enählperspektive; so wird die personale ES im Sinne Stanzeis - aufgrund ihrer Tendenz zur Innenperspektive - durch einen Wechsel der ersten Person (Ich-Erzählform) in die dritte Person (Er-Erzählform) le-
52 C'3
54
Stanzel 1989, S. 266. Zu berücksichtigen wäre hier allerdings, daß Leibfried in seiner Kritik an Stanzel Bezug auf dessen Publikationen "Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dargestellt an Tom Jones', 'Moby-Dick', 'The Ambassadors', 'Ulysses' u.a." aus dem Jahre 1955 und "Typische Formen des Romans" von 1964 nimmt. In den späteren Auflagen und Ausarbeitungen seiner Theorie hat Stanzel einige Aspekte seiner Erzählsituationen modifiziert und vor allem präzisiert; den Prozeß der Auktorialisierung des Ich-Erzählers erwähnt er jedoch - ohne ihn allerdings so zu bezeichnen - bereits 1955: "Zwischen den beiden typischen Erzähl· Situationen, der auktorialen mit dem charakteristischen Verhältnis des Erzählers zu den Gestalten des Romans, und jener des Ich-Romans, wo dieses Verhältnis in den mannigfachen Beziehungen zwischen erzählendem Ich und erlebendem Ich wiederkehrt, kann die Romantheorie zahllose Zwischenformen ansiedeln, durch welche in kontinuierlicher Abfolge die Erzählsituation des einen Typus in die des anderen übergeführt wird. Es ist dabei nicht immer notwendig, daß ein Wechsel zwischen Er-Bezug und Ich-Bezug auftritt. Es kann die auktodale Erzählsituation weitgehend der Ich-Situation angeglichen werden [,..\. Umgekehrt kann die Erzählsituation des Ich-Romans der auktorialen Erzählsituation durch Verlagerung des Darstellungsschwerpunktes vom erlebenden Ich zum erzählenden Ich angeglichen werden [.,.]." (Stanzel 1963 [Unveränderter Nachdruck von 1955], S. 63.) Leihfried, a.a.O., S. 246.
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diglich zu einer "Differenzierung"55 der Ich-Erzählung mit Innenperspektive.56 Aber schließlich zeigen Leibfrieds Bemühungen um die analytische Beschreibung der Ich-Erzählform in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" deutlich die Grenzen einer Systematik, die hauptsächlich auf der Unterscheidung zwischen Außenperspektive und Innenperspektive basiert: Er versucht dabei, eine komplexe narrative Form einzig und allein auf der Dimension der Perspektive einzuordnen und kommt zu der überraschenden Feststellungen, daß "[hier] eine Vermischung von Innen- und Außenperspektive, von auktorialem Erzähler und Ich-Erzählung [vorliegt]. Etwas, was nur in der Form der Innenperspektive gegeben werden kann, wird doch in der Außenperspektive erzählt."57 Die zwanghafte Beschränkung auf Innen- und Außenperspektive und die daraus resultierenden Misch- und Kombinationsformen dieser beiden prinzipiell gegensätzlichen Gestaltungsmöglichkeiten schaffen mehr Verwirrung als Klarheit. Da Leibfried jedoch nur mit der dominierenden Kategorie Erzählperspektive argumentiert, muß er sie für jede erdenkliche Erzählform als konstituierendes Element heranziehen und so anpassen, daß sie Erklärungswert erhält, auch wenn sie dabei nahezu bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Seine Kategorien Erzählperspektive und grammatische Form sind einfach zu weit gefaßt und zu allgemein, als daß sie die Bandbreite narrativer Erscheinungsformen sinnvoll beschreiben könnten.5'
55 56 57 CO
:
Ebd. ,5.244. Vgl. Stanzel 1989, S. 154. Leibfried, a.a.O., S. 248. Vgl. dazu auch Petersens Kritik an Leibfrieds Modell: "Aber auch Leibfrieds Gegenvorstellungen kann man keineswegs folgen. Denn die Behauptung, es gehe ausschließlich um die Erzählperspektive, nämlich um 'die Innen- und [...] Außenperspektive' [...], ist ernsthaft nicht aufrecht zu erhalten, jedenfalls dann nicht, wenn man alle textkonstituierenden Momente untersucht und also alle Kategorien des Erzählens ins Blickfeld rücken will." (Petersen 1977, S. 172.)
35 5,2 Füger Fügers Systematik der Erzählkategorien ist wesentlich komplexer als Leibfrieds.59 Er gliedert sie nach drei Unterscheidungsmerkmalen: Erstens der Erzählerposition, die entweder als Innen- oder Außenstellung des Erzählers zur dargestellten Handlung der allen Modellen eigenen Dichotomie zwischen Innen- und Außenperspektive entspricht,60 zweitens der grammatischen Form, also wiederum der Unterscheidung zwischen Ich-Erzählform und Er-Erzählform,61 und drittens des Bewußtseinsstandes des Erzählers im Sinne des Wissens und der InformationsVerfügbarkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt des Geschehens, der situationsüberlegen, situationsadäquat oder situationsdefizitär sein kann.62 Die möglichen Kombinationen dieser Elemente führen zu insgesamt zwölf narrativen Grundformen,63 die Füger in vier Gruppen mit jeweils drei Erzähl typen unterteilt.64 Die Gruppe der auktorialen Formen ist gekennzeichnet durch die Außenstellung/Außenperspektive des Erzählers und die Ich-Erzählform, die Gruppe der neutralen Formen durch Außenstellung/ Außenperspektive und Er-Erzählform. Die Gruppen der originalen und personalen Formen werden entsprechend durch Innenstellung/ Innenperspektive des Erzählers und den differenzierenden Gebrauch 59 60 61 £fy
"'
63
64
Füger, a.a.O., S. 27Iff. Ebd., S. 272f. Ebd., S. 271f. _ Ebd., S. 273. - Die Kategorie des Erzählerbewußtseins mit den drei Informations™-veaus - situaiionsüberlegen, situationsadäquai und situationsdefizitär geht auf Todorovs Überlegungen zum Verhältnis zwischen Erzähler und literarischen Figuren zurück; Füger führt dazu näher aus: "Der Erzähler gibt vor [...], besser, gleich oder schlechter informiert zu sein als seine Figuren. Mit anderen Worten, es ergeben sich die drei bekannten Bewußtseinsstufen, die Tzvetan Todorov [...] als 'aspects du rech' so formalisiert hat: Narrateur > Personnage (vision par derriere) Narrateur = Personnage (vision avec) Narrateur < Personnage (vision du dehors) f...]."(Ebd., S. 273.) Ebd., S. 274. Ebd., S. 275ff.
36 der Ich-Erzählform (original) oder der Er-Er zähl form (personal) charakterisiert.65 Hinsichtlich des Bewußtseins Standes des Erzählers als entweder situationsüberlegen, -adäquat oder -defizitär unterscheidet Füger dann jeweils bei den auktorialen Formen zwischen direktorial, situational und konjektural, bei den neutralen Formen zwischen olympisch, observational und suppositional; die drei Erscheinungs typen der originalen Form nennt er retrospektiv, simultan und rätselndes Ich, die drei Typen der Gruppe personaler Formen schließlich spektral, mediumzentral und mediumperipher. Fügers zwölf Erzählformen scheinen tatsächlich das gesamte Spektrum narrativer Möglichkeiten abzudecken. Aber abgesehen von der Vielzahl neuer Begriffe, die teilweise recht geringe Aussagekraft und Einprägsamkeit besitzen - beispielsweise direktorial, konjektural oder suppositional -, fällt es selbst Füger schwer, für jede Form ein konkretes Beispiel zu finden, d.h. der Übergang von der Theorie zur Praxis, die Anwendung seiner erzähltheoretischen Systematik gelingt nur in Ansätzen. Wo ihm plausible Beispiele fehlen, lädt er zu Gedankenspielen ein: "Position 12 [die mediumperiphere Erzählform - M.H.] wäre aber auch als tragende Erzählhaltung eines ganzen Romans denkbar, etwa wenn man die Ich-Romane Becketts in eine personale Er-Form umschriebe."67 - Die Romane Becketts umzuschreiben, damit sie sich in ein theoretisches Kategorienmodell exemplarisch einfügen lassen, gehört gewiß nicht zu den Aufgaben der Erzählforschung. Auch die Erklärung des spektralen Erzähltyps, der Kombination aus Innenperspektive, Er-Erzählform und situationsüberlegenem Erzählerbewußtsein, bereitet Füger Schwierigkeiten und läßt ihn auf der Suche nach potentiellen Erzähl erfiguren auf "einen die Situation transzendierenden Träumer, einen erzählenden Toten, einen Geist der Erzählung "6° ausweichen. Die außerordentlich differenzierte und detaillierte Systematik Fügers scheitert an genau dieser extremen Differenzierung der Kategorien. In 65 66
67 68
Siehe die schematische Darstellung ebd., S. 280. Ebd., S. 282. Ebd.,S.275f. Ebd., S. 276.
37
seiner Bemühung, alle aus seinen drei Grundkategorien ableitbaren Erzähltypen voneinander abzugrenzen und zu benennen, verliert er sich teilweise in narrativen Erscheinungsformen, die geradezu unrealisierbar anmuten oder in der literarischen Praxis - zumindest bislang - kaum eine Rolle spielen. Stanzel stellt fest, daß von Fügers zwölf Erzählfomien "ein Drittel fast nur hypothetischen Charakter hat. "69 Für die Analyse und Interpretation literarischer Werke ist das komplexe Kategoriensystem Fügers zu unhandlich. Es ist deshalb kein Zufall, daß sich Füger - wie auch Leibfried - immer wieder der Terminologie Stanzeis bedient und damit implizit dessen Modell als Fundament für seine eigenen Vorstellungen und weiteren Differenzierungen der Erzähltypen zugrunde legt. 5.3 Petersen Die bei weitem massivste Kritik an Stanzeis Theorie übt Petersen.70 In seinem geballten Rundumschlag gegen die einschlägigen erzähltheoretischen Arbeiten von Booth, Hamburger, Lämmert und Weinrich zieht er auch gegen Stanzel zu Felde und spricht im Zusammenhang mit dessen Modell von "Verwirrung"71, "Irrtümern"72 und "systernlogischen Fehler[n]"73. Er wirft Stanzel "fehlende Präzision im Sachlichen wie im Terminologischen"74 vor und weist - ähnlich wie Leibfried75 und Füger76 - darauf hin, daß Stanzel eigentlich keine fundamentalen Kategorien des Erzählens unterscheide, sondern auf historisch faßbare Romanstrukturen abhebe, innerhalb derer bereits mehrere Einzelkomponenten eines präziser zu fassenden Kategoriensystems miteinander verknüpft seien. Er lehnt also dessen typische Erzählsituationen ab und
69 70
71
72 73
74 75 76
Stanzel 1989, S. 78. Petersen 1993, S. 55, 68, 157ff. und 172f. Ebd., S. 55.
Ebd., S. 55. Ebd., S. 159. Ders, 1977, S. 170. Leibfried, a.a.O., S. 244ff. Füger, a.a.O., S. 270f.
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entwickelt eine eigene Systematik mit den Kategorien Erzählerstandon, Enählform, Erzählperspektive, Erzählverhalten und Enählhaltung. Unter dem Erzählerstandort versteht er Nähe oder Ferne des Erzählers zum berichteten Geschehen und den literarischen Figuren.77 Die Erzählform kann unterschieden werden in Ich-Erzählform und Er-Erzählform,78 die Erzählperspektive in Außensicht und Innensicht.79 Das Erzählverhalten beschreibt Petersen als entweder auktorial, neutral oder personal,80 während die Enählhaltung vielfältige Formen annehmen kann,81 "bejahend oder verneinend, kritisch oder unkritisch, pathetisch oder ironisch [...] usw." 82 Petersens Versuch, ein Kategoriensystem mit fünf unabhängig voneinander zu bestimmenden Größen zu entwickeln, ist jedoch keineswegs unproblematischer als Stanzeis Modell. Gerade seine letztgenannte Kategorie Erzählhallung fallt aus dem zuvor abgesteckten Rahmen heraus und scheint sich aufgrund ihrer Interpretationsbedürftigkeit (Wann ist eine Erzählhaltung "bejahend oder verneinend", wann "pathetisch oder ironisch"? Welche Eigenschaften fallen noch unter Petersens großzügiges "usw."?) einer exakten Zuordnung und objektiven Anwendbarkeit zu widersetzen.83 Zudem muß Petersen wiederholt eingestehen, daß seine Kategorien tatsächlich nicht völlig unabhängig voneinander sind: "Gleichwohl sind auch die Kategorien 'Erzählerstandort* und 'Erzählperspektive' miteinander verbunden."84 - "Auch sind die Kategorien 'point of view' 77 78
80 81 82
84
Petersen 1977, S. 180f. und ders. 1993, S. 65ff. Petersen 1977, S. 171ff. und ders. 1993, S. 53ff. Petersen 1977, S. 181ff. In seiner jüngeren Veröffentlichung hat Petersen seine Terminologie an diesem Punkt verändert und die Kategorienbezeichnung Erzählperspektive durch den Begriff Sichtweise ersetzt. (Petersen 1993, S. 67f. und Anm. 31, S. 92.) Petersen 1977, S. ISoff. und ders. 1993, S. 68ff. Petersen 1977, S, 193ff. und ders. 1993, S. 78ff. Petersen 1977, S. 193. Ludwig und Faulstich halten die Trennung der Kategorien Erzählhaltung und Erzählverhalten, voneinander für "prekär", da dadurch "neue Demarkationslinien gezogen werden, deren Begründung auf einer anderen logischen Ebene angesiedelt ist und deren praktische Nützlichkeit dahinsteht." (Ludwig/Faulstich, a.a.O., S. 35.) Petersen 1977, S. 181.
39 [synonym gebraucht für 'Erzählerstandort' - M.H,] und 'Erzählperspektive' nicht gänzlich unabhängig von der Kategorie 'ErzählfornV [...]."85 - "Die Verklammerung der Kategorie 'Erzählhaltung' mit der Kategorie 'Erzählverhalten' ist eine der Funktionalität, das bedeutet, [...] daß sie sich {...] einander zuordnen nach Maßgabe der Funktion, die sie jeweils füreinander erfüllen."86 Petersens neue Kategorien bieten kaum mehr Klarheit und Prägnanz als Stanzeis Modell. Obschon sie differenzierter wirken, vermögen sie auf den ersten Blick nicht mehr zu leisten, als auch Stanzeis Erzählsituationen bei umsichtiger Anwendung zu leisten imstande sind. Es verwirrt eher, wenn Petersen einer Dialogszene aus Fontanes "Effi Briest" in der Kategorie Erzählverhalten Neutralität bescheinigt,87 gleichzeitig aber in der Kategorie Erzählhaltung ironische Distanzierung des Erzählers feststellt.88 Es scheint, als könne Petersen der von ihm selbst so hartnäckig gestellten Forderung nach Präzision und Klarheit in einem systematischen Beschreibungsmodell epischer Literatur nicht gerecht werden. Zitiert er außerdem eine Textpassage aus Grimmeishausens "Simplicius Simplicissimus" und behauptet, die wertenden und kommentierenden Schilderungen des Ich-Erzählers könnten mit Stanzeis Erzähltheorie nicht angemessen erfaßt werden,89 so ist das schlichtweg falsch und beweist, daß Petersen Stanzeis Definition der Ich-ES nicht ausreichend zur Kenntnis genommen hat. 85 86 87 00
'Ji!
89
Ebd., S. 182, Ebd., S. 193. Ebd., S. 189f. Ebd., S. 193. Petersen selbst relativiert diesen Befund in seiner späteren Publikation ganz erheblich. Er stellt dabei zwar noch die Frage, welche Haltung des Erzählers hinter seinem neutralen Verhalten stehen mag, kennzeichnet eine mögliche Antwort jedoch als reine Interpretation: "Doch auch wenn man mit solchen Überlegungen gewiß nichts Abwegiges zur Diskussion stellt, darf man die interpretatorische Dialektik nicht zu weit treiben. Es läßt sich sonst alles und jedes so oder so oder noch anders fassen, und eine systematische Deskription kommt dann auf keinen Fall zustande. Entscheidend bleibt, daß der Erzähler nicht eingreift, sondern lediglich wiedergibt, was zu hören ist, und sich insofern neutral verhält. Warum er das tut, wissen wir nicht." (Petersen 1993, S. 77f.) Petersen 1977, S. 188f.
40
Es ist ja nun keineswegs so, daß Stanzel zur Beschreibung narrativer Erscheinungsformen lediglich drei starre, engumgrenzte Kategorien seine drei typischen Erzählsituationen - anwendet; Petersens Ausführungen und seine vernichtende Kritik an Stanzeis Typologie erwecken gleichwohl diesen Eindruck. Vielmehr entwickelt Stanzel ein ganzes Spektrum an Erzählmöglichkeiten, innerhalb dessen die auktoriale ES, die personale ES und die Ich-ES nur Orientierungspunkte bilden, Diese Erzählsituationen umfassen ihrerseits eine gewisse Bandbreite und bieten so eben jenen Spielraum, den Petersen mit seinen Kategorien Erzählerstandort, Erzählperspektive und Erzählverhalten zu erfassen versucht. Den Geltungsbereich der Ich-ES beschreibt Stanzel beispielsweise folgendermaßen: "Auf unserem Weg entlang des Typenkreises begegnen wir zuerst einem Ich-Erzähler, dessen erzählendes Ich sich sehr ausführlich als Erzähler kundgibt [...], dann dem klassischen Ich-Erzähler, bei dem das Verhältnis zwischen erzählendem und erlebendem Ich zwar nicht quantitativ aber doch der Bedeutung nach ausgewogen ist [...], und schließlich jener Ich-Erzählung, in der das erlebende Ich das erzählende Ich fast ganz aus dem Blickfeld des Lesers verdrängt [...]."90
Innerhalb dieses Bereiches ließe sich sehr wohl auch ein Platz für den von Petersen zitierten Grimmelshausen-Text finden. Wie bereits dargestellt,91 kennt und berücksichtigt Stanzel die Möglichkeit auktorialer Tendenzen in einer Ich-Erzählung; die "Auktorialisierung des Ich-Erzählers"92 läßt sich als eine Abfolge narrativer Formen deutlich auf dem Typenkreis markieren. Stanzeis Modell fixiert Kategorien wie Außenperspektive Innenperspektive oder Identität - Nichtidentität der Seinsbereiche des Erzählers und der fiktiven Figuren nicht auf einen einzigen Punkt und damit nicht auf nur eine einzige Erzählform. Der Typenkreis setzt sich aus Bereichen zusammen, innerhalb derer die konstitutiven Elemente der Erzählsituationen in zunehmender und abnehmender Weise wirksam sind. Dies verkennt Petersen, wenn er behauptet: "Die Dominanz 90
'" 92
Stanzel 1989, S. 259. Siehe oben Abschnitt 5.1 dieses Kapitels. Stanzel 1989, S. 266.
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der Außenperspektive der Ich-ES entgegenzustellen bedeutet, daß es keine Ich-ES gibt, in der die Außensicht vorwaltet f...]." 93 Zum einen stellt Stanzel die Außenperspektive der Ich-ES überhaupt nicht entgegen, zum anderen aber - um Petersens Behauptung zudem noch zu widerlegen - laßt sich am Kreismodell Stanzeis deutlich der Bereich erkennen, in dem Ich-Erzählformen mit vorherrschender Außenperspektive liegen. Es gilt dabei zu beachten, daß die Markierung der Ich-ES auf dem Typenkreis stets als idealtypische Erzählform zu betrachten ist, jedoch nicht als einzige Ich-Erzählform überhaupt. Entsprechendes trifft auch auf die personale und die auktoriale ES zu. Stanzeis Theorie halt Petersens Kritik durchaus stand. Auf der anderen Seite bleiben die Vorwürfe gegen Petersens Alternativmodell bestehen. Folglich fallt auch in diesem Fall die Entscheidung zugunsten Stanzeis aus. Und auch Ludwig und Faulstich prophezeien, daß "sich [Petersens] Systematik wohl nicht durchsetzen [wird], weil in ihr teils neue Begriffe eingeführt, teils alte Begriffe 'urnfirmiert1 werden, was wiederum nicht zur Klärung beiträgt f..,]." 94 Der Vergleich der vorgestellten Erzähltheorien und -kategorien zeigt, daß keines der Modelle als Alternative für Stanzeis Typologie in Frage kommen kann. Die Kritik an Stanzel konnte in einigen Fällen zurückgewiesen werden; in anderen bleibt sie stehen und muß akzeptiert werden. Der Hauptvorwurf jedoch, Stanzel vermische narrative Einzelkomponenten und beschreibe historische Romanformen statt Erzählsituationen, wird entkräftet durch Stanzels wiederholt erklärte Absicht, ideaitypische Erzählsituationen eingrenzen zu wollen, die lediglich als Orientierungspunkte in einem stufenlosen System dienen. Stanzels Theorie der typischen Erzählsituationen mag nicht frei von Schwächen sein, die Kritik an ihr nicht immer unberechtigt, dennoch bietet sie mehr als die Gegenentwürfe von Leibfried, Füger und Petersen.95 93 94
Petersen 1993, S. 157. Ludwig/Faulstich, a.a.O., S. 35, Vgl. dazu auch Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. 7., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 1990, S. 81 ff.; Vogt betont, daß Stanzels Typologie zwar keine Theorie
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6. Vorteile der Erzähltheorie Stanzels Stanzeis Theorie der Erzählsituationen ist wie jede andere literaturwissenschaftliche Theorie durch Vor- und Nachteile gekennzeichnet. Einerseits erlaubt sie den Zugriff auf unterschiedlichste Erzähltexte dank eines klar umrissenen Kategoriensystems, das textimmanente Analysen und übergreifende Vergleiche ermöglicht und vereinfacht. Andererseits stößt sie zuweilen an die Grenzen ihrer Anwendbarkeit und kann angesichts konkreter literarischer Werke mit komplexen narrativen Strukturen kaum noch unmittelbar verfugbare evidente Ergebnisse liefern. Eine lebendige, sich stets weiterentwickelnde Literatur entzieht sich der Modellhaftigkeit und Starrheit einer jeden Theorie und zwingt diese zu ständiger Überprüfung und - wenn nötig - Modifikation. Die Notwendigkeit literaturwissenschaftlicher Theorien wird dadurch jedoch keineswegs bestritten, ihr Verdienst nicht in Frage gestellt. Entscheidend ist, sich der Möglichkeiten und der Grenzen aller Theorien und Modelle bewußt zu sein; bei der Theorieftndung wäre entsprechend darauf zu achten, den Bereich der Möglichkeiten möglichst groß und umfassend anzulegen, den Bereich der Grenzen hingegen möglichst klein und eingeschränkt zu halten. "Erzählen ist eine Kunst", stellt Booth fest, "keine Wissenschaft, aber das bedeutet nicht, daß unser Versuch, Prinzipien hierzu darzulegen, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. In jeder Kunst gibt es systematische Elemente, und wer sich kritisch mit Erzählliteratur beschäftigt, kann nie aus der Verpflichtung entlassen werden, technisch Gelungenes und Mißlungenes mit Bezug auf allgemeine Prinzipien zu
im eigentlichen Sinne sei, dafür aber "ein empirisch, das heißt aus der Beobachtung vielfältiger Erzähltexte gewonnenes Konzept darstellet-..], das sich gerade wegen seines nichtsystematischen Charakters flexibel anwenden und fortschreiben läßt und sich instrumentell - als eine Art erzähltheoretischer Werkzeugkasten - in zahllosen Einzeluntersuchungen und Interpretationen bewährt hat."(Ebd., S. 82.)
43 erläutern zu versuchen. Wir müssen uns jedoch immer die Frage stellen, wo die allgemeinen Prinzipien zu finden sind."96 Findet man diese allgemeinen Prinzipien und macht sie zur Grundlage einer Theorie, so kann es durchaus gelingen, Möglichkeiten zu eröffnen und Grenzen weit von sich zu schieben. Im Falle der Erzähltheorie Stanzeis scheint dies gelungen zu sein. Denn trotz zahlreicher Kritik, die sicherlich nicht immer unbegründet ist, hat sich seine Typologie der Erzählsituationen in gewisser Weise doch bewährt und durchgesetzt. Ein kurzer Blick in den Bereich der Kognitionspsychologie verdeutlicht den Vorteil des Kategoriensystems von Stanzel gegenüber den Entwürfen von Petersen, Leibfried und Füger. 6.1 Kognitive Ökonomie - Ein Exkurs Ausgehend von allgemeinen Überlegungen zur Organisation und internen Strukturierung mentaler Kategorien entwickelten Eleanor Rösch und ihre Mitarbeiter in den siebziger Jahren an der University of California, Berkeley, ihre Prototypentheorie, ein umfassendes kognitionspsychologisches Konzept, in dessen Mittelpunkt die Frage nach der semantischen Kategorisierung und psychischen Repräsentation natürlicher Objektklassen steht.97 Angefangen mit den Bezeichnungen von Farben und deren Abgrenzungen voneinander bis hin zu Kategorien wie beispielsweise Vögel, Fische, Berufe, Kleidungsstücke, Fahrzeuge und Nahrungsmittel98 erstellte Rösch Ordnungssysteme, deren 96
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Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst 1. Heidelberg 1974, S. 170. Eleanor Rosch: On the Internal Structure of Perceptual and Semantic Categories. In; T. E. Moore (Hrsg.): Cognitive Development and the Acquisition of Language. New York 1973, S. 11I-144; dies.: Cognitive Representations of Semantic Categories. In: Journal of Experimental Psychology, Vol. 104, 1975, S. 192-233; dies.: Human Categorization. In: Neil Warren (Hrsg.): Studies in Cross-cultural Psychology. Vol. 1. London 1977a, S. I-49; dies.: Classification of Real-World Objects: Origins and Representations in Cognition, In: Philip N. Johnson-Laird/Peter C. Wason (Hrsg.): Thinking. Readings in Cognitive Science, Cambridge 1977b, S, 212-222; dies.: Principles of Categorization. In: Eleanor Rösch/Barbara B, Lloyd (Hrsg.): Cognition and Categorization. Hillsdale 1978, S. 2748. Rosch 1975, S. 229ff.; dies. 1977a, S. 32; dies. 1977b, S. 215.
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Zentrum jeweils ein besonders typisches Exemplar der entsprechenden Objektklasse bildet, ein Prototyp - häufig kein reales Kategorienmitglied, sondern ein idealisiertes Abbild, das die typischen Eigenschaften der Kategorienmitglieder in sich vereinigt - ein Prototyp also, der zum exemplarischen Bedeutungsträger seiner Kategorie wird und somit zum semantischen Repräsentanten in der menschlichen Begriffsvorstellung und sprachlichen Erfassung der Welt. Die empirischen Arbeiten von Rösch stellen einen wichtigen Beitrag zur psycholinguistischen Forschung und damit zur modernen Sprachwissenschaft dar. Ebenso wie zahlreiche andere Arbeiten aus den Fachbereichen Psychologie, Philosophie und Künstliche IntelligenzForschung nahm die Prototypentheorie erheblichen Einfluß auf die Linguistik und bildet somit einen Teil der interdisziplinären Wurzeln der heutigen Sprachforschung. Roschs Prototypentheorie soll an dieser Steile allerdings nicht weiter von Interesse sein; interessant und erhellend im Zusammenhang mit den Kategoriensystemen der Erzählforschung sind vielmehr die Voraussetzungen für Roschs Theorienbildung, die kognitionspsychologischen Erkenntnisse über Kategorisierung allgemein. An den Beginn ihrer Ausführungen zur Prototypentheorie stellt Rösch allgemeine Überlegungen zur Entstehung und Struktur natürlicher Kategorien und nennt dabei generelle Prinzipien der Kategorienbildung, u.a. die "kognitive Ökonomie" ("cognitive economy").99 Als kognitive Ökonomie bezeichnet Rösch die Tendenz kognitiver Verarbeitungspozesse, einen Ausgleich zu finden zwischen Kategorienvielzahl einerseits und Kategorienabstraktion andererseits. Das Individuum bildet Kategorien oder übernimmt kulturell vorgeformte Kategorien, um sich in seiner Umwelt und deren Vielfalt von verschiedenen Reizen angemessen bewegen und verhalten zu können; es muß Dinge unterscheiden können und tut dies, indem es sie unterschiedlichen Kategorien zuordnet. Dadurch kann es Aussagen über seine Umwelt machen, Wichtiges von Unwichtigem trennen und adäquate Reaktionen zeigen. Je exakter die Kategorien definiert sind, desto genauer können die Umwelt und deren Reize erkannt werden, doch 99
Rösch 1977a, S. 29f.; dies, 1977b, S. 213; dies. 1978, S. 28f.
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führt eine zu große Exaktheit, der Mangel jeglicher Abstraktion und Verallgemeinerung, rasch zu einer Überfülle von Kategorien. Als Extremfall fände sich für jedes wahrgenommene Objekt eine eigene Kategorie, da talsächlich kein Objekt einem anderen völlig gleich ist. Dieser Überfluß an Kategorien jedoch erscheint absurd, mehr noch - es wäre wohl völlig unmöglich, mit dieser unendlichen Menge von Kategorien und Objektklassen sinnvoll zu denken und zu handeln. Die kognitive Kapazität des einzelnen Menschen wäre damit total überlastet. Eine kognitive Ökonomie gebietet daher, gerade so viele Kategorien zu bilden, daß eine sinnvolle Unterscheidung von Objekten der Umwelt einerseits und eine sinnvolle Verallgemeinerung, d.h, Abstraktion dieser Objekte andererseits möglich werden. Ein gewisses Abstraktionsniveau der Kategorien erlaubt es, mehrere Reize als zu einer Objektklasse zugehörig zu erkennen und vereinfacht dadurch zum einen die Wahrnehmung der Umwelt durch schlichte Reizreduktion und zum anderen die Reaktion des Subjekts durch das Wiederholen gleicher Verhaltensmuster bei verschiedenen Objekten einer Kategorie. Das Prinzip der kognitiven Ökonomie und die daraus resultierende eingeschränkte Anzahl von Kategorien ermöglichen eine angemessene Klassifizierung, Differenzierung und Generalisierung der unendlichen Menge der Umweltreize und damit auch ein sinnvolles Erkennen, Benennen und Verarbeiten dieser Reize im Rahmen der kognitiven Leistungsfähigkeit des Menschen. Weiterhin unterscheidet Rösch zwischen verschiedenen Abstraktionsgraden, die zum Ausgangspunkt für Kategorienbildungen gewählt werden können.100 Klassenbezeichnungen mit unterschiedlichen Graden von Abstraktion und Inklusivität können einander zu-, beziehungsweise untergeordnet werden, beispielsweise: Pudef < Hund < Säugetier < Tier < Lebewesen Jede Klassenbezeichnung ist in der folgenden, höheren Bezeichnung enthalten und weniger abstrakt als diese; je mehr untergeordnete Klassen eine Bezeichnung enthält, desto abstrakter ist sie. In dem vorlie100
Rösch 1977a, S. 29ff.; dies. 1977b, S, 213ff.; dies. 1978, S. 30ff.
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genden Beispiel ist die unterste Bezeichnung "Pudel" auch in der übergeordneten Klassifizierung "Hund" enthalten, sie ist allerdings konkreter, also weniger abstrakt als "Hund". Die Bezeichnung "Lebewesen" schließt alle anderen Klassen mit ein, sie beinhaltet die größte Abstraktion. Es wird dabei deutlich, daß sich nicht alle Abstraktions stufen zu einer sinnvollen Kategorienbildung eignen: Die oberste Stufe ("Lebewesen") erscheint als zu abstrakt und zu allgemein - zu viele Objekte und Reize der Umwelt ließen sich ihr zuordnen -, die unterste Stufe ("Pudel") hingegen ist zu konkret, ihr entsprächen tatsächlich nur alle Pudel, und konsequenterweise müßte dann für jede denkbare Hunderasse eine eigene Kategorie gebildet werden. Im Rückblick auf das generelle Prinzip der kognitiven Ökonomie scheint es daher sinnvoll, einen Abstraktionsgrad zwischen den beiden extremen Stufen zu wählen und ihn zur Basis einer Kategorie zu machen. Dieser Grad an Abstraktion findet sich auf der sogenannten "Basisebene" ("basic level") zwischen übergeordneter Ebene ("superordinate level") und untergeordneter Ebene ("subordinate level"); es ist die Ebene, auf der bei einem größtmöglichen Abstraktionsgrad die größtmögliche Anzahl gemeinsamer Merkmale bei den meisten Elementen dieser Kategorie zu finden ist, d.h. es ist die Ebene, auf der die größtmögliche Menge an Information mit dem geringsten kognitiven Aufwand verarbeitet werden kann. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dieser Basisebene um die Klassenbezeichnung "Hund". Was hat dies aber mit der Erzähltheorie Stanzeis zu tun? Vergegenwärtigt man sich das Prinzip der kognitiven Ökonomie und vergleicht die Kategoriensysteme von Stanzel, Leibfried, Petersen und Füger, so scheint es, als sei allein in Stanzeis Typologie diese Forderung nach einem Ausgleich zwischen Abstraktion und Differenzierung auf gelungene Art und Weise umgesetzt und verwirklicht. Gewiß kann man die Bildung von Kategorien natürlicher Objekte und gegenständlicher Umweltreize nicht bedenkenlos mit der Bildung von Kategorien in theoretischen Modellen vergleichen; dennoch besit-
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zen die generellen Prinzipien der Kategorisierung universelle Bedeutung. Die Kategorien Stanzeis sind so gewählt, daß sie dem Prinzip der kognitiven Ökonomie entsprechen. Auktoriale ES, personale ES und Ich-ES umfassen jeweils die größtmögliche Anzahl von narrativen Erscheinungsformen mit der größtmöglichen Anzahl gemeinsamer Merkmale. In einem System erzähltheoretischer Klassenbezeichnungen wären diese drei Begriffe auf der Basisebene einzuordnen. Sie bieten folglich eine größtmögliche Menge an Information und erlauben eine Weiterverarbeitung mit geringem kognitiven Aufwand. Die Kategorien Leibfrieds können nun im Vergleich dazu als zu abstrakt, die Kategorien Fügers und Petersens als zu konkret charakterisiert werden; sie lassen sich der übergeordneten, beziehungsweise der untergeordneten Abstraktionsebene zuordnen, sind im ersten Fall also nicht differenziert genug, im zweiten Fall zu differenziert. Booths Frage nach dem Ort, an dem allgemeine Prinzipien zur Analyse und Beschreibung von Literatur zu finden sind, läßt sich unter Berücksichtigung der kognitionspsychologischen Erkenntnisse beantworten: Dieser Ort ist eine bestimmte Ebene der Abstraktion, die Basisebene. Stanzel arbeitet mit Begriffen dieser Ebene, berücksichtigt dadurch das Prinzip kognitiver Ökonomie und schafft so die idealen Voraussetzungen für die Anwendung seiner Kategorien. Im Gegensatz zu den Modellen von Leibfried, Füger und Petersen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, hat sich Stanzeis Typologie daher im praktischen Umgang bewährt. 6.2 Kategoriales und dimensionales Modell Stanzeis Theorie basiert auf Kategorien, die in vorteilhafter Weise ausgewogen sind; ihr Grad an Abstraktion einerseits und Differenzierung andererseits ermöglicht eine relativ genaue Zuordnung konkreter Erzähls ituationen. Ein weiterer Vorteil gegenüber den Modellen von Leibfried, Füger und Petersen zeigt sich darüber hinaus im Mischcharakter des Typenkreises, der sowohl Züge eines kategorialen als auch eines dimensionalen Modells trägt.
48 Zwar legt Stanzel seiner Systematik die Kategorien der drei ideal typischen Erzählsituationen zugrunde, doch nehmen diese in seinem Modeil hauptsächlich die Funktion von Orientierungspunkten auf einer kreisförmigen, in sich gerundeten Dimension - dem Typenkreis - an. Zwischen diesen Orientierungspunkten eröffnen sich zahllose Möglichkeiten für narrative Zwischenformen. Folglich ist Stanzel nicht auf die begrenzte Anzahl der von ihm explizit definierten Kategorien angewiesen, sondern kann Erzähltypen, die sich als Grenzfalle oder Übergangsformen entpuppen, flexibel in seinem Kreismodell einordnen. Füger, Petersen und Leibfried haben sich dieser Möglichkeit durch ihre starren Kategorienmodelle beraubt; dabei ist es völlig gleichgültig, wie viele exakt definierte und differenzierte Kategorien ihnen zur Verfügung stehen - Zwischenformen, wie sie die Literatur als lebendige Kunst nun einmal hervorbringt, entziehen sich ihrem Zugriff. Die vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, daß Stanzeis Modell der typischen Erzählsituationen deutliche Vorteile gegenüber anderen erzähltheoretischen Entwürfen hat. Ohne den wertenden Vergleich der verschiedenen Ansätze und Kategorisierungen weiter zu vertiefen, Kritikpunkte zu überprüfen und Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen - schließlich ist dies nicht das Thema der vorliegenden Arbeit -, soll an dieser Stelle die Entscheidung für Stanzeis Modell als Ausgangspunkt für einen neuen Ansatz im medienübergreifenden Vergleich zwischen literarischen Texten und deren Verfilmungen getroffen werden.101 Einsichtigkeit, Prägnanz, eine bekannte Terminologie und die Bewährung in zahlreichen literaturwissenschaftlichen Arbeiten und Die Beschränkung auf ein Erzählmodell und eine in sich stimmige Terminologie dient dazu, bei der Betrachtung und Analyse der literarischen Texte vergleichbare Kategorien zu schaffen und vergleichbare Maßstäbe anzulegen. Die zahlreichen Gegenentwürfe zu Stanzeis Modell zeigen, daß narrative Strukturen in der Literatur unter verschiedenen Schwerpunkten und Aspekten betrachtet werden können; im Hinblick auf einen Vergleich mit narrativen Strukturen im Film empfiehlt es sich jedoch, bereits bei den literarischen Texten ein einheitliches Kategorien- und Begriffssystem zu berücksichtigen, um so ein terminologisches Durcheinander und erzähltheoretische Unscharfen - wie sie beispielsweise in Hagenbüchles Vergleich narrativer Strukturen in Literatur und Film auftreten (siehe Einleitung) - zu vermeiden.
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Analysen, aber auch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an neue mediale Gegebenheiten zeichnen dieses Modell aus. Es dient daher als Grundlage für die folgenden Überlegungen zu Erzählsituationen im Medium Film generell und in einigen Beispielen verfilmter Literatur.
II. Mittelbarkeit des Films
1. Film als "unmittelbares Medium"? Die Mittelbarkeit literarischer Texte als Ergebnis der Vermittlung des Stoffes durch eine Erzählerfigur ist ein grundlegendes Merkmal ihres epischen Charakters und darüber hinaus eines der wichtigsten Gestaltungsmittel; ästhetische und literarische Qualitäten werden entscheidend durch den Prozeß der Vermittlung, durch die 'Inszenierung der Mittelbarkeit' sozusagen, geprägt. Wie verhält sich dazu nun das Medium Film? Stanzel unterstellt beiläufig dem Film eine "Tendenz zur Unmittelbarkeit" . Damit scheint ein fundamentaler Unterschied zwischen Film und epischer Literatur festgelegt zu sein, der ein Verständnis von Film als narrativem Medium und vor allem die Diskussion zum Problem der Literaturverfilmungen maßgeblich beeinflußt. Der Film als 'unmittelbares Medium' wäre per se nicht in der Lage, die narrativen Strukturen eines epischen Erzähltextes in ihren spezifischen, und d.h. in ihren künstlerischen und literarischen Eigenheiten nachzuvollziehen, entstehen diese doch hauptsächlich durch die Gestaltung des Erzählvorganges, durch die Mittelbarkeit. Die Umsetzung eines literarischen Werkes, das seine Qualitäten seiner episch bedingten Mittelbarkeit verdankt, das seine Wirkung zum großen Teil durch den bewußten Einsatz eines vermittelnden Erzählers erzielt, in ein Medium, das seinerseits dieser künstlerisch wirkungsvollen Mittelbarkeit völlig entbehrt, müßte von vornherein als gescheitert - oder zumindest: als in hohem Maße unbefriedigend - betrachtet werden. Insofern geht die Frage nach der Unmittelbarkeit, bzw. Mittelbarkeit des Films weit über ein rein theoretisches Interesse hinaus. Diese Frage wurde zudem - wenn auch in verschiedenen Formen - oft gestellt, wenn es um einen Vergleich zwischen den Möglichkeiten der Literatur und des Films ging; die Beurteilung der künstlerischen Qualität und eine Stanzel 1989, S. 118.
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nicht selten hierarchisierende Bewertung der beiden Medien standen dabei explizit im Mittelpunkt der Diskussion. So spricht Thomas Mann beispielsweise dem Medium Film in seinem 1928 entstandenen Essay "Über den Film"2 jegliche künstlerischen Qualitäten ab. "[...] mit Kunst hat, glaube ich, verzeihen Sie mir, der Film nicht viel zu schaffen, und ich halte es für verfehlt, mit der Sphäre der Kunst entnommenen Kriterien an ihn heranzutreten." 3
Zu dieser Einschätzung gelangt Mann durch die Erkenntnis, daß Kunst sich immer durch Mittelbarkeit auszeichne, durch eine Gestaltung des Künstlers, wohingegen Film lediglich ungestalteten Stoff wiedergebe, "Die Kunst ist kalte Sphäre [...]; sie ist eine Welt der Vergeistigung und hohen Übertragung, eine Welt des Stils, der Handschrift, der persönlichsten Formgebung, objektive Welt, Verstandeswelt [...] - bedeutend, vornehm, keusch und heiter, ihre Erschütterungen sind von strenger Mitteilbarkeit, man ist bei Hofe, man nimmt sich wohl zusammen. Dagegen ein Liebespaar der Leinwand, zwei bildhübsche junge Leute, die in einem wirklichen Garten mit wehenden Gräsern 'auf ewig' voneinander Abschied nehmen, zu einer Musikbegleitung, die aus dem Schmeichelhaftesten kompiliert ist, was aufeutreiben war: wer wollte da widerstehen, wer ließe nicht wonnig rinnen, was quillt? Das ist Stoff, das ist durch nichts hindurchgegangen, das lebt aus erster, warmer, herzlicher Hand, das wirkt wie Zwiebel und Nieswurz, die Träne kitzelt im Dunkeln, in würdiger Heimlichkeit verreibe ich sie mit der Fingerspitze auf den Backenknochen."^
Mit anderen Worten; Dem Film als 'unmittelbarem Medium' fehlt die Mittelbarkeit, wie sie z.B. in einem literarischen Werk deutlich wird, und daher jeder Bezug zur Kunst. Daß Mann sich allerdings selbst widerspricht, indem er die "Musikbegleitung" erwähnt, "die aus dem Schmeichelhaftesten kompiThomas Mann: Über den Film. (Gesammelte Werke in dreizehn Banden, a.a.O., Bd. X, S. 898-901.) Ebd., S. 899. Ebd., S. 900. - Bezeichnenderweise zitiert Arnheim Auszüge dieses Textes von Mann mit einer geringfügigen Abweichung: Statt korrekt "Mitteilbarkeit", zitiert er zweimal "Mittelbarkeit". (Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt a.M. 1988, S, 155.)
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Hert ist, was aufzutreiben war", - also eine deutliche Form gestaltenden Eingreifens, sei sie nun kunstvoll oder eher plump - und gleich darauf feststellt, dieser "Stoff [sei] durch nichts hindurchgegangen", soll hier nur am Rande vermerkt werden. Interessanterweise erkennt er allerdings, daß der Film - wenn überhaupt - eine engere Verwandtschaft zur epischen Literatur zu haben scheint als zur dramatischen Literatur, führt dies jedoch nicht zurück auf eine Ähnlichkeit in der narrativen Gestaltung, respektive einer epischen Mittelbarkeit, sondern auf die Realitätsillusion, die sowohl Epik als auch Film von der abstrakten Scheinwelt des Dramas unterscheidet.5 Auch wenn sich Manns Meinung dem Film gegenüber in späteren Jahren ändern sollte,6 so glaubte er doch zu diesem Zeitpunkt - 1928 -, daß das neue Medium allen Formen der Kunst durch seinen Mangel an Mittelbarkeit unterlegen sei.
Mann: Über den Film, a.a.O., S. 900. Vgl. zum Eindruck der Realitätsillusion im Film auch Metz, a.a.O., S. 20-35, und Wolfram Buddecke/Jörg Hienger: Abbild und Einbildungskraft - zur Rezeption audiovisueller Texte. In: Schöne (Hrsg.) 1986, a.a.O., S, 286-292. So schrieb Mann beispielsweise L955 in dem kurzen Artikel "Film und Roman" (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, a.a.O., Bd. X, S. 936f.): "Auch als Kunst hat der Film seine eigenen Gesetze, die sich zum Teil mit den gewerbsmäßigen berühren; aber es gibt so manchen Film von höherern künstlerischen Wert, als ein mittelmäßiger Roman ihn besitzt, so daß die allgemeine Frage nach der Rangordnung von Film und Roman praktisch nur nach dem speziellen Rang der Vergleichsobjekte beantwortet werden kann. Die technische und künstlerische Entwicklung des Films in den letzten Jahrzehnten ist so imposant, daß mein Interesse an ihm beständig wächst und ich mir die Übertragung meiner eigenen Erzählwerke auf die Leinwand lebhaft wünsche!..,]". (Ebd., S. 937.) Vgl. dazu auch Gabriele Seitz: Film als Rezeptionsform von Literatur. Zum Problem der Verfilmung von Thomas Manns Erzählungen "Tonio Kroger", "Wälsungenblut" und "Der Tod in Venedig". 2. Auflage, München 1981, S. 3 Iff. und dies. (Hrsg.): Der Zauberberg. Ein Film von Hans W. Geißendörfer nach dem Roman von Thomas Mann. Frankfurt a, M. 1982, S . 21 ff.
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"Das Kino bedeutet ein Genre für sich", stellt Max Bruns7 anläßlich einer Umfrage des Börsenblatts für den deutschen Buchhandel im Jahre 1913 fest, "und zwar aller Kunst gegenüber selbstverständlich ein grobes und minderwertiges. Es wird seinen ästhetischen Reiz haben, sobald es seinen Stil gefunden und ausgebildet haben wird, - aber weder dem des Bühnendramas noch dem des Buches wird dieser durch photomechanische Technik übermittelte Reiz je gleichkommen." Ahnlich krass formuliert Erich Oesterheld im gleichen Jahr seine ablehnende Haltung dem Film gegenüber in einem Artikel für Franz Pfemferts fortschrittlich-avantgardistische Zeitschrift "Die Aktion";8 seine negative Einschätzung entspringt ebenfalls der Überzeugung, der Film - er spricht von "Kinopest"" - sei im Vergleich zur Literatur ein zu oberflächliches, zu 'unmittelbares Medium': "Die Filmwirkung ist die bewußte und notwendige Ausschaltung von Gedanken und Wort, gibt nur Raum und Vorgang, gibt nur Bild im Bilde, ist also eine schematische Veräußerlichung jener Kunstform, an der Genie und Geist von Jahrhunderten gearbeitet haben. Die Masse ist der natürliche Feind des Gedankens: ihr genügt die Oberfläche des Geschehens, die logische Aneinanderreihung von Bild an Bild, die Gehirn und Seele ausschaltet, so wie den Oberflächlichen der äußere Mensch für die ganze Persönlichkeit genügt. Sie ist infolgedessen auch der geborne Interessent des Kino und reißt, stromartig, auch die edleren Teile des Volkes mit sich. Das Theater erfordert, soweit es Kunst bietet, Einstellung, Organ, Resonanzfähigkeit, die zum edlen Mark des Volkes gehören. Der schlimmste Feind des Künstlerischen ist die Veräußerlichung, und somit stehen sich Theater und Kino als extreme Pole feindlich und unversöhnbar gegenüber." ^
Vier Jahre zuvor, 1909, erkannte Alfred Dublin11 im Gegensatz dazu bereits das Potential des Films und stellte, wenn auch ironisch gebro-
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Max Bruns; Kino und Buchhandel. (Eine Umfrage des Börsenblatts für den deutschen Buchhandel) In: Anton Kaes (Hrsg.): Kino-Debatte. Texte zum Verständnis von Literatur und Film 1909-1929. Tübingen 1978, S. 83-93, S. 87. Erich Oesterheld: Wie die deutschen Dramatiker zu Barbaren wurden. In: Kaes (Hrsg.) 1978, a.a.O., S. 96-100. Ebd., S. 99. Ebd.,5.99. Alfred Döblin: Das Theater der kleinen Leute. In: Ders.: Kleine Schriften I, Herausgegeben von Anthony W. Riley. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden,
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eben, fest: "Oh diese Technik ist sehr entwicklungsfähig, fast reif zur Kunst."12 Nennt er aber den Film wenige Zeilen später eine "sehr blutige Kost"13, so scheint hier erneut das Mißtrauen eines Literaten diesem jungen Medium gegenüber durch, das sich nicht kunstvoll formen und gestalten läßt wie die Sprache. Dreizehn Jahre später, 1922, fühlt sich Döblin in seiner skeptischen Haltung bestätigt;14 er unterstellt dem technischen Medium Film, die dichterische Phantasie, die ihren Ausdruck durch die Sprache findet, auf eine rein optische, d.h. grobe, oberflächliche und der literarischen Kunstfertigkeit unterlegene Wirkung zu reduzieren. Die Sprache ist der Ursprung, das Instrument und gleichzeitig der Maßstab der Mittelbarkeit, und der Mangel an Sprache, der den Film bis 1927 kennzeichnet, wird für den Sprachkünstler Döblin gleichbedeutend mit Mangel an Kunstfähigkeit. Seine geringschätzige Haltung dem kommerziellen Film gegenüber - dem Film als narrativem Medium; den naturwissenschaftlichen Film ("Biologisches und sonstiges."15) grenzt er aus seiner Kritik aus - hat sich seit 1909 verschärft und spiegelt sich in seinen Worten deutlich wider: "Der heutige Film ist ein Zufallsprodukt der gegenwärtigen Technik. Die steht in den Anfängen [...]. Das Erzeugnis einer noch kindlichen Technik darf nicht gleich auf 'Kunst' drängen (Lottchen will mit zehn Jahren 'auf der Bühne'), [...] Filme sind nicht Produkte der Kunst, sondern Kunstprodukte. [...] Die mangelhafte Differenzierung des Filmpublikums: noch wenig wird für gewähltere Zuschauer gearbeitet; alles soll gleich für sehr viele sein. [...] Profit gegen Kunst. Der grausige Warencharakter des Films. [...]
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Begründet von Walter Muschg in Verbindung mit den Söhnen des Dichters,) Olten/Freiburg im Breisgau 1985, S. 71-73. Ebd., S. 72. Ebd., S, 73. Alfred Döblin: [Über den Film] In: Ders.: Kleine Schriften H. Herausgegeben von Anthony W. Riley. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begründet von Walter Muschg in Verbindung mit den Söhnen des Dichters.) Olten/Freiburg im Breisgau 1990, S. 124-126. Ebd., S. 125.
55 Summa: das Fümmaterial ist nicht kunstfähig. Die Surrogate sind möglich, kunstähnliche Produkte, kunstähnliche Einzelheiten. Man bescheide sich." ^
Döblins Verhältnis zum Medium Film scheint sehr zwiespältig.17 In seiner Äußerung aus dem Jahre 1909 zeigt sich bereits die Erkenntnis, daß der Film zu weitaus mehr fähig ist, als es zunächst den Anschein hat. ZmegaC sieht darin "eine[n] ersten verhaltenen Applaus Döblins für die bewegten Streifen"18. Seine spätere Stellungnahme hingegen wertet den Film im Vergleich zur Literatur deutlich ab; gleichwohl gestand Dublin dem Kino stets einen besonderen Platz zu, respektierte dessen Unterhaltungswert und versäumte es nicht, selbst an Filmentwürfen zu arbeiten. Darüber hinaus war er davon überzeugt, daß durch die Übernahme filmischer Erzählprinzipien in die Literatur viel für die moderne Epik zu gewinnen sei. In seiner programmatischen Schrift "An Romanautoren und ihre Kritiker" (1913)19 fordert er einen "Kinostil"20 für die zeitgenössische Literatur, einen Stil, der die Unmittelbarkeit des frühen Films - garantiert durch die reine, unverfälschte Abbildung der Wirklichkeit dank der photographischen Technik - und dessen ungezwungene Darstellung der sichtbaren Welt ohne
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Ebd., S. 125. Vgl. dazu Helmuth Kiesel: Döblin und das Kino, Überlegungen zur 'Alexanderplatz1 -Verfilmung. In: Werner Stauffacher (Hrsg.): Internationale Alfred-Döblin-Kolloquien: Münster 1989 - Marbach a.N. 1991. (Jahrbuch für Internationale Germanistik: Reihe A, Kongressberichte; Bd. 33) Bern/ Berlin/Frankfurt a.M./New York/Par is /Wien 1993, S. 284-297; Eggo Müller: Adaption als Medienreflexion. Das Drehbuch zu Phil Jutzis Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin und Hans Wilhelm. In: Alexander Schwarz (Hrsg.): Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis. (Diskurs Film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie. Bd. 5. Herausgegeben von Ludwig Bauer, Elftiede Ledig, Michael Schaudig.) München 1992, S. 91-115, S. 94ff. -j ·.- ' Viktor Zmegac: Döblin im Kontext der literarischen Moderne. In: Stauffacher (Hrsg.) 1993, a.a.O., S, 12-25, S. 17. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, Berliner Programm. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters herausgegeben von Walter Muschg.) Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S, 15-19. Ebd., S. 17. Vgl. dazu auch Kapitel VII.
56 eine harmonisierende Auflösung oder psychologisierende Erklärung komplexer Sachverhalte in der epischen Dichtkunst nachbilden soll. Döblins Vorstellung, daß die Wirkung der Unmittelbarkeit, die den Film kennzeichnet, ein bereicherndes Element für die Literatur sein könnte, impliziert die Anerkennung des Eigenwertes dieses filmischen Charakteristikums und weist damit bereits voraus auf die Position des Filmtheoretikers Siegfried Kracauer. Kracauer21 betont ebenfalls die Unmittelbarkeit des Films, sieht aber darin - anders als die Literaten in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts - gerade die Stärke dieser "Kunst, die anders ist"22. Die traditionelle Kunst, so Kracauer, lebt von der Gestaltung und der Mittelbarkeit, sie formt ihren Stoff nach künstlerischen Gesetzen und Maßstäben, aber dadurch verfremdet sie ihn auch. Im Gegensatz dazu bemüht sich der Film um die Erhaltung des Stoffes in seinem natürlichen, ungeformten Zustand; er zeigt die Dinge, wie sie sind. "Strenggenommen stellen Malerei, Literatur, Theater usw., soweit sie Natur überhaupt einbeziehen, diese gar nicht dar. Sie benutzen sie vielmehr als Rohmaterial für Werke, die den Anspruch auf Autonomie stellen. Im Kunstwerk bleibt vom Rohmaterial selbst nichts übrig; oder genauer gesagt, alles, was davon übrigbleibt, ist so geformt, daß es die Intentionen des Kunstwerks erfüllen hilft. In gewissem Sinne verschwindet das realistische Material in den Intentionen des Künstlers. Seine schöpferische Fantasie mag sich zwar an realen Gegenständen und Ereignissen entzünden, aber anstatt sie in ihrem amorphen Zustand zu bewahren, gestaltet er sie spontan im Einklang mit den Formen und Vorstellungen, die sie in ihm wachrufen. Das unterscheidet den traditionellen Künstler, sei er Maler oder Dichter, vom Filmregisseur; ungleich diesem würde er aufhören, Künstler zu sein, wenn er Leben im Rohzustand, wie es von der Kamera wiedergegeben wird, seinem Werk einverleibte. Wie realistisch er auch sein mag, er überwältigt eher die Realität, als daÖ er sie registriert." 23
Die Mittelbarkeit der Kunst fuhrt dazu, daß das Werk des Künstlers eher dem Entwurf eines Ideals gleicht als der unverfälschten Abbildung
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23
Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1964. Ebd., S. 389. Ebd.,S.389f.
57 der Wirklichkeit. Die "Funktion [dieser Kunst] ist nicht, die Realität widerzuspiegeln, sondern eine Vision von ihr zu vergegenwärtigen. Kunst geht von oben nach unten"24, von einer bestimmten Vorstellung der Welt zu ihrer Darstellung, die durch diese determinierende Vorstellung gefiltert und geformt wird. Anders der Film: Er ist "materialistisch gesinnt", "bewegt sich von 'unten' nach Oben'."25 Er bildet zunächst lediglich ab, zeigt die unverstellte Realität und führt den Betrachter, der die Bilder sinnstiftend wahrnimmt, von ihr aus zu den Ideen, die hinter und über den Dingen stehen. Durch die direkte Kraft seiner Bilder erlangt der Film seine Unmittelbarkeit, die ihn vor allen anderen Kunstformen auszeichnet; und in dieser Unmittelbarkeit glaubt Kracauer gerade das besondere Verdienst des Films zu erkennen. "Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war, eine Welt, die sich dem Blick so entzieht wie Poes gestohlener Brief, der nicht gefunden werden kann, weil er in jedermanns Reichweite liegt." 2*> Der Film als technisches Medium ermöglicht eine Wahrnehmung der Dinge, die vorher nicht möglich schien, da die Realität in den traditionellen Kunstformen stets nur mittelbar dargestellt wurde. "Zunächst muß daran erinnert werden, daß die physische Natur beständig durch Ideologien verhüllt worden ist, deren Manifestationen auf den einen oder anderen Gesamtaspekt des Universums bezogen waren. (Sosehr auch realistische mittelalterliche Maler sich in der Darstellung des Häßlichen und Grauenhaften ergehen, die Realität, die sie aufzeigen, läßt Unmittelbarkeit vermissen; sie taucht nur auf, um wieder durch Arrangements kompositioneller oder anderer Art verzehrt zu werden, die ihr von außen auferlegt sind und hol istische Vorstellungen wie Sünde, Jüngstes Gericht, Erlösung und dergleichen widerspiegeln.) Bedenkt man aber den Zusammenbruch traditioneller Werte und Normen, dann ist diese Erklärung unseres Versagens, die Welt um uns her wahrzunehmen, nicht länger überzeugend. Es scheint in der Tat logisch, den Schluß zu ziehen, daß jetzt, in einer 24 25
26
Ebd., S. 390. Ebd., S. 400.
Ebd., S, 388.
58 Zeit des Zerfalls der Ideologie, materielle Objekte ihrer Hüllen und Schleier ledig sind, so daß wir sie um ihrer selbst willen zu würdigen vermögen. [...] Der wirklich entscheidende Grund für die Fremdheit physischer Realität liegt in unserer Gewöhnung an abstraktes Denken unter der Herrschaft von Wissenschaft und Technik. Kaum befreien wir uns von den 'alten Glaubensinhalten', so werden wir dazu veranlaßt, die Qualitäten der Dinge zu eliminieren. So ziehen sich die Dinge weiter zurück. Und sicherlich sind sie um so ungreifbarer, als wir gewöhnlich nicht umhin können, sie aus der Perspektive konventioneller Meinungen und Zwecke zu betrachten, die über ihr in sich geschlossenes Sein hinausweisen. Daher würde es uns, wäre nicht die Filmkamera erfunden worden, eine enorme Anstrengung kosten, die Schranken zu überschreiten, die uns von unsrer alltäglichen Umgebung trennen." 27
Die Unmittelbarkeit des Mediums Film macht es somit zum geeigneten Instrument zur "Errettung der äußeren Wirklichkeit"28. Im Gegensatz zu Mann, Bruns, Oesterheld und - mit den genannten Einschränkungen - Dublin sieht Kracauer in der scheinbar mangelnden Mittelbarkeit des Films keinen Nachteil, der ihn gegenüber anderen Künsten, vor allem gegenüber der Literatur, abwerten könnte.29
2. "Film als Kunst" Eine völlig andere Position nimmt Amheim in seiner 1932 veröffentlichten filmtheoretischen Schrift mit dem programmatischen Titel "Film als Kunst"30 ein. Er betont die Mittelbarkeit des Mediums Film und untersucht die einzelnen Komponenten der Gestaltung - Bildausschnitt, Perspektive, Licht, Montage etc. - ausführlich; damit macht er den vermittelten, künstlichen Charakter des Films deutlich und tritt für eine Anerkennung des jungen Mediums als eigenständige Kunstform ein. 27
2Ä 29
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Ebd., S. 388f. So auch der Untertitel von Kracauers "Theorie des Films". Vgl. zur Auseinandersetzung der Literaten mit dem Medium Film auch HeinzB. Heller: Literarische Intelligenz und Film. Zu Veränderungen der ästhetischen Theorie und Praxis unter dem Eindruck des Films 1910-1930 in Deutschland. (Medien in Forschung + Unterricht, Bd. 15) Tübingen 1985. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt a.M. 1988,
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Dabei stellt er den Film auf eine Stufe mit den traditionellen Künsten: "Mit dem Film steht es ebenso wie mit Malerei, Musik, Literatur, Tanz: man kann die Mittel, die er bietet, benutzen, um Kunst zu machen, man braucht aber nicht. Bunte Ansichtspostkarten zum Beispiel sind nicht Kunst und wollen auch keine sein. Ein Militärmarsch, eine Magazingeschichte, ein Nacktballett ebensowenig. Und Kientopp ist nicht Film. Aber viele wertvolle, gebildete Menschen leugnen bis heute, daß der Film auch nur die Möglichkeit habe, Kunst zu sein." 31
Arnheim selbst verteidigt dagegen entschieden den Anspruch des künstlerischen Films - allerdings nicht ohne kritischen Blick auf die tatsächliche Filmproduktion seiner Zeit -, der ebenso wie die Literatur durch kreative Gestaltung und die gekonnte Anwendung seiner spezifischen Mittel Kunstwerke hohen Ranges hervorzubringen vermag. "In der Tat machen die allermeisten Filmregisseure von den Kunstmitteln des Films {...] keinen sehr originellen Gebrauch. [...] Es geht ihnen, ihren Auftraggebern und ihrem Publikum um den Stoff und nicht um die Form. Aber es gibt Beispiele genug dafür, daß man auch besser arbeiten kann; nicht viele vollendete Kunstwerke von einheitlichem und geschlossenem Guß - dafür ist diese Kunst noch zu jung, dafür tastet sie noch zu sehr an ihren Ausdrucksmitteln herum aber doch Filme genug, die in einzelnen Szenen, in einzelnen Bildeinfällen, im Spiel einzelner Darsteller zeigen, was sein könnte, was noch ungehoben verborgen Hegt, Und es ist, vor allem in der Kunst, nicht verboten, sich an das wenige Gute zu halten, statt an das viele Schlechte." ^2
So kritisiert er Thomas Manns Position, wie sie sich in dessen Essay "Über den Film" darstellt, und wirft ihm vor, sich eben nur an den schlechten Beispielen des Films zu orientieren, wohingegen er an künstlerisch herausragenden Filmen verdeutlicht, daß das junge Medium durchaus Möglichkeiten zur Gestaltung und kunstvollen Präsentation seiner Stoffe bietet. "Hier ist nur der Ort, die Behauptung zurückzuweisen, Film sei ungeforrnte Wirklichkeit, eine bloße Lebenserscheinung, Rohstoff und unmittelbare Abbil31 32
Ebd., S. 23. Ebd., S. 156.
60 dung, im Gegensatz zu der 'strengen Mittelbarkeit' der Kunst. [...] Denn wo eine solche Überfülle der Mittel zur Verfügung steht, um den Rohstoff der Wirklichkeit zu sichten, zu formen, zu stilisieren und umzubilden, da ist alle Möglichkeit zu persönlicher Handschrift, zu 'Stil' und verstandesmäßiger Gesetzlichkeit gegeben. Thomas Mann belegt in dem erwähnten Aufsatz seine Meinung mit rührseligen Liebesszenen aus Filmen, die er zufällig gesehen hat. Es sind Filme, wie man sie alle Tage sehen kann, weil sie in der Mehrzahl sind. Aber mit dem Film, wie er ist, widerlegt man nicht den Film, wie er sein könnte. "·"
Ebenfalls aus den dreißiger Jahren stammt die folgende Einschätzung des Kunsthistorikers Panofsky, die in den vergangenen sechzig Jahren mit Sicherheit nichts an Aktualität verloren hat; "Heute ist offensichtlich, daß Spielfilme nicht nur 'Kunst' sind - selten große Kunst, sicherlich, aber das ist in anderen Gattungen genauso -, sondern außer der Architektur, der Karikatur und der Gebrauchsgrafik auch die einzige bildende Kunst, die wirklich lebt. Der Film hat wieder eine lebendige Beziehung hergestellt zwischen Kunstschaffen und Kunstgebrauch, eine Beziehung, die auf vielen anderen Gebieten künstlerischer Tätigkeit sehr gelockert, wenn nicht gänzlich unterbrochen ist - aus Gründen, die zu komplex sind, als daß man sie hier erörtern könnte. Ob man darüber erfreut ist oder nicht: der Film bestimmt stärker als jeder andere Einzelfaktor die Meinungen, den Geschmack, die Sprache, die Kleidung, das Benehmen, ja sogar die äußere Erscheinung eines Publikums, das mehr als 60 Prozent der Erdbevölkerung umfaßt. Wenn alle seriösen Lyriker, Komponisten, Maler und Bildhauer gesetzlich gezwungen würden, ihre Tätigkeit einzustellen, würde das nur ein ziemlich kleiner Teil des allgemeinen Publikums bemerken und ein noch kleinerer es wirklich bedauern. Geschähe dasselbe für den Film, wären die sozialen Folgen unabsehbar." 3^
Nach 100 Jahren Eilmgeschichte steht es heute außer Frage, daß das Medium Film eine bedeutende Kunstform ist, die eigene Gesetze, eigene Stile, ja sogar eigene 'Epochen' entwickelt hat. Die Bandbreite künstlerischen Gestaltern im Prozeß des filmischen Erzählens ist nahezu unüberschaubar geworden, da dem Film - im Ver33
34
Ebd., S. 155. Erwin Panofsky: Stil und Stoff im Film. In: Filmkritik, Nr. 6, 1967 (Vol. 11), S. 343-355, S. 344. Der Aufsatz erschien zuerst 1934 unter dem Titel Style and Medium in the Motion Picture im Bulletin of the Department of Art and Archeology der Universität Princeton,
61 gleich zur Literatur, zur Musik oder zu den bildenden Künsten - ein größeres Spektrum an Gestaltungsbereichen zur Verfügung steht: Mise-en-sc£ne - die Inszenierung der Bilder, die sowohl Einstellungsgröße, Perspektive, Beleuchtung und Farbgestaltung als auch Bewegungen, Fahrten und Schwenks der Kamera umfaßt -, Montage - die kontinuierliche Anordnung und zeitliche Dauer der Bilder, die rhythmische Verkettung einzelner Einstellungen zu Szenen, Sequenzen und narrativen oder deskriptiven Syntagmen -, Ton - Sprache und Geräusche, die, synchron oder asynchron, diegetisch oder nicht-diegetisch,35 jeweils unterschiedliche Grade der Real itätswiedergäbe evozieren können und Musik - diegetische Musik als Element der dargestellten Handlung und nicht-diegetische Musik als Illustration oder Kommentierung der Handlung, als Mittel der Parodie oder als Zitat.36 All diese Faktoren tragen dazu bei, eine künstlerische Gestaltung im Film wirksam werden zu lassen; und niemand wird bezweifeln, daß diese Faktoren - jeder für sich allein und alle zusammen umso mehr Instrumente der Mittelbarkeit darstellen. "Die von der Kamera gezeigten Bilder tun so, als ob sie Realität abbildeten", so Monika Reif37, "während sie jedoch in einem bewußten -3C !J
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Zur Erklärung des Begriffes Diegese siehe Metz, a.a.O., S. 137f.: "Das Wort kommt aus dem Griechischen (...l, wo es 'Erzählung' bedeutet und speziell einen der obligaten Teile der judizialen Rede bezeichnete, nämlich die Darlegung der Fakten. Im Zusammenhang mit dem Kino wurde der Begriff von Etienne Souriau aufgegriffen; er bezeichnet die dar gestellte Instanz des Films [...], d.h. im Grunde die Gesamtheit der filmischen Denotation: die Erzählung selbst, aber ebenso die fiktive Zeit und den fiktiven Raum, die in dieser und durch diese Erzählung impliziert sind, und dadurch auch die Personen, die Landschaften, die Ereignisse und die anderen narrativen Elemente, soweit sie in ihrer denotierten Form betrachtet werden." ^ Vgl. hierzu H ans martin Siegrist: Textsemantik des Spielfilms, Zum Ausdruckspotential der kinematographischen Formen und Techniken. (Medien in Forschung + Unterricht, Bd, 19) Tübingen 1986, der die Gestaltungsmöglichkeiten des Films an zahlreichen Beispielen darstellt und in ihren Wirkungen interpretiert. " Monika Reif: Film und Text. Zum Problem von Wahrnehmung und Vorstellung in Literatur und Film. (Medienbibliothek, Serie B, Bd. 5) Tübingen 1984, S. 19.
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Akt der Selektion diese Einzelansichten der Welt durch Entfernung, Blende, Winkel, Licht etc. verfremden und als durch einen fremden Blick bereits Gestaltetes uns zur Anschauung bringen. In diesem Sinne ist das, was wir wahrnehmen, wenn wir einen Film sehen, immer schon die Repräsentation einer anderen Vorstellung und ästhetisch vermittelt. " Die Ausschaltung der Unmittelbarkeit beginnt bereits bei der Wahl der Einstellungsgröße vor und während der Dreharbeiten, und bis hin zum letzten Abschnitt der Filmproduktion durchläuft das ' Rohmaterial', das natürlich kein Rohmaterial im eigentlichen Sinne ist,38 zahlreiche Stationen, bei denen technische und künstlerische Entscheidungen maßgeblich Einfluß nehmen auf Gestalt und Aussehen, Intention und Qualität des Endproduktes. Film - vor allem der narrative Spielfilm, aber auch der scheinbar objektive Dokumentarfilm - ist kein Medium, das unmittelbarer als andere Kunstformen Wirklichkeit einfangt und wiedergibt, er ist vielmehr ein artifizielles Gebilde, bei dessen Entstehungsprozeß bereits von Anfang an die selektive, vermittelnde und künstlerisch gestaltende Hand des Schöpfers wirksam wird. So könnte man Arnheim uneingeschränkt zustimmen und die Argumente von Mann, Döblin, Oesterheld und Kracauer als falsch abtun. Man wird ihnen damit jedoch nicht gerecht, denn auch in ihren Überlegungen steckt Wahrheit. Im Falle Döblins ist dies eine historische Wahrheit: Im Jahre 1909, als er seine ersten kritischen Worte formulierte, hatte eine Art 'künstlerischer FÜmsprache' gerade erst begonnen, sich - hauptsächlich im anglo-amerikanischen Raum - zu entwickeln. Gemeint sind damit die Produktionen von George A, Smith, James Williamson, Robert W. Paul und Cecil Hepworth in England und Edwin S. Porter und David W. Griffith in den Vereinigten Staaten, die Einstellungen mit verschiedenen Größen und unterschiedlichen räumAls Rohmaterial kann man genau genommen nur den unbelichteten Filmstreifen bezeichnen; im Augenblick der Aufnahme wird man bereits im Bereich der Mise-en-scene {Bildgestaltung} künstlerisch tätig. Die einzelnen, noch unmontierten Filmstreifen tragen also schon unmittelbar nach ihrer Belichtung Spuren einer künstlerischen Gestaltung.
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lichen Zusammenhängen in der ablaufenden Handlung zusammenschnitten, um deren Wirkungen im narraü'ven Kontext zu erproben, Produktionen also, die man durchaus als formale Experimente bezeichnen kann.39 Zu diesem Zeitpunkt war das Medium Film - zumal der europäische Film - künstlerisch noch so unentwickelt, daß Döblin aufgrund der Filme, die er bis 1909 hatte sehen können, zu recht ein Defizit an Ausdruck und Stil feststellte. Fast 20 Jahre später, als Mann sich nicht wesentlich anders über den Film äußerte, hatte sich dieser Zustand allerdings erheblich verändert,40 und auch der deutsche Film hatte in diesem Zeitraum Werke hervorgebracht, die damals bereits gerühmt wurden und heute allgemein als Klassiker ihrer Gattung weltweit Anerkennung genießen, so zum Beispiel "Der Student von Prag" (1913) von Stellan Rye, "Das Kabinett des Dr. Caligari" (1919) von Robert Wiene, "Der müde Tod" (1921), "Die Nibelungen" (1923/24) und "Metropolis" (1927) von Fritz Lang und "Nosferatu" (1922), "Der letzte Mann" (1924) und "Faust" (1926) von Friedrich W. Mumau. Diese Filme hätte Mann kennen können; hier ist also Arnheims Vorwurf berechtigt, daß man sich zu sehr an den vielen schlechten Beispielen orientiert und die wenigen guten ignoriert. Kracauer seinerseits, der die Unmittelbarkeit als herausragende Eigenschaft des Films rühmt, bezieht sich hauptsächlich auf die photographischen Qualitäten des Filmbildes, das bis zu einem gewissen Grad die (abgelichtete) Wirklichkeit tatsächlich unverzerrt und unverstellt reproduzieren kann; Arnheim hingegen stellt den Film als narratives Medium in den Mittelpunkt seiner Theorie, d.h. er thematisiert nicht die photographische Funktion des Films als Abbildungsinstru~'":
41
Vgl. Monaco, a.a.O., S, 257f. und Joachim Paech: Literatur und Film. (Sammlung Metzler, Bd. 235) Stuttgart 1988, S. 17ff., S. 33f. und S. 45ff. Vgl. dazu Manfred Brauneck: Einige Anmerkungen zur Frühgeschichte des Films. In: Ders. (Hrsg.): Film und Fernsehen. Materialien zur Theorie, Soziologie und Analyse der audiovisuellen Massenmedien. Bamberg 1980, S. 7-20: Brauneck stellt die Entwicklung des Films und den Wandel in seiner gesellschaftlichen Funktion und Anerkennung innerhalb der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dar. Arnheim, a.a.O., S. 156.
64 ment, sondern die erzählende, expressive Funktion des Films als Handlungsträger. An den unterschiedlichen Positionen Kracauers und Arnheims zeigt sich im übrigen eine Dichotomic, die seit den ersten Jahren der Entwicklung des Films bestand, heute allerdings nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt: die Spaltung zwischen einer filmischen Darstellung, die sich ganz der Wirklichkeit verpflichtet fühlt und ihr Material daher möglichst naturgetreu aus der Realität bezieht, und einer Darstellung, die alle filmtechnischen Möglichkeiten ausschöpft, um ihr Material künstlerisch zu gestalten und dadurch formal und intentional anzureichern, die Spaltung also zwischen Realismus und Expressionismus.42 Kracauers Überlegungen sind somit nicht völlig von der Hand zu weisen; seine Aussagen über die Unmittelbarkeit des Films müssen aufgrund seines Interessenschwerpunktes ebenso relativiert werden wie die überaus kritischen Äußerungen der Literaten aufgrund der Filmerfahrungen ihrer Zeit.43 Im vorliegenden Kontext jedoch, dem Vergleich von Erzählsituationen in Literatur und Film, erweist sich Arnheims Betrachtungsweise des Films als narratives, expressives und vor allem 'mittelbares Medium' zweifellos als die überzeugendere Position, die im Laufe dieses Jahrhunderts nicht zuletzt auch kunsthistorisch bestätigt wurde.44 Und obgleich sich seit Amheims kritischer Diagnose der Filmproduktion in den frühen dreißiger Jahren das Verhältnis der geringen Anzahl derjenigen Werke, die als gute Beispiele für eine kunstvolle Handhabung des Mediums Film gelten dürfen, im Vergleich zur Masse je* ner, die eher Durchschnittlichkeit repräsentieren oder einfach schlecht sind, kaum verändert zu haben scheint, wird das künstlerische Potential, das der Film birgt, heute nicht mehr bestritten. 42
Vgl. Monaco, a.a.O., S. 347ff. Semiotische und wahrnehmungspsychologische Faktoren, die den Eindruck der scheinbaren Unmittelbarkeit des Mediums Film fordern, werden an dieser Stelle zunächst ausgeklammert und im Kapitel HI/3, kurz thematisiert. Vgl zum Themenkomplex Film und KunstIFilm als Kunst auch Monaco, a.a.O., S, lift", und Charles Eidsvik: Cineliteracy. Film Among the Arts. New York 1978.
65 Das Pendel, das sich zu Beginn dieses Jahrhunderts nur in die eine Richtung bewegte und am Ende seines Bogens lange in einer Position verhielt, die Geringschätzung und Mißachtung der künstlerischen Möglichkeiten des Films bedeutete, ist nun zurückgeschwungen und hat dabei - zumindest vorübergehend - die entgegengesetzte Position erreicht, in der der Film für viele den vorläufigen Höhepunkt in der Entwicklung der zeitgenössischen Erzählkunst verkörpert. "Das prävalente Medium der Erzählkunst im 20. Jahrhundert", so Bisanz45, "ist und bleibt der multidimensionale Film, ein überaus Versailles Vehikel zur Vermittlung narrativer Inhalte, das nicht nur das Erbe der [sie!] Romans mit adäquateren Techniken fortsetzte, sondern diesen selbst in seiner Struktur regeneriert hat," Und Hagenbüchle resümiert: "Beobachtet man abschliessend die Leistungsfähigkeit der beiden Medien in bezug auf erzählerische Verfahrensweisen, so kann man heute, rückblickend auf ein gemeinsames Jahrhundert von Film und Literatur, subsumieren, daß der Film in der Darstellung narrativer Fiktion in kurzer Zeit wesentlich subtilere Techniken und Strategien entwickelt hat, als die Literatur im gesamten Zeitraum ihrer Existenz je hatte entwickeln können {...].'"*
Das Pendel wird weiterschwingen.
3. Kunst und Kino - Ein Exkurs Die Diskussion um den künstlerischen Wert des Films scheint als eine historische Debatte längst beigelegt und entschieden zu sein; gebunden an das erste Drittel dieses Jahrhunderts, an jene Epoche also, in der sich der Film innerhalb kürzester Zeit zu einem Massenmedium entwickelte, ist sie heute eigentlich kein Thema mehr.
46
Adam J. Bisanz: Linearität versus Simultaneität im narrativen Zeit-Raum-Gefüge. Ein methodisches Problem und die medialen Grenzen der modernen Erzählstruktur. In: Wolfgang Haubrichs (Hrsg.): Erzählforschung 1. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. (LiLi Beiheft 4} Göttingen 1976, S, 184223, S. 185. Hagenbüchle, a.a.O., S, 38.
66 Umso überraschender wirkt die Behauptung des Kolumnisten Kurt Scheel, "daß das Kino, immer noch, ein dubioser Ort [sei], mehr mit Rummel und Zirkus als mit Theater und Kirche zu tun [habe]. Im Unterschied zu den so lange anerkannten Bereichen der Kultur, die wir Kunst nennen, gehört das Kino nicht dazu. "47 Scheel greift damit allerdings nicht den Film an - statt von Film spricht er von Kino und verdeutlicht damit seinen populistischen Standpunkt -, sondern vielmehr die Regisseure, Filmkritiker und -Wissenschaftler, die durch falsche gedankliche Voraussetzungen und überhöhte Ansprüche dem Medium nicht gerecht werden, es vielmehr seiner sympathischen Naivität und Faszination berauben, indem sie es zu anerkannter Kunst zurechtbiegen. Voller Überzeugung setzt sich Scheel für das Kino als spielerisches und unterhaltsames Medium ein, das durchaus kunstvoll sein kann, aber eben frei sein sollte von Intellektualität und Akademismus als Selbstzweck. Dabei nennt er die Kräfte, die seiner Meinung nach die Unschuld des Kinos mißbraucht haben: "Das Kino ist kein erwachsenes Medium; es soll kein erwachsenes Medium sein. Daher sind diejenigen, die das Kino zur Kunst, das heißt zur Schnecke machen, unsere Feinde: Ein Kunstkino, wie es programmatisch von Regisseuren wie Godard und Greenaway vertreten wird, das auch bei deutschen 'Autorenfilmem' sein Unwesen treibt, von den revolutionären Blockflötenfilmen Jean-Marie Straubs gar nicht zu reden (für Lubitsch-Fans: was Joseph Thura mit Shakespeare gemacht hat, macht Sträub jetzt mit Hölderlin)." 48
An anderer Stelle charakterisiert er sein Feindbild als '"Cineasten1 [...], die an den Mythos des Autorenfdms glauben, die Kunst statt Kino wollen, die literarisch und nicht filmisch denken. Die nicht wahrhaben wollen, daß - im Unterschied zur Literatur - das Kino den kindlichen Blick liebt und daher krude, grob sein darf. "*9 Scheel nähert sich damit dem überkommenen historischen Denkschema an, das von einem grundsätzlichen Widerspruch zwischen Film und Kunst ausgeht; seine Position unterscheidet sich jedoch von den Arj
48
49
Kurt Scheel: Filme. Eine Kolumne. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 7, Juli 1991 (Vol. 45), S. 612-616, S. 614. Ebd., S. 614. Ebd., S. 616.
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Meinungen der Literaten zu Beginn dieses Jahrhunderts hinsichtlich der Behauptung, daß wahres Kino nicht nur den Prinzipien großer Kunst nicht entspricht, sondern überhaupt nicht entsprechen darf und will. Film, so Scheel, wird schlecht, wenn er sich an anderen Formen der Kunst orientiert, und er wird mißverstanden, wenn man ihn mit analytischen Methoden anderer Kunst- und Kulturwissenschaften untersucht, Als Beispiel für solch ein Mißverständnis zieht Scheel in einer späteren Kolumne50 einen Aufsatz von Heinrich Niewöhner heran, der sich unter dem Titel "Mythisches Perpetuum Mobile" mit dem Film "Das Schweigen der Lämmer" (USA 1990) von Jonathan Demme auseinandersetzt51. Die Verfilmung eines Romans von Thomas Harris, auf den ersten Blick lediglich einer von zahlreichen Thrillern des zeitgenössischen amerikanischen Kinos, entpuppt sich unter Niewöhners aufmerksamer Betrachtung als ein komplexes Geflecht mythologischer, christologischer, kunsthistorischer und -philosophischer Sinnebenen. Ausgehend von einem gnostischen Blickpunkt entschlüsselt er Details und Symbole, setzt die Personen der Handlung - den genialen Psychopathen Hannibal Lecter, die junge FBI-Agentin Clarice und den geisteskranken Mörder Billy - mit ihren typologischen und eschatologischen Funktionen in Beziehung zueinander und eröffnet so dem kommerziellen Unterhaltungskino tiefgründige Dimensionen, die einer anspruchsvollen philosophischen Abhandlung zur Ehre gereichen würden. Niewöhners Interpretation des Films stellt große Anforderungen an den Leser, sie ist eine hermeneutische Meisterleistung und eine Ansammlung nahezu enzyklopädischen Wissens, das jeglichen Rahmen zu sprengen droht, eine regelrechte Tour de force durch die gesamte europäische Kulturgeschichte. Ein längerer Auszug aus Niewöhners Aufsatz ist nötig, um dies zu verdeutlichen und eine nur ungefähre Vorstellung seiner Argumentation und seines Stils zu vermitteln:
51
Ders.: Filme. Eine Kolumne. In: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 2, Februar 1993 (Vol. 47), S, 148-153, S, 148ff. Heinrich Niewöhner: Mythisches Perpetuum Mobile. "Das Schweigen der Lämmer" - der Film und seine Betrachter. In: Lettre International, Heft 19, 1992, S. 48-54.
68 "Lecter kann ebensogut der böse Demiurg wie der gute Vater sein, oder der väterliche Geliebte. Das macht das gewisse Inzestuöse in seinem Verhältnis mit Clarice aus, das im Medium der sie trennenden und spiegelnden Glaswand der Zelle Lecters als eine Art Mysterium Conjunctioms ihrer Gesichter angespielt [...] oder am Ende des Films als Tabu ausgesprochen wird. - Auch dieses Doppelgesicht ist ein Bild jenes aristophanischen Menschen, womit noch die in der 'schwarzen Romantik' (Mario Praz) der Decadence beliebte leonardeske Androgynie als Deutungsextrem angespielt ist, wofür übrigens Leonardos ebenfalls im Louvre ausgestellte Darstellung des Johannes von 1509 oft als Beispiel dient [...]. - Als väterliche und demiurgische Gestalt ist Lecter der schlechthin Mächtige, weshalb er innerhalb dieser Konstellation auch typologisch am 'symmetrischsten' beziehungsweise indifferenziertesten erscheint. Die differenzierteste Gestalt ist Billy. Sie verbindet den Dionysos-Kult, der in der Form der orphischen Mysterien in frühchristlicher Rezeption zur Vorstellung von Orpheus als der Präfiguration Christi führt, als gnostische Imitatio Dionysi und Superatio Christi mit der Läuterung des Dionysischen durch das Apollinische in der Orphik. Jene Läuterung besorgt hier, wenn auch gewaltsam, die apollinische Clarice, was im Zusammenhang mit ihrem Aspekt des Johannitischen noch als Hinweis auf den wahren Christus aufzufassen ist. Der demiurgische Vater hat dafür den Sohn geopfert oder aufgegeben, wofür auch die Nachbildung der Kreuzigungsszene steht, in der die Leiche des Polizisten als emblematisches Requisit fungiert [..,]. Ohne Lecters Hinwendung zu Clarice wäre Billy nicht erkannt worden. Er ist der Preis für Lecters Weg aus der Isolation der Zelle ins Freie des Belvedere. Allerdings inszeniert der Allegoriker Lecter seine Befreiung im poetischen Überschuß des Allegorischen, einer verspielten Opulenz des Referentiellen. Für die Befreiung ist die auf dem Weg des 'quid pro quo' erzwungene Offenlegung des Traumas von Clarice nicht notwendig, doch geht sie in der Darstellung von Clarice als Johannes in die Inszenierung ein und bildet mit den weiteren bildlichen, sprachlichen und musikalischen Elementen, bis hin zur Ansicht des Gekreuzigten, ein allegorisches Integral. Für den Allegoriker ist typologische Darstellung stets Nachstellung des typologisch Vorgedachten, was den Rang des Decorums bedingt. Die typologische Struktur verbindet Gegenstände zwingend und verleiht ihnen den Status des bedeutsam Dekorativen. Sie bildet gleichsam einen Sog, dem zu entgehen es des typologischen Wahrnehmungsvermögens bedarf. Wäre dies dem Polizisten eigen gewesen, der ja Zeuge der psychoarchäologischen Konversation zwischen Lecter und Clarice war und auch die Zeichnung sah, die er, ein Sakrileg begehend, achtlos forträumt, dann wäre ihm seine Rolle in der Nachstellung der Passion Christi womöglich erspart geblieben. So aber wird er zum Gegenstand eines Vorgangs, emblematisches Requisit einer Inszenierung, deren Erfüllung ihrer typologischen Struktur nach schon antizipiert, noch bevor sie geschieht." 5^
52
Ebd., S. 49f.
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Niewöhner treibt mit seiner Auslegung des Filmes "Das Schweigen der Lämmer" die Filmanalyse auf die Spitze; so unermeßlich wie sein Fundus an kultur- und kunsthistorischen Bezügen und so ausufernd wie seine Vergleiche und Interpretationen - so schwer verständlich ist zuweilen auch seine Diktion. Scheels Ansicht nach wird hier das Kino mißbraucht, auf dem Altar der Geisteswissenschaft und der Motivforschung geopfert, um den hermeneutischen Ehrgeiz des intellektuellen Filmanalytikers zu befriedigen. "Die Lektüre von Heinrich Niewöhners Aufsatz ist lehrreich", stellt Scheel53 kritisch fest. "Auf sehr hohem Niveau wird hier in einer Weise über Filme gesprochen, die nicht nur Kinogeher kaltläßt und gelegentlich zur Parodie einer geisteswissenschaftlichen Abhandlung gerät, sondern die ihr Desinteresse am Kino nur mühsam verhehlen kann." War man in früherer Zeit bemüht, das Ansehen des Films durch Interpretationen solcher Prägung zu heben und ihn dadurch auf eine Stufe mit den traditionellen Künsten zu stellen, so glaubt Scheel, das Kino heute vor Anfechtungen dieser Art regelrecht schützen zu müssen. Das Kino als "ein Ort des Naiven"54 und "ein Ort der Demokratie, der Egalität"55 verweigert sich der Kunst, der Intellektualitä't und dem wissenschaftlichen, analytischen Zugriff. Fällt es diesen Bereichen dennoch anheim, so verliert es seine eigentliche Wirkung und Ausdruckskraft, wird lediglich zum Vorwand für selbstgefällige geisteswissenschaftliche Betrachtungen. Scheels Ansicht, die sicherlich sehr weit verbreitet ist, erscheint bedenkenswert und sollte in einer Arbeit, die sich dem Medium Film von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus nähert und ganz konkret Literaturverfümungen mit ihren Vorlagen in Beziehung setzt, nicht ignoriert werden. Eine solche Arbeit nämlich wäre in den Augen Scheels mit Sicherheit ein Mißbrauch des Kinos, ein Versuch, das Me-
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Sched 1993, S. 150. Ebd., S. 148. Ebd., S. 149.
70 dium Film mit Methoden zu analysieren, die ihm keinesfalls gerecht werden. Stehen sich aber Kino und die Methoden der Geisteswissenschaften tatsächlich so unvereinbar gegenüber? Bietet sich hier kein Ausgleich zwischen Kunst und Kino? Peter Greenaway, progressivster und zugleich populärster Vertreter des New British Cinema, widerspricht mit seiner Auffasung von Kino der Meinung Scheels: "Kino ist ein außerordentlich reiches und ergiebiges Medium. Es sollte sehr ernst genommen werden und auch all jene Ideen und Formen aufgreifen, die wir beispielsweise in der Literatur, im Theater und in der Malerei ohne weiteres akzeptieren. Kino ist ebensogut als intellektuelles Erlebnis vorstellbar wie als emotionelles." ^
Die Filme Greenaways57 bieten solche "intellektuellen Erlebnisse", sie sind visuelle Streifzüge durch die labyrinthischen Bereiche mathematischer, philosophischer und kunsthistorischer Denksysteme, barocke Bildallegorien voller Mehrdeutigkeiten und Rätsel, schwelgerische Inszenierungen der merkwürdigsten Arten und Abarten menschlichen Lebens, in deren Mittelpunkt stets Prinzipien stehen, die mit naturwissenschaftlicher Präzision bestimmt und erfaßt werden können; Symmetrie, Architektur, numerische Zahlenreihen, Entwicklungsphasen der Evolution und der Schwangerschaft, Stadien der Verwesung und ähnliches mehr. Greenaways Kino ist angefüllt mit Zitaten, mit Verweisen und Bezügen; es leugnet seine Verwandtschaft zur Malerei, zur Architektur, zur Musik und zur Literatur keineswegs, sondern
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Peter Greenaway auf einer Pressekonferenz in Cannes 1988, zitiert nach: Josef Schnelle: Bizarre Rätselspiele - herzlos und kalt: Peter Greenaway. In: JörgDieter Kogel (Hrsg.): Europäische Filmkunst. Regisseure im Porträt. Frankfurt a.M. 1990, S. 71-82, S. 76. Die bekanntesten Filme Greenaways sind: "Der Kontrakt des Zeichners" ("The Draughtsman's Contract", 1982), "Ein Z und 2 Nullen" ("A Zed & Two Noughts", 1986), "Der Bauch des Architekten" ("The Belly Of An Architect", 1986), "Verschwörung der Frauen" ("Drowning By Numbers", 1988), "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" ("The Cook, The Thief, His Wife And Her Lover", 1989), "Prosperos Bücher" ("Prospero's Books", 1991), "Das Wunder von Mäcon" ("The Baby Of M Icon", 1993).
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schöpft aus dem reichen Schatz der Künste, um das Medium Film und dessen narrative und ästhetische Möglichkeiten schließlich selbst zu erforschen.58 Die Spielfilme Greenaways fordern zur Interpretation auf; sie verlangen danach, mit Hilfe geistes- und kunstwissenschaftlicher Methoden analysiert und gedeutet zu werden. Und daß dies sinnvoll ist und zu überzeugenden Ergebnissen führen kann, zeigt beispielsweise ein Aufsatz Sabine Daneks59, die "strukturelle Analogien bei Greenaway und Velazquez"60 anhand des Films "Der Kontrakt des Zeichners" und des Gemäldes "Las Meninas" untersucht, also Komposition und Wirkung von Film und Malerei vergleicht. Sie gerät dabei auch nicht in den Verdacht, Greenaways Kino lediglich als Vorwand für kunsthistorische Betrachtungen zu mißbrauchen; mag Niewöhners Interpretation des Films "Das Schweigen der Lämmer" im Vergleich dazu etwas befremdlich und überzogen wirken, so muß man zu seiner Verteidigung an dieser Stelle aber sagen, daß alle visuellen Details und Szenen, die er beschreibt und für seine Argumentation heranzieht, tatsächlich im Film nachweisbar sind und durch photographische Abbildungen in seinem Aufsatz sozusagen zitiert werden. Die genannten Beispiele zeigen, daß - entgegen Seheeis Befürchtungen - eine analytische Auseinandersetzung mit Filmen keineswegs deren Mißachtung oder gar deren Wirkungsverlust bedeutet. Vielmehr fördern solche Analysen und Interpretationen das künstlerische Potential des Kinos zutage, sie helfen, Filme und die Intentionen ihrer RegisCO
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Greenaways Auseinandersetzung mit Shakespeare, der Literatur generell, den Möglichkeiten des High D^mY/öfl-Fernsehens und der digitalen Bildgestaltung zeigt sich deutlich in seinem Film "Prosperos Bücher", Vgl. dazu Constantin Canavas: Das Kino, das (neue) Fernsehen, die Malerei und ihr Liebhaber Peter Greenaway. In: Filmbulletin, 5 & 6, 1991 (Nr. 179, 33. Jahrgang), S. 22-26; Michel Bodmer: "Die Möglichkeiten dieser aufregenden Rahmen-Geschichten können beliebig weitergesponnen werden". Gespräch mit Peter Greenaway, In: Filmbulletin, 5 & 6, 1991 (Nr. 179, 33. Jahrgang), S. 27-34; Peter Greenaway: Paimbox-Bilder. In: Filmbulletin, 5 & 6, 1991 (Nr. 179, 33. Jahrgang), S. 3539. Sabine Danek: Ein Spielfilm und ein Bild, Strukturelle Analogien bei Greenaway und Velazquez. In: Neue Zürcher Zeitung, 23.4.1993, S, 40. So der Untertitel des Aufsatzes von Danek.
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seure und Autoren besser zu verstehen, und sie beweisen darüber hinaus, daß der narrative Film nicht nur wegen des Prinzips der Mittelbarkeit als vollwertige Kunstform anerkannt werden muß, sondern auch wegen seiner Fähigkeit zur Polyvalenz, d. h. wegen seiner Fähigkeit, durch Unbestimmtheit einen Freiraum für mehrere sinnvolle Auslegungen zu schaffen. Im Gegensatz zu trivialen Werken, die sich meist nur auf einer Bedeutungsebene bewegen, erlaubt das polyvalente Kunstwerk - sei es nun ein literarischer Text oder ein Film - eine immer neue Rezeption; es bietet sich dem Rezipienten als immer neue Sinnstruktur an. Seine Mehrdeutigkeit oder auch "Offenheit"61 gewährt den Zugriff auf verschiedenen Bedeutungsebenen, ohne dem Werk damit Unrecht zu tun. Seine Struktur ist vielfältig interpretierbar.62 So betrachtet Niewöhner beispielsweise den Film "Das Schweigen der Lämmer" auf einer mythologisch-christologischen Bedeutungsebene, Danek den Film "Der Kontrakt des Zeichners" auf einer kunsthistorischen Ebene der Auseinandersetzung mit den Gestaltungsmöglichkeiten der Malerei. Beides sind legitime Formen des Umgangs mit der Kunstform Film. Mittelbarkeit und Polyvalenz zeichnen den Film als Kunst aus. Scheels Position der Unvereinbarkeit von Kino und Kunst aber entspringt seiner Vorstellung von Kino: "Godard, Straub/Huillet, Greenaway sind nicht Kino, sondern Kunst"63, behauptet er beiläufig, ohne dies jedoch näher zu begründen. Auch wenn seine Bemühungen um den traditionellen narrativen Spielfilm, das Erzählkino mit seiner unmittelbaren emotionalen Wirkung und Magie höchst sympathisch sind, so muß man ihm doch entgegenhalten, daß auch Greenaway Kino ist. Es gibt eben nicht nur eine Art Kino, Ebenso wie die Literatur und alle anderen Kunstgattungen bietet das Kino ein breites Spektrum an verschiedenen Erscheinungsformen. Versucht man aber, dieses Spektrum 61 £fy
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Vgl. Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M. 1973; zur Offenheit des Films besonders S. 201 if. Vgl. zum Begriff der Pofyvatenz und zu deren Bedeutung bei der Rezeption literarischer Werke Wilfried Beilfuß: Der literarische Rezeptionsprozeß. Ein Modell. (Europäische Hochschulschriften: Reihe l, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 989) Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1987, S. 198ff. Scheel 1993, S. 149.
73 mit den Begriffen Kino und Kunst zu polarisieren - so wie es Scheel tut -, läuft man viel eher Gefahr, einem konkreten Film Unrecht anzutun und seinen spezifischen Wert zu verkennen, als wenn man sich ihm mit einer ernstgemeinten geisteswissenschaftlichen Haltung und einer entsprechenden Methodik nähert.64 Auch Greenaway ist Kino - und sicherlich nicht das schlechteste, "Das beste Kino ist für mich ein artifizelles [sic!] Kino", so Greenaway65 selbst, "ein Kino, das sich seiner Künstlichkeit bewußt ist und nicht versucht, so etwas wie Realismus oder Naturalismus anzustreben, was, wie ich denke, ein Anspruch ist, der sich sowieso nicht einlösen läßt." Ob man diesen Standpunkt nun teilt und wahres Kino nur in der bewußt inszenierten Künstlichkeit sieht - also ein Standpunkt, der Scheels Position völlig entgegengesetzt ist und in seiner entsprechenden Ausschließlichkeit ebenfalls abzulehnen wäre - oder nicht, es bleibt festzuhalten, daß Kino und Kunst sehr wohl miteinander vereinbar sind und sich in den gelungensten Fällen auch zweifelsfrei gemeinsam und vereint zu erkennen geben. In den übrigen Fällen hilft eine analytische Betrachtung und eine fundierte Interpretation, die Kunst des Kinos sichtbar zu machen.
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Die Bemühungen der Film- und Medienwissenschaftler, die in den letzten Jahren in zunehmendem Maße die durchaus reizvolle Ästhetik und gesellschaftliche Bedeutung des trivialen Unterhaltungskinos und Genrefilms entdeckt und untersucht haben, beweisen, daß eine simple Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Film nach dem Muster einer Kino-Kunst-Dichotomie oft unzureichend ist und eine angemessene, kritische Auseinandersetzung mit einem konkreten Beispiel unmöglich macht. Vgi. dazu beispielsweise die von Bernhard Roioff und Georg Seeßlen herausgegebene zehnbändige Reihe Grundlagen des populären Films, Reinbek bei Hamburg 1980-1983, die systematisch Geschichte und Mythologie des Western-Films, des Horror-Films, des Gangster-Films, des Science-Fiction-Films, des Film-Thrillers, des Film-Melodrams, des erotischen Films, des Detektiv-Films, des Abenteuer-Films und des komischen Films untersucht. Im Bereich des Genres Horror-Film liefert außerdem Norbert Stresaus Der Horror-Film. Von Dracuia zum Zombie-Schocker, München 1987, interessante Einblicke in die Ästhetik und soziale Funktion scheinbar allzu trivialer Filme, Schnelle, a.a.O., S. 74.
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4. Das Transformationsmodell des Films 4.1 Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur des Films Unter dem Aspekt der Mittelbarkeit scheint das Medium Film der epischen Literatur zunächst ähnlich zu sein; die Befürchtung, der Film könne aufgrund mangelnder Mittelbarkeit niemals literarische Texte auch nur annähernd adäquat adaptieren, kann somit vorläufig zurückgestellt werden. Statt dessen gilt es nun, weitere Übereinstimmungen im Wesen und in den narrativen Strukturen der beiden Medien zu finden. Die Mittelbarkeit der Literatur führte Stanzel dazu, zwischen Tiefenstruktur und Oberflächenstruktur zu unterscheiden.66 Es liegt also nahe, nun auch beim Film grundsätzlich von einer Trennung dieser beiden Strukturen auszugehen, Die Tiefenstruktur des Films entspräche dann wiederum der reinen Fabel, die noch nicht gestaltet wurde, die Oberflächenstruktur dem sichtbaren Produkt, dem Film als Bedeutungsträger, der in seiner gattungsspezifischen Weise codiert wurde.67 In der von Kanzog begründeten Filmphilologie wird analog dazu unterschieden zwischen einer narrativen Struktur ("histoire") und einer Zeichenstruktur ("discours").68 Erstere entspricht als "narratives Sub66
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StanzeI1989, S. 31ff. Vgl. Kapitel 1/2. Vgl. dazu Peter Wuss: Zum Verständnis der Tiefenstruktur der filmischen Komposition. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie, Heft 4, 1982 (Vol. 28), S. 5-29 und ders.: Die Tiefenstruktur des Filmkunstwerks. Zur Analyse von Spielfilmen mit offener Komposition. 2., durchgesehene Auflage, Berlin 1990: Wuss benutzt in seinen Ausführungen ebenfalls die Begriffe "Tiefenstruktur'1 und "Oberflächenstruktur", definiert sie jedoch anders. Beide sind für ihn Teilstrukturen der gesamten Filmkomposition, die sich nur hinsichtlich des Bewußtheitsgrades bei ihrer Rezeption unterscheiden. Vgl. Klaus Kanzog: Erzählstrukturen, Filmstrukturen. Eine Einführung. In: Ders. (Hrsg.): Erzählstrukturen - Filmstrukturen. Erzählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisation. Berlin 1981, S. 7-24; Ludwig Bauer/Elftiede Ledig/Michael Schaudig (Hrsg.): Strategien der Filmanalyse. Zehn Jahre Münchner Filmphilotogie. Prof. Dr. Klaus Kanzog zum 60. Geburtstag. (Diskurs Film, Münchner Beiträge zur Filmphilologie. Bd. 1) München 1987, S. 7f.; Bernhard Springer: Theorie der Syntagmatik, Die diskursreferentielle Behandlung narrativer Strukturen in filmischen Texten. In:
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strat"09 der Tiefenstruktur, letztere als spezifische "textuelle Präsentationsform"70 der Oberflächenstruktur.71 Filmisches Erzählen - so kann man aufgrund dieser Unterscheidung der Strukturen nun feststellen - entspringt also zunächst der "histoire", dem Stoff in seiner unbearbeiteten Grundform, und entwickelt sich durch die Umsetzung narrativer Einheiten in paradigmatische und syntagmatische Elemente72 des "discours" zu dem erzählenden Fluß von Bildern, Szenen und Sequenzen, den wir als Film wahrnehmen. Eine solche Umsetzung läßt sich wiederum mit einer leicht modifizierten Variante des linguistischen Modells der generativen Transformationsgrammatik darstellen und präzisieren. So entwirft Carroll73 folgendes Transformationsmodell für den Film, bei dem durch drei Operationale Schritte Bedeutung von der untersten zur obersten Schicht, von der inhaltlichen Aussage einer Narration zu ihrer filmischen Präsentation (und umgekehrt) vermittelt wird.
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Bauer/Ledig/Schaudig (Hrsg.) 1987, a.a.O., S. 131-138. - Die Unterscheidung von "histoire" und "discours" in der Literaturwissenschaft geht zurück auf die formalistischen Theorien von Tomaschevski und Todorov. (Vgl. Karlheinz Stierle: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975, S. 49.) Springer, a.a.O., S. 131. Ebd., S. 131. Vgl. dazu die umfangreiche Untersuchung von "histoire" und "discours" in: Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca/London 1978.
" Mehr zu diesen kinematographischen Gestaltungselementen in Kapitel V. John M. Carroll: Toward a Structural Psychology of Cinema, (Approaches to Semiotics 55) Den Haag/Paris/New York 1980.
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FILM L
"Photographische Interpretationsregeln"
SEQUENZSTRUKTUR Transformationen EREIGNISSTRUKTUR Semantische Interpretationsregeln BEDEUTUNG (aus: Carroll, a.a.O., S. 96, Die Bezeichnungen wurden übersetzt, die Anführungszeichen von Carroll selbst gesetzt)
Die Bedeutung eines narrativen Geschehens wird durch Regeln semantischer Interpretation in eine Ereignisstruktur umgesetzt. Bedeutung und Ereignisstruktur zusammen bilden die Tiefenstruktur (Fabel, "histoire"). Durch Transformation wird aus der Ereignisstruktur eine Sequenzstruktur, d.h. die filmgerechte Form der Narration, die ihrerseits durch die Anwendung "photographischer Interpretationsregeln" in den Film an sich (Oberflächenstruktur, "discours") umgesetzt wird. Dabei müssen Regeln und Wirkungen des gattungsspezifischen Zeichensystems berücksichtigt werden, damit die narrativen Strukturen adäquat codiert werden können. 74
Vgl. dazu das Textebenenmodell von Stierle mit den drei Strukturebenen Geschehen, Geschichte und Text der Geschichte, die mit den Ebenen Bedeufung/Ereignissiruktur (= Tiefenstruktur), Sequenzstruktur und Film (= Oberflächenstruktur) aus Carrolls Model! ungefähr vergleichbar sind (Stierle, a.a.O., S. 49ff.).
77 Schließlich birgt der Film als eigenständiges semiotisches System die Bedeutung der untersten Schicht in sich; durch eine Umkehrung des beschriebenen Transformations- und Interpretationsprozesses, durch eine Decodierung sozusagen, kann diese Bedeutung wieder aus dem Film 'herausgelesen' werden. Über die Qualität und den Kunstanspruch des Films als narratives Medium entscheiden die Transformation und die richtige Anwendung der sogenannten "photographischen Interpretationsregeln" - im englischsprachigen Original: "photographic interpretation rules"75, also Regeln einer photographischen Umsetzung nicht nur im engeren Sinne einer Interpretation, sondern auch im Sinne einer Übersetzung von einem Medium ins andere. An diesem Punkt jedoch weicht das Transformationsmodell des Films von seinem Vorbild, dem linguistischen Modell, problematisch ab. Denn im Gegensatz zur natürlichen Sprache, bei der man objektiv zwischen richtiger und falscher Transformation unterscheiden kann, da eine adäquate Transformation zu einem grammatikalisch fehlerfreien sprachlichen Ausdruck führt, eine falsche Transformation aber zu einem fehlerhaften oder sinnlosen Ausdruck, bietet die 'filmische Sprache' keineswegs die Möglichkeit eines einfachen Urteils zwischen richtig und falsch. Man kann die filmische Umsetzung einer narrativen Ereignisstruktur oder einer inhaltlichen Bedeutung zwar als mehr oder weniger angemessen, als mehr oder weniger künstlerisch gelungen beurteilen, doch bleibt eine solche Entscheidung in ihrer Präzision und ihrer argumentativen Beweiskraft meist abhängig von subjektiven Faktoren und dadurch deutlich vager als Beurteilungen über Transformationen im Bereich natürlicher Sprachen. Metz stellt im Rahmen seiner semiotischen Untersuchungen fest: "Sie [die 'Filmsprache' - M.H.] sprechen, heißt zum Teil: sie erfinden. Die Umgangssprache [...] sprechen, heißt einfach; sie gebrauchen."76 Dies bedeutet nichts anderes, als daß die Transformations regeln der natürlichen Sprachen relativ exakt definiert sind, während die Regeln eines filmischen Transformationsmodells bislang kaum formuliert wer75 76
Carroll, a.a.O., S. 96. Metz, a.a.O., S. 1 1 7 .
78 den konnten.77 Die umfassende Diskussion über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Sprache und Film, in deren Mittelpunkt immer wieder die Frage steht, ob man zu recht linguistische Theorien und Modelle auf eine Semiotik des Films überträgt, soll hier allerdings nicht thematisiert werden;78 von Interesse ist vielmehr der filmische Transformationsprozeß in Carrolls Modell an sich und das, was er "photographische Interpretationsregeln" nennt. 4,2 Der kinematographische Code Die "photographischen Interpretationsregeln" beziehen sich auf den kinematographischen Code, der als die rein visuelle Komponente der Filmgestaltung nur einen Teil - wenn auch den wichtigsten - des gesamten Transformationsprozesses ausmacht. An dieser Stelle muß zunächst auf eine Unterscheidung hingewiesen werden, die von großer Bedeutung für ein Verständnis der Strukturen des Films ist, die Unterscheidung zwischen filmisch und kinematographisch. Ah filmisch gelten all jene Elemente, die den Diskurs des Films bilden können, beziehungsweise in einem konkreten Falle tatsächlich bilden. Dies müssen keine Elemente sein, die nur das Medium Film kennt. Sie können aus den verschiedensten kulturellen Codes stammen und entwickeln sich durch den Transformationsprozeß zu vielfältigen Ebenen des künstlerischen Ausdrucks; in der Regel zählen Sprache, Geräusche und Musik dazu. Die spezifische Ebene des Ausdrucks hingegen wird beherrscht vom Bild. Das Bild ist das gattungsbestimmende Element des Films, es ist kinemaiographisch. Während der Film auf seine nicht-kinematographischen Elemente (Sprache, Geräusche, MuVgl. dazu Monacos Ausführungen zur Syntax des Films, a.a.O., S. 158. Einschlägige Literatur zu dieser Fragestellung: Umberto Eco: Die Gliederung des filmischen Code, In: Brauneck (Hrsg.) 1980, a.a.O., S. 216-234; Jurij M. Lotman: Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt a.M, 1977; Metz, a.a.O.; Pier Paolo Pasolini: Die Sprache des Films. In: Friedrich Knilli (Hrsg.): Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme. München 1971, S. 38-55; Jan Marie Peters: Die Struktur der Filmsprache. In: Karsten Witte (Hrsg.): Theorie des Kinos, Ideologiekritik der Traumfabrik. Frankfurt a.M. 1972, S. 171-186; Jan Marie Peters: Pictorial Signs and the Language of Film. Amsterdam 1981,
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sik) durchaus verzichten könnte und trotzdem noch Film bliebe, wäre er ohne sein Unemaiographisches Element (Bild) kein Film mehr.79 Der kinematographische Code kann als die Gesamtheit der visuellen Gestaltungsmittel verstanden werden und umfaßt also die Ausdrucksmöglichkeiten der Mise-en-scene und der Montage. Darüber hinaus bezeichnet er im Gegensatz zu filmischen Codes, die stets auf die konkrete Anwendung bezogen sind, den theoretischen Aspekt der FUmgestaltung im Sinne einer Kompetenz - sofern man es linguistisch ausdrücken will. Bei dem Gestaltungsprozeß eines Films durch die Transformation der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur spielen sowohl nichtkinematographische Codes als auch der kinematographische Code eine Rolle.80 Erscheint der zielgerichtete filmische Gebrauch der Codes Sprache, Geräusche und Musik aber weniger problematisch, so ist es gerade der kinematographische Code - die Wahl und die Verknüpfung der Bilder, mit anderen Worten: das visuelle Element als Kernstück des Films -, der durch den Mangel an normativen "photographischen Interpretationsregehi" oder deren Unscharfen von den beschriebenen Unsicherheiten im Transformationsprozeß betroffen ist. Von allen möglichen Codes, die am Umsetzungsprozeß in die Oberflächenstruktur des Films beteiligt sein können, steht der kinematographische Code daher im Vordergrund der Betrachtung. Die Vagheit der kinematographischen Transformations- und Interpretationsregeln legt den Verdacht einer willkürlichen Gestaltung der Oberflächenstruktur nahe. Carroll weist jedoch auf einige - wenn auch wenige - allgemeine Grundsätze und Gesetzmäßigkeiten der Um-
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Vgl. dazu Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. (Medien in Forschung + Unterricht, Bd. 4) Tübingen 1981, S. 97ff. Vgi. dazu ebd., S. 128ff. und dies,: Überlegungen zu einer Semiotik der Literaturverfilmung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr. 36, 1979 (Vol. 9), S. 31-49: Schneider geht in ihrer Theorie der Literaturverfilmung ebenfalls von einem Transformationsmodell aus und unterscheidet dabei zwischen mehreren Codes und Transformen, die Teil des Transformai ionsprozesses sind.
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Setzung in den filmischen Diskurs hin und beschreibt spezifische Wirkungsweisen bestimmter Einstellungsparameter. Diese Grundsätze und Wirkungsprinzipien, die in der Filmpraxis tatsächlich immer wieder beobachtet werden können, helfen bei der Transformation der Bedeutungs- und Ereignisstruktur in eine adäquate Oberflächenstruktur, in der wichtige inhaltliche, räumliche und zeitliche Zusammenhänge durch das kinematographische Zeichensystem unmißverständlich codiert und syntaktisch geordnet werden. So nennt Carroll beispielsweise die Wirkung emotionaler Intensivierung durch die Großaufnahme, die Funktion der Spannungs- und Geschwindigkeitssteigerung von alternierender Montage und beschleunigter Montage"^ und die besondere Wirkungsweise der subjektiven Kamera83. Er führt außerdem einige Gesetzmäßigkeiten auf, die bei der Montage beachtet werden müssen, um die Kontinuität der Handlung zu wahren und die Verwischung raum-zeiü icher Zusammenhänge und damit eine Verwirrung der Rezipienten zu vermeiden, zum Beispiel bei der Gestaltung von Dialogszenen im Schuß-Gegenschuß-Verfahren84 oder bei der Eröffnung von Szenen durch die Verknüpfung eines sogenannten master shots (establishing shots) mit mehreren untergeordneten Detailaufnahmen85. Diese Regeln geben Anhaltspunkte bei der Umsetzung der Tiefenstruktur in das filmspezifische Zeichensystem der Oberflächenstruktur und können als Orientierungsmarken dienen, den Anforderungen einer virtuellen 'kinematographischen Grammatik' zu entsprechen.86 Gi
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Carroll, a.a.O., S. 24; vgl. dazu Bela Baläzs: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Witte (Hrsg.) 1972, a.a.O., S, 149-170, S. 158. Carroll, a.a.O., S. 24. Ebd., S. 25. Ebd., S. 72f. Ebd., S, 61 f. Vgl. dazu auch die Auflistung kinematographischer Erzählkonventionen bei Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. (Sammlung Metzler, Bd. 277) Stuttgart/Weirnar 1993, S. 144ff. Vg!. dazu Daniel Arijon: Grammar of the Film Language. London/New York 1976. Arijon unternimmt den ambitionierten Versuch, die Regeln filmischen Erzählens auf über 600 Seiten und mit über 1000 graphischen Abbildungen zu einer Art Grammatik der Filmsprache zusammenzufassen. Er orientiert sich dabei allerdings hauptsächlich an Szenen aus bekannten Spielfilmen, d.h. er er-
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Verstöße gegen diese Regeln können als unverständliche Szenenanschlüsse oder grobe handwerkliche Schwächen im filmischen Diskurs unangenehm auffallen; sie können zuweilen aber auch besondere Wirkungen hervorrufen und somit ein künstlerisches Potential entfalten, das konventionalisierte Bau- und Erzählformen des Films scheinbar nicht mehr in sich bergen. Man denke dabei z. B, an die Filme der französischen nouvelle vague oder (mit Einschränkungen) an den deutschen Autorenfilm; finnische läutert keine feststehenden Grundregeln der Filmgestaltung, sondern lediglich einzelne Beispiele aus konkreten Filmwerken, die sich beliebig ergänzen ließen. Somit bietet auch Arijon keine umfassende Grammatik der Filmsprache; die Unmöglichkeit einer solchen Aufgabe ist ihm dabei allerdings deutlich bewußt: "The many aspects of film language discussed in the preceding chapters do not, of course, in any sense exhaust the expressive possibilities of film." (Ebd., S. 615.) Auch Schumm weist in seiner produktionsorientierten Unterscheidung zwischen Rohschnitt und Feinschnitt auf die prinzipielle Freiheit der filmischen Gestaltung hin: "Die Offenheit des Rohschnitts: Kilometer von Film werden da herausgeworfen. Immer neu verblüfft einen das Material beim Erproben von Anordnungen, mit welcher Freiheit umgestellt, weggelassen und hinzugefügt werden kann. Die b i Idfeid genaue Präzision des Feinschnitts hingegen: Auf jedes frame kommt es an. Unser Auge fordert sein Recht. Unser Denken und Vorstellen ist großzügig und weitgespannt. Unser Auge unbarmherzig kleinkariert, preußischpräzise und nachtragend. Zwischen regelgebundener Sturheit und ungebundener Freiheit und Beliebigkeit gibt es Abstufungen. Um die geht es. Die Arbeitsmethodik des Rohschnitts gründet nicht auf einem beliebigen 'trial-and-error'-Verfahren. Aber die Montage besteht auch nicht in der Umsetzung vorgegebener, konventioneller syntaktischer Regeln. Wohl gibt es konventionelle Filmgenres. Das geschlossene Regelsystem einer allgemeinen, genreunabhängigen Filmsprache kann man noch lange suchen: es gibt keins. Mit anderen, geschraubteren modernen Worten; der Rohschnitt gehorcht so wenig einem systematischen Algorithmus wie einem stochastischen Versuchsund Irrtumsverfahren. Man erarbeitet mit Auswahl- und Anordnungsprozeduren einen Film in der Rohschnittphase heuristisch und hermeneutisch: das heißt nach offenen Plänen. Man hat Hinweise und Vorbilder, jedoch keine Vorschriften und Anweisungen im Kopf." (Gerhard Schumm: Der Schneideraum im Kopf. Filmische Konjunkturen und Disjunktoren im Rahmen einer produktionsorientierten Wahrnehmungspsychologie des Films. In: Ders./Hans J, Wulff (Hrsg.): Film und Psychologie I. Kognition - Rezeption - Perzeption. Münster 1990, S. 179-210,8. 189.)
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Konventionen werden hier ganz bewußt durchbrochen, um Wahrnehmungsgewohnheiten zu verdeutlichen und das Ausdrucksrepertoire des Films zu erweitem.87 Die Einschätzung dessen, was filmisch korrekt und im Rahmen erzähltechnischer Konventionen akzeptabel erscheint oder nicht, ist darüber hinaus abhängig von historischen Rahmenbedingungen und häufig rein subjektiven Faktoren. So stellt Arnheim beispielsweise 1932 folgendes fest: "Auch das Überblenden dient, wie Auf- und Abblenden, dazu, um die Zäsur zwischen zwei Szenen anzudeuten, denn dies Ineinander ist geeignet, die Illusion eines geschlossenen Zeitablaufs und eines konstanten Raums zu zerstören, weil es nämlich sozusagen zu einem anschaulichen Übereinanderdecken von Zeiten und Räumen führt, und Übereinanderdecken kann man nur Getrenntes, nicht aber etwas, was zeitlich unmittelbar nacheinander oder räumlich nebeneinander liegen soll. Überblendung ist eine anschauliche Verschiebung zeitlicher resp. räumlicher Koordinaten gegeneinander und daher innerhalb einer raumzeitlich geschlossenen Szene nicht möglich." 8&
Im Jahre 1941 aber läßt Orson Welles seinen berühmt gewordenen Film "Citizen Kane" mit einer Szene beginnen, deren Einstellungen durch Überblendungen miteinander verknüpft sind: Wir sehen verschiedene Ansichten von Kanes prachtvollem Anwesen Xanadu, wobei das Hauptgebäude unserem Blick immer näherrückt; die Bilder, die die Kamera einfängt, konzentrieren sich mehr und mehr auf dieses palastartige Gebäude und sein einziges beleuchtetes Fenster, und die sanften Überblendungen bewirken, daß wir scheinbar näher und näher an es herangleiten. Hinter diesem Fenster liegt Kane im Sterben. Mit der letzten Überblendung befinden wir uns in seinem Schlafgemach und werden Zeugen seines Todes. 87
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Carroll unterscheidet bei filmischer Gestaltung deshalb auch zwischen "filmic", d.h. strukturell korrekt und den Konventionen angepaßt, und "cinematic", d.h. strukturell abweichend, möglicherweise aber gerade deshalb besonders künstlerisch (Carroll, a.a.O., S. 68ff.). Diese Unterscheidung Carrolls hat jedoch nichts zu tun mit der Bestimmung von filmischen Codes und kinematographischem Code. Arnheim, a.a.O., S. 141.
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Trotz der Überblendungen zerstört die Szene keineswegs die Illusion eines geschlossenen Zeitablaufs und eines konstanten Raums, vielmehr scheinen die Überblendungen durch ihre durchdringende und visuell verbindende Wirkung den Effekt der zeitlichen und räumlichen Einheit geradezu zu verstärken. Entgegen Arnheims Bedenken eignet sich die Überblendung sehr wohl als kinematographisches Gestaltungsmittel innerhalb einer raumzeitlich geschlossenen Szene. In einer Szene zu Beginn seines Films "Alien" (GB 1979) benutzt Ridley Scott ebenfalls Überblendungen, um verschiedene Einstellungen einer aus dem Tiefschlaf erwachenden Raumschiffbesatzung miteinander zu verbinden. Auch hier ist der raum-zeitliche Zusammenhang eindeutig. Die Überblendungen verknüpfen keine getrennten Ereignisse oder Räume, sondern vermitteln einen Eindruck des noch schläfrigen, halbbewußten Zustandes der Erwachenden, die erst langsam und wie betäubt zu sich kommen und ihre Schlafkojen verlassen.89 Die Beispiele zeigen, daß Arnheims Verständnis der Überblendung überholt ist, daß filmische Gestaltungsmittel allein durch ihre Anwendung erforscht werden können und häufig keine voreiligen Aussagen über ihre Geltungsbereiche und ihren korrekten filmischen Einsatz zulassen, "Nicht weil das Kino eine Sprache ist, kann es uns so schöne Geschichten erzählen", stellt Metz90 pointiert fest, "sondern weil es sie uns erzählt hat, ist es zu einer Sprache geworden." Es sei also noch einmal betont, daß die genannten Regeln der kinematographischen Gestaltung kein umfassendes System bilden, das eine normierte Umsetzung der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur ermöglichen könnte. Die Transformation bleibt statt dessen ein künstlerischer Prozeß mit vielen Freiheiten und der Möglichkeit, neue, QQ
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VgL dazu auch Kapitel VI1/3.1: Regisseur Jutzi arbeitet in der ersten Szene seiner "Berlin Alexanderplatz"-Verfilmung (Deutschland 1931} - also bereits ein Jahr vor Arnheims Kommentar - ebenfalls mit Überblendungen. - Es ist auffallend, daß die genannten Beispiele jeweils die erste Szene eines Filmes darstellen; womöglich erleichtern Überblendungen das Hineingtetien des Rezipienten in die filmische Fiktion und bieten sich daher gerade für den Auftakt narrativer Spielfilme an. Metz, a.a.O., S. 73.
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kreative Ideen in die Gestaltung und Kombination des kinematographischen Codes einzubringen.
III. Erzählsituationen des Mediums Film generell
1. Literatur als Vorbild des Films Der narrative Spielfilm erweist sich als ein Medium, das seinen Stoff durch die Transformation in eine Oberflächenstruktur mittelbar präsentiert. Die rezipierten Bilder und Szenen sind als Einheiten dieser Oberflächenstruktur bereits Interpretation der Fabel, aufgenommen und wiedergegeben durch eine bestimmte Blickrichtung, geformt nach den spezifischen - wenn auch nicht vollständig festgeschriebenen - Gesetzen des kinematographischen Codes. Da die epische Literatur ihre Mittelbarkeit durch die Gestaltung unterschiedlicher Erzählsituationen kreativ und künstlerisch funktionalisieren und damit zu einem bedeutsamen Faktor ihrer Originalität und Qualität machen kann, sollte auch der Film die Möglichkeit haben, seine Mittelbarkeit in zumindest annähernd ähnlicher Weise zu nutzen. Tatsächlich strebte der Film seit seiner Erfindung danach, der Literatur in ihrer erzählerischen Kraft und Kompetenz ebenbürtig zu werden.1 "[...] die sogenannten filmischen Verfahren [sind] in Wirklichkeit", 1 so betont Metz , "filmisch-narrative." Und er weist darauf hin, daß der Film, so wie wir ihn heute kennen, seine Gestaltungs- und Ausdrucksmittel hauptsächlich der Tendenz verdankt, sich umfassende narrative Fähigkeiten anzueignen.3 Indem er also nicht nur Wirklichkeit abbildete, sondern Geschichten erzählte, erprobte und entwickelte der Film seine spezifischen Erzähltechniken; dabei diente ihm, beziehungsweise seinen Regisseuren und Autoren, das bereits etablierte Medium der Literatur sicherlich als Vorbild.
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Die Tendenz, auf jegliche narrative Funktion des Films zu verzichten und einen absoluten Film ohne Erzähl Vorgang zu schaffen, galt und gilt nur für einen minimalen Teil der Filmproduktion und soll hier zunächst ausgeklammert werden. Metz, a.a.O., S. 135. Ebd., S. 133ff.
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Eisenstein beschreibt in seinem Aufsatz "Dickens, Griffith und wir"4 die Entwicklung der Filmkunst unter dem Einfluß der Literatur und nennt "diese Beziehung" der beiden Medien "vollkommen organisch und 'genetisch1 konsequent."5 Eidsvik6 untersucht die kulturelle Verwurzelung des Kinos in der populären Literatur und im melodramatischen Theater des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und stellt deren narrative Verwandtschaft anschaulich dar: "The cinema was no orphan. Though it strangled its parents by taking their audiences, it fully participated in their values."7 Reif demonstriert am Beispiel einer Dialogszene aus John Steinbecks Roman "Jenseits von Eden", wie selbstverständlich die epische Literatur sich scheinbar genuin filmischer Techniken bedient, und betont dabei, daß dies bereits seit dem 18. Jahrhundert geschieht.8 Paech charakterisiert überzeugend die "Literaturgeschichte als Vorgeschichte des Kinos"9, indem er verdeutlicht, wie sich das junge Medium Film an den narrativen Strukturen der Literatur orientierte, um selbst das Erzählen zu lernen,10
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Sergej Eisenstein: Dickens, Griffith und wir. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Zürich, o.J., S. 60-136. Ebd., S. 60. Eidsvik, a.a.O., S. IQoff. Ebd., S. 131. Reif, a.a.O., S. 48ff. - In diesem Zusammenhang wäre auch die Diskussion über die sogenannte filmische Schreibweise zu nennen und zu betonen, daß bereits vor Erfindung des Films filmisch geschrieben wurde; so wird z.B. Heinrich von Kleist ein nahezu filmischer Schreibstil unterstellt. Vgl, dazu Eric Rohmer: Anmerkungen zur Inszenierung. In: Werner Berthe! (Hrsg.): Heinrich von Kleist: Die Marquise von O... Mit Materialien und Bildern zu dem Film von Eric Rohmer und einem Aufsatz von Heinz Politzer, Frankfurt a.M, 1979, S. 111-114, S. U l f . Paech 1988, S. 45ff. Die Abhängigkeit des frühen Films von den Vorbildern der epischen und dramatischen Literatur, von der Welt der Unterhaltungsliteratur und dem Vaudeville-Theater wurde von den genannten Autoren einsichtig dargelegt, so daß an dieser Stelle auf eine nähere Erläuterung und ausführlichere Darstellung verzichtet werden kann.
87 Und Schanze1' weist auf die Affinität des sogenannten Neuen deutschen Fihns zur Literatur hin; nicht nur in inhaltlicher und stofflicher, sondern auch in formaler und besonders in narrativer Hinsicht knüpfte diese auch international anerkannte Filmbewegung mit Regisseuren wie Schlöndorff, Fassbinder, Herzog und Schroeter seit dem Ende der sechziger Jahre an literarische Traditionen und literarische Innovationen an. Der Film greift also auf literarische Muster zurück; er modifiziert sie zwar, damit sie seinen technischen Anforderungen und Möglichkeiten entsprechen, gleichwohl lassen sie sich zuweilen bis in die Literatur vor der Erfindung des Films zurückverfolgen.
2. Der Erzähler des Films Es ist deutlich geworden, daß der Film als narratives Medium prinzipiell der epischen Literatur sehr ähnlich ist; beiden Medien gemein ist außerdem ihre Mittelbarkeit und ihr Entstehungs- und Gestaltungsprozeß durch die Transformation einer Tiefenstruktur in eine Oberflächenstruktur - völlig unabhängig von ihren unterschiedlichen Zeichensystemen. Es ist also nur noch ein kleiner Schritt zu der Annahme, daß der Film - analog zur Literatur - seine Mittelbarkeit durch eine Erzählerfigur gestalten und sich dabei der Erzähltypen bedienen könnte, die die Literatur seit jeher kennt. Vergleicht man daher wiederum narrative Fume mit epischen Texten, so muß man erkennen, daß eine Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor, beziehungsweise Drehbuchautor oder Regisseur, auch beim Film möglich ist. Metz zitiert in diesem Zusammenhang Albert Laffay: "{...] der Zuschauer perzipiert Bilder, die offensichtlich ausgewählt worden sind (es hätten auch andere sein können), die offensichtlich manipuliert worden sind (ihre Reihenfolge hätte eine andere sein können): er blättert sozusagen in einem Album von vorgeschriebenen Bildern, aber nicht er blättert die Seiten um, sonHelmut Schanze: Vom Zelluloid zum Video. Die Medienentwicklung in der Nachkriegszeit. In: LiLL Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr. 80, 1990 (Vol. 20), S. 101-109, S. 104f.
dem notwendigerweise irgendein 'Zeremonienmeister', irgendein 'großer Bilderverkäufer', der [...] vor allem immer der Film selbst ist [...] oder genauer gesagt, eine Art von 'potentiellem linguistischem Brennpunkt1, der irgendwo hinter dem Film placiert ist und der das darstellt, von wo aus der Film möglich ist, Dies ist die kinematographische Form der erzählenden Instanz, die in jeder Erzählung zwangsläufig vorhanden ist und perzipiert wird." "
Die erzählende Instanz hebt sich also, da sie "irgendwo hinter dem Film placiert ist und [...] das darstellt, von wo aus der Film" erst "möglich" wird, deutlich vom filmischen Diskurs ab, ist sozusagen die Voraussetzung für die Gestalt dieses Diskurses. Damit sind jedoch nicht Autor, Regisseur oder gar Produzent eines Films gemeint, die in gewisser Hinsicht natürlich Voraussetzung für das Entstehen des Produktes Film sind; gemeint ist vielmehr der fiktive Erzähler der Handlung, der unabhängig von der Person des Regisseurs oder des Autors und deren menschlichen Eigenschaften und ideologischen Überzeugungen gewählt werden und nach seinen fiktiven Eigenschaften und Überzeugungen den filmischen Diskurs bestimmen kann. Sobald aber der Erzähler getrennt ist vom tatsächlichen Schöpfer des Films, kann er theoretisch - beliebige Gestalten annehmen und damit auch beliebige Erzählperspektiven einnehmen. Mit anderen Worten: Die Handlung eines Films wird erzählt, nicht vom Drehbuchautor, dem Regisseur oder den Darstellern, sondern von einer fiktiven Figur oder Instanz, die die Bilder in der Weise sieht, ordnet, verknüpft und den Rezipienten präsentiert, wie sie selbst diese Bilder, oder genauer gesagt: die Ereignisse, die zu den Bildern werden, von ihrem fiktiven Standpunkt aus wahrnimmt. Die Gestaltung des Films mit diesem Ziel erfolgt in der Transformation der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur. Während also die Tiefenstruktur lediglich den Stoff beinhaltet, ist die Oberflächenstruktur, der filmische Diskurs, ganz und gar geprägt durch die Perspektive der Erzählerfigur, durch die Erzähl situation. Mise-en-scene und Montage sind der vorherrschenden Erzählsituation untergeordnet und erfüllen ihre Funktion als kinematographische Ausdrucksmittel, indem sie die Erzählsituation in ihren perspektivi12
Metz, a.a.O., S. 41f.
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sehen Möglichkeiten und Einschränkungen szenisch gestalten und visuell umsetzen. Hier erweisen sich die "filmischen Verfahren", wie Metz behauptet13, tatsächlich als "fümisch-narrative." Da nun der Film in seinen narrativen Strukturen so nachhaltig von der Literatur beeinflußt wurde und ihr in mancher Hinsicht wesensgleich erscheint, sollte es möglich sein, das Erzählmodell Stanzeis, das sich als Theorie für die epische Literatur äußerst bewährt hat, auch auf den narrativen Film anzuwenden.
3. Erzählperspektiven des kinematographischen Codes 3.1 "Illusion der Unmittelbarkeit" Wie bereits gezeigt wurde, bietet sich auch dem Film grundsätzlich die Möglichkeit, durch die Transformation der Tiefenstruktur in eine Oberflächenstruktur einen fiktiven Erzähler zu erschaffen, der als vermittelnde Instanz zwischen Regisseur/Drehbuchautor und Rezipient auftritt, Dennoch stellt Stanzel fest, der Film habe eine "Tendenz zur Unmittelbarkeit" , und man ist geneigt, ihm intuitiv beizustimmen, da der Film dem unvoreingenommenen Rezipienten tatsächlich unmittelbarer erscheint als die epische Literatur - und das, obwohl die Mittelbarkeit des Films nun hinlänglich bewiesen wurde. Dieses Phänomen hat sicherlich Gründe, die tiefer wurzeln als die Argumente der Literaten im ersten Drittel dieses Jahrhunderts.1^ Zum einen unterscheidet sich das semiotische System des Films von dem der Literatur dadurch, daß es eine größere Ähnlichkeit zwischen Signifikat und Signifikant aufweist, d.h. die Zeichen des literarischen Textes (die Wörter) unterscheiden sich in ihrer Gestalt weitaus mehr von ihren Bedeutungen (den Gegenständen, die sie bezeichnen) als die Zeichen des filmischen Diskurses (die Bilder). Das photographische Bild eines Hauses in einem Film ist dem referentiellen Gegenstand 13
14
15
Ebd., S. 135. Stanzell 989, S. 1 1 8 ,
Vgl. Kapitel /1.
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Haus sehr viel ähnlicher als die Buchstabenkombination "Haus" in einem literarischen Text, es ist nahezu identisch. Monaco bezeichnet die Signifikanten des Films aufgrund dieser Beinahe-Ideniität mit ihren Signifikaten als "Kurzschluß-Zeichen"16, und die Decodierung solcher "Kurzschluß-Zeichen" verläuft sehr viel schneller und einfacher als die Decodierung eines abstrakteren sprachlichen Zeichens. Dadurch wirken die Filmbilder unmittelbarer als literarische Worte. Zum anderen sind genau damit aber auch veränderte psychologische Wahrnehmungsprozesse und erhöhte Realitätseindrücke bei der Rezeption eines Films gekoppelt, die in der Regel eine starke emotionale Beteiligung am Gesehenen zur Folge haben und somit wiederum das Gefühl der Unmittelbarkeit vortäuschen. "Wenn wir wahrnehmen, treten Subjekt und Objekt auf solche Weise zusammen, daß Bewußtsein und Wahrnehmung ummterscheidbar werden. Mit anderen Worten: im Wahmehmungsakt ist das Vorstellungsbild vom Sinneseindruck solange nicht zu trennen, bis die Wahrnehmung endet und das Bild zum Erinnerungsbild wird. Beim Zuschauen im Film ist das Wahrnehmungsobjekt identisch mit dem Filmbild, weil das Auge des Zuschauers an die Linse der Kamera gebunden ist. Daraus ergibt sich aber, daß das Filmbild in jedem Moment der Filmwahrnehmung - und dies besonders in Augenblicken stark affektiver Beteiligung das Vorstellungsbild ersetzt." ^
Neben diesen semiotischen und wahmehmungspsychologischen Faktoren gibt es allerdings noch eine weitere Ursache für die scheinbare Unmittelbarkeit des Films, eine Ursache, die - so paradox es klingen mag - ihren Ursprung in der tatsächlichen Mittelbarkeit des narrativen Films hat. Stanzel selbst liefert mit seiner Klassifizierung der typischen Erzählsituationen den Schlüssel, ohne jedoch den Zusammenhang zu erkennen: Es sind die Erzählsituationen des Mediums Film generell, die den Anschein von Unmittelbarkeit erwecken!
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Monaco, a.a.O., S. 141. - Ähnliches meint Schneider 1981, wenn sie schreibt, das Zeichensystem des Films sei "ein reines Signifikanten-System, der Signifikat [sei] das Gezeigte." (Ebd., S. 189) Reif, a.a.O., S. 27; vgl. Metz, a.a.O., S. 20ff.
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Deutlicher wird dies, wenn man den Film generell als kinematographisches Medium, und d.h. den Film mit seinen rein visuellen, konventionalisierten Gestaltungsmitteln, so wie er einen Großteil der vergangenen und gegenwärtigen Filmproduktion beherrscht, unter Berücksichtigung des Erzählmodells Stanzeis betrachtet und zunächst versucht, allgemeine Charakteristika der filmischen Erzählsituationen genauer: der rein kinematographischen Erzählsituationen18 - zu beschreiben. Stanzel erfaßt die Erzählsituationen der epischen Literatur mit drei Konstituenten - Person, Perspektive und Modus - und deren jeweils polaren Fixpunkten. Die Konstituente Modus stellt das Formenkontinuum von Erzählerfigur zu Reflektorfigur dar; bezieht man nun diese Konstituente auf den Film - nochmals sei betont: auf den Film als visuelles Medium generell -, so kann man eine deutliche Verschiebung in Richtung Reflektorfigur feststellen, denn der Film weist niemals eine so deutlich gestaltete Erzählerfigur auf, wie sie dem Leser beispielsweise in Manns "Zauberberg" erscheint oder in den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Knill" in der Gestalt des Ich-Erzählers, der "die Feder ergreif[t], um [...] [seine] Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die [ihm] eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen {...]"Jö, gar regelrecht gegenübersitzt. Auf der Konstituente Modus treten kinematographische Erzählsituationen also in einer Ballung um den Reflektor-Pol herum auf. Modus •
> Reflektorfigur
Das bedeutet gleichzeitig, daß die Konstituente Person, die den Bereich Identität, beziehungsweise Nichtidentität der Seinsbereiche des Erzähis '-'
Zur Unterscheidung zwischen "filmisch" und "kinematographisch" siehe Kapitel II/4.2. Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, a.a.O., Bd. VII: Der Erwählte, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, S. 263-661, S. 265.
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lers und der fiktiven Figuren der Handlung (im Roman oder im Film) abdeckt, stark in den Hintergrund gedrängt und nahezu bedeutungslos wird. Gibt es nämlich keine Erzählerfigur, so erübrigt sich die Frage nach deren Existenzbereich; da sie nicht existiert, kann sie weder Teil der fiktiven Welt sein, noch übergeordnet und unabhängig von dieser auftreten. Die Konstituente Person spielt also bei den kinematographischen Erzählsituationen keine Rolle, die Konstituente Modus kann lediglich ihr halbes Potential, ihre Varianten der Reflektorfigur, im Film entfalten. Lediglich die Konstituente Perspektive kommt in ihrer Ganzheit, ihrem gesamten Spektrum zwischen den Polen Außenperspektive und Innenperspektive, in den Erzählsituationen des Films zum Tragen.20 Da es sich beim Film um ein visuelles, also von Perspektiven besonders geprägtes und abhängiges Medium handelt, ist die Bedeutung gerade dieser Konstituente kaum verwunderlich.21 Überträgt man diese Erkenntnisse nun auf Stanzeis Modell des Typenkreises, so zeigt sich deutlich, daß sich die Bandbreite der kinematographischen Erzählsituationen zwischen den Polen der Konstituente Perspektive erstreckt und dabei von den beiden Idealtypen personale ES und auktonale ES dominiert wird.
"
An dieser Stelle sei es erlaubt, noch einmal kurz an Leibfrieds Modell der literarischen Erzählformen und dessen dominierende Kategorie Perspektive zu erinnern (siehe Kapitel 1/5.1). Die Reduktion seines Erzählmodells auf die Dichotomie Innenperspektive - Außenperspektive erwies sich für die epische Literatur als zu oberflächlich und inadäquat. Wäre Leibfrieds Modell aber ein Modell der rein kinematographischen Erzählperspektiven in ihrer allgemeinsten Form - so wie sie in diesem Kapitel untersucht werden -, so erschiene es in seiner Konzentration auf die Kategorie Perspektive durchaus angemessen und überzeugend. Da Leibfned natürlich nicht beabsichtigte, eine Systematik für kinematographische Erzählformen zu erstellen, bleibt diese Anmerkung dem Bereich spielerischer Assoziation verhaftet und erhebt keinerlei Anspruch auf weitere Beachtung. Auf die Unterschiede zwischen filmischer Innenperspektive und Hierarischer Innenperspektive wird noch einzugehen sein.
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Ich-ES
ErzählerReflektorGrenze
ErzählerReflektor Grenze
Subjektive Kamera
(Das Spektrum kinematographischer Erzählsituationen, bogenförmig an Stanzeis Typenkreis angelegt.)
Die Erzähl Situationen des Films liegen in einem Spektrum zwischen der auktorialen ES am Pol Außenperspektive und dem gegenüberliegenden Pol Innenperspektive, in der Nähe der Erzähler-Reflektor-Grenze; es umfaßt somit die untere Hälfte des Typenkreises, den Halbkreis des Reflektorbereiches sozusagen, und bildet im Gegensatz zum Spektrum der Erzählsituationen der epischen Literatur kein grenzenloses, in sich geschlossenes Kontinuum. Mit dem Fixpunkt der auktorialen ES einerseits und dem Pol der Innenperspektive andererseits, beziehungsweise
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der Erzähler-Reflektor-Grenze oberhalb dieses Pols, scheinen die Möglichkeiten der kinematographischen Erzählsituationen ausgeschöpft zu sein. Sowohl die Ich-ES als auch der Erzähler-Pol der Konstituente Modus fallen aus dem Bereich der kinematographischen Erzählsituationen heraus, jene Erzähl Situationen also, die durch besonders auffallende Erzählerfiguren geprägt sind. Vorherrschend ist dagegen die personale ES, und wenn man sich Stanzeis Aussage über die personale ES in der Literatur in Erinnerung ruft, so kann dies helfen, die scheinbare Unmittelbarkeit des Films zu erklären: "Die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittelbarkeit ist [,..] das auszeichnende Merkmal der personalen ES."22 Somit entspringt das Gefühl der Unmittelbarkeit, das dem Film anhaftet, tatsächlich der Gestaltung seiner Mittelbarkeit in Form der personalen ES. Deutlich spürbar wird die Dominanz der personalen ES im narrativen Film generell durch die ausgeprägte Tendenz der erhöhten Bereitschaft der Rezipienten zur Identifikation mit den fiktiven Protagonisten, eine Tendenz, die bereits unter psychologischen, soziologischen und auch politischen Aspekten wiederholt thematisiert, problematisiert und zu aktuellen Anlässen auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde;23 ebenso greifbar wird die personale ES durch 22
23
"·'
Stanzel 1989, S. 16. Man denke nur an die Diskussion über den Einfluß von Gewaltdarstellungen in den Medien Füm, Fernsehen und Video auf Kinder und Jugendliche, in der auch Aspekte wie Identifikation und Katharsis eine zentrale Rolle spielen. Vgl. dazu Gerd Albrecht: Filmbesuch und Filmerleben. Eine Zusammenstellung von Untersuchungs- und Forschungsergebnissen. In: Brauneck (Hrsg.) 1980, a.a.O., S. 270-285; ders.: "Identifizierung" als Bereicherung! Zur Psychologie des Film- und Medienverständnisses/Teil II. In: Film & Fakten, Nr 11, Januar 1990, S. 38-44; Dagmar Henningsen / Astrid Strohmeier: Gewaltdarstellungen auf Video-Cassetten: Ausmaß und Motive jugendlichen Gewaltvideokonsums. Bochum 1985; Peter Winterhoff-Spurk: Fernsehen, Psychologische Befunde zur Medienwirkung. Bern/Stuttgart/Toronto 1986, S. l Off.; Horst Zumkley: Aggression und Katharsis. Göttingen 1978. Das Kino wird nicht nur für die erhöhte Bereitschaft zu Gewalt und kriminellen Handlungen verantwortlich gemacht, auch die Bereitschaft zu unmoralischem und sexuell freizügigem Verhalten führte man auf die identifikatorische Kraft des Films zurück. Winterhoff-Spurk, a.a.O., S. 13, zitiert beispielsweise
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die Vielzahl kinematographischer Gestaltungsmittel und Techniken, die entwickelt und konventionalisiert wurden, um subjektive Eindrücke visuell umzusetzen und darstellbar zu machen,24 Die Einstellung mit subjektiver Kamera, in der die Rezipienten quasi mit den Augen einer Filmfigur sehen, ist nur die offensichtlichste Form dieser Darstellungsmittel, es zählen aber noch Verfahren wie beispielsweise die Fokalisierung dazu, bei der subjektive Wahrnehmungsbedingungen auf ansonsten objektive Einstellungen übertragen werden.25 Erhöhte Identifikationsmöglichkeit und subjektivierende Techniken, die die Identifikation zusätzlich erleichtern, prägen die Erzählsituationen des Films und verstärken die "Tendenz zur Unmittelbarkeit"26; die Nähe der Filmbilder zur täglich wahrgenommenen Wirklichkeit - da Signifikant und Signifikat sich so ähnlich sind - intensiviert diese Tendenz, und so entsteht für den Betrachter schließlich das Gefühl, das Geschehen eines Films mit den Protagonisten mitzuerleben. Das Wissen um die Mittelbarkeit, die künstlerische Gestaltung, die erzählende Instanz wird in den Hintergrund gedrängt und von der umfassenden Illusion des unmittelbaren Beteiligtseins, des Sehens durch die Augen der fiktiven Figuren überlagert. Genau dadurch ist die personale ES charakterisiert.27
26
aus Morecks "Sittengeschichte des Kinos" von 1926, daß "eine große Zahl junger Mädchen in München um Zulassung für eben das Gewerbe der Prostitution gebeten habe[,..], da es in einem entsprechenden Fiira so außerordentlich angenehm geschildert worden [sei]." Siegrist, a.a.O., S. I32ff., nennt die Haupttypen subjektivierender Erzähltechniken und führt zahlreiche Beispiele dazu auf. Beispiele für häufig verwendete Fokalisierungen sind Überbelichtungen zur Kennzeichnung eines subjektiven Traumgeschehens und Unscharfen, Verzerrungen oder schleierartige Filter, die die Bilder trüben und so die Wahrnehmung von Betrunkenen, Betäubten oder Besessenen imitieren. Vgl. dazu Edward Branigan: Point of View in the Cinema. A Theory of Narration and Subjectivity in Classical Film. (Approaches to Semiotics 66) Berlin/New York/Amsterdam 1984, S. 80. Stanzel 1989, S. 118. Die Dominaz der personalen ES in der kinematographischen Darstellungweise wird von Hagenbüchle als Erzähtfitnktion im Sinne Kate Hamburgers gedeutet, also als eine 'Vermittlung' von Figuren und Geschehen ohne Vermittlungsinstanz, ohne Erzählerfigur. Folglich hält er "das Filmwerk, das auf Mittler-
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3.2 Innenperspektive - Subjektive Kamera und Ich-ES Der Bereich, in dem die kinematographischen Erzählsituationen lokalisiert sind, ist aber nicht nur auf die personale ES beschränkt, sondern erstreckt sich zwischen den beiden Polen der Konstituente Perspektive; gleichwohl kommt der personalen ES dabei eine zentrale Stellung zu, während die Pole Innenperspektive und Außenperspektive quasi die Endmarkierungen des Spektrums bilden. Die Innenperspektive in einem Modell kinematographischer Erzählsituationen kann allerdings nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden mit der Innenperspektive im Modell Stanzeis, das sich auf literarische Erzählsituationen bezieht.28 Die literarische Innenperspektive ist gekennzeichnet durch die Darstellung von Gedanken und Gefühlen des oder der Protagonisten, durch Einblicke in deren Bewußtsein und durch die daraus entstehende mostruktur verzichtet", für die angemessenste Erzählform und "optimalste Darstellungsform" des Mediums Film. (Hagenbüchle, a.a.O., S. 76.) Die personale ES zeichnet sich natürlich durch das Fehlen einer spürbaren Erzählerfigur aus insofern ist Hagenbüchles Beobachtung nicht falsch -, doch boykottiert er sich durch den Gebrauch der Terminologie Hamburgers eine weitere sinnvolle Beschreibung vermittelter filmischer Erzählformen. Denn diese gibt es natürlich, auch wenn sie Hagenbüchle für 'unfilmisch' hält; um diese nun aber zu konkretisieren, muß er auf eine andere erzähl theoretische Grundlage ausweichen, da Hamburger die Existenz vermittelnder Instanzen grundsätzlich verneint (stehe Kapitell/l). Hagenbüchle jongliert mit Begriffen und Vorstellungen aus verschiedenen Erzähltheorien, so daß der Rückgriff auf Hamburgers Terminologie - unkommentiert neben Begriffe aus Stanzeis Typologie gesetzt - an dieser Stelle nicht überzeugt. Das erzähltheoretische Fundament Hagenbüchles ist nicht klar zu fassen, und statt sich von einer Position aus dem Medium Film und dessen Erzählstrukturen zu nähern, zieht er Termini und Ideen unterschiedlicher narrativer Theorien heran, wie sie ihm gerade passen. Der Vorsatz dieser Arbeit, konsequent ein Erzählmodell zu betrachten, dessen Terminologie zu nutzen und auf das Medium Film anzuwenden, soll Verwirrungen und Unscharfen jener Art vermeiden helfen und terminologische wie inhaltliche Klarheit gewährleisten, Dieser Fehler - die unbedachte Gleichsetzung literarischer Innenperspektive und filmischer Innenperspektive - schleicht sich sehr schnell dort ein, wo rasche, pauschale und oberflächliche Urteile über die prinzipielle Ähnlichkeit literarischer und filmischer Erzählperspektiven gefällt werden, so zum Beispiel bei Bisanz, a.a.O., S. 210,
97 mentane Identifizierung zwischen Rezipient und fiktiver Figur. Eine gebräuchliche literarische Technik, dies zu erreichen, ist beispielsweise der innere Monolog. Für den Film jedoch - so wie er im Augenblick verstanden werden soll: als visuelles Medium in seiner allgemeinsten Form - bedeutet die Innenperspektive zunächst nichts anderes als der von innen nach außen gerichtete Blick; kinematographische Innenperspektive ist nicht die Betrachtung der Innenwelt eines Protagonisten, nicht die Darstellung seiner Gedanken- und Gefühlswelt, kein innerer Monolog und keine Reflexion,29 sie ist vielmehr der Blick einer Figur der Filmhandlung auf die sie umgebende fiktive Außenwelt, also beispielsweise eine Einstellung mit subjektiver Kamera. Die Innenperspektive der kinematographischen Erzählsituationen ist eine nach außen gewandte Perspektive.30 Das Spektrum der Möglichkeiten kinematographischer Erzähl Situationen endet daher auch unterhalb der Erzähler-Reflektor-Grenze und unterhalb der idealtypischen Ich-ES. Die Gestaltung der Erzähl Situationen im Film generell kann auf dieser Seite des Typenkreises den Reflektorbereich nicht überwinden, d.h. sie bleibt im Bereich der personalen ES, im Bereich des scheinbar unmittelbaren Miterlebens verhaftet. Die Ich-ES aber setzt eine Erzählerfigur voraus; sie entsteht nicht einfach nur durch die subjektive Wahrnehmung einer Person im Mittelpunkt der Handlung, sondern ist darüber hinaus geprägt durch die Unterscheidung zwischen erzählendem ich und erlebendem Ich. In der IchES erfährt der Rezipient eine Trennung zwischen der Figur, die erzählt, und der Figur, die erlebt; beide sind natürlich eine Person, jedoch verfügt das erzählende Ich über mehr Wissen und Distanz zur
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Der Film kann durchaus Innenwelt und Seelenzustände seiner Protagonisten darstellen, doch bedarf es dazu anderer Mechanismen und Verfahrensweisen; eine große Rolle spielen dabei beispielsweise Bild- und Farbsymbolik, paradigmatische und syntagmatische Konnotationen - mehr dazu in Kapitel V - und der Einsatz von Ton und Musik. Die Literatur kennt ihrerseits eine Entsprechung zu dieser kinematographischen Innenperspektive, die bezeichnenderweise "Camera Eye "-Technik genannt wird. Vgl. Stanzel 1989, S. 294ff.
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Handlung, während das erlebende Ich weniger distanziert in die Handlung involviert ist.31 In seiner reinen visuellen Gestaltung kann der Film diese Trennung nicht vollziehen. Er kann zwar mit Hilfe subjektivierender Kameratechniken ein erlebendes Ich erzeugen - und das sogar über die Dauer eines ganzen Spielfilms32 -, aber er kann nicht gleichzeitig ein erzählendes Ich suggerieren, das sich gegenüber eigenen, dem Zuschauer subjektiv vermittelten Aktionen kritisch und distanziert verhält. Während dem literarischen Ich-Erzähler diese Art der Reflexion dank der Spaltung in erlebendes und erzählendes Ich und dank der Innenperspektive möglich ist, muß das erlebende Ich des Films darauf verzichten, denn die kinematographische Innenperspektive ist - wie bereits erwähnt - lediglich der nach außen gewandte Blick, nicht aber die nach innen gerichtete Selbstreflexion. Der Einsatz subjektiver Kamera kennzeichnet den Übergang von personaler ES zur Ich-ES; da es dem Film aber nicht möglich ist, dem erlebenden Ich durch die Ergänzung des erzählenden Ich die Qualität einer vollwertigen Erzählerfigur zu verleihen, kann die Erzähler-Reflektor-Grenze an diesem Abschnitt des Typenkreises nicht überschritten werden. Der Film vermag es nicht, eine Ich-ES, die seine Mittelbarkeit deutlich erkennbar machen würde, zu realisieren. So bleibt auch die subjektive Kamera ganz im Dienste der personalen ES;33 ihr haftet jedoch 31 32
Siehe Kapitel 1/4. Der vielzitierte Film "Die Dame im See" ("The Lady in the Lake", USA 1946, Regie: Robert Montgomery, nach einer literarischen Vorlage von Raymond Chandler) ging in die Filmgeschichte ein, weil er - als einziges bekanntes Beispiel - seine ganze Handlung nur aus der subjektiven Sicht seines Protagonisten erzählt, um so eine Art filmischer Ich-ES zu erzeugen. Dieses erzähltechnische und auch filmtechnische Experiment gilt jedoch allgemein als wenig geglückt. Vgl. dazu Jan Marie Peters: The Lady in the Lake und das Problem der IchErzählung in der Filmkunst (Raymond Chandler, 1944/Robert Montgomery, 1946). In: Franz-Josef Albersmeier/Volker Roioff (Hrsg.); Literaturverfilmungen. Frankfurt a.M. 1989, S. 245-258. An dieser Stelle muß ganz deutlich all jenen widersprochen werden, die behaupten, eine Ich-ES ließe sich allein durch den Einsatz der subjektiven Kamera realisieren. Mit bemerkenswert prätentiösen, aber dennoch dubiosen Ausdrükken wie "'first-person technique' der Kamera" (Bisanz, a.a.O., S. 210) oder
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eine gewisse Ambiguität an, die sich durch ihre Grenzposition erklären läßt: Einerseits erhöht sie durch ihre Darstellungsweise - der Rezipient sieht sich direkt in die Lage einer Filmfigur versetzt - das Gefühl der unmittelbaren Teilnahme am Geschehen (personale ES), andererseits aber macht sie nur allzu oft die Künstlichkeit dieser Darstellungsweise der Rezipient wird in den Körper einer Filmfigur gezwungen und erfährt all dessen Einschränkungen in der eigenen Wahrnehmung - und damit auch die Mittelbarkeit des Mediums Film bewußt.34 Interessanterweise thematisiert auch Stanzel den Körper und dessen Bedeutung, wenn er von einer für den Leser vorstellbaren "Leiblichkeit" der erzählenden Instanz spricht, die er nur in der Erzählerfigur der Ich-ES verwirklicht sieht.35 Dies unterstreicht die wechselhafte Wirkung der subjektiven Kamera in ihrer Stellung als Erzähl technik zwischen personaler ES und Ich-ES, die allerdings - es sei noch einmal betont - außerhalb des Spektrums der kinematographischen Erzählsituationen liegt. 3.3 Außenperspektive: Der Zuschauer als Voyeur Am anderen Ende des Spektrums der Erzählsituationen des Films generell bildet der Pol Außenperspektive die Endmarke; ihm entspricht gleichzeitig die ideal typische auktoriale ES. Hier dehnen sich also die Möglichkeiten kinematographischer Erzählsituationen über die Erzähler-Reflektor-Grenze hinaus aus und reichen, wenn auch nicht sehr
'4
35
"Tirst-person-Kamera"' (HagenbücMe, a.a.O., S. 74) wird immer wieder versucht, den Gebrauch der subjektiven Kamera im Film als Entsprechung der literarischen Ich-ES zu deuten. Die subjektive Kamera mag ein erlebendes Ich suggerieren, niemals aber ein erzählendes Ich. So wird der Einsatz der subjektiven Kamera vor allem in Szenen deutlich, in denen durch eingeschränkte Sicht Spannung erzeugt werden soll oder in denen besondere körperliche und visuelle Sinneseindrücke eines Protagonisten mimetisch nach vollzogen werden. Zahllose Kriminalfilme, Horror- und PsychoThriller haben den Gebrauch und die Funktion der subjektiven Kamera für das Publikum inzwischen durchschaubar gemacht und rufen statt Spannung oftmals eher routinierte Gleichgültigkeit und das Gefühl des Wiedererkennens einer künstlichen, berechnenden Filmdramaturgie hervor. Stanzel 1989, S. 123ff.
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weit» in die obere Hälfte des Typenkreises, in den Erzählerbereich, hinein. Es drängt sich die Vermutung auf, hier könne der Film durch die Gestaltung einer auktorialen Erzählerfigur seine Tendenz zur Unmittelbarkeit überwinden. Dies ist tatsächlich der Fall, in der Praxis jedoch eher selten. Daher wird zunächst eine gegenläufige Wirkung der kinematographischen Außenperspektive beschrieben, die sich - empirisch gesehen - am häufigsten einstellt und sich somit für den Film allgemein als typisch einstufen laßt.36 Dazu muß noch einmal der primär visuelle Charakter des Films vergegenwärtigt und dahin gehend auch die Bedeutung der Außenperspektive festgelegt werden. Zeigte sich die kinematographische Innenperspektive als der nach außen gerichtete Blick der fiktiven Figuren, so stellt sich die kinematographische Außenperspektive als der Blick 'von außen' auf die Handlungsträger dar. Die Kamera als vermittelndes Instrument beobachtet die Protagonisten und deren Aktionen oder auch leblose Szenerien aus einer größeren Distanz, die das Gefühl eines Blickes von weiter Entfernung aus unwillkürlich hervorruft. Der Standpunkt des Zuschauers wird dadurch an einen Ort verlegt, der außerhalb des eigentlichen Aktionsradius' der Protagonisten liegt; ihre Identität und ihre Handlungen sind daher oft nur vage erkennbar oder entziehen sich völlig einer exakten Bestimmung. Der Zuschauer, bemüht, die Bedeutung des Gesehenen zu ergründen, konzentriert sich mutmaßend und spekulierend auf das entfernte Geschehen, er wird zum Voyeur, der 'von außen' beobachtet und erst dann Gewißheit erlangt, erst dann von seiner voyeuristischen Rolle erlöst wird, wenn die Kamera ihren distanzierten Standort aufgibt und näher an die Handlung heranrückt, gleichsam die Entfernung überwindet und den Zuschauer seine eben noch eingenommene Außenseiterposition vergessen läßt.
Die gezielte Gestaltung einer deutlich spürbaren auktorialen Erzählinstanz, die vergleichsweise selten praktiziert wird, und deren interpretatorische Konsequenzen sollen erst in Kapitel V erörtert werden.
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Die kinematographische Außenperspektive ist der neugierige Blick des Voyeurs.37 Zwar befindet sich die Erzähl situation des Films mit der Außenperspektive bereits im Erzählerbereich des Kreismodells, doch herrscht noch immer das Gefühl von Unmittelbarkeit vor. Denn obschon dem Rezipienten die distanzierte Position von einer übergeordneten Instanz zugewiesen wird, ist diese noch nicht als unabhängige Erzählerfigur erkennbar, Vielmehr erinnert der voyeuristische Blick an tatsächliche Wahrnehmungssituationen, die in einem beträchtlichen Maße Teil unseres alltäglichen Lebens sind und daher unmittelbar tdebt werden. Anders als eine literarische Gestaltung der Außenperspektive, die wohl nur in Ausnahmefällen an Voyeurismus denken läßt, birgt das Filmbild eine verblüffende Ähnlichkeit nicht nur mit der von uns wahrgenommenen Welt - die Ursache dafür liegt in der bereits erwähnten Ähnlichkeit zwischen filmischen Signifikanten und deren Bedeutungen, also in der semiotischen Struktur des kinematographischen Codes -, sondern auch mit der Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen, allgemein gesagt: mit unserer Seherfahrung. So spiegelt die kinematographische Außenperspektive mit ihrer großen Distanz zum beobachteten Objekt eine natürliche Erfahrung unserer Wahrnehmung wider: Wir sehen zunächst alles aus einer bestimmten Entfernung und schätzen dabei durchaus die Anonymität und Sicherheit, mit der wir ungestört und unbeteiligt beobachten können; wenn wir besser sehen wollen, müssen wir diese räumliche Entfernung überwinden und näher kommen, uns also auf das beobachtete Objekt zubewegen. Dabei gewinnen wir zwar eine bessere, detailliertere Steht, verlieren jedoch an Distanz und sicherer Anonymität. So selbstverständlich uns das erscheint, so wenig vermutet der Zuschauer eine erzählende Instanz, die ihn in die Rolle des Voyeurs zwingt. Der Blick 'von außen' ist für ihn zunächst völlig natürlich, und eine bewußte Gestaltung solcher Außenperspektiven kann diese Natür" Alfred Hitchcock hat die Rolle des Voyeurs als die grundlegende Situation des Kinozuschauers erkannt und in seinem Film "Das Fenster zum Hof" ("Rear Window", USA 1954) thematisiert.
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lichkeit effektiv steigern, beispielsweise der Blick vorbei an Gegenständen im Vordergrund - ein tief hängender Ast, ein Gebüsch, ein Gitterzaun oder ein Fensterkreuz -, die unscharf aufgenommen wurden und nicht nur ihre Repoussoir-Funktion erfüllen, sondern durch ihr reines Vorhandensein auch die Authentizität und eine scheinbare Zufälligkeit und Unmittelbarkeit der Aufnahme belegen. Es ist deutlich geworden, daß die Tendenz des Films zur Unmittelbarkeit auch in der Außenperspektive wirksam ist, obwohl sich dieser Pol bereits im Erzählerbereich des Typenkreises befindet und der auktorialen ES entspricht. Die Illusion der Unmittelbarkeit wird erst durchbrochen, wenn sich der Zuschauer bewußt wird, daß sein Blick von einer erzählenden Instanz gelenkt wird, d.h. sobald die Außenperspektive einer detaillierteren Sicht weicht und die Kamera sich den beobachteten Dingen nähen, sobald der Zuschauer aufhört, Voyeur zu sein, und erkennt, daß er jeweils die Position einnimmt, die ihm die erzählende Instanz zuweist. Diese dynamischen Prozesse bei der Gestaltung und Wahrnehmung des Films sollen in Kapitel V - Mitielbarkeit durch den kinematographischen Code - veranschaulicht werden.
Die bisherigen Aussagen über die Erzähl Situationen des Films bezogen sich auf den kinematographischen, also rein visuellen Aspekt des Mediums. Sie können daher nur als eine vorläufige Bestandsaufnahme der Erzählmöglichkeiten angesehen werden, die es zu präzisieren gilt. Es wurden einzelne Bildwirkungen beschrieben und dem Typenkreis Stanze! s zugeordnet, Dadurch konnten allgemeine Ergebnisse erzielt und erste Vergleichspunkte zwischen filmischen, beziehungsweise kinematographischen und literarischen ErzähJSituationen gefunden werden. Der kinematographische Code besteht jedoch nicht nur aus einzelnen Einstellungen, die sich als Innen- oder Außenperspektive einstufen lassen; erst die miteinander verbundenen Einstellungen ergeben einen Sinnzusammenhang und eine komplette Oberflächenstruktur, die als
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Film rezipiert und interpretiert werden kann.38 Und erst in diesem Zusammenhang lassen sich die kinematographischen Erzählsituationen innerhalb des bereits beschriebenen Spektrums exakter bestimmen und differenziert begründen. Zunächst aber soll das Augenmerk auf die nicht-kinematographischen Gestaltungsmöglichkeiten des Films und deren Anwendungen gerichtet werden.
Dieser Sachverhalt wird in den bisherigen, sehr kurz gehaltenen Untersuchungen zu den Erzählperspektiven des Films gewöhnlich unterschlagen, so daß die jeweiligen Autorinnen und Autoren ihre Beschreibungen an dieser Stelle abbrechen und sich damit begnügen, dem Film die Fähigkeit zu subjektiv-innenperspektivischer und distanziert-außenperspektivischer Darstellung zu bescheinigen, Vgl. dazu Bisanz, a.a.O.. S. 210, Kracauer 1%4, S. 312 und Seitz 1981, S. 386ff.
IV. Mittelbarkeit durch nicht-kinematographische Codes - Sprache und Text im Film
1. fMerari&tät durch Mittelbarkeit Die besondere Bedeutung der gestalteten Mittelbarkeit für die Struktur und die Qualität eines literarischen Textes wurde bereits deutlich gemacht. In der Wahl einer Erzählsituation und der entsprechenden Formung des literarischen Stoffes drückt sich einerseits die gattungsspezifische Mittelbarkeit der Epik aus, die in ihrer werkspezifischen Ausprägung andererseits einen hohen Anteil an der künstlerischen Wirkung und Aussage eines Erzähltextes hat. Da es bei der filmischen Adaption einer literarischen Vorlage gerade auf eine adäquate Umsetzung dieser Wirkung und Aussage ankommt - ankommen muß -, sollte die gestaltete Mittelbarkeit ein grundlegendes Kriterium im Vergleich zwischen den beiden Medien Literatur und Film sein. Die kinematographischen Erzählsituationen aber tendieren durch ihre Beschränkung auf den Reflektorbereich des Typenkreises - wie im vorangegangenen Kapitel gezeigt wurde - zu einer scheinbar unmittelbaren Darstellung narrativer Zusammenhänge; dadurch wird die filmische Realisation literarischer Formen der Mittelbarkeit erschwert. Die originelle Erzählperspektive eines literarischen Werkes, die der Leser zu Recht als konstitutiv wahrnimmt, droht somit bei einer Adaption verloren zu gehen. Ein Film kann dann zwar äußerliche Handlungselemente visuell darstellen, doch fehlt ihm die spezifische Qualität der Vorlage, das strukturierende Moment des Romans oder der Erzählung, das diese Handlungselemente durch eine bestimmte Form der Mittelbarkeit künstlerisch verbindet und über ihre rein referentielle Bedeutung hinaus bedeutungsvoll macht. Die bewußte Literarizität, die ein bedeutender Faktor der literarischen Produktion - nicht nur, aber vor allem - des 20. Jahrhunderts ist, die deutlich spürbare Gestaltung einer vermittelnden Erzählsituation,
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einer kommunikativen Situation zwischen Erzähler und Leser1 erweist sich als ein Kriterium, an dem eine Literaturverfümung mit ihrer kinematographischen Unmittelbarkeit scheitern könnte. Um sich der Literatur ebenbürtig zu zeigen - sowohl in ihrer kunstfertigen Mittelbarkeit allgemein als auch in der adäquaten Umsetzung literarischer Werke speziell - bemüht sich das Medium Film daher um eine bewußte Gestaltung seines kinematographischen Erzählvorgangs; durch eine Betonung der Mittelbarkeit seines Erzählens gelingt es dem Film zum einen, seinen künstlerischen Anspruch gegenüber der Literatur zu behaupten, und zum anderen, literarische Erzählsituationen und damit literarische Qualitäten im Falle einer Literaturverfümung zu bewahren. "Der Film wird sich in dem Maß auf die moderne Literatur zubewegen", so Meixner2, "in dem es ihm gelingt, Wirklichkeit zu verfremden, und zwar durch die Eingestaltung seiner Selektionsmechanismen, insgesamt durch eine sichtbar werdende Reflexion auf seinen Vermittlungscharakter und seine Vermittlungstechniken." Die Überwindung seiner scheinbaren Unmittelbarkeit erhöht also die Affinität des Films zur epischen Literatur und steigert seine Literarizität im Sinne Kanzogs, mit der eine Anlehnung an das "Literarische als Referenz"3 gemeint ist. Gleichzeitig wird damit eine adäquate Übernahme literarischer Erzählsituationen ermöglicht. Dies kann auf der einen Seite durch die konsequente Gestaltung des kinematographischen Codes in Form der personalen ES oder der auktoDurchaus auch im Sinne einer virtuellen Kommunikation zwischen einem implizierten Autor und einem implizierten Leser; vgl. dazu Chatman, a.a.O., S. 150f. und Dieter Janik: Entwurf und Begründung einer kommunikativen Theorie des Erzählwerks. In: Hillebrand (Hrsg.) 1978, a.a.O., S. 540-557. Horst Meixner: Filmische Literatur und literarisierter Film. Ein Mannheimer Projekt zur Medienästhetik. In: Helmut Kreuzer (Hrsg.): Literaturwissenschaft Medienwissenschaft. (Medium Literatur 6) Heidelberg 1977, S. 32-43, S. 34. Klaus Kanzog: Film (und Literatur). In: Dieter Borchmeyer/Viktor XmegaC (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a,M, 1987, S. 141144, S. 141 und ders.: Einführung in die Filmphilologie. Mit Beiträgen von Kirsten Burghardt, Ludwig Bauer und Michael Schaudig. (Diskurs Film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie. Bd. 4. Herausgegeben von L. Bauer, E. Ledig und M. Schaudig) München 1991, S. 17,
106
rialen ES geschehen,4 auf der anderen Seite kann es aber auch zu einem regelrechten Prozeß der Episierung des Films durch nicht-kinematographische Codes kommen.
2. Episierung des Films - Auktoriale ES und Ich-ES Ebenso wie Brechts Konzeption des epischen Theaters die Unmittelbarkeit der traditionellen dramatischen Darstellung durch die Einführung einer quasi auktorialen Erzählerfigur überwindet,5 vermag auch der Film den Schein der Unmittelbarkeit, den die reinen visuellen Büdeindrücke der kinematographischen Erzählsituationen suggerieren, durch die Anwendung von Sprache in Form einer Erzählerstimme (voice over) oder eingeblendeter Textinserts abzustreifen.6 Durch diese sprachlichen Mittel7 - man ist geneigt, sie 'literarisierende Mittel' zu nennen - wird der kinematographische Diskurs sozusagen episiert und gleichsam um Erzählsituationen bereichert, die das bisher erläuterte Spektrum im Reflektorbereich des Typenkreises sprengen. Sprache und Text ergänzen als nicht-kinematographische Codes das Bild und können ihm, beziehungsweise einer ganzen Kette von Bildern eine bestimmte Erzählperspektive verleihen; zudem befreien sie den Film von seiner visuellen Gebundenheit, d.h. sie stehen ihm als zusätzliche Gestaltungsmittel zur Verfügung, die einerseits narrative Zusammenhänge knapper, präziser und einfacher darstellen können als rein 4 5
6
Siehe Kapitel V. Vgl. Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. VIL Schriften I. Zum Theater. Frankfurt a,M. 1967, S. 262ff. In diesem Zusammenhang sei an K. Hamburgers Definition des Films als "sowohl episierte Dramatik wie (...] auch dramatisierte Epik" erinnert (Hamburger, a.a.O., S. 185. Hervorhebung von mir - M.H.). Vgl. Stanze] 1989, S. 118f. Nicht berücksichtigt in diesem Zusammenhang sind sprachliche Gestaltungsmittel, die ganz in der fiktiven Welt der dargestellten Handlung aufgehen, hauptsächlich also Sprache als Kommunikationsmittel der Personen der Handlung (Dialoge) oder Aufnahmen von Texten, die auch in der Handlung als Text eine Rolle spielen, beispielsweise Briefe, Plakate oder Zeitungsschlagzeilen.
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visuelle Techniken und andererseits die Möglichkeit bieten, durch ein reizvolles Zusaminenspiel von mehreren Sprachschichten komplexe und facettenreiche Strukturen im filmischen Diskurs zu bilden.8 Ihre gebräuchlichste Anwendung als episierendes Gestaltungsmittel im narrativen Spielfilm findet die Sprache in einer übergeordneten Erzählerstimme. So spricht beispielsweise der auktoriale Erzähler des "Zauberbergs" von Mann auch in der Verfilmung von H.W. Geißendörfer (BRD 1981) vermittelnd zu den Zuschauem und rückt somit die Erzählsituation in Richtung des Erzähler-Pols der Konstituente Modus. Daß der filmische Erzähler sich dabei der Worte des literarischen Erzählers bedient - mit einigen Kürzungen und Abweichungen, ansonsten aber ganz dem Stile Manns verpflichtet -, erhöht die Ähnlichkeit zwischen Adaption und Vorlage und folgerichtig auch die Literaniität des Films: "ERZÄHLER (off) Die Geschichte Hans Castorps, die wir erzählen wollen, ist sehr lange her. Sie ist sozusagen schon ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit zu erzählen. Diese Geschichte ist viel älter als ihre Jahre. Ihre Betagtheit ist nicht nach Tagen, das Alter, das auf ihr liegt, nicht nach Sonnenumläufen zu berechnen, denn sie verdankt den Grad ihrer Vergangenheit nicht eigentlich der Zeit, sondern sie spielt, oder, um jedes Präsens geflissentlich zu vermeiden, sie spielte und hat gespielt vormals, ehedem, in den alten Tagen, in der Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat. "9
Helma Sanders Verfilmung der Kleist-Novelle "Das Erdbeben in Chili" (BRD 1976) wird durch die Off-Stimme eines Erzählers eröffnet, der den ersten Absatz der Novelle wortgetreu wiedergibt: So z.B. in den Filmen Jean-Luc Godards und Ratner W. Fassbinders mit ihren Sprach- und Toncollagen. Vgl, zu den Möglichkeiten des kombinierten Einsatzes von Ton und Bild im sogenannten Neuen deutschen Film der siebziger Jahre auch Dietrich Scheunemann: Dokumente - Fiktionen. Zitierte Geschichte in Literatur und Film. In: Theo Elm/Hans H. Hiebe! (Hrsg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter. Freiburg im Breisgau 1991, S, 128-150, S. 141ff. Lesefassung des Drehbuchs in Seitz (Hrsg.) 1982, S. 33. Vgl. dazu den Beginn des Romans, Thomas Mann: Der Zauberberg (Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, a.a.O., Bd. HI), S. 9; siehe Kapitel I / l .
108 "In St, Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschüttemng vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Ritgera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. Don Henrico Asteron, einer der reichsten Edelleute der Stadt, hatte ihn ungefähr ein Jahr zuvor aus seinem Hause, wo er als Lehrer angestellt war, entfernt, weil er sich mit Donna Josephe, seiner einzigen Tochter, in einem zärtlichen Einverständnis befunden hatte. Eine geheime Bestellung, die dem alten Don, nachdem er die Tochter nachdrücklich gewarnt hatte, durch die hämische Aufmerksamkeit seines stolzen Sohnes verraten worden war, entrüstete ihn dergestalt, daß er sie in dem Karmeliterkloster unsrer lieben Frauen vorn Berge daselbst unterbrachte." ^
Ebenso beendet der Erzähler den Film mit dem letzten Satz der Kleistschen Vorlage: "Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er sich freuen." J ' "Die Herkunft der Filmhandlung aus einer Erzählung", so Hickethier12, "wird durch diese Off-Konstruktion verdeutlicht. Zugleich erscheint durch sie der Film als Entfaltung des in der Novelle angelegten Geschehens," Auch hier entsteht also durch den Einsatz eines nicht-kinematographischen Gestaltungsmittels, durch den direkten sprachlichen Verweis auf die literarische Vorlage - anders ausgedrückt: durch das Zitat - eine enge Bindung an die Literatur, durch die unverfälschte Übernahme der Worte Kleists und seiner Syntax sogar eine Bindung an das Literarische als in ihrer historischen Prägung sinnlich erfahrbare Textqualität schlechthin. Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Herausgegeben von Helmut Sembdner. Zweiter Band. 6., ergänzte und revidierte Auflage, München 1977, S. 144-159, S, 144, 11 Ebd., S. 159. 11 ' Knut Hickethier: Literatur als Film - verfilmte Literatur. Helma Sanders: "Das Erdbeben in Chili" nach der Novelle von Heinrich von Kleist, In: Ders./Joachim Paech (Hrsg.): Methoden der Film- und Fernsehanalyse. (Didaktik der Massenkommunikation 4) Stuttgart 1979, S. 63-90, S. 73.
109 Die erzählende Stimme Oskar Matzeraths, des Protagonisten aus Volker Schlöndorffs Verfilmung des Romans "Die Blechtrommel" von Günter Grass (BRD 1979) erfüllt mitunter eine andere Funktion. Sie hebt die Vielschichtigkeit der Erzählperspektiven in der Vorlage in gewisser Weise auf, indem sie eindeutig als Stimme des jungen Oskars identifizierbar ist und somit die "ambivalente Konstruktion" 13 des Romans reduziert, die durch die Funktionen Oskars als Handlungsfigur und Erzählerfigur auf verschiedenen Ebenen gebildet wird. 14 Häufig dient die Stimme einer Handlungsfigur aus dem Off als Mittel, eine Ich-ES zu erzeugen. Allein durch kinematographische Techniken ist dies - wie bereits gezeigt wurde - nicht möglich. Die zusätzliche sprachliche Ebene aber ermöglicht die Etablierung eines erlebenden Ich (die agierende Person) und eines erzählenden Ich (die Off-Stimme) im filmischen Diskurs. So kann der Protagonist über sein sichtbares Verhalten im unmittelbar wirkenden Bild hinaus gleichzeitig distanzierend oder kommentierend Stellung zum Geschehen nehmen oder aus dem Rückblick ihm bekannte, visuell jedoch schwer darstellbare Zusammenhänge erläutern. Die Gestaltung der visuellen Ebene kann dabei unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Oskar in Schlöndorffs "Blechtrommel" und der Ich-Erzähler Ismael aus John Hustons Verfilmung des Romans "Moby Dick" von Herman Melville (USA 1956) treten beispielsweise wie konventionelle Figuren vor der Kamera auf, sind für den Rezipienten sichtbar;15 die rein 1
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Knut Hickethier: Der Film nach der Literatur ist Film. Volker Schlöndorffs "Die Blechtrommel" (1979) nach dem gleichnamigen Roman von Günter Grass (1959). In: Albersmeier/Roloff (Hrsg.) 1989, a.a.O., S. 183-198, S. 190. Vgl. dazu die Aussagen über Schlöndorffs Verfilmung in Hans-Bernhard Moeller: Volker Schlöndorffs neuere Literaturverfilmungen. In; Schöne (Hrsg.) 1986, a.a.O., S. 316-329 und Christian-Albrecht Gollub: Deutschland verfilmt. Literatur und Leinwand 1880-1980. In: Bauschinger et al. (Hrsg.) 1984, a.a.O., S. 18-49. Eine umfassende Untersuchung zu Schlöndorffs Grass-Adaption steht noch aus. Vgl. dazu Paul G, Buchloh: Exemplarische Analysen von Roman- und Filmanfängen: "Moby Dick", "The Old Man and the Sea", "Catch-22". In: Joachim Paech (Hrsg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur, 2., überarbeitete Auflage, Münster 1988, S. 155-165.
110
kinematographischen Erzählsituationen präsentieren sich jeweils als personale ES, erst die übergeordnete Erzählerstimme erzeugt die filmische Ich-ES. In Robert Montgomery s Adaption des Chandler-Romans "Die Dame im See" (USA 1946) hingegen bemüht sich bereits die kinematographisehe Erzählebene um eine Ich-ES, indem die Kamera die Handlung stets aus der subjektiven Sicht des Protagonisten Philip Marlowe aufnimmt, d.h. er selbst ist vor der Kamera nicht zu sehen, er ist quasi die Kamera. Doch die subjektive Kamera allein reicht nicht aus, eine sinnvolle Ich-ES mit ihrer Trennung zwischen erzählendem und erlebendem Ich zu entfalten; es erscheint unumgänglich, daß sich Marlowe in einer Rahmenhandlung mehrmals direkt an die Zuschauer wendet - er sitzt vor der Kamera und spricht direkt in sie hinein - und sich so unmißverständlich als Erzähler zu erkennen gibt.16 Die Ich-ES im Film wird also erst durch eine sprachliche Ergänzung des kinematographischen Codes möglich. Die Erzählerstimme einer in das Geschehen tnvol vierten Figur erfüllt dabei eine ähnliche Funktion wie die Stimme eines auktorialen Erzählers: Sie verleiht dem Film eine zusätzliche epische Qualität und erweitert das Spektrum seiner Erzählsituationen um die Ich-ES. Dadurch bietet sich den Verfilmungen wiederum die Möglichkeit, sich der spezifischen Ich-ES ihrer literarischen Vorlage anzunähern und authentisches Textmaterial zu übernehmen. Mit Hilfe dieser sprachlichen Mittel lassen sich auch Gedankenpassagen und sogar die literarische Technik des inneren Monologs verwirklichen. "Achieving interior monologue in films is easy enough technically", stellt Chatman17 fest, "All that is required is that the voice-over be identifiable as the character's, whose lips do not move. [..,] And of course the text may be fragmented in syntax and free in psychological associations, as in classic interior monologue passages in verbal narrative. But this seems very rare - I can only remember one or two movies, for instance, Hitchcock's Murder [...], in which it occurs."
16 17
Vgl. Peters 1989. Chatman, a.a.O., S. 194f,
Ill
Hitchcock selbst berichtet Francois Truffaut im Gespräch von seinem Einsatz des inneren Monologs als Erzähltechnik in "Murder", der 1930 gedreht wurde, also kurz nach Einführung des Tonfilms: "Damals fand man, das sei eine phantastische Neuerung des Tonfilms. In Wirklichkeit war es die älteste Theateridee der Welt, angefangen bei Shakespeare, hier nur den Möglichkeiten des Tonfilms angepaßt. "18 Die Realisation eines inneren Monologs im Film wäre allerdings ohne den Ton als separaten Informationskanal neben dem Bild kaum möglich gewesen. Ton und Bild als getrennte Informationskanäle spielen auch in Volker Vogelers Film "Ein Kriegsende" (BRD 1984), entstanden nach der gleichnamigen Erzählung von Siegfried Lenz, eine wichtige Rolle. Tatsächlich entstanden literarischer Text und Film gleichzeitig und bewußt aufeinander bezogen, so daß man beide nicht als Vorlage und Adaption im eigentlichen Sinne bezeichnen kann. Durch den minimalen Einsatz von Originalton und die ständige Präsenz einer Erzählerstimme aus dem Off entsteht in diesem Film ein Spannungsfeld zwischen Bildund Tonebene. Die tristen Schwarzweiß-Bilder, die in ihrer Grobkörnigkeit an alte Wochenschau-Aufnahmen erinnern und somit dokumentarische Realität suggerieren, geben nur einen oberflächlichen Eindruck der erzählten Geschichte - die Besatzung eines kleinen deutschen Kriegsschiffes widersetzt sich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs den Befehlen des Oberkommandos und muß sich dafür vor einem Militärgericht verantworten - wieder; die entscheidenden Informationen aber erhält der Zuschauer durch den Erzähler, der wie kein zweiter filmischer Erzähler diese Bezeichnung wirklich verdient. Die realistisch anmutenden, aber größtenteils stummen Bilder begleiten illustrativ oder kontrastiv den selbständigen epischen Erzähltext, den der Autor Siegfried Lenz selbst liest. Der Film entfaltet somit seine ganze reizvolle Wirkung aus dem Zusammenspiel visueller und auditiver Elemente, das dem Rezipienten doppelte Aufmerksamkeit abverlangt. Die Bilder werden aber eindeutig von den Worten des Erzählers dominiert und erhalten so eine quasi literarische Mittelbarkeit. Ohne den li8
Francois Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1986, S. 65.
. Auflage,
112 terarischen Text verlöre der Film jegliche narrative Struktur und wäre schlichtweg undenkbar.t9 Aber nicht nur gesprochene Sprache fördert den Prozeß der Episierung des Films, sondern auch die geschriebene Sprache. Als literarisierende Gestaltungsmittel haben Texteinblendungen tatsächlich eine noch viel stärkere Wirkung, da sie nicht - oder nicht nur - gehört werden, sondern vom Rezipienten gelesen werden müssen. In Eric Rohmers Kleist-Verfilmung "Die Marquise von O." (BRD/Frankreich 1975) beispielsweise werden Textpassagen der literarischen Vorlage als Zwischentitel eingeblendet. Die literarisier ende Wirkung dieser Zitate ist offensichtlich; nicht nur durchbrechen und überwinden sie durch ihren sprachlichen Charakter das Rezipienten-Gefühl der scheinbaren Unmittelbarkeit des kinematographischen Zeichensystems, sie erscheinen dem Zuschauer darüber hinaus als konkrete Signale für die Literarizität des Stoffes. Schneider ordnet diesen Textinserts eine '"Verweisungsfunktion'" zu; "sie verweisen auf die Novelle", mehr noch: sie dienen als "Evokationen der Novelle"20. Wolf Gremms Film "Fabian" nach dem gleichnamigen Roman von Erich Kästner (BRD 1979) vertraut ebenfalls auf dieses Gestaltungsmittel, um durch ein episierendes Verfahren den Bezug zwischen literarischer Vorlage und Adaption herzustellen. Über der letzten Einstellung des Films werden die beiden letzten Sätze des Romans - "Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen."21 - eingeblendet, gefolgt vom handschriftlichen Namenszug des Autors Kästner selbst.22 Textinserts und gesprochene Erzählerkommentare spielen auch in Rainer Werner Fassbinders Verfilmung des Montageromans "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin (BRD 1979/80) eine wichtige Rolle.
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Vgl. dazu Roy Woods; Siegfried Lenz's "Ein Kriegsende": Text And Film. In: New German Studies, Nr. 3, 1988/89 (Vol. 15), S. 207-224. Schneider 3981. S. 185. Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 184. Mehr dazu in der ausführlichen Beschreibung des Films "Fabian" in Kapitel VI.
113
Der Roman selbst zeigt sich als ein komplexes strukturelles Gefüge, in dem mythologische, biblische und andere literarische Zitate und Anspielungen, leitmotivische Verweisungen, Lied-, Werbe- und Zeitungstexte und eine Vielzahl literarischer Erzähltechniken ein heterogenes, facettenreiches Tableau der Metropole Berlin und ihrer Bewohner entwerfen, das sich zuweilen als scheinbar organisches, nahtloses Gebilde präsentiert, um gleich darauf wieder in eine verwirrende Collage disparater, unabhängiger und widersprüchlicher Einzelelemente zu zerfallen; so entzieht sich dieses literarisch nachgezeichnete Phänomen Großstadt dem sicheren, überlegenen Zugriff des Lesers und stellt sich ihm - ebenso wie den Figuren des Romans - als eine vielschichtige, eigenständige und unüberschaubare Wesenheit herausfordernd entgegen. Das Unterfangen, eine solche literarische Konzeption Filmisch umzusetzen, wirft zweifellos große Probleme auf.23 Um zumindest einen Teil der Komplexität des Romans und eine Andeutung des Montagecharakters seiner Textstruktur auch im Film verwirklichen zu können, verwendet Fassbinder Zitate aus Döblins Werk, die er entweder als Inserts einblenden läßt oder als Erzähler aus dem Off selbst spricht. Text und Sprache erweisen sich so auch in diesem Beispiel als Möglichkeiten, das narrative Potential des Films durch nicht-kinematographische Codes zu vergrößern und der jeweiligen konkreten literarischen Vorlage anzunähern. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Einsatz sprachlich-literarischer Mittel in der Gestaltung der Erzähl Situationen eines Films eine Ausdehnung des rein kinematographischen Erzählspektrums bedeutet, eine Verschiebung in Richtung des Erzähler-Pols der Konstituente Modus im Modell des Typenkreises. Man bedient sich dieser Möglichkeit gerade bei Literaturverfilmungen sehr häufig, da sie das Gefühl der Mittelbarkeit des Erzähl Vorgangs verstärkt und ihn so näher an das literarische Vorbild rückt, während der Bereich der visuellen Erzählsituationen aufgrund der Dominanz der personalen ES sehr stark durch den Eindruck der Unmittelbarkeit geprägt ist und daher eher 'unliterarisch' wirkt.
23
Mehr dazu in Kapitel VII.
114 3. Funktionen sprachlich-literarischer Elemente Sprache im Film kann unterschiedliche Funktionen erfüllen. Gerade in einem umfangreichen, komplexen Werk wie Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" fällt auf, daß die eingeblendeten Textinserts oder die OffKommentare des Erzählers in unterschiedlichen Beziehungen zur visuellen Ebene stehen. Nicht immer dienen diese sprachlich-literarischen Elemente nur dazu, inhaltliche Zusammenhänge deutlicher zu machen, indem sie Beschreibungen und zusätzliche Erklärungen für die Ereignisse liefern, die sich auf der Ebene der Bilder abspielen. Sie können Ort und Zeit der Szenen exakt bestimmen, können verschiedene Szenen logisch miteinander verbinden, Handlungszusammenhänge explizieren und Gedanken und innere Monologe der Personen hörbar machen. Sie können allerdings auch Vieldeutigkeit erzeugen. Kommentare oder Inserts, die scheinbar überhaupt nichts mit der dargestellten Handlung zu tun haben, befreien sich von der zwingenden Bedeutung der Bilder und bringen ihre eigene Bedeutung zur Wirkung. In Fassbinders Film ertönen - der Vorlage Döblins folgend - biblische Texte, zeitgeschichtliche Meldungen und Statistiken, Schlagertexte, Werbetexte und vieles mehr, Texte, die sich von den Bildern absetzen und ein Eigenleben führen. Die Aufmerksamkeit des Betrachters spaltet sich, empfängt nun Informationen auf der visuellen Ebene und der auditiven Ebene, oder bei eingeblendeten Texten - Informationen visueller Natur und sprachlicher Natur. Beide Informationsquellen wirken auf den Rezipienten ein, es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Bild und Sprache, das reduziert werden muß. Die Reduktion dieser Spannung geschieht auf dem Wege der Assoziation. Um visuelle und sprachliche Informationen sinnvoll miteinander verarbeiten zu können, bildet der Betrachter assoziative Verknüpfungen, die die getrennten Reize aufeinander beziehen und zu einer bedeutungsvollen Einheit zusammenführen. In dem Maße, in dem es gelingt, die Spannung durch assoziative Verkettung 201 reduzieren, präsentiert sich dem Rezipienten eine kohärente filmische Darbietung, deren Eindeutigkeit und unmißverständliche Aussage seinem Bedürfnis nach Information, Bedeutung und entspannender Unterhaltung entgegenkommt. Gelingt diese
115 Spannungsreduktion in manchen Fällen nicht, versagt also die Assoziationsbüdung und hinterläßt disparate Elemente visueller und sprachlicher Gestaltung, so bleibt ein Gefühl der Verwirrung zurück, ein Gefühl der sinnlichen und kognitiven Überlastung angesichts der komplexen Informationsfülle,24 Um die vielfältigen Beziehungen, in denen sprachliche Elemente zur visuellen Ebene eines Films stehen können, überschaubar zu machen, bietet sich eine Kategorisierung an, die von Paul i entwickelt wurde, um Funktionen der Filmmusik zu erfassen.25 Paul i unterscheidet drei Funktionen, die Filmmusik erfüllen kann: Paraphrasierung, Polarisierung und Kontrapunktierung. "Als paraphrasierend bezeichne ich eine Musik, deren Charakter sich direkt aus dem Charakter der Bilder, aus den Bildinhalten, ableitet. Als polarisierend bezeichne ich eine Musik, die kraft ihres eindeutigen Charakters inhaltlich neutrale oder ambivalente Bilder in eine eindeutige Ausdrucksrichtung schiebt. Als kontrapunktierend bezeichne ich eine Musik, deren eindeutiger Charakter dem ebenfalls eindeutigen Charakter der Bilder, den Bild Inhalten, klar widerspricht." 2{> Die Funktionen sprachlich-literarischer Gestaltungsmittel im Film lassen sich nun entsprechend charakterisieren. Die Paraphrasierung entspricht der konventionellen Erzählerfunktion; ein sprachliches Element - Kommentar oder Textinsert - erläutert das Bild und beschreibt mit Worten die Vorgänge auf der visuellen Ebene. Der Begriff der Paraphrasierung ist hier natürlich etwas weiter zu fassen als in der Funktionsbeschreibung von Musik. Ein Erzähler, der Sachverhalte schildert, die nicht unmittelbar visuell darstellbar sind, paraphrasiert nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, aber sein
Mitunter ist dieses Gefühl der Verwirrung in Fassbinders Verfilmung sicherlich intendiert. Es zeigt sich hier jene "ganz moderne Verstörung" (Kiesel 1993, S. 295), die Fassbinder ungeachtet der medialen Differenzen aus Döblins Roman 2"5
26
übernommen hat,
Hansjörg Pauli: Filmmusik: Ein historisch-kritischer Abriß. In: H ans-Christian Schmidt (Hrsg.): Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen. Perspektiven und Materialien. Mainz 1976, S. 91-119, S. 104f. Ebd., S. 104.
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Kommentar geht konform mit den Bildinhalten, ohne Einfluß auf deren Bedeutung zu nehmen. Anders verhalten sich sprachliche Elemente, die polarisierend oder gar kontrapunktierend wirken. Ein polarisierender Kommentar gibt einem Bild, das selbst keinen eindeutigen Sinn vermittelt,27 eine spezifische Bedeutung, Visuelle Ebene und sprachliche Ebene ergänzen sich zu einem Filmischen Ausdrucks wert, den das Bild allein nicht besitzt. Eine kontrapunktierende Funktion erfüllen schließlich diejenigen sprachlich-literarischen Elemente, die in deutlichem Widerspruch zum Bild stehen und somit die unmittelbare Wirkung der visuellen Ebene untergraben. Kontrapunktierende Kommentare erzielen häufig enthüllende, oft auch ironisierende Effekte, indem sie die Filmbilder und szenen, die sie begleiten, mit anderen, gegenläufigen Aussagen konfrontieren. Der Rezipient sieht sich so zwei widersprüchlichen Informationen ausgeliefert. Entweder löst sich der Konflikt zwischen Bildinformation und sprachlicher Information, indem eine der beiden Quellen als Wahrheit, die andere als Lüge erkannt wird,28 oder aber der Widerspruch bleibt bestehen und vermittelt so einen Eindruck der Gleichzei27
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Ein neutrales Bild, von dem Pauli spricht, ist schwer vorstellbar. Jegliche Abbildung, sei es eine Photographic, ein Filmbild oder ein abstraktes Gemälde, ruft Emotionen beim Betrachter hervor, vermittelt also auf die eine oder andere Art Gefühle und Bedeutungen. Die menschliche Wahrnehmung ist darauf angelegt, Bedeutungen zu suchen und sie nötigenfalls von außen in ein Bild hineinzulegen. Pauli bezieht die polarisierende Funktion von Musik daher auch besonders auf die Titelmusik eines Films, die Musik also, die den neutralen Filmvorspann begleitet und die allgemeine Stimmung des Films erzeugt (Ebd., S. 105). ° In Stanley Donens Filmklassiker "Du sollst mein Glücksstern sein" ("Singin 1 In The Rain", USA 1952) beispielsweise erzählen die beiden Protagonisten bei einem Presse-Auftritt prahlerisch von ihrer ausgezeichneten Sing- und Tanzausbildung, ihrer glanzvollen, steilen Karriere als Tänzer und ihren Engagements in den besten Theatern und auf den berühmtesten Bühnen der Welt; gleichzeitig jedoch sieht man die beiden in einer Rückblende als Jugendliche, die sich durch zweitklassige Auftritte in dubiosen Spelunken und zwielichtigen Etablissements ihr Brot verdienen. Die Bilder stehen in krassem Gegensatz zu den selbstgefälligen Worten. Bild und Ton treffen in kontrapunktierender Wirkung aufeinander und erzielen einen komischen Effekt, wobei die sprachliche Information durch die visuelle Information als Lüge entlarvt wird.
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tigkeit von Gegensätzen, der Simultaneität unterschiedlicher Perspektiven. Ein Phänomen moderner Lebenserfahrung, die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit konkurrierender Realitätsausschnitte und die damit verbundene Verunsicherung des Individuums in einer widersprüchlichen Welt, spiegelt sich in dieser kontrapunktierenden Funktion sprachlicher Gestaltungsmittel wider, ein Phänomen, das sich gleichermaßen in der Literatur und der Filmkunst der Moderne niedergeschlagen hat29 und somit ein geeignetes Mittel ist, die Komplexität der literarischen Welt Döblins in die filmische Welt Fassbinders zu transportieren. Darüber hinaus erzeugen diese Funktionen sprachlicher Elemente in zunehmendem Maße ein Gefühl der Mittelbarkeit. Paraphrasierende Kommentare oder Textinserts können - wie oben ausführlich beschrieben wurde - spezifische Erzählperspektiven etablieren, hauptsächlich auktoriale ES und Ich-ES. Polarisierende Kommentare verstärken den Einfluß der vermittelnden Instanz, da sie auf die Rezeption der visuellen Ebene stärker einwirken als schlichte Paraphrasierungen, der visuellen Ebene mitunter neue Bedeutung verleihen. Der oben beschriebene Prozeß der assoziativen Verknüpfung von Bild und Sprache spielt dabei eine große Rolle. Am nachhaltigsten beeinflussen aber kontrapunktierende Kommentare die Wahrnehmung eines Films; sie berauben die Bilder ihrer unmittelbaren Wirkung und ersetzen diese durch eine komplexe Struktur widersprüchlicher visueller und sprachlicher Informationen, die nicht mehr durch Assoziationen komprimiert und reduziert werden kann. Dadurch erzeugen sie eine noch größere Distanz zwischen Rezipient und Film als Paraphrasierungen und Polarisierungen, Ihr oftmals irritierender Effekt durchbricht die Illusion der dargestellten Handlung und verstärkt somit die dem Medium Film eigene Mittelbarkeit. Paraphrasierende, polarisierende und kontrapunktierende Funktionen sprachlicher Elemente im filmischen Diskurs lassen sich mit Sicherheit nicht immer eindeutig voneinander unterscheiden und trennen. Die Grenzen zwischen Paraphrasierung und Polarisierung einerseits und Polarisierung und Kontrapunktierung andererseits sind fließend. Den29
Siehe Kapitel VII/2.
118 noch bieten diese Kategorien ein brauchbares Raster, mit dessen Hilfe eine erste Annäherung an sprachlich-literarische Gestaltungsmittel und eine vorläufige Spezifizierung ihrer Funktionen möglich werden.30
4. Sprache und Bild im Konflikt 4.1 "Der Kampf um den Film" In diesem Prozeß der Episierung treffen Sprache und Bild aufeinander, und es scheint unvermeidbar, daß sowohl Freunde der Literatur als auch Freunde des Films jeweils ihr Medium in diesem Zusammentreffen und Zusammenwirken benachteiligt und in seiner spezifischen künstlerischen Entfaltung gefährdet sehen. Estermann31 befürchtet beispielsweise, daß sprachliche Elemente im Film, die als Zitate auf die literarische Vorlage verweisen, meistens durch die stärkere Wirkung des Bildes überlagert und ihrer eigentlichen ästhetischen Kraft beraubt werden. Die Wahrnehmung des "optischen Bildes" und dessen konkreter Gestalt beeinträchtigt den Zuschauer bei dem gleichzeitig geforderten Erkennen eines "poetischen Bildes"32, das sich durch die Vermittlung der literarischen Worte zunächst ohne konkrete Gestalt anbietet und nur durch die Phantasie des Rezipienten vollständig realisiert werden kann. Die Filmbilder aber lassen in der Vorstellungsweit des Zuschauers keinen Platz für poetische Bilder, so daß die literarischen Texte im Film nicht als wirkliche literarische Texte wirken können und somit eine Reduktion auf Oberflächlichkeiten oder vordergründige Banalitäten erleiden müssen. '
31 32
Reinhold Rauh unterscheidet zwischen vier Grundformen des Zusammenwirkens von Sprache und Bild im Film: Potenzierung, Modifikation, Parallelität und Divergenz. Potenzierung und Parallelität entsprechen zusammengefaßt der paraphrasierenden Funktion, Modifikation entspricht in etwa der polarisierenden und Divergenz der kontrapunktierenden Funktion, (Reinhold Rauh: Sprache im Film. Die Kombination von Wort und Bild im Spielfilm. Münster 1987, zitiert nach: Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, [Sammlung Metzler, Bd. 277] Stuttgart/Weimar 1993, S. 106.) Alfred Estermann: Die Verfilmung literarischer Werke, Bonn 1965, S. 4291 Ebd., S. 415ff.
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Der sehr pauschal formulierte Vorwurf Estermanns müßte an konkreten Beispielen überprüft werden. Auf der anderen Seite kam es - vor allem in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts - zu heftigen Angriffen gegen den sogenannten 'literarischen Film', der nach Meinung zahlreicher Regisseure und Künstler die Möglichkeiten des jungen Mediums zugunsten literarischer Erzähl traditionen opferte. Dabei ging es nicht generell urn Filme nach literarischen Vorlagen, sondern vielmehr um eine bestimmte Art, sprachliche Elemente zur Erläuterung komplexer Sachverhalte in den Vordergrund zu drängen und die visuelle Gestaltung zu vernachlässigen. Besonders im Stummfihn fiel diese Literarisierung unangenehm auf. Arnheim gibt ein Beispiel für solch einen 'literarischen Film': "Es gab einmal einen Füm mit Irene Rieh, der begann mit etwa folgendem Text: 'Berenice Miller war mit einem Mann verheiratet gewesen, den sie nicht aus Liebe sondern nur des Geldes wegen genommen hatte.' Dann sah man Berenicens Brustbild. Dann wieder Text: 'Nun, nachdem ihr Mann gestorben ist, glaubt sie, sich den Anträgen ihres Jugendfreundes nicht länger widersetzen zu dürfen.' Und dann ein Bild: Berenice auf einer Bank sitzend und neben ihr ein junger Mann, der auf sie einspricht. Niemand wird behaupten, daß die Situation, in der der Film beginnt, nicht sonnenklar wäre. Und dennoch ist dies natürlich die hilfloseste und minderwertigste Exposition, die man sich vorstellen kann." 33
Die zunehmende Institutionalisierung des Films seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und seine Bemühungen, sich einem bürgerlichen Geschmack anzupassen - denn mit der Errichtung der ersten Kinos war es notwendig geworden, eine breitere, zahlende Publikumsschicht für den FÜm zu gewinnen -, mündeten in dieser Form der Literarisierung. ^4 Nicht nur Stoffe der Literatur und des Theaters wurden ver-filnu, der FUmstil selbst paßte sich der Darstellungstradition des Theaters an oder suchte Zuflucht in sprach! ich-literarischen Gestaltungsmitteln, wo eine 33 J
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Arnheim, a.a.O., S. 170. Vgl. Hans Richter: Der Kampf um den Film. Für einen gesellschaftlich verantwortlichen Film. (Herausgegeben von Jürgen Römhild) Frankfurt a.M. 1979, S. 48ff.; Brauneck, a.a.O., S. 8ff.; Gollub, a.a.O., S. 20 und Paech: Literatur und Film. Stuttgart 1988, S. 25ff.
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Visualisierung narrativer Zusammenhänge nur schwer möglich war; dies schien zunächst der einfachste Weg zu sein, den Film - bisher als unseriöse Jahrmarktsattraktion verschrieen - als akzeptable Kunstform zu etablieren. Damit jedoch, so fürchteten engagierte, avantgardistische Künstler in Europa, die den Film für sich entdeckt hatten, lief man in eine Sackgasse und verbaute dem jungen Medium vorerst die Chance, eine eigene Identität zu finden, eigene, kinematographische Qualitäten zu entwickeln und zu erproben. Die Versuche, Mittelbarkeit und narrativen Aufbau durch ein Übermaß an sprachlichen Elementen zu verwirklichen, erschienen den Avantgardisten unbefriedigend, und so hielten sie es für sinnvoller, halbherzige Bemühungen um erzählerische Qualitäten ganz abzulehnen und das Medium Film von jeglichen literarischen Einflüssen zu befreien, AU ihr Interesse richtete sich auf das rein visuelle Element des Films, auf das Bild und dessen Wirkung als expressive Kunstform; sie begannen einen künstlerischen und gesellschaftlichen "Kampf um den Film"35. In Frankreich waren es Fernand Le"ger, Rene Clair, Francis Picabia und Jean Epstein, in Deutschland Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling, die in den zwanziger Jahren gegen den 'literarischen Film' polemisierten. Richter, überzeugt davon, daß das Interesse, durch gefällige Geschichten und literarisch geprägte Stoffe ein großes Publikum anzuziehen, im Widersprach zu den künstlerischen Herausforderungen des Films stünde, äußerte sich sehr drastisch über die Filmproduktion seiner Zeit: "Es gibt noch keinen Film, nur eine perverse Abart photographierter Literatur! {,..] Der Film braucht kein Publikum. - Der Film braucht Künstler! (...] Gegenstand, Bedeutung und Handlung sind bequeme Anpassung an den Verdauungsschlaf im Parkett. Wacht endlich auf!!!" 36
Sehr energisch zog auch Ruttmann einen Trennungsstrich zwischen Film und Literatur und formulierte das Unbehagen, das sich mit der So der Titel von Richters wichtiger, programmatischer Schrift. Hans Richter (Hrsg.): G. Material zur elementaren Gestaltun herausgegeben von Marion von Hofacker) München 1986, S. 107.
121 zunehmenden Literarisierung des Films seit dem Anfang des Jahrhunderts bemerkbar machte: "Literatur hat aber mit dem Kino nichts zu tun! Der Gehalt jeden Fümschauspiets wird uns durch das Auge vermittelt und kann uns infolgedessen nur dann zum künstlerischen Erlebnis werden, wenn er optisch konzipiert war. Die Kunst des Dichters basiert aber nicht auf Augenerlebnissen und sein Gestalten wendet sich nicht an unser Auge. Also fehlen seinem Schaffen die grundsätzlichsten Bedingungen für den Film. In diesem Fehlen liegt die Hauptursache für die schmerzlichen Enttäuschungen, die jeder neue 'Autorenfilm' mit sich bringt," 37
Diese "Enttäuschungen" waren nur zu überwinden, indem man den Film von allen nicht-kinematographischen Einflüssen befreite und so das visuelle Element uneingeschränkt zur vollen Entfaltung brachte. Ähnliches forderte Jean Epstein 1923: "Der Film muß jede Beziehung vermeiden [...] mit einem historischen, erzieherischen, romantischen, moralischen oder unmoralischen, geographischen oder dokumentarischen Gegenstand. Der Film muß versuchen, nach und nach endlich ausschließlich kinematographisch zu werden, d.h., er soll schließlich nur noch photogenetische Elemente benutzen." 38
Inspiriert von Malerei und moderner Kunst, begannen die Avantgardisten, neue, experimentelle Formen des Films zu schaffen. Es entstanden Filme ohne Handlung, ohne Menschen, abstrakte Filme mit visuellen, rhythmischen Formspielen,39 geometrischen Flächen in Bewegung,40 Filme, in denen leblose Gegenstände des Alltags durch rasante
17
'
38 39
40
-
Das Zitat stammt aus einem Text, der einem Brief Ruttmanns aus dem Jahre 1917 beigefügt war, selbst jedoch nicht eindeutig datiert werden kann. Er befindet sich im Besitz des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt a.M. Zitiert wurde nach: Walter Schoben (Hrsg.): Der deutsche Avant-Garde Film der 20er Jahre. Publikation des Goethe-Instituts. München 1989, S. 7. Zitiert nach Richter 1979, S. 44. Z.B. Viking Eggelings "Diagonal-Symphonic" (I923-1925) und Walther Ruttmanns Lichtspiele (1919-1924). Z. B, H ans Richters Rhythmusfüme (1921 -1924}.
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Montage in ein furioses mechanisches Ballett versetzt wurden,41 reines Kino ohne sprachlich-literarische Elemente - cinema pufä. Erst die intellektuelle Montage Eisensteins, die sich 1924 in dessen Film "Streik" ankündigte und ein Jahr später in "Panzerkreuzer Potemkin" größte Aufmerksamkeit unter den europäischen Filmkünstlern und -theoretikern erregte,43 bewies, daß sich auch mit kinematographischen Mitteln allein eine narrative Form des Films gestalten ließ, die gleichermaßen mittelbar, bedeutungsvoll und künstlerisch war. Die Avantgardisten erkannten nun unter dem Einfluß sowjetischer Regisseure die Möglichkeit, über die Montage zum narrativen Film zurückzukehren; denn die Montagetheorien Eisensteins44 und Pudowkins versprachen nichts geringeres als die filmische Kompetenz, sinnvolle Geschichten erzählen und bis zu einem gewissen Grade auch abstrakte Zusammenhänge verdeutlichen zu können, ohne das Primat des Bildes zu gefährden. Mit anderen Worten: Es schien plötzlich möglich zu sein, Mittelbarkeit durch rein kinematographische Mittel zu erzeugen, dem Kunstanspruch des Films quasi durch eigene, gattungsspezifisch-visuelle Techniken gerecht zu werden. Die zwanghaften Formen der Mittelbarkeit durch sprachlich-literarische Elemente konnten somit - scheinbar überwunden werden. 4.2 Ungleichgewicht zwischen Sprache und Bild Der Konflikt zwischen Sprache und Bild als Elemente der Filmgestaltung wurde durch die Einfuhrung des Tonfilms deutlich entschärft. Unter dem Aspekt der Realisierung spezifischer Erzählsituationen kann er aber noch heute von Interesse sein, zumal sich in ihm die Prinzipien 41
42
Z.B. Fernand Legers "Ballet mecanique" (1924) und Hans Richters "Vormittagsspuk" (1927/28). Vgl. Kracauer 1964, S. 241 ff. Vgl. Hans-Joachim Schlegel: Die Verfilmung der Revolution und die Revolutionierung des Films: Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosec Poternkin, 1925). In: Werner Faulstich/Helmut Körte (Hrsg.); Fischer Filmgeschichte. Bd, 2: Der Film als gesellschaftliche Kraft 1925-1944. Frankfurt a.M. 1991, S. 4257. Näheres dazu in Kapitel V.
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der sprachlich-literarischen Formung der Mittelbarkeit einerseits und der rein visuell-kinematographischen Formung der Mittelbarkeit andererseits widerspiegeln. In den bereits erwähnten Kleist-Verfilmungen "Das Erdbeben in Chili" und "Die Marquise von O." beispielsweise wird das Spannungsfeld zwischen Bild und Sprache sinnfällig. Der Beginn des Films "Das Erdbeben in Chili" bietet zahlreiche visuelle Details und bedeutungsvolle syntagmatische Strukturen,45 die allerdings kaum wahrgenommen werden, da die Aufmerksamkeit des Betrachters völlig auf den erklärenden Text des Erzählers gerichtet ist. Dessen Bericht über die Vorgeschichte der Protagonisten fordert so viel Konzentration, daß "die Rezeptionsfähigkeit des Zuschauers [...] überfordert"46 zu sein scheint. Die visuelle Ebene des Films reduziert sich dadurch auf eine oberflächliche Bebilderung der im Off-Ton vermittelten narrativen Zusammenhänge und gerät in Gefahr, ihren eigenen Ausdruckswert als kinematographische Kunstform einzubüßen. Ähnliches droht in Rohmers "Die Marquise von O.". In zwei Szenen wird das visuelle Element auf jeweils nur eine einzige, relativ statische Einstellung beschränkt und alle notwendigen Informationen durch umklammernde Texteinblendungen geliefert: Nach der Eroberung der Zitadelle durch die russischen Truppen muß die Familie des Obristen das Kommandantenhaus verlassen. Ein Textinsert (weiße Schrift auf schwarzem Grund, Einstellungsdauer: 5 Sekunden) erklärt: "Die Familie mußte das Kommandantenhaus räumen und bezog ein Haus in der Stadt. "47 Es folgt eine Einstellung von 9 Sekunden Dauer, in der die Fassade des Stadthauses gezeigt wird; zwei Diener tragen Mobiliar hinein.
46
Vgl. die Analyse der Exposition bei Stefan Braun; Heinrich von Kleist / Helma Sanders: Das Erdbeben in Chili. Eine vergleichende Analyse der Erzähleingänge von Film und Novelle. In: Kanzog (Hrsg.) 1981, a.a.O., S. 59-89. Ebd., S. 72. Vgl. dazu den Originaltext von Heinrich von Kleist: Die Marquise von O. In; Ders: Sämtliche Werke und Briefe. Herausgegeben von Helmut Sembdner. Zweiter Band. 6., ergänzte und revidierte Auflage, München 1977, S. 104-143, S. 109.
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Gleich darauf erscheint wieder eine Texteinblendung (3 Sekunden) "Alles kehrte nun in die alte Ordnung der Dinge zurück."48 -, die sprachlich-literarische Klammer um das kinematographische Element gleichsam schließend. Ließe man die Einstellung zwischen den Textinserts jedoch weg, so ginge keine für das Verständnis der Handlung notwendige Information verloren. Ein vergleichbares strukturelles Gefüge begegnet dem Zuschauer in der Szene, in der die Marquise, von ihren Eltern verstoßen, die Stadt verläßt und aufs Land fährt: Textinsert (15 Sekunden): "Durch diese schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor."49 Eine Einstellung (12 Sekunden): Die Marquise sitzt mit ihren zwei Kindern auf einer Kutsche. Schützend umfängt sie die beiden; eines schmiegt sich an ihre rechte Seite, das andere schläft auf ihren Schoß gebettet. Textinsert (12 Sekunden): "Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen, gab sich ganz unter der großen heiligen und unerklärlichen Einrichtung der Welt gefangen."50 In beiden Fällen erscheint der eingeblendete literarische Text wichtiger als das jeweils lediglich illustrativ hinzugefügte Bild; es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen sprachlicher und kinematographischer Gestaltung, das sich den Vorwurf gefallen lassen müßte, das eigentliche, spezifische Ausdrucksmittel des Films zugunsten einer sprachlich-literarischen Gewichtung zu vernachlässigen. Daher geschieht es häufig, daß Literatur-Verfilmungen, die sich solcher nicht-kinematographischer Gestaltungsmittel in erhöhtem Maße bedienen, von der Filmkritik sinngemäß als 'unfümisch', 'langweilig' und 'literarisch überfrachtet' bezeichnet und dementsprechend als un-
48
Vgl.ebd., S, 109.
49
Vgl.ebd., S. 126. Vgl.ebd., S. 126.
50
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interessant und als jeglicher weiteren Beachtung unwürdig eingestuft werden.^1 Neben der Episierung des Films durch sprachliche Codes besteht aber noch die Möglichkeit, Mittel barkeit und spezifische Erzählsituationen durch rein kinematographische Elemente zu erzeugen, wobei der Konflikt zwischen sprachlich-literarischen und visuellen Komponenten der FUrngestaltung selbstverständlich vermieden wird. Davon handelt das folgende Kapitel.
51
Jan Hans und Rainer Zimmer beispielsweise bezeichnen, Irmela Schneider zitierend, ein "Produkt dieser Verfahrensweise (als] ein unglückseliges 'Zwitterwesen von literarischen Zitaten und aufgesetzten Kostüm-Bildern'". (Hans/Zimmer: Literaturverfilmung fürs Fernsehen, In: Brauneck [Hrsg.] 1980, a.a.O., S. 480-491, S, 481.) Nicht immer jedoch planen Autoren und Regisseure den Gebrauch sprachlicher Mittel bei der Konzeption eines Filmes gezielt ein. Der britische Regisseur Ridley Scott beispielsweise war bei der Nachbearbeitung des Films "Blade Runner" (USA 1982), einer Verfilmung des Romans "Do Androids Dream Of Electric Sheep?" von Philip K. Dick, durch die Schnittauflagen der Produktionsgesellschaft gezwungen, lückenhafte Passagen zu überbrücken, indem er die Stimme der Hauptfigur als kommentierende Erzählerstimme aus dem Off einsetzte. (Vgl. Bernd Teichmann: Vom Keller ins Kino! Die Rückkehr der Klassiker. In: Cinema, 3, 1993 [Nr, 178), S. 88-94, S, 90 und 92.) Ähnlich erging es David Lynch, der seine monumentale Verfilmung des Romans "Dune" von Frank Herbert aus dem Jahre 1984, auf eine Länge von ca. 141 Minuten zusammenkürzen mußte. Fehlende Zusammenhänge wurden durch Off-Stimmen, die Gedanken der gerade handelnden oder im Bild sichtbaren Personen, nachträglich geschaffen - "[...] die schwerfälligste und unfilmischste aller Lösungen." (Robert Fischer: David Lynch. Die dunkle Seite der Seele. München 1992, S. 103.)
V. Mittelbarkeit durch den kinematographischen Code 1. Methodische Vorüberlegung Die Realisierung spezifischer Erzählsituationen durch den kinematographischen Code erfolgt auf der Ebene der Bilder und der syntaktischen Verknüpfung der Einstellungen eines Films. Die erzählperspektivischen Wirkungen von kinematographischen Bildeindrücken wurden bereits erörtert1 und dabei die scheinbare Unmittelbarkeit, die die visuelle Darstellungsweise des Mediums Film überwiegend prägt, auf die Dominanz der personalen ES und der auktorialen ES mit einer unauffälligen Erzählinstanz zurückgeführt. Nun gilt es, die dynamischen Prozesse des narrativen Films zu berücksichtigen, die Verkettung einzelner Einstellungen, die in ihrer spezifischen Abfolge und syntagmatischen Gebundenheit eine fortlaufende Handlung erzeugen und darüber hinaus bestimmte Erzähl Situationen konstituieren können. Dabei muß beachtet werden - und dies sei als methodische Überlegung vorangestellt -, daß der Film durch Bilder erzählt, durch einzelne Einstellungen, die quasi syntaktisch zusammengefügt werden und einen einheitlichen Diskurs bilden, in dem jedes Einzelelement durch seinen Bezug zu den anderen Elementen Sinn erhält und so erst in einer bestimmten, sinnvollen Weise rezipiert werden kann. Das bedeutet, daß der Erzählvorgang wesentlich aus dem Zusammenspiel der Einstellungen entsteht, daß diese ihr semantisches und narratives Potential hauptsächlich in Kombination mit anderen Einstellungen entfalten können und daß zwei Einstellungen mit identischen oder ähnlichen Eigenschaften in verschiedenen Bildzusammenstellungen verschiedene Bedeutungen haben können.3 Daher muß bei der Analyse und Interpretation ei1
"
Siehe Kapitel III. Natürlich können einzelne Einstellungen, vor allem wenn sie von längerer Dauer sind, narrative und semantische Eigenständigkeit erlangen. Im Normalfall jedoch ordnen sie sich dem gesamten Erzählzusammenhang unter. Man denke nur an den berühmten Kuleschow-Effekt, bei dem absolut identische Einstellungen (die Großaufnahme eines relativ ausdruckslos blickenden
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nes Films - vielleicht mehr noch als bei einem literarischen Werk - stets der Kontext, d.h. die benachbarten Einstellungen berücksichtigt und im Urteil miteinbezogen werden.4 Generelle Aussagen über die Bedeutung eines quasi isolierten kinematographischen Elements, sei es ein erzählteehnisches Verfahren oder die konkrete paradigmatische Eigenschaft einer Einstellung, können also nur unzureichend sein und bedürfen einer umfassenden Deutung im strukturellen und narrativen Umfeld.
Mannes) je nach Kontext (Kombination mit der Aufnahme eines Tellers Suppe, eines toten Mannes, einer nackten Frau) unterschiedliche Bedeutungen suggerieren (Hunger, Angst, Begierde). Vgt. dazu auch Hans Jürgen Wulff: Experimente zum Kuleshov-Effekt. Ein Bericht. In: Schumm/Wulff (Hrsg.) 1990, a.a.O., S. 13-40. An dieser Stelle wird noch einmal die prinzipielle Ähnlichkeit zwischen Literatur und Film als narrativen Medien deutlich. Iser stellt im Zusammenhang mit der Wahrnehmung literarischer Texte fest: "Nun aber sind wir gar nicht in der Lage, einen Text in einem einzigen Augenblick aufzunehmen, ganz im Gegensatz etwa zur Objektwahrnehmung, die vielleicht ihren Gegenstand im Akt der Zuwendung nicht voll erfaßt, ihn jedoch in einem solchen Akt zunächst als ganzen vor sich hat. Bereits in dieser Hinsicht unterscheidet sich ein Text von Wahrnehmungsobjekten [...]. Steht das Wahmehmungsobjekt als Ganzes im Blick, so ist ein Text nur über die Ablaufphasen der Lektüre als ein Objekt' zu erschließen. Stehen wir dem Wahmehmungsobjekt immer gegenüber, so sind wir im Text immer mitten drin. Daraus folgt, daß der Beziehung zwischen Text und Leser ein vom Wahrnehmungsvorgang unterschiedener Erfassungsmodus zugrunde liegt. Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte." (Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 177f.) In annähernd gleichem Maße kann auch der narrative Film als ein Text verstanden werden, der sich dem Betrachter niemals als Ganzes präsentiert, sondern nur in einem zeitlichen Ablauf wahrgenommen werden kann. Bei der Rezeption und der sinnstiftenden Interpretation spielt daher der Kontext jeweils einzelner Elemente des narrativen Diskurses eine bedeutende Rolle, da er den Betrachter als "wandernden Blickpunkt" durch das Geschehen führt und so die Rezeption bewußt von Einstellung zu Einstellung lenkt, dem Einzelelement jeweils durch benachbarte Elemente Sinn verleihend.
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2. Funktionen des Erzähl Vorgangs Erzählsituationen sind an den Vorgang des Erzählens gebunden und lassen sich durch die spezifischen Gestaltungselemente des jeweiligen narrativen Mediums realisieren, in der Literatur durch die Sprache und deren literarische Formung, im Film durch Bilder und deren kinematographische Formung. Reichen aber die Möglichkeiten des kinematographischen Codes aus, einen filmischen Erzählvorgang so zu strukturieren, daß er bestimmte Erzählsituationen ausbilden kann, daß er so die Wahrnehmung des Zuschauers in beabsichtigter Art und Weise lenken und über jede Zufälligkeit der einzelnen Bild Wirkung hinaus seine medial bedingte Mittelbarkeit nutzen kann, perspektivisch darzustellen und mit künstlerischer Intention zwischen Sujet und Zuschauer zu vermitteln? Um diese Fragen nach der Kompetenz des kinematographischen Codes beantworten zu können, sollen zunächst Funktionen und konnotative Fähigkeiten des filmischen Erzählens kurz betrachtet werden. 2.1 Prädikative und illokutive Akte des Erzählens "Der Erzählakt", so stellt Peters5 für den Bereich des Mediums Film fest, "steckt nicht im Spiel der Schauspieler und in allem, was dazu gehört, sondern nur - wenn wir den beigefügten verbalen Kommentar oder die Begleitmusik einen Moment außer acht lassen - in der Kamerahandlung. Das heißt: in den aufeinanderfolgenden Blicken und Blickbewegungen der Kamera, oder im Anfangen, Beenden, Unterbrechen und aufs Neue Anfangen der Blickaktivität der Kamera." Das, was Peters unter der Kamerahandlung versteht, läßt sich durchaus mit dem kinematographischen Code, also den gattungsspezifischen Möglichkeiten der visuellen Gestaltung eines Films, gleichsetzen. Seine folgende Aussage jedoch - "Der Erzähler oder die Erzähl funktion kann nicht in der Inszenierung stecken, weil es in der dargestellten Geschichte, wie diese sich vor der Kamera abspielt, keine Instanz gibt, die Jan Marie Peters: Sprechakttheoretische Ansätze zum Vergleich Roman - Film. In; Joachim Paech (Hrsg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur. 2., überarbeitete Auflage, Münster 1988, S. 45-61, S. 51.
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als der Ursprung, der Verursacher der Darstellung angesehen werden kann."6 - muß in Frage gestellt oder präzisiert werden, denn die Inszenierung als Teil der Mise-en-scene wird im Hinblick auf die Kamerahandlung, im Hinblick auf Kamerastandpunkt und Kamerabewegungen, festgelegt, d.h. bereits in dem Arrangement vor der Kamera werden die Besonderheiten der narrativen Situation, und dazu zählen selbstverständlich auch Erzählerperspektive und Erzählsituation, mitberücksichtigt. Die Mise-en-scene kann aus dem Bereich der kinematographischen Gestaltung nicht ausgeklammert werden. Ausgehend von den Prinzipien der Sprechakttheorie von Austin und Searle unterscheidet Peters im folgenden7 allgemein drei Funktionen des kinematographischen Erzählvorgangs: einen Referenzakt, einen Prädikationsakt und einen illokutiven Akt. Im Referenzakt bildet die Kamera Personen, Orte oder Ereignisse kurz: Teile der Handlung - ab. Im Prädikationsakt wird diese rein abbildende Funktion durch eine zusätzliche Aussage über das abgebildete Handlungselement ergänzt. "Während sie [die Kamera - M.H.] einen Handlungsteil präsentiert, erteilt sie diesem auch eine Bedeutung, semantisiert sie diesen Handlungsteil, weil immer das, was verfilmt wird, etwas von der Verfilmung mitbekommt; die Art des Aufhehmens wird immer auch zu einer Eigenschaft des Aufgenommenen." 8
Zusammen bilden Referenzakt und Prädikationsakt den propositionalen, also darstellenden Akt des filmischen Erzählens. Dem steht der illokutive Akt als dritte Funktion der Kamerahandlung gegenüber. Er bezeichnet die kommunikative, vermittelnde Komponente zwischen dargestellter Handlung und Zuschauer und dient somit
7 8
Ebd., S. 51. Eine ähnliche, irreführende Behauptung stellt auch Hagenbüchle, a.a.O., S. 82, auf: "Der Ort der filmischen Erzählfunktion ist dabei in der Kamera, nicht in der Inszenierung zu sehen." - Es verblüfft, welches kreative Eigenleben der Kamera hierbei zugesprochen wird, die doch nichts anderes als ein technisches Aufnahmegerät ist. Noch nie hat jemand den On der literarischen Erzählfunktion in Thomas Manns Schreibgerät vermutet! Peters 1988, S. 52ff. Ebd., S. 52.
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der Lenkung der Rezipientenaufmerksamkeit und der Etablierung bewußt gewählter Erzählperspektiven, "Eine Kamerabewegung auf ein Objekt zu, das Abblenden einer Szene, die Rückblende oder das Verlegen der Schärfe während einer Einstellung sind deutliche Beispiele eines auffallenden illokutiven Eingriffs der Erzählfunktion. Tatsächlich jedoch ist jeder Schnitt, soweit er die Aufmerksamkeit des Zuschauers von dem einem [sie!] Objekt auf ein anderes lenkt, als eine illokutive Kamerahandlung zu betrachten [,,, l " 9
Die Unterscheidung zwischen Prädikationsakt und illokutivem Akt erscheint problematisch und in dieser Form keineswegs stets haltbar. Eine prädikative Aussage über ein dargestelltes Objekt kann bereits eine manipulative Lenkung des Zuschauers sein und deutlich auf eine vermittelnde Instanz verweisen. Daher ist es sinnvoll, bei prädikativen Akten im konkreten Fall zwischen rein prädikativen und darüber hinaus vermittelnden Funktionen zu differenzieren. Vorläufig aber genügt es festzuhalten, daß der kinematographische Code durchaus imstande ist, seine bloß abbildende, referentielle Funktion durch prädikative und illokutive Aspekte zu bereichern. Die bewußte Anwendung dieser prädikativen und illokutiven Erzähl funktionen macht eine zielgerichtete Vermittlung zwischen Handlung und Zuschauer über einen flüchtigen, zufälligen Bildeindruck hinaus möglich. 2.2 Kinematographische Konnotationen Der "Reichtum an Konnotationen"10 zeichnet ein Kunstwerk aus. Indem der kinematographische Code durch prädikative und illokutive Erzählfunktionen die Ebene der reinen Denotation - repräsentiert durch die referentielle Erzählfunktion - überwindet und narrativen Zusammenhängen durch eine spezifische Darsteüungsweise zusätzliche Bedeutung verleiht, bildet er Konnotationen, Diese Konnotationen, expressiver Gehalt einer kinematographischen Inszenierung, verdeutlichen den Kunstcharakter des Mediums und dessen Mittelbarkeit, denn sie zeigen einerseits, daß Film nicht nur ungey
Ebd., S. 54.
10
Metz, a.a.O., S. 110.
131
staltete, unmittelbare äußere Wirklichkeit wiedergibt, und andererseits, daß sich durch die Mittelbarkeit eine bestimmte Sicht der Dinge ausdrückt, eine mehr oder weniger subjektive Sehweise, die in ihrer perspektivischen Gebundenheit oder aber ihrer absoluten perspektivischen Freiheit nicht nur denotativ abbildet, sondern konnotativ wertet. Durch diese Mittelbarkeit wiederum bietet sich die Möglichkeit, Erzählsituationen zu gestalten, die eben auch eine bestimmte Sicht der Dinge, eine mehr oder weniger subjektive Sehweise repräsentieren. Auf diese Weise ergibt sich ein Zusammenhang zwischen Konnotationen der filmischen Darstellung und kinematographischen Erzählsituationen. 2.2.1 Paradigma tische Konnotationen Der kinematographische Code kann zwei unterschiedliche Arten von Konnotationen erzeugen.J' Die paradigmatische Konnotation entsteht durch besondere Eigenschaften einer Einstellung, durch die gewählten Parameter eines Kamerabildes, die es von anderen möglichen Bildern des gleichen Objekts unterscheidet. Einstellungsgröße, Perspektive, Blickhöhe, Bewegung der Kamera, Schärfe oder Unscharfe - all diese Faktoren, die Merkmale einer einzigen Einstellung sein können und für jede Einstellung neu gewählt werden müssen, können im konkreten Fall eine konnotative Bedeutung erzeugen und dabei sowohl prädikative als auch illokutive Erzählfunktionen erfüllen. In einer kurzen Beschreibung zweier Einstellungen aus Pudowkins Film "Die Mutter" (UdSSR 1926) verdeutlicht Reif das Prinzip der paradigmatischen Konnotation, ohne es jedoch beim Namen zu nennen: "Wenn er [Pudowkin - M.H.] die Mutter beim Tod ihres Mannes in einen kahlen, elenden Raum platziert [sie!] und ihre zusammengesunkene Gestalt mit der Kamera leicht von oben herunter aufnimmt, dann löst der visuelle Eindruck bei uns das Gefühl der Verlassenheit und Verzweiflung aus, unter dem diese Frau leidet. Die Kamera benutzt dabei die kulturell codierte Interpretation des Raumes, der räumlichen Anordnung von Gegenständen oder Personen und die ihnen dadurch zugeschriebenen Machtverhältnisse, wenn er die Dimensionen des Raumes das 11
Vgl. Monaco, a.a.O., S. 145f.
132 ihm ausgelieferte Individuum verschlingen läßt. In der Unterwerfung unter den Blick der Kamera verstehen wir Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein. [...] Die umgekehrte Konnotation wird wirksam, wenn Pudowkin dieselbe Frau später an der Spitze einer Demonstration marschieren läßt und die Kamera nur noch auf ihr Gesicht richtet, und zwar von unten nach oben. Die Machtverhältnisse haben sich ins Gegenteil verkehrt; nun zwingt sie uns in die schwächere Position." I2
Auch in seinem Film "Die letzten Tage von Sankt Petersburg" (UdSSR j927)13 arbeitet Pudowkin mit paradigmatischen Konnotationen. So demonstrieren die in extremer Untersicht aufgenommenen Reiterstandbilder vor den Palästen der Stadt Sankt Petersburg die Macht und Bedrohlichkeit der zaristischen Herrschaft. Als in einer späteren Szene des Films zwei Menschen vorn Land in die Stadt kommen und die Kamera in einer Totalen auf sie herabblickt, vorbei an eben jenen gewaltigen Standbildern, die nun mächtig und drohend über den winzigen Menschen aufragen, entsteht erneut die Konnotation der aggressiven Diktatur des zaristischen Regimes - diesmal aus der Perspektive einer extremen Aufsicht. Die folgenden Großaufnahmen von massiven Säulen und Treppen der Paläste und Regierungsgebäude, durch Überblendungen zu einem dichten Netz von Vertikalen und Horizontalen verknüpft, werden ebenso zu einem Symbol für die erdrückende staatliche Macht. Konventionalisierung und Gewöhnung an die symbolische Ausdruckskraft von Bildern und Einstellungsparametern führten dazu, daß das Stilmittel der paradigmatischen Konnotation in vielen seiner Ausprägungen heute kaum noch bewußt wahrgenommen wird. Untersicht und Aufsicht, Lichtführung und Einsatz von Schatten, Kameraschwenks und Kadrierungen - Gestaltungselemente, die unmittelbar auf das Filmbild und dessen Bedeutung einwirken, werden vom filmerfahrenen Rezipienten zwar zur Kenntnis genommen und meistens auch richtig verstanden, doch eine bewußte Auseinandersetzung mit der konnotativen Bedeutung einer bestimmten visuellen Gestaltung findet nicht statt. So stellen beispielsweise Einstellungen mit subjektiver Kamera einen Sonderfall von paradigmatischen Konnotationen dar; ihre Bildparameter 12
Reif, a.a.O., S. %f. " Auch bekannt unter dem deutschen Titel "Das Ende von Sankt Petersburg".
133
verweisen immer auf das Subjekt, dessen Blick durch die Aufnahme wiedergegeben wird, und auf dessen Wahrnehmungsbedingungen. Kaum ein Rezipient wird Schwierigkeiten haben, eine subjektive Einstellung richtig zu deuten. Daß sie ihre Funktion der gezielten Wirkung einer paradigmatischen Konnotation verdankt, muß er dabei allerdings nicht erst analysieren. Die Einstellung mit subjektiver Kamera ist eine filmische Konvention und somit sofort verständlich. Die spezifischen Eigenschaften einer Einstellung, gewählt aus der Vielzahl aller Möglichkeiten, die der kinematographische Code bietet, verleihen dem Dargestellten über die reine Abbildungsfunktion hinaus eine paradigmatische Konnotation; diese bezieht sich, da sie den Besonderheiten des Bildes entspringt, auf die Ebene der Mise-en-scene. 2.2.2 Syntagmatische Konnotationen Die syntagmatische Konnotation hingegen bezieht sich auf die Ebene der Montage, auf den kinematographischen Gestaltungsbereich der Verknüpfung einzelner Bilder und Einstellungen. Hierbei erlangt eine Einstellung - unabhängig von ihren paradigmatischen Eigenschaften - ihre expressive Bedeutung durch ihre Verbindung mit vorangehenden oder folgenden Einstellungen. Indem die Bilder miteinander in Beziehung gebracht werden und analogisch oder kontrastiv wirken oder sich in einer anderen Weise semantisch oder symbolisch ergänzen, erreichen sie größere Wirkung und entfalten ihr konnotatives Potential. Die intellektuelle Montage Eisensteins beruht in ihrer Funktionsweise auf dem Prinzip der syntagmatischen Konnotation, das Einzelbild erhält seine volle Bedeutung erst in der Kombination mit anderen Bildern. "Das Wesen des Films darf nicht in den Einstellungen gesucht werden, sondern vielmehr in den Wechselbeziehungen der Einstellungen [...]. Der Ausdruckseffekt des Filmes ist das Ergebnis von Zusammenstellungen. Und hierin liegt das '4
Vgl. Sergej M. Eisenstein: Schriften 1-4. Herausgegeben von Hans-Joachim Schlegel. München 1973-1984, besonders Schriften 3: Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx' "Kapital". München 1975, S. 169ff, und 200ff.
134 Spezifikum des Films. Eine Einstellung deutet den Gegenstand nur im Hinblick auf dessen Verwendbarkeit in einer Zusammenstellung mit anderen Sequenzteilen." 15
Das bekannteste Beispiel für Eisensteins Montagetechnik ist der sich erhebende Löwe in der Treppensequenz des Films "Panzerkreuzer Potemkin" (UdSSR 1925): Die Bevölkerung Odessas hat sich auf einer Freitreppe am Hafen versammelt, um den meuternden Matrosen des Kriegsschiffes 'Potemkin1 zuzujubeln. Da erscheinen zaristische Soldaten und treiben die Bevölkerung - Männer, Frauen und Kinder - mit brutaler Gewalt auseinander; ein Strom panikerfüllter Menschen ergießt sich über die riesige Treppe nach unten, gefolgt von gnadenlos schießenden Soldaten. Auf dem Höhepunkt der blutigen Aktion handeln die Matrosen auf der 'Potemkin1 und feuern mit ihren mächtigen Geschützen auf das palastähnliche Gebäude des Generalstabs. Zwischen den Bildern, die die Explosionen und den aufsteigenden Rauch zeigen, tauchen die drei folgenden Einstellungen von nur wenigen Sekunden Dauer auf:
1. Einstellung: Die steinerne Statue eines schlafenden Löwen, 2. Einstellung: Die Statue eines aufblickenden Löwen mit leicht geöffnetem Maul. 3. Einstellung: Die Statue eines sich erhebenden Löwen mit geöffnetem Maul. Natürlich sind dies drei Aufnahmen von jeweils verschiedenen Statuen; doch ihre Kombination läßt den Eindruck einer einzigen organischen Bewegung entstehen. Ihre Verknüpfung und ihre Plazierung in der Szene des gewalttätigen Konflikts verleiht ihnen eine starke syntagmatische Konnotation, und so scheint es, als erhebe sich ein schlafender Löwe zu drohender Größe und öffne seinen Rachen, um vor Zorn über das unmenschliche Vorgehen der Soldaten zu brüllen. Die syntagmatische Verbindung ist das entscheidende Element dieser Art von expressiver Aussage, weniger entscheidend dabei ist die diegetische Zusammengehörigkeit einzelner Bildeindrücke. Mit anderen Worten: Die einzelnen Einstellungen einer solchen bedeutungsvollen Montage müssen nicht zwangsläufig Personen, Objekte oder Handlun15
Ders.: Schriften 2: Panzerkreuzer Potemkin. München 1973, S. 138.
135
gen zeigen, die im narrativen Kontext tatsächlich anwesend, in der Szene sozusagen vorzufinden sind. Die Löwenstatuen des "Potemkin"-Beispiels könnte man sich noch als Fassadenschmuck des beschossenen Generalstabsgebäudes vorstellen. In anderen Filmen aber bedient sich Eisenstein völlig unterschiedlicher Lebensbereiche, um aus ihnen Bildmaterial für seine intellektuelle Montage zu beziehen, d.h. er schneidet Bilder zusammen, die inhaltlich völlig unabhängig voneinander erscheinen und - denotativ betrachtet - nichts mit der vorgegebenen Szene zu tun haben. Allein aus ihrer syntaktischen Verknüpfung entsteht ein Zusammenhang, ein Hinweis auf die Möglichkeit eines semantischen Vergleichs, der das Wesen der syntagmatischen Konnotaüon bestimmt. So zum Beispiel im Finale des Films "Streik" (UdSSR 1924), in dem die Niederschlagung eines Arbeiterstreiks durch Soldaten mit Aufnahmen aus einem Schlachthaus kombiniert werden.16 Das Niedermetzeln der Arbeiter wird gleichgesetzt mit dem Abschlachten von Vieh; die Montage bindet die beiden narrativen Ebenen - die denotative diegetische Ebene der Auseinandersetzung von Soldaten und Streikenden und die übergeordnete, quasi metaphorische, konnotative Ebene der Schlachthausbilder - aneinander und steigert so die Dramatik und die aufrüttelnde Brutalität der Szene. Charlie Chaplin zeigt in seinem Film "Moderne Zeiten" (USA 1935/36) Bilder von Arbeitern, die in Massen in die Fabriken strömen, und - syntaginatisch darauf bezogen - Bilder einer Schafherde. Die Menschenmenge wird durch die konnotative Wirkung der Montage zu einer Herde willenloser Tiere degradiert. Auch hier vermitteln Aufnahmen aus verschiedenen Lebensbereichen eine wirkungsvolle Aussage - die Menschen als Opfer industrieller Zwänge -, die von entsprechenden Stellen sehr genau verstanden wurde: In Deutschland und Italien wurde der Film seinerzeit wegen "kommunistischer Tendenzen" verboten; in den Vereinigten Staaten geriet Chaplin damit ins Kreuz-
VgL die Regieausarbeitung und das FilmprotokoH des "Streik"-Finales in Eisenstein: Schriften 1: Streik, München 1974, S. 71f. und 182ff.
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feuer politischer Gruppierungen und setzte sich scharfer Kritik von seilen großindustrieller Interessenverbände aus.17 2.2.3 Kombination von paradigmatischen und syntagmatischen Konnotationen Paradigmatische und syntagmatische Konnotationen können aber auch in Kombination auftreten und sich in ihren Wirkungen quasi überlappen; ebenso wie im Falle der prädikativen und ülokutiven Erzählfunktionen erscheint es dann oftmals kaum noch möglich, eine exakte Grenze zwischen den beiden Konnotationsformen zu ziehen. Carl Theodor Dreyers Film "Die Passion der Jeanne d'Arc" (Frankreich 1927) beispielsweise wird geprägt durch die nahezu ausschließliche Verwendung von Großaufnahmen, die in expressiver Folge das Gesicht der Protagonistin und die Gesichter ihrer Ankläger und Richter zeigen. Die Kamera rückt in ausgefallenen Perspektiven nahe an die Figuren heran und hält deren Gesichtszüge und deren Mimik, deren Gläubigkeit und Überzeugung, Verletzlichkeit und Verzweiflung, Arroganz und Grausamkeit in ausdrucksstarken Bildern fest. Die Wirkung der Bilder, resultierend aus den Eigenschaften der einzelnen Einstellungen, ließe sich nun auf paradigmatische Konnotationen zurückführen. Gleichzeitig jedoch wird diese Wirkung dadurch verstärkt, daß die Großaufnahmen ohne verbindende Zwischenschnitte aneinandergefügt sind und so die syntaktische Struktur des Films bestimmen; es sind also auch syntagmatische Konnotationen, die eine Steigerung der Expressivität bewirken. Am Ende des Films wechseln sich Aufnahmen der auf dem Scheiterhaufen sterbenden Jeanne d'Arc mit Bildern eines am Himmel dahinziehenden Vogelschwarms ab. Die Aufnahmen der Vögel evozieren wiederum sowohl syntagmatische als auch paradigmatische Konnotationen. Zum einen werden die Vögel durch die syntaktische Verbindung mit dem Märtyrertod zu einem Symbol für Erlösung und Freiheit; zum anderen verweisen die 17
Vgl. Ronald M. Hahn/Volker Jansen: Charlie Chaplin. Berlin 1989, S. 68; RoRoRo-Film-Lexikon in 6 Bänden. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Wolfram Tichy. Reinbek bei Hamburg 1984, Bd. 2: Filme K-S, S. 421.
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Einstellungsparameter darauf, daß die Vögel hoch oben am Himmel fliegen, in weiter, für die Menschen nahezu unerreichbarer Ferne, wobei die Entfernung zwischen dem Beobachter Standpunkt und den Vögeln in der 2. Einstellung - Jeanne d* Arc ist dem erlösenden Tod inzwischen nähergerückt - bereits etwas geringer geworden ist. Paradigmatische und syntagmatische Konnotationen wirken in den genannten Beispielen zusammen und ergänzen sich zu einem umfassenden Gesamteindruck; gleichwohl läßt sich meist eine vorherrschende Komponente bestimmen. Im ersten Fall, der expressiven Wirkung der Großaufnahmen, ist die paradigmatische Konnotation das dominierende Element; im zweiten Fall, der Montage des Märtyrertods mit den Bildern des Vogelschwarms, erreicht die syntagmatische Konnotation als künstlerisches Ausdrucksmittel eine stärkere Wirkung, Die Tendenz einzelner Einstellungen oder längerer Filmsegmente zu entweder paradigmatischen oder syntagmatischen Konnotationen wird zu einem bedeutsamen Aspekt bei der Untersuchung und Bestimmung von kinematographischen Erzähl Situationen. Dies soll bei der nun folgenden Betrachtung der kinematographischen Erzählweisen verdeutlicht werden.
3. Gestaltung des Erzählvorgangs 3.1 Gebundene Kamera - gelöste Kamera Das Spektrum kinematographischer Erzählsituationen erstreckt sich auf dem Kreismodell Stanzeis über den gesamten Reflektorbereich und umschließt zwei idealtypische Erzähl Situationen, die personale ES und die auktoriale ES; letztere bildet gleichzeitig den Endpunkt des Spektrums auf der einen Seite, während der Endpunkt auf der gegenüberliegenden Seite zwischen dem Pol Innenperspektive der Konstituente Perspektive und der Erzähler-Reflektor-Grenze liegt. Entsprechende Erzähl Situationen innerhalb dieses Spektrums kann das Medium Film mit rein kinematographischen Mitteln gestalten. Wodurch aber sind diese Erzählsituationen im einzelnen gekennzeichnet? Wie lassen sie sich erkennen?
138
Zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Gestaltung des Erzählvorgangs bieten Ansätze, bei der Realisation, beziehungsweise bei der Bestimmung der beiden typischen kinernatographischen Erzählsituationen, also der personalen ES und der auktorialen ES, zu helfen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese beiden Idealtypen, die analog zu den idealtypischen literarischen Erzählsituationen in Stanzeis Modell lediglich als theoretische Erzählvarianten zu verstehen sind, als Fixpunkte in einem stufenlosen Spektrum, in dem sich konkrete Erzählsituationen mit unterschiedlich gewichteten 'Mischverhältnissen' der im folgenden separat zu betrachtenden Gestaltungsfornien einordnen lassen.18 Peters19 nennt zwei Arten der Kamerahandlung, die als "attached camera" und "detached camera" bezeichnet werden können. Attached camera - eine gebundene Kameraführung - bedeutet, daß die Kamera als Aufnahmegerät sich ganz den abzubildenden Personen, Gegenständen und Ereignissen unterordnet, sich gleichsam an sie bindet, Nähe und Teilnahme am Geschehen suggerierend. Dabei behält sie die Handlungselemente stets im Blick, weicht nicht von ihnen ab und bemüht sich um eine nahtlose, fließende Abfolge der Einstelllungen und Szenen. Gebundene Kameraführung bedeutet daher eine Bindung an die handelnden Personen in Form von Nah- und Großaufnahmen, bedeutet lR
Für die kinematographischen Erzählsituationen innerhalb eines Films gilt zudem die gleiche Einschränkung wie für die literarischen Erzählsituationen innerhalb eines Romans. Stanzel betont diese Einschränkung, indem er darauf hinweist, daß ihm "ein Begriff wie 'der auktoriale Roman' oder 'der personale Roman', selbst wenn er idealtypisch gemeint ist, fast schon zu gewagt, ein zu allgemeines Konstrukt (sei]. Zeigt sich doch jeder Roman bei eingehenderer Betrachtung als Abfolge von vielfach modulierten Erzählsituationen, unter denen die auktoriale Erzählsituation oder die personale Erzählsituation gleichsam nur der basso fermo, der durch ständige Wiederkehr tragende Grundton der Erzählweise ist, der sich allerdings durch diese beständige Wiederkehr stärker im Bewußtsein des Lesers einprägt als seine verschiedenen Modulationen." (Stanzel 1981, S. 78) Ebensowenig gibt es 'den auktorialen Film 1 oder 'den personalen Film', sondern meist eine Reihe 'modulierter Erzählsituationen' mit der Tendenz zu einer der idealtypischen Erzählsituationen. Jan Marie Peters: Pictorial Signs and the Language of Film, Amsterdam 1981, S. 14f, und S, 17.
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eine Konzentration auf das Wesentliche und ein Verzicht auf weitschweifende Kamerabewegungen und -fahrten, Ebenso zählen SchußGegenschuß-Verfahren und subjektivierende Aufnahmetechniken, beispielsweise subjektive Kamera oder Fokal isierungen, zum Repertoire der attached camera. Die genannten Aspekte der gebundenen Kameraführung verdeutlichen deren allgemeine Tendenz: Sie erzeugt durch Großaufnahmen das Gefühl von Nähe und erhöht die Illusion einer scheinbar unmittelbaren Teilnahme am fiktiven Geschehen durch subjektivierende Techniken und den reibungslosen Ablauf des Erzähl Vorgangs, der an keiner Stelle die Fiktion durchbricht. Mit anderen Worten: Sie erzeugt eine personale ES, Im Gegensatz dazu vermittelt die detached camera - die gelöste Kameraführung - den Eindruck einer auktorialen ES. Die Kamera löst sich von Personen und Handlung und bewegt sich frei im Raum; sie sucht sich - pointiert ausgedrückt - die Objekte, die sie abbildet. Als unabhängiges Beobachtungsinstrument bleibt sie häufig auf Distanz, d.h. Totale und Halbtotale sind bevorzugte Einstellungsgrößen. Dadurch erzeugt sie den Blick 'von außen1, die kinematographische Außenperspektive, die ja auf dem Typenkreis mit der auktorialen ES zusammenfällt. Die Freiheit der detached camera zeigt sich aber nicht nur in Kamerafahrten und -schwenks, also Bewegungen innerhalb einer Einstellung, sondern auch in der syntaktischen Struktur des Films. Hier kann sie vom Prinzip des bruchlosen, unbemerkt fließenden Erzählens abweichen und die Illusion der Darstellung durch unkonventionelle Szenenanschlüsse und Montagen durchbrechen, die deutlich auf die Mittelbarkeit des Mediums Film verweisen. Bei der intellektuellen Montage im Sinne Eisensteins löst sich die Kamera sogar so weit von den Figuren und der Handlung, daß Bilder aus völlig anderen, nicht-diegetischen Sphären syntagmatisch verknüpft werden und somit eine übergeordnete, auktoriale Erzählinstanz spürbar werden lassen, die die Macht hat, beliebige Assoziationen durch beliebige Bildzusammenstellungen hervorzurufen. Mit den Erzählmöglichkeiten einer gebundenen oder gelösten Kameraführung und deren bewußter Anwendung ergeben sich nun kon-
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krete Verfahren, die spezifischen kinematographischen Erzählsituationen zu erzeugen. Die Gestaltungselemente der attached camera konstituieren eine personale ES, die Gestaltungselemente der detached camera eine auktoriale ES. Es entsteht so eine deutliche Dichotomic, die die Gestaltung des filmischen Erzählens insgesamt bestimmt, ein Spannungsfeld zwischen personaler ES und auktorialer ES, dessen Bipolarität auch bei zahlreichen anderen Ansätzen zur Analyse und Bestimmung kinematographischer Gestaltungsmittel greifbar wird. Die Ergebnisse solcher Ansätze fügen sich aufgrund ihres dichotomen Charakters problemlos in die Zweiteilung unter dem Aspekt der Erzählsituationen ein.
3.2 Dichotomic des kinematographischen Codes 3.2.1 Die Ebene der Mise-en-scene Branigan^0 bezeichnet beispielsweise einen Kamerastandort als entweder "motivated" oder "unmotivated". 'Motiviert' ist eine Kameraplazierung dann, wenn sie Funktionen erfüllt, die deutlich und sofort erkennbar im Dienste der erzählten Handlung stehen, d.h. wenn sie sich ganz den Personen und Ereignissen unterordnet; 'unmotiviert' erscheint sie hingegen dann, wenn sie sich von den Handlungselementen löst und sich unabhängig innerhalb - zuweilen sogar außerhalb - des diegetischen Raumes bewegt. Die Analogie zu dem Gegensatzpaar attached camera und detached camera ist offensichtlich. Siegrist unterscheidet die Wirkungen von Kamerabewegungen und Einstellungswechsel hinsichtlich ihrer Auffälligkeit, beziehungsweise Unauffälligkeit, wobei er einerseits die Ebene der Mise-en-scene betrachtet und andererseits bereits die syntaktische Ebene des Films ins Auge faßt:
20
Branigan, a.a.O., S. 45.
141 "Während Verfolgungsschnitt und -bewegung auch hinsichtlich ihrer üblicherweise grossen Unauffälligkeit [...] ühereinstimmen, dürfte die Indexikalität einer 'auktorialen' Kamerabewegung höher sein als diejenige eines entsprechenden Einstellungswechsels, wirkt doch der oft verrissene Schwenk- oder Fahrtbereich mit seinen 'unwesentlichen' Bild Inhalten gewissermassen als Balken eines Hinweispfeils. Ein mit der 'inneren Montage' der bewegten Kamera erzielter 'match cut' kommt deswegen weit nachdrücklicher, ja aufdringlicher zur Geltung als ein innerszenischer in tatsächlicher Montage, zumal die Kamerabewegung als Kontiguitätssignal die Zugehörigkeit der von ihr semantisch verbundenen Objekte zum gleichen szenischen Raum ganz besonders herausstreicht [...]: Der sich spürbar selbst in Szene setzende Vorgang der kontinuierlichen Bildausschnittmodifikation verweist eindringlicher auf die sinnstiftende Selektion und Kombination der durch die Kamera isolierten und verglichenen Objekte, als dies beim abrupten Einstel lungs wechsel der Fall l sein kann. Diese semantische Wirksamkeit des materiellen Substrats einer Kamerabewegung hat denn auch zur Folge, dass diese - ein weit besseres Mittet zur Selbstinszenierung des omniszienten filmischen Erzählers darstellt als eine gewöhnliche Schnittfolge [...]" ^
"Verfolgungsschnitt und -bewegung" sind nichts anderes als Anzeichen einer gebundenen Kameraführung, die durch "ihre [...] üblicherweise grosse [...] Unauffälligkeit" eine personale ES erzeugen, während eine freie Kamerabewegung, die deutlichste Form der detached camera, von Siegrist selbst als "'auktorial'" und als "Mittel zur Selbstinszenierung des omniszienten filmischen Erzählers" bezeichnet wird. Im Falle eines match cuts, eines Schnittes, "der zwei verschiedene Szenen durch die Wiederholung einer Handlung oder einer Form oder die Verdoppelung von Faktoren aus der Mise en Scene verbindet"22, werden die unterschiedlichen Wirkungen von Einstel lungs Wechsel und Kamerabewegung besonders deutlich. 3.2.2 Die syntaktische Ebene Eine Dichotomie zeichnet sich auch auf der syntaktischen Ebene des Films ab. Die einzelnen Einstellungen werden zu einem narrativen Ablauf zusammengeschnitten, der entweder durch "unauffällige Eleganz, FIüs-
21 22
Siegrist, a.a.O., S. 164f. Monaco, a.a.O., S. 205.
142
sigkeit und Komprimiertheit"23 geprägt ist oder aber durch Brüche, ungewöhnliche Bildzusammenstellungen und Einstellungsfolgen auf seine Künstlichkeit verweist. Ersteres wird als 'klassischer HollywoodSchnitt' - oder auch decoupage dassique oder 'unsichtbarer Schnitt' bezeichnet, weil er sich im amerikanischen Film der dreißiger und vierziger Jahre entwickelt hat und noch heute als konventionelle Art des filmischen Erzählens gilt.24 Diese präsentiert eine Handlung mit Zurückhaltung und Unauffälligkeit und vermittelt so dem Zuschauer die Illusion einer bruchlosen, kontinuierlichen Abfolge des Geschehens. Wie bereits erwähnt wurde, dient diese Form des Erzählens der Erzeugung einer personalen ES. Die d coupage classiqüe ordnet sich ebenso wie die gebundene Kameraführung ganz der Handlung unter, verzichtet auf eine eigenständige Inszenierung technischer und künstlerischer Möglichkeiten des kinematographischen Codes und hebt so ihren Gestaltungs- und Vermittlungscharakter zugunsten einer scheinbaren Unmittelbarkeit der Darstellung nahezu auf. Die konventionalisierten Erzähltechniken der decoupage classiqüe wie auch der attached camera, beispielsweise Point of V/ew-Einstellungen, Schuß-Gegenschuß-Verfahren und subjektive Kamera, erscheinen einem heutigen Zuschauer so vertraut und in ihrer Anwendung selbstverständlich, daß sie höchstens noch durch ihre Vermeidung, durch ihre Abwesenheit im filmischen Diskurs Aufmerksamkeit erregen. Die zweite Möglichkeit der Gestaltung auf syntaktischer Ebene kann als Montage im engeren Sinne bezeichnet werden; im Gegensatz zur decoupage classiqüe zeigt sie sich als unabhängige Größe, die ihren Montagecharakter deutlich spürbar macht und expressiv zu nutzen weiß. Sie ordnet sich der Handlung nicht unter, um in konventionalisierten Einstellungsfolgen und Erzählmustem hinter der unmittelbaren Wirkung des Dargestellten zu verschwinden, sondern gewinnt durch bewußte künstlerische Anwendung ein hohes Maß an Eigenständigkeit und eine konsumtive Funktion für die erzählte Fiktion. 23
Ebd., S. 202.
24
Vgl. ebd., S. 202ff.; Hickethier 1993, S. 144ff. und Andro Bazin: Die Entwicklung der kinematografischen Sprache. In: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. (Herausgegeben von Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling) Köln 1975, S. 28-44.
143
Die Montage überwindet die Gesetzmäßigkeiten der decoupage classique und verblüfft häufig durch scheinbar unmotivierte Schnitte und Szenenanschlüsse und durch oftmals verwirrende Brüche mit filmischen Erzählkonventionen, aber auch durch die nahezu unerschöpfliche Freiheit, Bilder aus vielen verschiedenen Lebensbereichen sinnstiftend zusammenfügen zu können (intellektuelle Montage). Dadurch lenkt sie die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die künstliche Beschaffenheit und die Mittelbarkeit des Films und tendiert ebenso wie die gelöste Kameraführung dazu, eine auktoriale ES zu erzeugen. Siegrist stellt beispielsweise eine Abnahme der "Spürbarkeit der organisierenden Erzählerinstanz" bei der Reihung "nicht diegetische[r], innerszenisch diegetische[r]" und "Sequenzwechsel-match cuts"25 fest. Der match cut zu einer nicht-diegetischen Einstellung, so wie es z.B. bei Eisensteins intellektueller Montage möglich ist, birgt die größte Wahrscheinlichkeit in sich, einen auktorialen Erzähler zu suggerieren. Der match cut als reiner Sequenzwechsel hingegen, der auf einer diegetischen Ebene verbleibt, kann als kinematographische Konvention bereits zur decoupage classique gezählt werden und eignet sich daher weniger, eine auktoriale ES zu etablieren. Die Gestaltungsprinzipien, die mit den Möglichkeiten eines eher unauffälligen Schnitts einerseits und einer bewußt inszenierten Montage andererseits realisiert werden, bezeichnet Hickethier als "Transparenz" beziehungsweise "Materialität".26 Das Prinzip der Transparenz lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten ganz auf die filmische Fiktion, also auf die dargestellte Handlung; es erlaubt quasi den unverstellten Blick durch eine transparente kinematographische Oberfläche auf die Geschichte, die der Film erzählt. Das Prinzip der Materialität hingegen betont die Beschaffenheit des Mediums Film, seine Künstlichkeit und seinen Montagecharakter. Es gestattet ein kreatives, ungezwungenes Spiel mit den Möglichkeiten kinematographischer Gestaltung, mit dem Material des Filmemachers, und verweist daher nicht nur auf eine erzählte Geschichte, sondern auf den Erzähl Vorgang selbst.
25 26
Siegrist, a.a.O., S. 68 und dessen Anm. 137. Hickethier 1993, S. 144,
144 Die kinematographische Gestaltung einer personalen ES spiegelt sich somit im Prinzip der Transparenz wider, die Gestaltung einer auktorialen ES im Prinzip der Materialität. 3.2.3 Narrative Syntagmen und rhetorisch-stilistische Syntagmen Schneider erkennt in der " syntagmatischen Anordnung des Films [...] eine die Beziehung zwischen Rezipient und Erzählgeschehen konstituierende Ebene"27. Daher versucht sie, die von Metz eingeführten Syntagmen28 hinsichtlich ihrer rein narrativen und ihrer rhetorisch-stilistischen Funktionen neu zu gruppieren,29 um so zwei unterschiedliche Formen der "Beziehung zwischen Rezipient und Erzählgeschehen" zu verdeutlichen. Unter die Gruppe der narrativen Syntagmen zählt sie dabei SequenzEinstellungen, narrative Syntagmen (alternierende und linear narrative Syntagmen), Szenen, gewöhnliche Sequenzen und Sequenzen durch Episoden. Die Gruppe der rhetorisch-stilistischen Syntagmen umfaßt Einfügungen, achronologische Syntagmen (parallele Syntagmen und Syntagmen der zusammenfassenden Klammerung) und deskriptive Syntagmen. In der ersten Gruppe finden sich kinematographische Erzählformen, die dem standardisierten Repertoire zuzurechnen sind und sich durch ein fließendes, unauffälliges Weiterführen der Handlung auszeichnen; diese rein narrativen Syntagmen fallen daher auch unter die Kategorie der decoupage classique und konstituieren - um die Worte Schneiders erneut zu benutzen - eine "Beziehung zwischen Rezipient und Erzählgeschehen", die zu einer personalen ES tendiert. Die zweite Gruppe beinhaltet mit ihren rhetorisch-stilistischen Syntagmen eher ausgefallenere Erzählformen, die an das Prinzip der gelösten Kameraführung erinnern. Folglich verweisen diese syntagmatischen Strukturen über eine rein narrative Funktion hinaus auf eine vermittelnde Erzählinstanz, die sich durch eine rhetorisch-stilistische Formung des Erzählgeschehens deutlich bemerkbar macht. 27 28 29
Schneider 1981,5.216. Metz, a.a.O., S. 165ff. Schneider 1981, S. 213ff.
145
3.2.4 Gebundene und gelöste Point of View -Einstellungen In seiner Untersuchung zur Point of View-Technik des Films klassifiziert Branigan30 zehn mögliche Standorte, beziehungsweise Blickrichtungen, die die Kamera einnehmen kann, wenn sie innerhalb einer Point of View-Situation ein Objekt abbildet, das von einer Person der Handlung (Subjekt) betrachtet wird. In der Regel bestehen diese Situationen aus zwei Einstellungen: Als erste Einstellung wird dabei zunächst der Blick der Person, z.B. in Form einer Großaufnahme ihres Gesichts, gezeigt, um zu signalisieren, daß nun als zweite Einstellung der eigentliche Point of View-shot folgt, also das, was diese Person erblickt.
10 7a 7 7b
lOa \ \ \
(aus: Kanzog 1991, S. 48. Abdruck des Scheraas mit freundlicher Genehmigung des diskurs film Verlages, München)
Diese zehn Varianten lassen sich hinsichtlich ihrer Gebundenheit an Subjekt oder Objekt der Einstellung (1,2,3,4,5,6,7) und ihrer 'Unabhängigkeit' von beiden (8,9,10) unterscheiden und so mit den Prinzipien von gebundener und gelöster Kameraführung vergleichen. * Karnerastandpunkt l ist als die gebräuchliche subjektive Kamera erkennbar; Standpunkt 2 und dessen graduelle Varianten sind soge30 31
Branigan, a.a.O., S. HOf. Vgl. Kanzog 1991, S. 46ff.
146
nannte over the shoulder-shots, die als nahezu subjektive Einstellungen ähnliche Wirkungen erzielen können wie die erste Möglichkeit, dabei allerdings den räumlichen Zusammenhang zwischen Subjekt, dessen Schulter oder Kopf im Bild zu sehen ist, und Objekt deutlicher werden lassen.32 Die Standpunkte 6 und 7 entsprechen objektbezogen den beiden ersten Möglichkeiten und können im Wechsel mit diesen eine Einstellungskombination im Schuß-Gegenschuß-Verfahren bilden, wobei Standpunkt 7 als Entsprechung des over the shoulder-shots 2 wiederum das räumliche Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt stärker betont. Diese Varianten gehören zum üblichen Gestaltungsrepertoire der d coupage classique und stehen durch ihre Bezogenheit auf Subjekt oder Objekt für eine unmittelbar wirkende personale ES. Die Varianten 8, 9 und 10 hingegen tendieren zu einer auktorialen ES, Zwar erfassen die Blickrichtungen 8 und 9 noch das Objekt, doch die Position, von der aus dies jeweils geschieht, ist deutlich vom Standpunkt des Subjekts gelöst; die zehnte Variante weist bereits über das Objekt hinaus und erringt damit die größte Unabhängigkeit vom Subjekt und dessen Blick. Auch hier läßt sich also eine Dichotomic der Gestaltungsmittel, wenn auch mit graduellen Abstufungen, feststellen, eine Dichotomie, die unter dem Aspekt der Erzählsituationen plausibel erscheint. 3.3 Zwei 'Filmsprachen' Peters^3 geht in seiner Unterscheidung filmischer Erzählprinzipien sogar so weit, die narrativen Möglichkeiten des kinematographischen Codes in zwei 'Filmsprachen' aufzuteilen. Filmsprache l umschließt dabei alle Erzählformen, die sich der Handlung unterordnen und sich im Fortgang des Erzählens stets auf sie beziehen. Die erzählte Handlung selbst existiert quasi unabhängig von
•i*) ""
Vgl, zur over the sAou&fer-Einstellung auch Siegrist, a.a.O., S. 133. Jan Marie Peters: Bild und Bedeutung - Zur Semiologie des Films. In: Knilli (Hrsg.) 1971, a.a.O., S. 56-69, S. 66ff.
147
den kinematographischen Mitteln, die sie lediglich registrieren und wiedergeben. Man kann in dieser Filmsprache l durchaus eine Zuspitzung der gebundenen Kameraführung sehen, eine konsequente Verabsolutierung der attached camera und der decoupage classique, eine unauffällige Art des filmischen Erzählens also, in deren Mittelpunkt die unmittelbare Wirkung der Handlung steht, Filmsprache II hingegen vereint in sich - mit entsprechender Ausschließlichkeit - die Formen eines selbständigen, unabhängigen kinematographischen Erzählens. Sie ist deshalb nicht auf eine Geschichte angewiesen, die sozusagen bereits (räumlich) vor der Kamera, (zeitlich) vor dem Film existiert, sondern kann aus sich heraus eine Handlung im weitesten Sinne bilden.34 Gelöste Kameraführung und Montage verleihen durch ihre bewußte Anwendung zunächst voneinander unabhängigen Bildern und Sequenzen einen sinnvollen Zusammenhang; die detached camera sucht sich ihr Material und erzeugt durch die Kombination dieses Bildmaterials einen Kontext. Das Prinzip der Auswahl und der Montage heterogener Elemente ist ein deutliches Merkmal der Filmsprache II und verweist auf eine selektierende und ordnende Instanz, die ihrerseits wiederum die Mittelbarkeit des Mediums Film verdeutlicht und greifbar macht. Die beiden von Peters unterschiedenen 'Filmsprachen' entsprechen der Zweiteilung des kinematographischen Codes in gebundene und gelöste Erzähl verfahren. Diese lassen sich jedoch nur theoretisch in dieser kategorialen Schärfe voneinander trennen; tatsächlich sind beide 'Filmsprachen' Bestandteile eines kinematographischen Codes, und sie werden in der praktischen Filmarbeit auch gemischt und miteinander kombiniert zur Anwendung gebracht. Auch Peters macht darauf aufJ
In diesem Zusammenhang sei an Hamburgers Überlegungen zur Erzählfunktion des Autors erinnert: "[...) die epische Fiktion, das Erzählte ist nicht das Objekt des Erzählens". Es ist "ein Produkt des Erzählens (...}, Das Erzählen, so kann man auch sagen, ist eine Funktion, durch die das Erzählte erzeugt wird, die Erzählfunktion [...}" (Hamburger, a.a.O., S. 113). Der Autor also erschafft die Fiktion; die Handlung existiert nicht unabhängig vor dem Akt des Erzählens. Ebenso erschafft die Erzähl ins tanz der Filmsprache II eine Fiktion; eine Handlung entsteht erst im Augenblick des kinematographischen Erzählens.
148 merksam, fügt jedoch hinzu, daß dies "nichts am Wert dieser Unterscheidung [ändert]."35
4, Kinematographische Erzahlsituationen und Konnotationen Die verschiedenen kinematographischen Erzählweisen lassen sich unter der Zweiteilung von personaler ES und auktorialer ES subsumieren; ob nun gebundene und gelöste Kameraführung, motivierter und unmotivierter Kamerastandort, decoupage dassique und intellektuelle Montage, narrative und rhetorisch-stilistische Syntagmen oder Filmsprache I und Filmsprache II - stets läßt sich ein Pol dieser dichotomen Gestaltungsformen der unmittelbarer wirkenden personalen ES zuordnen, während der andere Pol stärker zu einer auktorialen ES tendiert, in der die scheinbare Unmittelbarkeit der Darstellung zugunsten einer überlegenen, vermittelnden Instanz aufgegeben wird, Ebenso zeigen die zwei Möglichkeiten kinematographischer Konnotationen generell die Tendenz, jeweils in einer der beiden Erzählsituationen wirksam zu werden, beziehungsweise durch ihre Wirkung eine bestimmte Erzählperspektive zu konstituieren. Nahezu alle Gestaltungsmittel, die bisher mit einer auktorialen ES in Verbindung gebracht wurden - von der detached camera in extremen Fällen über die intellektuelle Montage bis hin zur Filmsprache U - beziehen ihre narrative und künstlerische Aussagekraft durch die konnotative Bedeutung syntaktisch miteinander verknüpfter Bilder und Szenen. Syntagmatische Konnotationen erzeugen daher eine auktoriale ES. Sie deuten auf eine Erzählinstanz hin, die unabhängig von jeglicher diegetischer Gebundenheit Bilder und Szenen kombinieren und neue bedeutungsvolle Erzählzusammenhänge schaffen kann. Paradigmatische Konnotationen lassen sich hingegen nicht so reibungslos einer bestimmten Erzählperspektive zuordnen; grundsätzlich aber verweisen sie auf eine personale ES. Innerhalb einer Einstellung geben sie einem Subjekt oder Objekt der Handlung eine besondere Bedeutung und erfüllen somit die prädikative 35
Peters 1971,5.67.
149
Funktion des kinematographischen Erzählens. Die Zuweisung dieser konnotativen Bedeutung aber wird vom Rezipienten als attributive Qualität des Subjekts oder Objekts selbst erfahren - mit den Worten Peters' ausgedrückt: "[..,] die Art des Aufnehmern wird immer auch zu einer Eigenschaft des Aufgenommenen."·^ - oder als der subjektive Eindruck einer Figur der Handlung wahrgenommen. In beiden Fällen entsteht für den Zuschauer eine Wirkung gesteigerter Unmittelbarkeit und scheinbaren Miterlebens: Im ersten Fall offenbaren sich Eigenschaften des dargestellten Handlungselements sozusagen direkt und unmittelbar durch die Eigenschaften der Darstellung, durch die Parameter der Einstellung; im zweiten Fall scheint die subjektive Sehweise eines Protagonisten dem Rezipienten unmittelbar dargeboten zu werden, beispielsweise wenn durch die Unscharfe einer Einstellung die Sehschwäche einer Person konnotiert oder wenn durch Untersicht die Bedrohlichkeit eines Gegners betont wird. Die Grenzen zwischen prädikativer und illokutiver Erzählfunktion werden dann fließend; Aussagen über die Eigenschaften des Dargestellten können zu Aussagen über die Darstellung selbst, also die Vermittlung zwischen Handlung und Zuschauer, werden. Die Person, deren Empfindungen und Wahrnehmungen durch die paradigmatische Konnotation quasi verdeutlicht werden, wird zu einer Reflektorfigur und somit zu einem Anzeichen für eine personale ES. Entsprechen aber die Parameter einer Einstellung eher den Prinzipien einer detached camera, also z.B. bei Totalen oder bei ungewöhnlichen, auffallenden Kamerabewegungen, so können paradigmatische Konnotationen auch auktoriale ES erzeugen. Die kinematographischen Eigenschaften solcher Einstellungen bedeuten zunächst nichts anderes als Entfernung, Distanz und Unabhängigkeit von den abgebildeten Objekten, und für sich gesehen können diese Einstellungen durchaus unmittelbar erscheinen.37 Ihre spezielle auktoriale Wirkung erhalten sie erst durch die Verbindung mit anderen Einstellungen, die die Entfernung, die Distanz und die Unabhängigkeit der Kamera von den Handlungselementen als besondere Merkmale 36 37
Peters 1988, S. 52. Vgl. Kapitel HI/3.3,
150
deutlich machen, indem sie diese Eigenschaften entweder durch ähnliche Parameter über längere Zeit hinweg aufrechterhalten oder aber durch andere Parameter negieren und überwinden. Prädikative und illokutive Erzählfunktionen überschneiden sich auch hier. Dem Rezipienten wird die Steuerung seiner Wahrnehmung durch die Kamera, deren Standorte und Einstellungsparameter bewußt, und die Existenz einer auktorialen Erzählinstanz, die für diese Steuerung verantwortlich ist, erscheint greifbar und plausibel. Um die paradigmatische Konnotation einer Einstellung also als Anzeichen für eine auktoriale ES deuten zu können, sind weitere Einstellungen nötig, Vergleichseinstellungen sozusagen, die den erzählperspektivischen Unterschied zwischen nah und fern, zwischen attached camera und detached camera hervorstechen lassen. Obwohl in dieser Situation der Vergleich zweier oder mehrerer Einstellungen wichtig ist und die syntaktische Verknüpfung dieser Einstellungen ein entscheidendes Element darstellt, handelt es sich dabei jedoch keineswegs um eine Betrachtung syntagmatischer Konnotationen. Denn ausschlaggebend für die auktoriale Wirkung hierbei ist die konnotative Bedeutung der Einstellungsparameter, also die Bedeutung der Bildformen, die Distanz und Unabhängigkeit suggerieren, und nicht die Bedeutung der Bildinhalte, durch deren - gegebenenfalls - diegetische Beliebigkeit syntagmatische Konnotationen auf eine übergeordnete Erzählinstanz verweisen. Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß syntagmatische Konnotationen grundsätzlich auktoriale ES erzeugen, während paradigmatische Konnotationen hauptsächlich in personalen ES wirksam werden; sobald die paradigmatischen Konnotationen einer Einstellung jedoch durch den Vergleich mit benachbarten Einstellungen Distanz und Unabhängigkeit von den abgebildeten Handlungselementen vermitteln, fuhren auch sie ein auktoriales Moment in das Erzählgeschehen ein.
151 5. Übersicht Mit den nun erläuterten Gestaltungsformen des kinematographischen Erzählvorgangs ist es einerseits möglich, bestimmte Erzählsituationen bei der Transformation der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur zu erzeugen. Andererseits dienen sie natürlich als ein Instrumentarium, diese Erzählsituationen im filmischen Diskurs zu erkennen und zu be18 stimmen/0 Mit ihnen lassen sich literarische Werke und ihre Verfilmungen anhand ihrer Erzählsituationen vergleichen - und wie sich zeigen wird, erweist sich die jeweilige Gestaltung der Mittelbarkeit in beiden Medien als ein bedeutsamer Faktor bei der Einschätzung der Qualität einer Adaption. Der Vergleich der Erzählsituationen in Literatur und Film könnte sich zu einem wichtigen Kriterium bei der Beurteilung von Literaturverfilmungen entwickeln, da er einerseits ein zentrales Merkmal und Ausdrucksmittel der epischen Literatur ins Zentrum der Analyse rückt, die Gestaltung der Mittelbarkeit in Form der Erzählsituationen, und andererseits den fragwürdigen Begriff der 'Werktreue' überwindet, beziehungsweise in Richtung auf narrative Prinzipien und Strukturen hin präzisiert. Die folgende Übersicht vereint die genannten Gestaltungsformen des filmischen Erzählens unter dem Aspekt der Erzählsituationen. In konkreten Filmen treten diese Gestaltungsformen und -elemente in unterschiedlichen Verhältnissen und Kombinationen auf; sie erzeugen auf diese Weise vielfältige Typen von Erzahlsituationen, die sich tendenziell jeweils einer der drei idealtypischen Erzählformen zuordnen lassen.39 Eine strikte Kategorisierung der filmischen Erzählsituationen
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Bereits das Transformationsmodel i Carrol Is verdeutlicht, daß der Proze8 der Transformation der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur umkehrbar ist und so nicht nur Bedeutung in die filmische Präsentationsschicht überführt, sondern umgekehrt auch die narrative Bedeutungsschicht durch eine Decodierung des Diskurses wieder ermittelt werden kann, Vgl. Kapitel /4.1. Auch Hickethier 1993 unterscheidet prinzipiell zwischen drei Formen filmischer Erzählhaltungen: dem "auktoriale[n] Erzähler" (ebd., S. 126), dem "Ich-Erzäh-
152
tritt - entsprechend den theoretischen Überlegungen in Stanzeis Modell der literarischen Erzählsituationen - zugunsten einer graduellen Annäherung an idealtypische Erzählmuster in den Hintergrund. Die Theorie filmischer Erzählsituationen trägt somit der Praxis filmischen Erzählens Rechnung und gewährleistet eine flexible Anwendung im analytischen und vergleichenden Umgang mit narrativen Spielfilmen.
Die Übersicht auf der folgenden Seite zeigt, durch welche kinematographischen Gestaltungsmittel die drei typischen Erzählsituationen hauptsächlich gekennzeichnet sind. Ein personaler, bzw. auktorialer Erzählertext kann als sprachlich-literarisches Gestaltungsmittel bei personaler ES und auktorialer ES hinzukommen, stellt jedoch kein notwendiges Kriterium dar. Bei der Ich-ES hingegen sind die kinematographischen Gestaltungsmittel weniger eindeutig festgelegt, obgleich sie sich generell an den Gestaltungselementen der personalen ES orientieren. Entscheidend ist jedoch der Kommentar eines Ich-Erzählers als sprachlich-literarisches Gestaltungsmittel, um die Existenz eines erzählenden Ich neben dem erlebenden Ich deutlich zu machen. Die Tauglichkeit dieser Einteilung soll im daran anschließenden zweiten Teil der Arbeit an einigen Beispielen überprüft werden.
ler" mit "subjektive[r] Kamera" (ebd., S. 126f.) und der "Position der identlfikatorischen Nähe" (ebd.. S, 127f.), die in etwa der personalen ES entspricht.
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TEIL 2: PRAKTISCHE ANWENDUNGEN VI. Erzählsituationen in Literatur und Film 1. Wechsel von personaler ES zu auktorialer ES; Der Roman "Fabian" von Erich Kästner und die Verfilmung von Wolf Gremm 1.1 Der Roman "Fabian" In seinem 1931 erschienenen Roman "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten"1 schildert Erich Kästner die Erlebnisse des Protagonisten Jakob Fabian im Berlin der Weimarer Republik und spürt dabei der Frage nach einem angemessenen, verantwortungsvollen und moralischen Verhalten angesichts der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Krise nach. Der Leser begleitet Fabian dabei in schnellem Tempo von Station zu Station und lernt zahlreiche Menschen, Orte und Schicksale kennen, die in ihrer Vielfalt und Prägnanz ein schillerndes Bild der mondänen Metropole zeichnen, ein Bild, das geprägt ist von den politischen und sozialen Spannungen der zwanziger und dreißiger Jahre, von der Ausgelassenheit und Freizügigkeit der Menschen, von ihren existentiellen Ängsten und ihrer Ergebenheit in das scheinbar Unabwendbare, das sie eskapistisch am Rande des Abgrunds taumeln läßt. Durch die Augen Fabians begegnet der Leser einer Gesellschaft, die durch und durch verkommen erscheint und in ihrem unmoralischen Streben den idealistischen Vorstellungen eines moralischen Lebens keinen Platz einräumt. Doch auch Passivität und Zynismus, die Abkehr von allen gesellschaftlichen Belangen, von Pflichten und Verantwortungen bieten letztendlich keine überzeugende Alternative. Fabian erfährt dies am eigenen Leib. Er scheitert an seinen Bemühungen, würdevoll in einer Welt des brüchigen Luxus, des schwelenden Untergangs und der her1
Erich Kästner: Fabian, Die Geschichte eines Moralisten. Frankfurt a.M./Berlin 1986.
155
aufziehenden Ideologien zu überleben, und stirbt, als er versucht, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, da er selbst nicht schwimmen kann. Kästners Darstellung der Gesellschaft der Weimarer Republik, der Menschen, Lokale, Cabarets und Etablissements ist krass, extrem, schrill und neigt zu Übertreibungen. Verantwortlich dafür sind der satirische Grundton des Romans und der häufige, temporeiche Szenenwechsel - beides beeinflußt durch Kästners Lyrik2 -, die die Erlebnisse und Begegnungen Fabians gerafft und pointiert aneinanderreihen; auf detaillierte Beschreibungen und leise Zwischentöne wird dabei weitestgehend verzichtet. Von entscheidender Bedeutung für die zugespitzte Art der Darstellung ist aber ebenso die Erzählperspektive, die bereits im ersten Absatz deutlich wird: "Fabian saß in einem Caf6 namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter: Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach. Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von einhundertvierzigtausend Metallarbeitern, Verbrecherdrarna in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes." ·*
Die Schlagzeilen der Zeitungen werden dem Leser unmittelbar präsentiert und mit einem spontanen Urteil - "Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes." - quittiert. Hier spricht kein auktorialer Erzähler; hier tritt Fabian selbst als Reflektorfigur auf, deren Wahrnehmung und deren Urteil dem Leser als innerer Monolog ohne vermittelnde Instanz veranschaulicht, ja geradezu als eigene Wahrnehmung und als eigenes Urteil suggeriert werden. Die personale ES, die den Roman nahezu völlig beherrscht, läßt die Schilderungen Berlins und seiner Bewohner ganz aus der Sicht Fabians 2
3
Vgl. Heimuth Kiesel: Erich Kästner. (Autorenbücher 26) München 1981, S. 87f. Kästner, a.a.O., S. 7.
156
erscheinen und liefert somit eine weitere Erklärung für die Übertreibungen, die Einseitigkeit und die Absurditäten, die den Ereignissen oder den Charakteren anhaften. Die Handlung ist durch Fabians subjektive Wahrnehmung geprägt, und der Leser nimmt aus dessen Perspektive an ihr teil.4 "'Fabian' ist ein zorniger Roman, eine anekdotische, oft kabarettistische, gelegentlich fast aphoristisch kurze Szenenfolge, die der Held mit einem ähnlich verwunderten Blick durchwandert wie David Copperfield das viktorianische London oder der Simplicius Simplicissimus das Deutschland des Dreißigjährigen Krieges. Zwar ist Fabian kein Kind, aber sein Moralistenblick hat eine ähnliche Funktion, wie es die Kinderaugen jener Romanhelden haben: Er ist auf die Welt gerichtet wie ein Vergrößerungsglas, in dem das Banale plötzlich magisch vergrößert scheint und absurde Züge annimmt," ^
Erst am Ende des Romans verändert sich die Erzählperspektive. Die personale ES wird aufgehoben, eine unerwartete Distanz schiebt sich quasi zwischen den Protagonisten und den Leser: "Fabian ging über die Brücke. Plötzlich sah er, daß ein kleiner Junge auf dem steinernen Brückengeländer balancierte. Fabian beschleunigte seine Schritte, Er rannte. Da schwankte der Junge, stieß einen gellenden Schrei aus, sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hinunter in den Fluß. Ein paar Passanten, die den Schrei gehört hatten, drehten sich um. Fabian beugte sich über das breite Geländer. Er sah den Kopf des Kindes und die Hände, die das Wasser schlugen. Da zog er die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. Zwei Straßenbahnen blieben stehen. Die Fahrgäste kletterten aus den Wagen und beobachteten, was geschah. Am Ufer rannten aufgeregte Leute hin und wieder. Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte [eider nicht schwimmen."6
Der Wechsel zur distanzierten, auktorialen ES, in der in kurzen Sätzen lediglich beobachtbare Vorgänge - also keine Gedanken oder Refiexio4
6
Vgl. Kiesel 1981, S. 88, Wilfried Wiegand: Fremdling in verkehrter Welt. Wolf Grernms "Fabian" und das Dilemma von Liieraturverfilmungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.4.1980. Kästner, a.a.O., S. 183f.
157 nen Fabians - knapp beschrieben werden, erfolgt nach allen vorangegangenen Schilderungen in personaler ES so überraschend, daß der Schluß des Romans nicht nur inhaltlich, sondern auch formal verblüfft. Der jähe Tod Fabians findet seine Entsprechung in der unerwarteten narrativen Gestaltung. Verblüffung und Überraschung sind jedoch nicht die einzigen Effekte dieser bewußt konzipierten Erzähl form; vielmehr zielt sie darauf ab, die Haltung des Lesers gegenüber Fabian zu verändern, eine weitere Identifikation mit der Romanfigur zu erschweren. Um die Haltung Fabians, der den gesellschaftlichen M iß ständen seiner Zeit ablehnend, aber unentschlossen und hauptsächlich passiv gegenübersteht, als verantwortungsloses Verhalten ins rechte Licht zu rücken und deren Fragwürdigkeit deutlich zu machen, raubt Kästner dem Leser am Ende des Romans die Möglichkeit, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren, und schafft durch die auktoriale ES eine "lehrhafte Distanz"7. Die personale ES nämlich macht diese Identifizierung leicht und verleitet den Leser nicht nur dazu, Fabians apolitisches Verhalten zu akzeptieren, sondern es gar als einzige Möglichkeit des Überlebens in der Krisenzeit der Weimarer Republik anzuerkennen. Schlagartig aber wird die Perspektive Fabians durch die auktoriale Distanz überwunden, die es nun erlaubt, Fabians Schicksal kritisch zu überblicken und seine Hoffnung auf ein Überleben durch Passivität und abwartendes Beobachten als Täuschung zu entlarven. Fabian stirbt. "Er konnte leider nicht schwimmen." - Und so gewinnt Kästners Aufforderung "Lernt schwimmen!" in der Überschrift o 0 des letzten Kapitels eine gesellschaftspolitische Bedeutung, die weit über das individuelle Schicksal seiner Romanfigur hinaus reicht. Es ist eine Aufforderung des Autors, die Position des passiven Abwartens aufzugeben und sich aktiv und verantwortungsvoll zu engagieren, um
Kiesel I 9 8 I . S . 106. Kästner, a.a.O., S. 179.
158 die M iß stände seiner Zeit zu beheben und ideologische Eskalationen zu verhindern. Eine genaue Lektüre des Romans und eine Analyse der Erzählsituationen verdeutlichen diese Intention Kästners. "Es läßt sich behaupten: der Fabian ist - neben Heinrich Manns Untertan - der politischste Roman, den die Deutschen vor 1945 hatten."10
1.2 Der Film "Fabian" Mit seiner Verfilmung des Romans "Fabian" aus dem Jahre 1979 bediente sich Regisseur Wolf Gremm eines dankbaren und entgegenkommenden Stoffes, scheinen doch Elemente des Filmischen bereits in der Vorlage angelegt zu sein. So vergleicht Bemmann beispielsweise die literarische Aneinanderreihung von Bildern, Szenen und Episoden mit einer "Filmcollage"11 und bezeichnet den Autor Kästner selbst als "Operateur seines Films", der "die Szenen hinter der Kamera mit [...] Nüchternheit und tödliche[r] Genauigkeit [dreht]"12. Kiesel verweist darauf, daß Kästner zu dem Zeitpunkt, als er den Roman schrieb, bereits mit dem Medium Film in Berührung gekommen war: "Möglicherweise aber schrieb Kästner den 'Fabian' mit seinen vielen Szenenwechseln und 'dramatischen' Interaktionen auch schon mit Blick auf das neue Medium Tonfilm, das die Romanciers der Zwanziger Jahre mehrfach anregte und zum Teil stark beeinflußte;[...] ein Jahr zuvor erst hatte Kästner ja sein erstes Drehbuch (für die Verfilmung von 'Emil und die Detektive') geschrieben." ^
10
12
13
Vgl. Kiesel 1981, S, 105ff. und Renate Benson: Erich Kästner. Studien zu seinem Werk. (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik, herausgegeben von Armin Arnold und Alois M. Haas, Bd. 18) Bonn 1973, S. 34f. Hilde Spiel: Spiegelbild einer Generation. Erich Kästner: Fabian (1931). In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Romane von gestern - heute gelesen. Band 2: 1918-1933. Frankfurt a.M. 1989, S. 300-308, S. 302. Helga Bemmann: Humor auf Taille. Erich Kästner - Leben und Werk. Frankfurt a.M. 1985, S. 171. Ebd., S. 171. Kiesel 1981, S. 88.
159
Einer adäquaten Umsetzung des Stoffes in einen FUm dürften somit eigentlich keine größeren Schwierigkeiten im Wege stehen, und dennoch - sieht man sich als Kenner des Romans Gremms Verfilmung an, so stellt sich Enttäuschung ein. Ein Kritiker spricht den entscheidenden Punkt hi seinem knappen und pointiert formulierten Urteil an: "Der Gang der Handlung läuft im wesentlichen gleich; und dennoch stimmt nichts, finden sich nur falsche Bilder und Töne."14 Wenn aber die Handlung des Films mit der Handlung des Romans identisch ist - und das ist sie tatsächlich; Gremm und sein Co-Autor Hans Borgelt halten sich erstaunlich genau an die Vorlage und lassen nur einige Szenen aus -, woran scheitert der Film dann? Auf der Ebene der Tiefenstruktur gleichen sich Roman und Film, da ja beiden dieselbe Handlung zugrunde liegt; der Unterschied, der die Verfilmung unbefriedigend erscheinen läßt, muß sich also in der Oberflächenstruktur zeigen, in der Präsentation des Stoffes, und d.h., in der Gestaltung der Erzählsituationen. Gremms FUm "Fabian" enttäuscht, weil er Kästners personale ES nicht aufgreift, sondern relativ distanziert in einer auktorialen ES verharrt. Die Kamera eilt dem Protagonisten häufig voraus (detached camera), sieht ihn nur als Teil der Menge (verhältnismäßig wenig Großund Nahaufnahmen, dafür relativ viele Halbtotalen und Totalen) und läßt den Zuschauer viele Einzelheiten der fiktiven filmischen Welt bereits vor ihm wahrnehmen (übergeordnete auktoriale Erzählinstanz), Bereits eine rein quantitative Analyse macht die Tendenz des Films zur auktorialen ES deutlich: Von insgesamt 609 Einstellungen gibt es nur 33 Groß- und Nahaufnahmen Fabians - und diese durchweg in konvenüonalisierten Erzählzusammenhängen, also meist in Gesprächssituationen - und immerhin 26 Totalen, in denen der Protagonist zu sehen ist. Das bedeutet lediglich 5,4% Groß- und Nahaufnahmen, eine erstaunlich geringe Anzahl im Vergleich zu 4,2% Totalen. Aber nicht nur Einstellungsgrößen, auch Bildinhalte vermitteln das Gefühl einer vorherrschenden auktorialen ES, die von der personalen ES der literarischen Vorlage erheblich abweicht. 14
Wellenberg: Fabian. In: Neue Zürcher Zeitung, 18.6,1980.
60
Zu Beginn des Films, während der Einblendung der Titel, begleitet die Kamera Fabian in einer langen Parallelfahrt durch eine abendliche Straße Berlins. Er ist jedoch nicht Mittelpunkt der Einstellung, sondern nur ein Teil des großstädtischen Treibens; zahllose Passanten, Fahrradfahrer und Automobile, Händler, Bettler, Betrunkene und Prostituierte, Schaufenster, Werbeschilder und eine Hakenkreuzflagge tauchen vor dem Auge der Kamera auf. Sie - und damit auch der Zuschauer - sieht mehr als Fabian, So hält sie z.B. vor einem Plakat, das für die "Exotik Bar" wirbt, und noch bevor Fabian es entdeckt hat, kennt der Zuschauer bereits die Aufschrift. Fabian selbst muß erst näher aus dem Bildhintergrund herantreten, näher auf die Kamera zukommen, bevor er das Plakat lesen kann, Diese Form der Kameraführung, in der sich die Kamera vom Protagonisten der Handlung und dessen Wahrnehmung löst und sich frei und selbständig im szenischen Raum bewegt (detached camera], läßt eine übergeordnete Erzählinstanz deutlich spürbar werden. In der gleichen Szene spricht eine Straßenprostituierte Fabian an; verführerisch öffnet sie ihren Mantel und präsentiert ihm ihren nackten Oberkörper. Eine Einstellung mit subjektiver Kamera, die Fabians Blick auf die entblößte Frau wiedergibt, hätte sich geradezu angeboten, um eine provozierende Darbietung dieser Art auch filmisch treffend zu gestalten und den Zuschauer für einen kurzen, buchstäblichen Augenblick in die Rolle des 'potentiellen Kunden1 Fabian zu versetzen. Doch tatsächlich zeigt die entsprechende Einstellung sowohl die Prostituierte als auch Fabian, angeschnitten auf der rechten Bildhälfte; beide sind als Akteure vor der Kamera zu sehen, losgelöst von der erzählenden Instanz, dem Kameraauge. Weder subjektive Kamera noch over the shoulder-shot rücken Fabian in die Position einer Reflektorfigur. Auch bei semer Reaktion in der folgenden Einstellung - er lehnt das Angebot der Prostituierten schmunzelnd ab - bleibt die Kamera auf Distanz. Statt sein Mienenspiel in einer Großaufnahme zu zeigen, nimmt sie ihn 'nur' in Nahaufnahme auf. Gerade in dieser Szene hätte sich eine personale ES einfach und prägnant, mit subjektiver Kamera und Großaufnahme, realisieren lassen können. Die Erzählweise aber bleibt distanziert und auktorial.
161
So beginnen auch viele Einstellungen als Totale und konzentrieren sich erst nach suchenden Kamerafahrten auf den Protagonisten Fabian; die Kamera ist in diesen Fällen nie sofort bei ihm, sondern tastet sich sozusagen erst durch die Menge, bis sie ihn gefunden hat. Sie stellt eine Erzähl instanz dar, die nicht auf Fabian allein fixiert ist, sondern losgelöst von einer personalen Bindung die fiktive filmische Welt erkundet. "Sie [die Kamera - M.H.] apportiert Wirtschaftskrisen-Misere, AsphaltliteratenZynismus und 'völkische' Phrasen, sie versieht erste auftauchende HitlerSchnäuzchen quasi mit Ausrufezeichen, und sie delektiert sich wohlig, wo sogenannte Weiber die Szenerie garnieren: Mit gutem Appetit verputzt sie da, was an Speck und Schinken aufgetischt wird." 15
Die distanzierte Haltung der Kamera steht durchgängig für eine auktoriale ES. So verliert auch der überraschende Schluß des Romans, als Kästner lapidar und völlig distanziert von Fabians Tod berichtet, gänzlich seine Wirkung, da die auktoriale ES, die hier plötzlich erzeugt wird, im Film bereits die ganze Zeit über vorherrschte. In einer raschen Bildfolge schildert die Verfilmung Fabians Ende: Fabian steht in einer Telefonzelle, wobei die Kamera auch hier wieder auf Distanz bleibt und Fabian von außerhalb der Zelle beobachtet; im Hintergrund sind die Brücke und das auf ihrem Geländer spielende Kind sichtbar. Fabian dreht den Kopf und entdeckt das von der Brücke stürzende Kind. Schnell rennt er aus der Zelle, zur Brücke, steigt auf das Geländer und hält kurz Ausschau nach dem Kind. In einer Totalen sieht der Zuschauer als nächstes Fabian von der Brücke ins Wasser springen.16 Die nächste Einstellung zeigt das Kind in Nahaufnahme ans Ufer schwimmen; in der letzten Einstellung des Films, einer Totalen, die den Ruß, die Brücke und einen Teil des Ufers wiedergibt, steigt das Kind unversehrt aus dem Fluß und läuft aus dem Bild. Fabian allerdings taucht nicht mehr auf. Über der Einstellung erscheint abschlie15
Urs Jenny: Mutters Bester. In: Der Spiegel, Nr. 18, 28.4.1980, S. 228. Der Verzicht auf eine kurze Einstellung mit subjektiver Kamera, die den Fluß aus Fabians Perspektive zeigt, also eine Point of V/ew-Einstellung, die sich an Fabians suchenden Blick aus der vorangehenden Einstellung anschließen würde, zeigt wiederum deutlich die auktoriale ES der Szene.
162
ßend die Texteinblendung "Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen. Erich Kästner". Die knappe, distanzierte Darstellung dieser Szene entspricht zwar der auktorialen ES der literarischen Vorlage, aber sie erreicht nicht deren Wirkung, da sie nicht unvermittelt einsetzt, sondern quasi den ganzen Film hindurch praktiziert und angewandt wird. Um nun am Ende seines Films dennoch ein höheres Maß an Distanz und Mittelbarkeit spürbar werden zu lassen, bedient sich Gremm eines sprachlich-literarischen Gestaltungsmittels. Das Käsmer-Zitat - es sind die beiden letzten Sätze des Romans17 - verweist direkt auf die Uterarische Vorlage und verstärkt so den epischen Charakter des filmisch Erzählten.18 Die Möglichkeit, eine vergleichbare Distanzierung alleine mit kinematographischen Mitteln zu realisieren, wird der Verfilmung dadurch genommen, daß ihre Inszenierung von Anfang an und ohne Rücksichtnahme auf Kästners wohldurchdachte Erzählform auktorial geprägt ist.
1.3 Konsequenzen der veränderten Erzählperspektive Der Wechsel der personalen ES des Romans zur auktorialen ES der Verfilmung birgt auch Konsequenzen für die Rezeption in sich. Glaubt der Leser des Romans, mit Fabian die Gesellschaft der Weimarer Republik durch das Erleben zahlreicher exemplarischer Situationen kennenzulernen, so bekommt der Betrachter des Films lediglich ein Panoptikum bizarrer Menschen und Orte vorgeführt. Die Genauigkeit der rein inhaltlichen Wiedergabe vermag diesen Mangel nicht zu kompensieren. Bereits die zeitgenössische Kritik wies in verschiedenen Formulierungen darauf hin: "Das Berlin jener Zeit wird hier nicht wie bei Kästner aus der Perspektive eines Zeitgenossen lebendig, der distanzierter Beobachter und gleichzeitig ein in die Ereignisse verstricktes Opfer ist, Gremm interessierte sich vor allem für den nostalgischen Bilderbogen. Sein arbeitsloser Fabian ist ein letztlich gesichtsloser
17 18
Kästner, a.a.O., S. 184. Vgl. Kapitel l V/2.
163 und profilloser Wanderer durch Schaueffekte, durch die Welt des Tingeltangels, der Cafes, der Künstlerateliers." ^
Der distanzierte Blick auf den Protagonisten, der eben vom Blick des Protagonisten in der literarischen Vorlage abweicht, registriert freilich allerlei Kurioses, doch läßt er Fabian als Reflektorfigur, als Brennpunkt und als Mittler zwischen den Geschehnissen und dem Rezipienten vermissen. So geht die subjektive Sicht des Romans und damit die Eindringlichkeit und die Prägnanz der Darstellung verloren, die sich dem Leser als "augenblickliche Sinnfalligkeit von Fabians Feststellungen und [...] suggestivefr] Stil seiner Äußerungen", als "Reiz seiner Desinvoiture"20 anbietet. "Alles ist aufwendig, bemüht und immer gut gemeint. Aber es ergibt keinen rechten Sinn, weil keine Persönlichkeit spürbar wird, durch deren Optik allein das alles als eine logische Abfolge erschiene. Weder der auf der Leinwand herumirrende Fabian [...] kann uns davon überzeugen, daß ihm das alles so erscheint, noch hat der Filmregisseur den Mut gehabt, den sarkastischen Zorn Erich Kästners zu seinem eigenen zu machen." 21
Die durchgehend auktoriale ES des Films kann im Gegensatz zu Kästners Roman die eigentliche Bedeutung der Figur Fabians und die gesellschaftlichen Dimensionen ihres Verhaltens nicht transportieren. Ein Vergleich der Erzählsituationen und der Konsequenzen der jeweiligen Erzählperspektiven für die Rezeption macht dies deutlich. Fabians individuelles Schicksal und die Menschen und Ereignisse im Berlin der Weimarer Republik werden durch die personale ES des Romans, in dem Fabian als Reflektor für die gesamte Handlung fungiert, eng miteinander verknüpft und zeichnen gemeinsam das Bild einer exemplarischen Studie über eine Form menschlichen Verhaltens in der Krisenzeit. Gerade aber weil Gremm die Handlung des Romans für seine Verfilmung so wortgetreu übernimmt, ohne sie der neuen auktorialen ES anzupassen, werden diese beiden aufeinander bezogenen 19 20 21
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Eckhart Schmidt: Schlangenei und Lümmel. Gremms Kästner-Film "Fabian". In: Rheinischer Merkur (Düsseldorf), 2.5.1980. Kiesel 1981,5. 88. Wiegand 1980.
164 Elemente - Fabian einerseits, Berlin und dessen gesellschaftliches Treiben andererseits - nicht integriert, sondern treten abwechselnd in den Vordergrund. Die Darstellung von Fabians Werdegang degradiert die soziale Wirklichkeit Berlins in manchen Szenen zur bloßen Kulisse, während in anderen Szenen wiederum, in denen die Atmosphäre der Metropole mit ihren vielfältigen Vergnügungsstätten eingefangen werden soll, Fabian völlig im Hintergrund zu verschwinden scheint.22 "Fabian friert an der Welt aus der Distanz heraus, die er zu ihr hat, und wenn die Inszenierung uns versucht in den my tischen [sie!] BerlinTaumel zu versetzen, dann verliert sie dabei Fabian."23 So "läßt sich Fabians eigentliches Schicksal zwischen nackten Mädchen, endlos ausgedehnten Bett- und Kabarettszenen und deskriptiven Dekorpanoramen nur erahnen. "24 Die Erlebnisse Fabians scheinen in Gremms Film von der gesellschaftlichen Situation losgelöst und dadurch stärker als im Roman auf dessen individuellen, privaten Lebensbereich beschränkt zu sein; durch die distanzierte, auktoriale Betrachtung steigert sich die Ausschi ießlichkeit dessen, was in der literarischen Vorlage durch die personale ES als subjektives Erleben gekennzeichnet ist und sich somit durch die Imagination des Rezipienten um gesellschaftliche und politische Aspekte bereichern und im Sinne eines Exempels verallgemeinern läßt. "Kästner hat uns nicht eine ganze Welt gezeigt", schreibt Schwarz25. "Was er uns vorführt, ist jener Ausschnitt, den ein entfremdeter Akademiker aus dem Kleinbürgertum zu Anfang der dreißiger Jahre wahrnehmen konnte. [...] Wenn es sich also im Fabian auch nur um Segmente des modernen Lebens handelt, so sind sie doch so scharf be"
So z.B. in der ausgedehnten Szene des Cabaret-Besuchs von Fabian und Labude, in deren Mittelpunkt hauptsächlich das Bühnengeschehen, Tanz und Gesang stehen.
?i Gertrud Koch: Ein melancholischer Zeitgenosse. "Fabian" - Wolf Gremms 24
Kästner-Verfilmung. In: Frankfurter Rundschau, 25.4.1980. Schmidt, a.a.O. Egon Schwarz: Erich Kästner. Fabians Schneckengang im Kreise. In: Hans Wagener (Hrsg.): Zeitkritische Romane des 20. Jahrhunderts. Die Gesellschaft in der Kritik der deutschen Literatur. Stuttgart 1975, S. 124-145, S. 144.
165 obachtet, so ehrlich wiedergegeben und so sehr durch die menschlichen Prismen des Zorns, des Mitleids, des Humors, der Melancholie und [...] der Liebe facettiert, daß der Eindruck authentischer Wirklichkeit entsteht. Statt der ganzen sehen wir eine einheitliche Welt, eine zwar nur halbfertige Landkarte, die aber bereits die Konturen von Ländern und Kontinenten präzise genug andeutet, daß wir manche der fehlenden Gebiete auf Grund unserer eigenen, nicht minder limitierten Erfahrungen einzeichnen können." Mit anderen Worten: Die personale ES bietet von vornherein nur einen subjektiven Ausschnitt der Welt, der sich vom Leser allerdings deuten und beliebig ausweiten läßt, während die auktoriale ES des Films bereits den Überblick, die distanzierte und umfassende Darstellung suggeriert, tatsächlich jedoch die gesellschaftspolitischen Dimensionen des Romans unterschlägt. So erscheint also im Roman das Denken und Handeln Fabians, letztlich sein Scheitern, aufs engste mit der sozialen und politischen Wirklichkeit der Weimarer Republik verknüpft, während der Fabian des Films lediglich an einem individuellen Schicksal vor der effektträchtigen Kulisse Berlins zugrunde geht. Die Kamera rückt diese großstädtische Kulisse dabei zuweilen voyeuristisch2^ in den Mittelpunkt des Geschehens, ohne zu realisieren, daß all dies die subjektive Sicht Fabians repräsentieren sollte, seine Wahrnehmung der Zustände im Deutschland der beginnenden dreißiger Jahre. Kästners Implikationen und Intentionen wird der Film somit nicht gerecht, Dieser Mangel wird noch dadurch verstärkt, daß gerade jene Szenen des Romans, in denen Gespräche oder Ereignisse von gesellschaftlicher oder politischer Bedeutung explizit stattfinden, Szenen also, in denen sich Fabians privater Lebensweg sozusagen mit dem Öffentlichen Leben kreuzt, nicht oder nur verkürzt in den Film übernommen wurden. Die Diskussionen zwischen Fabian und Labude über deren unterschiedliche Weltanschauungen und Bereitschaft zu politischem Han-
Es sei daran erinnert, daß in Kapitel HI/3.3, die kinematographische auktoriale ES als Außenperspektive mit dem Blick des Voyeurs verglichen wurde.
166 dein27 beispielsweise treten in der Verfilmung hinter die Unterhaltung über Labudes gescheiterte Beziehung zu seiner Verlobten Leda zurück; das Gespräch der Zeitungsredakteure im Weinlokal über die politische und wirtschaftliche Lage28 wird vollständig weggelassen. Fabians Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg und seine bildhaften Vorstellungen von verkrüppelten Überlebenden, die 13 Jahre nach Kriegsende noch immer in der Isolation dahinvegetieren,29 fehlen in Gremms Film ebenso wie die Schilderung einer Arbeiterdemonstration am Weddingplatz und deren gewaltsame Zerschlagung durch die Polizei30 und der Besuch im 'Kabarett der Anonymen', in dem Verrückte auf der Bühne stehen und vom Publikum beschimpft und gedemütigt werden, eine unwirkliche, makabre Darbietung, in der sich der Zerfall kultureller Werte mit einer selbstzufriedenen, überheblichen Freude an Grausamkeiten verbindet und so die Verrohung der Menschen unter dem Deckmantel des Amüsements widerspiegelt. Der Conferencier dieses Kabaretts nennt sich bezeichnenderweise Caligula.31 Und schließlich fehlt in der Verfilmung auch Fabians visionärer Alptraum, der sich zu einem furchterregenden Endzeitszenario voller sexueller Ausschweifungen und blutiger Aggressionen gestaltet.32 Gerade dieser Traum, der "den Roman 'Fabian' weit über den Rang eines platt 'neusachlichen1 Zeitgemäldes hinaus [hebt], [...] ihn zu einem ebenso beklemmenden wie authentischen Dokument existenzieller Ängste in einer hoffnungslos erscheinenden gesellschaftlichen Krise [macht]"33, bringt durch seine Verquickung privater Erlebnisse und gesellschaftlicher Ereignisse die besondere Rolle Fabians als Reflektorfigur der Handlung deutlich zum Ausdruck. Personen aus Fabians Bekanntenkreis treten in diesem Traum als Repräsentanten einer todgeweihten Gesellschaft auf, die sich in einem besinnungslosen Taumel selbst zerfleischt. Das Personal aus Fabians privatem Erlebnisbereich wird zu 27
28 29 30 31 32 33
KSstner, a.a.O., S. 40f., 47f. und 61f.
Ebd., S. 25ff, Ebd.,S.49f. Ebd., S. 127f. Ebd., S. 52ff. Ebd., S. 112ff. Kiesel 1981, S. 92f
167
den Akteuren eines Totentanzes von gesellschaftlichen Dimensionen, einer subjektiv empfundenen Untergangsvision aus Fabians privater Sicht.34 Hätte Gremms Verfilmung diese Szenen - und vor allem den Alptraum Fabians - berücksichtigt, so hätte sie zweifellos einer anderen Tonart bedurft. Die persönlich erlebte Tragik der politischen und wirtschaftlichen Realität der Weimarer Republik, die in Fabians Traum ihren schrecklichen Höhepunkt findet, hätte sozusagen einige Molltöne in den ansonsten vorherrschenden Durklang des Films gebracht. Da aber die subjektive Sicht Fabians zugunsten einer auktorialen Erzählperspektive aufgegeben wurde, scheinen die Ereignisse und Menschen um Fabian den Zuschauer weniger zu berühren; der Wechsel der personalen ES des Romans zur auktorialen ES des Films erzeugt eine Distanz, die der Handlung ihre Subjektivität und ihre dadurch zuweilen spürbare Ausweglosigkeit nimmt. Die Distanz läßt eine entspannte, amüsierte Betrachtung der grotesken Situationen in Fabians Leben zu und setzt den überwiegend heiteren Grund ton des Films, der damit allerdings nur eine Seite der literarischen Vorlage wiedergibt. Der bittere Humor aber und die immer wieder durchscheinende Verzweiflung über die moralische, politische und gesellschaftliche Krise der Weimarer Zeit, die den Roman Kästners prägen, bleiben - salopp formuliert - auf der Strecke.
34
Vgl. ebd., S. lOOff. und Benson, a.a.O., S. 46f.
168 2. Auktoriale ES und personale ES im Wechsel: Die Erzählung "Tonio Kroger" TOD Thomas Mann und die Verfilmung von Rolf Thiele 2.1 Die Erzählung "Tonio Kroger" Im Mittelpunkt der Erzählung von Thomas Mann aus den Jahren 19001902^5 steht der Schriftsteller Tonio Kroger, der sich zwischen seinem Anspruch als Künstler und seiner Sehnsucht nach einer bürgerlichen Existenz gefangen fühlt. Tonio weiß, daß das Leben für die Kunst gewissermaßen eine Abkehr vom 'normalen' Leben bedeutet, denn nur aus der Distanz, aus einer quasi unbeteiligten Position heraus, lassen sich die wesentlichen Dinge des Lebens in eine künstlerische Form bringen. Der Wille zur ästhetischen Formung fordert Gleichgültigkeit und Überlegenheit, den Verzicht auf das einfache Gefühl und auf die unbefangene Heiterkeit in menschlicher Gesellschaft. So beschreibt Tonio in seinem bekenntnishaften Gespräch mit seiner Künstlerfreundin Lisaweta, das das vierte Kapitel der Erzählung bildet, die Unmöglichkeit, als fühlender Mensch künstlerisch tätig zu sein: "Man arbeitet schlecht im Frühling, gewiß, und warum? Weil man empfindet. Und weil der ein Stümper ist, der glaubt, der Schaffende dürfe empfinden. Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivität dieses Pfuscherirrtums, melancholisch vielleicht, aber er lächelt. Denn das, was man sagt, darf ja niemals die Hauptsache sein, sondern nur das an und für sich gleichgültige Material, aus dem das ästhetische Gebilde in spielender und gelassener Überlegenheit zusammenzusetzen ist. Liegt Ihnen zu viel an dem, was Sie zu sagen haben, schlägt Ihr Herz zu warm dafür, so können Sie eines vollständigen Fiaskos sicher sein. Sie werden pathetisch, Sie werden sentimental, etwas Schwerfälliges, Täppisch-Ernstes, Unbeherrschtes, Unironisches, Ungewürztes, Langweiliges, Banales entsteht unter Ihren Händen, und nichts als Gleichgültigkeit bei den Leuten, nichts als Enttäuschung und Jammer bei Ihnen selbst ist das Ende ...[...] Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems. Es ist nötig, daß man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen Thomas Mann: Tonio Kroger. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, a.a.O., Bd. VIII: Erzählungen. Fiorenza. Dichtungen, S. 271-338.
169 in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt." 36
Die Entfremdung, die mit dieser Position verbunden ist, empfindet Tonio allerdings als schmerzlich. Als Künstler fühlt er sich einsam und ausgeschlossen; er sehnt sich nach den naiven Freuden einer bürgerlichen Existenz unter Gleichgesinnten, er sehnt sich nach dem Leben der "Blonden und Blauäugigen, [der] hellen Lebendigen, [der] Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen,"37 Tonio Kroger leidet an dieser Antinomie zwischen Künstlerdasein, das geprägt ist von "wüsten Abenteuer [n] der Sinne, der Nerven und des Gedankens, [...] von Ironie und Geist, [...] von den Fiebern und Frösten des Schaffens"38, und bürgerlichem Leben, seiner Wunschvorstellung des "Simple [n], Treuherzige[n] und Angenehm-Normale [n], [des] Ungeniale[n] und Anständige[n]"^. Er ist "ein Bürger, der sich in die Kunst verirrte, ein Bohemien mit Heimweh nach der guten Kinderstube, ein Künstler mit schlechtem Gewissen. 'l40 Mann beschreibt in acht Kapiteln Episoden aus Tonios Leben, in denen dieser Widerspruch spürbar wird; es sind Stationen eines Lebens, das geradezu von diesem Zwiespalt und dessen Überwindung beherrscht wird, so daß diese einzelnen Stationen wie Variationen eines einzigen Themas erscheinen. Vaget bezeichnet die Erzählung als einen "komprimiertefn] Bildungsroman"41, tatsächlich aber zeichnet sich "Tonio Kroger" durch "eine gewisse Statik"42 aus. Es gibt keine ei36 37 38 39 40
Ebd.,S,295f. Ebd., S, 338. Ebd., S. 336. Ebd., S. 337. Ebd., S. 337. Hans R. Vaget: Die Erzählungen. In: Helmut Kuopmann (Hrsg.): ThomasMann-Handbuch. Stuttgart 1990, S. 534-618, S. 565. Herman Kurzke; Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, Hermann S. 100.
170 gentliche Entwicklung, sondern nur eine Wiederholung des gleichen Themas in verschiedenen Situationen. Am Ende steht zwar Tonios Eingeständnis seiner Liebe zum bürgerlichen Leben, doch war diese bereits von Anfang an tief in ihm verwurzelt, ist also nicht das Ergebnis einer Bildung oder Entwicklung. "Weil sich eigentlich nichts ändert, muß die 'Lehre' Tonio Krögers am Schluß abstrakt bleiben. Sie spielt sich nur in seinem Kopf ab und ist vom Verlauf der erzählten Ereignisse nicht gedeckt, Tonio nimmt ja keinen wirklichen Kontakt mit dem'Leben'auf." 4 3
Die Struktur der Erzählung ist daher treffender mit der Sonatenform, einem Begriff aus der Musiktheorie also, verglichen worden.44 Dem Kompositionsprinzip der Sonate mit Exposition, Durchführung, Reprise und Coda entspricht die Abfolge und die thematische Gestaltung der Kapitel. Die Exposition - Tonios Jugenderlebnisse in Kapitel l und 2 - stellen das Thema und die damit verknüpften Leitmotive vor; die Durchführung - die nahezu monologisch-theoretische Darstellung des KünstlerBürger-Konflikts in den Kapiteln 3, 4 und 5, die in Tonios Gespräch mit Lisaweta gipfelt - präzisiert das Thema und macht dessen Implikationen deutlich; die Reprise - Kapitel 6, 7 und 8, in denen Tonio die Stätte seiner Jugend besucht und dem Tanzabend in Aalsgaard beiwohnt - wiederholt thematische Variationen der Exposition, und die Coda das abschließende 9. Kapitel, Tonios Brief an Lisaweta - bringt das Thema zu einem harmonischen Schluß. Die einzelnen Kapitel selbst sind dabei durchaus unterschiedlich konzipiert. Die beiden ersten Kapitel sind von einer personalen ES geprägt; so werden die Erlebnisse des jungen Tonios, seine Freundschaft zu Hans Hansen und seine unerwiderte Liebe zu Ingeborg Hohn sehr dicht und einfühlsam geschildert, die Empfindungen Tonios eindrücklich und intensiv dargestellt. Die scheinbare Unmittelbarkeit der personalen ES, in der Tonio als Reflektorfigur auftritt und durch seine subjektive Sicht 43
Ebd., S. 100.
44
Seitz 1981, S. 123.
171
die Darstellung bestimmt, wird hauptsächlich durch erlebte Rede und innere Monologe erzeugt, die immer wieder Tonios Wahrnehmungen und Gedanken zum Brennpunkt der Ereignisse machen.45 "So war Hans Hansen, und seit Tonio Kroger ihn kannte, empfand er Sehnsucht, sobald er ihn erblickte, eine neidische Sehnsucht, die oberhalb der Brust saß und brannte. Wer so blaue Augen hätte, dachte er, und so in Ordnung und glücklicher Gemeinschaft mit aller Welt lebte wie du! Stets bist du auf eine wohlanständige und allgemein respektierte Weise beschäftigt. Wenn du die Schulaufgaben erledigt hast, so nimmst du Reitstunden oder arbeitest mit der Laubsäge, und selbst in den Ferien, an der See, bist du vom Rudern, Segeln und Schwimmen in Anspruch genommen, indes ich müßiggängeriseh und verloren im Sande Hege und auf die geheimnisvoll wechselnden Mienenspiele starre, die über des Meeres Antlitz huschen. Aber darum sind deine Augen so klar. Zu sein wie du ,, ."46
In den Kapiteln 6, 7 und 8 kehrt diese Unmittelbarkeit der Darstellung wieder. Tonios Reise in den Norden, sein Besuch in seiner Heimatstadt Lübeck und sein Aufenthalt im dänischen Badeort Aalsgaard werden wiederum in überwiegend personaler ES geschildert; auch hier begegnen dem Leser erlebte Rede und innere Monologe als Stilmittel, die ein Miterleben und ein Mitfühlen der erzählten Situationen suggerieren. "Er ging zu Fuß, ging langsam, den unablässigen Druck des feuchten Windes im Gesicht, über die Brücke, an deren Geländer mythologische Statuen standen, und eine Strecke am Hafen entlang. Großer Gott, wie winzig und winklig das Ganze erschien! Waren hier in all der Zeit die schmalen Giebelgassen so putzig steil zur Stadt emporgestiegen? Die Schornsteine und Mäste der Schiffe schaukelten leis in Wind und Dämmerung auf dem trüben Flusse. Sollte er jene Straße hinaufgehen, die dort, an der das Haus lag, das er im Sinne hatte? Nein, morgen. Er war so schläfrig jetzt. Sein Kopf war schwer von der Fahrt, und langsame, nebelhafte Gedanken zogen ihm durch den Sinn." 47
45
47
Vgl. ebd., S. 126f. und Kurt Bräutigam: Thomas Mann: Tonio Kroger. (Interpretationen zum Deutschunterricht) 4. Auflage, München 1975, S. 48f. Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 276. Ebd., S. 307f.
172
Seitz umschreibt die personale ES dieser Kapitel als "lyrische[n]"48, "impressionistisch nuancierte[n] Erzählstil"49 und unterscheidet diesen vom "essayistischen Erzählton"50 der übrigen Kapitel, hauptsächlich der Kapitel 3, 4 und 5. Soweit sie einen narrativen Charakter haben, herrscht in ihnen eine auktoriale ES vor. Stark gerafft und abstrakt skizzierend gibt der Erzähler im dritten Kapitel Tonios Lebensweg wieder und bedient sich dabei zusehends einer distanzierten und sentenzartigen Diktion, die das Schicksal Tonios, seinen Konflikt zwischen bürgerlicher Existenz und Künstlerdasein, zur Allgemeingültigkeit erhebt. "Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im übrigen grau und unauffällig umhergeht, wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat. Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar und voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich waren, wild und abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten Luxus trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu leben bedacht waren, unwissend darüber, daß gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, daß, wer lebt, nicht arbeitet, und daß man gestorben sein muß, um ganz ein Schaffender zu sein." 5t
Ebenso entwickelt sich im vierten Kapitel das Gespräch zwischen Tonio und Lisaweta zu einem Monolog des Schriftstellers, der weniger an eine lebensnahe Unterhaltung als vielmehr an einen essayistisch gestalteten Vortrag erinnert.52 Die Unterschiede in der Erzählform der Kapitel werden aber von der Konzentration auf das zentrale Thema der Künstlerproblematik und von immer wiederkehrenden Leitmotiven überbrückt; ähnliche Formulierungen und Motiv Wiederholungen durchziehen die gesamte Erzählung und verstärken ihren Sonatencharakter. Wie in einem musikalischen 48
49 50 51 52
Seitz 1981, S. 125, Ebd., S, 123. Ebd., S. 125. Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 291 f. VgJ. Seitz 1981, S. 129,
173 Werk erklingen immer wieder gleiche Töne und Tonfolgen, ein Geflecht von aufeinander bezogenen Motiven, die in ihrer antithetischen Struktur den Zwiespalt Tonio Krögers - der ja bereits in seinem Namen angedeutet ist - ständig wiederholen, variieren und sinnfällig machen. So entsteht trotz der unterschiedlichen Erzählsituationen eine starke Bindung zwischen den einzelnen Kapiteln; die Erzählung insgesamt erscheint als ein einheitliches, blockhaftes Werk, in dem keine Entwicklung beschrieben wird, sondern ein Zustand, ein Werk, in dem sich eigentlich nichts verändert, sondern ein Thema mit allen in ihm bereits angelegten Möglichkeiten durchgespielt wird. Es spiegelt sich darin die organische Einheit wider, die die Gegensätze Künstler - Bürger in der Figur Tonio Krögers erlangen. Er ist Künstler und Bürger, wird es nicht erst im Laufe der Erzählung, und sein abschließendes Bekenntnis zu seiner bürgerlichen Neigung - "Schelten Sie diese Liebe nicht, Lisaweta; sie ist gut und fruchtbar. Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit."53 - wird bereits zu Beginn der Erzählung mit den gleichen Worten angedeutet54. Die Dichotomic der beiden Existenzformen wird durch die Akzeptanz gleichsam aufgehoben, so wie die unterschiedlichen Prägungen der Kapitel hinsichtlich ihrer Erzähl Situationen in der Einheitlichkeit ihrer thematischen Gebundenheit und ihrer leitmotivischen Verknüpfung aufgehoben werden. Es bleibt der Eindruck einer repräsentativen Auswahl chronologischer Lebensstationen, die - unabhängig von der jeweiligen Gestaltung der Erzähl Situationen innerhalb der einzelnen Kapitel - auf eine auktoriaie Instanz verweist. In den exemplarischen Episoden aus Tonios Leben, deren Ausschnittscharakter deutlich die selektierende, ordnende Hand eines auktorialen Erzählers zeigt, verdichten sich allgemeine Beobachtungen und Überlegungen zur Künstlerproblematik zu Szenen eines individuellen Schicksals. Die ungewöhnliche sonatenähnliche Struktur der Erzählung und die daraus resultierende motivische Geschlossenheit und Prägnanz der Darstellung bewahren aber dem Ein-
53 54
Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 338. Ebd., S. 281,
174
zelschicksal des "verirrte[n] Bürger[s]"55 Tonio Kroger die AUgemeingültigkeit.
2.2 Der Film "Tonio Kroger" Die Erzählung "Tonio Kroger" zu verfilmen, bedeutet, ein literarisches Werk in Bilder und darstellbare Ereignisse zu transformieren, das gerade durch seinen strengen Bau, durch seine Statik, durch seine Verkürzung und Reduktion der äußeren Handlung auf die Wiederkehr leitmotivischer Elemente und seine Konzentration auf gedankliche Vorgänge besticht. "Alles, was geschieht", drückt eine Kritikerin56 zugespitzt aus, "geschieht iin Innern des Helden, spiegelt sich in seinen Gedanken, seinen Zweifeln, seinen intellektuellen Auseinandersetzungen." Für eine filmische Adaption ist dies eine denkbar ungünstige Voraussetzung. Die Verfilmung von Rolf Thiele (BRD/Frankreich 1964) ist daher durch eine Auflösung der sonatenähnlichen Struktur und die Einführung von Rückblenden, die Tonios Jugenderlebnisse schildern, gekennzeichnet. Damit verbunden ist ein auffallender Wechsel der Erzählsituationen. Der Beginn von Thieles Film, die Exposition, in der der Zuschauer mit der Person und dem Leben Tonio Krögers vertraut gemacht wird, gestaltet sich als auktoriale ES. Bilder ohne direkten räumlichen oder zeitlichen Bezug - einige davon tauchen später im Film wieder auf - erscheinen aneinandergereiht und erhalten lediglich durch den Text eines allwissenden Erzählers, der als voice over hörbar ist, einen Zusammenhang. Die erste Einstellung zeigt Tonio Kroger in Großaufnahme, die zweite seinen Vater, die dritte seine Mutter; der Erzähler erläutert dabei die familiäre und soziale Herkunft Tonios. In der vierten Einstellung, in der die erste Einstellung weitergeführt wird, kehrt die Kamera 55
Ebd., S. 305. Eise Golz: Verfilmter Mann-Monolog. Doppelpremiere von "Tonio Kroger" in Venedig und Lübeck. In: Stuttgarter Zeitung, 7,9.1964.
175
zu Tonio zurück. Er dreht sich nach rechts, die Kamera folgt ihm und öffnet durch eine Rückwärtsfahrt den Blick auf die Stadt Ravenna. Die fünfte Einstellung zeigt ihn in einem Zimmer am Schreibtisch sitzend und arbeitend. Die Dunkelheit des Hintergrunds - wahrscheinlich der Blick in die schwarze Nacht durch ein geöffnetes Fenster steht in deutlichem Kontrast zum hellen Sonnenlicht der vorangegangenen Einstellung. Die sechste Einstellung beginnt mit einer Detailaufnahme von Tonios Gesicht; die Kamera fährt zurück und zur rechten Seite und erfaßt so die Dunkelheit und Leere des Hintergrunds, die die Distanz zwischen Tonio und der Schreibtischlampe, wohin der Blick der Kamera nun geht, akzentuiert. Der Erzähltext57 an dieser Stelle liefert eine Deutung dieser auffallenden visuellen Gestaltung: "Aber er mußte sehr früh erfahren, daß mit der Qual und dem Hochmut der Erkenntnis die Einsamkeit kam, weil es ihn im Kreise der Harmlosen mit dem fröhlich dunklen Sinn nicht litt."58 Die Bürger-Künstler-Antinomie findet in dem Licht-DunkelheitKontrast eine visuelle Metapher. So fällt das Wort "Erkenntnis" im Kommentar des Erzählers zusammen mit der Detailaufnahme von Tonios Stirn zu Beginn der Einstellung, das Wort "Einsamkeit" mit der leeren Schwärze, die während der Kamerabewegung für einen Moment das Bild beherrscht und sich scheinbar unüberwindbar zwischen Tonio und das Licht der Schreibtischlampe schiebt. Wie sehr sich aber Tonio nach dem Licht sehnt, zeigt die folgende, siebte Einstellung: Die Kamera schwenkt über das sonnenüberflutete Panorama von Ravenna, und der Erzähler berichtet: "Er verließ seine Heimatstadt und lebte zeitweilig im Süden, von dessen Sonne er sich ein üppigeres Reifen seiner Kunst versprach."59 Die achte und neunte Einstellung geben in Totalen jeweils einen Blick auf die Innenstadt Ravennas aus großer Höhe wieder. Die zehnte Einstellung zeigt ein Opernhaus am Abend; die Kamera fährt an Säulen
CO 30
59
Seitz 1981, S. 432f,, zitiert bei ihrem Vergleich des Erzählerkommentars mit den Originalpassagen der Erzählung den Text aus einer Dialogliste, der jedoch nicht vollständig mit dem Text in der endgültigen Filmfassung übereinstimmt. Ich zitiere im folgenden den Erzählertext direkt aus dem Film. Vgl. dazu Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 290. Vgl. dazu ebd., S, 290.
176 vorbei und auf Tonio zu, der in Frack und Zylinder eines der Vorstellungsplakate liest. Die Kamera bewegt sich so, daß der Zuschauer ein anderes Plakat im Bildvordergrund lesen kann - Tonio Kroger besucht die Oper "Don Carlos" von Verdi. Die Exposition - zehn Einstellungen mit einer Dauer von insgesamt knapp drei Minuten - erzeugt eine deutlieh spürbare auktoriale ES. Das Prinzip der detached camera beherrscht die kinematographische Gestaltung und zeigt sich in der Montage einzelner, unabhängiger Bilder, etwa der beiden Einstellungen von Tonios Eltern. Die Kamera ist nicht an Tonio gebunden, sondern bewegt sich mitunter frei und gelöst, so vor allem in der bemerkenswerten Kamerafahrt der sechsten Einstellung, die den Blick des Zuschauers von Tonio wegführt. In der zehnten Einstellung bewegt sich die Kamera suchend auf Tonio zu und läßt den Betrachter nicht etwa die "Don Carlos "-Ankündigung lesen, die auch Tonio liest, sondern präsentiert ihm ein anderes Opernplakat im Vordergrund.60 Die Einstellungen 7, 8 und 9 sind Totalen, die als bevorzugte Einstellungsgrößen einer auktorialen ES genannt wurden. Die Montage der Exposition erscheint insgesamt weniger narrativ, als vielmehr rhetorisch-stilistisch geprägt. Und schließlich kommt die Erzählerstimme als offensichtliches sprachlich-literarisches Gestaltungsmittel der Erzählsituation hinzu. Sie zitiert zum Teil leicht veränderte Textpassagen aus dem dritten Kapitel der literarischen Vorlage, dessen auktorialer Charakter bereits im vorangegangenen Abschnitt erwähnt wurde. Nach diesem auktorialen, sehr artifiziell wirkenden Auftakt verändert sich aber die Erzählsituation. Die letzte Einstellung der Exposition - Tonio vor der Oper - leitet die erste Rückblende ein. Diese berichtet von Tonios Jugend und seiner Freundschaft zu Hans Hansen, entspricht also dem ersten Kapitel der Erzählung Manns. Da in dieser Episode Schillers Drama "Don Carlos" als Gesprächsstoff der beiden Jungen eine wichtige Rolle spielt, wird Tonios Besuch einer Aufführung der Oper "Don Carlos" zum Auslöser Vgl. die Szene in Gremms Kastner-Verfilmung "Fabian", in der die Zuschauer das "Exotik Bar "-Werbeschild bereits lesen können, bevor Fabian es überhaupt wahrnimmt.
177
der Erinnerung an das Jugenderlebnis. Während Tonio ein Opemplakat liest, weist der Erzähler direkt auf die folgende Rückblende hin: "Und nur manchmal regte sich in ihm eine schwache, sehnsüchtige Erinnerung an seine Kindheit und an eine Lust der Seele, die einstmals sein eigen war und die er in allen Lüsten nicht wiederfand - Don Carlos."61 Eine Überblendung zur nächsten Einstellung, die den jungen Tonio in Großaufnahme zeigt, kennzeichnet den Übergang von der filmischen Gegenwart zur Vergangenheit. Im Gegensatz zur Exposition zeichnet sich die Rückblende durch eine personale ES aus; Großaufnahmen, gebundene Kameraführung und decoupage classique rücken Tonio als Reflektorfigur in den Mittelpunkt der Darstellung und erhöhen die Illusion der Unmittelbarkeit. Der Erzählertext in dieser Szene - es handelt sich dabei wieder um leicht veränderte Passagen aus dem Originaltext der Erzählung - erzeugt keine auktoriale Distanz, sondern verstärkt durch den Gebrauch erlebter Rede die personale ES; dabei fügen sich Ton und Bild zu einer einheitlichen Erzählperspektive zusammen, die ganz der Wahrnehmung des jungen Tonios entspricht, jedoch keineswegs eine Ich-ES bildet. Als Tonio und Hans auf ihrem Weg von der Schule nach Hause Erwin Jimmerthal treffen, werden Tonio und das begonnene Gespräch über Schillers "Don Carlos" zur Nebensache für den bewunderten Hans; er vertieft sich in eine Unterhaltung mit Erwin und scheint Tonio nicht mehr zu beachten. Die drei Jungen laufen eine Straße hinab; Hans und Erwin im Hintergrund, Tonio im Vordergrund. Die Distanz zwischen ihm und den beiden Kameraden wird visuell durch den großen räumlichen Abstand signalisiert und durch die Bäume, die zwischen ihnen auftauchen, während sie weitergehen, noch betont. Auf der akustischen Ebene tritt das Gespräch zwischen Hans und Erwin völlig zurück; da es für Tonio uninteressant ist, wird es aus seiner subjektiven Wahrnehmung gleichsam ausgeblendet. Die Erzählerstimme wird statt dessen hörbar und schildert Tonios Gedanken: "Warum nannte Hans ihn Tonio, solange sie allein waren, und schämte
61
Vgl. dazu Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 290.
178
sich dessen, sobald ein dritter dazukam. Tonio fühlte sich wieder einmal allein. Er dachte an König Philipp. Der König hat geweint. "62 Sowohl die visuelle Gestaltung mit Tonios Position im Bildvordergrund als auch der personale Erzählertext machen Tonios Funktion als Reflektorfigur und als Identifikationsfigur für den Zuschauer eindeutig. Eine weitere 'Synchronität' dieser Art zeigt wenig später in der gleichen Szene erneut die sich ergänzenden Wirkungen von Bild und Ton: Tonio und Hans laufen nebeneinander; die Bewegung der rückwärtsfahrenden Kamera ist auf die Bewegung der beiden Jungen abgestimmt, so daß diese stets in Nahaufnahme und in gleichbleibendem Abstand zur Kamera zu sehen sind, eine konventionelle Technik, die das Prinzip der attached camera verdeutlicht. Wieder offenbart der Erzähler Tonios Gedanken: "Alle Hebten Hans [...] Zu sein wie er. Es war eine neidische Sehnsucht in ihm, die oberhalb der Brust saß und brannte [...]"63 Bei den Worten "Zu sein wie er." blickt Tonio auf und neidvollnachdenklich zu Hans, eine in ihrer Synchronität nahezu perfekte Illustrierung des Erzähltextes.
2.3 Dichotomic der Erzählsituationen Die Diskrepanz zwischen der distanzierten auktorialen ES der Exposition und der scheinbar unmittelbaren personalen ES der Rückblende ist verblüffend und wurde auch von der zeitgenössischen Kritik zur Kenntnis genommen: "Die Erinnerungen an die Kindheit, in Rückblenden aufgeblendet, nehmen den Zuschauer noch am ehesten gefangen."64 Auch Seitz stellt den Unterschied in der filmischen Gestaltung fest: "Während der Eingangskonimentar [..,] keine adäquate bildliche Entsprechung hat, stellen die Rückblenden eine angemessene Illustration des Kommentartextes dar. Außerdem wechselt der Kommentar flüssig ab mit den Dialogen der auftretenden Personen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß es hier den Drehbuchautoren gelungen ist, eine relativ knappe und auf die Bilder gezielte Montage von
62
Vgl. dazu ebd., S. 279f.
63
Vgl. dazu ebd., S, 276.
64
Gölz, a.a.O.
179 Erzählteilen aus der Vorlage zu bieten, ohne die übernommenen Partien sinngemäß zu verfälschen oder sprachlich zu verletzen." 65
Die erzählperspektivische Gestaltung der Jugenderlebnisse Tonlos stimmt mit der personalen ES der entsprechenden Kapitel in der literarischen Vorlage überein. Dies gilt auch für die zweite Rückblende, die von der Tanzstunde und Tonios unerwiderter Liebe zu Ingeborg Hohn berichtet. Während jedoch in der Erzählung auch Stationen aus Tonios späterem Leben durch personale ES geprägt sind, namentlich die Kapitel 6, 7 und 8, die Tonios Rückkehr nach Lübeck und seinen Aufenthalt in Aalsgaard beschreiben, werden diese in der Verfilmung mit auktorialer Distanz präsentiert; die auktoriale ES, die bereits die Exposition in extremer Form beherrscht, bleibt - etwas gemildert zwar, aber nach wie vor deutlich spürbar - in den Szenen mit dem erwachsenen Tonio Kroger erhalten. Wird im literarischen Text etwa Tonios abendlicher Spaziergang durch Lübeck in personaler ES geschildert,66 so weicht der Film entschieden davon ab, indem er Bilder der Stadt im Rückprojektionsverfahren mit einem sich erstaunt umblickenden Tonio kombiniert. Größenverhältnisse, Perspektiven und zeitliche Beziehungen lösen sich in diesen überaus künstlichen Einstellungen auf und führen die mediale Mittelbarkeit des Films mit seinen visuellen und technischen Möglichkeiten geradezu vor Augen. Die Unmittelbarkeit einer personalen ES, die die Illusion des Miterlebens suggerieren soll, wird hierbei natürlich zerstört.67 Die unterschiedliche Gestaltung der Erlebnisse des jungen Tonios und des erwachsenen Tonios aber vermittelt dem Zuschauer einen Bruch in der Erzählperspektive, eine Zerrissenheit der Darstellung, die man durchaus als Anzeichen der inneren Zerrissenheit Tonios verstehen kann; der Konflikt zwischen Künstlertum und bürgerlichem Leben fin-
65
Seitz 1981,S.437f.
Mann: Tonio Kroger, a.a.O., S. 307f. Vgl. die zitierte Textpassage oben, Seitz 1981, S. 439f., allerdings sieht in der filmtechnischen Gestaltung dieser Szene eine adäquate Umsetzung des traumartigen Zustands, in dem Tonio durch seine Heimatstadt spaziert.
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det so seinen Ausdruck in der dichotom angelegten Inszenierung der Erzähl Situationen. Diese Spaltung jedoch wird nicht überwunden und steht damit in deutlichem Widerspruch zu der Konzeption Manns, in der Tonios Konflikt durch die Anerkennung bürgerlicher Sehnsüchte beigelegt und beide Pole seiner Existenz integriert werden - mit dem Hinweis darauf, daß diese Integration bereits von Anfang an in Tonio angelegt war. So gibt es denn auch in der Erzählung nicht diese auffallende Polarisierung in der Gestaltung der Erzählsituationen, die den Film prägt. Wird in der literarischen Vorlage besonders durch die chronologische Abfolge der Ereignisse der Einfluß einer auktorialen Erzähl instanz spürbar, die sozusagen exemplarische Episoden aus Tonios Leben zur Veranschaulichung der Künstler-Bürger-Problematik auswählt, so wird dieser in der Verfilmung gemeinsam mit der Struktur der Erzählung aufgelöst. Durch die Einführung der Rückblenden wird der sonatenähnliche Bau zerstört; die Jugenderlebnisse Tonios scheinen nun nicht mehr von 'auktorialer Hand1 ausgewählt zu sein, um das zentrale Thema des Werks in verschiedenen Variationen durchzuspielen, sondern sind Erinnerungen Tonios, also subjektive Einschübe in der Erzählchronologie, die zudem jeweils konkrete Auslöser haben - der Besuch der Oper "Don Carlos" für die erste Rückblende und eine junge italienische Prostituierte für die zweite Rückblende - und dadurch in ihrer subjektivierenden und das zentrale Thema individualisierenden Wirkung verstärkt werden. Die Allgemeingültigkeit der Künstler-Bürger-Thematik, die bei Mann immer noch durchscheint, tritt so in Thieles Film hinter einer mehr individuellen Auffassung der Figur Tonio Krögers zurück. " 68
Vgl. Seitzl981, S. 435f, Interessanterweise weist Schneider 1981, S. 163f., mit der Nennung des Films "Glückssucher" (BRD 1977, Regie: Peter Beauvais) nach der Erzählung "Ein Gedicht von der Freiheit" von Dieter Wellershoff auf eine Verfilmung hin, bei der genau umgekehrt verfahren wurde: Die Erzählstruktur der literarischen Vorlage, in der Erinnerungen eines Ich-Erzählers retrospektiv geschildert werden, wurde im Film in eine chronologische Abfolge der Ereignisse umgewandelt; dem Stoff wurde somit der Charakter einer subjektiv empfundenen und individuell geprägten Geschichte genommen und eine allgemeine, exemplarische Dimension hinzugefügt.
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Seitz resümiert die filmische Interpretation Tonios in entsprechender Weise: "Tonio Kroger ist dargestellt als 'Spätling der Romantik', [..,] jedoch ohne daß die intellektuellen, gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Bedingungen dieser Figur [.,,] die Brisanz des Künstler-Bürger-Problems und ihr Zeitbezug überzeugend deutlich gemacht werden. Das Problem der Identität stellt sich daher als ein psychologistisch und fitmisch stimmungsvoll gestaltetes, privates Problem mehr des Mannes als des Künstlers Tonio Kroger dar." ™
Auch Renner stellt fest, daß "sich der Tonio Kro'ger-F'um durch eine psychologisierende Interpretation [...] weitgehend von der grundsätzlichen Künstler-Bürger-Thematik entfernt und dagegen eine autobiographische Spur der Textvorlage hervorhebt".71 Gleichzeitig deutet die unterschiedliche erzählperspektivische Gestaltung der Erlebnisse des jungen Tonios einerseits und des erwachsenen Tonios andererseits eine Veränderung an, unterstellt gar eine Entwicklung im Leben Tonio Krögers. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Umdeutung der Figur Lisawetas, die im Film - Zugeständnis an den Geschmack und die Bedürfnisse des Kinopublikums? eine wichtigere Rolle spielt als in Manns Erzählung. Sie nimmt entscheidenden Einfluß auf Tonio und tritt gegen Ende des Films, zumindest in Tonios Gedanken, noch einmal auf, um mit ihm über sein verändertes Selbstverständnis als Künstler und Bürger zu sprechen.72 Die statische, blockhafte Wirkung der Erzählung wird somit durchbrochen und den Forderungen des Mediums Film nach visuell darstellbarer Handlung, Bewegung und Veränderung zumindest teilweise geopfert.
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72
Seitz 1981,8.452. Rolf G. Renner: Verfilmungen der Werke von Thomas Mann. In: Koopmann (Hrsg.) 1990, a.a.O., S. 799-822, S. 800.
Vgl. Seitz 1981, S. 444ff.
182 3. Auktorialer Einschub in personaler ES: Die Erzählung "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann und die Verfilmung von Luchino Visconti 3.1 Die Erzählung "Der Tod in Venedig" Ein anderes, sehr viel tragischeres Künstierschicksal beschreibt Thomas Mann in seiner 1912 entstandenen Erzählung "Der Tod in Venedig"73. Der anerkannte Schriftsteller Gustav von Aschenbach, Repräsentant einer neuklassizistischen Kunstauffassung, reist nach Venedig und verfällt dort dem polnischen Knaben Tadzio in verzehrender Liebe. Die sinnliche Schönheit des engelsgleichen Jungen wird zur Herausforderung für Aschenbachs Ideale einer reinen, geistigen Ästhetik. Die gegensätzlichen Prinzipien einer apollinischen Kunst und einer expressiven dionysischen Entäußerung, in der sich die unterdrückte und verdrängte Macht der Sinnlichkeit gewaltsam und zerstörerisch in Aschenbach zu erheben droht, prallen aufeinander, und der Wille zur Formstrenge und zur Erhabenheit der künstlerischen Gestaltung durch Maß und Kontemplation verliert sich zunehmend im mitreißenden Sog einer leidenschaftlichen, zügellosen und rauschhaften Maßlosigkeit. Die Begegnung mit Tadzio wird für Aschenbach zur Konfrontation mit den inspirierenden, aber auch destruktiven Kräften von Eros und Tod, die in der Figur des polnischen Jungen ihre ambivalenten Züge symbolisch entfalten. So befähigt der Anblick Tadzios zwar den alternden Schriftsteller, "jene anderthalb Seiten erlesener Prosa [zu schreiben], deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefuhlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte , gleichzeitig aber wird der Junge zu dessen Verhängnis, zu einem verführerischen Todesengel, dem Aschenbach auf erniedrigende Art und Weise nachstellt, um am Ende den Tod zu finden. Der Zwiespalt zwischen den zwei Extrempositionen künstlerischer Anschauung, zwischen formstrenger Klassizität und formloser Expres-
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Thomas Mann: Der Tod in Venedig. In: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. VIII, a.a.O., S. 444-525, Vgl. dazu die Gegenüberstellung der von Nietzsche geprägten Begriffe des Apollinischen und Dionysischen bei Kurzke, a.a.O., S, 124f. Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 493.
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sivität, zwischen apollinischer und dionysischer Sphäre treibt Aschenbach ruhelos durch die labyrinthischen, choleraverseuchten Gassen Venedigs und läßt ihn schließlich im Angesicht des Meeres zugrunde gehen, jenem Symbol "des Einfachen, Ungeheueren", des "Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen", des "Nichts", aber auch des "Vollkommenen"76, in dem die Gegensätze der polaren Kunstauffassungen zu verschmelzen scheinen.77 Hier deutet sich wiederum die Ambivalenz an, die die Macht der verdrängten Sinnlichkeit charakterisiert und sie verlockend und bedrohlich, ästhetisch und ekstatisch zugleich erscheinen läßt. Aschenbach, der diesem Reiz erliegt, verstrickt sich zunehmend in einem Netz aus Faszination und Ablehnung, einem Konflikt, der an die Oberfläche seiner Existenz drängt, ihre Fassade durchbricht, das Prinzip einer geistigen Kunst als puren Schein entlarvend, und im Verlust der Identität und schließlich des Lebens gipfelt, Sprache und Stil der Erzählung sind deutlich geprägt von neuklassizistischer Erhabenheit und Formstrenge,7** jenen Prinzipien der Kunst also, denen Aschenbach ergeben ist, bevor er der rauschhaften Liebe zu Tadzio erliegt. So deutet sich bereits in der sprachlichen Gestaltung des Textes, in den komplexen, hypotaktischen Satzkonstruktionen und der Verwendung ungewöhnlicher und ausgefallener Begriffe und Fremdwörter,7' die vorherrschende Erzählperspektive an. In dieser stilistisch so ausgereiften und kunstvoll komponierten Prosa begegnet dem Leser nicht nur der Autor Thomas Mann, sondern vielmehr der neuklassizistische Schriftsteller Gustav von Aschenbach. 76
Ebd., S. 475. Vgl. Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Interpretation deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn. 5. Auflage, Stuttgart 1964, S. 186f. Vgl. Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann und die Neuklassik. "Der Tod in Venedig" und Samuel Lublinskis Literaturauffassung. In: Hermann Kurzke (Hrsg.): Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Aufsätze seit 1970. Würzburg 1985, S. 41-60; Kurzke: Thomas Mann. Epoche - Werk - Wirkung. München 1985, S. 119f. und Vaget 1990, a.a.O., S. 587ff. Vgl. die Untersuchungen zu den stilistischen Besonderheiten der Erzählung bei Josef Kunz: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. (Grundlagen der Germanistik 23) Berlin 1977, S. 161; Martini, a.a.O., S. 178ff. und Seitz 1981, S. 314ff.
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"Schon hier beginnt das, was man den eingefühlten Stil des Erzählers nennt", urteilt Kunz80, "es ist nicht der Stil Thomas Manns, sondern der Stil Aschenbachs." Aschenbach ist somit die Reflektorfigur der vorherrschenden personalen ES81; seine spezifische Wahrnehmung ist es, die den geschilderten Ereignissen ihr neuklassizistisches Gepräge gibt. Längere Textpassagen, die theoretische Reflexionen zur Kunst und Ästhetik* oder Überlegungen zur eigenen Situation83 wiedergeben, spiegeln Aschenbachs Funktion als wahrnehmende und reflektierende Instanz der Handlung wider. Die Wirkung der personalen ES wird darüber hinaus noch dadurch verstärkt, daß der Leser niemals mehr über Tadzio, dessen Familie oder gar die Ausbreitung der Seuche in Venedig weiß als Aschenbach.84 Doch immer wieder - und das macht den besonderen Reiz der Erzählung aus - drängt sich die Stimme eines auktorialen Erzählers in die dominierende personale ES, durchbricht quasi mit unterschiedlicher Intensität den Schein der Unmittelbarkeit und relativiert so das Verhalten Aschenbachs, bewertet gleichsam die Gefühle und Gedanken des Protagonisten und erzeugt so eine Distanz zwischen ihm und dem Leser, die eine kritische Betrachtung ermöglicht. Mit ironischen Formulierungen, hauptsächlich substantivierten Adjektiven und Partizipien, charakterisiert der Erzähler den Protagonisten und gibt dessen Verhaltensweisen damit nicht selten der Lächerlichkeit preis.85 So kennzeichnet er Aschenbach beispielsweise als 86 87 88 thusiasmiertetn]" , als "Verwirrte[n]" , "Betörten" , "Starrsin-
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Kunz, a.a.O., S. 161. Lediglich das zweite Kapitel der Erzählung, in dem Aschenbachs Charakter, sein Leben und sein Werk beschrieben werden, zeichnet sich durch eine auktoriale ES aus, Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 491f. und 521f. Ebd., S, 503f. Vgl. Seitz 1981, S. 312f. Vgl. Kunz, a.a.O., S. 155 und Seitz 1981, S. 314. Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 491. Ebd., S. 503. Ebd., S. 504.
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nige[n]"89 und als "Berücktefn]"90 und überwindet mit diesen auktorialen Einschüben die Subjektivität der personalen ES, in der sich der Rezipient generell eher mit dem Protagonisten identifiziert, statt ihn kritisch zu beurteilen. Je weiter sich Aschenbach von den Prinzipien eines maßvollen, geistigen Lebens entfernt, je weiter sich der neuklassizistische Künstler in die dionysische Sphäre der entfesselten Expressivität und Sinnlichkeit hineinwagt, desto häufiger und desto deutlicher distanziert sich der auktoriale Erzähler von ihm.91 Von Aschenbachs Tod am Ende der Erzählung schließlich wird mit nahezu nüchterner Sachlichkeit und Objektivität berichtet, in die sich höchstens vielleicht ein wenig Ironie mischt: "Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zu Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode."92 Indem Mann auktoriale Kommentare deutlich spürbar zwar, aber niemals plump, in die personale ES der Erzählung einfließen läßt, gelingt ihm eine außerordentliche "Verdoppelung[...] der Erzählperspektive"93. Der Leser nimmt am Schicksal Aschenbachs scheinbar unmittelbar teil und wird durch die literarische Innenperspektive immer wieder empfänglich für dessen Empfindungen und seelische Qualen; durch die narrativen Brechungen der auktorialen Einschübe aber gleitet die Erzählung niemals ins Melodramatische, Sentimentale ab, sondern vermittelt dem Leser gleichzeitig mit der subjektiven Innenperspektive den kritischen Blick von außen. "Was sich in Aschenbachs Leben als eine unerhörte Katastrophe vollzieht, was zugleich ja ein unerhörtes stoffliches Wagnis bis hart an die Grenze des Peinlichen und Lächerlichen darstellt { . , , ] wird nur erträglich, ja vielleicht überhaupt nur künstlerisch verantwortbar durch den Stil der Analyse und Ironie, also der 89 90
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Ebd., S. 511. Ebd., S. 519. Vgl, Stanzel 1989, S. 152. .— Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S, 525. Vgl. dazu die auktoriale Schilderung von Fabians Tod in Kastner, a.a.O., S. 184 (siehe die zitierte Textpassage oben). Martini, a.a.O., S. 224.
186 Distanzierung und Demaskierung, der dennoch zugleich die 'episch-lyrische' Ergriffenheit des Erzählers, also die dichterische Grundsubstanz beständig durchschimmern läßt." ** Die Gestaltung der Erzählform erscheint aufs engste verknüpft mit der Thematik, in der Mann seine eigene Position als Künstler reflektiert,95 Die Eindringlichkeit und Intensität der personalen ES zeigen Mann selbst als Schriftsteller, der von der Problematik einander widerstrebender Kunst- und Lebensauffassungen betroffen ist; die nüchterne Betrachtung und Ironie des auktorialen Erzählers demonstrieren Manns Fähigkeit zur überlegten und distanzierten Analyse dieses Konflikts. Es entsteht so "ein schwebender Bezug zwischen Distanz und Identifikation, Erkenntnis und Ergriffenheit", ein "Gleichgewicht zwischen Nähe und Feme"96. Diese Erzählform scheint am besten dazu geeignet, die Ambivalenz darzustellen und zu vermitteln, die dem Thema der Erzählung nicht nur rein inhaltlich an sich, sondern auch in seiner Bedeutung für Mann selbst anhaftet.
3.2 Der Film "Der Tod in Venedig" Der Film "Der Tod in Venedig" von Luchino Visconti (Italien/Frankreich 1970) - durchaus nicht unumstritten, aber von der überwiegenden Mehrheit der Kritiker als gelungene Literaturadaption anerkannt97 - weicht in einigen Punkten von der literarischen Vorlage ab. Der bedeutsamste Unterschied zu Manns Erzählung ist wohl die Wandlung des Schriftstellers Aschenbach in den Komponisten Aschenbach. Eines der Vorbilder für Manns sterbenden Künstler war bekanntlich der Musiker Gustav Mahler (1860-1911); Visconti verstärkt diese Assoziation, indem er Auszüge aus Mahlers Dritter und Fünfter Sym94 95
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Ebd., S. 187. Vaget 1990, S. 580ff., verdeutlicht, wie sehr sich Manns Schicksal - weit über das Schriftstellerdasein und die homoerotischen Anspielungen hinaus - in der Figur Aschenbachs spiegelt. Martini, a.a.O., S. 197. Vgl. Seite 1981, S. 564ff.
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phonie als Filmmusik benutzt und seiner Künstlerfigur Aschenbach quasi als eigene Kompositionen zuordnet.98 Weiterhin läßt Visconti seine Version des "Todes in Venedig" mit der Ankunft Aschenbachs in der Lagunenstadt beginnen. Mann schildert dieses Ereignis erst im dritten Kapitel. Das erste Kapitel der Erzählung berichtet von einem Spaziergang Aschenbachs in München, von seiner Begegnung mit dem unheimlichen Fremden und von seinem überraschenden Entschluß zu verreisen;100 das zweite Kapitel ist eine ausführliche Charakterisierung Aschenbachs, seines bisherigen Lebens und seines schriftstellerischen Werkes. ^ Visconti hat die Szenen in München wohl gedreht,102 aber nicht in die endgültige Fassung des Films übernommen. Dadurch gibt er seinem Werk eine geschlossenere Form: Es hebt mit der Ankunft Aschenbachs in Venedig an und endet mit dessen Tod am Strand. Lediglich einige Rückblenden durchbrechen den kontinuierlichen Zeitablauf und fuhren von Venedig als dem einzigen Ort der Handlung weg. Diese sieben Rückblenden, es sind Erinnerungen Aschenbachs, die einerseits seinen jetzigen, kranken Zustand und seine Reise nach Venedig erklären und andererseits seinen Konflikt und seine künstlerische Schaffenskrise verdeutlichen sollen, stellen jedoch eine erhebliche Veränderung der Vorlage dar. Die Rückblenden fuhren nicht nur neue Figuren in die Handlung ein, die die Erzählung Manns nicht kennt - Alfried, den Kollegen und Künstlerfreund Aschenbachs, der in ihren Diskussionen über das Wesen der Kunst zum Verfechter einer sinnlichen und leidenschaftlichen Expressivität, also zu einem Repräsentanten der dionysischen Sphäre wird; die Prostituierte Esmeralda, die Aschenbach als junger Mann beno
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Auf die Bedeutung und die Funktion der Musik als nicht-kinemato graphisches Gestaltungsmittel kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden.
Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 462f.
Ebd., S. 444ff. Ebd., S. 450ff. 102 ·'" Vgl. Anne Bruncken: Zur filmischen Adaption literarischer Texte am Beispiel von Th. Manns / L. Viscontis "Tod in Venedig" - Todessymbolik, Färb- und Lichtsymbolik. Bonn 1983, S. 123; Seitz 1981, S. 522f. und Reif, a.a.O., S. 158ff. 101
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suchte und an die er sich angesichts seiner neu erwachenden sinnlichen Verzauberung in Venedig erinnert; und Aschenbachs Familie, seine Frau und seine Tochter, die in der Erzählung mit nur drei Sätzen erwähnt,103 im Film aber durch zwei Rückblenden deutlich stärker akzentuiert werden -, sie verändern auch das Bild Aschenbachs. Manns Aschenbach ist ein anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller, der Venedig als stattlicher, respektierter und selbstbewußter Künstler erreicht. Die Rückblenden des Films charakterisieren ihn hingegen als kranken, erholungsbedürftigen Komponisten, dessen letztes Konzert auf dramatische und niederschmetternde Weise ausgepfiffen und abgebrochen wurde; so sieht der Zuschauer Viscontis Aschenbach bereits in den ersten Einstellungen auf dem Schiff als einen schwachen, kränklichen Mann, der nur wenig Selbstbewußtsein repräsentiert. Die Wandlung Aschenbachs vom angesehenen Künstler mit festen Prinzipien und moralischen Überzeugungen zum einsam sterbenden alten Mann, der sich auf beschämende Art und Weise erniedrigt, verläuft somit bei Mann sehr viel krasser und tragischer als bei Visconti, dessen Protagonist von Anfang an krank und als gesellschaftlicher Außenseiter erscheint. "Der Künstler Aschenbach auf der Leinwand", so urteilt Michael Mann104, "ist von Anfang an ein Gebrochener - oder richtiger: ein neurotischer Sonderling, der dann traurig umkommt. Was ihm fehlt, ist die Schopenhauersche 'Fallhöhe' des Originals [...]." Daß Visconti die Figur Alfrieds als Gesprächspartner Aschenbachs und die Prostituierte Esmeralda in den Rückblenden eingeführt hat, erscheint dagegen als weitaus geringere Veränderung des literarischen Stoffes. Vielmehr kann gerade dieser Kunstgriff - im Zusammenhang mit Aschenbachs Beruf als Komponist und Musiker - als bemerkensi ni
"'· Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 456: "Die Ehe, die er in noch jugendlichern Alter mit einem Mädchen aus gelehrter Familie eingegangen, wurde nach kurzer Glücksfrist durch den Tod getrennt. Eine Tochter, schon Gattin, war ihm geblieben. Einen Sohn hatte er nie besessen." - Im Gegensatz zur literarischen Vorlage stirbt im Film die Tochter, nicht die Ehefrau; die zweite Familien-Rückblende zeigt den Tod des Kindes. Michael Mann: Der verfilmte Tod in Venedig. Offener Brief an Luchino Visconti, In: Süddeutsche Zeitung, 21.11.1971.
189 werte Auslegung der Vorlage ge wertet werden, schlägt der Regisseur damit doch auch den Bogen zu einem späteren Werk Manns, nämlich zum "Doktor Faustus".105 Eine weitere Änderung betrifft Aschenbachs Alptraum, der ihm sein ungeordnetes, rauschhaft-zerstörerisches Inneres offenbart und ihn zum Zeugen, Teilnehmer, ja sogar Ursprung einer abstoßend wilden Orgie werden läßt: "Schaum vor den Lippen, tobten sie, reizten einander mit geilen Gebärden und buhlenden Händen, lachend und ächzend, stießen die Stachelstäbe einander ins Fleisch und leckten das Blut von den Gliedern. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer, Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs." ^6 Die grauenhafte Orgie, von der Aschenbach träumt, ist mehr als bloße Vision, sie drückt sein innerstes Empfinden aus und kennzeichnet sein Stadium kurz vor dem Tod. Visconti hat diesen Alptraum nicht gedreht; statt dessen setzt er wieder eine Rückblende ein: Aschenbach erinnert sich träumend an sein letztes Konzert, das er unter Pfiffen und empörten Rufen beenden mußte, und fährt erschrocken aus seinem Schlaf auf. Während in Manns Erzählung nach dem Alptraum Aschenbachs Besuch beim Friseur folgt, wo er sich durch Kosmetik verjüngen läßt, schließt sich im Film Aschenbachs letzter Tag, sein letzter Gang zum Strand an die Traum-Szene an. Visconti hat den abgeänderten Traum also näher an das Ende gerückt. Neben diesen zum Teil gewichtigen Veränderungen ist ansonsten die Genauigkeit überraschend, mit der Visconti auch Kleinigkeiten aus Manns literarischer Vorlage übernimmt. Sei es nun die Kleidung Tadzios - das "englische Matrosenkostüm"^7 _ ) der Schmuck der Mutter 105
Vgl. Renner, a.a.O., S. 80 i ff.; Seitz 1981, S. 501, 506 und 532ff. und Bruncken, a.a.O., S. 166f.
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Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 517. Ebd., S. 470.
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"[...] der in der Tat kaum schätzbar war und aus Ohrgehängen sowie einer dreifachen, sehr langen Kette kirschengroßer, mild schimmernder Perlen bestand"108 - oder ein verlassener Photo-Apparat am Strand "Ein photographischer Apparat, scheinbar herrenlos, stand auf seinem dreibeinigen Stativ am Rande der See, und ein schwarzes Tuch, darübergebreitet, flatterte klatschend im kälteren Winde."109 -, all dem begegnen aufmerksame Rezipienten in Viscontis Film wieder; sorgfältig hat er Details aneinandergereiht und in das luxuriös-üppige Ambiente der vornehmen Gesellschaft in Venedig eingefügt, das so jene vergangene Epoche des fin de siecle zu vielfältigem Leben wiedererweckt. Beginnend mit Aschenbachs Ankunft in Venedig, hält sich Viscontis Verfilmung genau an den chronologischen Ablauf der Geschehnisse aus Manns Erzählung; die einzigen Ausnahmen sind die eingeschobenen Rückblenden und die erwähnte Traum-Szene, Wie aber bereits am Beispiel der Kästner-Verfilmung "Fabian" von Wolf Gremm deutlich wurde, genügt die Schilderung gleicher Ereignisse in der richtigen Reihenfolge oft nicht, eine filmische Adaption angemessen erscheinen zu lassen.110 Denn die spezifische Qualität eines erzählenden Textes ist nicht nur abhängig von der Tiefenstruktur, sondern ebenso von der Oberflächenstruktur. So stimmt zwar die Tiefenstruktur des Films "Fabian" weitgehend mit der Tiefenstruktur der literarischen Vorlage überein, aber in der Gestaltung der Oberflächenstruktur unterscheiden sich beide Werke erheblich voneinander. Viscontis Verfilmung zeigt im Gegensatz dazu eher Veränderungen in der Tiefenstruktur, beispielsweise den Wandel Aschenbachs vom erfolgreichen Schriftsteller zum erfolglosen Komponisten. Doch trotz dieser gravierenden inhaltlichen Unterschiede erscheint Viscontis "Tod in Venedig" als gelungene Adaption. Der Film begnügt sich nicht damit, die Erzählung Manns Wort für Wort abzubilden und ihrer Tiefenstruktur dabei sklavisch zu folgen, sondern bemüht sich darüber hinaus, Phänomene der Oberflächenstruktur zu übernehmen. Konkret heißt das: 108 109
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Ebd., S. 471. Ebd., S. 523, Siehe Kapitel VI/1.
191 Die Verfilmung ahmt die Erzählform des literarischen Textes nach, indem sie ebenfalls eine vorwiegend personale ES1n mit auktorialen Einschüben erzeugt.
3.3 "Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war."112 - Auktorialer Einschub in personaler ES In der Szene, in der Aschenbach Tadzio zum ersten Mal im Salon des Hotel des Bains sieht, läßt sich erkennen, wie Visconti die Erzählform Manns überzeugend nachgestaltet. Mann beschreibt auf zirka drei Seiten113 diese erste Begegnung der beiden Protagonisten, die als ein aufmerksames Beobachten Aschenbachs verläuft und in einem stummen Blickwechsel zwischen dem Künstler und dem Knaben gipfelt. Die Szene im Film ist knapp acht Minuten lang und besteht aus neunzehn Einstellungen: Sie beginnt mit einer Totalen und einem langen Schwenk durch den Salon des Hotels, in dem sich die Gäste, allesamt festlich gekleidet, vor dem Abendessen aufhalten. Der Schwenk folgt Aschenbach durch den Raum und erfaßt so gleichsam die gesamte Szenerie. Bereits hier klingt in der weitläufigen Kamerabewegung das auktoriale Erzählprinzip der detached camera an, doch es wird durch die zunehmende Bindung an Aschenbach zurückgedrängt und von einer gebundenen Kameraführung überlagert. Aschenbach nimmt sich eine Zeitung, findet einen freien Platz und setzt sich. Dabei wird er durch einen Zoom näher an den Betrachter herangerückt. Die zweite Einstellung ist wesentlich kürzer und zeigt Aschenbachs Gesicht in Großaufnahme; er blickt um sich.
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Auch in diesem Fall deutet bereits eine rein quantitative Analyse der Einstellungsgrößen die Tendenz zu einer spezifischen Erzählsituation an: Bei insgesamt 427 Einstellungen weist Viscontis Film 109 Groß- und Nahaufnahmen Aschenbachs auf und 52 Halbtotalen und Totalen, in denen Aschenbach zu sehen ist; prozentual bedeutet das: 25,5% Groß- und Nahaufnahmen und 12,2% Halbtotalen und Totalen. Es überwiegen also - besonders im Vergleich zu Grenuns "Fabian" - die Groß- und Nahaufnahmen, die für eine personale ES stehen. Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S, 469. Ebd., S, 469ff.
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Die dritte Einstellung präsentiert als Gegenschuß-Aufhahme zur vorangegangenen Einstellung die polnische Familie. Die Kamera gleitet über die Gesichter der drei Schwestern, der Erzieherin und des Knaben Tadzio und ahmt dabei den Blick Aschenbachs nach. Kaum hat sie Tadzio erreicht, erfolgt der Schnitt zur vierten Einstellung, wiederum eine Großaufnahme Aschenbachs, der den Kopf senkt und in der Zeitung zu lesen beginnt. Die Sprunghaftigkeit an dieser Stelle, der kurze Blick auf Tadzio und das sofortige Vertiefen Aschenbachs in seine Lektüre, erzeugt die Assoziation schamhaften Verhaltens: Aschenbach wendet sich, kaum hat er Tadzio entdeckt, schnell seiner Zeitung zu, so, als fühle er sich bei etwas Verbotenem ertappt. Die fünfte Einstellung zeigt die Musiker im Salon, die einen LeharWalzer spielen. In der sechsten Einstellung sehen wir wieder eine Großaufnahme Aschenbachs; es wird spätestens hier deutlich, daß er der Bezugspunkt für den Filmbetrachter ist, die Reflektorfigur, deren Wahrnehmung im Zentrum einer personalen ES steht. Nach der quasi 'neutralen' Aufnahme der Musiker, kehrt die Kamera zu ihm zurück, um das SchußGegenschuß-Verfahren wieder aufzunehmen. Aschenbach senkt nun die Zeitung und blickt wieder in Tadzios Richtung. Die siebte Einstellung beginnt mit einer Aufnahme Tadzios und führt dann in einem langen, langsamen Schwenk zu Aschenbach. Hier durchbricht eine auffallende, gelöste Kamerabewegung die Unmittelbarkeit der personalen ES und erzeugt auf visueller Ebene den gleichen Effekt wie die auktorialen Einschübe in Manns Erzählung. Sie befreit sich von Aschenbach und dessen Wahrnehmungsweise und erlangt durch ihre Ungebundenheit und ihren unkonventionellen Einsatz, der die Mittelbarkeit des Mediums spürbar werden läßt, die kommentierende Funktion einer auktorialen Instanz. Die scheinbar unerträgliche Länge dieser Kamerabewegung verdeutlicht die große Distanz, die zwischen Tadzio und Aschenbach liegt. Wird diese Distanz hier zunächst nur räumlich vorgeführt, so kann sie im Laufe der Handlung auch seelisch-geistig verstanden werden. Das Prinzip der detached camera erfüllt somit den Zweck eines distanzierten und kritischen Erzählers, der
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die Situation nicht durch Aschenbachs subjektive Sicht wahrnimmt, sondern objektiv bewertet. Wenn die Kamera Aschenbach endlich erreicht hat, bindet sie ihn durch einen Zoom wieder in die ihn umgebende Gesellschaft ein, verstärkt dadurch das Gefühl der Distanz zwischen Tadzio und Aschenbach als Individuen in einer starren, durch Regeln und Etikette geformten Masse. Gleichzeitig schwenkt die Kamera auf einen Hotelangestelllen, der den Salon betreten hat und das Abendessen ankündigt. Der Saal beginnt sich zu leeren. In der achten Einstellung gibt der Hoteldirektor persönlich einer Gruppe englischsprachiger Gäste den Beginn der Mahlzeit bekannt. Die Kamera schwenkt über Tadzio und seine Schwestern und findet wieder zu Aschenbach zurück. Die neunte Einstellung zeigt Aschenbach in Großaufnahme. Die personale ES ist nun wiederhergestellt, und so gibt die zehnte Einstellung seinen Blick wieder: Tadzio in Großaufnahme; durch einen Zoom erweitert sich nun jedoch das Blickfeld und unvermutet erscheint Aschenbach - mit dem Rücken zum Betrachter sitzend, Tadzio beobachtend am unteren Bildrand. Die Wirkung des Zooms ist verblüffend: Die Distanz zwischen Aschenbach und Tadzio, die in der siebten Einstellung dieser Sequenz, dem auktorialen Einschub, noch so unüberbrückbar groß erschien, ist nun völlig verschwunden, der Raum zwischen beiden geradezu weggeschrumpft. Das die räumlichen Perspektiven verzerrende und verfälschende Zoomobjektiv114 wird hier zum Instrument der subjektiven Wahrnehmung Aschenbachs; die plötzliche Nähe zu Tadzio entsteht durch den subjektiven Eindruck des Künstlers, der ganz in die Betrachtung der Schönheit und Vollkommenheit des Knaben versunken ist und sich ihm von diesem Augenblick an innerlich verbunden fühlt. Der Gebrauch des Zooms verstärkt die Subjektivität der Einstellung und erhöht so die Wirkung der personalen ES. Ebenso verdeutlicht Über Viscontis Einsatz des Zooms schreibt Schütte: "Visconti ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige Regisseur gewesen, der aus dem Zoom, diesem den Raum und die Tiefe, also die plastische Dimension des Bildes zerstörenden Mittel des modernen Films, ein analytisches Instrument gemacht hat." (Peter W. Jansen/Wolrram Schütte [Hrsg.]: Luchino Visconti, [Hanser Reihe Film 4] 2. Auflage, München 1976, S, 144.)
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die Position Aschenbachs noch einmal die Erzählhaltung: Die Blickrichtung des Zuschauers ist die Blickrichtung Aschenbachs; dieser sitzt - nahezu in einem over the shoulder-shot - mit dem Rücken zur Kamera und lenkt den Blick des Betrachters in die Bild tiefe, wohin auch er blickt. Die elfte Einstellung: Eine Großaufnahme Aschenbachs, der zufrieden lächelt und Tadzio weiter beobachtet. Seine Zufriedenheit kann als Reaktion auf die verschwundene Distanz, die erreichte subjektive Nähe zu Tadzio verstanden werden, die für den Zuschauer durch die sinnliche Erfahrung des Zooms in der vorangegangenen Einstellung spürbar wurde. In der zwölften Einstellung erheben sich die Schwestern und Tadzio von ihren Sitzen, die Kamera schwenkt zur Tür des Salons, wo die Mutter der polnischen Familie gerade eintritt. Dreizehnte Einstellung: Großaufnahme Aschenbachs. Er beobachtet die Familie mit wachsendem Interesse. Vierzehnte Einstellung: Die Mutter wird von ihren Kindern begrüßt und setzt sich zu ihnen. Während der nun folgenden Unterhaltung zoomt die Kamera auf die Mutter. Der Ton aber, d.h. das Gespräch der Familie, bleibt trotz der durch den Zoom simulierten Nähe leise und unverständlich. Noch immer ist die Perspektive Aschenbachs gewahrt; wiederum dient der Zoom der Darstellung seiner subjektiven Wahrnehmung und verdeutlicht seine Konzentration auf das Geschehen. Fünfzehnte Einstellung: Großaufnahme Aschenbachs. Sechzehnte Einstellung: Großaufnahme von Tadzios Profil, das nach wie vor die Blicke Aschenbachs auf sich zieht; die Kamera zoomt zurück, und die Einstellung endet mit einer Totalen der ganzen Familie. Es ist das Bild, das sich dem beobachtenden Aschenbach bietet. Siebzehnte Einstellung: Großaufnahme Aschenbachs. Die ständige Wiederkehr des interessierten Künstlers in Großaufnahme intensiviert das Schuß-Gegenschuß-Prinzip und unterstreicht dadurch den Point of View-Charakter und die personale ES dieser Szene. Achtzehnte Einstellung: Die Familie in einer Halbtotalen; Mutter und Kinder erheben sich, und die Kamera zoomt erneut bis zu einer Totalen zurück. Sie verlassen den Salon, die Kamera folgt ihnen und schwenkt dabei auch über Aschenbach hinweg.
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In der neunzehnten und letzten Einstellung dieser Szene verläßt die Familie den Salon, der sich mittlerweile vollständig geleert hat; alle Gäste sind bereits in den Speisesaal gegangen. An der Tür dreht sich Tadzio um und blickt dem noch sitzenden Aschenbach für wenige Sekunden direkt in die Augen. Ihre Blicke treffen sich. Wiederum ist Aschenbach so im Bild plaziert, daß sein Blick und der Blick des Zuschauers quasi in die gleiche Richtung fallen. Dadurch aber fällt umgekehrt auch der Blick Tadzios auf den Zuschauer und trifft ihn ebenso unvorbereitet wie Aschenbach. Dann wendet sich Tadzio um, folgt seiner Mutter und den Schwestern aus dem Salon, und Aschenbach bleibt alleine zurück. Die kinematographische Gestaltung dieser Szene zeigt deutlich, wie Visconti den Erzählstil Manns in Bilder und Bildwirkungen umsetzt. Erzeugt in der literarischen Vorlage der oftmals nur kurze, eingeschobene Kommentar des auktorialen Erzählers eine kritische Distanz zur Handlung und zum Verhalten Aschenbachs, so übernimmt in der Verfilmung die Kamera diese Funktion. Vorherrschend ist - ebenso wie in der Erzählung - eine personale ES, in der die Kamera stark an die Reflektorfigur Aschenbach gebunden ist und dessen subjektive Wahrnehmung wiedergibt. Überraschend aber löst sie sich aus dieser Position und vermittelt in einem weiten, distanzierenden Schwenk eine Sichtweise der Dinge, die die Unmittelbarkeit der personalen ES überwindet und auf eine auktoriale Instanz verweist.
3.4 Nähe und Distanz - Ambivalenz der kinematographischen Gestaltung Aber auch in anderen Szenen zeigt sich die kinematographische Gestaltung als angemessene Umsetzung der literarischen Erzählperspektive. Ebenso wie Mann sich in seiner Erzählung durch die auktorialen Einschübe in einer personalen ES zunehmend von seinem Protagonisten distanziert, dessen Schicksal aber gleichwohl einfühlsam und eindringlich schildert, so erzeugt der zunehmende Gebrauch von Zooms in Viscontis Adaption ein eigenartiges Gefühl von Entfernung und Distanz zur Figur Aschenbachs, auch wenn er im Bild größer, also näher, erscheint. Der Zoom als kinematographisches Gestaltungsmittel vermag
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jene Ambivalenz zu vermitteln, die die Erzählung in ihrem eigentümlichen Schweben zwischen "Distanz und Identifikation, Erkenntnis und Ergriffenheit [,,.] zwischen Nähe und Feme"115 charakterisiert. Deutlich wird dies beispielsweise in der Szene, in der Aschenbach auf dem Weg zum Strand Tadzio begegnet, der kokett vor dem Komponisten Pirouetten dreht und sich ihm so provozierend zur Schau stellt. Aschenbach, obwohl derart herausgefordert, kann sich in dieser Situation nicht überwinden, den Jungen anzusprechen und lehnt sich erschöpft, mit wild schlagendem Herzen und schmerzverzerrtem Gesicht gegen eine der Badehütten.J16 Hier nun wird er dem Betrachter durch einen Zoom scheinbar nähergerückt, doch der Zoom täuscht wahre Annäherung nur vor, Die Befremdung über Aschenbachs Verhalten bleibt bestehen, er bleibt in seiner leidenschaftlichen Verzweiflung einsam und allein, und die Entfernung zur Kamera, d.h. zum Standpunkt des Zuschauers, bleibt gewahrt. Visconti nutzt die Eigenart des Zooms, Nähe oder Entfernung nur zu simulieren und dadurch ein überaus ambivalentes Verhältnis des Betrachters zum Objekt herzustellen, um diesen Effekt der Distanzierung und Entfremdung bei gleichzeitiger 'Nähe' zu seinem Protagonisten zu erreichen. Die Prinzipien der attached camera und der detached camera verlieren in dieser Aufnahme ihre festen Grenzen und scheinen zu verschmelzen, um eine kinematographische Erzähl situation zu erzeugen, die der narrativen Gestaltung der literarischen Vorlage entspricht. Die Szene des Todes Aschenbachs leitet Visconti dann mit extremen Totalen ein; die Kamera blickt aus der Vogelperspektive auf den Strand hinab, Aschenbach taucht als winzige, geschwächt taumelnde Figur am oberen Bildrand auf. Die Einstellungsgröße und die Perspektive erzeugen die paradigmatische Konnotation von Ferne und Überlegenheit und entsprechen damit einer gelösten Kameraführung; es scheint so, als ob ein auktorialer Erzähler von weitem seine Augen auf den Strand und auf Aschenbach gerichtet hätte. Deutlicher kann man einen auktorialen
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Martini, a.a.O., S. 197. Vgl, Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 493f.
197 Einschub, der eine Distanzierung von dem einsamen, sterbenden Künstler vermitteln soll, kaum gestalten. Am Ende der Szene, als Aschenbach tot in seinem Liegestuhl zusammensackt, kehrt die Kamera in diese Position zurück und findet so eine visuelle Entsprechung des nüchternen und distanzierten letzten Absatzes der literarischen Vorlage.117 Ambivalenz entsteht aber nicht nur im Verhältnis des Rezipienten zu Aschenbach, sondern prägt auch die Wahrnehmung des Protagonisten selbst. Visconti erzielt dabei mit der kinematographischen Gestaltung seiner Adaption wiederum eine ähnliche Wirkung wie Mann mit der narrativen Gestaltung seiner Erzählung. In langen Kameraeinstellungen, langsamen Schwenks und Kamerafahrten fangt Visconti jene prunkende, dekadente Atmosphäre Venedigs ein, verlockend und abstoßend zugleich, in der sich die Ambivalenz der literarischen Vorlage spiegelt, jene Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne, Einfühlung und Distanz, die Aschenbachs Faszination an den Reizen der dionysischen Mächte Eros und Tod und sein Wissen um deren unheilvolle Kräfte verdeutlicht. Die gleitenden Kamerabewegungen in Viscontis Film werden zur "perfekten visuellen Metapher"118 für die ambivalente Wahrnehmung Aschenbachs; in ihnen zeigt sich einerseits die Schönheit Venedigs und die Freude des Beobachters am Reizvoll-Unbekannten, indem sein Blick suchend und forschend durch die Umgebung streift und Ausschau nach immer neuen Details hält, andererseits aber auch die Ruhelosigkeit und wachsende Unsicherheit vor der nahezu hypnotischen Kraft des sich ankündigenden Untergangs, wenn die Kamera durch die engen Gassen Venedigs schleicht und sowohl die wuchernde Dekadenz als auch die spürbare Morbidität und den drohenden Zerfall der Lagunenstadt in eindringlichen, teilweise quälend langen Einstellungen einfängt. Die visuellen Eindrücke der sterbenden Stadt Venedig versinnbildlichen die berauschende Erfahrung Aschenbachs, der mit der verzückenden und gleichzeitig auch zerstörerischen Wirkung der Sinnlichkeit kon110 Ebd., S. 525; siehe die zitierte Textpassage . oben.
David Wilson: Morte a Venezia (Death in Venice). In: Monthly Film Bulletin, Nr. 447, 1971 (Vol. 38), S. 80f., S. 80.
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frontiert wird, machen sie darüber hinaus aber auch zum Symbol für das fin de siecle, für den Untergang einer Gesellschaft und den Untergang eines Individuums.119 Abschließend läßt sich sagen, daß in keiner der bisher vorgestellten Literaturverfihnungen die spezifische Erzählhaltung der Vorlage so konsequent umgesetzt wurde wie in Viscontis "Tod in Venedig". Visconti erreicht dabei viel mehr, als nur die Handlung der Erzählung visuell zu reproduzieren. Er erzählt sie neu, er interpretiert sie teilweise und fügt ihr weitere Aspekte hinzu, aber er bleibt dabei stets dem Geiste Manns verpflichtet. Ebenso wie dessen Erzählung ist auch Viscontis Adaption von jener Ambivalenz durchdrungen, in der dem Schicksal des Künstlers Aschenbach - nicht nur für den Schriftsteiler Thomas Mann eine Schlüsselfigur, sondern auch für den Regisseur Luchino Visconti - sowohl mitfühlendes Verständnis als auch kritische Distanz begegnen. Indem der Film die Erzähl Situationen der literarischen Vorlage aufgreift und mit eigenen kinematographischen Mitteln nachgestaltet, gelingt es ihm, sehr viel von Manns Qualitäten und Intentionen zu vermitteln, ohne dadurch 'unfilmisch1 zu wirken. Die adäquate Gestaltung der Erzähl Situationen wiegt dabei sogar Viscontis individuelle Auslegung des Textes und seine inhaltlichen Veränderungen auf. Diese getrennte Betrachtung der rein inhaltlichen Ebene einerseits und der erzählperspektivischen Ebene andererseits - mit anderen Worten: der Tiefenstruktur und der Oberflächenstruktur - klärt gleichzeitig die Bedeutung des folgenden Kritikerurteils über Viscontis Literalurverfümung, das auf den ersten Blick paradox anmutet, tatsächlich aber durchaus zutrifft: "Verständnisinniger und minuziöser ist Thomas Mann nie verfilmt worden, aber auch niemals eigenständiger."120
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Vgl. Carolyn Galerstein: Images of Decadence in Viseonti's Death in Venice. In: Film Literature (Quarterly), Nr. l, 1985 (Vol. 13), S. 29-34, S. 34. Helene Schreiber: Die Krankheit zum Tode. Notizen zu Luchino Viscontis Film "Der Tod in Venedig". In: Rheinischer Merkur, 23.7.1971.
199 4. Ich-Erzähler und auktoriale BUdgestaltung: Der Roman "Homo faber" von Max Frisch und die Verfilmung von Volker Schlöndorff
4.1 Der Roman "Homo faber" Nicht selten wurde Max Frischs 1957 veröffentlichter Roman "Homo faber" 121 mit Thomas Manns Erzählung "Der Tod in Venedig" verglichen.122 Die Protagonisten beider Werke sind reife Männer, in deren scheinbar geordnetes Leben unvorhergesehene Dinge einbrechen, Zufalle oder Fügungen des Schicksals, Ereignisse jedenfalls, die ihre bisherigen Anschauungen über das Leben, die sie wie starre Mauern umgeben, zum Wanken und Einstürzen bringen. Beider Leben nimmt eine dramatische Wendung, beide scheinen für kurze Zeit einen Blick hinter die Oberflächen des Daseins werfen zu können, Augenblicke der Erkenntnis und der Ergebenheit in die Zusammenhänge der Zeit und des Schicksals, und beider Leben endet mit diesem Erkennen. Walter Faber, der Protagonist in Frischs Roman, reist Ende der fünfziger Jahre als Ingenieur im Auftrag der UNESCO durch die Welt, um unterentwickelten Ländern modernste Technik und damit Zivilisation und Wohlstand zu bringen. Faber ist der Typus des aufgeklärt-rationalistischen Menschen, dessen Leben durch nichts bestimmt wird als durch sich selbst, der sich mit Technik umgibt und der dieser Technik vertraut. Er glaubt an den Fortschritt und lebt für den Augenblick; Vergangenheit ist Vergangenheit und bedeutet ihm nichts. Faber lehnt Sentimentalitäten ab, er liest keine Romane und hat kein Verständnis 121
Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht. 14. Auflage, Frankfurt a.M. 1982. — ~ Vgl, Peter Demetz; Die süße Anarchie. Deutsche Literatur seit 1945. Eine kritische Einführung, Frankfurt a.M./Berlin 1970, S. 138; Walter Henze: Die Erzählhaltung in Max Frischs Roman "Homo faber". In: Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben, Heft 5, 1961 (Vol. 11), S. 278-289, S. 287; Werner Liersch; Wandlung einer Problematik. In: Thomas Beckermann (Hrsg.): Über Max Frisch I. 8. Auflage, Frankfurt a.M. 1977, S. 77-83; Klaus Müller-Salget: Oedipus und die Sphinx. Technik, Natur und Mythos in Max Frischs "Homo faber". In: Elm/Hiebel (Hrsg.) 1991, a.a.O., S. 333-345, S. 333f.; Walter Schmitz: Max Frischs Roman Homo faber. Eine Interpretation. In: Ders. (Hrsg.): Frischs "Homo faber". Materialien. Frankfurt a.M. 1983, S. 208-239, S. 209f. und 217f.
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fur Kunst. Er ist ein Techniker, ein tätiger Mensch, der Homo faber des 20. Jahrhunderts, der den Sinn seines Lebens in der Arbeit und der ununterbrochenen feindseligen Auseinandersetzung mit der Natur sieht, einer Natur, die vom Menschen beherrscht und kontrolliert werden muß. Fabers Beschreibungen zeigen deutlich sein Verhältnis zur Natur "Faber steht mit der Schöpfung auf Kriegsfuß [...]. Schöpfung als Kultur, als göttliches Geschenk, ist ihm fremd."123 - und seine Ablehnung natürlicher Lebensräume und Phänomene: Die untergehende Sonne erscheint ihm "wie gedunsen, im Dunst wie eine Blase voll Blut, widerlich, wie eine Niere oder so etwas. Ebenso der Mond."124 Oder: "[...} Erde ist Schlamm nach einem einzigen Gewitter [...], Verwesung voller Keime, glitschig wie Vaseline, Tümpel irn Morgenrot wie Tümpel von schmutzigem Blut, Monatsblut, Tümpel voller Molche, nichts als schwarze Köpfe mit zuckenden Schwänzchen wie ein Gewimmel von Spermatozoen, genau so - grauenhaft."125 Allein schon sein Bartwuchs bereitet ihm als Zeichen organischbiologischen Wachstums Unbehagen: "Ich fühle mich nicht wohl, wenn unrasiert; nicht wegen der Leute, sondern meinetwegen. Ich habe dann das Gefühl, ich werde etwas wie eine Pflanze, wenn ich nicht rasiert bin, und ich greife unwillkürlich an mein Kinn." *26 Ansonsten betrachtet Faber die Welt und seine Existenz sachlich und nüchtern; er hat sich ein Bild von dieser Welt und den Menschen gemacht, hat sich strenge Kategorien aufgestellt, nach denen er seine Umgebung beurteilt, und er empfindet Schutz und Sicherheit im Zentrum dieser Kategorien. Doch es ist nur eine trügerische Sicherheit; die starren Schemata und Kategorien, die sein Leben, seine Anschauungen und sein Denken bestimmen, bieten nur einen schwachen Schutz vor den Realitäten des Lebens. Faber, der sich weigert, sich diesen Realitäten und ihren Konsequenzen zu stellen, der sich verschanzt hinter seinem antithetischen Weltbild, das nur jeweils zwei Möglichkeiten kennt - Technik oder Natur, Mann oder Frau, Freiheit oder Ehe, Gut oder 1 ')'!
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Hans Bänziger: Frisch und Dürrenmatt. Bern/München 1960, S. 95. Frisch, a.a.O., S. 53. Ebd., S. 68. Ebd., S. 27.
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Schlecht - und Entscheidungen somit einfach und bequem macht, dieser Mensch auf der Flucht vor der Komplexität, der undurchdringlichen Tiefe und geheimnisvollen Bedeutung seiner Existenz muß erfahren, daß sein Weltbild nur eine Maskerade ist, daß sich die Welt nicht auf Gegensatzpaare reduzieren läßt und daß seine Überzeugungen ihn in die Irre geführt haben, i27 Denn ähnlich wie dem alternden Schriftsteller Aschenbach die Begegnung mit dem Knaben Tadzio zum schicksalhaften Verhängnis wird, so zerrüttet eine Reihe von Zufällen das scheinbar gleichförmige und überschaubare Leben Walter Fabers. Das Flugzeug, mit dem er nach Caracas reisen wollte, muß in der mexikanischen Wüste notlanden. In dieser Notlage schließt Faber Bekanntschaft mit einem deutschen Flugpassagier, der sich als Bruder eines alten Freundes, Joachim Hencke, herausstellt. Spontan entschließt Vgl. dazu Alan D. Latta: Die Verwandlung des Lebens in eine Allegorie. Eine Lektüre von Max Frischs Roman Homo faber. In: Schmitz (Hrsg.) 1983, a.a.O., S. 79-100, S. 89: Latta nennt die Antithese als wichtigstes rhetorisches Mittel in Fabers Bericht und sieht deren Ursprung in Fabers rigidem Weltbild, das durch sUrre Kategorisierung und Dichotomisierung verzerrt ist, im Laufe der Handlung aber aufgebrochen und zerstört wird. Pütz fuhrt weiterhin aus, daß die Oppositionen, die Fabers Denken und Handeln bestimmen, nur Schein-Gegensätze bilden. Tatsächlich lassen sich die von Faber schematisch getrennten Lebensbereiche nicht ohne weiteres dichotomisch aufspalten. "In Wirklichkeit erweist sich jede Erscheinung in hohem Maße anfällig für den Einbruch ihres Gegenteils, so daß die für getrennt gehaltenen Begriffe und Bereiche sich in dialektischer Bewegung einander nähern und durchdringen." (Peter Pütz: Das Übliche und das Plötzliche. Über Technik und Zufall im Homo faber. In: Schmitz [Hrsg.] 1983, a.a.O., S. 133-141, S. 136.) Indem sich die scheinbar oppositionellen Lebensbereiche "einander nähern und durchdringen", gerät Fabers Weltbild mit seinen erstarrten und unhaltbar gewordenen Kategorien aus den Fugen und zerbricht, läßt ihn ratlos und ohne jede Handlungsmöglichkeit zurück: "Zivilisation und Natur, New York und Mexiko, Zukunft und Vergangenheit, neue und alte Welt, Amerika und Griechenland stehen nicht mehr in Opposition zueinander, sondern überlagern und durchdringen sich, bieten keine gegenseitigen Alternativen und damit keine Auswege, weder durch Fortschritt noch durch Regression in den Mythos; der Fortschritt selbst schlägt in Mythos um und decouvriert damit sein Versagen." (Ebd., S. 139.)
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sich Faber, zusammen mit Herbert Hencke nach dessen Bruder zu suchen, der in Guatemala eine Tabakplantage leitet. Joachim aber, so stellen beide nach einer abenteuerlichen Reise in den Urwald Guatemalas fest, ist tot; er hat sich erhängt. Als Faber wenig später mit dem Schiff von New York nach Europa, zu einer Konferenz nach Paris, fahrt - die Schiffspassage verdankt er auch nur einem Zufall -, lernt er Sabeth kennen und ist von dem Charme der jungen Frau fasziniert. Er verliebt sich in sie und trifft sie - durch Zufall - in Frankreich wieder, begleitet sie durch Südfrankreich und Italien bis nach Griechenland, wo Sabeth ihre Mutter besuchen will, in Griechenland kommt es zu einem tragischen Unfall, als Sabeth beim Baden von einer Schlange gebissen wird und gefährlich stürzt. In einem Krankenhaus in Athen stirbt sie, und Faber erfährt die schreckliche Wahrheit: Sabeths Mutter ist Hanna Landsberg, Fabers Jugendliebe aus den dreißiger Jahren, Sabeth seine eigene Tochter, von deren Existenz er nichts wußte - oder auch nichts wissen wollte. Faber ist schuldig geworden; sein menschliches Versagen in der Vergangenheit, als er die schwangere Hanna verließ, seine Blindheit gegenüber seinem Schicksal und dem Leben allgemein führten zu dem Inzest-Verhältnis mit seiner Tochter und zu ihrem Tod. Im Rückblick und in der Auseinandersetzung mit Hanna am Sterbebett ihres gemeinsamen Kindes offenbart sich ihm sein ziel- und sinnloses Leben. Es hat ihn eingeholt und konfrontiert ihn nun gnadenlos mit seiner Vergangenheit und seinen Fehlem. Er hat die Zeichen nicht erkannt, die Zufälle nicht durchschaut, die ihn seit dem Flugzeugabsturz in der Wüste immer tiefer und tiefer in diese Vergangenheit zurückgestoßen haben. Sein Schicksal hat sich erfüllt, die Tragödie ist beendet, und Faber, der Mensch, der an Fortschritt und Technik glaubte, steht vor den Trümmern seines Lebens. Er wartet auf eine Operation - er hat Magenkrebs -, die er nicht überleben wird. Einer der letzten Tagebucheinträge Fabers zeigt, daß er sein Versagen endlich erkannt hat und daß er die tieferen Zusammenhänge des Lebens versteht; das Leben stagniert nicht und läßt sich nicht beliebig wiederholen, es gewinnt seine Schönheit und seinen Reichtum durch das Wissen um die Einmaligkeit und die Vergänglichkeit jeder gelebten Stunde.
203 "Verfügung für Todesfall: alle Zeugnisse von mir wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts. Auf der Welt sein: im Licht sein. Irgendwo (wie der Alte neulich in Korinth) Esel treiben, unser Beruf! - aber vor allem: standhalten dem Licht, der Freude (wie unser Kind, als es sang) im Wissen, daß ich erlösche im Licht über Ginster, Asphalt und Meer, standhalten der Zeit, beziehungsweise Ewigkeit im Augenblick. Ewig sein: gewesen sein."128 So wie in Manns Erzählung "Der Tod in Venedig" der Zusammenprall apollinischer und dionysischer Kunst- und Lebensprinzipien den Protagonisten Aschenbach in einen Taumel widersprüchlichster Gefühle stürzt, der ihn einerseits inspiriert und zu künstlerischen Höchstleistungen führt, andererseits aber auch zerstört und in den Untergang treibt, so erlebt Faber kurze Zeit vor seinem Tod eine Phase höchsten Glücks und tiefster Verzweiflung. Vier Tage hält sich Faber auf Kuba auf; in Havanna wartet er auf seinen Weiterflug nach Lissabon und genießt das Nichtstun wie noch nie zuvor in seinem Leben - "Vier Tage nichts als Schauen - [..,] Alles spaziert, alles lacht. Alles wie Traum - " 12 ^ Er beobachtet die Menschen, die Stadt, das Meer und das Wetter und registriert voller Freude und Lebenslust die Natürlichkeit seiner Umgebung, die frei zu sein scheint von allen schädlichen zivilisatorischen Einflüssen. Er erfreut sich am Anblick der Menschen, deren natürliche Vitalität ihn fasziniert und ihm den ungesunden, pervertierten Lebensstil der US-Amerikaner verdeutlicht, der sein eigener Lebensstil geworden ist. "Wenn ich wieder auf den Prado gehe, so ist es wieder wie eine Halluzination: lauter schöne Mädchen, auch die Männer sehr schön, lauter wunderbare Menschen, die Mischung von Neger und Spanier, ich komme nicht aus dem Gaffen heraus: ihr aufrechter und fließender Gang, die Mädchen in blauen Glockenröckchen, ihr weißes Kopftuch, Fesseln wie bei Negerinnen, ihre nackten Rücken sind gerade so dunkel wie der Schatten unter den Platanen, infolgedessen sieht man auf den ersten Blick bloß ihre Röcke, blau oder lila, ihr weißes Kopftuch
128 129
Frisch, a.a.O., S. 199. Ebd., S. 172.
204 und das weiße Gebiß, wenn sie lachen, das Weiß ihrer Augen; ihre Ohrringe blinken- " 13°
In das Glücksgefühl, das Faber in diesen Tagen empfindet, mischen sich Verunsicherung und Wut. Er verabscheut seine bisherige Lebensweise, über die er sich polemisch und ungehalten ausläßt, und beschließt, sich zu ändern. "Mein Zorn auf Amerika! [...] The American Way of Life! Mein Entschluß, anders zu leben [...] The American Way of Life:
Schon was sie essen und trinken, diese Bleichlinge, die nicht wissen, was Wein ist, diese Vitamin-Fresser, die kalten Tee trinken und Watte kauen und nicht wissen, was Brot ist, dieses Coca-Cola-Volk, das ich nicht mehr ausstehen kann Dabei lebe ich von ihrem Geld!" ^1
Nach dem Tod seiner Tochter haben alle seine Werte und Ideale ihre Bedeutung verloren; Faber ist orientierungslos, steht seinem Leben ohnmächtig gegenüber. In dieser Hilflosigkeit läßt er sich treiben, tut Dinge, die er früher als nutzlos abgelehnt hätte, er beobachtet, er hängt seinen Gedanken nach und läßt seinen Gefühlen freien Lauf. So wird aus dem Technokraten ein verunsicherter Mensch, der die Welt staunend betrachtet und von rauschhaftern Erleben in tiefe Depressionen fällt. "Alles wie verrückt. [..-] Wie ich schaukle und schaue, Meine Lust, jetzt und hier zu sein - " ^2 "Ich pfeife." 130 131 132 133
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Ebd., S. 173f. Ebd., S. 175. Ebd., S. 174. Ebd., S. 175.
205 "Mein Zorn auf mich selbst! [...] Ich weine," 134 "Später mietete ich ein Boot. Um allein zu sein! [...] Ich ruderte weit hinaus. Hitze auf dem Meer Sehr allein, {-.} Ich wußte nicht, was anfangen mit diesem Tag, mit mir, ein komischer Tag, ich kannte mich selbst nicht, keine Ahnung, wie er vergangen ist, ein Nachmittag, der geradezu wie Ewigkeit aussah, blau, unerträglich, aber schön, aber endlos - bis ich wieder auf der Prado-Mauer sitze (abends) mit geschlossenen Augen; ich versuche mir vorzustellen, daß ich in Habana bin, daß ich auf der PradoMauer sitze. Ich kann es mir nicht vorstellen. Schrecken."135
Fabers Leben erfahrt so kurz vor dem Ende einen Höhepunkt, Überschwang der Gefühle, exaltierte Lebensfreude, aber auch Erkenntnis seiner Verfehlungen, ein Augenblick der Einsicht in die Armut seiner Existenz, sein Scheitern. '·*" Eine weitere Gemeinsamkeit zu Manns "Der Tod in Venedig" ist die stets latente Präsenz einer den Menschen übergeordneten Macht, die Kraft des Mythos, die das Individuum - hier Faber, dort Aschenbach lenkt und dessen Schicksalsweg bestimmt. Personifizierungen überzeitlicher Kräfte und Figurationen mythologischer Gestalten treten in das Leben der Protagonisten und verwandeln es in allegorische Reisen in die Bezirke eines kollektiven Unterbewußtseins, in das Reich antiker Mythologie. Hier werden diese Menschen konfrontiert mit sich selbst und mit dem wahren Wesen der Dinge, mit ihren Fehlern und Schwächen, hier sind sie den Mächten ausgeliefert, von denen sie sich befreien wollten und die dennoch ihre Existenz beherrschen. 134 135
Ebd., S. 176. Ebd., S. 177. Vgl. dazu auch die Interpretation der Kuba-Episode bei Manfred Leber: Vom modernen Roman zur antiken Tragödie. Interpretation von Max Frischs "Homo Faber", Berlin/New York 1990, S. 154ff.
206 Die Lagunenstadt in Manns Erzählung wandelt sich so zur labyrinthischen Unterwelt griechisch-antiker Prägung, Aschenbachs Gondelfahrt zum Lido zur Überquerung des mythologischen Todesflusses Styx, und seine Begegnungen mit den geheimnisvollen Todesboten dem Wanderer in München137, dem Seemann, der ihm die Schiffspapiere ausstellt138, dem geschminkten Alten, der ihn auf seiner Reise nach Venedig begleitet und bei der Ankunft spöttisch verabschiedet139, dem Gondoliere, der ihn gegen seinen Willen zum Lido fährt140, und dem Straßenmusikanten, der mit seinen Begleitern ein übermütiges, schaurig-groteskes Konzert im Garten des Hotels inszeniert141 - diese unheimlichen Begegnungen also werden zu Konfrontationen mit der mythologischen Figur des Hermes Psychopompos, des Verkünders des Todes und Begleiters der Seelen in die Unterwelt.142 Gleichermaßen spielen mythologische Kräfte im Leben Walter Fabers eine zunehmende Rolle. Die Wüste Mexikos, in der sein Flugzeug notlanden mußte, empfängt ihn mit ihren bizarren Felsformationen und ihrer abgestorbenen Vegetation, ihrer Weite, Leere und Öde wie ein unwirkliches Reich der Schatten.143 Faber ist in der Unterwelt gestrandet, und Hermes, der Seelenführer, ist in der Gestalt Herbert Henckes bei ihm.144 Die Reise beginnt, eine allegorische Reise,145 die Faber mit seiner Vergangenheit zusammenführt und ihn schließlich nach Griechenland bringt, zum Ursprung antiker Mythologie und in den Schoß abendländischer Kultur- und Geistesgeschichte. Vielfältige mythologische Bezüge und Anspielungen kennzeichnen den Weg Fabers;146 am deutlichsten werden in der inzestuösen Ver137 138 139 140 141
142 143 144 145
Mann: Der Tod in Venedig, a.a.O., S. 445f. Ebd., S. 458f. Ebd., S. 459f. und462ff. Ebd., S. 465f, Ebd., S. 505ff.
Vgl. Bruncken, a.a.O., S. 54ff. Vgl. Frederick A. Lubich: Max Frisch: "Stiller", "Homo faber" und "Mein Name sei Gantenbein". München 1990, S. 65. Näheres zur Hermes-Reue Herbert Henckes bei Lubich, a.a.O., S. 66ff. Vgl. Latta, a.a.O., S. 91 f. Ausführliche Darstellungen der mythologischen Bezüge im "Homo faber" bieten Rhonda L. Blair: 'Homo faber', 'Homo iudens' und das Demeter-Kore-
207 strickung Fabers mit seiner Tochter die Hinweise auf den DemeterKore-Mythos147 und auf den Ödipus-Stoff, der im Motiv der Blindheit und der Blendung immer wieder anklingt.148 Eher unbewußt zu Beginn des Romans: "Ich sah nur das grüne Blinklicht an unsrer Tragfläche, die heftig schwankte, zeitweise wippte; für Sekunden verschwand sogar dieses grüne Blinklicht im Nebel, man kam sich wie ein Blinder vor," ] 4 ^ Und sehr viel deutlicher am Ende des Romans: "f...] - ich sitze im Speisewagen, trinke Steinhäger und blicke zum Fenster hinaus, ich weine nicht, ich möchte bloß nicht mehr da sein, nirgends sein. Wozu auch zum Fenster hinausblicken? Ich habe nichts mehr zu sehen. [...] Ich möchte bloß, ich wäre nie gewesen. Wozu eigentlich nach Zürich? Wozu nach Athen? Ich sitze im Speisewagen und denke: Warum nicht diese zwei Gabeln nehmen, sie aufrichten in meinen Fäusten und mein Gesicht fallen lassen, um die Augen loszuwerden?" 150 Der Verlust des Augenlichts erscheint hier in Fabers Gedanken als selbstgewählte Strafe für sein schuldhaftes Verhalten und sein Aufbegehren gegen das Schicksal. Er teilt somit das Verbrechen und das Leid des mythologischen Königs Ödipus, der sich des Inzests schuldig machte und als Strafe Blindheit und Verbannung wählte. Der Mythos wird zu einer treibenden Kraft, zu einem Katalysator, der Vergessenes und Verdrängtes heraufbeschwört und einen zerstörerischen Prozeß der Erkenntnis einleitet.151
147 148 149 150
Motiv. In: Schmitz (Hrsg.) 1983, a.a.O., S. 142-170; Bettina Kranzbühler: Mythenmontage im Homo faber. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Max Frisch. Frankfurt a.M, 1987, S. 214-224; Lubich, a.a.O., S. 59ff. und Ulrich Ramer: Max Frisch. Rollen-Spiele. Frankfurt a.M. 1993, S. 212ff. Vgl. Blair, a.a.O. Vgl. Ramer, a.a.O., S, 216. Frisch, a.a.O., S, 7. Ebd., S. 192. Zu psychologischen und vor allem tiefenpsychologischen Interpretationsmodellen des "Homo faber" vgl. Lubich, a.a.O., S. 55ff.
208 Archetypische Situationen und Konstellationen, Emotionen und Affekte, Verstrickungen und Verfehlungen werden hinter der Fassade des Alltags sichtbar und gewinnen an Konturen, Fabers Furcht vor dem Leben nimmt Gestalt an; seine unbewußten Ängste und sein unbewußtes Wissen um sein Versagen als fühlender und liebender Mensch ballen sich in mythologischen Konfigurationen zusammen und stellen sich ihm in den Weg, hindern ihn an seiner permanenten Flucht in den Glauben an die Allmacht der Technik und des Fortschritts. Seine Schutzmauern beginnen zu wanken, und je größer die Risse werden, desto klarer sieht Faber, daß das Chaos dahinter er selbst ist, sein unbewältigtes Leben, eingezwängt und deformiert im Klammergriff der Technologie und einer zur Routine erstarrten, sich selbst genügenden Existenz. Faber, der so lange blind war, beginnt zu sehen; die Erkenntnis jedoch weckt wiederum den Wunsch nach Blindheit. Einmal konfrontiert mit der schmerzhaften Realität seines schuldbeladenen Daseins, will Faber seine Augen davor verschließen, lieber blind sein, als den Anblick seines zerstörten Lebens ertragen zu müssen; schließlich wünscht er sich, niemals gewesen zu sein - die totale Negation seiner Existenz. Die Zerstörung kommt von innen, sucht sich in den mythologischen Bildern und Gestalten lediglich eine äußere Form, bezieht ihre Kraft jedoch aus dem Inneren der Menschen, brütet in deren Seelen und deren Vergangenheit und erweist sich daher als unausweichliches Schicksal. Faber und Aschenbach können ihrem Schicksal nicht entgehen, allerdings nicht, weil mythologische Kräfte ihren Untergang beschlossen haben und sie gnadenlos verfolgen, sondern weil sie ihr Schicksal, den Ursprung ihrer Leiden und ihres Scheiterns, in sich selbst tragen.
4.2 Erlebendes Ich - Erzählendes Ich - Verdrängendes Ich Strukturierendes Ich Doch trotz vieler Parallelen gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Manns Erzählung und Frischs Roman: die Er zähl situation. Während das Scheitern und der Tod Aschenbachs dem Leser durch eine überwiegend personale ES vermittelt wird, erlebt man den Sturz Fabers in einer Ich-ES mit.
209 Walter Faber selbst ist es, der seine Geschichte erzählt; er gibt einen Bericht ab über die Geschehnisse, die zum Tode seiner Tochter Sabeth führten, und fügt seine Aufzeichnungen über die Zeit danach bei. Frisch gab seinem Werk den Untertitel "Ein Bericht" und weist damit deutlich auf den - fiktiven - Urheber der Erzählung hin. Faber schreibt diesen Bericht, um sich über die tragischen Ereignisse klar zu werden, um sich und die übrige Welt - vor allem Hanna - von seiner vermeintlichen Unschuld zu überzeugen; aber je länger er berichtet, desto deutlicher wird auch ihm selbst, daß er schuldig geworden ist. Diese Erkenntnis überfällt ihn aber nicht schlagartig, sondern kristallisiert sich langsam aus der erzählten Erinnerung heraus, wird immer wieder verdrängt und durch Ausflüchte in überzogene Rationalität und Logik in den Hintergrund geschoben. Seine Erzählung wird zu einem einzigen gewaltigen Verdrängungsprozeß, genährt durch Fabers Angst vor der Wahrheit, aber auch durch sein Schuldgefühl, das nach außen drängt, die Fassade der Unschuld und Gelassenheit durchstoßen und ins Bewußtsein gelangen will. Walter Faber, der Berichterstatter des Romans, erscheint somit als eine etwas unklare, undurchsichtige Erzählerfigur, der man nicht ohne weiteres trauen kann. Im Gegensatz zu dem Erzähler von Manns "Tod in Venedig", der durch seine Kommentare eine kritische Distanz schafft, muß der Ich-Erzähler Faber als subjektiv und unzuverlässig gelten; seinen Worten ist nur bedingt Glauben zu schenken. Seine Subjektivität schlägt sich in der Auswahl und Anordnung der berichteten Ereignisse nieder: Faber gibt die Geschehnisse um seine letzten Reisen und den Tod seiner Tochter nicht chronologisch wieder. Er erzählt sie, wie sie sich ihm in der Erinnerung darstellen, und unterbricht sich dabei immer wieder, blickt voraus, blickt zurück. Der Text ist unterteilt in zwei Stationen. Die erste Station152 berichtet von Fabers Notlandung in der mexikanischen Wüste, seiner Begegnung mit Herbert Hencke, seinem Ausflug in den Urwald Guatemalas, seiner Schiffspassage nach Europa, seinem Zusammentreffen mit Sabeth, der gemeinsamen Reise durch Südfrankreich, Italien und Griechenland, dem Unfall und dem Tod der Tochter und dem Wieder152
Frisch, a.a.O., S. 7-160.
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sehen mit Hanna. Ebenso enthält die erste Station Rückblenden, in denen Faber von seiner Jugendzeit in Zürich erzählt, von seinem Verhältnis zu Hanna und der Trennung von ihr. Die zweite Station153 berichtet von der Zeit nach Sabeths Tod und besteht aus Aufzeichnungen Fabers im Krankenhaus und seinem Tagebuch. Hier erfahrt der Leser von Fabers letzten ruhelosen Reisen nach Amerika und nach Guatemala, von seinem Aufenthalt in Caracas, wo er zwei Wochen lang wegen Magenschmerzen im Hotel bleiben muß und den Bericht der ersten Station niederschreibt, von seinen vier Tagen auf Kuba, wo er in Havanna eine Zeit größter Gefühlsverwirrungen erlebt, von seiner unüberlegten Reise nach Düsseldorf, seiner Rückkehr nach Athen, seiner Trauer um Sabeth, seinen Gesprächen mit Hanna und von seinem Warten auf die Operation, die tödlich für ihn enden wird. Sein rückblickender Bericht und seine Tagebuchaufzeichnungen wechseln einander ab und sind drucktechnisch durch Normal- und Kursivschrift voneinander zu unterscheiden. Die zweite Station gibt Faber in der Ruhe des Krankenhauses Gelegenheit, die Ereignisse der ersten Station noch einmal zu überdenken; schreibend tastet er sich immer näher an die Wahrheit heran, immer näher auch an seine Erzählgegenwart, die in dem Moment endet, als er zur Operation abgeholt wird. Fabers Bericht präsentiert sich dem Leser somit in einer äußerst artl· fiziell gestalteten Weise, fragmentarisch, gebrochen, verschachtelt, montiert.154 Manche Einzelheiten und Zusammenhänge werden schon sehr früh genannt, manche erst sehr spät enthüllt, manche verschwiegen. Die psychodynamischen Prozesse des Erzählers, die Verdrängung seiner Schuld, die uneingestandene Angst vor der Wahrheit und die 153 15
Ebd., S. 161-203. Vgl. zur Struktur des Romans Rolf Geißler: Max Frisch: Homo Faber. In: Ders.(Hrsg.): Möglichkeiten des modernen deutschen Romans. Analysen und Interpretationsgrundlagen zu Romanen von Thomas Mann, Alfred Dublin, Hermann Broch, Gerd Gaiser, Max Frisch, Alfred Andersch und Heinrich Böll. 3. Auflage, Frankfurt a.M./Berlin/Borui/München 1968, S. 191-214, S. 197ff.; Hans Geulen: Max Frischs Homo faber, [Anordnung der Geschichte im Erzählvorgang] In: Schmitz (Hrsg.) 1983, a.a.O., S. 101-132; Jürgen Barkhoff: "Die Montage ging in Ordnung - ohne mich." Zur erzähltechnischen Tiefenstruktur in Max Frischs 'Homo faber'. In: Wirkendes Wort. Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre, Heft 2, 1991 (Vol. 41), S. 212-227,
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Furcht, Episoden wie beispielsweise die erste gemeinsame Nacht mit Sabeth - also den Vollzug des Inzests - oder die Details ihres tödlichen Unfalls am Strand zu berichten, bewirken diese gehemmte und brüchige Art des Erzählens.155 In der Struktur des Berichts spiegelt sich die labile Psyche Fabers wider, der einige Fakten immer wieder hervorhebt und betont, andere hingegen gerne verschweigen würde und sozusagen erst verspätet enthüllt. Die Persönlichkeit des Ich-Erzählers mit all ihren Schwächen und psychischen Konflikten begegnet dem Leser aber nicht nur in der Anordnung der geschilderten Ereignisse, sondern ebenso im Stil und in der Sprache des Romans; nicht Max Frisch erzählt hier, sondern Walter Faber. Und die Sprache eines Technikers ist nicht die Sprache eines Dichters. Sachlich, nüchtern, in kurzen, überschaubaren Sätzen schreibt Faber seine Geschichte nieder, gibt exakte Zeit- und Ortsbestimmungen, fügt technische Exkurse ein und nennt weiterführende Literatur; er bemüht sich um Klarheit und Korrektheit, doch der Bericht kann die sprachliche Unzulänglichkeit seines Urhebers nicht verleugnen. Grammatikalische Schwächen, Worthülsen und Floskeln, die zuweilen erzwungene Lässigkeit des Ausdrucks, der Gebrauch umgangssprachlicher Elemente, Auslassungen und syntaktische Fragmentierung zeugen von Fabers Inkompetenz als Erzähler.156 "Schwangerschaftsunterbrechung ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Grundsätzlich betrachtet. Wo kämen wir hin ohne Schwangerschaftsunterbrechungen? Fortschritt in Medizin und Technik nötigen gerade den verantwortungsbewußten Menschen zu neuen Maßnahmen. Verdreifachung der Menschheit in einem Jahrhundert. Früher keine Hygiene, Zeugen und gebären und im ersten Jahr sterben lassen, wie es der Natur gefällt, das ist primitiver, aber nicht ethischer. Kampf gegen das Kindbettfieber. Kaiserschnitt. Brutkasten für Frühgeburten. Wir nehmen das Leben ernster als früher. Johann Sebastian Bach hatte dreizehn Kinder (oder so etwas) in die Welt gestellt, und davon lebten nicht 50%. Menschen sind keine Kaninchen, Konsequenz des Fortschritts: wir 155 156
Vgl. Henze, a.a.O., S. 285f. und Barkhoff, a.a.O., S. 223, Vgl. zu Fabers sprachlichem Stil Geißler, a.a.O., S. 206ff.; Henze, a.a.O., S. 278f,; Walter Schenker: Mundart und Schriftsprache. In: Schmilz (Hrsg.) 1987, a.a.O., S. 47-59 [auch in: Beckermann (Hrsg.) 1977, a.a.O., S. 287-299], S. 55,
212 haben die Sache selbst zu regeln. Die drohende Überbevölkerung unserer Erde. [...] Heiligkeit des Lebens! Die natürliche Überproduktion (wenn wir drauflosgebären wie die Tiere) wird zur Katastrophe; nicht Erhaltung der Art, sondern Vernichtung der Art. Wieviel Menschen ernährt die Erde? Steigerung ist möglich, Aufgabe der Unesco: Industrialisierung der unterentwickelten Gebiete, aber die Steigerung ist nicht unbegrenzt. Politik vor ganz neuen Problemen. Ein Blick auf die Statistik: Rückgang der Tuberkulose beispielsweise, Erfolg der Prophylaxe, Rückgang von 30% auf 8%. Der liebe Gott! Er machte es mit Seuchen; wir haben ihm die Seuchen aus der Hand genommen, Folge davon; wir müssen ihm auch die Fortpflanzung aus der Hand nehmen. Kein Anlaß zu Gewissensbissen, im Gegenteil: Würde des Menschen, vernünftig zu handeln und selbst zu entscheiden. Wenn nicht, so ersetzen wir die Seuchen durch Krieg. Schluß mit Romantik. Wer die Schwangerschaftsunterbrechung grundsätzlich ablehnt, ist romantisch und unverantwortlich. [...] Unwissenheit, Unsachlichkeit noch immer sehr verbreitet." '57
Diese Worte machen nicht nur Fabers Einstellung zum Leben deutlich, seinen Glauben an die Technik und die Errungenschaften der modernen Wissenschaft und die damit verknüpfte herablassende, sich überlegen wähnende Arroganz gegenüber allem Naturhaften, sondern sie zeigen darüber hinaus seinen Umgang mit der Sprache. Petersen charakterisiert die zitierte Passage als "eine salopp wirkende elliptische Redeweise, deren aufdringliche Nonchalance den Leser distanziert", als "mitunter kaum erträgliche [n] Jargon, in dem sich die besessene Oberflächlichkeit des Klischee-Technikers ausspricht"158. Ebenso treffend bemerkt Geißler: "Der Vergewaltigung der Syntax parallel geht der laxe Umgang mit dem Wort."159 Hinter dieser außerordentlich nachlässigen sprachlichen Gestaltung des Berichts verbirgt sich die Illusion der realen Existenz Fabers. Das erzählende Ich ist nun mal "ein, weil beziehungsloser, so auch sprachloser Mensch"1^, ein Mann, der keine Romane liest - "Ich kenne Tol-
157
Frisch, a.a.O., S. IQSf. ·'* Jürgen H. Petersen: Max Frisch. (Sammlung Metzler, Bd. 173) 2., erweiterte und verbesserte Auflage, Stuttgart 1989, S. 128. 159 Geißler, a.a.O., S. 209. 160 Gerhard Kaiser: Max Frischs Homo faber. In: Schmilz (Hrsg.) 1987, a.a.O., S. 200-213 (auch in: Walter Schmilz (Hrsg.): Über Max Frisch II. 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1976, S. 266-280], S. 212. 11 «i
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stoi nicht."161 - und den knappen, präzisen Tonfall technischer Abhandlungen schätzt. Frisch überläßt ihm ganz das Wort und gestaltet seinen Roman konsequent so, wie sein Protagonist sprechen und schreiben würde, auch wenn sich das Ergebnis als die "Sprache eines Pfuschers"162 präsentiert. Für den Leser bedeutet dies ein wachsendes Mißtrauen in die sprachlichen Fähigkeiten Fabers und damit in seine Fähigkeiten, Ereignisse angemessen wahrzunehmen, zu beurteilen und angemessen zu beschreiben. Die Ich-ES zeichnet sich in der Regel durch die Polarität zwischen erzählendem Ich und erlebendem Ich aus.1^ In der Ich-ES des Romans "Homo faber'1 ist diese Dichotorrüe in gewisser Weise aufgehoben. Zwar stößt der Leser auf Passagen, die sich deutlich dem Bewußtsein des rückblickend-erzählenden Ich oder des unwissend-erlebenden Ich zuordnen lassen, beispielsweise: "Was ändert es, daß ich meine Ahnungslosigkeit beweise, mein Nichtwissenkönnen! Ich habe das Leben meines Kindes vernichtet und ich kann es nicht wiedergutmachen. Wozu noch ein Bericht? Ich war nicht verliebt in das Mädchen mit dem rötlichen Roßschwanz, sie war mir aufgefallen, nichts weiter, ich konnte nicht ahnen, daß sie meine eigene Tochter ist, ich wußte ja nicht einmal, daß ich Vater bin. Wieso Fügung? Ich war nicht verliebt, im Gegenteil, sie war mir fremder als je ein Mädchen, sobald wir ins Gespräch kamen, und es war ein unwahrscheinlicher Zufall, daß wir überhaupt ins Gespräch kamen, meine Tochter und ich. Es hatte ebensogut sein können, daß wir einfach aneinander vorbeigegangen wären. Wieso Fügung! Es hätte auch ganz anders kommen können." ^^
Deutlich wird hier die Stimme des Erzählers Faber hörbar, der - den Ausgang der tragischen Geschichte kennend - über den Sinn eines rechtfertigenden Berichts, über Zufall und Fügung grübelt. Dennoch liegen erzählendes Ich und erlebendes Ich dicht beieinander. Von einem erzählenden Ich erwartet man Distanz zum Geschehen, Überblick und Einsicht in die Zusammenhänge der erzählten Geschichte, d.h. von Fa161 162 163 164
Frisch, a.a.O., S. 83. Bänziger, a.a.O., S, 97. Siehe Kapitel 1/4. Frisch, a.a.O., S. 72f.
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ber als Erzählendem erwartet der Leser umfassende Kenntnisse und offene, kritische Schilderungen der erlebten Ereignisse, Da Faber aber die wahren Zusammenhänge seines Schicksals verdrängt, nicht wahrhaben will und - zumindest im ersten Teil des Romans - jegliche Verantwortung an den geschehenen Dingen ablehnt, weil also sein Bericht selbst teilweise nichts anderes ist als ein Akt der Verdrängung und hilflosen Rationalisierung angesichts der Tragödie, bleibt das erzählende Ich auf der Bewußtseinsstufe des erlebenden Ich zurück. Das erzählende Ich berichtet nicht distanziert und einsichtig, sondern regrediert, da es eigentlich ein verdrängendes Ich ist, auf die Stufe des erlebenden Ich. So entspricht die Sprache - und das dem sprachlichen Ausdruck zugrunde liegende Denken - des Ich-Erzählers dem Bewußtsein des Protagonisten, der noch in die Geschehnisse verwickelt ist und deren ganze Tragweite, teils aus Naivität, teils aus Ignoranz, noch nicht erkennen kann. Petersen umschreibt die Annäherung der beiden Figurenpole - erlebendes Ich und erzählendes Ich - folgendermaßen: "Die in der herkömmlichen Ich-Retrospektive begegnende Erzählstruktur, die in der Konfrontation des sich wandelnden, irrenden, versagenden Ich, von dem erzählt wird, mit dem zurückblickenden, überlegenen, bei sich angekommenen Ich, das erzählt, besteht - wobei das erzählende Ich wegen seiner Überlegenheit für den Leser das Orientierungszentrum bildet -, wurde hier außer Kraft gesetzt. Denn auch das den umfänglicheren ersten Teil erzählende Ich erweist sich keineswegs als eine Figur, die sich als handelnde Person zureichend einzuschätzen weiß, denn es wandelt sich noch und taugt daher keineswegs als verläßlicher Fixpunkt." 165
Der Leser lernt so, den Worten Fabers zu mißtrauen; denn die Ablehnung des Erzählers, sich mit den Ereignissen und seiner Schuld an diesen Ereignissen glaubhaft auseinanderzusetzen, sein verbissenes Leugnen jeglicher schicksalhafter Fügung, sein Beharren auf dem bloß Zufälligen, hinter dem sich sein engstirniges Weltbild verbirgt, das gleichwohl immer wieder deutlich durchscheint und aufgrund seiner Einseitigkeit gleichsam verblüffend und abstoßend wirkt, das solcherart belastete Verhältnis des Erzählers zu seiner Geschichte also beeinträch165
Petersen 1989, S. 122.
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tigt auch das Verhältnis des Lesers zum Erzähler und dessen Erzählung. Indirekt nur erkennt der Leser des Berichts die wahren Zusammenhänge; zwischen den Zeilen sozusagen steht die Wahrheit über Faber, seine Schuld und seine Tragödie. Denn nicht unmittelbar in den Worten des Ich-Erzählers steckt diese Wahrheit, sondern in den gedanklichen Prozessen, die die Worte und deren strukturelle Anordnung bedingen. Anders ausgedrückt: Der Leser durchschaut die Versuche Fabers, die Ereignisse zu verdrängen oder in seinem Sinne zu interpretieren, zu rationalisieren, und wird somit in die Lage versetzt, die Handlungen Fabers selbständig zu rekonstruieren. Es ist das verdrängende Ich, das die Strukturen des Berichts schafft und somit gegen den eigenen Willen mehr verrät, als das erzählende Ich preisgeben will.l66 Behauptet Faber also nachdrücklich, er sei in Sabeth nicht verliebt gewesen und sie sei ihm fremder erschienen als je ein Mädchen,167 so entspricht dies keineswegs der Wahrheit; das erzählende Ich ist hier zum verdrängenden Ich geworden, zu einem Erzähler mit durchschaubaren Strategien der Verschleierung und des Leugnens. Ebenso im folgenden Abschnitt: "[..,) Sabeth in ihren schwarzen Cowboy-Hosen mit den ehemals weißen Nähten, der grüne Kamm in ihrer Hintertasche, ihr rötlicher Roßschwanz, der über den Rücken baumelt, unter ihrem schwarzen Pullover die zwei Schulterblätter, die Kerbe in ihrem straffen und schlanken Rücken, dann ihre Hüften, die jugendlichen Schenkel in der schwarzen Hose, die bei den Waden gekrempelt sind, ihre Knöchel - ich fand sie schön, aber nicht aufreizend, Nur sehr schön! Wir standen vor dem gläsernen Guckloch eines Dieselbrenners, den ich in Kürze erläuterte, meine Hände in den Hosentaschen, um nicht ihren nahen Arm oder ihre Schulter zu fassen wie der Baptist neulich beim Frühstück. Ich wollte das Mädchen nicht anfassen. Plötzlich kam ich mir senil vor -
167
Vgl. Leber, a.a.O., S. 241: "Doch wie mit schicksalhafter Notwendigkeit gerät ihm [FaberJ sein Rechenschaftsbericht unter der Hand zu einer Schrift der Selbstanklage. Der manipulative Impetus der Vorausdeutungen fordert heraus, das Nachfolgende gegen den Strich zu lesen. [ . . . ] So entwickelt der Bericht gegen den Willen seines Schreibers eine schicksalhafte Eigendynamik, die durch alle Verschleierungsversuche hindurch zur Wahrheit rührt." (Ebd., S. 25.) Frisch. a.a.O.. S. 72; siehe Textzitat oben.
216 Ich faßte ihre beiden Hüften, als ihr Fuß vergeblich nach der untersten Sprosse einer Eisenleiter suchte, und hob sie kurzerhand auf den Boden. Ihre Hüften waren merkwürdig leicht, zugleich stark, anzufassen wie das Steuerrad meines Studebakers, graziös, im Durchmesser genau so - eine Sekunde lang, dann stand sie auf dem Podest aus gelochtem Blech, ohne im mindesten zu erröten, sie dankte für die unnötige Hilfe und wischte sich ihre Hände an einem Bündel bunter Putzfäden. Auch für mich war nichts Aufreizendes dabei gewesen, und wir gingen weiter zu den großen Schraubenwellen, die ich ihr noch zeigen wollte." ^
Faber beobachtet und beschreibt Sabeth sehr genau und betont, daß er die Situation nicht aufreizend oder gar erregend findet. Gleichwohl wird sein erotisches Interesse an der jungen Frau deutlich spürbar. Auch hier vermittelt die Transparenz seiner Erzählstrategie die eigentliche Wahrheit, die das erzählende Ich zu verdrängen und zu verschweigen versucht. Das verdrängende Ich erzeugt die Strukturen des Berichts, es ist verantwortlich für die fragmentierte Erzählweise und das sich nur langsam zusammenfügende Gesamtbild der Handlung; die Textgestalt selbst spiegelt den Prozeß der Verdrängung - und deren Überwindung im zweiten Teil des Romans - wider. Somit kann das verdrängende Ich auch als strukturierendes Ich bezeichnet werden, um die gestaltende Kraft dieses Persönlichkeitsteils deutlicher zu machen. Es zeigt sich nun, daß die traditionelle Dichotomie zwischen erlebendem Ich und erzählendem Ich in der Ich-ES des Romans "Homo faber" eine neue Ausprägung erfahrt; Die Opposition von erzählendem Ich und strukturierendem Ich. Das erzählende Ich Fabers bleibt dem erlebenden Ich verhaftet, denn die Sprache des Erzählers ist die Sprache des unwissenden, verdrängenden Technokraten. Das tiefere Wissen und Verständnis aber, das Erkennen und Verstehen der tragischen Verstrickungen drückt sich indirekt in der strukturellen Gestaltung aus. "Was die Sprache bewußt verbergen will", so Geißler169, "wird in der Struktur einsichtig. In der Polarität von Sprache und Struktur wird die Problematik Fabers offenbar." Die Besonderheit der Erzählsituation in Frischs Roman besteht also darin, daß Faber zwar seine subjektive und wenig verläßliche Version 168 169
Ebd., S, 86f. Geißler, a.a.O., S. 207.
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der Geschichte erzählt, aber durch die Art und Weise, wie er den Stoff strukturiert und präsentiert, sehr viel mehr verrät, ais er selbst ahnt, viel mehr über sich selbst, aber auch über die Welt, in der er lebt und die er zu kontrollieren glaubte. "Somit präsentiert der Roman zwei Weltmöglichkeiten: die vom Schöpfer entworfene Welt, ihre latent vorhandene Schicksalhaftigkeit, ihre Bedeutung, die sich niederschlägt in Motiven, Hinweisen, Andeutungen, ihr beredtes Schweigen, ihre Transparenz allerorten, und die Welt in den Vorstellungen Fabers, eine Welt der hintergrundlosen Tatsachen, der Vordergründigkeiten und Erklärbarkeiten. Faber versucht nun: das Geschehen zu Orten', indem er den Tatsachenzusammenhang rekonstruiert, Er verfaßt einen Bericht, - und der Bericht enthält auf eine frappante Weise jene Welt der Bedeutungen und Hintergründe, die er vermeiden und an die er nicht glauben wollte. Es ist fraglich, ob er sich dessen bewußt wurde, soviel jedoch steht fest: der Leser erfahrt durch Fabers Bericht, durch den Bericht eines Technikers, die offenbare Sinnbezogenheit menschlichen Daseins, seine Abhängigkeit von Mächten und Kräften, die es bestimmen und leiten." ^
Es entsteht jene Form von doppelbödiger Erzähl weise, die nicht nur die Ereignisse an sich darstellt, sondern auch deren Wirkung auf Faber, seine psychischen Reaktionen auf die tragischen Geschehnisse, seine Verunsicherung und seine beginnenden Zweifel an seinen bisherigen Anschauungen, die zunächst mühsam bekämpft und unterdrückt werden.171 Er leugnet die Macht des Schicksals, er glaubt nicht an Fügung, sondern spricht von Zufällen; aber je länger er davon spricht und je hartnäckiger er die Existenz dieser irrationalen Kräfte verneint, desto glaubwürdiger werden sie.172 Henze kommt zu folgendem Ergebnis: "Die ungelöste Spannung zwischen Fabers Ingenieursdenken und der Mystik ist das strukturtragende Element des ganzen Romans. Es geht nicht primär darum, die Wirklichkeit und Macht irrationaler Mächte darzustellen; sie sind die still170
Geulen, a.a.O., S. 118. Vgl. zur Erzählweise auch Mary E. Cock: 'Countries of the Mind': Max Frisch's Narrative Technique. In: The Modern Language Review, Vol. 65, 1970, S. 820-828. 172 "" "Fügung wird glaubhaft in dem Grad", so Max Frisch im Briefwechsel mit Walter Höllerer, "als sie bestritten wird; das war die bewußte Methode im 'Homo Faber'-Roman". (Zitiert nach Klaus Müller-Salget (Hrsg.]: Max Frisch: Homo faber. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1987, S. 131.)
218 schweigende, unbezweifelte Voraussetzung für die Handlungsfuhrung, Es geht vielmehr darum, die Spiegelung dieser Mächte und ihres Wirkens im Bewußtsein eines positivistischen, voreingenommenen Technikers zu gestatten. Die monologische Erzählweise und die Form des Rückblicks mit der Zweisträngigkeit von erzählter Zeit und Erzählzeit bewirken, daß der Vorgang in Fabers Bewußtsein, dieses Ringen zwischen einseitigem Ingenieursdenken und Mystik, zur eigentlichen, tragenden Schicht des Romans wird. Wenn der Autor selbst erzählt hätte, statt die Form des Rollenromans zu wählen, dann hätte dieses Buch nicht an Wert gewonnen [..,], sondern etwas Wesentliches eingebüßt. Ein objektiver Erzähler könnte den Vorgang, der sich in Fabers Bewußtsein abspielt, nur von außen darstellen; der Leser wäre dann Betrachter, aber nicht Miterlebender. Die Funktion und Leistung der Ichform besteht darin, daß wir von innen her an Fabers Unruhe, seinen Zweifeln und Zynismen, seinen Ahnungen und Irrtümern, seinen Fortschritten und Rückfällen teilhaben und auf diese Weise unmittelbar erleben, in welcher neuen Schärfe sich das alte Problem von Ratio und Mystik für diesen positivistisch denkenden Ingenieur von 1957 stellt," *7^
Der Leser wird Zeuge der Auseinandersetzung Fabers mit seinem Schicksal, und während dieses Prozesses, der sich in der Gestaltung des Berichts niederschlägt, klafft ein Spalt auf zwischen dem Erzähler und uns Zeugen, In diesem Spalt wird Fabers Versagen sichtbar, sein Versagen in der Vergangenheit und sein Versagen bei der Aufarbeitung seines Schicksals durch die Niederschrift des Berichts. Der Spalt entsteht zunächst durch die spürbaren Anstrengungen des verdrängenden, des strukturierenden Ich, er vergrößert sich jedoch durch die Zweifel der Zeugen an der Aufrichtigkeit Fabers. Er ermöglicht den distanzierten Blick auf Faber, auf den erlebenden und den erzählenden Protagonisten, auf sein Denken, sein Handeln und sein Sprechen und auf die Fragwürdigkeit seiner Weltanschauung, Im zweiten Teil des Romans - Faber liegt im Krankenhaus in Athen, wartet auf seine Operation und erinnert sich an die Tage und Wochen nach Sabeths Tod - wird diese Distanz wieder geringer, der Spalt schließt sich in dem Maße, in dem sich die erzählte Zeit der Erzählgegenwart annähert. Bericht und Tagebuch, die beiden Erzählstränge der zweiten Station, laufen zeitlich aufeinander zu. Das erzählende Ich und das strukturierende Ich finden zueinander; in den letzten Tagebucheintragungen fließen beide Pole ineinander, gibt es kein Erzählen und kein 173
Henze, a.a.O., S. 289.
219 Strukturieren mehr, sondern nur noch Nachdenken und Erkennen. "Verfügung für Todesfall: alle Zeugnisse von mir wie Berichte, Briefe, Ringheftchen, sollen vernichtet werden, es stimmt nichts."11* - Es gibt nur noch die Gegenwart und den Augenblick, und auch dieser Augenblick wird vorübergehen.
4.3 Der Film "Homo faber" Die richtige Einschätzung des Romans "Homo faber" ist abhängig von der richtigen Einschätzung der Erzählsituation und deren sprachlicher und stilistischer Gestaltung. Erst wenn man die narrative Struktur der fiktiven Ich-ES durchschaut und die Bedeutung der Perspektive für das Gesamtwerk erfasst hat, eröffnet sich der Sinn des Romans. Verzichtet man bei der Lektüre auf die nähere Beachtung dieser narrativen Elemente, so liest man einen netten, tragischen Liebesroman175, versäumt jedoch die tiefere Bedeutung, die den Roman Frischs erst auszeichnet. So erweist sich auch in diesem Falle die literarische Erzählsituation als ein kritischer Punkt, an dem sich eine Verfilmung messen lassen muß. Literaturadaptionen wie beispielsweise "Der junge Törless", sein erster Film aus dem Jahre 1966, "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (BRD 1975) oder "Die Blechtrommel" (BRD 1979), der als bisher einziger deutscher Spielfilm mit einem Oscar, der höchsten Auszeichnung der Filmbranche, prämiert wurde, machten Volker Schlöndorff bekannt und zu einer Art Spezialisten anspruchsvoller LiteraturVerfilmungen. Im Jahre 1990 verfilmte er Frischs Roman "Homo faber" mit großem finanziellen Aufwand an Originalschauplätzen in der
174
Frisch, a.a.O.. S. 199. Nicht umsonst geriet Frischs Roman auch in den Verdacht, ein Kitsch-Roman zu sein. Vgl. dazu Frank Hoffmann: Der Kitsch bei Max Frisch. Vorgeformte Real itäts Vokabeln. Eine Kitschtopographie. Bad Honnef 1979, S. 101 ff. Hoffmanns Urteil - "Effektkumulation und synästhetische Wahrnehmung sollen den Leser blenden und über die Banalität und Phantasielosigkeit der Geschichte hinwegtäuschen." (Ebd., S. 103) - mag nicht ganz unbegründet sein, fällt aber dennoch zu hart und zu einseitig aus.
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ganzen Welt. Die Erwartungen, die man diesem Film entgegenbrachte, waren entsprechend groß, wurden allerdings enttäuscht. Ziemlich einig waren sich die Kritiker in ihren Urteilen und bezeichneten Schlöndorffs "Homo faber" als "ein[en] sehr provinzielle[n] deutschein] Film"176, als "ein erstaunlich dünnes Brettchen" und "[e]ine teure, schöne, kalte Überflüssigkeit"177. "Ein Film, zum Weinen schön"178 - diesem enthusiastischen Seufzer am Ende einer der wenigen wohlmeinenden Besprechungen darf man getrost das Weinen abnehmen; leider jedoch aus anderen Gründen als der Schönheit. Schlöndorffs Film beginnt mit Fabers Abschied von Hanna am Flughafen in Athen. In sich gekehrt und gedankenverloren sitzt er in der Wartehalle, und über einer Großaufnahme seines starren Gesichts, die Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, hört man seine Stimme als voice over: "Am 5. Juni sollte ich in Paris sein, am 7. Juni in New York, am 10. Juni spätestens in Venezuela. Warum ging es nicht ohne mich? - Ich wünschte, ich wäre nie gewesen. Warum kann es nicht wieder April sein? Und alles andere eine Halluzination von mir."179 Diese Szene kehrt am Ende des Films wieder. Dazwischen erlebt der Zuschauer in einer Rückblende die Ereignisse mit, die zur Begegnung Fabers mit seiner Tochter führten, die Entwicklung und das tragische Ende ihrer Liebesgeschichte, den Unfall Sabeths, ihren Tod und das Wiedersehen mit Hanna. Innerhalb dieser großen Rückblende, die somit die Handlung des Films ausmacht, gibt es noch vier weitere kurze Rückblenden - drei, die aus Fabers Jugend und Studienzeit mit Hanna und Joachim berichten, und eine, die die erste gemeinsame Nacht Fabers mit Sabeth in Avignon wiederholt. Ansonsten aber verläuft dieser große Handlungsbogen chronologisch und zielstrebig auf das Ende zu. Zuletzt, nach Sabeths Tod im Athener Krankenhaus, schließt die Anfang sszene des Films - Hanna und Faber am Flughafen, Faber in der 176
177
Reinhard Kill: Sklave der Wörter. Schlöndorff verfilmte Max Frischs "Homo Faber". In: Rheinische Post fDüsseldorf), 23.3.1991. Inge Bongers: Homo Faber. In: Blickpunkt Film, Nr. 14/15, 12.4.1991, S. 32. Angie Dullinger: Homo Faber. In: Abendzeitung (München), 21.3,1991. Dieses und alle folgenden Zitate aus dem Film "Homo faber" sind direkt der deutsch synchronisierten Fassung entnommen.
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Wartehalle - die Rückblende ab. Wurde diese Szene zu Beginn in Schwarzweiß gezeigt, so sieht man sie nun in Farbe. Damit schließt sie nahtlos an die erinnerten Ereignisse an, die ebenfalls farbig zu sehen waren, und kennzeichnet das Zusammenfließen von erzählter Zeit und Erzählgegenwart, das im zweiten Teil des Romans durch die zeitliche Annäherung der beiden Erzählstränge - Bericht und Tagebuch deutlich wird. Schlöndorff rindet so eine adäquate Umsetzung der literarischen Form. Die Handlung dieser beiden Szenen, ihr Ablauf und ihre Einstellungen sind identisch180 und markieren die Rückkehr zur Gegenwart; ihre unterschiedliche farbliche Gestaltung allerdings zeigt die Veränderung an; Die Gegenwart, zu der wir zurückkehren, zu der auch Faber gedanklich zurückfindet, ist nun belastet mit der Erinnerung an Sabeth und ihren Tod, sie ist quasi angefüllt mit der Farbe dieser schmerzhaften Erinnerungen.181 Herausgelöst aus dem Schwarzweiß der Vergangenheit, einer filmischen Konvention, der man in Spiel- und Fernsehfilmen jeglicher Art begegnet, vermittelt die Schlußszene das Gefühl des Jetzt und Hier, des Gegenwärtigen, Augenblicklichen, dessen weiterer Verlauf in der Zukunft noch ungewiß ist. Faber sitzt wieder in der Halle, die Kamera fährt in Großaufnahme auf sein Gesicht zu, die Sonnenbrille schirmt seine Augen von der Außenwelt ab, wird 1
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Genau genommen unterscheiden zwei kurze Einschübe die Schlußszene von der Anfangsszene; zwischen die Einstellungen, in denen Hanna und Faber vor der Abflughalle stehen und voneinander Abschied nehmen, und in die Großaufnahme Fabers in der Halle wurden Aufnahmen von Sabeth einmontiert. Es sind dies Szenen aus Fabers selbst aufgenommenen Reisefilmen, die durch ein etwas unscharfes Bild und ruckartige Bewegungen gekennzeichnet sind. Gleichwohl beeinträchtigen diese rück verweisenden Einschübe keineswegs das Gefühl der Wiedererkennung und den damit verbundenen Wiederholungseffekt der Ftugha101 fenszene. Die Kritiker reagierten auf diese Erzähltechnik Schlöndorffs eher ratlos und ablehnend, so z.B. Kill, a.a.O.: "Der Film ist eine einzige lange Rückblende [...]. Sie beginnt schwarzweiß und endet mit derselben Szene in Farbe. Was uns der Nach-Dichter Schlöndorff damit sagen will, bleibt unerfindlich." - Oder auch Matthias Rüb: "Der Film beginnt und endet mit derselben Szene - am Anfang in Schwarzweiß, am Ende in Farbe gedreht; das soll vielleicht etwas aussagen, nur versteht man nicht, was." (Matthias Rüb: Ödipus hat heute frei. Max Frischs "Homo Faber", verfilmt von Volker Schlöndorff. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.3.1991.)
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zum Symbol seiner Ödipalen Blindheit, und wieder ertönt seine Stimme über dem stummen Gesicht: "Ich sitze in der Abflughalle. Ich möchte nicht da sein, nirgends sein, - Ich halte nichts vom Selbstmord. Das ändert ja nichts daran, daß man auf der Welt gewesen ist. Und was ich wünschte: nie gewesen zu sein. - Ich habe nichts mehr zu sehen: Ihre zwei Hände, die es nirgends mehr gibt, ihre Bewegung, wenn sie das Haar in den Nacken wirft, ihre Zähne, ihre Lippen, ihre Augen, die nichts mehr sehen. Wo soll ich sie suchen?" Der Film endet hier mit Fabers Aufbruch von Athen, d.h. die Ereignisse nach Sabeths Tod, die in der zweiten Station des Romans geschildert werden, ebenso wie Fabers Krankheit und sein eigenes voraussehbares Ende wurden im Film nicht berücksichtigt, ein Umstand, der sich neben dramaturgischen Gründen - wie so oft bei Literaturverfilmungen - auch mit der unabdingbaren Kürzung der Vorlage für die filmische Bearbeitung erklären läßt. Solche Einschränkungen müssen jedoch nicht zwangsläufig zu schlechten Adaptionen führen. Veränderungen der Tiefenstruktur beeinträchtigen den Gesamteindruck einer Verfilmung meist weniger als Veränderungen der Oberflächenstruktur, Daher versuchte Schlöndorff ganz offensichtlich, die Ich-ES des Romans "Homo faber", das stärkste Element seiner Oberflächenstruktur, in den Film zu übernehmen; während man aber dem Regisseur die Wiederholung der Anfangsszene am Ende des Films als durchaus gelungene Konstruktion anrechnen kann, muß man ihm dieses Urteil hinsichtlich der Gestaltung der Erzählperspektive leider verwehren, Der Einsatz der Erzählerstimme, die als voice over die Filmbilder begleitet, verweist deutlich auf eine Ich-ES. Bereits in der Verfilmung des Romans "Die Blechtrommel" von Günter Grass nutzte Schlöndorff diese Technik, um die Doppelfunktion seines Protagonisten als erlebende und erzählende Figur darstellbar zu machen.1^ Die Erzählerkomrnentare im "Homo faber" sind unschwer als Gedanken Walter Fabers zu erkennen. Bereits in der ersten, oben beschriebenen Szene wird der Zusammenhang zwischen Bild und Ton unmißverständlich klar: Man sieht das Gesicht Fabers in Großaufnahme 182
Vgl. Kapitel IV/2.
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und hon dazu seine Stimme; seine Lippen bewegen sich nicht, also sind es seine Gedanken, die wir vernehmen. Die Stimme spricht in der ersten Person Singular, und dieses Ich ist natürlich niemand anderes als die Person, die wir auch im Bild sehen - eine Konvention filmischen Erzählens, die dem Zuschauer aus zahllosen anderen Spielfilmen vertraut ist und keiner näheren Erläuterung bedarf. Fabers Gedanken - "Warum kann es nicht wieder April sein? Und alles andere eine Halluzination von mir." - leiten nun die Rückblende ein, die die eigentliche Handlung des Films darstellt, und kennzeichnen diese somit als seine Erinnerung. Die Subjektivität der folgenden Geschichte scheint dadurch gewährleistet, eine Ich-ES etabliert, die der narrativen Struktur des Romans nahekommt.
4.4 Kommentare des Ich-Erzählers Insgesamt fünfzehnmal meldet sich die Stimme des Ich-Erzählers zu Wort, elfmal in der ersten Hälfte des Films - also bis zu Fabers und Sabeths Zusammentreffen in Paris - und nur noch viermal in der zweiten Hälfte. Die Bandbreite der Kommentare aus dem Off erstreckt sich dabei von eher belanglosen Erklärungen des eigenen Verhaltens über Anmerkungen zum Verhalten anderer bis hin zu Aussagen über Fabers Weltbild, seine Gefühle und Erinnerungen und den weiteren Verlauf der Handlung, Aussagen also, die charakteristische Funktionen eines erzählenden Ich erfüllen. Als Herbert Hencke den abweisenden Faber vor dem Abflug in der Wartehalle anspricht, erklärt Fabers Stimme aus dem Off: "Ich hatte einfach nicht das Bedürfnis, diesen Mann näher kennenzulernen." Fabers ablehnendes Verhalten, sein Desinteresse an einer Unterhaltung mit Hencke, deutlich spürbar und sichtbar allein schon durch das Spiel des Darstellers, wird durch diesen Kommentar zusätzlich betont, geradezu paraphrasiert.183 Ebenfalls paraphrasierend wirken die Worte des Ich-Erzählers während der Notlandung der Super-Constellation in der mexikanischen Wüste: "Die Notlandung war nichts als ein blinder Schlag, ein Sturz vornüber in die Bewußtlosigkeit." Genau dieses sieht 183
Vgl. Kapitel IV/3.
224 man auch: Das Flugzeug setzt unsanft auf, und Faber fällt im Halbdunkel des Passagierraums ruckartig nach vorne. Das Bild verdunkelt sich und wird ausgeblendet. Polarisierend hingegen erscheint beispielsweise Fabers Kommentar in der Szene, in der er nach New York zurückkehrt und Ivy in seiner Wohnung vorfindet. Faber, dessen Gefühle für Ivy längst abgekühlt sind, verhält sich zurückhaltend höflich und freundlich, seine Gedanken allerdings - "Ich hatte ihr geschrieben, daß Schluß ist, schwarz auf weiß. Sie nahm es einfach nicht zur Kenntnis." - entlarven sein Verhalten als Maskerade. Ivy ist ihm zur Last geworden, und ihr Festklammern an ihrer brüchigen Beziehung bleibt ihm unverständlich. Der Off-Kommentar leistet hier mehr als die lediglich paraphrasierenden Worte in den zuvor beschriebenen Szenen; er gibt zusätzliche Informationen, die das Filmbild nicht liefern kann, dem Bild jedoch besondere Bedeutung verleihen. Die polarisierende Wirkung dieses Kommentars macht die Distanz zwischen erlebendem Ich und erzählendem Ich besonders deutlich. Fabers Doppelfunktion als handelnde Person und als erzählende Person wird hier greifbar durch seine Präsenz im Bild und durch seine Präsenz im Ton, eine Präsenz, die nicht nur paraphrasierend beschreibt oder umschreibt, sondern selbst gestaltend wirksam wird und die Rezeption der visuellen Komponente der Szene beeinflußt. Am offensichtlichsten aber wird die narrative Funktion des Ich-Erzählers in Kommentaren, die über die eigentliche Filmszene, in der sie zu hören sind, hinausgehen und so die distanzierte Haltung und das größere Wissen des erzählenden Ich gegenüber dem erlebenden Ich bewußt machen. Erzählerkommentare dieser Art gibt es in Schlöndorffs Film nur zweimal. Zuerst, als Faber mit den übrigen Passagieren des abgestürzten Flugzeugs in der Wüste auf Rettung wartet. Über einer Totalen, die die Super-Constellation im Zwielicht der untergehenden Sonne zeigt, hört man seine Stimme: "Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, Aber ohne diese Notlandung hätte ich vielleicht nie wieder von Hanna gehört. Ich wüßte heute noch nicht, daß ich Vater bin. Und vielleicht würde Sabeth noch leben. - Es war eine ganze Kette von Zufallen, aber dennoch im Rahmen der Wahrscheinlichkeit. Wieso also Fügung?"
225 Der Ich-Erzähler Faber greift hier der Handlung voraus und erwähnt seine Vaterschaft und den Tod Sabeths, Dinge, von denen er nur deshalb wissen kann, weil er als Erzähler den Ablauf und das Ende der Geschichte bereits kennt. Ein Wissen dieser Art verrät er ein zweites Mal gegen Ende des Films. Faber und Hanna besuchen Sabeth kurz vor deren Tod im Krankenhaus; Hanna hält dabei Vater und Tochter voneinander getrennt. Faber beobachtet die beiden Frauen, die im Garten Spazierengehen und leise miteinander reden. Seine Stimme aus dem Off: "Ich habe nie erfahren, was Hanna ihr wirklich gesagt hat. Und sie sorgte dafür, daß ich nicht mit ihr sprechen konnte." Auch mit diesem Kommentar beweist Faber, daß er die zukünftigen Ereignisse, Sabeths Tod und seinen Abschied von Hanna, schon kennt. Der Zuschauer sieht also Faber als Erlebenden im Bild, nimmt ihn durch seine Off-Stimme aber auch als Erzählenden wahr. Schlöndorffs Versuch, die Ich-ES des Romans in den Film zu übernehmen, zeigt sich somit am deutlichsten in der Konzeption der Erzählerkommentare; das voice over-Verfahren erfüllt seine Funktion als distanzierendes Element, als ein Instrument der Mittelbarkeit, das den Protagonisten Faber eindeutig als Erzähler der Geschichte kennzeichnet. Daß die Drehbuchautoren Schlöndorff und Wurlitzer darüber hinaus Zitate aus Frischs Roman - mehr oder weniger wörtlich - als Kommentare des Ich-Erzählers einsetzten, erhöht die Affinität des Films zur literarischen Vorlage.184 Die Übereinstimmung auf der sprachlichen Ebene soll die Werktreue der filmischen Adaption garantieren.
4.5 Die visuelle Gestaltung Neben der sprachlichen Ebene präsentiert der Film dem Zuschauer aber auch eine visuelle Ebene, und gerade diese Ebene ist es ja, die die spezifische Qualität des kinematographischen Mediums ausmacht. Der Es zählt zu den charakteristischen Merkmalen vieler Literaturverfilmungen, den jeweiligen Autor der literarischen Vorlage auf diese Weise zu Worte kommen zu lassen - entweder durch eine Erzählerstimme aus dem Off oder durch eingeblendete Textinserts - und das Spezifische seiner Sprache und seines Stils so in den Film zu transportieren. Vgl. dazu Kapitel IV.
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Einsatz sprachlich-literarischer Gestaltungsmittel ist völlig legitim, und Schlöndorff versteht es sehr wohl, das filmische Element des OffKommentars einzusetzen, um die Ich-ES des Romans auf der Tonspur des Film nachzugestalten. Der entscheidende Faktor aber ist das Bild; und die Bilder hätten - entsprechend der Vorgabe einer Ich-ES - die Bilder Walter Fabers sein müssen, seine subjektive Rekonstruktion der Ereignisse. Doch die visuelle Gestaltung des Films entzieht sich der Perspektive, die die Kommentare des Ich-Erzählers suggerieren, der Einsatz kinematographischer Elemente zielt auf eine andere Wirkung ab. Schlöndorff s "Homo faber" ist nicht die persönliche, von Faber erlebte, erinnerte und erzählte, somit auch von Faber strukturierte und gestaltete Geschichte, die gerade durch die Art und Weise, wie sie erzählt wird, so viel über ihren Erzähler und Protagonisten verrät, Schlöndorffs "Homo faber" ist vielmehr der distanzierte Blick auf diese Geschichte und deren Hauptfigur. Die Großaufnahme Fabers in der Abschiedsszene zu Beginn und am Ende des Films ist eine der wenigen Ausnahmen in der Reihe von Totalen, Halbtotalen und Nahaufnahmen; die Kamera rückt dem Protagonisten nie besonders nahe, sondern bleibt eher auf Distanz. Selten begleitet sie ihn, statt dessen verweilt sie häufig an Orten, die Faber bereits verlassen hat, beispielsweise in der Szene, in der Faber abends überraschend seine New Yorker Wohnung verläßt und Ivy alleine zurückbleibt: Faber läuft aus dem Bild, die Kamera aber verharrt auf Ivy, die enttäuscht am Tisch sitzt, den sie zuvor liebevoll für ihr gemeinsames Abendessen gedeckt hatte. In gleicher Weise läßt Faber die Kamera hinter sich zurück, wenn er an seinem Geburtstag das Tanzfest im großen Saal des Schiffes verläßt, um an Deck zu gehen, wenn er den Louvre in Paris verläßt und wenn er Sabeth - zunächst - alleine im Restaurant zurückläßt, bevor er sich entschließt, mit ihr nach Griechenland zu reisen. Die Kamera ist also nicht an Faber gebunden, sondern wählt sich ihre Blickrichtung quasi selbst; das Prinzip der detached camera suggeriert auch hier die Unabhängigkeit des Bildes von Faber und verweist auf eine außenstehende Instanz, die den narrativen Bilderfluß steuert.
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Die Perspektive Fabers wird auf diese Weise immer wieder durchbrochen, seine Funktion als Erzähler, als wahrnehmender und wiedergebender Mittelpunkt der Geschichte, die durch seine Off-Kommentare verdeutlicht werden soll, wird kinernatographisch nicht umgesetzt. Zu Beginn des Films flieht Faber vor der zudringlichen Redseligkeit Herbert Henckes in den Toiletten- und Waschraum des Flughafens von Caracas. Dort hat er einen Schwächeanfall und wird ohnmächtig. Die Szene findet sich auch in Frischs Roman - hier spielt sie sich allerdings auf dem Flughafen von Houston, Texas, ab - und ist ein gutes Beispiel für die subjektive, eingeschränkte Wahrnehmung des Protagonisten in seiner Rolle als erlebendes Ich: "Nach dem Zoll, nach der üblichen Schererei mit meiner Kamera, die mich schon um die halbe Welt begleitet hat, ging ich in die Bar, um einen Drink zu haben, bemerkte aber, daß mein Düsseldorfer bereits in der Bar saß, sogar einen Hocker freihielt - vermutlich für mich! - und ging gradaus in die Toilette hinunter, wo ich mir, da ich nichts anderes zu tun hatte, die Hände wusch. Aufenthalt: 20 Minuten. Mein Gesicht im Spiegel, während ich Minuten lang die Hände wasche, dann trockne: weiß wie Wachs, mein Gesicht, beziehungsweise grau und gelblich mit violetten Adern darin, scheußlich wie eine Leiche. Ich vermutete, es kommt vom Neon-Licht, und trocknete meine Hände, die ebenso gelblich-violett sind, dann der übliche Lautsprecher, der alle Räume bedient, somit auch das Untergeschoß: Your attention please, your attention please! Ich wußte nicht, was los ist. Meine Hände schwitzten, obschon es in dieser Toilette geradezu kalt ist, draußen ist es heiß. Ich weiß nur soviel: - Als ich wieder zu mir kam, kniete die dicke Negerin neben mir, Putzerin, die ich vorher nicht bemerkt harte, jetzt in nächster Nähe, ich sah ihr Riesenmaul mit den schwarzen Lippen, das Rosa ihres Zahnfleisches, ich hörte den hallenden Lautsprecher, während ich noch auf allen vieren war Plane is ready for departure. Zweimal: Plane is ready for departure. Ich kenne diese Lautsprecherei, All passengers for Mexico-Guatemala-Panama, dazwischen Motoren lärm, kindly requested, Motoren lärm, gate number five, thank you. Ich erhob mich." '85
185
Frisch, a.a.O., S. l Of.
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Faber beobachtet sich im Spiegel, er fühlt sich nicht gut, ist verwirrt, er fallt in Ohnmacht und kommt wieder zu sich - über die Zeit dazwischen kann er nichts sagen -, er sieht die farbige Putzfrau, die sich über ihn beugt, und hört die Lautsprecherdurchsagen, unterbrochen vom Lärm startender Motoren. Alle diese Eindrücke sind sehr subjektiv und verstärken somit die Wirkung der Ich-ES. In der Verfilmung sieht diese Szene folgendermaßen aus: Faber und Herbert Hencke sitzen sich in der Wartehalle des Flughafens gegenüber, Faber halbnah im Hintegrund, Herbert nah, mit dem Rücken zur Kamera, im Vordergrund. Faber entschuldigt sich, steht auf und geht aus dem Bild; Herbert dreht den Kopf und blickt ihm nach. In der nächsten Einstellung verlassen die Passagiere den Wartesaal durch den Ausgang, der in einer Halbtotalen zu sehen ist. Herbert bleibt stehen und blickt zurück, hält Ausschau nach Faber. Die dritte Einstellung: Faber halbtotal im Wasch- und Toilettenraum. Er steht vor einem Spiegel, die Kamera beobachtet ihn von der Seite. Aus dem Off ertönt seine Stimme: "Im Augenblick, als unser Flug aufgerufen wurde, wußte ich, was es war. Sein Gesicht erinnerte mich an Joachim." Die Kamera schwenkt nun leicht nach rechts, Faber selbst läuft nach vorne, bis er in Nahaufnahme zu sehen ist. Er schwankt etwas und stützt sich an der Tür einer WC-Kabine ab. Die vierte Einstellung zeigt in einer Halbtotalen das Rollfeld und die Passagiere, die sich zum wartenden Flugzeug begeben. Herbert blickt sich erneut um. Fünfte Einstellung: Nahaufnahme der Stewardeß, die am Ausgang des Wartesaals steht, nach einem Lautsprechermikrophon greift und Faber aufruft. Die sechste Einstellung kehrt in den Waschraum zurück und zeigt in einer Halbtotalen die farbige Putzfrau, die an das Waschbecken tritt und dort Fabers abgelegten Hut entdeckt. Sie blickt sich um in Richtung Kamera und erschreckt. Die siebte Einstellung gibt mit subjektiver Kamera den Anblick wieder, der die Reaktion der Frau auslöste: Faber halbnah, am Boden neben der Tür der WC-Kabine liegend. Achte Einstellung; Die Putzfrau in einer Halbtotalen; sie läuft nach vorne auf Faber zu und spricht ihn an.
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Neunte Einstellung: Nahaufnahme Fabers, halbsitzend, halbliegend auf dem Boden. Der Blickwinkel der Kamera von oben auf Faber herab signalisiert wiederum eine subjektive Einstellung. Zehnte Einstellung: Nahaufnahme der Putzfrau, die auf Faber blickt und zu lachen beginnt, erleichtert darüber, daß er noch lebt. Die elfte Einstellung zeigt wieder Faber in Nahaufnahme, wieder eine subjektive Einstellung aus der Perspektive der Frau; er erhebt sich vom Boden. Zwölfte Einstellung: Die Frau, ebenfalls in Nahaufnahme, hilft Faber auf. Er bedankt sich. Dreizehnte Einstellung: Halbtotale des Flugzeugs auf dem Rollfeld. Die Motoren starten. Vierzehnte Einstellung: Faber tritt aus dem Wasch- und Toilettenraum und setzt sich den Hut auf. Er nähert sich der vor ihm zurückweichenden Kamera bis zur Nahaufnahme. Fünfzehnte Einstellung: Der Wartesaal in einer Totalen. Faber blickt sich im leeren Saal um und nimmt sein Gepäck auf. Die Stewardeß nähert sich ihm und führt ihn schließlich zum wartenden Flugzeug. Im Gegensatz zur literarischen Vorlage beschränkt sich der Film nicht auf die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten und Erzählers, sondern zeigt in einer alternierenden Montage abwechselnd Faber und die startbereite Maschine auf dem Rollfeld, beziehungsweise die Stewardeß, die nach Faber sucht. Die Filmszene weicht somit von der subjektiven Perspektive der Vorlage ab und erreicht durch ihre kinematographische Gestaltung die Wirkung einer auktorialen Erzählhaltung: Die Kamera bleibt nicht auf Fabers Erleben beschränkt, sondern präsentiert unabhängig von ihm den weiteren Verlauf der Handlung auch außerhalb seines Wahrnehmungsbereiches. Auch verzichtet Schlöndorff auf den Einsatz einer subjektiven Kameraeinstellung, die beispielsweise Fabers Erwachen aus der Ohnmacht und den Anblick der farbigen Putzfrau, die sich über ihn beugt, filmisch sehr wirkungsvoll vermittelt hätte. Statt dessen sieht man den am Boden liegenden Faber dreimal in subjektiven Einstellungen aus der Sicht der Putzfrau (Einstellungen 7, 9 und 11). Somit aber rückt sie stärker in die Rolle der subjektiv Wahrnehmenden und bietet sich dem
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Betrachter eher als Identifikationsfigur an, während Faber seinerseits zum Objekt ihrer Wahrnehmung - und dadurch auch zum Objekt der Wahrnehmung der Zuschauer - wird. Die Bilder erzählen also eine Geschichte, die nicht allein der Subjektivität Fabers entsprungen sein kann. Die kinematographische Gestaltung zeichnet ihn nicht als erlebenden oder gar erzählenden Mittelpunkt der Handlung aus, sondern stellt ihn - wie eine beliebige andere Figur auch - nur dar. Detached camera und Montage lassen die Bilder nicht nur Fabers Sicht der Dinge wiedergeben, sondern vermitteln dem Zuschauer auch Geschehnisse, die außerhalb der Wahrnehmung des Protagonisten stattfinden. Die subjektive Erzähl weise des Romans ist in der Verfilmung also einer eher distanzierten Betrachtung gewichen, die Ich-ES wurde - auf der kinematographischen Ebene - durch eine auktoriale ES ersetzt. Die Szene, in der Faber den Louvre besucht und sich Gemälde und Skulpturen ansieht, deutet zumindest die Möglichkeit einer subjektiveren kinematographischen Gestaltung an. Wenn Faber einige Kunstgegenstände näher betrachtet, geben drei Einstellungen seinen Blick in einem konventionellen Schuß-Gegenschuß-Verfahren wieder. Die gebundene, auf Faber und dessen Wahmehmnung konzentrierte Kameraführung erzeugt hier für wenige Augenblicke eine personale ES. Entdeckt die Kamera dann aber Sabeüi, die Faber im Museum heimlich beobachtet, und folgt ihr in ebenfalls drei Einstellungen, so wird die personale ES gewissermaßen neutralisiert, kehrt die distanzierte, auktoriale Erzähl weise wieder zurück. Denn Faber kann Sabeth nicht sehen, er ahnt noch nichts von ihrer Anwesenheit; der Kamerablick wird also von einer übergeordneten Instanz gesteuert, die über mehr Wissen verfugt als Faber. Eine weitere Szene verdeutlicht die auktoriale Struktur des Films: Faber und Sabeth sind auf dem Weg nach Athen; einen Tag vor ihrer Ankunft dort, ruft Sabeth ihre Mutter Hanna an. Die Szenen zeigt Hanna an ihrem Arbeitsplatz, einer Sammelstelle für archäologische Funde, als sie der Anruf erreicht. Sie nimmt das Telefongespräch entgegen und unterhält sich mit ihrer Tochter. An dieses Ereignis wird sich Faber schwerlich erinnern können, da er überhaupt nicht anwesend war. Möglich, daß Sabeth ihm erzählt hat, daß sie ihre Mutter telefo-
231 nisch gesprochen hat, doch hätte Schlöndorff dann - einer Ich-ES konsequent folgend - diese Unterhaltung zwischen Sabeth und Faber zeigen müssen, nicht aber Hanna im Gespräch mit Sabeth. Da die Filmhandlung nun jedoch eine subjektive Erinnerung Fabers sein soll und durch die Off-Kommentare eindeutig als Ich-ES charakterisiert ist, fällt diese Szene - ungeachtet der Tatsache, daß sie inhaltlich und dramaturgisch völlig überflüssig erscheint - als logischer Bruch in der narrativen Struktur auf. Sie stellt ein Ereignis dar, das Faber in dieser Form niemals erlebt hat und folglich in dieser Form niemals erzählen kann. Auch hier scheint sich ein auktorialer Erzähler in den kinematographischen Diskurs eingeschlichen zu haben, der die Gesetzmäßigkeiten einer subjektiven Ich-ES mißachtet und sich frei in Raum und Zeit zu bewegen weiß.
4.6 Ich-ES und auktoriale Bildgestaltung Die Off-Kommentare des Ich-Erzählers Faber erzeugen zweifellos eine Ich-ES, doch die subjektivierende Wirkung dieser spezifischen Erzählhaltung wäre durch eine personale Gestaltung der visuellen Ebene mit Sicherheit verstärkt worden. Es wurde an anderer Stelle bereits darauf hingewiesen, daß das entscheidende Element einer filmischen Ich-ES der Kommentar des Ich-Erzählers sei, daß die kinematographische Gestaltung der visuellen Ebene dabei eher zweitrangig erscheine, Man kann dennoch feststellen, daß eine Ausrichtung der visuellen Gestaltung an narrativen Formen und Prinzipien einer personalen ES der Erzeugung einer filmischen Ich-ES entgegenkommt. Das subjektive Erleben einer Figur, die auf der auditiven Ebene als Erzähler fungiert, läßt sich kinematographisch am besten durch eine personale ES vermitteln, also durch eine gebundene Kameraführung, die Verwendung zahlreicher Groß- und Nahaufnahmen und die Anwendung einer unauffälligen Schnittechnik. So erhält das erzählende Ich mit gleicher Eindeutigkeit seine visuelle Entsprechung im erlebenden Ich. Schlöndorff s "Homo faber" jedoch kombiniert den Ich-Erzähler mit einer vorwiegend auktorial gestalteten Bildebene. Dadurch wird der Ef186
Siehe Kapitel V/5.
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fekt der Subjektivität spürbar reduziert. Zwar hon der Filmbetrachter Fabers erzählende Stimme, doch er sieht ihn aus überlegener, auktorialer Distanz. Der Verlauf seiner Geschichte und sein eigenes Verhalten werden damit nicht mehr zu subjektiven Aussagen, die im Roman noch als Konstruktionen und Interpretationen Fabers entlarvt und durchschaut werden konnten, sondern sie gelten als objektive Wahrheit, als eine Wirklichkeit, die von einer auktorialen Instanz registriert und ungebrochen weitergegeben wird. Der unbestechliche auktoriale Blick, der zum Blick des Zuschauers selbst wird, suggeriert die Wahrhaftigkeit dieser Wirklichkeit und läßt den Betrachter keine Sekunde lang daran zweifeln, daß sich diese Geschichte tatsächlich so abgespielt hat, wie er sie sieht. Verstärkt wird die Wirkung der auktorialen kinematographischen Gestaltung noch durch den Umstand, daß in der zweiten Hälfte des Films die Off-Kommentare nur noch viermal eingesetzt werden, somit lange Strecken des Films unkommentiert bleiben und allein durch die Bilder getragen werden. Es kommt zu einer Kollision der beiden Erzählhaltungen, der Ich-ES einerseits und der auktorialen ES andererseits. Unterstreicht der Erzählerkommentar die Subjektivität der dargestellten Filmhandlung, so bemüht sich die visuelle Gestaltung um Objektivität und distanzierte Betrachtung. Die Pointe der literarischen Vorlage - der effektvolle Gebrauch einer Ich-ES, deren Struktur den Erzäiiler unglaubwürdig macht und so auf packende Weise dessen verdrängte Schuld sichtbar werden läßt - geht dabei verloren. Das verdrängende Ich Fabers ist aus den Bildern gewichen. Und damit ist auch ein Teil seiner schweren Schuld von ihm genommen. Frischs Protagonist verschließt seine Augen vor seiner Schuld, indem er markante Ereignisse seiner Geschichte zunächst verdrängt und erst sehr viel später in seinem Bericht schildert: Die erste gemeinsame Nacht mit Sabeth und der tödliche Unfall seiner Tochter. Dadurch entsteht die fragmentierte Erzähl weise des Berichts, die achronologische Abfolge der Geschehnisse. Schlöndorffs Film hingegen schildert die Ereignisse - innerhalb der großen Rückblende chronologisch. Der distanzierte Blick einer auktorialen Instanz begleitet Faber und Sabeth auf ihrer gemeinsamen Reise und gibt Ereignis für Ereignis in chronologischer Reihenfolge wieder. Hier gibt es keinen
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Ich-Erzähler, der seine Schuld spürt und verdrängt und durch seine Verdrängung und Verstellung die Schuld verdoppelt.187 Die Nacht in Avignon - der Inzest - wird zweimal gezeigt. Das erste Mal, chronologisch an der richtigen Stelle, begleitet die Kamera Sabeth, die nachts ihr Zimmer verläßt, durch den Korridor des Hotels eilt und an Fabers Tür klopft. Die Tür öffnet sich, Faber blickt auf die junge Frau, beide umarmen und küssen sich, und die Kamera fährt von einer Halbnah- auf eine Nahaufnahme heran. Die nächste Einstellung zeigt den Morgen danach. Wird die Szene beim ersten Mal abgeblendet, als sich Faber und Sabeth in die Arme fallen, so wird sie beim zweiten Mal - auf Hannas Frage hin gesteht Faber in Athen, daß er mit Sabeth geschlafen hat und erinnert sich in einer Rückblende an ihre erste gemeinsame Nacht - weitergeführt. Diesmal sieht man die Szene aus Fabers Sicht: Er sitzt in seinem Zimmer, mit dem Rücken zur Kamera; es klopft, er geht zur Tür und öffnet sie. Im Korridor vor ihm steht Sabeth. Die beiden umarmen und küssen sich. Es folgt eine Überblendung auf eine Nahaufnahme, die die Liebenden eng umschlungen im Bett zeigt. Der Inzest wird in dieser Wiederholung eindeutig und unmißverständlich dargestellt. Die Eindeutigkeit dieser zusätzlichen Einstellung aber scheint überflüssig. Da das Abbrechen solcher Liebesszenen nach dem ersten leidenschaftlichen Kuß eine filmische Konvention ist, wird kein Zuschauer die explizite Darstellung des Beischlafs in der ersten der beiden Szenen vermissen. Was nach dem Kuß geschehen wird, ist eindeutig genug und bedarf keiner weiteren Explikation. Somit ist dem Filmbetrachter bereits von dieser Szene an das Verhältnis der beiden Protagonisten zueinander klar. Die Wiederholung dieser Szene mit der zusätzlichen Einstellung kann daher nicht als Offenbarung einer bisher verdrängten
187
Leber, a.a.O., S. 21, weist zu Recht darauf hin, daß Fabers Verdrängen und sein Schweigen über den genauen Hergang des Unfalls ihn zusätzlich schuldig am Tode seiner Tochter werden lassen. Hätte Faber den Unfall Sabeths zur richtigen Zeit wahrheitsgemäß und vollständig berichtet, so hätte man sie im Krankenhaus entsprechend behandeln und vielleicht retten können. So aber blieb ihre Schädelfraktur unerkannt und die Behandlung gegen das Schlangengift nur unvollständig.
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Tatsache wirken; sie zeigt nichts, was man nicht schon wüßte und vorher bereits mitgeteilt bekommen hätte.188 Die auktoriale Inszenierung führt in exakter chronologischer Reihenfolge Fabers schmerzlichste Erinnerungen vor. Der Effekt der schuldbeladenen Verdrängung, strukturbildendes Element des Romans, findet somit in der Verfilmung keine Entsprechung. Dies gilt auch für die Darstellung des tragischen Unfalls, der zu Sabeths Tod führt. Schritt für Schritt registriert die Kamera die Ereignisse, ohne dabei Fabers zutiefst empfundene Furcht und Schuldgefühle zu berücksichtigen, die ihn als Berichterstatter in Frischs Roman lange davon abhalten, den genauen Hergang des Unglücks zu schildern.189 Als Enthüllung einer lange verschwiegenen und verdrängten Wahrheit kann die Wiederholung der Avignon-Szene nicht gelten, eines aber macht sie deutlich: Der Zuschauer sieht die gleiche Szene aus zwei verschiedenen Perspektiven. Zuerst aus der Perspektive Sabeths - die Kamera folgt ihr durch den Hotelkorridor und steht mit ihr vor Fabers Tür -, das zweite Mal aus der Perspektive Fabers - die Kamera
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Vgl. dazu Andreas Kilb: Die Fälschung. "Homo Faber" oder Die Liebe zur Literatur. In: Die Zeit (Hamburg), 22.3.1991: "Als Faber erfährt, daß er mit seiner eigenen Tochter geschlafen hat, bricht er zusammen, aber man sieht es nicht. Als aber Hanna, die Wiedergefundene, ihren Faber fragt, ob er mit seiner eigenen Tochter geschlafen habe, zeigt Schlöndorff in einer Rückblende Faber und Sabeth zusammen im Bett. So führt er uns noch einmal vor, was wir schon verstanden haben. Schlöndorffs Vertrauen in seine Geschichte ist wahrhaftig grenzenlos," Nebenbei sei angemerkt, daß Sabeth im Film stürzt und mit dem Kopf auf einem Stein aufschlägt, bevor Faber bei ihr angelangt ist. Im Roman weicht sie vor ihm zurück und stürzt deshalb über eine Böschung: "Sabeth oben auf der Böschung: Sie hält ihre rechte Hand auf die linke Brust, wartet und gibt keinerlei Antwort, bis ich die Böschung ersteige (es ist mir nicht bewußt gewesen, daß ich nackt bin) und mich nähere - dann der Unsinn, daß sie vor mir, wo ich ihr nur helfen will, langsam zurückweicht, bis sie rücklings (dabei bin ich sofort stehengeblieben!) rücklings über die Böschung fällt. Das war das Unglück." (Frisch, a.a.O., S. 157f.) Die fatale und bedeutungsvolle Situation - Sabeth erschrickt vor dem nackten Faber (vor der Nacktheit Fabers?) - wurde in der Verfilmung ohne ersichtlichen Grund entschärft, verändert, ihrer Brisanz beraubt. Sabeth stürzt nun, ohne Fabers Annäherung überhaupt zu bemerken, da er noch zu weit entfernt (und außerdem bekleidet) ist, und läßt ihn somit einwandfrei schuldlos zurück.
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beobachtet ihn in seinem Zimmer und erblickt mit ihm Sabeth vor seiner Tür. In der Wiederholung dieser Szene blitzt für wenige Augenblicke etwas von den Möglichkeiten einer subjektiven Inszenierung auf, die der Film insgesamt vermissen läßt. Man erkennt die nächtliche Szene wieder und scheint sie mit Faber noch einmal zu erleben. Das Ereignis, das man bereits aus anderer Perspektive gesehen hat, gewinnt nun aber durch die neue Sichtweise eine zusätzliche Dimension, eine Tiefe, die durch die geradezu sinnlich wahrnehmbare Subjektivität der Darstellung entsteht. Keine andere Szene des Films entfaltet diese starke Wirkung. Hier deutet sich ein Spiel mit Perspektiven und subjektiven Erinnerungen an, das Schlöndorffs Fähigkeiten demonstriert, sehr wohl zwischen verschiedenen Erzählhaltungen unterscheiden zu können. Leider jedoch hat der Regisseur diese Fähigkeiten nicht eingesetzt, die visuelle Ebene des Films insgesamt subjektiver zu gestalten, um somit die durch die Off-Kommentare etablierte Ich-ES auch kinematographisch überzeugend zu vermitteln.
4.7 "Die Berge sehen aus wie schlafende Dinosaurier." - Verlust der Subjektivität und der mythologischen Bedeutungsebene Der Zusammenprall von Ich-ES und auktorialer ES erzeugt ein Gefühl von Oberflächlichkeit. Die subjektiven Kommentare des Ich-Erzählers finden keinen Widerhall in den Bildern, sie wirken aufgesetzt. Die Bilder selbst, distanziert und unverbindlich, rühren den Betrachter nicht an, In Kombination mit dem Erzählertext erscheinen sie als unpersönliches Mittel, die Geschichte Fabers illustrativ zu erzählen, ohne deren Subjektivität zu berücksichtigen. "[...] für Walter Fabers Seelen-Stimme und wachsende Verunsicherung", so urteilte ein Kritiker190, "findet der Regisseur kerne Bilder." Wie eindringlich spiegeln dagegen die Bilder in Viscontis "Tod in Venedig" die Stimmung ihres Protagonisten wider! Packend und atmosphärisch gelungen vermittelt die visuelle Gestaltung dieses Films die Empfindungen und die Wahrnehmungen Aschenbachs, Visconti nutzt dazu die kinematographischen Elemente einer personalen ES, die ihre 190
Kill, a.a.O.
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Figuren nicht zu Objekten eines distanzierten Erzählers macht, sondern zu Reflektorfiguren, deren Erleben sich scheinbar unmittelbar in der Darstellung ausdrückt. Berücksichtigt man das bisher gesammelte Wissen über die spezifischen Wirkungsweisen personaler Gestaltungselemente, so kann man sagen, daß im vorliegenden Fall die Etablierung einer personalen ES auf der visuellen Ebene die adäquate Ergänzung zu den Off-Kommentaren Fabers gewesen wäre. Schlöndorffs Film hätte dadurch sehr viel überzeugender die Ich-ES des Romans aufgreifen können; die Bilder wären nicht zur reinen Visualisierung eines gesprochenen Textes degradiert worden, sondern hätten durch ihre subjektive Wirkung selbst narrative Funktionen gewonnen. Bild und Kommentar hätten sich ergänzt und gemeinsam die Illusion einer Ich-ES erzeugt. Mit Fabers Einfluß als erzählender und strukturierender Größe auf der auditiven und der kinematographischen Ebene wäre seine Geschichte dann eine ganz und gar subjektiv erzählte Geschichte geworden. Die personale ES der visuellen Ebene hätte einer auktorialen Distanz keinen Platz mehr geboten, die fälschlicherweise Ereignisse als objektive Wahrheit wiedergibt, die doch nichts als subjektive Konstruktionen und beschwichtigende Erklärungen Fabers sind. Die vollständige Subjektivierung der Erzählhaltung hätte die entstellten Erinnerungen des Protagonisten, seine mühsam überdeckten Selbstzweifel und Verdrängungsversuche durchschaubarer gemacht. Die Brüchigkeit seiner Überzeugungen, die sich in Frischs Roman in der Brüchigkeit und Fragmentierung der Berichterstattung Fabers niederschlägt, wäre in einer filmisch erzählten Welt, die eben auch Anzeichen von Brüchigkeit, Verunsicherung und subjektiv bedingten Fehlinterpretationen der Realität zeigt, deutlicher geworden als in einer Welt, die durch eine stabile, auktoriale Perspektive gekennzeichnet ist. Die Zweifel des Betrachters an Fabers Aufrichtigkeit und seine Skepsis gegenüber Fabers lakonischer, überheblicher Haltung würden sich angesichts einer personal gestalteten visuellen Ebene eher einstellen als angesichts einer auktorial inszenierten Bilderebene, die seine Worte durch objektive Illustrationen scheinbar bestätigt und seine Handlungsweise dadurch rechtfertigt.
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Daß es tatsächlich möglich ist, einen filmischen Diskurs so zu gestalten, daß die gezeigten Ereignisse von den Rezipienten durchaus relativiert wahrgenommen werden, also den jeweils erlebenden und/oder erzählenden Protagonisten als subjektive Aussagen zugeordnet werden können, ohne sie als eindeutig verläßliche Realität zu betrachten, haben Filme wie Akira Kurosawas "Rashomon" (Japan 1950)191, Roman Polanskis "Ekel" (GB 1965) und "Der Mieter" (Frankreich/USA 1976)192 oder auch David Cronenbergs "Naked Lunch" (USA 199l)193 bewiesen. Der Effekt, daß der Betrachter dem subjektiven Bericht einer erzählenden oder sich erinnernden Figur mißtraut, obwohl dieser Bericht filmisch dargestellt wird, läßt sich durch eine personale Inszenierung erreichen. Auch der Bericht Fabers hätte sich durch eine entsprechende kinematographische Gestaltung als rein subjektive Geschichte mit zweifelhaftem Wahrheitsgehalt ausweisen lassen. 1
"Rashomon" schildert den Ablauf eines Verbrechens bei einer gerichtlichen Untersuchung aus der Sicht aller Beteiligten und nimmt dabei jeweils die Perspektive des oder der Berichtenden ein. So wird der Vorgang mehrmals dargestellt und präsentiert sich dem Zuschauer dabei jedesmal - der subjektiven Sehweise der erzählenden Personen entsprechend - anders, " Beide Filme Polanskis erzählen von psychisch gestörten Menschen - einer jungen Frau in "Ekel", einem jungen Mann in "Der Mieter" - und deren subjektiver Wahrnehmung ihrer Umwelt. Die bedrohliche Atmosphäre beider Filme, in deren Verlauf alltägliche Begebenheiten zu beängstigenden Erlebnissen und Nachbarn und Mitmenschen zu zwielichtigen, unheimlichen Gestalten werden, entsteht eindeutig aus dem gestörten Verhältnis der Protagonisten zu ihrem sozialen Umfeld und wird vom Zuschauer ebenso eindeutig als deren subjektives Erleben rezipiert, Cronenbergs Verfilmung des gleichnamigen Romans von William S. Burroughs erzählt von den haarsträubenden Erlebnissen des drogensüchtigen Schriftstellers Bill Lee, der sich in eine phantastische Welt versetzt sieht, in der sich Schreibmaschinen in riesige Insekten verwandeln, er selbst als Agent für ein rätselhaftes Land namens Interzone tätig ist und eine Verschwörung aufdeckt, in die Freunde und Bekannte verstrickt zu sein scheinen. Seine Geschichte ist eine Ausgeburt seiner Drogenträume, eine Reise in die dunklen Bereiche seines Unterbewußtseins, das bevölkert wird von Ungeheuern und Monstrositäten. Die beängstigende, unheilvolle Welt seiner Alpträume und Delirien wird vom Filmbetrachter als subjektive Realität wahrgenommen und kann zweifelsfrei dem von Drogen umnebelten Hirn des Protagonisten Bill Lee zugeordnet werden.
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Durch die dominierende auktoriale Inszenierung ist aber nicht nur die wirkungsvolle Subjektivität der Vorlage verlorengegangen, sondern auch die mythologische Bedeutungsebene, Schlöndorff bekundete in einem Interview sein geringes Interesse an diesem zusätzlichen Aspekt der Geschichte Walter Fabers, und so erscheint es durchaus legitim, daß er die mythologischen Elemente des Romans nicht weiter berücksichtigt. Als Autor und Regisseur der filmischen Bearbeitung des "Homo faber", die ja nur seine Interpretation des Werkes sein kann, muß man ihm die Freiheit zugestehen, der mythologischen Bedeutungsebene keine weitere Beachtung zu schenken. Im Kontext der kinematographischen Gestaltung als entweder auktoriale oder personale ES gewinnt die Frage nach dem Mythos aber wieder an Aktualität. Der auktoriale Blick auf das Geschehen, der den Film prägt, erschwert das Hinfließen mythologischer Elemente. Die Präsenz überzeitlicher Mächte oder Figuren, sei sie auch noch so subtil, ließe die erzählte Welt, objektiv und distanziert von der Kamera präsentiert, unglaubwürdig, wenn nicht gar lächerlich erscheinen. Denn die visuelle Ebene des Films vermittelt dem Betracher durch ihre auktoriale Struktur eine objektive Realität, in der gewöhnlich kein Platz für Mythologisches ist. Daher verzichtet Schlöndorff, der sich für diese auktoriale Struktur entschieden hat, gänzlich auf mythologische Elemente.195 Fabers Reise in den Urwald von Guatemala, sein Aufbruch aus der Sphäre der Zivilisation und westlichen Kultur und sein Eintauchen in ^* Vgl, Sabine Carbon: Amerika in Europa. Ein Gespräch mit dem Regisseur Volker Schlöndorff über seine Verfilmung von Max Frischs "Homo Faber". In: Der Tagesspiegel (Berlin), 17.3.1991. Auf die Frage nach der mythologischen Ebene des Romans - der "antiken Schiene" - antwortete Schlöndorff: "Also komischerweise, die antike Schiene finde ich bei diesem Roman aufgesetzt, ich habe das deshalb auch nicht weiter unterstrichen [...]". Vgl. Volker Baer: Akkurat, aber uninspirtert. Volker Schlöndorffs "Homo Faber" nach Max Frisch. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 28.3.1991: "Schlöndorff bietet auf äußerst gepflegte Weise, doch ohne eigene Inspiration, das äußere Bild des Textes von Frisch, der Kern bleibt ihm verborgen, die Welt der Mythen ihm verschlossen." - Kill, a.a.O.: "Nie kommt einem der Verdacht, daß der stoische, unnahbare Faber des amerikanischen Autors und Musikers Sam Shepard zum Spielball der Götter geworden, von den Erinnyen gehetzt wäre." Rüb, a.a.O.: "Überhaupt ist nie auch nur zu erahnen, daß sich an Faber ein schicksalhaftes Verhängnis vollzieht, dem er nicht entkommen kann."
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die unwirtlichen Regionen Mittelamerikas, eine Reise aus der Gegenwart in die Vergangenheit, eine allegorische Wanderung an den Ausgangspunkt des Lebens, an deren Ende Faber die Leiche seines Freundes Joachim, also den Tod, findet, diese Reise ist in Frischs Roman ausführlich und anschaulich geschildert. Durch die Augen Fabers gesehen, verliert der Urwald seine rein denotative Bedeutung als natürliches Phänomen und gewinnt seine konnotative Bedeutung als wildwuchernder, unbezwingbarer und undurchschaubarer Ursprung des Lebens selbst.196 Die distanzierte Erzählhaltung des Films hingegen läßt Fabers Reise in den Urwald auf lediglich fünf Einstellungen zusammenschrumpfen, die bei weitem nicht den vielschichtigen Eindruck hinterlassen, die die Beschreibungen derselben Reise im Roman erzeugen. Tatsächlich sind diese Einstellungen so nichtssagend, daß man nach wenigen Minuten schon wieder vergessen hat, daß Faber überhaupt im Urwald Guatemalas unterwegs war. Die auktoriale Erzählweise ermöglicht dabei den Sprung von einer Station zur nächsten, von Szene zu Szene, ohne die Bewegung Fabers deutlich zu machen, ohne die Veränderungen in der ihn umgebenden Landschaft sichtbar und deren konnotative Bedeutung dadurch fühlbar zu machen. So wird die lange, beschwerliche Reise in die Wildnis durch die kinematographische Montage aufgehoben, die es der auktorialen Erzählinstanz erlaubt, sich frei und ungebunden durch die erzählte Welt zu bewegen, ohne Rücksicht auf zeitliche Abläufe oder gar subjektives Zeitempfinden nehmen zu müssen. Die Distanz zwischen Zivilisation und Urwald wird hier durch Schnitt und Einstellungswechsel überwunden und ausgelöscht, der Verlauf der Reise selbst, Fabers langsamer Abstieg in das Reich mythologischer Mächte, übersprungen. Die abenteuerliche Reise, die durch Fabers subjektiven Bericht zu einer packenden und bedeutungsvollen Episode des Romans wird, ist in der Verfilmungen auf das Notwendigste verkürzt und durch die sprunghafte, auktoriale Inszenierung ihres symbolischen Wertes beraubt. Eine kinematographische Inszenierung mit personalen Gestaltungselementen hätte Fabers subjektives Erleben dieser Reise zum Ausdruck gebracht. Vgl. zur Symbolik des Urwalds Kranzbühler, a.a.O., S. 218f. und Lubich, a.a.O., S. 66f.
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Der subjektive Blick der Kamera, sein Blick, geringschätzig auf die üppige, sich ständig verändernde, erblühende und absterbende Vegetation gerichtet, könnte die Furcht des Zivilisationsmenschen vor der ursprünglichen Kraft der Natur widerspiegeln und die Bedrohung, die von dieser Kraft ausgeht, deutlich machen. Verstellt der distanzierte, auktoriale Blick die Sicht auf mythologische Elemente, so kann der subjektive, personale Blick diese Elemente wie von selbst zutage fördern. Auf die Darstellung mythologischer Motive zu verzichten, erscheint im Rahmen einer auktorialen Inszenierung daher konsequent. Hätte Schlöndorff die visuelle Ebene seines Films jedoch stärker personal gestaltet, so hätte sich die mythologische Bedeutungsebene quasi selbst mitinszeniert. Das Wirken mythologischer Mächte im "Homo faber", so wurde an anderer Stelle bereits gesagt197, ist lediglich die äußere Form eines im Inneren des Menschen gärenden Konfliktes. Mythologische Konstellationen und Figuren bilden elementare Situationen und Kräfte ab, mit denen das Individuum unweigerlich konfrontiert wird, da es deren Ursachen in sich trägt. Das Schicksal, das Faber trifft, ist kein Zufall; es liegt in ihm selbst begründet und führt ihn unausweichlich zu dem Punkt, an dem er dieses Schicksal, also sich selbst, erkennt, Da der Mythos innere Konflikte widerspiegelt, kann die Darstellung mythologischer Elemente glaubhaft nur durch die Sichtbarmachung dieser inneren Vorgänge inszeniert werden. Das Wirken mythologischer Kräfte ist nur dort spürbar, wo das Wirken der Seele und des Geistes nach außen projiziert erscheint, wo das im Inneren sich entwickelnde und sich vollziehende Schicksal als ein von außen einwirkendes Schicksal begriffen wird. Mit anderen Worten: Es ist Fabers subjektiver Blick allein, der die mythologische Bedeutungsebene des "Homo faber" erst möglich macht. Ein auktorialer Erzähler mag Fabers Leben und seinen Tod schildern, er kann dessen Angst und Konflikte, dessen Schuld und Sühne wiedergeben. Die mythologische Dimension dieses Schicksals kann aber nur Faber selbst verspüren und durch seinen subjektiven Bericht - gewollt oder ungewollt - vermitteln. Fabers innerer Kampf beeinträchtigt seine Siehe Abschnitt 4. l dieses Kapitels.
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Wahrnehmung, sein Erleben und seine Erinnerung an die vergangenen Ereignisse, Sein Blick auf die Welt und sein Blick auf sein Schicksal sind getrübt durch seine innere Verfassung, durch seine Wünsche, Vorstellungen, Bedürfnisse und Überzeugungen. Alle Prozesse, die sich in seinem inneren abspielen, alle Unsicherheiten und Ängste, Schuldbekenntnisse und Verdrängungsmechanismen, werden nach außen projiziert und treten ihm als mythologische Mächte entgegen. Das Schicksal, dem er begegnet und das ihn zu Fall bringt, ist eine Ausgeburt seiner eigenen Existenz, Eine auktoriale Inszenierung kann diesen Zusammenhang von Schicksal, Mythos und subjektivem Empfinden nur schwerlich verdeutlichen. Einer personalen ES hingegen mag es gelingen, mythologische Motive als Projektionen subjektiver Wahrnehmung darstellbar zu machen. Als Frischs Protagonist nach der Notlandung der Super-Constellation in der mexikanischen Wüste steht, betrachtet er die Einöde um sich herum: "Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich furchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Wozu soll ich sie mir einbilden? Ich sehe auch keine versteinerten Engel, es tut mir leid; auch keine Dämonen [...) Ich weiß nicht, wie verdammte Seelen aussehen; vielleicht wie schwarze Agaven in der nächtlichen Wüste. Was ich sehe, das sind Agaven, eine Pflanze, die ein einziges Mal blüht und dann abstirbt. [...] Wozu hysterisch sein? Gebirge sind Gebirge, auch wenn sie in gewisser Beleuchtung, mag sein, wie irgend etwas anderes aussehen, es ist aber die Sierra Madre Oriental, und wir stehen nicht in einem Totenreich, sondern in der Wüste von Tamaulipas, Mexico [...] Ich kann mich auch nicht entschließen, etwas wie die Ewigkeit zu hören; ich höre gar nichts, ausgenommen das Rieseln von Sand nach jedem Schritt. [...] Ich sehe den Sand-Horizont, weißlich in der grünen Nacht, schätzungsweise zwanzig Meilen von hier, und ich sehe nicht ein, wieso dort, Richtung Tampico, das Jenseits beginnen soll." 198
Je hartnäckiger Faber seine Assoziationen verdrängt, desto deutlicher wird die mythologische Konnotation der Szene. Tatsächlich ist Faber 198
Frisch, a.a.O., S. 24f.
242 im Totenreich 'gelandet1, in der "tellurische[n] Unterwelt"199, dem Ausgangspunkt seiner mythischen Reise in die Vergangenheit und zur Selbsterkenntnis. Nur durch seine subjektive Berichterstattung, durch die er seine innersten Gefühle und Assoziationen zwar negieren möchte, dadurch aber erst recht offenbart, wird der mythologische Charakter der Wüste enthüllt. Die mexikanische Wüste, der Urwald Guatemalas, beide sind "Seelenlandschaften"200, deren Geheimnisse nur der subjektive Blick Fabers entdecken kann, auch wenn - oder gerade weil - er seine Augen davor verschließt. ^ In Schlöndorffs Film stehen Faber und Herbert Hencke nach der Notlandung in der Wüste, und Herbert sagt beiläufig: "Die Berge sehen aus wie schlafende Dinosaurier." Nicht Faber ist es, der diese Assoziation hat, sondern Herbert; weil sie offen ausgesprochen - und nicht verdrängt - wird, verliert sie darüber hinaus augenblicklich ihre geheimnisvolle, zwingende Kraft. Es folgt auch kein Kameraschwenk über diese Berge, die wie schlafende Dinosaurier aussehen sollen. Weder sieht oder zeigt die auktoriale Erzählinstanz die urweltlichen Tiere, noch leugnet sie, diese zu sehen. Der Zuschauer erblickt im Hintergrund lediglich einige Hügel, Sand und Felsen und erkennt zweifellos, daß sich Faber und Herbert in der mexikanischen Wüste befinden. Von einem Reich der Toten, einer verlassenen Einöde mythologischen Ausmaßes, die der Leser des Romans zwischen Fabers Worten entstehen sieht, ahnt er jedoch nichts. Eine subjektive Inszenierung dieser Szene mit kinematographischen Elementen einer personalen ES hätte den Doppelcharakter der Landschaft veranschaulichen können. Gebundene Kameraführung, subjektive Einstellungen und Schuß-Gegenschuß-Verfahren hätten bei entsprechender Beleuchtung und Musikbegleitung der Wüstenlandschaft die erwünschte unheimlich-bedrohliche Atmosphäre verliehen, die sie
199
200
Lubich, a.a.O., S. 65.
Kranzbühler, a.a.O., S. 218.
201 In der zitierten Passage fallen die häufigen "Ich sehe "-Paraphrasen auf, die wiederum auf den Ödipalen Motivkomplex Blindheit und Blendung verweisen.
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als mythologisches Totenreich kennzeichnet. Es hätte dazu keiner Worte bedurft.202 Archetypische Konstellationen und Konfigurationen, die Quellen des Mythos, liegen im Menschen selbst, ebenso Tragisches und Schicksalhaftes. Mythologische Konnotationen, wie sie Frischs Roman beinhaltet, lassen sich daher wohl nur durch eine eindeutig subjektive Erzählweise, d.h. durch eine personale ES, erzeugen und darstellen. Der Versuch einer objektiven, distanzierten Gestaltung mythologischer Elemente kann dagegen vermutlich nur scheitern. Schlöndorff unternahm diesen Versuch deshalb erst gar nicht. Bedenkt man aber, wie leicht sich die mythologische Bedeutungsebene des Romans durch eine personale ES der visuellen Ebene in den Film hätte transportieren lassen, so bedauert man, daß Schlöndorff nicht diesen Weg eingeschlagen hat. So verschenkt die Verfilmung viel von ihrer literarischen Vorlage, vieles geht verloren zwischen den Off-Kommentaren des Ich-Erzählers und den distanzierten Bildern einer auktorial gestalteten visuellen Ebene, zuviel vielleicht, denn der überwiegende Eindruck, den der Film beim Betrachter hinterläßt, ist Enttäuschung. Frischs Roman führt den Leser in die Untiefen einer zerrütteten Seele, er spiegelt die Psyche eines Mannes wider, der die Dämonen, die in ihm hausen, verleugnet und daran zerbricht; denn sie holen ihn ein und stellen sich ihm als Schicksal entgegen. Schlöndorffs Film fuhrt dem Zuschauer einen Mann vor, der in eine tragische Geschichte verwickelt wird, dessen Schicksal aber nicht unausweichlich erscheint. Die Welt, durch die sich der Faber des Romans bewegt, ist eine von ihm selbst geschaffene, dämonische Welt, eine Welt voller mythologischer Spuren, der er nicht entfliehen kann, weil er sie in sich selbst trägt. Der Faber des Films aber bewegt sich durch eine offene, unbegrenzte Welt der leuchtenden Farben und touristischen Attraktionen - gedreht an Original Schauplätzen in Mexiko, New York, Paris, Italien und Grie-
202
"""· Gesehen hat man derlei filmische Landschaftsbeschreibungen schon oft; jeder Regisseur und Kameramann von Kriminal- oder Horrorfilmen versteht sich auf diese Kunst.
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chenland -, eine Welt, in der die Berge eben nur so aussehen wie schlafende Dinosaurier.
VII. Die Grenzen des Films
1. Der Roman "Berlin Alexanderplatz" Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz"1 aus dem Jahre 1929 ist gekennzeichnet durch die Auflösung einer stabilen Erzählperspektive. Die Geschichte Franz Biberkopfs, der nach vierjähriger Haftstrafe aus dem Gefängnis entlassen wird und nach drei harten Schicksalsschlägen - im Angesicht der zerstörerischen Macht des Todes - endlich lernt, welches die Voraussetzungen für ein anständiges Leben sind, wird vor dem Hintergrund der Großstadt Berlin erzählt, deren vielfältige Facetten in zahllosen Einzelepisoden aufleuchten und die komplexe Struktur des Romans bestimmen. Der nahezu unüberschaubaren Vielfalt des großstädtischen Lebens entspricht die stilistische Vielfalt, mit der Döblin sein Werk gestaltet: Zitate aus der griechischen Mythologie, aus der Bibel, Schlagertexte und Werbesprüche, Statistiken und Straßenbahnfahrpläne, Zeitungsschlagzeilen und naturwissenschaftliche Beschreibungen - all diese unterschiedlichen Quellen vereint der Autor zu einer pulsierenden Mischung, in der sich der Rhythmus der Metropole mit seiner verwirrenden Vielstimmigkeit widerspiegelt. Entsprechend der Bandbreite der eingearbeiteten Quellen unterscheidet sich die narrative Gestaltung einzelner Textpassagen. Die Erzählvarianten erstrecken sich von der bloßen Aufzählung und Reihung von Fakten, dem sensationsheischenden Ton der Presse, der Sentimentalität naiver, kitschiger Liedtexte, der plakativen, oftmals auf Schlagworte verkürzten Sprache der Werbung bis hin zu Bibelparaphrasen, prophetischen Worten und epischen Schilderungen, die die Darstellungen des alltäglichen Lebens im Berlin der zwanziger Jahre durchdringen und überhöhen und einen Blick auf das Alfred Döblin; Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters herausgegeben von Walter Muschg.) Olten/Freiburg im Breisgau 1961.
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wahre Wesen der Dinge und das von mythologischen Kräften gelenkte Schicksal Franz Biberkopfs gestatten. So entsteht eine Collage verschiedenster Textsorten und Erzählstile, eine Montage, in der sich die Multidimensionalität des modernen Lebens - zumal in einer Großstadt des 20. Jahrhunderts - sprachlich niederschlägt. In dieser Fülle unterschiedlicher Sprachschichten aber findet sich konsequenterweise kein Erzähler mehr, der aus einer übergeordneten, auktorialen Position heraus die Übersicht über alle Geschehnisse behält. Vielmehr erzeugt die sprachliche Gestaltung selbst für jeden Teil und für jedes noch so bruchstückhafte Element der Montage eine eigene Erzählperspektive. "Jeder Abschnitt", so stellt Ziolkowski2 fest, "erlangt in und durch die ihm gemäße Sprache eine eigene Stimme." Wenn auch diese "eigene[n] Stimme[n]" eine einheitliche erzählende Instanz ersetzen, so stößt der Leser doch immer wieder auf Textpassagen, die durch ausgeprägte Erzähl Situationen charakterisiert zu sein scheinen. In einem raschen Wechsel ändert sich die Perspektive der Darstellung, verengt sich zu einer subjektiven Innenperspektive, die nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnimmt, um sich gleich darauf sprunghaft zu erweitern und zahllose Einzelheiten des Großstadtlebens, aber auch übergreifende, kosmische Zusammenhänge der menschlichen Existenz schlechthin zu erfassen. Ein Erzähler richtet mehrmals das Wort an den Leser, aber auch an den Protagonisten Biberkopf, er macht Andeutungen über dessen Schicksal, ohne jedoch zu einem zuverlässigen, allwissenden Führer durch das sprachliche und stilistische Dickicht des Romans zu werden; er ist keine ordnende und lenkende Kraft in der verwirrenden Flut von Fakten, Eindrücken und Wahrnehmungssplittern, die gleichermaßen auf Biberkopf und den Leser einstürzt, sondern auch nur ein Teil dieser Vielfalt, ein Gestaltungselernent, das nach dem umfassenden Montageprinzip geformt und verformt wird, das zuweilen in den Vordergrund tritt, gleich darauf wieder verschwindet, um in neuer Gestalt und unter neuen Vorzeichen wieder aufzutauchen. Theodore Ziolkowski: Berlin Alexanderplatz. In: Ingrid Schuster (Hrsg.): Zu Alfred Döblin. (LGW-Interpretationen 48) Stuttgart 1980, S. 128-148, S. 131.
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Welzig spricht von einem "Erzähler [...], der seiner Hauptgestalt gegenüber keine feste Stellung einnimmt, sondern ständig seinen Standort wechselt, vergleichbar einer Kamera, die einmal Nahaufhahmen in Zeitlupe gibt und das andere Mal aus weiter Entfernung Bilder mit verschwimmenden Umrissen. "3 Ähnliches behauptet Martini: "Der Erzähler Döblin ist dauernd neben seinem 'Helden' erzählend, abschweifend, kommentierend und zurechtweisend gegenwärtig. Er stellt sich dem Leser selbst vor und gibt die durchaus persönliche Erzählführung nicht aus der Hand, Erzähltes und Erzähler laufen parallel nebeneinander. Der Erzähler ist bald in seinem 'Helden' darin, bald läuft er beobachtend neben ihm her oder entfernt er sich von ihm bis in weiteste Fernen. Er springt von Standort zu Standort in lebhaftem Wechsel." 4
Gibt es aber wirklich einen Erzähler, der lediglich "ständig seinen Standort wechselt", um den beschriebenen Reichtum an Perspektiven zu erzeugen? Verkörpert dieser deutlich in Erscheinung tretende Erzähler nicht vielmehr nur eine der zahllosen Perspektiven, aus denen das Schicksal Biberkopfs betrachtet wird? Als notwendig und klärend erweist sich an diesem Punkt eine korrekte und erzähl theoretisch überzeugende Benennung literarischer Phänomene. Denn tatsächlich wechselt im Laufe des Romans nicht der Standort des Erzählers, sondern es ändert sich die jeweils dominierende Erzählsituation. Döblins Montageprinzip führt zur "Destruktion des auktorialen Erzählers und Negation der auktorialen Erzählsituation"5; zwar deuten sich in der stilistischen Vielfalt der geschilderten Szenen und Ereignisse immer wieder Tendenzen einer auktorialen ES an, doch haben diese keinen Bestand und hinterlassen im raschen Wechsel der Perspektiven keineswegs den Eindruck einer vorherrschenden Erzählsituation. In et-
4
Werner Welzig: Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1967, S. 117, Martini, a.a.O., S. 343, Helmuth Kiesel: Literarische Trauerarbeit. Das Exil- und Spätwerk Alfred Döblins. (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 89) Tübingen 1986, S. 297.
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nem experimentellen, nahezu parodistischen Spiel6 mit den Formen des Erzählens werden dabei die Möglichkeiten einer auktorialen ES oftmals bis zur letzten Konsequenz realisiert, etwa wenn der Erzähler in einem raschen Überblick den Lebenslauf eines vierzehnjährigen Jungen schildert, der - nach konventionellen Maßstäben - als eigentlich völlig unbedeutende Nebenfigur kurz im Roman erscheint und auch sofort wieder in der Menschenmenge verschwindet: "An der Haltestelle Lothringer Straße sind eben eingestiegen in die 4 vier Leute, zwei ältliche Frauen, ein bekümmerter einfacher Mann und ein Junge mit Mütze und Ohrenklappen. Die beiden Frauen gehören zusammen, es ist Frau Plück und Frau Hoppe. Sie wollen für Frau Hoppe, die ältere, eine Leibbinde besorgen, weil sie eine Anlage zum Nabelbruch hat. Sie waren zum Bandagisten in der Brunnenstraße, nachher wollen beide ihre Männer zum Essen abholen. Der Mann ist der Kutscher Hasebruck, der seine Plage hat mit einem elektrischen Bügeleisen, das er für seinen Chef alt und billig gekauft hat. Man hat ihm ein schlechtes gegeben, der Chef hat es ein paar Tage probiert, dann brannte es nicht mehr, er soll es umtauschen, die Leute wollen nicht, er fährt schon zum drittenmal hin, heute soll er was zuzahlen, Der Junge, Max Rüst, wird später Klempner werden, Vater von 7 weiteren Rüst, wird sich an einer Firma Hallis und Co., Installation, Dacharbeiten bei Grünau, beteiligen, mit 52 Jahren wird er ein Viertel-Los in der Preußischen Klassenlotterie gewinnen, darauf sich zur Ruhe setzen und während eines Abfindungsprozesses mit der Firma Hallis und Co. mit 55 Jahren sterben. Seine Todesanzeige wird lauten: Am 25. September verschied plötzlich an einem Herzschlag mein inniggeliebter Mann, unser lieber Vater, Sohn, Bruder, Schwager und Onkel Paul [sie!] Rüst im noch nicht vollendeten Alter von 55 Jahren. Dies zeigt tief betrübt an im Namen der Hinterbliebenen Marie Rüst. Die Danksagung nach der Beerdigung wird folgenden Text haben: Danksagung! Da es uns nicht möglich ist, jedem einzelnen für die Beweise usw., sprechen wir hiermit allen Verwandten, Freunden, sowie den Mietern des Hauses Kleiststraße 4 und allen Bekannten unsern herzlichsten Dank aus. Ganz besonders danken wir Herrn Deinen für seine innigen Trostworte. - Jetzt ist dieser Max Rüst 14 Jahr alt, grade aus der Gemeindeschule entlassen, soll auf dem Hinweg die Beratungsstelle für Sprachkranke, Schwerhörige, Sehschwache, Schwachbegabte, Schwererziehbare aufsuchen, wo er schon Öfter war, weil er stottert, es hat sich aber schon gebessert." 7 Vgl. Hans-Peter Bayerdörfer: Der Wissende und die Gewalt. Alfred DÖblins Theorie des epischen Werkes und der Schluß von 'Berlin Alexanderplatz'. In: Matthias Prangel (Hrsg.): Materialien zu Alfred Dublin 'Berlin Alexanderplatz'. Frankfurt a.M. 1975, S. 150-185, S. 182. Döblin: Berlin Alexanderplatz, a.a.O., S. 53f.
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Hier spricht ein Erzähler, dessen Allwissenheit sich deutlicher nicht präsentieren könnte. Der direkt nachfolgende Absatz aber zeigt, wie flüchtig und unbeständig diese auktoriale Erzählhaltung tatsächlich ist; "Kleine Kneipe am Rosenthaler Platz. Vorn spielen sie Billard, hinten in einer Ecke qualmen zwei Männer und trinken Tee. Der eine hat ein schlaffes Gesicht und graues Haar, er sitzt in der Pelerine: 'Nun schießen Se los. Aber sitzen Se still, zappeln Se nicht so.' 'Mich kriegen Sie heute nicht ans Billard. Ich Hab keine sichere Hand/ Er kaut an einer trockenen Semmel, berührt den Tee nicht. 'Sollen Sie ja gar nicht. Wir sitzen hier ja gut.' 'Es ist immer dieselbe Geschichte. Jetzt hats geklappt.' 'Wer hat geklappt?' Der andere, jung, hellblond, straffes Gesicht, straffe Figur: 'Ich natürlich auch. Sie dachten, bloß die? Jetzt sind wir ins reine gekommen.' 'Mit ändern Worten, Sie sind raus."" 8
In dieser nahezu dramatischen Gestaltung der Erzählform, in der die Dialoge nur durch knappe Beschreibungen, Regieanweisungen quasi, ergänzt werden, ist kein auktorialer Erzähler mehr spürbar, dessen überlegenes, weit in die Zukunft reichendes Wissen im vorangegangenen Abschnitt noch zum Gegenstand einer narrativen Kapriole wurde. Döblin spielt mit Erzähl Situationen und deren Wirkungen, er scheint ihre 'Belastbarkeit' testen zu wollen und geht dabei bis an ihre Grenzen, um sie sogleich wieder fallen zu lassen und andere Gestaltungsformen für neue Szenen zu finden. So bleibt auch die auktoriale ES nur ein Stadium im ständigen Wechsel der Perspektiven, ein Partikel im vielfältigen Erzählfluß, der immer wieder Anzeichen dieser spezifischen Erzählhaltung hervorbringt, jedoch nicht von ihr beherrscht wird. Ebenso lassen sich Elemente einer personalen ES feststellen. Erlebte Rede und innere Monologe, in denen sich die Innenwelt Biberkopfs dem Leser unmittelbar eröffnet und sich durch subjektive Wahrnehmungen und Assoziationen untrennbar mit der Außenwelt verknüpft,9 rücken den Protagonisten in die Position einer Reflektorfigur, 8
9
Ebd., S. 54f. Vgl. Martini, a.a.O., S. 357ff. und 365.
250 Vor allein in der stellenweise so unmittelbar und plastisch wirkenden Schilderung der pathologisch bedingten Verzerrungen der Wirklichkeit,10 in der sich die Wahnvorstellungen und alptraumhaften Visionen Biberkopfs mischen, zeigt sich eine Tendenz zur personale ES, die den Leser die beunruhigenden Veränderungen der Umwelt durch die Augen der Reflektorfigur Biberkopf selbst erleben lassen. Doch auch hier verändert sich zunehmend das Verhältnis zwischen Protagonist und Rezipient und deren jeweiliger Perspektive. Scheinen die Wahnbilder zunächst stets der subjektiven Wahrnehmung Biberkopfs zu entspringen und ihn somit als psychisch Kranken in einer 'normalen', alltäglichen Welt zu charakterisieren, so entwickeln diese Bilder und Visionen - vor allem die Erscheinungen der Hure Babylon und des personifizierten Todes - im Laufe der Handlung ein Eigenleben, das sie nicht mehr an Biberkopf und dessen Erleben und Empfinden bindet. Sie agieren selbständig und unabhängig von Biberkopf; sie treten nun auch vor dem Leser als Kräfte auf, die tatsächlich existieren, die nicht nur die Phantasie des Protagonisten bevölkern, sondern als elementare Mächte des Lebens Einfluß auf alle Menschen und Dinge nehmen können,11 In dieser Entwicklung von rein subjektiven Visionen zu objektiv existierenden und handelnden Figuren löst sich der dominierende Eindruck einer personalen ES auf; denn die Verunsicherung des Lesers, zu welcher Wahrnehmungs- und Realitätsebene die mythologischen Wesen und Erscheinungen nun tatsächlich gehören, erzeugt auch rückwirkend eine Relativierung der psychopathologischen Wirklichkeitsverzerrungen Biberkopfs und der damit verbundenen scheinbar subjektiven, personalen Darstellung der Ereignisse. In ihrem ständigen Wechselspiel verlieren die literarischen Erzählsituationen ihre perspektivischen Einschränkungen und erzeugen ein Kaleidoskop narrativer Erzählforrnen und -Strukturen, in dem sich die 10
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Döblin verfugte als Nervenarzt über die entsprechende Qualifikation, psychische Störungen und deren Symptome medizinisch exakt zu beschreiben. Vgl. dazu Kiesel 1986, S. 201 ff. und Helmfried E. Klein: Dichter und Nervenarzt. Psychiatrie im Leben und Werk von Alfred Döblin. In: Psycho. Psychiatrie, Neurologic und Psychotherapie für Klinik und Praxis, Nr. l, 1992 (Vol. 18), S. 35^1. Vgl. Kiesel 1986, S. 209ff.
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spezifischen Wirkungen einzelner Erzählsituationen effektvoll durchdringen und zu neuen, vielseitigen Kombinationen verbinden. In "Berlin Alexanderplatz" gestaltet Döblin einen Extremfall dessen, was Stanzel die "Dynamisierung der Erzählsituation"12 nennt. Die Darstellung verharrt nicht bei einer Erzähl situation oder erzeugt unter mehreren Erzählsituationen eine dominante, die das gesamte Werk besonders prägt, sondern wird getragen von einem Wechsel der Erzählsituationen, der seinerseits einen bestimmten "Erzählrhythmus"^ ausbildet. Je häufiger die Erzählsituationen wechseln, desto stärker und prägnanter ist der Erzähirhythmus; Döblins "Berlin Alexanderplatz" ist folglich durch einen äußerst bewegten und kraftvollen Erzähirhythmus gekennzeichnet.14 Während Bayerdörfer darin "eine absolute Synthese [auktorialer und personaler Erzähl Strukturen]"15 verwirklicht sieht, spricht Keller von einer Auflösung der "auktoriale[n] und personale[n] Sicht"16. Der Unterschied dieser beiden Positionen mag letztlich nur in der Formulierung liegen, doch trifft Keller das beobachtete Phänomen mit seiner Umschreibung wesenüich exakter. Auktoriale ES und personale ES gehen keine Synthese ein, die als beständige Erzählform mit Merkmalen beider Erzählsituationen konsistent bliebe, sie werden tatsächlich durch den starken Erzählrhythmus des Romans regelrecht zertrümmert, sie werden immer wieder zerstört und aufgelöst, abgelöst durch neue Erzählvarianten, noch bevor sie sich auf Dauer etablieren können. So be-
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Stanzel 1989, S. 89ff. Ebd.,S.98ff. Hagenbüchle, a.a.O., S. 83, vergleicht die Medien Literatur und Film hinsichtlich ihrer Fähigkeit, die Perspektiven des Erzähivorgangs zu verändern, und behauptet, daß die "Fluktuation [der Erzählperspektiven - M.H.] der Literatur schwerer (falle), da der wortsprachliche Aufwand zur perspektivischen Beeinflussung des Erzählvorgangs wesentlich höher [sei]." Mit einem Blick auf den raschen Wechsel der Erzählsituationen in Döblins Roman lohnt es sich jedoch, Hagenbüchles Behauptung kritisch zu überdenken. Bayerdörfer, a.a.O., S. 181. Otto Keller: Döblins Montageroman als Epos der Moderne. Die Struktur der Romane "Der schwarze Vorhang", "Die drei Sprünge des Wang-lun" und "Berlin Alexanderplatz". München 1980, S. 222.
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zieht sich die "Destruktion" und "Negation"17 nicht nur auf die auktoriale ES allein, sondern auf jede beliebige Erzählsituation als einzige Erzählperspektive überhaupt. Die Zerstörung einer einzigen, durchgängigen Erzählperspektive erlaubt den simultanen Zugriff auf die geschilderten Ereignisse; die Beobachtung und Beurteilung, die Wahrnehmung und Darstellung der Welt und ihrer Phänomene, der Menschen und ihrer existentiellen Belange, der Großstadt und ihrer zahllosen Gesichter werden aus vielen verschiedenen Blickwinkeln möglich. Die Unabhängigkeit von einer einzigen Erzählperspektive und die Freiheit der Erzählform erlauben der Geschichte des Franz Biberkopf, sich vor dem Leser weit zu öffnen, sich episch zu entfalten und dabei sowohl bedeutsame und schicksalhafte Geschehnisse und Vorgänge zu beschreiben als auch kleine, scheinbar unwichtige Episoden und Details zu schildern. Die Vielfältigkeit des modernen Lebens, aber auch die Bedeutung einzelner, winziger Facetten dieser mosaikartigen Vielfalt hinsichtlich der Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Existenzformen des Menschen werden durch Döblins Montagetechnik anschaulich gemacht. Als Ordnungsprinzip in diesem Nebeneinander und Durcheinander unterschiedlichster Realitätsfragmente fungiert keine einheitliche Erzählperspektive mehr, sondern ein komplexes, kunstvoll geknüpftes Netz von Motiven und gleichnishaften Bildern, das sich über sämtliche Erzähl-ebenen spannt, sie durchdringt und ihnen so einen tieferen Sinn gibt. Elemente dieses Motivnetzes sind beispielsweise die Erscheinungen der Hure Babylon19, die Hiob-Paraphrasen20 und das allgegenwärtige Opfermotiv, das hi den Schlachthausszenen21 und der Geschichte Abrahams und Isaaks Gestalt annimmt. Die Bedeutung der vielfach gebrochenen Rea-litätsdarstellung geht somit weit über die bloße Schilderung der zerstückelten, ungeordneten Welt des 20. Jahrhunderts und der Beschreibung eines damit verbundenen 'modernen Lebensgefühls' 17 18 19 20 21 22
Kiesel 1986, S. 297; siehe oben. Vgl. Keller, a.a.O., S. 221 f. Dublin: Berlin Alexanderplatz, a.a.O., S. 260, 320, 419, 467 und 488ff. Ebd., S, 153ff. und 418. Ebd., S. 145ff., 157ff., 245, 385 und 387. Ebd., S. 31 Iff.
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hinaus, Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und Begebenheiten, der Anekdoten und existentiellen Erfahrungen, der Erzählformen und Erzählperspektiven umfaßt sämtliche Dimensionen der physischen Realität, die durch die leitmotivischen Bilder und Bibelparaphrasen zu den metaphysischen Dimensionen des menschlichen Denkens und Handelns durchstoßet werden und noch in den kleinsten Partikeln der beschriebenen Wirklichkeit eine Wahrheit des Daseins durchscheinen lassen, die unabhängig und unbeeinflußt von den Perspektiven oder Standpunkten eines Erzählers zu existieren scheint. Und so spiegelt sich im individuellen Schicksal Biberkopfs, noch in den kleinsten Partikeln seiner Existenz, seines Denkens und Handelns eine überindividuelle Wahrheit wider, ein quasi anthropologischer Reflex über die moralischen und ethischen Bedingungen menschlichen Lebens in der Gesellschaft,
2. Filmische Schreibweise Seit seinem Erscheinen im Jahre 1929 wurde "Berlin Alexanderplatz" immer wieder als Musterbeispiel für einen Roman mit filmischer Schreibweise genannt. Bereits die zeitgenössische Kritik erkannte in Döblins Montagestil einen Einfluß des Mediums Film; kinematographi-
VgL Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur. (Ausgewählte Werke in Einzelbänden. In Verbindung mit den Söhnen des Dichters herausgegeben von Walter Muschg.) Olten/Freiburg im Breisgau 1963, S. 103-132. In dieser programmatischen Schrift aus dem Jahre 1929 fordert Döblin von einem epischen Schriftsteller, die Wirklichkeit realistisch und detailliert zu beschreiben und schließlich zu durchdringen, um die dahinter verborgene Wirklichkeit im Sinne einer elementaren Wahrheit deutlich zu machen: "Der wirklich Produktive aber muß zwei Schritte tun: er muß ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, ihren Geruch, und dann hat er die Sache zu durchstoßen, das ist seine spezifische Arbeit." (Ebd., S. 107) - "Was macht das epische Werk aus? Das Vermögen seines Herstellers, dicht an die Realität zu dringen und sie zu durchstoßen, um zu gelangen zu den einfachen großen elementaren Grundsituationen und Figuren des menschlichen Daseins. [ , . , ] " (Ebd., S. 132)
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sehe Produktionstechniken und Rezeptionsbedingungen schienen sich in der neuartigen literarischen Gestaltung niedergeschlagen zu haben.24 Vor allem im sprunghaften Wechsel der Erzählperspektiven, in der Montage unterschiedlichster Realitätseindrücke und der Simultaneität der dargestellten Ereignisse glaubte man, filmische Gestaltungsprinzipien gefunden zu haben. Doch ein kritischer Blick auf Kaemmerlings Versuch25, die Tragweite dieses kinematographischen Einflusses auf Döblins Stil zu verdeutlichen und den Begriff der filmischen Schreibweise durch eine Gegenüberstellung von Textpassagen mit narrativen Filmtechniken zu präzisieren, zeigt bereits, wie problematisch solch ein Vergleich tatsächlich ist. Kaemmerling zitiert Abschnitte aus Döblins Montageroman und interpretiert Einstellungsgrößen, filmische Zeiterfahrungen oder Montagetechniken Pudowkins und Eisensteins in sie hinein. Auch wenn seine Behauptungen oft so plausibel und sinnfällig erscheinen, sollte man sich vor schnellen, zustimmenden Urteilen hüten. Denn seine Argumentation überzeugt letzt-endlich nicht. In folgender Textpassage beispielsweise glaubt Kaemmerling26 verschiedene Einstellungsgrößen zu erkennen: "Da stehen schon drei Schupos an der Treppe, der erste kommt rauf, die Bullen ziehen durchs Lokal. Der junge, lange Kommissar an der Spitze, die Habens sehr eilig. Mir haben sie genug gejagt, ich hob getan, was ich konnte, bin ich ein Mensch oder bin ich kein Mensch,
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26
Kracauer beispielsweise nennt den Roman irn Jahre 1931 anläßlich seiner ersten Verfilmung "bereits halb und halb ein Filmmanuskript" (Siegfried Kracauer: Von Caltgari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. [Schriften, Bd. 2. Herausgegeben von Rarsten Witte] Frankfurt a.M. 1979, S. 508). Ihering behauptet ebenfalls, "[in] Döblins Roman [sei] die Filrnform vorgezeichnet. Er [sei], übertrieben gesagt, ein geschriebener Film." (Herbert Ihering: Der 'Alexanderplatz'-Film, In: Prangel [Hrsg.] 1975, a.a.O., S. 241243, S. 241) Vgl, außerdem Prangel (Hrsg.) 1975, a.a.O., S. 53ff, und Martini, a.a.O., S. 360, 363 und 366, Ekkehard Kaemmerling: Die filmische Schreibweise. In: Prangel (Hrsg.) 1975, a.a.O., S. 185-198. Ebd., S. 188.
255 Und da zieht er die linke Hand aus der Tasche und steht nicht auf und drückt sitzend ab auf den ersten Schupo, der eben wütend auf ihn losstürzt. Krach. So haben wir alles auf Erden erledigt, so fahren wir in die Hölle mit Trompeten, mit Pauken und Trompeten. Der Mann taumelt beiseite, Franz steht auf, er will an die Wand, sie rennen in Massen von der Tür ins Lokal." 27
Kaemmerling sieht in dieser Szene zunächst eine Totale, dann eine Nahaufnahme des Kommissars, eine Großaufnahme der Hand Biberkopfs, einen "'Gegenschuß in Halbnah' auf den hinzustürzenden Polizisten", eine "'Nahaufnahme mit leichtem Seitenschwenk1" auf den taumelnden Mann und schließlich einen "'schnellejn] Seitenschwenk' zur Tür bis auf die 'Totale', sobald die Menschen in das Lokal drängen."28 Mit Sicherheit können diese Einstellungsgrößen im Entwurf und Ablauf der Szene als sozusagen gedankliche 'Konstruktions- und Imaginationshilfen' herausgelesen werden, sie sind jedoch nicht zwingend. Andere Einstellungsmöglichkeiten und -kombinationen wären denkbar, die diese Funktion ebenfalls erfüllen könnten. Jeder narrative Text ließe sich auf diese Weise in filmische Einstellungsgrößen einteilen, da jeder deskriptive Satz oder Abschnitt in der Regel einen bestimmten Ausschnitt der Realität beschreibt, den man als Großaufnahme oder Totale bezeichnen könnte. Über eine spezifische filmische Schreibweise ist damit noch nichts ausgesagt. Zudem ignoriert Kaemmerling bei seinem Versuch, diesen Abschnitt in filmische Einstellungen zu fassen, all jene Textstellen, die im Zitat kursiv gesetzt sind. Sie entziehen sich einem entsprechenden Zugriff, lassen sich nicht in visuelle Größenkategorien pressen und werden daher von ihm übergangen, um seinen Nachweis einer filmischen Schreibweise nicht zu gefährden. Weiterhin verfährt Kaemmerling äußerst nachlässig und unglaubwürdig, wenn er sich zunächst auf die Montagetheorien und Montagetypen von Eisenstein und Pudowkin beruft,29 dann allerdings Textstellen des Romans mit Montagetypen gleichsetzt, deren Prinzip er äugen2T
"
28 29
Döblin: Berlin Alexanderplatz, a.a.O., S. 449 (Hervorhebungen von mir M.H.). Kaemmerling 1975, S. 188. Ebd., S. 191f.
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scheinlich falsch verstanden hat oder zumindest zu freizügig auslegt, z. B. die Parallelmontage30, oder gar Montagetypen erfindet, die der Film überhaupt nicht kennt, namentlich die "Synchron-Montage"31, nur um einen Absatz Döb-lins zwanghaft zu etwas Filmischem zu machen. An Kaemmerlings Versuch einer Aufdeckung filmischer Erzählprinzipien in Dublins Montagestil ließe sich noch einiges kritisieren, doch sollten diese kurzen Anmerkungen genügen, um zu zeigen, wie leichtfertig die Gestaltung des Romans "Berlin Alexanderplatz" auf den relativ flexiblen und damit auch unpräzisen Begriff der filmische Schreibweise mitunter reduziert wird. Selbstverständlich spielen die Erfahrungen mit dem neuen Medium Film eine Rolle beim Prozeß der stilistischen Orientierung und der kreativen Produktion der Literaten im ersten Drittel dieses Jahrhunderts, die es nicht zu unterschätzen gilt. Döblin selbst fordert für die Gestaltung eines epischen Werkes einen "Kinostil"32. Dennoch wäre es unangemessen und zu bequem, den Film als alleinige Ursache und einziges Vorbild für die literarische Form des Montageromans verantwortlich zu machen; das Phänomen der filmischen Schreibweise läßt sich schließlich nicht allein durch den Kinobesuch der Schriftsteller erklären. Hauser erkennt die Ursache für ein allgemeines kulturelles Phänomen, das alle Künste prägt, zu recht im Lebensgefühl des modernen Menschen: "Das Zeiterlebnis der Gegenwart besteht vor allem in der Bewußtheit des Augenblicks, in dem wir uns befinden - im Gegenwartsbewußtsein, Alles Aktuelle, Zeitgenössische, im gegenwärtigen Moment miteinander Verbundene besitzt einen besonderen Sinn und Wert für den heutigen Menschen, und von diesem Bewußtsein erfüllt, gewinnt das bloße Faktum der Gleichzeitigkeit einen bedeutungsvollen Zug in seinen Augen. Seine geistige Welt ist von einer Gegenwarts- und Gleichzeitigkeitsstimmung erfüllt, so wie die des Mittelalters von einer Jenseitsstimmung und die der Aufklärung von einer Zukunftsstimmung erfüllt ist. Er erlebt die Größe seiner Städte, die Wunder seiner Technik, die Differen30 31
Ebd., S. 193f. Ebd., S. 195f. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur, a.a.O., S. 15-19, S. 17. Vgl. Kapitel H/1.
257 ziertheit seiner Gedankenwelt, die Hintergründigkeit seiner Psychologie im Nebeneinander, in der Verbundenheit und Verschranktheit der Dinge und Vorgänge. Die Faszination des 'Zugleich', die Entdeckung, daß einerseits der gleiche Mensch in ein und demselben Augenblick so viel Verschiedenes, Unzusammenhängendes und Unvereinbares erlebt und daß andererseits verschiedene Menschen an verschiedenen Orten oft dasselbe erleben, daß sich an verschiedenen, voneinander völlig isolierten Punkten der Erde gleichzeitig dasselbe ereignet, dieser Universalismus, den die moderne Technik dem heutigen Menschen zum Bewußtsein gebracht hat, ist vielleicht der eigentliche Ursprung der neuen Zdtkonzeption und der ganzen Sprunghaftigkeii, mit der die moderne Kunst das Leben schildert. Diese Rhapsodik, die den neuen Roman von dem älteren am schärfsten unterscheidet, ist zugleich der Zug, der an ihm am filmischsten wirkt." 33 Am deutlichsten präsentiert sich dieses neue Zeitgefühl in den Industriezentren und Großstädten, in denen das Leben der Menschen seit der Jahrhundertwende neuen sinnlichen Erfahrungen ausgesetzt ist; Geschwindigkeit und Dynamik, Vielfalt, Gleichzeitigkeit und Unüberschaubarkeit prägen das urbane Leben, eine Zersplitterung der Realität, die in ihren unterschiedlichsten Formen und Phänomenen allgegenwärtig zu sein scheint und von allen Seiten auf den Großstadtmenschen eindringt, gleichzeitig aber seine Wahrnehmung und auch sein Bewußtsein verändert und neue kulturelle Bedürfhisse und Produktionsprozesse erzeugt. Der frühe Film, ausgelegt auf Sensationen und überraschende Effekte, bringt diese großstädtischen Erfahrungen mit seinen rasch wechselnden Szenen und Bildern verschiedenster Lebensbereiche visuell zum Ausdruck. Er ist somit ein Medium, in dem sich das veränderte Leben des Menschen und seine veränderte Wahrnehmung in einer zunehmend industrialisierten und technifizierten Welt exemplarisch niederschlägt.^4 Unabhängig davon reagierten jedoch schon die traditionellen Künste, Malerei, Musik und Literatur, auf die sich weiterentwickelnden Lebensbedingungen der Moderne.
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Arnold Hauser: Im Zeichen des Films. In: Brauneck (Hrsg.) 1980, a.a.O., S. 67-80, S. 70f. Vgl. Paech 1988, S. 64ff. und 122ff.
258 "Diese Bilder zwingen das absolut Verrückte in Erscheinung. Man schreit vor Angst und Entsetzen. Diese Bilder sind das Innerste, Erschütterndste, Grandioseste, Unfaßbarste, das seit Menschengedenken gemacht worden ist. Daß sie zu Dutzenden zugleich auftreten, ist das erstaunlichste, fürchterlichste Phänomen, das sich denken läßt. Diese (Bilder) in ihrer losbrechenden, ungeheuren Dynamik, ihrer Kraftstrahlenherrlichkeit, ihrer geheimen elektrischen Vibration und Radioaktivität verkünden die Revolution der Unterminierung, der ekstatischen Krankheit, die sich nach Ausbruch sehnt; die Nervenfächer und Rhythmusfelder des Todes, des Lichts, der Dynamos und der Uratome. Eingefangene psychische Tetefunken zetern, schreien und kreisen in zinnobergrünem Getöse. Bewegung der Spermatozoen alles Seins ist festgehalten. Urkraft effulguriert in singenden Linien. Aktiv gewordene zerfetzte Körper tanzen, Lichtgranaten in platzender Wut, Sinfonien und Schwaden von Blut und Gold, Schwangere Himmel und ejakulierte Fixsterne. Rotglühende Männer und aufbrüllende Sklaven, Wahnsinn und Umsturz: atemberaubende heulende Dinge, die kommen werden, die kommen werden," 35
Dies ist nicht etwa die Beschreibung eines kinematographischen Spektakels, sondern einer Ausstellung von futuristischen Gemälden im Jahre 1913. Dynamik und Simultaneität, die Verherrlichung der Technik und einer rauschhaften Beschleunigung in allen Lebensbereichen wurden zu den Kennzeichen der futuristischen Bewegung, die auf alle Formen der Kunst, auch die Literatur, einwirkte. Gemeinsam mit dem Expressionismus und dem Dadaismus suchte der Futurismus die Geschwindigkeit und die verwirrende Vielfalt des modernen Lebens literarisch umzusetzen, die unüberschaubare Hut von Sinneseindrücken und deren nahezu überwältigende Gleichzeitigkeit in Worte zu fassen und stilistisch nachzugestalten.36 Literarische Gestaltungsformen, die später unter dem Begriff der filmischen Schreibweise subsumiert wurden, entwickelten sich bereits im Zuge dieser Kunstbewegungen.
Hugo Ball: Die Reise nach Dresden. In: Ders.: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting. Frankfurt a.M. 1988, S. 11-14, S. 12f. Vgl. dazu Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912-1934). Mit einer ausführlichen Dokumentation. München 1990.
259 Döblin selbst gibt an, Vorformen seines spezifischen Montagestils im Expressionismus und Dadaismus kennengelernt zu haben;37 auch mit dem Futurismus - vor allem mit dessen literarischen Auswüchsen hat er sich kritisch auseinandergesetzt, so daß das Medium Film tatsächlich als nur eine von vielen Größen gelten kann, die Einfluß auf den Stil seines Romans "Berlin Alexanderplatz" genommen haben. Eine filmische Schreibweise kann deshalb nicht einfach nur als die Übernahme kinematographischer Techniken in die Literatur allein verstanden werden.39 Die Entwicklungsreihe, die zu diesem literarischen Phänomen fuhrt, reicht weiter zurück als nur bis zum Film und tiefer als nur bis zur Nachahmung eines technischen Mediums. Eine bestimmte Art der Wahrnehmung, die dem veränderten Lebensund 'Erlebensgefühl' der Menschen in den Großstädten entsprach, verlangte nach einer Entwicklung neuer Darstellungsweisen in den Künsten. Im Film schien sich eine solche Darstellungsweise besonders augenfällig zu manifestieren; hier schienen sich alle Versprechungen der avantgardistischen Kunstbewegungen zu erfüllen,40 und so wurde der Film zu einem Modell und Vorbild für diese neuen Ausdrucks formen stilisiert, zum Inbegriff dynamischer und simultaner Realitätsdarstellung und zu einem Ideal an beschleunigter und sprunghafter Er-
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Alfred Döblin: Epilog. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur, a.a.O., S. 383-399, S. 391. Vgl. Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F.T.Marinetti. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur, a.a.O., S, 9-15. Vgl. dazu Walter Muschg; Nachwort des Herausgebers. In: Döblin: Berlin Alexanderplatz, a.a.O., S. 509528: Muschg bezeichnet Döblins Roman als "reifste Frucht des Berliner Futurismus".(Ebd., S. 510.) Ahnlich äußerte sich bereits Reinhard Baumgart dazu: "Viel ist aus solchen Erscheinungsähnlichkeiten zwischen filmischem und sprachlichem Erzählen noch nicht zu schließen. Doch als bloß technische Mimikry, als eine nur handwerkliche Nachäffung des Kinos im Buch wären sie gründlich mißverstanden, Selbst ein Autor, der nie im Kino gesessen hätte, würde heute filmisch schreiben können, vorausgesetzt, er lebte in der industriellen Gesellschaft, die den Film hervorgebracht hat." (Reinhard Baumgart: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Frankfurter Vorlesungen. Neuwied/Berlin 1968, S. 36.) Vgl, dazu Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, In: Brauneck (Hrsg.) 1980, a.a.O., S. 81-102, S. 94f.
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zähl weise, das er in seiner konkreten Erscheinungsform vermutlich niemals war.41 "Filmische Literatur läßt sich [ , . , ] nicht mehr eindimensional und kontextfrei als Synthese oder Transfer zweier unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Darstellungssysteme beschreiben; filmische Literatur ist vielmehr als der vergegenständlichte Versuch zu begreifen und zu analysieren, bestimmte Wahrnehmungs- und Darstellungsformen der Realität, die Literaten in einer bestimmten geschichtlichen Situation subjektiv im Film ausmachten, auszumachen glaubten oder ausmachen wollten, mit solchen der Literatur intentional zu synthetisieren; ein Handlungszusammenhang, der sich letztlich auch deshalb so vielschichtig darstellt, weil in ihm in der Regel (...) technische Formprinzipien auch mit ausgeprägten Konnotationen besetzt werden." 42
Heiter verdeutlicht, daß Subjektivität und Historizität entscheidende Faktoren bei der Einschätzung dessen sind, was als spezifisch filmisch gilt.43 So kann man aber auch nicht mehr von einer überzeitlichen filmischen Schreibweise an sich sprechen, sondern muß darin eine sprachlich-stilistische Annäherung an eine bestimmte Darstellungsweise sehen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt am deutlichsten durch das Medium Film repräsentiert zu sein schien. Dabei bediente sich die Literatur durchaus eigener Stilmittel, die vor dem Hintergrund der zunehmenden Popularisierung des Films lediglich radikalisiert wurden. Wie weit die sprachliche Gestaltung in diesem Prozeß der Annäherung gehen kann, zeigt Döblins "Berlin Alexanderplatz". Denn die vermeintliche filmische Schreibweise ist hier - pointiert ausgedrückt filmischer als Film.
Müller, a.a.O., S. 92, deutet den Begriff "filmisch" in diesem Zusammenhang als "ästhetische[n] Kampfbegriff", der weit über das Medium Film hinausgeht: "Er stand in der zeitgenössischen Diskussion für eine avantgardistische Ästhetik schlechthin," Heinz-B. Heller; Historizität als Problem der Analyse intermedialer Beziehungen. Die "Technifizierung der literarischen Produktion" und "filmische" Literatur. In: Schöne (Hrsg.) 1986, a.a.O., S, 277-285, S. 281, Vgl. dazu Peter Rusterholz: Literarisch oder filmisch: Entstehung, Bedeutung und Klärung einer Begriffsverwirrung. In: Schöne (Hrsg.) 1986, a.a.O., S. 293301.
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In ihrer sprachlich-stilistischen Umsetzung lassen die filmischen Erzähltechniken ihren Ursprung, den Film, weit hinter sich; auf die "Produktivkraft"44 der Sprache vertrauend, nähert sich Döblin einer filmischen Darstellungsweise nicht nur an, sondern potenziert sie, steigert sie in einem Maße, wie es der konventionelle, narrative Spielfilm kaum könnte.45 "Und schon gondelt Franz Biberkopf, Ziberkopf, Niberkopf, Wiedekopf hopst an das Bett, faßt den durch die Decke an den Kopf, der bewegt sich, die Decke geht hoch, Reinhold sitzt auf. 'Nu mal raus, Reinhold, raus du, kuck dir die an, und dann raus mit dir.' Miezens aufgerissener Mund, Erdbeben, Blitz, Donner, die Gleise durchgerissen, verbogen, der Bahnhof, die Wärterhäuschen umgeworfen, Tosen, Rollen, Qualm, Rauch, nichts zu sehen, alles hin, hin, weggeweht senkrecht, quer. 'Wat is, was is kaputt?' Schreien, Schreien unaufhörlich aus ihrem Mund, qualvolles Schreien, gegen das hinter dem Rauch auf dem Bett, eine Schreimauer, Schreilanzen gegen das da, höher hin, Schreisteine, 'Maul halten, wat is kaputt, hör uff, das Haus kommt zusammen.' Quellendes Schreien, Schreimassen, gegen das da, keine Zeit, keine Stunde, kein Jahr. Und schon hat Franzen die Schreiwelle erfaßt. Ein Tobtohtobsüchtiger.n