Einführung in die Literatur des Refuge: Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428405572, 9783428005574


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German Pages 587 [600] Year 1959

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Einführung in die Literatur des Refuge: Der Beitrag der französischen Protestanten zur Entwicklung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428405572, 9783428005574

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ERICH HAASE

Einführung in die Literatur des Refuge

Einführung in die Literatur des Refuge Der Beitrag der französismen Protestanten zur Entwiddung analytischer Denkformen am Ende des 17. Jahrhunderts Von

Erich Haase

DUNCKER&HUMBLOT / BERLIN

Auf Empfehlung des Romanischen Seminars der Freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Freien UniversitätBerlin und der Ernst-Reuter-Gesellschaftder Fördererund Freunde der Freien Universität Berline. V.

Alle R echte vorbehalten 1959 Duncke r & Humblot, Berlin Ged r uckt 1959 bei Hans Winter Buchdruckerei, Berlin Printed in Germany

®

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Mon

passion

mari avait travaille pendant plusieurs annees avec

a

ce livre que je me fais un devoir de publier puis-

qu'il n'a pas eu le temps de le faire lui-meme. Je tiens

a

re-

mercier de tout cceur ceux qui m'ont aidee, le proprietaire de la maison Duncker & Humblot, Monsieur Johannes Broermann, qui s'est charge en toute amitie de l'edition, Monsieur et Madame Gerhard Oestreich, Messieurs Alfred Thierbach et Klaus Friedrich qui ont bien voulu corriger les epreuves. Berlin, juin 1959.

Michelle Haase

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkungen I. Zur Methode

1

li. Z um T h e m a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Geisteswissenschaftliche Seite der Literarhistorie (1) - Anwendung auf die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (3) - Eine problematische Epoche: 1680-1715 (5) Kontinuität der Literaturbetrachtung (6) - Berücksichtigung von geistigen Untergrundbewegungen (7) - Legitime Ausgangspunkte (8). Allgemeine Kennzeichnung des Stoffgebietes (9) - Darstellungen allgemeiner Art (9) - Die Versuche Taines und Lansons (10) - Problematik der englischen Einflüsse und der Säkularisierung (12) Die Kriterien Hazards (15) - Synthese und Analyse als allgemeine Bestimmungen (15) - Scholastik als Beispiel einer Synthese (19) - Verwendung des Begriffspaares für die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (19) - Die Literatur des Refuge: eine Literatur? (21) Das bisherige Interesse der Forschung (22) -Versuch einer Einführung in die Literatur des Refuge unter dem Aspekt von Synthese und Analyse (24).

Erstes Kapitel: Ausgangspunkte I. Synthetische

Denk-

und

Lebensformen

im

17. J a h r h u n d e r t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

Der absolutistische Staat (26-31): Reaktion auf die Wirren des 16. Jahrhunderts (26) - Einordnung der drei Stände (26) - Königtum und aristokratische Lebensform als Basis der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung (30) - Die Denkform des Descartes (32-38) : Reaktion auf unzulängliche Systemversuche und Skeptizismus (32) Synthetische Kraft und Totalitätsanspruch des cartesianischen Systems (32)- Das Echo· in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (35)- Vom esprit de systeme zum esprit systematique (38) - Die Dichtung der Klassik (38-50): Spiegel der Gesellschaft und der neuen Philosophie (38) - Gemeinsame Grundzüge von künstlerischer, gedanklicher und gesellschaftlicher Ausdrucksform (41) Die Stoa als gemeinsame Wurzel (43) - Der christliche, katholische Charakter als bestimmendes Kriterium (44) -Verschmelzung von Absolutismus, Rationalismus und Katholizismus im grand siecle zu einem Normbewußtsein (48).

II. D i e P o s i t i o n d e r R e f o r m i e r t e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die politische Bedeutung des französischen Protestantismus (50-59): Ausschlag.g ebende Rolle des Adels (51) - Sein Abfall (54) - Loyalitätserklärungen zur Krone (55) - Verdrängung des reformierten Bürgertums aus dem Zentrum des nationalen Lebens (57) - Der Wert der Wissenschaft (59- 74): Calvins Auffassung (59) Calvinismus und

50

VIII Stoizismus (62) - Verwendung cartesianischer Prinzipien (65) - Erstarrung der reformierten Theologie (70) - Der Fall Labadie (71) Die Bedeutung der Literatur (74-94): Calvins Reserven (74) - Wirkungen der Reformation auf die französische Literatur (75) - Reformierte Kontroversen- und Erbauungsschriften im 17. Jahrhundert (78) - Anpa,ssung an den gout du siecle (81) - Conrart und Gombauld (82) - Prominente Konvertiten (86) - Das Beispiel Pellissons (87) Geistige Vereinsamung der reformierten Partei (89) - Die Revokation als politischer Akt (94).

Zweites Kapitel: Die Verfolgten I. Das Exil Vier Zentren des Refuge: Genf, Berlin, Holland, London (98) - Die Flucht (103) - Schwierigkeiten im Exil (105) - Überlaufende Abenteurer (106) - Die Gründe für die Bekehrung Larroques (107) - Katholische Emigranten: Arnauld und die Jansenisten (110) - Katholische Überläufer (111) - Michel Le Vassor (112).

98

II. D i e P o I i t i s i e r u n g d e r E m i g r a n t e n . . . . . . . . . . . . . . 113 Theologen als geistige Führer im Exil (113) Die Persönlichkeit Jurieus (114) -Seine Lettres pastorales (116) -Politische Alternativen (118) - Der Avis aux Refugiez (120) - Agenten und Diplomaten (122) - Die Folgen des Friedens von Rijswijk (124). III. D i e S i t u a t i o n i n F r a n k r e i c h . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Die geflüchteten Pastoren und die Gläubigen in Frankreich (126) Leiden der verwaisten Gemeinden (128) - Leben als biblische Poesie (130) Jurieus Prognosen {132) - Das Echo bei den Unterdrückten (134) Die Insurgenten (136) - Laienprediger und Propheten (138) Ein Märtyrer: Claude Brousson (141) -Die nouveaux convertis (143) Das Problem der religiösen Hypokrisie (145).

Drittes Kapitel: Das Wort Gottes

I.

A 1 t e u n d n e u e V a r i a t i o n e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Entwicklung im katholischen Lager (148-156) : Die Bewegung des renouveau catholique (148) - Spannungen durch, Jansenisten und Quietisten (149) - Illusionen d er protestantischen Kontroversisten (152) - Katholische Einheitsfront .g egen die R. P . R. (153) Anzeichen religiöser Irulifferenz (154) - Die Erschütterungen des Protestantismus (156-167): Socinianer (157) - Arminianer (160) - Reaktion gegen die entstehende protes,tantische Scholastik (163) - R ationalismus d'Huisseaus und Pajons (164) - Die Eindrücke der Refugies im Exil (167174}: Gottsucher und Gotteslästerer in Holland (168) - Poiret als Typ des religiösen Subjektivisten (168) Abwehr der Socinianer und Anfänge des Pietismus in Deutschland (170) - Latitudinarier 1,md philosophische Neuorientierung in England (171) - Das große Fischnetz (174) - Der innere Zusammenhang von protestantischen und katholischen Variationen (174).

IX

176 Das Suchen nach Wahrheit Das Dilemma der Kontroversisten (176-187): Im Dickicht der ArguDer Antagonismus von Autorität und examen als mente (176) Grundproblem (178) - Existenz, Erkenntnis und Erhaltung der Wahrheit als Leitfaden katholischer und protestantischer Beweisführung (178) - Circulus vitiosus in beiden Lagern (185) - Neue Gesichtspunkte durch die Bibelexegese (187-197): Richard Sirnon (188) - Bedeutung seiner Methode für Katholiken und Protestanten (189) - Testimonium Spiritus sancti und traditionelle Inspirationstheorie als mögliche Auswege der Protestanten (191) - Die rationalistische Kritik als Lösung (195) - Gefahren und GI'enzen der rationalen Methode (197-217): Textkritische Dissertationen und Übersetzungen (197) - Jean Le Clerc (202) - Schwankunrgen seiner theologischen Linie (204) - Die Alternative Papins (207) - Socinianische Konsequenzen bei Le Cene (208) - JurieUIS Reaktion und Widersprüche (211) - Der Antagonismus von Autorität und examen im reformierten Lager (213) - Wirkungen der protestantischen Ultras auf die Refugliles (214). I I.

Die Ver t e i d i g u n g des Christentums ........ 217 Die Situation im 17.Jahrhundert (217-225): Apologetische Versuche (217) - Desavoui.erung der Atheisten (221) - Libertins als gefährlichste Gegner der Religion (223) - Die rationalistische Apologetik der Refugies (225-246): Die Prädestinationslehre als Hindernis (225) - Versuche Abkehr der Refugies von zur Rettung der Willensfreiheit (227) Calvin (228) - Unterschiedliche Bewertung von Transsubstantiation und Trinität (231) - Das Trinitätsdogma als Hindernis (233) - Souverains Argument (237) - Überlegenheitsgefühl der Rationalisten (239) Abbadies klassischer traite (241) - Martin und Jaquelot als Apologeten (244) - Die Reaktion Bayles (246-259): Seine Persönlichkeit (246) Das Echo bei Widerlegung der rationalistischen Apologetik (248) Orthodoxen und Heterodoxen (254) - Bayles undurchsichtige Position (256). III.

Viertes Kapitel: Für und wider Toleranz Wort und Tat ................... ................... .. 261 Das Doppelspiel der Katholiken (261-276): Einigungsversuche zwischen Katholiken und Protestanten im 17. Jahrhundert (261)- Scheitern der Reunionsverhandlung en (263) - Das Urteil der Refugies (266) Methoden des Gewissenszwangs als Beweis der katholischen Intoleranz (267) - Kampf der Emigranten gegen die demonocratie (273) Die Inkonsequenzen der Protestanten (276-286): Ergebnislose EiniNeue Impulse gungsbestrebungen im protestantischen Lager (277) durch die Revokation (279) -Wandlung der Verfolgten zu Verfolgern: das Beispiel Jurieus (281) - Um den Geist von Dordrech.t (284).

I.

286 Z w i s c h e n d e n A 1t e r n a t i v e n Das Problem kirchlicher Toleranz (286-301): Die Fiktion der FundaRelativität in der Anwendung des Begriffs mentalpunkte (287) Schisma (291) - Jurieus System einer Universalkirche (293) - Sein Abstand von Calvin (295) - Vermittelnde und extreme Stimmen (297) - Das Problem ziviler Toleranz: ideengeschichtliche Voraussetzungen (301-316): Die ultima ratio (301) - Bossuet.s Synthese (302) - Das Regime LUJdwigs XIV. als Norm (306) - Naturrechtlicher Staatsbegriff (307) - Das Erbe des Hugo Grotius (309) - Staats- und Toleranzbegriff II.

X

der Reformatoren (309) - Die Theorien der Monarchomaehen (312) Die englische Revolution als Beispiel (315) Das Problem ziviler Toleranz: Stellungnahme der RefUJgies (316-344): Konservative und liberale AiliSichten (316) - Die Theorie Elie Merlats (317) - Ihre Aufnahme im Refuge (320) - Ihre Widerlegung anläßlich der englischen Revolution (322) Jurieus Lehre vom Staatsvertrag (324) Die Soupirs de la France esclave (327) - Das Ideal des Ständestaates (329) - Das Wohl des Volkes und das religiöse Heil (332) - Abkehr von den Staatslehren der Reformatoren (335) Die Inkonsequenzen Jurieus in der Toleranzfrage (337) - Die A:gitation der Heterodoxen (340) - Zwi•schen Totalitarismus und IndifferentismUJs (343). III. D e r m o r a 1 i s c h e A s p e k t . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Die Erschütterung des Normbewußtseins (344-360): Theologische Idealität und historische Realität (344) - Der Begriff der conscience als letzte Steigerung der Kontroversen (346) - Primat des moralischen Gesichtspunktes bei Heterodoxen und Orthodoxen (349} - Abbadies Moral des goldenen Mittelweges (351) - La Placettes Kunst der psychologischen Analyse (352) - Seine Argumente für die Überlegenheit der christlichen Moral (354) - Zwischen Stoizismus und Skeptizismus (356) Bestimmung einer "brauchbaren" Moral (359) - Norm und Gewissen (360--374): Conscience als mot equivoque (360) - Conscience ignorante und conscience errante (362) - Primat der conscience bien instruite (364) - Die Anerkennung chrristlicher Wertmaßstäbe als Häresie und als Utopie (365) - Bayles Relativitätstheorie (367) - Sein Atheistenstaat (368) - Die reine Regung der conscience als moralisches Prinzip (369) - Folgerungen für das Toleranzproblem (371) - Von der Toleranz zur Gewissensfreiheit (372).

Fünftes Kapitel: In der Gelehrtenrepublik I. DieAgentenderrepubliquedes lettres 376 Die gelehrte Betriebsamkeit (376-388): Die Wißbegierde als verbindendes Element (376) - Belebung der katholischen Erudition durch die Kontroversen (379) - Paris als Quelle der Wissenschaften (382) - Zusammenarbeit von katholischen und protestantischen Gelehrten (384)Das Heer der Korrespondenten {385) Die Beiträge der Re.fugies (388-404) : Ihre Vermittlerrolle (388) - Die Vielseitigkeit der Theologen (389) - Die Naturwissenschaftler (392) - Justel und Cha.ppuzeau als Typen der gens de lettres (393) - Sammler, Kompilatoren, Gelegenheitsliteraten (395) - Die Historiker (399) - Geistige Handlanger (401) - Pierre Desmaizeaux als Epigone (402) - Die Übersetzer und Editoren (403) Die Refugies als Journalisten (404-417): Geistige Manager (404) Bayles Disposition als gazetier (405) - Die Vorzüge seiner Nouvelles (4{)6) - Die Mängel der Routinievs (409) - Le Clerc und Ba·s nage de Beauval (412) - Zweitrangige Redakteure (414) - Strukturwandel der Zeitschriften (415) - Der Kontakt mit Frankreich (416). II. Einige Tendenzen der Er u d i t i o n ................ 418 Die Abkehr vom Systemdenken (418-440): Eine neutrale Basis der Erudition (418) - Die Freude am Partikulären (419) - Die Parallelen (421) - Die Vorliebe für das Pseudonym (424) - Die Mode der Ana (425) Die Entdeckung der Geschichte (427) - Für Präzision und Objektivität (429) - Die Gefahr des Relativismus (431) - Die Bedeutung der Kritik (435) - Leichtfertige und ernsthafte Kritiker (436) -

XI Gegen fromme Lügen (437) - Reaktionäre und moderne Züge (438) Bayles Dictionnaire (440--454): Seine wichtigsten Vorgänger (441) Bayles Sondierung des Wesentlichen (442) - Seine Geschiehtsauffassung (445) -Seine Bewertung des historischen Faktums (447)- Die Diskussion des Obszönen als Beispiel seiner Methode (449) - Die Aktualität des Dictionnaire (452).

III. Illusionen und Misere eines Sendungsb e w u ß t s e i n s . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Einige Fiktionen der Gelehrten des Refuge (454--470): Das Postulat eines goldenen Mittelwegs (455) - Die Fortschrittsideologie (459) Eine Rektoratsrede Barbeyracs (461) - Pazifistische Tendenzen (462) Überwindung nationaler Vorurteile (466) - Ein christliche r Kosmopolitismus (468) - Der Kontrast von Schein und Sein (470--491): Die ständige Ernüchterung (470) - Kampf aller gegen alle (472) -Die formalen Mängel ·(476) -Ursachen des style rejugie (478) -Die Sprachgesinnung der Emigranten (479) - Zwei Spielarten des style refugie (481) - Das Dilemma zwischen Krieg und Frieden (483) - Patriotische Nuancen (484) -Schattenseiten des Kosmopolitismus (485) - Gregorio Leti (487) - Das Leben als Lotterie (489).

Schlußbemerkungen I. Z u r P r o b l e m a t i k d e r B e n e n n u n g "L i t e r a t u r d e s R e f u g e " . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Unterschiede zur Literatur von Port-Royal (493) - Unterschiede zur französischen Literatur außerhalb Frankreichs (495) -Unterschiede zur Literatur als sprachlicher Kunstform (497} - Das Begriffspaar SyntheseAnalyse als Hilfsmittel der Orientierung (498). II. Zur Problematik des Beitrags der Refugies z u r E n t w i c k l u n g a n a i y t i s c h e r D e n k f o r m e n . . 499 Der Wiedereintritt des Protestantismus in die französische Geistesgeschichte: Kehrseite und Verfall des grand siecle (499) - Die Revokation als große Chance (502) - Die äußeren Resultate der Verfolgung: Entwertung der Motive des Exils (503) -Die Beseitigung der reformierten Kirchenpartei in Frankreich (506) - Die Resultate der Diskussion um das Wort Gottes: Der Brucll :zmischen Glauben und Denken (509)Die B€deutung der theologischen Argumente der Refugil!s für das katholische Frankreich (511) - Die Resultate der Toleranzkontroversen: Auswertung der theologischen Diskussionen und Auflösung traditioneller Normen (5.14} - Reflexe in Frankreich (518) - Die GelehrtenrepUlbUk als Brücke zum siecle philosophique: Die Einordnung der Erudition des Refuge in die französische Geistesgeschichte (520) -Verbindungslinien zur Aufklärung (523) - Der Beitrag der Retugies zur Entwicklung analytischer Denkformen (526).

Quellenverzeichnis I. Ha n d s c h r i f t l i c h e Q u e 11 e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 li. G e d r u c k t e Q u e ll e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578

Hinweise In den Anmerkungen wei!cLen folgende Abkürzungen verwendet: BAM

BibliO!theque ancienne et moderne cf. LE CLERc

BC

Bibliotheque choisie cf. LE CLERc

BU

Bibliotheque universelle cf. LE CLERc

Bull.

Bulletin de la Societe de l'Histoire du Protestantisme

Dict.

Dictionnaire historique et critique cf. BAYLE

HOS

Histoire des Ouvrages des

NRL

Nouvelles de la Republique des Lettres cf. BAYLE, LARROQUE,

oc

CEuvres completes cf. BossuET

OD

(Euvres diverses cf. BAYLE

S~avans

fran~ais

cf. BAsNAGE

BERNARD

· In dem angeführten Quellenverzeichnis werden von den Handschriften nur diejenigen Blätter, von den Druckschriften nur diejenigen Titel genannt, die in den Anmerkungen erscheinen. In Anmerkungen und Quellenverzeichnis wird nach Möglichkeit die zeitgenössische Orthographie beibehalten.

Vorbemerkungen I

Die Erforschung der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts fand bisher größere Aufmerksamkeit als die anderer Zeitabschnitte. Mehrere Gründe mögen dafür richtunggebend gewesen sein: die zeitliche Nähe der aufkommenden Literaturkritik im 19. Jahrhundert, die Fülle der vorhandenen Dokumente und damit die Möglichkeit, die literarischen Zusammenhänge nahezu lückenlos überschauen zu können, vor allem aber die reiche Entfaltung und die Wirkungen des französischen Geistes in jenen Jahrhunderten. Die Forschung versuchte, bestimmte Begr.iff·e herauszuarbeiten, welche der Übersichtlichkeit dienen und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gleichsam unter bestimmte Nenner, unter gewisse Formeln bringen sollten. Die Literarhistoriker adoptierten dabei mehrere Wertmarken, die den Begriffsfeldern der politischen Historie, der Philosophie- und Kunstgeschichte entstammten. So entstanden Begriffspaare wie Klassik und Aufklärung, Barock und Rokoko, grand siecle und siecle philosophique, die nicht eigentlich als literarhistorische Benennungen anzusehen waren, sondern die einer Erfassung geistesgeschichtlicher Beziehungen innerhalb einer Epoche den Weg ebneten. Nicht mehr die einzelne literarhistorische Erscheinung - etwa der Roman der Mme de La Fayette oder das Theater Voltaires - rückte damit in den Vordergrund des Interesses. Es ging vielmehr um die Funktion, welche das einzelne Phänomen im Dienste eines größeren Zusammenhanges ausübte, der seine eigentliche Determination bald vom gesellschaftlichen Milieu, bald von der bildenden Kunst, bald von der Theologie oder der Philosophie bekam. Das Kausalprinzip hielt damit erneut Einzug in die Literaturwissenschaft, nachdem es auf dem Wege der sog. positivistischen Methode bereits !Daten und Fakten der literarischen Denkmäler zu denen ihrer Autoren in Beziehung gesetzt hatte. Man ging dar.an, die Ursachen für ein bestimmtes Werk in dem Geist der Zeit, in der es entstand, zu suchen. Nur die Dimensionen deT Ursachenforschung schienen sich verändert zu haben: die Beziehungen zwisch·en biographischem Detail und literarischer Produktion traten hinter eine weitgespannte Problematik zurück, die mehr und mehr auf die Totalität der geistigen und künstlerischen Manifestationen einer Epoche, gleichsam auf ein universales Terrain zielte, um ein bestimmtes literarisches Phänomen darauf ansiedeln zu können. Es konnte 1

Haase, Literatur des Rduge

Vorbemerkungen nicht ausbleiben, daß dabei manches vornehmliehe Anliegen der Literarhistorie, wie z. B. die Erforschung der dichterischen Ausdrucksformen, in den Hintergrund gedrängt wurde. Das literarische Kunstwerk wurde als ästhetisch gesehene Einheit aufgegeben: es wurde vor allem seinem Inhalt und seinem ideologischen Sinngehalt nach betrachtet und war seiner Form nach nur noch so weit interessant, wie sich daraus bestimmte Kriteri·e n ableiten ließen, die eine Annäherung an andere, außerhalb der Dichtung stehende Ausdrucksformen gestatteten. Es galt, Inhalt und Form der Dichtung als Elemente zu einem großen Tableau zusammenzufügen, das als gemeinsames Programm den verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen vorschwebte. Unter den literarischen Denkmälern erhielten dabei manche Zeugnisse eine wichtige Bedeutung, die bei einer begrenzten geschichtlichen Darstellung der eigentlichen Dichtungsgattungen am Rande bleiben oder g.ar wegfallen mußten. Der Begriff der Literatur wurde erweitert. Es ging nicht mehr nur darum, eine Analyse dessen zu geben, was zum Gefallen geschrieben und zu vollendetem sprachlichem Ausdruck, zur Harmonie von künstlerischem Wollen und Können gelangt war; es wurde vielmehr alles in den Kreis der Betrachtung gezogen, was irgendwie bestimmend bei der Schöpfung des sprachlichen Kunstwerkes sein konnte: nicht weniger als der Bewußtseinsinhalt eines ganzen Zeitalters. Und die dem Lit·erarhistoriker neu anfallenden Stoffmassen nötigten ihn, zur Dichtung bald philosophische Kriterien in Beziehung zu setzen, bald die politischen Manifeste, die juristischen, theologischen und naturwissenschaftlichen Schriften zu sondieren, und - vor allem - den Bildungsstand und den Geschmack des PubHkums der vernchiedenen Epochen zu analysieren. Das Ziel solchen Bemüheru; war die Kenntnis der "geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit" 1 , der Weg für den Literarhistoriker die Erforschung der historischen, ideologischen und soziologischen Hintergründe der jeweiligen Literaturdenkmäler. Der so erweiterte Gegenstand der Forschung erforderte Spezialstudien, die mehr und mehr den inneren Zusammenhang aller Lebens- und Denkformen aufzeigten und die Enge einer einseitig auf die sprachliche Form konzentriertEn Literaturwissenschaft sprengten. Die Etappen dieses Verfahrens zeichneten sich bereits im 19. Jahrhundert ab. Wenn Sainte-Beuv·e in s einem Port-Royal die Entwicklung der jansenistischen Bewegung nachzeichnete, so ging er bereits von der Ideengeschichte aus, um deren Niederschlag .in einzelnen literarischen Phänomenen zu suchen. Einen Schritt weiter noch tat Taine, als er glaubte, die literarische Produktion bis auf die Gesetze der Naturwissenschaft zurückführen zu müssen. Auch die folgenden französischen Kritiker von Brunetiere über Faguet bis 1

Dilthey, Gesammelte Schriften, t. I. pp. 4 ff.

Zur Methode

3

zu Lanson blieben in ihren Arbeiten bemüht, literarische Erscheinungen in ihren geistesgeschichtlichen Bezügen zu deuten und damit g.egen eine ästhetisierende l'art pour l'art-Auffassung, gegen den Standpunkt des Genießensund Nacherleben5 zugurusten desjenigen des Erkennens Stellung zu nehmen. Die Literaturwisseruschaft sicherte sich so allmählich innerhalb dP.r Geisteswissenschaft eine führende Rolle, und es fiel ihr dank des komplexen Charakters ihres Gegenstandes in besonderem Maße zu, die Stoffgebiete anderer Disziplinen heranzuziehen. Die Eigenart der französischen Literatur des 17. und noch mehr der des 18. Jahrhunderts schien ein derartiges Verfahren geradezu herauszufordem. Es wurde bald erkannt, daß die Literatur der sog. Klassilc als vollendeter Ausdruck einer höfischen Kultur anzusehen und die Literatur der Aufklärung als Vorbereitung für die große Revolution und als Ausgangspunkt für die Denkformen des 19. Jahrhunderts zu werten waren: man sprach von dem grand siecle Ludwigs XIV. und meinte damit das Kunstwerk des absolutistischen Staates, de m die verschiedenen Lebens- und Denkformen - also auch die Literatur als dienende Funktionen einzuordnen waren; man nannte das 18. Jahrhundert das siede philosophique und verstand darunte11 den Charakter eines Zeitalters, das alle Lebensgebiete einer philosophischen Methode zu unterwerfen suchte. Zweifellos wurde damit die geistige Physiognomie der be~den Jahrhunderte etwas einseitig gekennzeichnet. Wenn auch der Terminus grand siecle für das Theater der Klassik und die Kanzelrede Bossuets verbindlich sein mochte, so schien sich ihm doch z. B. der Roman Scarrons zu entziehen; und so treffend sich die Bezeichnung siecle philosophique auf die Werke Voltaires anwenden ließ, so unzulänglich erwies sie sich. beispielsweise hinsichtlich des Lyrismus Andre Cheniers. Beide Bezeichnungen blieben problematisch, w eil sie, obwohl jeweils für ein ganzes Jahrhundert verwendet, eigentlich nur einen Teil davon bezeichneten- so grand siecle die Jahre der Hochklassik von 1660 bis 1680 und siecle philosophique unter Zurückstellung der sog. Sensibilitäts-Literatur die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts mit den Rationalisten Montesquieu und Voltaire 2• Ungeachtet dieser Mängel, die nur das menschliche Unvermögen, die Totalität der Erscheinungen unter einer Formel zu erfassen, demonstrierten, erwiesen sich jedoch beide Benennungen als w ertvolle Orientierungszeichen für die Forschung: sie dienten dazu, den geistigen Kem der beiden Epochen näher zu bezeichnen, eine Fülle von Problemen aufzuwerfen 2 Neben Lanson und Trahard, die in ihren Arbeiten jcd-= einseitige Betrachtung der beiden Jahrhunderte ad absurdum führten, wies u. a. Schürr, Barock, Klassizismus und Rokoko in der f ranzösi schen Literatur (1928) auf die Problematik der Benennungen, im besonderen auf die Polarität BarockKlassizismus im 17. Jahrhundert, hin.

t'

Vorbemerkungen und schließlich die beiden Jahrhunderte voneinander abzugrenzen. Es entstanden, um nur einige Beispiele aus der deutschen Forschung zu nennen, Arbeiten über die Bezi,ehungen der klassischen Literatur zu Descartes, über die politische Moral des Theaters Corneilles, über die philosophischen Anschauungen Molieres oder über die politische Rolle Voltaires3 . Den Einzelstudien folgten weiträumige Problemstellungen - so Studien über die Wirkungen der Klassik und damit des französischen Kultureinflusses auf Europa oder über die Bedeutung der europäischen Geistesgeschichte für die Enzyklopädisten4• Gelegentlich rückten auch Themen in das Blickfeld der Literarhistoriker, die sich nicht unmittelbar an einen repräsentativen Dichter anschlossen, wie die Beleuchtung der Persönlichkeit Gassendis oder die Untersuch.ung·en über die Struktur des Publikums im 17. Jahrhundert zeigten5 . In allen diesen Arbeiten dokumentierte sich das Bestreben, die Literatur in Verbindung mit ihrem geistesgeschichtlichen Hintergrund zu werten. Der Literarhistoriker glaubte sich um so eher dazu berechtigt, je mehr ·er den Beziehungsreichtum der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts erkannte. Allerdings beschränkten sich diese geisteswissenschaftlichen Exkurse mit wenigen Ausnahmen darauf, von Werken auszugehen, deren künstlerische Vollendung allgemein anerkannt war und die sozusagen zum Stammkapital der Literarhistorie gehörten. Es stand außer Frage, zum Verständnis von Corneilles Horace die Staatslehren Richelieus und zur Erklärung von Diderots Neveu de Rameau die soziale Struktur des 18. Jahrhunderts heranziehen zu müssen. Beide Werke, als anerkannt repräsentative LiteraturDenkmäler ihrer Zeit, schienen den Rückgriff auf die allgemeine Geistesgeschichte zu legitimieren. Die Frage, ob die Höhepunkte der Literatur mit den Ausdrucksformen anderer Künste und mit den Etappen der wissenschaftlichen Entwicklung in Beziehung gesetzt werden sollten oder nicht, wurde so stillschweigend beantwortet. Auch die deutsche Forschung folgte hierbei dem Vorbild der französischen Kritik, welcher seit Sainte-Beuve die organische Einheit der Lettres bewußt geblieben war. Akut wu11de das Problem erst, als sich der 3 Friedrich, Descartes und der französische Geist (1937), Krauss, Corneille als politischer Dichter (1936), Mönch, Voltaire und Friedrich der Große (1943), Wechssler, Moliere als Philosoph (1910). 4 Neubert, Die französische Klassik und Europa (1941), Schalk, Einleitung in die Encyclopädie der französischen Aufklärung (1936). 5 Auerbach, Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung (1951), Hess, Pierre Gassend. Der französische Späthumanismus und das Problem von Wissen und Glauben (1939). über die Notwendigkeit, bei

der Behandlung der frz. Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts einen breiten geistesgeschichtlichen Hintergrund einzubeziehen, cf. Neubert, " Textkritik" im 18. Jahrhundert ..., Germ.- Rom. Monatsschrift, 1927, p. 230; ferner unseren Artikel Das literarhistorische Interesse an den Toleranzkontroversen ..., ibid., 1952, pp. 138 ff.

Zur Methode

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Literarhistoriker vor Zeitperioden gestellt sah, die keine repräsentativen sprachlichen Denkmäler aufwiesen. War er hier, an den Tiefpunkten der literarischen Entwicklung, berechtigt, ebenso zu operieren wie an den Gipfeln? Vielleicht sollte er schweigen und den geistesgeschichtlichen Hintergrund beiseite lassen, weil es keinen literarischen Vordergrund gab. Aber konnte er dann nicht riskieren, wichtige Zusammenhänge zu übersehen, die womöglich erst in späteren Blüteperioden der Literatur ihren Niederschlag fanden? War es ihm andererseits zuzumuten, die Bezirke der Fachliteratur der Juristen, der Theologen, der Philosophen ·e tc. zu betreten, ohne in Gefahr zu geraten, alles Geschriebene überhaupt als Literatur ansehen zu müssen? Die Schwierigkeiten des Problems traten vor allem bei der Beurteilung der Zwischenperiode auf, die nach dem Höhepunkt des grand siecZe einsetzte und bis zum Beginn der eigentlichen Aufklärung andauerte: der Jahre 1680 bis 1715. Schon die zeitlichen Grenzen dieser Periode abzustecken war kompliziert. Man gewöhnte sich daran, die Entretiens sur la pluralite des mandes Fontenelles (1686) schon dem 18. Jahrhundert zuzurechnen, zählte aber Ft'melons Telemaque (1699) noch zum 17. Die Ausläufer der Klassik, noch in Racines Spätwerken (Esther 1689 und Athalie 1691) sichtbar, fielen mit den Anfängen der Aufklärung, am deutlichsten durch den Dictionnaire Bayles (1697), zusammen. Schwieriger noch war es, eine begriffliche Abgrenzung zu finden. Lanson sah in der Entwicklung des Esprit philosophique das wichtigste Kennzeichen dieser Periode6 • Hazard nannte sie die Crise de la conscience europeenne und rückte sie mit seinem gleichnamigen Buche in den Vordergrund des Interesses. So anregend dieser Versuch war, so problematisch mußte er doch für die Literarhistoriker bleiben. Waren sie berechtigt, sich einer Epoch·e zuzuwenden, die nach Hazards eigenem Zeugnis eine Zeit ohne Poesie war und die - von Streit und Alarm und unausgegorenen Gedanken erfüllt - nicht d er sprachlichen Form, sondern den .Argumenten ihrer literarischen Produkte Wert beimaß7? Schon Lanson sah sich vor dieselbe Frag·e gestellt und zu einigen grundsätzlichen Bemerkungen genötigt. Er erinnerte an die Frage, ob die Revolution auf die französische Literatur des 18. Jahrhunderts zurückzuführen wäre, und fand sowohl in der Bejahung wie 6

Lanson, Formation et dev eloppement de l 'esprit philosophique du

XVIIIe siecle, R ev . d es cours et conjeren ces 1909/ 10. Der esprit p hilosophique war für L. " ... quelque chose qui s'est developpe dans des ouvrages

de caractere litteraire autant que philosophique. Cet esprit ne s'est pas developpe dans des ouvrages faits pour un petit nombre de lettres, mais pour le grand public, pour tous ceux qui, en France et en Europe au XVIIre siecle, s'interessent a la litterature. Ce sont des ouvrages qui s'adressent a tous les gens cultives . .. " ibid., 17e annee, 1re serie, p. 357. 7 Hazard, La crise de la conscience europeenne, pp. 351 ff. und Prefac'?, p. IX.

Vorbemerkungen

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in der Verneinung dieser Abhängigkeit bestäti.gt, daß die Geschichte der Literatur nicht von der Geschichte der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fakten getrennt werden kanns. Selbst wenn man die Einflüsse Voltaires und Rousseaus auf die Akteure von 1789 leugnen wollte, so wären die Werke dieser beiden Autoren doch nicht ohne die politische Entwicklung im 18. Jahrhundert zu denken. Die historisch.en Fakten, die Zeugnisse aus den verschiedensten Bezirken des Geisteslebens und die eigentliche Literatur bedingten sich gegenseitig in diesem Zeitraum wie in jedem anderen. Grenzen zwischen diesen drei Faktoren können deshalb nicht mehr als provisorische Orientierungsmöglichkeiten, als Ausgangspunkte sein: aHe drei ergänzen sich, bald dem einen, bald dem anderen den Vorrang sowie Ursache oder Wirkung gebend. Der Hof Ludwigs XIV. determinierte Dichter wie Moliere und Racine; ein zweitrangiges Epos, der Clavis von Desmarets de Saint-Sorlin, entfachte die umfangreiche Querelle des Anciens et des Modernes, die eine seit Descartes' Auftreten latente Spannung zur Entladung brachte urud bald vom rein ästhetischen auf allgemein geistesgeschichtliche Bezirke übergriff; und die Frequente Communion Amaulds zog nicht nur die Provinciales Pascals nach sich, sondern bestimmte zugleich weite Kreise der aristokratischen Gesellschaft. Sollte die Literarhistorie, die im Bereich des 17. und 18. Jahrhunderts den Ursachen urud Wirkungen literarischer Strömungen in den verschiedenen Bezirken des Geisteslebens nachging, die Grenzperiode beider Abschnitte vernachlässigen - nur weil letzter·e keine Denkmäler aufweist, die durch formale Schönheit hervorragen? Es hieße zweifellos die Kontinuität der Betrachtung aufgeben. Die Kontinuität der Entwicklung scheint ohnehin in Frage gestellt zu sein. Denn der Charakter der beiden Jahrhunderte mutet zu verschieden an, als daß man das 18. als natürliche Fo}ge des 17. ansehen könnte. Schon Sainte-Beuve sagte - dem damaligen Stande der Forschung entsprechend-, daß das 17. Jahrhundert als ein betont christliches Zeitalter eine dem Heidentum zugewandte Entwicklung unterbrach, die erst von den Aufklärern aufgenommen und weitergeführt wurde9. An Gemeinsamkeiten scheinen beide Jahrhunderte auf den ersten Blick hin auch nur die rationale Methode und den Führungs8 Lanson, Origines et premieres manifestations de l'esprit phitosophique dans la litterature frant;aise, de 1675 d 1748, Rev. d. cours et conf., 1008/9,

forderte programmatisch: ,. ... Repla~ons-nous .. . dans les conditions d'apparition de ces reuvres litteraires; voyons les tomber chaque jour au milieu des faits sociaux, politiques ou economiques; ne regardons pas la ,.serie" litteraire comme une serie absolument distincte des autres, et considerons que toutes s'enchevetrent, se penetrent, se melent, se croisent, agissent et reagissent les unes sur les autres . . ." 16e annee, Ire serie, p. 290.

" Sainte-Beuve, Port-Royal, t. I. Discours preliminaire, pp. 7 ff.

Zur Methode

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anspruch des französischen Geistes zu besitzen. Aber selbst an diesen beiden Merkmalen sind in beiden Jahrhunderten große Unterschiede festzustellen: während im 17. Jahrhundert die Entwicklung einer modernen französischen Literatur nicht nur als Emanzipation gegenüber den Autoren der Antike, sondern vor allem als nationales Anliegen bewertet wurde, standen im 18. kosmopolitische Zielsetzungen im Vordergrund; während ferner der Rationalismus des 17. Jahrhunderts Glauben und Denken zu harmonischer Einheit zu verbinden suchte, erhob der Rationalismus des 18. eine klare Scheidung von natürlicher und übernatürlicher Erkenntnis zum Programm. Mehr noch als diese vevschiedenen Aspekte von gemeinsamen Zügen fällt aber - im ganzen gesehen - der lAbstand in die Augen, der die machtvolle Entfaltung und Geschlossenheit der Kultur des grand siecle von der Gespaltenheit des siede des lumieres trennt. Lag es nicht .nahe, nach Übergangserscheinungen zwischen beiden Zeitaltern und, noch mehr, nach den Ursachen der Wandlung zu suchen? Die Forschung zeigte, daß es nicht vergeblich war, die Bedingungen für die Entwicklung im 18. Jahrhundert bereits im 17. zu suchen1 o. Verschiedene Ansätze wurden unternommen, um das Fortwirken stoischer und epikureischer Denkelemente aufzuzeigen, die sich dem christlichen Lebensideal entgegenstellten11. Detaillierte Studien erarbeiteten verschiedene literarische Strömungen, die am Rande der repräsentativen Literatur der Klassik zu beobachten waren und deren Kenntnis das Bild des grand siecle wesentlich modifizierte. Die Arbeiten von Henri Bremond und von Rene Pintard revidierten manches VorurteiP 2 und zeigten im 17. Jahrhundert sowohl einen Strom religiöser Empfindsamkeit wie auch eine ständige Tradition antik-heidnischer Denkformen auf. Gewisse Anschlußlinien für die Literatur des 18. Jahrhunderts waren damit gegeben, die sich sozusagen auf der Kehrseite der Medaille der offiziellen klassischen Literatur befanden und die so lange in religiösen Instruktionsbüchern, in gelehrten Abhandlungen, oft in Manuskripten und Korrespondenzen verborgen geblieben waren. Was nun 10 Eine wertvolle Anregung zu dieser Blickrichtung bot der Aufsatz von Denis, Le XVIIIe siecle dans le XVIIe, Memoires de l'academie . . . de Caen, 1896, pp. 109-188. 11 cf. die Aufsätze von Neubert, Die Academie du Palais unter HeinTich III . ..., GeTm.-Rom. Monatsschr. 1933, bes. pp. 447 ff., Das Nachleben

antiker Philosophie in der neueren französischen Literatur, Neue Jahrb. 1927, und Französische Rokoko-Probleme, Festschrift Becker, bes. p. 261, wo von einer durch einen ganz bestimmten Kreis von Autoren abgegrenzten epikureischen Unterströmung im 17. Jahrhundert die Rede ist. Vertiefung dieser Gesichtspunkte brachte vor allem die in Anm. 5 zitierte Arbeit von Hess. 12 Bremond, Histoire litteraire du sentiment religieux en France (19291936), und Pintard, Le libertinage erudit dans la premiere moitie du XVIIe siecle (1943).

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Vorbemerkungen

für jene oft verschütteten und mühsam auffindbaren Entwicklungsstufen, gewissermaßen für j-ene geistigen Untergrundbewegungen des 17. Jahrhunderts gilt, sollte in noch stärkerem Maße für die Randliteratur der bezeichneten Übergangsepoche zum 18. verbindlich sein. Denn es ist von vornherein anzunehmen, daß die geistigen Energien jener Epoche, die nicht dazu kamen, sich in repräsentativ-literarischen Kunstwerken zu konsolidieren, auf anderen Gebieten produktiv waren und dort eine Umschichtung des allgemeinen Bewußtseinsinhaltes vorbereiteten und damit auch dessen kommenden Ausdruck: eine Literatur. Wären somit gewisse methodische Bedenken, sich der geistesgeschichtlichen Situation am Ende des grand siecle von seiten der Literaturgeschichte zu nähern, zurückgestellt, so bliebe nur noch die Frage, wie weit der Literarhistoriker .in das Fe1d der philosophischen, juristischen, theologischen, naturwissenschaftlichen und politischen Denkmäler eindringen sollte - sicher eine unlösbare Schwierigkeit, solange eine klar umrissene Aufgabenstellung fehlt. Natürlich steht außer Frage, daß die historische und systematische Differenzierung einzelner Phänomene den jeweiligen Fachrichtungen vorbehalten bleibt. Es wäre eine Grenzüberschreitung des Literarhistorikers, wollte er über die Gnadenlehre im 17. Jahrhundert oder über die Theorie der Volkssouveränität um 1690 referieren, ohne direkte Zusammenhänge mit seinem eigenen Stoffgebiet aufzudecken. Seine Aufgabe kann höchstens darin bestehen, die Ergebnisse anderer Disziplinen zu einem Thema in Beziehung zu setzen, das ihm die literarhistorische Entwicklung aufgibt; d. h. er kann die anderen Fach,gebiete nach Elementen konsultieren, die für die literarische Produktion von Bedeutung waren oder gar - wie etwa im Falle mancher Aufklärer - zur Literatur wurden. Keinem Literarhistoriker wird es einfallen, den Discours de la methode von Descartes wegen der darin enthaltenen Gottesbeweise heranzuziehen. Ebensowenig aber wird die Entwicklung der Literatur des 17. Jahrhunderts darzustellen sein, ohne der Methodik des Discours - ganz abgesehen von dessen beispielhafter Prosa - Erwähnung zu tun. Der Übergriff der Literarhistorie in die Stoffgebiete anderer Disziplinen kann deshalb so lange legitim bleiben, wie eine durch die literarische Entwicklung gegebene Problemsicht obenan steht. Daß sich dabei die verschiedenen Elemente zu einem Tableau zusammenfügen können, welches die geistige Substanz einer Epoche an Hand von Zeugnissen darstellt, die selbst zwar nicht eigentlich als Phänomene einer repräsentativen Literatur anzusehen sind, sondern höchstens einer .solchen vorarbeiten, mag nur dem bedenklich erscheinen, der die verschiedenen menschlichen Denk- und Ausdrucksiormen nicht als organische Einheit anerkennen und Orientierungspunkte der Forschung für absolute Bestimmungen halten will.

Zum Thema

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II

Die Jahre 1680 bis 1715 der französischen Geistesgeschichte lassen sich am besten durch die Geg·enüberstellung der vorangehenden und der folgenden Epoche umschreiben. Im 17. Jahrhundert erscheint ein geschlossenes System von Denk- und Lebensformen und im 18. dessen fortschreitende Auflösung. Der politische Absolutismus, die klassische Literatur als repräsentativer Ausdruck einer aristokratischen Gesellschaft und die noch einmal erstrebte Harmonie von philosophischer Spekulation und religiösem Erleben bieten - wenn man von den vorhandenen unterirdischen Strömungen absehen will - den Aspekt eines Ganzen, einer einheitlichen Kultur, deren einzelne Gebiete einander bedingen und ergänzen. Das 18. Jahrhundert dagegen zeigt eklatante Widersprüche, Dissonanzen, Erschütterungen und endlich eine Revolution. Die Autorität des Herrschers, eben noch Sinnbild eines Zeitalters, wird diskutiert, unterminiert und schließlich gestürzt. Die antiken und christlichen Traditionen der Kultur werden zurückgewiesen und ironisiert. Die Aristokratie verfällt, und das Bürgertum setzt sich in führende Position. Philosophie und Religion werden scharf voneinander abgegrenzt, die Diskussionen im 17. Jahrhundert um die richtige christliche Konfession werden im 18. vom Deismus, vom Materialismus abgelöst. Der Spekulation folgt die praktisch·e Anwendung der rationalen Methode in Kunst, Literatur und Wissenschaft. Die Jahre 1680 bis 1715 nun reichen nicht nur den Daten nach in beide Jahrhunderte hinein; sie weisen auch Denk- und Formelemente beider Epochen auf: als Übergangsperiode, als Zeit der Gärung, in der die Klarheit der Anschauungen der vorangegangenen Jahrzehnte dahinschwindet und die Einsichten der kommenden bereits geahnt, wenn nicht geflüstert werden. Sie gehören deswegen weder zum einen noch zum anderen Jahrhundert. Der Beginn dieser Zwischenzeit ist gekennzeichnet durch wachsende innerpolitisch.e Schwierigkeiten im Königreich, in besonderem Maße durch religiöse Spannungen, die sich durch die Differenzen mit dem Papst und durch die Liquidierung des Protestantismus ergeben und 1685 ihren Höhepunkt erreichen. Noch bleiben zwar die äußeren Formen der alten Gesellschaft und des absoluten Königtums erhalten - äußerlich erkennbar an der Regierung Ludwigs XIV., deren Ende dann den Anfang einer neuen Epoche bezeichnet; aber sie erstarren allmählich und werden zu selbständigen antiquierenden Akzidenzien, während sich die Substanz, der sie angehörten, verändert: die Form wird allmählich zur Fassade, und d'ahinter regen sich Kräfte, die den großen Umschwung vorbereiten. Die Forschung setzte bei verschiedenen Punkten an, um den Ursachen dieses geistigen Strukturwandels nachzugehen. Der Gegenstand selbst aber erwies sich als zu vielgestaltig, um Ergebnisse zu ermög-

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Vorbemerkungen

liehen, welche auch nur wesentliche Elemente zu koordinieren vermochten. In großzügigen Darstellungen der europäischen Geistesentwicklung fand die Übergangszeit von 1680 bis 1715 gewöhnlich keine besondere Aufmerksamke1t. So streifte wohl Lecky in seiner auf drei Jahrhunderte ausgedehnten Geschichte der Aufklärung13 einige Phänomene, etwa den Kampf um Toleranz, die Befreiung vom Hexenwahn, die Verweltlichung der Politik etc., vermochte aber bei seiner großzügigen Darstellung nicht bei Einzelheiten zu verweilen. Ebensowenig konnte Cassirer beim Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert Halt machen, als er die Philosophie der Aufklärung analysierte und für die Zeit um 1700 nicht mehr als "Einschränkungen" und "Zugeständnisse" an den neuen Geist feststellte14 • Dilthey, der die Ausbildung eines neuen rationalen wissenschaftlichen Systems als vorzügliches Merkmal des 17. Jahrhunderts ansah, übertrug diese Vorstellung auch auf die letzten Jahrzehnte und sah vornehmlich Leibniz als Repräsentanten dieser Zeit an15. Damit konnte jedoch nur eine Seite der Epoche aufgezeigt sein; denn der versöhnlichen Theodicee lag ja gerade das Problem zugrunde, geoffenbarte mit rationaler Wahrheit zu vereinen, das die Geister noch weiterhin beschäftigen sollte. Einen wichtigen Hinweis gab Joel, als er den Riß der Einheit von Absolutismus, Katholizismus und Rationalismus, welche er der Barockepoche in Frankreich zuerkannte, im Werk·e Bayles andeuteteHl. Aber auch seine Darstellung schritt nach Jahrhunderten geordnet vorwärts und stützte sich wie die Diltheys nur auf die wichtigsten Etappen der Geistesentwicklung; außerdem stand für die meisten Historiker die Zeit um 1700 zu sehr unter der geistigen Hegemonie der englischen Philosophen und Naturwissenschaftler, als daß sie etwa der Entwicklung in Frankreich mehr als sekundäre Bedeutung beizumessen wußten. Erst spezlielle Untersuchungen, welche sich auf die Kontinuität des französischen Denkens beschränkten, konnten hier Licht bringen. Die Jahre 1680 bis 1715 fanden jedoch auch unter diesem Aspekt lange Zeit keine Beachtung. Noch Taine glaubte an eine durchgängige Determination der Literatur beider Jahrhunderte durch den Geist der Klassik, den er als aprioristisches, abstraktes, oratorisches Element von den Höhen des grand siede bis zur Restaurationszeit fortleben sah17 . Er 111 Lecky, History of the rise and injluence of the spirit of rationalism in Europe (4th ed. 1870). u Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, p. 29. C.'s Darstellung der

Übergangszeit zum 18. Jahrhundert beschränkte sich darauf, von den Werken Bayles und Leibnizens auszugehen. 1s Dilthey, l. c., t. III. bes. pp. 62 ff. 16 Joel, Wandlungen der Weltanschauung, t. I . p. 544. 17 Taine, Les origines d e la France contemporaine, I . Ancien regime, t. I. p. 318.

Zum Thema

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ging dabei von dem mathematischen, unpersönlichen Charakter der französischen Sprache aus, den sie unter der Zensur der Akademie erlangte und der ihr als Nachfolgerin des Lateinischen in der gelehrten Welt einen universalen Charakter ver1i·eh. Sicher konnte eine derartige Sicht die Armut des 18. Jahrhunderts an echter Poesie verständlich machen und· erklären, warum der Monolog Harnlets in der Diktion Voltaires eine bloße Deklamation blieb 1B; sie vermochte jedoch schon nicht mehr der breiten Strömung der Sensibilität gerecht zu werden, weil sie einfach von einer zu schmalen Basis ausging; außerdem ließ sie den Strukturwandel des Rationalismus selbst außer acht, der gerade am Ende des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Ausgehend von Sainte-Beuve, der bereits auf die Bedeutung der Kreise um SaintEvremond und Ninon de Lanclos als geistiger Brücke zwischen Montaigne und Voltaire hingewiesen hatte, inspiriert durch die Arbeiten Brunetieres, welche den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Literatur zur Zeit der Regence erhellten, widersprach vor allem Lanson der Auffassung Taines und ging daran, die Periode von 1680 bis 1715 zu analysieren und den Abstand zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert herauszustellen. Er schenkte dabei g·erade den politischen, theologischen und ästhetischen Diskussionen der Epoch.e besondere Aufmerksamkeit und gelangte zu dem Ergebnis, daß der Weg zur Revolution nicht bei den aprioristischen Ausgangspunkten des klassischen Geistes, sondern mit der Reaktion auf das nationale Unglück Fr.ankreichs in den letzten Regierungsjahren Ludwigs XIV. begann 19. Der Akzent wurde von Lanson damit von dem spekulativen Systemdenken auf die praktischen Folgerungen und die Anwendung der rationalistischen Methode verlegt. Manche Erscheinungen, die bis dahin die Literarhistorie nur wenig interessierten, wuvden damit aktuell: die Entdeckung der orientalischen Länder, das Erwachen eines sozialen Bewußtseins in Frankreich, die Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit in Zeitschriften und provinziellen Akademien etc. Bei der Suche nach den Quellen eines neuen philosophischen Geistes - wie er die Triebkraft für die Entwicklung der Literatur des 18. Jahrhunderts nannte- blieb Lanson jedoch etwas von der Polemik gegen Taine befangen: die Summierung seiner neuen Gesichtspunkte konnte zwar die einseitigen Ansichten Taines erschüttern, ergab aber noch kein Resultat, das der Vielfalt der Erscheinungen gevecht wurde. Mornet stellte zunächst richtig, daß in jener Übergangsperiode nur eine sehr kleine Zahl von Autoren Träger des neuen Geistes war und daß die breit·ere Öffentlichkeit nur in bescheidenem Maße von den neuen Ideen erfuhr, die höchstens in Andeutungen laut wurden und gewöhnlich in handschriftlichen Redak18

Ibid., p . 301.

Lanson, Formation . .. de l'esprit philos., Rev. d. cours et conf., 17e annee, 2e serie, p. 549. 18

Vorbemerkungen

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tionen Verbreitung fanden20. Darüber hinaus läßt sich nachweisen, daß das aprioristische Denken um 1700 keineswegs abbrach. Nicht nur die cartesianische Bewegung nahm ein scholastisches Gepräge an, das sich im 18. Jahrhundert noch versteifte, sondern auch die Ästhetik und die staatsrechtlichen Theoden erhielten einen normativen Charakter. Unabhängig von den inzwischen eingetretenen Wandlungen des Geschmacks diskutierte noch Voltaire im Anschluß an Corneilles Theo'rien, wie sich die Dramatiker am besten den drei Einheiten anpassen könnten; und Montesquieu, der den historischen Relativismus in die politischen Theorien einführte, verabsolutierte gleichzeitig die Gewaltentrennung im Staate. Aprioristisches Denken und doktrinäre Starrheit, an sich zwei verschiedene Dinge, flossen in dem Bilde zusammen, das Taine zeichnete: sie erschienen miteinander verbunden, nur mit umgekehrten Vorzeichen, auch in der Darstellung Lansons. Die verschiedenen in Lansons Übersicht zusammengefaßten Entwicklungszüge waren auch der Gegenstand zahlreicher Einzelforschungen, die zwar jeweils wertvolle Materialien lieferten, aber mit der Vertiefung in die Stoffmassen oft den Blick auf die Epoche von 1680 bis 1715 als Ganzes aufgaben. Für die Anfänge der Aufklärung in Frankreich schien besonders die Abschätzung der englischen Einflüsse wichtig zu sein. Texte, Bastide und Ascoli widmeten di·e sem Kapitel ausgedehnte Studien21 , vermochten aber n icht um die Feststellung Lansons herumzukommen, daß bereits um 1680, also vor Locke Uilld vor der Förderung des englischen Einflusses durch die Refugif~s, deistische Tendenzen in Frankreich sichtbar waren, die ihre Ursprünge in der französischen Geistesentwicklung hatten22. Weniger bedeutsam als die Frage der Priorität hinsichtlich ,der neuen Ideen blieb das Pro--: blem, die Entwicklung der englischen Anregungen mit den ursprünglich französischen Tendenz.e n in Beziehung zu setzen und die w echselseitige Befruchtung beider Strömungen in jener Übergangs·epoche aufzuzeigen. Ans ätze dazu wurden unternommen, ohne allerdings über begrenzte Resultate hinauszuführen23 . Gelegenheit zu generellen Hinwe·isen fand sich gewöhnlich beii. Arbeiten, d ie von den Autoren der eigentlichen Aufklärung ausgingen24. In der Regel gehörte zur Über~ Momet, Les origines inteUectuelles de la revolution frant;aise, p. 24. Texte, Jean-Jacques Rousseau et les origines du cosmopolitism e litteraire (1895), Bastide, John Locke, ses theories politiques etc. (1900), Ascoli, La Grande-Bretagne devant l'opinion frant;aise au XVIIe siecle (1930). 22 Lanson, Formation etc., Rev. d. cours et conf., 17e annee, 1 rc seri.e, p. 361. 23 So vermittelten ausgezeichnete Übersichten über die so lange unbeachtet gebliebenen Materialien Reesink, L' Angleterre et la litterature anglaise dans les trois plus anciens periodiques de Hollande ... (1931), und Courtines, Bayle's relations w ith England and the English (1938). 24 So z. B. Dedieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France (1909). 20

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Zum Thema

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betonung des englischen die Unterschlagung aller anderen ausländischen Einflüsse: so blieben vor allem die Wirkungen des holländischen Sektenwesens und der sich aus allen damaligen europäischen Nationen konstituierenden republique des lettres allzu oft unbeachtet. Einen anderen Ansatzpunkt für mehrere Studien stellte die Säkularisierung des Lebens in Frankreich dar, die besonders auffällig seit 1700 in Erscheinung trat. Zweifellos wurde damit ein wichtiges Moment in den Kreis der Betrachtung gerückt. Aber allzu oft übersahen die Kritiker, die sich diesem Gegenstand widmeten, daß es eben nur ein Moment unter anderen blieb und daß die Entwicklung vom religiös gebundenen zum weltlichen Leben und Denken nicht ein Schritt, sondern ein langer Weg mit vielen Stationen war. Wenn z. B. Delvolve und nach ihm Cassirer als wesentliches fortschrittliches Element im Werke Bayles die Eröffnung der autonomen historischen Kritik, also die Abkehr von einer durch die Offenbarung bestimmten Geschiehtsauffassung ansahen2s, so berücksichtigte di~e Feststellung weder die Tatsache, daß dereelbe Bayle gerade seiner religiösen Überzeugung, d. h. seines protestantischen Offenbarungsglaubens wegen ins Exil ging, noch die Entwicklung der Bibelkritik im 17. Jahrhundert, deren Etappen bei Rabbinern in Holland, bei Spinoza, bei einer Reihe von englischen Kritikern, bci reformierten französischen Gelehrten wie Louis Cappel und endlich bei dem Katholiken Richard Sirnon zu suchen waren. Einerseits besaßen Bayles Persönlichkeit und Werk einfach zu viele Gesichter, als daß wir ihn auf eine Haltung, auf eine Leistung festlegen können; und andererseits vollzog sich die Ablösung einer religiös gebundenen Geschichtsbetrachtung in einem lange andauernden Prozeß, an dessen Höhepunkten allerdings die Formulierungen des kritischen und publizistischen Genies Bayle herausragten. Eine ähnliche Vereinheitlichung lag den Versuchen zugrunde, die Soziallehren der katholischen Kirche als Ausgangspunkt für die Verweltlichung und gleichzeitig die Emanzipation des Bürgerturns in Frankreich anzusehen, wie es Groethuysen unternahm2ß, und - darüber hinausgehend - die allgemeine geistige Entwicklung von der fortschreit~mden Auflösung des Feudalismus abhängig zu machen, wie es Borkenau darstellte27• Ganz abgesehen von dem ideologisch bestimmten Charakter und der speziell soziologischen Orientierung dieser Standpunkte bleibt festzustellen, daß auch hier nur ein Merkmal von vielen herausgehoben wurde. Zweifellos erfolgte um 1700 mit dem 25 cf. Delvolve, Essai sur Pierre Bayle, und Cassirer, l. c., p. 274, und ders., Das Erkenntni sprob lern, t. I. p. 588.

26 Groethuysen, Die Entstehung der bürgerli chen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich (1927/30). 27 Borkenau, Der Obergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild

(1934), bes. p. 159.

Vorbemerkungen

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Aufkommen des Kapitalismus eine soziale Umschichtung - es mag dahingestellt bleiben, ob sie die geistige Entwicklung determinierte oder selbst nur der adäquate Ausdruck eines geistigen Strukturwandels war-; die Ursachen der Wandlung vom 17. zum 18. Jahrhundert aber konnten von diesem Gesichtspunkt allein nicht eingefangen werden. Begrüßenswert war in jed€m Falle die Problemstellung und der Vorstoß in biiSher unerforschte Bezirke. Wenn Groethuysen jedoch feststellte, daß sich der Unglaube zu einem kollektiven Merkmal des Bürgertums entwickelte und erst in eine Art Rehabilitierung der Hölle urnschlug28, als die Emanzipation des dritten Standes abg·eschlossen war - gleichsam als Sicherung gegenüber möglichen Ansprüchen der unteren Volksschichten - , so läßt sich dieser Ansicht eine Reihe von bedeutenden bürgerlichen Apologien des Christentums gerade aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entgegenhalten. Diese Verteidiger der Religion zielten durchaus auf die damaliogen "Gebildeten unter ihren Verächtern", d. h. sie wandten sich an die Adresse der von Libertinage und Skepsis infizierten aristokratisch bestimmten Gesellschaft der Salons. Beze,ichnend dafür ist das Lob, das noch Mme de Sevigne dem protestantischen Pastor Abbadie für seine Apologetik spendete29 • Es ist fraglich, was früher in das Bewußtsein des Bürgers gelangte - ob der Kontrast zwischen seiner Lebensform und dem christlichen Ethos oder die mehr und mehr zu religiöser Indifferenz tendierenden Anschauungen der aristokratischen Gesellschaft, die selbst schon stark von bü11gerlichen Elementen durchsetzt war. Zugunsten des letzten F'aktors scheint die soziologische Regel zu sprechen, daß sich untere Bevölkerungsschichten den oberen anzupassen pflegen; aber selbst wenn der erste Faktor dominierte, so bleibt doch außer Frage, daß er nur durch andere Momente Gewicht erhalten konnte30 : dem Hervortreten eines Merkmales pflegt das Zurücktreten anderer Merkmale voran oder zur Seite zu gehen. Auch die Säkularisierung des französischen Bürgerturns dürfte erst in richtigem Lichte erscheinen, wenn sie mit anderen Phänomenen der Zeit in Zusammenhang gebracht würde: dann aber wäre sie nur noch eine unter den verschiedenen Entwicklungslinien, die zur Änderung des allgemeinen Bewußtseins im 18. Jahrhundert führten und sich bald als Folge der englischen Einflüsse, bald als Besinnung der rationalistischen Theoretiker auf den Erfahrungsstoff, bald als das Wiederaufleben von Denkelementen der Antike manifestierten. Groethuysen, l. c., pp. 51 ff. und 168. Mme de Sevigne an Bussy, 13. 8. 88. Lettres .. ., t. VIII. p. 402. 30 Schon Schalk (Das Problem der Säkularisierung in der französischen Aufklärung, Neue Jahrb. 1930, p . 392, Anm. 3) wies darauf hin, daß Groethuysen z. B. die Rolle der entstehenden gelehrten Zeitschriften bei der Säkularisierung nicht weiter würdigte. Zur Diskussion von G.'s Ansichten cf. auch Neubert, Die Acad1hnie du Palais etc., p. 445. 28

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Zum Thema

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Einen Versuch, den ganzen Problemkomplex der Jahre 1680 bis 1715 zu übersehen, unternahm Hazard. Schon mit dem Titel Crise de la conscience europeenne deutete er den schwer in einheitliche Formeln zu fassenden Charakter der Epoche an. Als wesentliches Kennzeichen für die Crise und als deren psychologische Grundlage nannte er den Übergang von der Stabilität zur Bewegung und zeigte dieses Phänomen in den venschiedensten Gebieten des Geisteslebens auf. Damit war nicht nur schlagartig die zwiespältige .geistige Situation jener Jahre erhellt, sondern zugleich ein Kriterium gewonnen, das denen aller vorhergehenden Arbeiten durch seine Universalität überlegen war. Die bloße Feststellung einer Bewegung indessen konnte für eine Darstellung der großen Wandlung vom 17. zum 18. Jahrhundert nicht ausreichen: das Bild der Bewegung vermochte wohl die einzelnen Etappen der Entwicklung f,estzuhalten, konnte aber nicht dem Gefüge ihrer Ursachen und dem komplexen Charakter ihrer Faktoren nachgehen; es konnte wohl zeigen, was in Bewegung geriet, mußte jedoch darauf verzichten, nach dem Warum zu fragen. Der Einfühlungsgabe und der glänzenden Darstellungskunst Hazavds, weniger aber seinem Ausgangspunkt war es deshalb zu danken, daß dennoch bestimmte wesentliche Zusammenhänge erlaßt, wenn nicht gleichsam zwischen den Zeilen angedeutet wurden: es war ein großartiger Versuch einer Übersicht, einer Beobachtung verschiedener Charakterzüge, die sich zu einem Tableau zusammenfügten. Die Aufgabe jedoch, die Glieder selbst zueinander in Beziehung zu setzen und zu Entwicklungslinien zu ordnen, blieb und bleibt bestehen. Die Bezeichnung Crise und die Feststellung der Bewegung entsprangen so einer Art intuitiver Betrachtung; sie erwiesen sich als wertvolle Orientierungspunkte; als übergeordnete Begriffe für die Wandlung der Denkstruktur vom 17. zum 18. Jahrhundert indessen konnten sie nur unzulänglich bleiben. Viel näher liegt die Anwendung des Begriffspaares von Synthese und Analyse. Wenn Cassirer (unter anderen) bei der Betrachtung der Anfänge der modernen Naturwissenschaft vom "Siegeszug des modernen analytischen Geistes" sprach31 und dabei die Entwicklungslinie von Kepler-Galilei-Newton über Berkeley und Hume bis zu Condillac meinte, so läßt sich dieser begriffliche Kunstgriff cum grano salis auf die allgemeine geisüge Situation der Jahre 1680 bis 1715 anwenden: es war eine Übergangszeit, in welcher sich synthetische und analytische Denkformen begegneten. Ohne den komplizierten erkenntnistheoretischen Problemen nachzugehen, welche das Begriffspaar SyntheseAnalyse aufwirft - sie g.e hören in das Ressort der Philosophen -, sei im folgenden nur soviel angedeutet, wie nötig ist, um beide Be31

Cas:sirer, Die Philosophie der Aufklärung, p . 10.

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Vorbemerkungen

griffe für die Betrachtung des Übergangs von der Literatur des 17. zu der des 18. Jahrhunderts nutzbar zu machen32 • Mit dem Begriff der Synthese wird zunächst nur die Verbindung einer Vielheit zur Einheit, mit dem der Analyse die Auflösung einer Einheit zur Vielheit umschrieben. Beiden Begriffen, die als Denkakte auf,gefaßt werden, liegen also zwei Faktoren zugrunde: die Existenz einer Mannigfaltigkeit von Elementen und die Denktätigkeit, welche sie entweder als Einheit zur Vielheit oder als Vielheit zur Einheit führt. Beide Begriffe unterscheiden sich demnach durch die Orientierung des Denkenden: durch sein Bewußtsein und seinen Willen. Der Synthetiker ist sich angesichtsder Mannigfaltigkeit der Elemente ihrer Einheit bewußt und versucht - so gegensätzlich ihre Bestimmungen auch immer sein mögen - die Vielheit darauf zurückzuführen. Dem Analytiker dagegen ist jede Zusammengehörigkeit von Elementen nur als Aussclmitt aus einer unbegrenzten Vielheit gegenwärtig und ein Anlaß, sie unter den Bedingungen und Abhängigkeiten dieser Vielheit zu erkennen. Synthese setzt einen Einheitswillen des Denkenden voraus, ·eine mutmaßliche Ordnung, nach der die MannigfalUgkeit der Elemente ausgerichtet wird: ein Ziel, das selbst außerhalb der unmittelbaren Bestimmung der Elemente liegt und sie zu Teilen eines Ganzen macht. Analyse dagegen gebietet dem Denkenden, von den mittelbaren zu den unmittelbaren Bestimmungen der Elemente zurückzugehen und jede gedachte Einheit zu zerstören, indem deren mutmaßliche Teile ihres heteronomen Charakters entkleidet und zu autonomen Elementen erhoben werden: ein Ziel, das mit der bloßen Existenz der Elemente gegeben ist. Schon diese aUgemeine Kennzeichnung des synthetischen und analytischen Denkens setzt mindestens zwei Eigenschaften der Elemente voraus, die verbunden oder voneinander gelöst werden sollen. Sie müssen zunächst überhaupt in einer Einh-eit, wenigstens in einem ihnen gemeinsamen höheren Begriff denkbar, d. h. miteinander vereinbar, nicht disparat sein. Von der Konstruktion eines Palastes zu der eines Fahrrades läßt sich keine Synthese denken, wohl aber etwa zu einem bestimmten Stil der Malerei. Die Elemente müssen ferner so beschaffen sein, daß sie tatsächlich im Denkakt der Analyse oder Synthese gelöst oder verbunden werden können, d. h. sie dürfen nich.t schon ihrer Natur nach verbunden sein. Zur Vorstellung einer Kirche wäre es unnötig, die einer Glocke hinzuzufügen, wohl aber könnte man etwa die eines Berges hinzudenken, auf dem die Kirche steht und von dem sie ein besonderes Gepräge erhält. 82 Es kann somi.t nicht im Sinn dieser Vorbemerkungen lie:gen, etwa eine Typologie des synthetischen oder analytischen Denkens zu geben. Über die philosophische Problematik der beiden Begriffe cf. Eisler, Wörterbuch etc., t. I. pp. 45, 320, t. III. p. 201.

Zum Thema

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Aus diesen beiden Eigenschaften der Elemente und der vorangestellten aUgemeinen Skizzierung können nun bestimmte Bedingungen sowohl für die Synthese wie für die Analyse überhaupt abgeleitet werden, die für unsere Zwecke genügen mö.gen. Das erste Merkmal besagt, daß Synthese nicht einfache Summierung irgendwelcher einander heterogener Elemente sein kann, denn die verschiedenen Elemente müssen in einer Einheit denkbar sein; sie kann aber auch nicht eine einfache reproduktive Assoziation seinaa, denn indem ein Ziel erstrebt wird, das außerhalb der unmittelbaren Bestimmung der Elemente liegt, ·erhalten diese einen neuen Sinn und werden einer bestimmten Oronung unterworfen, die nicht durch einfache Anreihung entstehen kann. Bei der synthetischen Vorstellung "Versailles" erscheinen nicht die symmetrischen Alleen, die Anordnung der Fontänen, die Anlage der Freitreppen etc. als selbständige Elemente, die einfach addiert werden, sondern Schloß und Park von Versailles stellen eine geschlossene, eine einheitliche ästhetische Größe und, wenn man will, das Sinnbild der Macht und des Geschmacks Ludwigs XIV. dar. Aus dem zweit·en notwendigen Merkmal der Elemente läßt sich eine weitere Bestimmung der Synthese herleiten: die Elemente, die zu einerneuen synthetischen Vorstellung verbunden werden, können nicht mehr außerhalb derselben gedacht werden, ohne daß damit die Synthese selbst aufgehoben würde. Denn dadurch, daß sie ihrer Natur nach einander heterogen sein sollen, um überhaupt in einer echten Synthese verbunden werden zu können, ist implizite g·egeben, daß die Struktur der Synthese durch die Heterogenität der Elemente bestimmt wivd und daß also die heterogenen Elemente notwendig und in ihrer Totalität zur Synthese gehören. Auf das letzte Beispiel angewandt: es wäre sinnlos, etwa den Grundriß und die Fassade des Schlosses von Versailles als Elemente zu einer Synthese anzusehen, da sie schon von Natur her miteinander v·erbunden sind. Eine Synthese ergibt sich erst, wenn zum Schloß alle anderen Teile der Anlage von Versailles in Beziehung gesetzt werden, und zwar dergestalt, daß sie - so kunstvoll sie auch im einzelnen sein mögen - nicht mehr als Kanal, als Jardin du Roi, als Statue Ludwigs XIV. etc. figurieren, sondern als notwendige Teile der synthetisch·en Vorstellung "Versailles", aus der sie nicht mehr gelöst weroen können, ohne dadurch die Synthese selbst zu verändern. Die eigentliche Leistung des synthetischen Denkaktes liegt demnach in der notwendigen Verknüpfung einander heterog.ener Elemente zu einer neuen, sie alle umfassenden Vorstellung, in der sie als Funktionen eines Bedingung-en und Richtung gebenden Ganzen emcheinen. 33 Auf den Unterschied von Synthese und Assoziation wies besonders Cassirer, Das Erkenntnisproblem, t. III. p. 11 hin.

2 !-!aase, Literatur des Refuge

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Vorbemerkungen

Die beiden angedeuteten Merkmale der Elemente lassen auch bestimmte Voraussetzungen für die Analyse erkennen. Dadurch, daß die Elemente, die überhaupt für eine Analyse in Frage kommen können, nicht disparat sein dürfen - denn Elemente, die nicht verbunden gedacht werden können, vermögen auch nicht getrennt zu werden -, wird bei jeder Analyse wenn nicht zugleich eine Synthese der Elemente, so doch deren grundsätzliche Möglichkeit impliziert34 • Auflösung setzt eine vorhandene oder mögliche Verbundenheit voraw. Selbst angesichts einer chaotischen Vielheit von Elementen ist, um sie überhaupt erkennen zu können, eine gewisse Ordnung zum mindesten hypothetisch zu setzen35• Wenn es z. B. darum geht, eine Geheimschrift zu enträtseln, so hat es keinen Sinn, sie ziellos, Zeichen für Zeichen, zu zerteilen. Eine Entzifferung wird deswegen damit beginnen, e·ine bestimmte E'inheit und Ordnung, etwa einen Satz mit bestimmtem Sinn vorauszusetzen und davon a·uszugehen. Auch das zweite Merkmal der Elemente erhellt den analytischen Denkprozeß: die Heterogenität der Elemente wird hierbei zum wichtigsten Kritevium. Denn es gilt, die in einer vorhandenen oder möglichen Synthese verbunidenen Elemente nach der ihnen inhärierenden Heterogenität zu sondieren. Die Analyse kann dabei nicht aus einer ziellosen Isolierung und schließlich Atomisierung der Elemente bestehen, denn gerade ihre Heterogenität schließt ja gewisse Bedingungen und Abhängigkeiten ein, die es eben von denen e'iner mutmaßlichen Synthese zu trennen gilt; sie kann auch keine Dissoziation des Bewußtseins sein, denn indem die Elemente ihren heteronomen Charakter verlier·en und autonom werden, befesügt sich ihre Existenz im Bewußtsein des Denkenden. Auf das Beispiel bezogen: Nicht einzelne Buchstaben oder Zeichen einer Geheimschrift können für sich betrachtet we11den, sondern die Beziehungen, welche sie untereinander verbinden, sind aufzudecken, etwa das Prinzip der Häufigkeit, des Wertes einzelner Zeichen etc. Und der so zu entdeckende "Schlüssel" würde das El'gebnis eines analytischen Denkaktes sein und die in dem geheimen Schrifttext als heteronom erscheinenden Elemente als autonome Grundtypen festhalten, d. h. von der mittelbaren Bestimmung der Elemente zur unmittelbaren zurückgehen. Die Eigentümlichkeit des analytischen Denkaktes liegt somit darin, cine bestehende oder hypothetisch gesetzte Ordnung aufzulösen, indem deren konstituierende Elemente nach den Bedingungen und Abhängigkeiten ihrer Heterogenität gesondert werden und dadurch aus ihrer heteronomen in eine autonome Position rücken. 34 Diese Feststellung traf schon Kant, Kritik der reinen Vernunft, ed. Schmidt (Felix Meiner), nach Ausgabe A, pp. 152 a ff. 35 So auch Descartes in seiner 3. methodischen R egel: " ... de conduire par ordre mes pensees ... et supposant meme de l'ordre entre ceux qui ne se precedent point naturellement les uns les autres." Discours de la methode, ed. Gilson, p. 18.

Zum Thema

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Die Anwendung dieser Bestimmungen von Synthese und Analyse auf die Geistesgeschichte dürfte nicht schwerfallen; sie ist in der Tat in verschiedenen Fällen längst üblich geworden. So spricht man gewöhnlich von einer Verschmelzung von Theologie und Philosophie in den Denksystemen der Scholastiker, in denen das credo, quia absurdum est Tertullians dem credo, ut intelligam Anselms Platz machte. In den angedeuteten Bestimmungen des Begriffspaares ausgedrückt: Theologie und Philosophi€ als einander heterogene Elemente verbanden sich zu ·einer Synthese - sinnfällig erkennbar z. B. an dem wiederholt versuchten Nachweis Gottes, bei dem die Quellen der Offenbarung mit den Begriffen der aristotelischen Philosophie so in Einklang gebracht wurden, daß sie als einanider ergänzende Elemente eines Denksystems erschienen. Das Besondere dieses Systems war - ungeachtet seiner dialektischen Spielarten -, daß theologische und philosophische Sätze nicht nebeneinander figurierten, sondern miteinander in Beziehung gesetzt wurden, und daß sie als Bausteine auch nicht aus der Systemkonstruktion gelöst werden konnten, ohne diese selbst zum Einsturz zu bringen. Erst als mit dem Erscheinen des Nominalismus das empiristische Denken stärker hervortrat, bahnte sich eine Unterscheidung von Glauben und Wissen und damit eine Aushöhlung der Scholastik an, die dann in der Renaissance, etwa in Pomponazzis Auffassung von der zwiefachen Wahrheit, d. h. der Unvereinbarkeit des christlichen Dogmas mit den Lehren d€s Aristoteles, ihren treffend€n Ausdruck erhielt. Der Weg der Analyse war damit beschritten worden. Die Verbindung von Theologie und Philosophie wurde aufgelöst, d. h. das rationale Denken wurde aus seiner heteronomen einer autonomen Position zugeführt: allmählich vollzog sich die Scheidung in natürliche und übernatürliche Wahrheiten, bei der beide Gruppen nach den ihnen eigentümlichen Bedingungen und Abhängigkeiten betrachtet und nach ihven unmittelbaren, nicht mehr ihren mittelbaren Bestimmungen gewertet wurden. Wie auf das Beispiel der Scholastik läßt sich das Begriffspaar Synthese-Analyse auch auf die französische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts anwenden - nur, daß hier die Beschaffenheit der Elemente, die verbunden und gelöst zu denken sinJd, ungleich komplizierter ist: ihre Zahl ist größer, ihre Grenzen sind weniger eindeutig gezogen, und ihre Erscheinungsformen sind vielgestaltig. Un roi, une loi, une foi - so konnte man zwar den Absolutismus Ludwigs XIV. charakterisieren. Diese schlagwortartige Kennzeichnung der Staatsraison vermochte jedoch nicht die Fülle all der Phänomene einzufangen, die wie die politische Machtkonzentration dazu beitrugen, dem 17. Jahrhundert einen normativen, aprioristischen Charakter zu verleihen. Um den eigentümlichen inneren Zusammenhang der Kultur des grand siecle aufzuzeigen, müßte man vielmehr zu der politischen und 2"

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Vorbemerkungen

sozialen Entwicklung di·e Methodik des Descartes, die Logik und die Grammatik von Port-Royal, die Reglementierung der Gnadenlehre durch Malebranche, die Theorie vom honnete homme des Chevalier de Mere, die Rechtsnormen Domats, die Kodifizierung der Ästhetik durch Boileau und endlich die all diesen Faktoren entsprechende Literatur der Klassik in Beziehung setzen. Ein derartiger Versuch könnte zunächst die Grundlinien einer Synthese nachweisen und davon ausgehend - dann deren Zerfallserscheinungen bis zur völligen Auflösung der ursprünglichen Einheit verfolgen, d. h. das Bild einer Analyse zeichnen. Es würden dabei die Wandlungssymptome freigelegt werden, welche von der Geschiehtsauffassung Bossuets zu der Montesquieus, von dem Art poetique Boileaus zu den Theorien Merciers, von der Princesse de Cleves zu Jacques le fataliste führten. Und die erwähnten Bestimmungen von Synthese und Analyse könnten dabei wertvolle Hilfsdienste leisten: zunächst, um zu zeigen, daß mit dem Herauslösen einzelner Elemente aus der Synthese des grand siecle deren völliger Zerfall eingeleitet wurde, sodann, um dem analytischen Prozeß im siecle philosophique bis zur Atomisierung des alten Bewußtseins, bis zu 1enem Chaos der Werte nachzugehen, das selbst wieder eine Umkehr, eine Konsolidierung von neuen Elementen und Anschlußpunkten nach sich ziehen sollte. Der Epoche von 1680 bis 1715 käme, in diesem Zusammenhang gesehen, eine besondere Bedeutung zu, weil in ihr die schrittweise Auflösung der synthetisch verbundenen Elemente nach ihren heterogenen Bedingungen und damit die Ansatzpunkte für die Entwicklung im 18. Jahrhundert zu beobachten wären. Die Anwendung des Begriffspaares Synthese-Analyse auf diesen Zeitraum dürfte gegenüber all den vorher genannten Bestimmungsversuchen mehrere Vorteile für sich haben: 1. weil sie so allgemein ist, daß alle allideren Versuche, diese Zeit zu charakterisieren, darin Platz fänden; 2. weil sie durch die angedeuteten Bestimmungen von Synthese und Analyse so speziell gestaltet werden kann, daß die einzelnen Phänomene ihrer besonderen Problematik nach gewürdigt werden könnten; 3. weil sie die zusammenhängende Betrachtung des 17. und 18. Jahrhunderts zu gewährleisten vermag, indem sie beide Perioden zueinander in Beziehung setzt, und 4. endlich, weil si.e im Nachweis der Verbindungslinien zwischen beiden Jahrhunderten zugleich deren Grenzen unld Unterschiede voraussetzt. Dadurch, daß das Begriffspaar Synthese-Analyse allgemeinen Charakter besitzt, ließen sich z. B. sowohl die genannten Gesichtspunkte Lansons wie die Borkenaus und Groethuysens wie auch die Textes, Bastides und Ascolis darunter koordinieren; die Entstehung eines sozialen Bewußtseins in der republique des lettres, der Zerfall der Ade1sgesellschaft, die Emanzipation des Bürgertums, die kosmopolitischen Tendenzen in der Literatur etc. würden dann als Triebkräfte zur Auflösung der Synthese

Zum Thema

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des 17. Jahrhunderts aufgefaßt werden. Dadurch, daß die Bestimmungen des Begriffspaares zugleich der speziellen Problematik der einzelnen Phänomene Spielraum gewähren, dürfte z. B. Cassirers Argument, die bedeutende Rolle der Theologie wäre durch das Aufkommen des historischen Denkens zu Ende gegangen, als eine Illustration dafür gewertet werden, wie einander heterogene und zu einer Synthese verbundene Elemente aus einer heteronomen in eine autonome Position rücken. Die gewährleistete Kontinuität in der Betrachtung des 17. und 18. Jahrhunderts würde die Auffassung Taines berücksichtig·en, zugleich aber dem Strukturwandel des Rationalismus Rechnung tragen, indem beiden Jahrhunderten der Primat der Raison. wenn auch mit entgegengesetzter Orientierung, zuerkannt bliebe. Und endlich: der Nachweis der Grenzen zwischen der Synthese des 17. und der Analyse des 18. Jahrhunderts könnte die Problematik einer Übergangszeit deutlich machen, die Hazard mit der Bezeichnung Crise andeutete, indem deren Ursachen und Bedingungen näher bestimmt würden. Ungeachtet dieser Vorzüge, welche eine Verwendung der beiden Begriffe mit sich bringen könnte, bleiben sie doch nur hypothetisch, solange sie nicht am historischen Detail demonstriert werden. Einen derartig·en Versuch will die folgende Studie unternehmen, indem sie ein Teilgebiet aus der umfangreichen Problematik herauslöst und unter der besonderen Berücksichtigung des Prozesses betrachtet, der die in der Synthese des grand siecle vereinigten Elemente ihren heterogenen Abhängigkeiten zuführte. Gerade der eigentümliche Charakter dieses Teilgebietes machte, um ihn überhaupt für die Literarhistorie erschließen zu können, den Rückgriff auf allgemeinere Bestimmungen in stärkerem Maße nötig, als man es sonst bei spezifisch literarischen Phänomenen gewohnt ist. Unter den Faktoren, welche den erwähnten Wandlungsprozeß bestimmten, wird im folgenden ein agens herauszustellen versucht, dem bisher nur wenig Beachtung geschenkt wurde: die Rolle der französischen Protestanten. Mit Ausnahme Bayles, der in jeder größeren Darstellung der französischen Literatur- und Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts seinen Platz fand, wurden die protestantischen Autoren der Jahre 1680 bis 1715 beiseite gelassen - sei es, weil sie wegen formaler Mängel nicht in die repräsentative französische Literatur eingereiht und deswegen zur Fachliteratur gerechnet wurden, sei es, weil sie als Emigrantengruppe abseits standen, sich allmählich ihren Gastländern assimilierten und so dem französischen Bewußtsein verloren gingen. Es erheben sich deshalb für eine Behandlung der Literatur des Refuge sogleich zwei Bedenken: man könnte zunächst einwenden, es handelte sich hier nicht um eine Literatur, sondern lediglich um Zeugnisse der theologischen, juristischen und politischen Kontroversen, die ihre Akzentuierung durch die Aufhebung

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Vorbemerkungen

des Edikts von Nantes erfuhren und deswegen als eine von der übrigen Kontroversenliteratur des 17. Jahrhunderts gesonderte Gruppe erscheinen. Zweifellos wäre diese Qualifizierung an sich richtig; wie aber oben ausgeführt, zeigten andere Beispiele der sog. Randliteratur, daß eine gei:stige Untergrundbewegung durchaus Bedeutung für die repräsentative Literatur einer späteren Epoche erlangen kann. Eine Antwort nun darauf geben zu wollen, ob dieser Fall auch in den literarischen Zeugnissen des Refuge gegeben wäre, hieße das Er-gebnis der folgenden Studie schon vorausnehmen. Man könnte ferner einwenden, daß die literarische Produktion der Refugies von vornherein für das französische Geistesleben als bedeutungslos anzusehen wäre, da sich. die Flüchtlinge ja durch ihre Emigration außerhalb der Entwicklung stellten und damit in einer Art Sackgasse befanden. Auch diesen Einwand vermag nur das Studium der historischen Realitäten zu entkräften. Auf den ersten Blick hin jedoch ist schon die enge Verbindung der Emi,granten mit ihrer Heimat sichtbar: nicht nur die Korrespondenzen, sandem die geistige Aktivität der ganzen Epoche, welche unter maßgeblicher Beteiligung der RHugies die übernationale republique des lettres konstituierte, legen beredtes Zeugnis dafür ab. Ja, es scheint zuweilen, als hätte sich der geistige Mittelpunkt Frankreichs vorübergehend in die Buchhändlerkontore Hollands verlagert. Das spätere Schicksal der Refugies alleroings, nach dem Scheitern aller ihrer Hoffnungen, nach Frankreich zurückkehren zu können, lag bereits diesseits der Jahre 1680 bis 1715. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, blieb es so den speziellen Darstellungen der französischen Emigrantenliteratur, wie sie Sayous und Rossel gaben36 , und den Fachleuten anderer Disziplinen vorbehalten, die geistige Leistung der Refugies abzuschätzen. Da die in Frage kommenden Autoren in der Hauptsache geflüchtete Pastoren waren, widmeten sich vor allem die Kirchenhistoriker ihren G edankengängen. Nur allzu oft machten sich dabei einseitig konfessionell gefärbte Gesichtspunkte bemerkbar. Die protestantischen Historiker glaubten, den Märtyrem von 1685 eine Apologie schuldig zu sein. Die katholischen Autoren suchten die Verfolgung zu rechtfertigen37 • Durch die Studien von P eyrat und den Brüdem Haag, von Douen, Puaux, Doumergue etc.as und die mühsame Kleinarbeit in den Artikeln des 36 Sayous, Histoire de la littiirature fran.;aise d l'etranger (1853), und Rassel, Histoire de la litterature fran.;aise hors de France (2e ed. 1897). 3 7 So z. B. von prot. Seite Weiss, Histoire des refugies protestants (1853), Felice, Histoire des protestants de France (1850), Vienot, Histoire de la reforme fran.;aise (1926/34) etc., und vom kath. Standpunkt Abbe Rouquette, Etudes sur la re~Jocation de l'Edit de Nantes (1908). 38 Peyrat, Histoire des pasteurs du desert (1842), Emile et Eugime Haag, La France protestante (1 rc ed.1846/59), Douen, Les premiers pasteurs du desert (1879), Doumergue, Jean Calvin (1899-1917).

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Zum Thema

Bulletin de la Societe de l'Histoire du Protestantisme franr;ais wurden viele Details ans Licht gezogen, die so lange in den Archiven geschlummert und dadurch eine Würdigung der protestantischen Denkund Lebensformen unter Ludwig XIV. verhindert hatten. Nicht zuletzt auch auf diese Arbeiten gestützt, trugen dann Weber und Troeltsch ihre Thesen über die soziale Struktur des Calvinismus vor, die auch in gewissem Maße die Gedankengänge der Refugies berücksichtigten, aber von speziell soziologischem Interesse diktiert blieben3 9. Ein ebenso partikulärer Aspekt wurde in mehreren rechtsgeschichtlichen Arbeiten vorgetragen: so diskutierten Wolzendorff und in neuerer Zeit Derathe und Dodge die politischen Anschauungen des Refuge im Zusammenhang mit den Theorien des Naturrechts4°. Die politische Rolle der Verfolgten war Gegenstand detaillierter Studien von Historikern wie Dedieu und Orcibal41 , ihre geistesgeschichtliche Bedeutung jedoch im Ganzen, d. h. die Einordnung des Refuge in den geisti.gen Wandlungsprozeß der Jahre 1680 bis 1715, blieb ebenso unbeachtet wie lange Zeit diese Epoche selbst. Lanson begnügte sich mit einigen Bemerkungen42, Hazard - auch hierin bahnbrechend - widmete der Frage ein Kapitel unter dem Titel Heterodoxie und brachte an anderen Stellen seines Buches Licht in manche damit zusammenhängende Fragen. Abgesehen von einigen Monographien, wie denen von Barnes und Daum43, blieben weite Strecken im Dunkeln. Der Gegenstand selbst war nicht nur lange Zeit vergessen, sondern auch verschüttet. Das katholische Frankreich blieb bis zur Revolution hin bemüht, die Spuren der verbannten Häresie zu tilgen. Mit dem Verbot des protestantischen Kultes entfiel die Möglichkeit einer beständigen und gesicherten Überlieferung. Die Unterlagen für eine Beurteilung des Denkens und des Lebensgefühls der französischen Protestanten um 1700 sind deswegen vor allem in den !Aufnahmeländern des Refuge zu suchen; dort jedoch blieben sie vielfach, dem Gesichtskreis der Forschung entzogen, im Staub der alten fürstlichen Sammlungen. Quellen finden sich in den Korrespondenzen der Flücht39 Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religions-Soziologie I. (photomecho gedr. Aufl. 1947), und Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und. Gruppen (1912). 40 Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht etc. (1916), Dodge, The political theory of the Huguenots of the dispersion 000 (1947) und Derathe, J ean-Jacques Rousseau et la science politique de son temps (1950). 41 Dedieu, Le role politique des protestants fran!:ais o (1920), und Orcibal, Louis XIV et les protestants (1951). 42 cfo zo B. Lanson, Formation etc., Revo d. cours et confo, 17e annee, 1rc serie, p. 360. 41 Barnes, Jean Le Clerc ... (1938), und Daum, Pierre Jurieu und seine "4.useinandersetzung mit Antoine Arnauld (1937)0 0

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Vorbemerkungen

linge, ferner in den Synodenprotokollen und Kirchenbucheintragungen der emigrierten Glaubensgruppen und, vor allem, in den unzähligen Traktaten theologischen, juristischen, philosophischen Inhalts, welche in großem Maße dazu beitrugen, die französische Sprache in Europa zu verbreiten. In einem schwerfälligen, antiquierten Stil geschrieben, mit umständlichen, Seiten füllenden Titeln versehen, mit schulmäßig aufgeführten Syllogismen durchsetzt, lassen diese Schriften gewöhnlich weder das zuweilen tragische Schicksal ihrer Autoren noch deren Bedeutung für die geistige Entwicklung vermuten. Manchmal geben fingierte Verfasser- oder Druckernamen Anhaltspunkte für die Kühnheit der Publikation; oft aber ist sich der Autor, zu Lebzeiten ein friedlicher Pastor oder ein gelangweilter besitzloser Adliger, nicht der Bedeutung seiner Äußerungen bewußt, die dem Betrachter von heute vielleicht als eine wichtLge Etappe der Entwicklung erscheinen, weil es ihm freisteht, die Zusammenhänge zu übersehen. Um nun diese vergessene Randliteratur für eine Beurteilung der geistigen Situation der Franzosen um 1700 nutzbar zu machen und damit vielleicht einige Anhaltspunkte für das Entstehen der Literatur des 18. Jahrhunderts zu gewinnen, gilt es, grundsätzlich kein Zeugnis außer acht zu lassen, das eine Beziehung zu der erwähnten Wandlung des Bewußtseins in den Jahren 1680 bis 1715 aufweist. Die bei einem derartigen Unternehmen mögliche Hilfestellung anderer Disziplinen, vor allem die der Kirchengeschichte, wird besonders dann willkommen sein, wenn die vorhandenen Zeugnisse nur mittelbare Schlüsse auf das allgemeine Bewußtsein der Epoche zulassen: die Arbeit des Literarhistorikers, der dem vorbereitenden Stadium einer Literatur nachspürt, kann dadurch wesentlich erleichtert werden, daß er sich gegebenenfalls auf den historischen und systematischen Apparat anderer Disziplinen stützt, um dann aus dem geschichtlichen Zeugnis selbst die Quellen transparent werden zu lassen, die er für seine Zwecke benötigt. In diesem Sinne kann die folgende Einführung in die Literatur des Refuge nicht mehr als ein Versuch sein, in die Problematik durch Auswahl von typisch erscheinenden und nach den angedeuteten Bestimmungen des Begriffspaares Synthese-Analyse geordneten Gesichtspunkten einzuführen, kann also keine vollständige Darstellung der literarischen Produktion der Refugies bieten; sie kann zugleich aber nicht weniger als ein Versuch sein, mit dieser Auswahl typischer Gesichtspunkte die Problematik so zu erfassen, daß dadurch Beziehungen zur repräsentativen französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts deutlich werden: andernfalls wäre eine Behandlung des Stoffes von seiten der Literarhistorie nur von geringem Interesse.

Erstes Kapitel

Ausgangspunkte Es dürfte große Schwierigkeiten bereiten, für die französische Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts einheitliche Benennungen anzugeben. Zu große Gegensätze fallen in die Augen, zu komplizierte Wandlungen machen sich bemerkbar, um eine Herauslösung von gewissen Wertmarken zu g·e statten, die der Vielfalt der Erscheinungen gerecht werden könnten. Denn zu den Merkmalen dieses Zeitabschnittes gehören sowohl die rohen Sitten, die grobe Ausdrucksweise der Gefolgsleute Heinrichs IV. als auch die Galanterie zur Zeit Ludwigs XIV. In der Literatur dieses selben Zeitraumes begegnen die Romanungeheuer der Astree, des Cyrus den scharfgezeichneten Porträts La Bruyeres, die Nachwirkungen der italienisch.en Farce und des spanischen Allerweltsstückes den Höhepunkten der Tragödie Racines. Auf religiösem Gebiet stehen erregte Debatten über die Frage, wie oft man das Abendmahl nehmen sollte, neben den Hundetaufen von gewissen Libertins. Und das politische Leben zeigt sowohl den Geist der Fronde, als auch die Manifeste des Absolutismus. Wenn daher im folgenden versucht wird, einige Erscheinungen aus der Fülle herauszugreifen und als synthetische Denk- und Lebensformen zu deuten. so kann damit nur eine Hypothese geboten werden, die es bestenfalls gestattet, einige Ordnungsprinzipien anzugeben. Eine derartige Orientierung vermag bekanntlich um so weniger endgültige Bestimmungen zu liefern, je mehr sie die Mannigfaltigkeit der Phänomene einbezieht; sie wird deshalb auch nur unternommen, um eine partikuläre Erscheinung ins Licht zu setzen: die geistesgeschichtliche Rolle des französischen Protestantismus nach der Revokation und seinen Beitrag zur Entwicklung analytischer Denkformen. Ein kurzer Blick auf die eigentümliche Konzentration der politischen und geistigen Kräfte im grand siecle, die das 17. Jahrhundert innerhalb der europäischen Geistesentwicklung zu einem französischen gestaltete, dürfte für diesen Zweck ebenso lehrreich sein wie eine Erörterung der Position, welche der französische Protestantismus demgegenüber einnahm. Denn die Ausgangspunkte für die Literatur des Refuge könnten dabei hervortreten: wenn nämlich nachzuweisen ist, daß der französische Protestantismus an der Ausbildung der synthetisch bestimmten Kultur

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Erstes Kapitel: Ausgangspunkte

des grand siecle maßgeblich beteiligt war, so erscheint sein-e Rolle als treibender Faktor für die Hinwendung des allgemeinen Bewußtseins zum analytischen Denken mindestens in Frage gestellt; wenn jedoch wahrscheinlich gemacht werden kann, daß die synthetische Bewußtseinsrichtung im 17. Jahrhundert ohne Mitwirkung und vielleicht gar unter Ausschluß des Protestantismus zustande k'a m, so ist zu erwarten, daß mit dem Einsetzen einer analytischen Blickrichtung auch ihm eine bedeutsame Rolle zufallen konnte. Synthetische Denk- und Lebensformen des 17. Jahrhunderts gaben sich wohl am deutlichsten an drei Beispielen zu erkennen: an denen des absolutistischen Staates, der Denkform des Descartes und der sog. Klassik- soweit sie als Spiegel des allgemeinen Bewußtseins in Betracht gezogen werden kann. I

Die Wirren der Religionskriege des 16. Jahrhunderts hatten ein allgemeines Ruhebedürfnis zur Fol,ge. Wie es die Satyre Menippee verkündete, waren Staat und Gesellschaft, Bildung und Finanzen, alle Gebiete des Lebens in Frankreich überhaupt chaotischen Zuständen verfallen. Durch die Intervention Spaniens auf seiten der katholischen, durch die Hilfestellung Englands und einiger deutscher Staaten zugunsten der protestantischen Partei hatten sich die innerfranzösischen Gegensätze nur verschärft, und das Königrek.h war zum Schauplatz europäischer Machtkämpfe gewo11den. Man sehnte sich nach einer ordnenden ZentraLgewalt, nach einer Politik der starken Hand, welche endlich wieder Ruhe herstellte, den ausländischen Mächten den Zutritt verwehrte und die partikulären Interessen der beiden Religionsparteien und der drei Stände in die Schranken verwies. Heinrich IV. wußte dies en Erwartungen - nicht zuletzt durch seinen aus politischer Klugheit vollzogenen Übertritt zum Katholizismus - zu entsprechen. Den Katholiken zeigte er seinen guten Willen, das alte Bekenntnis als Staatsr.eligion weiterbestehen zu lassen, und den Protestanten garantierte er mit dem Edikt von Nantes den Schutz ihres Glaubens und gewisse Sonderrechte: die Basis für eine nationale Politik, welche die konfessionelle Spaltung in sekundäre Stellung verweisen konnte, war damit gegeben. Die Anarchie des 16. Jahrhunderts blieb als warnendes Beispiel für das 17. bestehen und kam der erstarkenden Zentralgewalt des Königs zugutel. Freilich dauerte es noch Jahrzehnte, bis sich Stände und Religionsparteien der neuen Entwicklung fügten und gar zu ihren Trägern wurden. Der Hochadel, schon im 15. Jahrhundert durch Ludwig XI. 1 Weill, Les theories du pou,Joir royal en France pendant les guerres de religion, p . 291.

Synthetische Denk- und Lebensformen im 17. Jahrhundert

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empfindlich geschwächt, hatte in den Wirren der Religionskriege noch eine große Gelegenheit gesehen, seine mittelalterliche Machtstellung gegenüber dem Königtum zurückzugewinnen, war aber durch die eigensüchtigen Motive und die verheerenden Folgen seiner Unternehmungen in Mißkredit geraten. Dem diplomatischen Geschick Heinrichs IV. gelang es, keine geschlossene Front des .Adels mehr entstehen und einzelne aufkommende Verschwörungen als kriminelle Handlungen erscheinen zu lassen, welche dem Erstarken der Nation im Wege standen. Die Stellung des Königs wurde allmählich auch in den Augen der Adligen zum Symbol der nationalen Einheit. Bezeichnend dafür ist die Tatsache, daß sich der Widerstand des Adels gegen Richelieu und Mazarin nicht mehr gegen die zentrale Stellung des Königs, sondern nur noch gegen dessen allmächtige Minister richten sollte: beide Staatsmänner wurden von der Adelspartei als Usurpatoren hingestellt, gegen die sich die Nation im Interesse des Königs wehren sollte. Mit dem Scheitern der Fronde schließlich, welche von ständischem Egoismus und Abenteuerlust getragen bis zu offenem Landesverrat führte, wurde die isolierte Stellung des Adels besonders deutlich. Sein provisorisches Bündnis mit dem dritten Stand brach jäh auseinander2 • Der Hochadel von einst hatte seine politische Rolle ausgespielt, und seine hervorragenden Vertreter wurden wie Conde Generale des Königs. Hof und Aristokratie verschmolzen miteinander und vermittelten so der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts eine eigentümliche gesellschaftliche Basis. Ebenfalls von Hindernissen war die Einordnung des französischen Klerus in die Machtkonzentration des Königtums begleitet. Wohl hatte sich der König dadurch, daß er der Römischen Kirche angehörte., rein äußerlich mit der katholischen Partei identifiziert. Sein Streben nach absoluter Macht mußte aber gerade von seinen katholischen Untertanen durchkreuzt werden, solange sie über rein religiöse Bindungen hinaus von Rom abhängig waren. Die Religionskriege hatten die verhängnisvollen Folgen der Verknüpfung von konfessionellen und internationalen politischen Bindungen gezeigt. Mit der Ermordung Heinrichs IV. drohten die alten Gegensätze wieder aufzubrechen. Die Protestanten und bedeutende Vertreter der katholischen Partei mach· ten die Lehre vom Tyrannenmord des Jesuiten Mariana und die Staatstheorien des Kardinals Bellarmin für diese Tat verantwortlich. Auf der Versammlung der Generalstände von 1614 rückte zwar der Kardinal Du Perron als Sprecher des Klerus von der Sanktionierung 2 Typisch dafür war das Wort eines Bürgers von Bordeaux, welcher einer Dame des Hochadels, die von ihren Parteigängern verlassen war, sagte: "Ne vous desolez pas, princesse, nous recommencerons quand !es vendanges seront faites." Zit. von Normand, La bourgeoisie frant;aise,

p. 360.

Erstes Kapitel: Ausgangspunkte

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des Königsmordes ab, wandte sich aber gegen die Forderung des dritten Standes, nach der die Untertanen hinfort in keinem Falle von ihrem Treueid gegen den König entbunden werden sollten3 . Die disziplinarische Abhängigkeit des Klerus vom Papst wurde damit am Anfang des 17. Jahrhunderts noch einmal eindrucksvoll dokumentiert; sie sollte aber in zunehmendem Maße den von Hof und Bürgertum getragenen gallikanischen Tendenzen Platz machen. An mittelalterliche Traditionen anknüpfend, die den französischen Königen eine Sonderstellung gegenüber Rom zuwiesen, erhob sich eine Reihe von Sprechern, welche dem Papst jedes Recht bestritten, in die weltlichen Belange des Königreiches einzugreifen. Diese Agitation, die mit dem Regierungsantritt Heinrichs IV. einsetzte4 , verdichtete sich unter Richelieu zu dem Projekt, ein Patriarchat für Frankreich zu errichten5 , und führte später zu der bekannten Deklaration Bossuets von 1682. Der wachsenden Macht des französischen Königtums ging so - wenn auch unter ständigen Kämpfen - ein allmähliches Abnehmen der ultramontanen Tendenzen parallel. Der Klerus, dessen höhere Würden bei der schwindenden politischen Bedeutung des Adels und angesichts der Bekehrung bekannter protestantischer Geschlechter zum Katholizismus besondere Anziehungskraft auf die Söhne der 'Aristokratie ausüben mußten, wurde im Laufe der Zeit zu einem funktionellen Glied der absoluten Monarchie. Damit aber erfuhr die gesellschaftliche Basis, welche Königtum und Adel vereinte, zugleich ihre Ergänzung in religiöser Hinsicht. Ebenso wie die Kirchenfürsten durch verwandtschaftliche Beziehungen und Lebensstil mit dem Hofe und den Salons des Adels verbunden blieben, wurde der katholische Klerus vorn König und von der aristokratischen Gesellschaft als berufener und loyaler Sachwalter des Seelenheils angesehen: beide Sphären durchdrangen und ergänzten sich. Die Königstreue des dritten Standes schließlich gehörte schon zu den Traditionen des 15. und 16. Jahrhunderts. Denn eine starke Zentrnlgewalt konnte ihm wirksamen Schutz gegenüber den Machtansprüchen von Adel und Klerus bieten. Schon seit dem 14. Jahrhundert wurden die Parlamente, in denen einst hohe weltliche und kirchliche Würdenträger vertreten waren, nur noch von Juristen besetzt, die ihnen ursprünglich als Fachleute, als Legisten, beigegeben waren. Die Verbindung von Krone und drittem Stand wurde damit Picot, Histoire des Etats Generaux, t. III. pp. 361 ff. cf. als bedeutsarru;tes Zeugnis dieser Zeit die Schrift des Pariser Advokaten Pithou, Les libertez de l'Eglise gallicane, dediees au. roi Henri IV 3

~

(1594). 5

Über das Vorhaben Richelieus cf. Orcibal, Les Origines du Jansenisme,

t. III. pp. 108 ff.

Synthetische Denk- und Lebensformen im 17. Jahrhundert

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besonders sinnfällig; und gerade mit Hilfe dieser Institutionen erlangte das Bürgertum im Laufe der Zeit eine ansehnliche Machtposition im Königreich. Durch gewisse Vergünstigungen wi.e Steuerfrei-heit, durch die Garantie, nicht aus ihren Ämtern entlassen zu werden, und die Möglichkeit, si.e sogar vererben zu können, entstand unter den Juristen eine Art von Parlamentsaristokratie, die als noblesse de robe ebensoviel Selbstbewußtsein besaß wie die noblesse d'epee. Heinrich IV., der vor allem vom dritten Stand als Retter des Vaterlandes begrüßt und unterstützt wurde, sanktionierte mit der paulette, einer jährlichen Taxe für den Besitz einer Ratsstelle, den schon üblichen Ämterkauf und ermöglichte damit das Einrücken auch nicht juristisch g.ebildeter Kreise des Bürgertums in führende Stellungen. Einer allgemeinen Nivellierung der oberen französischen Gesellschaft war damit der Weg geöffnet. Dem Absinken der alten Aristokratie zu politischer Bedeutungslosigkeit entsprach ein Aufsteigen der unteren Schichten in die neugeschaffenen Würden des Geldadels6 . Mit dem Regierungsantritt Richelieus bekamen beide Gruppen die Folgen dieser Entwicklung zu spüren: der Kardinal fühlte sich nicht nur stark genug, um dem Hochadel vollends das Rückgrat zu brechen und die Ständeversammlungen zu unterbinden, sondern überging auch durch Einsetzung von Sondergerichten die bisherigen Rechte der Parlamente. Das Zwischenspiel der Fronde, die diese Entwicklung zu unterbrechen drohte, aber kein für das Bürgertum verbindliches Programm aufzustellen wußte, bestärkte nur den dritten Stand, zu seiner traditionellen 6 Auf den Versammlungen der Generalstände konnten die alten Adligen zu den neuen sagen: "Vous autres, messieurs, vous montez, et nous descendons . . ." (zit. von Avenel, Richelieu et la monarchie absolue, t. II. p. 127). Die Aspirationen des Bürgertums wurden u. a. von Balzac scharf kritisiert: "Des gens de neant, sortis de la lie du tiers Estat, ont trouue des Parens dans l'Histoire de leur pais, le mesme iour qu'ils ont este en faueur. On leur est venu demander de quelle branehe de la Maison Royale ils aimoient mieux descendre, & qui leur plaisoit dauantage pour Predecesseur . . . La ressemblance d'un mot, ou la transposition d'une syllabe entre les mains d'un bon Auocat, a fourni en un instant une noblesse de douze races . ..", Dissertation ou diverses remarques su.r divers escrits, pp. 66 f. Das Ergebnis dieser folgenschweren Verschiebung zeigt Ende des 17. J ahrhunderts Vigneul-Marville, Melanges d'histoire et de litterature, t. II. pp. 279 f. "La plupart des maisans en France se font par le negoce ou par l'usure. Elles. se maintiennent quelque temps par la rohe et s'en vont par l'epee. Un seigneur mange son bien a l'armee: ses enfants, charges de dettes, defendent encore quelque temps le terrain par les pr oces: leurs chäteaux deviennent des masures et leurs descendants labourent la terre. Ceux-ci envoient leurs enfants ehereher fortune a Paris. Ces enfants, revetus de toile, se rangent sur le perron du Palais, et devenus laquais ils remontent a la place de leurs peres et quelquefois par degres et a pas comptes, quelquefois d'emblee. Ainsi va le monde circulant toujours et passant de la roture a la noblesse et de la noblesse a la roture sans discontinuer."

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Erstes Kapitel: Ausgangspunkte

Loyalität zur Krone zurückzukehren7 • Die Monarchie garantierte Ruhe und Schutz vor Übergriffen von seiten partikulärer Interessentengruppen; sie gab im 17. Jahrhundert durch ihr geschmeidiges hierarchisches System auch dem Bürgertum soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Als Ludwig XIV. die Regierung übernahm, erhielt die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts herrschende Ansicht, daß die Rettung Frankreichs durch die Monarchie der Providenz Gottes zu danken sei, neue Verbindlichkeit für die ganze Nation8 . Der junge König, der schon als Kind auf Geheiß seines Schreiblehrers den Satz kopierte, L'hommage est deu aux roys; ils font ce qu'il leur plaist9, übernahm selbst die Regierung und ließ sich nicht mehr von machthungrigen Ministern bevormunden: er wurde - nicht zuletzt für das Bürgertum - zum Inbild des jugendlichen Herrschers, an dessen Glanz die ganze Nation teilnehmen konnte 10• Wenn auch seine Maßnahmen gelegentlich den Interessen und Sympathien des dritten Standes zuwiderliefen, so blieb doch seine Person mit dem Staatswohl identisch. So war auch die wiederholte Weigerung der Parlamente, die jansenistische Bewegung zu verurteilen, kein Ungehorsam gegenüber den Wünschen des Königs, sondern Ausdruck des Unwillens über das Eingreifen von Papst und Jesuiten in die staatlichen Angelegenheiten11 . Unter Ludwig XIV. wurde so die Entwicklung abgeschlossen, die sich unter Heinrich IV. angebahnt hatte: das Königtum, so lange die Spitze des gesellschaftlichen Bauwerks, wurde nun zu dessen Basis12 . Mit der politischen und sozialen Einordnung des Adels, des Kleru5 und der oberen Schichten des Bürgertums in die Sphäre des Hofes entstand ein Kräftezentrum, das nicht nur die inneren Verhältnisse 7 Über die Auseinandersetzung Richelieus mit den Parlamenten cf. R. v. Albertini, Das politische D enken in Frankreich zur Z eit Richelieus, pp. 68 ff. Selbst zur Zeit der Fronde hielt das Bürgertum am monarchistischen Prinzip fest, wie die Haltung d es aus P arlamentarierkr eisen stammenden Claude Joly zeigte, der als Konservativer, nicht aber als R evolutionär auftrat und seine Königstreue nachdrücklich betonte, cf. See, Les idees politiques en France au XVII• siecle, p. 121. 8 U. a. gab Balzac dieser Ansicht 1631 Ausdruck: "C'est le hazard qui nous a sauuez . .. C'est Dieu, qui a pris un soin particulier de la France abandonnee, & a voulu estre son Curateur dans la confusion de ses affaires: C'est sa prouidence, qui a perpetuellement combattu contre l'imprudence des hommes . . ." Le Prince, pp. 116 f. art. 162. 8 Lacour-Gayet, L'education politique de Louis XIV, p. 136. 10 Besonders Ludwig XIV. sollte so den Erwartungen entsprechen, die Balzac an den Fürsten gestellt hatte (l. c., pp. 181 f. art. 251): "Il ne craint point les Oppositions des Princes, les Ligues des republiques, les forces de plusieurs Royaumes, assernblees contre la iustice de ses armes. I1 ne craint point les iniures des saisons, les difficultez des lieux, & une infinite de differens dangers, qui m enacent sa personne a la guerre : Mais veritablement il craint Dieu ..." 11 Bouchard, De l'Humanisme d l'Encyclopedie .. ., p. 263. 12 Carne, Les fondateurs de l'unite fran!;aise, t. II. p. 2.

Synthetische Denk- und Lebensformen im 17. Jahrhundert

:-n

Frankreichs konsolidierte und seine außenpolitische Pa.sition stärkte, sondern vor allem auch als gesellschaftlicher Anziehungspunkt die Geschmacksbildung des Jahrhunderts maßgeblich beeinflussen sollte. Der alten noblesse, die sich von den rauben Kriegssitten abgekehrt hatte, fiel dabei eine tonangebende Rolle zu. Ihre Umgangsformen und Wertbegriffe wurden für die um den Hof gruppierte französische Gesellschaft verbindlich: ohne mit wirklicher Macht ausgestattet zu sein, übernahm der .Adel ,gleichsam eine dekorative Aufgabe13 und lieferte das Kolorit für den absolutistischen Staat. Klerus und Bürgertum stachen keineswegs von diesem aristokratischen Formniveau ab. Die Regeln der maßvollen honnetete, die Etikette der adligen bienseance zeichneten auch ihre Vertreter in so starkem Maße aus, daß der pedantische, haarspaltende Beichtvater als ebenso lächerlich empfunden wurde wie der Parvenu, dem die Anpassung an den aristokratischen Lebensstil mißlang. Zur politischen Eingliederung der Stände in den absolutistischen Staat kam so eine eigentümliche gesellschaftliche Normierung ihrer Vertreter durch die adlige Lebensform: ursprünglich einander heterogene Elemente vereinigten sich zu einer Synthese. Parallel zu dieser politischen Entwicklung verlief das Entstehen eines neuen philosophischen Bewußtseins. Wohl war in der Renaissance die Autorität der Scholastik erschüttert worden. Man hatte im 16. Jahrhundert den neuentdeckten Aristoteles gegen den der Schulen ausgespielt, hatte den Kreis der überkommenen Lehren durch Denkelemente Platons, Demokrits, Epikurs und Ciceros erweitert. Pantheistische, empiristisch-naturalistische, mystische Systematisierungsversuche lösten einander ab, ohne indessen mit der Erfassung neuartiget" Aspekte zugleich eine Vertiefung des philosophischen Denkens herbeizuführen. Die nachhaltige Wirkung der entdeckten Quellen des Altertums schien gleichsam einem originellen modernen Denken im Wege zu stehen. Das Zusammenfließen der verschiedensten Denkinhalte zuweilen eine Vermischung von poetischen und spekulativen Wahrheiten, von Abevglauben und primitiven naturwissenschaftlichen Versuchen - zei,gte deutlich ein Stadium der Gärung, ein chaotisch-e s Nebeneinander von Altem und Neuem. Man empfand die Notwendigkeit einer neuen wissenschaftlichen Orientierung, ohne jedoch der überkommenen Denkformen entraten zu können. Als Ergebnis dieser Unsicherheit der Anschauungen mehrten sich Zeichen einer tiefen Skepsis. Montaigne, Charron, Sanchez zeigten die Brüchigkeit aller menschlichen Erkenntnis und den Gegensatz von Weisheit und Erudition auf. 13

Auerbach, Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bil-

dung, p. 40.

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Erstes Kapitel: Ausgangspunkte

Die Lehre von Descartes wirkte demgegenüber wie ein Evangelium; sie stellte eine Reaktion sowohl gegen die unzulänglichen Systematiker wie gegen die Zweifler dar. Sein vorgeblich voraussetzungsloses Denken, das neben der Absage an die Tradition den Zweifel an den Anfang aller Methode setzte, spielte die Argumente beider Gruppen gegeneinander aus, um sie dadurch zu überwinden: mit den Skeptikern wies er die Unzulänglichkeit der bisherigen Systematisierungsversuche nach, gegen die Skeptiker indessen entkräftete er den totalen Zweifel durch die Reduktion alles Denkens auf unmittelbare erste Prinzipien. Indem er die Mathematik zur Grundwissenschaft des Denkens erhob, ernüchterte er sozusagen die von antiken Reminiszenzen und modernen Ahnungen erfüllte Spekulation der vorangehenden Generation. Die Kriterien seiner Evidenzformeln gestatteten dabei sowohl eine Distanzierung von überkommenen Denkinhalten wie auch deren Verwendung als Bausteine zu neuen Einheiten. So geschichtsfeindlich und revolutionär er sich auch gab, so deutlich hoben sich deshalb in seinem Denken auch Elemente ab, die der Tradition entstammten. Daß sie dennoch im Zuge des Systems ein neues Gesicht e~hielten, war das Geheimnis der rationalen Methode. Wenn Montaigne und andere Renaissancedenker der aus dem Erinnerungsvermögen resultierenden Summe der Einzelerkenntnisse, also dem enzyklopädischen Wissen, den grenzenlosen Begriff der sagesse entgegensetzten, so g.ewann Descartes eine Basis, auf der beide Vorstellungen Platz finden konnten: mit der Proklamierung der Mathematik als Vorbild alles Wissens und der dieser Disziplin gemäßen Fixierung erster Prinzipien für das Denken überhaupt war implizite gegeben, daß die höchste Stufe wissenschaftlicher Erkenntnis also nicht die höchste Weisheit auszuschließen brauchte14 . Und umgekehrt war höchste Weisheit nicht ohne die Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnis denkbar, welche die rationale Methode an die Hand gab. Descartes gelang es, dabei recht unterschiedliche Elemente zu verschmelzen und Spuren zu verwischen, welche di.e neuere Forschung aufzudecken suchte. Die Originalität seines Denkens wurde damit keineswegs in Frage gestellt: sie rückte nur in ein anderes Licht und zei.gte sich gerade in der eigentümlichen Verknüpfung vorgefundener Gedankenreihen zu einer neuen Synthese - ob es dabei um den Primatsanspruch der Mathematik ging, der sich schon .im Bewußtsein der italienischen Renaissance fand, oder um die Abhängigkeit des cogito von der augustinischen Tradition, um die Einflüsse der Scholastiker auf den Gottesbegriff des Descartes oder um die Verarbeitung von Theorien Keplers und Galileis in der cartesianischen mecha14

cf. den Kommentar Gilsons zum Discours de la methode, pp. 93 f.

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nistischen Naturlehre15, Der revolutionäre Effekt der neuen Systematisierung wurde durch diese Abhängigkeiten durchaus nicht verwischt; denn er beruhte ja nicht auf dem materialen, sondern auf dem prinzipiellen Unterschied des cartesianischen zu voraus- oder parallelgehenden Systemen, vom modernen Weltbild auszugehen und die überlieferten Denkelemente danach auszurichten, statt - wie es die der Renaissance verbundenen Denker taten - die Antike darzustellen, um daraus dann einige moderne Folgerungen abzuleiten. Indem jedoch andrerseits der Totalitätsanspruch des neuen Systems sichtbar wurde, überhaupt alle Begriffe des Denkens methodisch erfassen zu wollen, konnten gewaltsame Lösungen nicht ausbleiben 16 • Besonders im Verhältnis des Descartes zur Theologie wurden die Grenzen seines synthetischen Vermögens deutlich. Wie die Verurteilung Galileis zeigte, war die Römische Kirche nicht bereit, die Verbreitung moderner wissenschaftlich.e r Erkenntnisse hinzunehmen, die der traditionellen Begründung des Dogmas hätten gefährlich werden können. Descartes operierte deshalb auch mit größter Vorsicht und betonte wiederholt, nur vom philosophischen und naturwissenschaftlichen Standpunkt aus zu urteilen und sich im übrigen dem Richterspruch der Kirche zu beugen. Sein Bestreben indessen, das aristotelische und scholastische Denken zu überwinden, konnte nicht den Bereich der Naturphilosophie erfassen, ohne zugleich bedenkliche theologische Konsequenzen aufzuwerfen. Gerade der Zusammenhang der verschiedenen Gebiete des aristotelischen Systems hatte der Scholastik zur Fundierung des kirchlichen Dogmas gedient. Als nun die aristotelische Naturlehre durch die Entdeckungen der Naturwissenschaft fraglich wurde und Descartes sie durch eine mechanistische Welterklärung ersetzte, entstand eine für die Integrität des Dogmas bedenkliche Situation: entweder gaben die Theologen die aristotelische Stütze auf- eine angesichts der katholischen Traditionsgebundenheit gefährlich erscheinende Zumutung - , oder sie hielten unter Einschluß gewisser Korrekturen, die durch die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntniss·e bedingt wurden, am alten System im großen und ganzen fest. In beiden Fällen erhielten die Gegner der christlichen Religion neue Argumente: die völlige Abkehr von Aristou cf. diesen verschiedenen Blickpunkten gemäß und mit weiteren Quellenangaben Friedrich, Descartes und der französische Geist, pp. 22, 72; Gilson,

Etudes sur le role de la pensee medievale dan s la jormation du systeme cartesien, pp. 191 ff.; Garin, Theses cartesiennes et theses thomistes, pp. 83 ff.; Koyre, Descartes und die Scholastik, pp. 59 ff.; Milhaud, Descartes savant, passim. 16 J aspers, Descartes und die Philosophie, p. 87, spricht von einer "advo-

katorischen" Denkweise und bemerkt dazu, die Wahrheit erhielte bei Descartes den Charakter, "daß sie schon gewußt ist und doch noch bewiesen werden soll".

3

Haas~,

Litt-ratur

du Re fuge

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Erstes Kapitel: Ausgangspunkte

teles brachte nicht nur eine Trennung von Theologie und Philosophie mit sich, sondern stellte zwgleich die auf Kontinuität beruhende Verbindlichkeit des Dogmas in Frage; gewisse Zugeständnisse an die neuen Theorien in den Bezirken der Naturwissenschaften aber beschworen eine Revision auch auf theologischem Felde herauf, denn nur zu leicht konnte man neben den soeben nachgewiesenen Irrtümern des Stagiriten noch weitere vermuten und sie auf die christliche Religion beziehen, solange diese überhaupt noch mit seinem System verbunden blieb. Descartes wurde sich der Tragweite seiner Lehren voll b ewußt, als er auf den Widerstand der Schulphilosophie traf. Seine Gegner machten die Transsubstantiationslehre zu einem Kernpunkt ihres Angriffs. Wenn nach der Physik des Descartes die Größe der Ausdehnung das Wesen eines Körpers ausmachte, so war nicht einzusehen, wie der Körper des Heilandes, der mehrere Fuß groß war, in der Ausdehnung des kleinsten Teilchens der geheiligten Hostie enthalten sein sollte. Schon Arnauld brachte bei aller Bewunderung für Descartes in seinen Einwänden zu den Meditationes das ,Argument, daß die scholastischkatholische Lehre von der Selbständigkeit der Akzidenzien beim Abendmahl unvereinbar mit einer Auffassung war, welche die materielle Substanz als gleichbleibend und unabhängig von den Modifikationen ihrer Teile ansah. Descartes gab in seiner berühmten Antwort eine etwas gekünstelte Erklärung, welche sowohl den Prinzipien seines Systems wie auch den Beschlüssen des Tridentinum gerecht zu werden suchte, im Grunde aber nur den unbegreiflichen Charakter des Wunders geltend machte 17• Welche besondere Aufmerksamkeit er dem Problem widmete, zeigten auch zwei seiner Briefe, die in seinem Jahrhundert aus durchsichU.gen Gründen unveröffentlicht blieben und deren Inhalt seinen Anhängern Anlaß zu w eiteren Spekulationen bot18 • Aber sowohl in diesem inoffiziellen Versuch, die Problematik 17 cf. Gouhier, La pensee religieuse de Descartes, pp. 248 ff. und Lewis, L'Individualite selon Descartes, pp. 57 ff. 18 Die beiden Briefe von Descartes an den Pere Mesland wurden erst 1811 vom Abbe Emery unter den Pensees ... su.r la religion et la m orale, pp. 243 ff. veröffentlicht. Sie wurden von Clerselier nicht in die Ausgabe der Briefe des Descartes a ufgenommen, siche r w eil er fürchtete, dam'it Anstoß zu erregen und nicht nur den jesuitischen Gegnern der neu en P hilosophie, sondern auch den Protestanten Angriffsflächen zu biet en. Ihr Inhalt brachte eine Erklärung der Tra nssubstantiationslehre, die von der offiziellen Antwort von Descartes auf die Einwände Arnaulds beträchtlich abwich. Über die Diskussion dieses Lösungsversuches cf. Lemaire, Dom Robert Desgabets, son systeme, son influence .. ., pp. 99 ff. und Bouillier , Histoire de la philosophie cartesienne, t. I. pp. 445 ff. Dem gegenüber blieb Bossuet bemüht, die offizielle Erklärung des Descartes a n Arnauld als allein authentisch und mit dem Dogm a des T ridentinum üb ereinstimmend a nzusehen, cf. Ex amen d'u.ne nouvelle explication du mystere de l'eucharistieJ ... (ect. E. Levesque), p. 17.

Synthetische Denk- und Lebensformen im 17. Jahrhundert

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der TrailSS'Ubstantiationslehre zu lösen, wie in seiner Antwort an Arnauld erwiesen sich die Prinzipien seines Denkens als unzulänglich: sie zogen sich bald den Vorwurf der Häresie zu19. Bezeichnend für den Totalitätsanspruch der neuen Philosophie war es jedoch, daß Descartes gerade hier, bei der Erörterung einer der heikelsten Stellen seines Systems, die Hoffnung aussprach, daß einst die Zeit kommen werde, in der an Stelle der scholastischen Erklärung des Dogmas seine eigene akzeptiert werden würde20• Er folgte dabei seiner Disposition, die ihn schon vor der Niederschrift des Discours de la methode erklären ließ, daß die mathematischen Wahrheiten ebenso wie alle Kreaturen von Gott abhängen, und daß dementsprechend eine einheitliche Betrachtungsweise sowohl für physische wie für metaphysische Phänomene zu fordern sei21 • So viel äußeren Respekt also Descartes auch gegenüber der Kirche zeigte, so sehr setzte er - wie diese Äußerungen beweisen - seinen Ehrgeiz darein, mit seiner Philosophie der Theologie neue Grundlagen zu vermitteln22• Freilich fand diese Tendenz, seine Spekulation in eine Art von Apologie des Christentums einmünden zu lassen, geteilte Aufnahme: viele seiner Anhänger mit Malebranche an der Spitze bildeten sie mit wahrer Besessenheit aus, erbitterte Gegner wie Huet nahmen sie zum Anlaß, sein ganzes System umzuwerfen, und die Freigeister, an deren Adresse sie gerichtet war, sagten mit Saint-Evremond, daß die Überlegungen von Descartes nur bewiesen, wie wenig ihn die Religion überzeugte%3. Selbst die maßgeblichen Vertreter der jan:senistischen Bewegung, deren Forderung, zur Glaubensform der christlichen Urkirche zurückzukehren, gewisse Parallelen zu dem Ehrgeiz des Descartes, voraus19 So z. B. Daniel, Voyage du Monde de Descartes, pp. 194 ff. und Huet, Censura phHosophiae cartesianae, p. 184. 20 cf. den letzten Abschnitt von Descartes' Antwort auf die vierten Einwände gegen die Meditationes und seinen Brief vom 22. 2. 1638 (an den Pere Vatier-?) in . 12. 1683 b1s zum 1. 1. 1689 wurden dort 23 345 gezi.ihlt. Über die verschiedenen Zentren des Refuge cf. die ausgt>Zeichnete und noch immer nicht überholte Darstellung von Ch. Weiss, Histoire des refugies protestants de France depuis la revocation de l'Edit de Nantes jusqu'd nos jours, 2 vol. Paris 1853. 3 Mörikofer, Geschichte der evangelischen Flüchtlinge in der Schweiz, p. 298.

,.

• Combe, l. c., p. 77.

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

der Geschäftsträger Ludwigs XIV. in Genf beobachtete genauestens die Bewegungen der Refugies in der Stadt, versuchte, manche Emigranten zur Rückkehr nach Frankreich und zum Übertritt zum katholischen Glauben zu bewegen, und protestierte dagegen, daß die Genfer Hilfsstellen weiteren Verfolgten zur Flucht aus Frankreich verhalfens. Nicht viel besser lagen die Verhältnisse in Süddeutschland. Zahlreiche Flüchtlinge waren in die Pfalz gekommen, um 1688 durch den Krieg erneut weitergetrieben zu werden6. Ein großer Teil wandte sich nach Norden, vor allem nach Berlin, und schloß sich der dort schon bestehenden französischen Kolonie an. Schon wenige Wochen nach der Revokation hatte der Berliner Hof erklärt, all denjenigen Schutz gewähren zu wollen, welche von der Verfolgung betroffen waren. Und als der französische Gesandte in Berlin deswegen Einspruch erhob, entgegnete ihm Friedrich Wilhelm, daß er sich nicht hindern lasse, ebenso eifrig für seine Religion zu arbeiten wie der französische König für die katholische7. Von den Wirren des 30jährigen Krieges war das Land Brandenburg besonders stark betroffen worden. Die Kolonisierungspolitik des Großen Kurfürsten hatte schon viele Einwanderer angezogen und konnte auch die eintreffenden Refugies nur willkommen heißen. Sie fanden nicht nur als Industrielle und Handwerker Verwendung, sondern traten auch bald in die Dienste des Heeres und der Diplomatie. Ihre Ehrlichkeit und Treue wurden sprichwörtlich. Die Kurfürstin glaubte, dem aus Sedan geflüchteten Pierre Fromery ohne weiteres ihren wertvollsten Schmuck zu einer Reparatur anvertrauen zu können, da er doch ein Refugie war8 • Die französischen Emigranten kamen auch den Absichten des Kurfürsten entgegen, das geistige Leben in den brandenburgischen Gebieten zu fördern: sie sollten später maßgeblichen Anteil an der 1700 gegründeten Preußischen Akademie nehmen. Die vielleicht wichtigste Bedeutung jedoch gewannen die zu Tausenden zählenden Offiziere und Soldaten, die Friedrich Wilhelm aus den Flüchtlingen gewann: sie stellten gleichsam den Kader für die spätere preußische Armee9. Es fehlte nicht an Versuchen, die Disziplin des hugenottischen Soldatenturns als mitbestimmende Ursache für den preußischen Geist darzustellen und damit den Typus der preußischen Armee mit dem der reformierten Kirche Frankreichs in Verbindung zu bringen10. Bertrand, Geneve et la Revocation, p. 66. Über das Los derjenigen, die erneut zur Flucht gezwungen wurden, cf. Bayle an Lenfant, 12. 10. 88. Lettres choisies, t. I. p. 248. 7 Pages, Le Grand f:lecteur et Louis XIV (1666-1688), p . 558. 8 Erman und Reclam, Memoires pour servir d l'histoire des refugies, t. III. p. 185. 0 Didier, La Revocation, p. 55. 10 Lehr, Les protestants d'autrejois: Vie militaire, pp. 265 ff., und Weber (0.), Die Bedeutung der Hugenotten in Geschichte und Gegenwart, p. 8. 5

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Das Exil

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Ein weiteres Zentrum der Vertriebenen war Holland: es war nach Bayles Zeugnis la grande arche des fugitifs 11 • Flamen, di:e vor dem Herzog von Parma flohen, Puritaner, die sich vor der anglikanischen Kirche retteten, Juden, die aus Spanien, Portugal und Deutschland vertrieben wurden, Jesuiten, Jansenisten und Philosophen hatten hier schon Schutz gefunden. Es war die Wahlheimat des Descartes und für die Reformierten Frankreichs schon immer eine willkommene Auffangstellung. Das Völkergemisch von Amsterdam bot das beste Beispiel für die Gastfreundschaft der Niederlande1 2 • Bis zur Ankunft der Refugie.s von 1685 besaß die wallonische Kirche 30 Gemeinden, welche sich aus französisch sprechenden Vertriebenen vornehmlich der südlichen Provinzen der Niederlande zusammensetzten13. Unmittelbar nach der Revokation wurden weitere 33 Kirchen gegründet - allerdings immer noch zu wenig, um die brotlosen reformierten Pastoren unterzubringen. Die wirtschaftliche Lage der Refugies war jedoch im allgemeinen - dank des Wohlstandes in Holland - günstiger als in der Schweiz. Zudem fanden die Emigranten eine feste Stütze in Wilhelm von Oranien, der sich gerade anschickte, nach England überzusetzen, und der in den Flüchtlingen wertvolle Hilfstruppen im Kampf gegen Ludwig XIV. sah. Zahlreiche Sammlungen halfen die Not lindern. Den Ankommenden wurden Bürgerrecht, Gewerbefreiheit und Steuernachlaß gewährt; Neubauten entstanden. Die Refugies gelangten in Holland - im Gegensatz zu Genf - verhältnismäßig schnell zu stabilen Lebensbedingungen, die es ihnen erlaubten, nicht mehr nur als Getriebene in dem politischen Spiel aufzutreten, sondern bald eigene Aktivität zu entfalten und die erhoffte Rückkehr nach Frankreich zu organisieren: man konnte sagen, daß sich das protestantische Frankreich in Holland rekonstituiertet4. Mit dem Unternehmen Wilhelms von Oranien und der Beseitigung der prokatholischen Regierung Jakobs II. öffneten sich auch die Tore Englands für die Emigranten. Schon seit der Bartholomäusnacht bestanden dort kleinere reformierte französische Kolonien, die stark genug waren, um eigene Kirchen zu unterhalten. Verschiedene Flüchtlinge von 1685 gelangten schon unter Jakob II. nach England, waren aber dort mehr als anderswo den Agenten Ludwigs XIV. ausgeliefert, welche nichts unversucht ließen, die Fluchtwege aus Frankreich zu unterbinden und die Refugies- meistens mit Geld- zur Rückkehr zu Bayle, Dictionnaire, t. III. art. Kuchlin. cf. darüber Ulbach, La Hollande et la liberte de penser au XVII• et au XVIII• siecle, p. 109. 13 Mounier, Apert;u General des destinees des Eglises Wallonnes des Pays-Bas, Bull. d . Egl. Wall. 1890, pp. 218 ff. 14 Schickler, Les Eglises du Refuge, p. 40. 11

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

beweg.en15. Der eigtmtliche Zustrom von EmigTanten setzte erst mit der Ankunft Wilhelms ein, in dessen Gefolge sich Marschall Schomberg und Tausende von französischen Soldaten und Matrosen befanden16. Eine Vorstadt von London wurde bald von französischen Arbeitern bevölkert, die aus den Industrien von Lyon und Tours abgewandert waren. Dadurch, daß die Refugil~s die Sache Wilhelms zu ihrer eigenen gemacht hatten, konnten sie an seinem Hofe ein Zentrum politischer Aktivität entfalten: sie dienten seinen verschiedenen Expeditionen als treue Soldaten und seinen diplomatischen Intrigen als willige Werkzeuge. Die hugenottischen Großkaufleute in London und Amsterdam unterstützten mit beträchtlichen Summen die Partei der Whigs17• Selbst die ankommenden Pastoren spielten im politischen Leben eine gewisse Rolle. In der Öffentlichkeit rieten sie zur Mäßigung in den Streitigkeiten zwischen anglikanischer Hochkirche und Presbyterianern, um eine protestantische Einheitsfront gegen die Katholiken zu schaffen18 ; und im Geheimen stellten sie ihre Verbindungen nach Frankreich den Agenten der englischen Spionage zur Verfügung. Alstreue und zuverlässige Parteigänger Wilhelms erwarteten sie von seinem Siege die große Stunde der Rückkehr in die Heimat und blieben vereinzelt auch noch in englischen Diensten, als sie schon erkennen mußten, nichts weiter als unbedeutende Figuren in einer politischen Schachpartie gewesen zu sein. Genf, Berlin, Holland und London waren so die wichtigsten vier Zentren der Emigranten. Zwar gab es noch viele verstreute Kolonien von 15 Über die Aktivität des Beauftragten Ludw'igs XIV., Bonrepaus, cf. Durand, Louis XIV et Jacques II, Rev. d'hist. mod. 1908, p. 114. 16 Nach Vaubans Zeugnis waren schon 1688 9000 Matrosen, darunter die besten des Königreichs, zu Wilhelm übergegangen, cf. Bonnemere, Histoire

des Camisards, p. 98.

Bastide, Anglais et Francais au XVIIe siecle, p. 219. Die Partei der sah noch 1705, als sie die Mehrheit im Parlament besaß, in den Refugies gefährliche Gegner; sie versuchte, die Emigranten vom Wahlrecht auszuschließen, cf. ibid., p. 260. Über die Bereicherung des englischen Industriepotentials durch ca. 100 000 Kaufleute und Handwerker aus den Reihen der Refugies cf. Smiles, The Huguenots, their settlements, churches, & industries in England and Ireland, p. 313. Die große Zahl der Flüchtlinge stellte die frz. Kirchen in England vor besondere Aufgaben: " ... D'autant que le nombre des Refugies de France augmente tous les jours, & qu'il est impossible de placer en meme temps dans l'Eglise & ceux qui arriuent & ceux qui sont anciens membres de l'Eglise, il a ete resolu qu'on fera desormais trois sermons le dimanche ...", Actes du Consistoire de Londres, März 1686, MS 7 (fol. 287). 18 So· veröffentlichte Jean Graverol 1689 einen Projet de reunion entre les protestans de la Grande Bretagne, in dem er darauf hinwies, welche Vorteile die Katholiken aus der Spaltung der englischen Protestanten gewannen. Das Problem, anglikanische und franz. reformierte Kirchenverfassung in Einklang zu bringen, war schon zur Zeit der englischen Restauration akut. Von franz. Seite hatten vor allem Bochart, Daille und Du Bosc für gegenseitiges Verständnis plädiert, cf. Schickler, Les eglises du rejuge en Angleterre, t. II. pp. 222 ff. 17

Tories

Das Exil

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französischen Refugies - so z. B. in Irland, in Kopenhagen, in Harnburg, Bremen, Danzig, Petersburg und sogar in Übersee19 ; sie hatten jedoch für den Lauf der Ereignisse in den Jahren 1680-1715 nur untergeordnete Bedeutung. Das ganze Refuge blickte nach den vier Zentren: Genf galt nach wie vor als Stadt der reformatorischen Traditionen, von Berlin erwartete man materielle und bewaffnete Hilfe; Holland und London wurden als die großen Etappen für die Entscheidungsschlacht angesehen, die Wilhelm und die Engländer dem Sonnenkönig noch liefern sollten. Hunderttausende emigrierten20_ Der Strom der Auswandernden wuchs mit der zunehmenden Unterdrückung der französischen Protestanten. Der Pastor Elie Saurin aus Embrun mußte schon 1664 das Land verlassen, weil er, an der Spitze eines Leichenzuges einhergehend, nicht seinen Hut vor dem Sakrament abnahm, das ein vorbeikommender Priester einem Kranken bringen wollte21 • Empfindlicher wurde der Pastor Elie Merlat bestraft: er hatte auf die Denunzierung der reformierten Moral durch den Großen Arnauld geantwortet22. Man nahm einige verfälschte Zitate aus seinen Predigten und machte ihm den Prozeß, verurteilte ihn dazu, seine Schrift gegen Arnauld auf Knien zu verwerfen, eine hohe Geldstrafe zu zahlen und in die Verbannung zu gehen. Andere Pastoren warteten nicht erst ab, bis sie ein ähnliches Verfahren ereilte. Manche wanderten aus, weil sie in Ruhe ihren theologischen Forschungen nachgehen wollten, andere, w eil sie verdächtigt ~9

Über dle Ausbreitung des Refuge nach Übersee cf. Pannier, L'expan-

sion frant;aise outre-mer et les protestants frant;ais.

20 Der Versuch, eine genaue Zahl der Emigranten ermitteln zu wollen, stößt auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Einerseits liegen keine genauen Zahlen aus den Aufnahmeländern vor, andererseits erstreckte sich die Abwanderung aus den verschiedenen Provinzen Frankreichs über Jahrzehnte und war regional sehr verschieden. Die Schätzungen der Historiker schwanken zwischen 60 000 und 2 000 000. Unkontrollierbar und zweifellos propagandistisch gefärbt sind die Angaben von Zeitgenossen: so die Schätzung Jurieus von 200 000 Auswanderern allein bis zum Jahre 1687 (cf. Jurieu, Lettres pastorales, rre annee, p. 150). Puaux untersuchte die verschiedenen Anhaltspunkte und kam auf 500 000 (Puaux-Sabatier, Etudes sur la revocation . . ., p. 4), davon allein 100 000 Flüchtlinge in Holland (cf. Puaux, Les defenseurs de la souverainete du peuple ..., p. 62). Baird (The huguenots and the revocation .. ., t. II. p. 99) nannte 400 000, Schiekler (Les Eglises du Refuge, p. 27) wenigstens 400 000 und vielleicht 600 000. Orcibal (Etat present des recherches sur la r epartition geographique des "Nouveaux Catholiques" .. ., p . 10) kam nach Prüfung aller bisherigen Angaben auf 100 000 in namentlichen Listen erfaßte RefugiE~s. 21 Benoist, Histoire de l'Edit de Nantes, t. III. p. 612 und Chaufepie, Dict., t. IV. art. Saurin. 22 Merlat, Reponse generale au livre de Mr. Arnaud, intitule Le Renversement de la Morale de Jesus-Christ &c., Saumur 1676. Über den Proze-ß Merlats cf. Benoist, l. c., t. IV. pp. 387 ff. über die verschiedenen Versuche, den inhaftierten Pastor zum Katholizismus zu bekehren, cf. Memoires touchant la vie de feu Monsr Merlat .. ., Bibi. du prot. fr. Paris, MS. 238. fo1.14-15.

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wurden, von den orthodoxen Artikeln der Synode von Dordrecllt abzuweichen; es fehlte auch nicht an solchen, die ein Risiko in Frankreich scheuten, um im Exil dafür Wohltaten zu erwarten23. Durch die Auflösung der Akademie von Sedan, die 1681 einem Jesuitenkolleg Platz machen mußte, wurde eine ganze Gruppe von reformierten Gelehrten genötigt, ins Exil zu gehen, darunter die Professoren Jurieu und Bayle. Die Massenflucht setzte jedoch erst 1685 ein. Alle, die irgendwie auswandern konnten, sollten es tun - so lautete die Parole24. Mit den Pastoren k.amen Juristen wie Ancillon, Ärzte und Naturwissenschaftler wie Denis Papin, Handwerker aller Branchen. Sie flüchteten zu Lande und zu Wasser. Trotz der scharfen Bew-achung der Küsten entkamen viele, welche die Fischer bestechen konnten. Einige Schiffe wurden von Seeräubern überfallen, welche die Emigranten nach Algier br-achten und als Sklaven verkauften25 . Die Holländer schickten Schiffe, um die am Strand Fliehenden aufzulesen. An den Grenzen blühten Menschenschmuggel und Handel mit gefälschten Papieren. Ortskundige machten sich ein Gewerbe daraus, die Verfolgten auf unbekannten Wegen ins Ausland zu bringen. Viele verkleideten sich als Lakaien, als umherziehende Buchhändler26, andere legten ihre Sonntagskleidung an und schlenderten mit dem Spazierstock in der Hand durch die Grenzwachen27. Vornehme Herren gaben sich als Gepäckträger aus oder hüllten sich in Pilgerkutten. Adlige Damen folgten bis zu 40 und 50 Meilen in Holzschuhen den Mauleseln ihrer Führer2B. Es war - wie die von Bayle an seinen älteren Bruder, 15. 7. 83. Nouv. lettres, t. II. p. 193. an Le Clerc, 2. 10. 85. (U. Bibi. Amsterdam, MS. C 117 f.). Papin schreibt über die Aufforderung, zur Messe zu gehen, " .. . je ne pardonne cette obeissance ... qu'a ceux qui sont pressez d'une maniere a ne voir point de bornes a leurs souffrances, et qui ne sauroient sortir du Royaume; tous ceux qui peuvent en sortir, je tiens qls y sont obligez .. ." 25 So lesen wir in den Actes des Konsistoriums der frz. Kirche von Berlin vom 17.12. 88, MS. fol. 70 A: "M. Gaultier Ministre ayant leu a la Compagnie plusieurs lettres concernant un assez bon nombre de nos freres Refugiez qui tomboient malheureusement il y a quelque temps entre les mains des Corsaires, et furent conduits a Algers ou ils sont dans un rude Esclavage et entre autres lettres une de M. Jurieu, ... de Roterdam et de M. (***) Commres nommes par le Synode des Eglises Walonnes pour tächer d'avoir de quoi racheter ces pauvres mal-heureux, par la quelle d. lettre lesd. Srs de Jurieu et (***) prient led. Sr. Gaultier d'exorter tous les Refugiez qui sont en Brandebourg de vouloir faire un Effort pour le Rachapt des ces pauvres captifs, comme ont deja fait nos freres Refugiez en Angleterre et en Hollande." 28 Jean Graverol an Bayle, 9. 2. 86. Gigas, Lettres inedites .. ., pp. 406 ff. :n Peyrat, l. c., p. 89. :s cf. Jurieu, Accomplissement des propheties, Avis d tous les Chretiens. J. wendet sich gegen den Zynismus Maimbourgs, der von den douceurs der Verfolgung sprach: "Ce sont ces douceurs qui ont force des femmes de taute qualite & de taut äge, de venir a pied, deguisees en paysannes, marchant a pied, a cheval, en poste, grosses de huit & neuf mois, 1a nuit a travers toutes les fatigues de l'hyver ..." 23

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I. Papin

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Bibellektüre genährten Flüchtlinge sagten ein neuer Exodus der Kinder Israel. Wie einst die Ägypter die unbewaffneten Juden durch das Rote Meer abgeschnitten glaubten, so dachten jetzt die Katholiken, in Frankreich ein Kesseltreiben beginnen zu können: aber wie einst, so errettete auch jetzt Gott sein Volk29 : die gelungene Flucht von Hunderttausenden bestätigte das Sendungsbewußtsein der Reformierten. Ihnen war es wie eine Offenbarung: Gott zeigte schon auf Erden durch diese wunderbare Rettung, daß er seine Erwählten nicht verließ. Viele Emigranten konnten so zunächst durch ihr trauriges Los nur in ihrem Glauben bestärkt werden. Die Überzeugung, zu den Prädestinierten zu gehören, vermochte erst dann erschüttert zu werden, wenn ihr die Bedingungen des Exils widersprachen, oder gar wenn die Motive der Emigration ihre Geltung verloren. Das Exil wurde tatsächlich zu einer Bewährungsprobe. Zu verschieden waren die Charaktere und Schicksale, zu vielfältig die Lebensbedingungen in den Aufnahmeländern, um nicht ein buntes Gewirr von gesicherten und fragwürdigen Existenzen zu schaffen. Beispiele von Tapferkeit, von Geduld, von Demut gab es ebenso wie von Unentschlossenheit, Feigheit und Verrat. Die Revokation hatte nicht nur die Standhaften vertrieben, sondern auch die Schwankenden und Ängstlichen, die vom sicheren Hafen aus das Ende der Verfolgung in Frankreich und die Stunde der friedlichen Heimkehr abwarten wollten. Dadurch, daß sich aber nichts änderte, wurden viele ungeduldig. Die Ungewißheit der Zukunft und die kleinen Sorgen des Alltags bereiteten Ärger. Für manchen war es schwer, sich mit dem Klima abzufinden, für andere war die finanzielle Not so groß, daß sie aller Gefahren ungeachtet vorübergehend heimlich nach Frankreich zurückkehrten, um sich bei zurückgebliebenen Verwandten Geld zu beschaffen3o. Manche Einheimische in den Aufnahmeländern wurden bald mißtrauisch und verdächtigten die Emigranten, ein doppeltes Spiel zu führen. Man beobachtete den Eingang zu den katholischen Kapellen der Gesandten Ludwigs XIV. in den Refugestaaten, um herauszubekommen, ob nicht heimlich einige Refugies ·zur Messe gingen 31 . In Berlin sah sich das Konsistorium genötigt, einen Beauftragten an den Hof zu schicken, um gegen das Gerücht zu protestieren, die ankommenden Franzosen wollten die Stadt in Brand stecken32. Als in England einige Soldaten aus den Regimentern Schambergs desertierten, prangerten die Engländer gleich eine Verschwörung von mehreren Hundert an33• In der Barbin, Les devoirs des fideles refugiez, p. 7. Actes du Consistoire de Berlin, 26. 2. 96, MS. fol. 294 B und Actes dtt Consistoire de ... Londres, 9. 10. 98, MS. 8. fol. 143. 31 Actes du Consistoire de Berlin, 6. 4. 98, MS. fol. 379 B-380 A. 32 Ibid., 14. 7. 87, fol. 43 B. 33 Lamberty, Memoires de la derniere Revolution, t. II. p. 600. 29

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Schweiz war man über die allzu modische Kleidung der ankommenden Franzosen aufgebracht34. Besonders ihre kunstvolle Haartracht erregte den Ärger der Einheimischen35. Und die holländischen Theologen witterten bei den Ankommenden Unruhestiftung und Häresie36. Es fehlte nicht an Spöttern. In Berlin erschien eine Satire in burlesken Versen Le bonheur des fran~;ois refugiez, deren Erscheinen zur Folge hatte, daß hinfort alle Publikationen der Billigung des Konsistoriums unterworfen wurden37. Den deutlichen Beweis für die Mißstimmung unter manchen Refugil~s gab eine Schrift des Pastors Jean Barbin, Les devoirs des fideles refugiez, in der sie ermahnt wurden, sich ihrer Mission bewußt zu bleiben: niemand sollte murren - weder die Adligen, weil sie gedemütigt wurden, noch die Geschäftsleute, weil sie keine großen Gewinne mehr erzielten. Die Leiden des Exils sollten nicht vergessen lassen, daß Gott die Reformierten doch zu seinen Erwählten rechnete38_ Unsicherheit herrschte überall. Man rief nach Führern, man hoffte auf Wilhelm von Oranien, man spekulierte aber gleichzeitig auf die Großmut Ludwigs XIV., welcher alle Schwierigkeiten mit einem Wort zu beenden vermocht hätte. Es .gab abenteuerliche Existenzen, welche zwischen den verschiedenen Gruppen und Hoffnungen lavierten. Der Adlige Jean-Baptiste de Rocoles mußte schon 1672 ins Exil gehen, weil er vom katholischen zwn protestantischen Glauben übergewechselt war. Bis 1686 war er - als Vorgänger Pufendorfs - brandenburgischer Historiograph, schrieb in dieser Stellung eine Verteidigung der reformierten Religion gegen die Angriffe des Jesuiten Maimbourg3 9 und ging dann nach Frankreich und zum katholischen Lager über, um darauf wieder nach Holland zu kommen, erneut Protestant zu werden und 34 Combe, l. c., p . 207. über eine ähnliche Reaktion in England cf. Actes du Consistoire de ... Londres, 15. 9. 89 ; 8. 2. 90, MS. 7. fol. 472, 510. a& Mörikofer, l. c., p. 302. In einer Ordonnance touchant la Reforme publiee dans l'eglise franr;oise de Berne (18. 5. 94) (Copies der Collection Court, Bibi. du prot. fr. Paris, MS. 615. fol. 196/7) lesen wir: "Les hommes,

tant les bourgeois que les refugiE~s ne doivent plus porter de longues perruques avec des flocs et traissements comme une chose superflue et tout a fait indecente, - et dont la hauteur ne soit excessive sur le front. Ils ne doivent non plus porter aucun habit garni d'or ou d'argent, soit en boutons ou galons etc.... Les femmes ou fllles, de quelle qualite et condition qu'elles soient, sans exception de personnes . . . ne pourront porter aueuns joyaux, perles ou pierreries· ... Leurs coiffures et hauteurs sur la tete seront elevees tout au plus de deux pouces soit en cheveux, dentelles, frisons, gazes, toiles & autres choses semblables ... " 36 Bentheim, Holl. Kirch und Schulenstaat, t. II. p. 95. 37 Actes du Consistoire de Berlin, 12. 7. 93, fol. 197 NB. 38 Barbin, l. c., p. 40. Gegen die mürrischen und zaghaften Refugies richtete sich auch der Spott des Moralisten La Placette (Essais de morale, t.V. p. 107}: "11 me semble voir ces IsraHites grossiers & sensuels, qui, dans le tems que Dieu les nourrissoit de sa Manne, & les abreuvoit de l'Eau d.e son Rocher, regretoient la Chair, les Oignons, & les Concombres d'Egypte." au Rocoles, L'Histoire veritable du Calvinisme ou Memoires Historiques ... (1683).

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endlich 1696 als Katholik in Paris zu sterben4D. Es gab Autoren, deren Feder bald ihren persönlichen Extravaganzen, bald einem großzügigen Geldgeber gehorchte. NotH Aubert de Verse war einer von ihnen. Als Katholik geboren, aber schon in jungen Jahren reformierter Pastor, wurde er 1669 wegen socinianischer Ansichten von seiner Synode abgesetzt41, ging nach Holland und arbeitete dort als Buchhändlergehilfe und als Arzt. 1684 widmete er seine Widerlegung Spinozas dem französischen Gesandten im Haag42, stand aber gleichzeitig mit bekannten Refugies in Verbindung43. In Paris wußte man, daß Verses Feder mit gar nicht viel Geld zu gewinnen war44. Von einigen Refugies verfolgt, von anderen gedeckt, gelangte er als berüchtigter Freigeist, als Socinianer, über die verschiedenen Stützpunkte des Refuge in Deutschland und England nach Frankreich, wo er Katholik wurde und, mit einer Pension versehen, nun einen Anti-socinien schrieb45 . Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Exilländern, der häufige Mangel an Solidarität unter den Emigranten, persönliche Schwäche und - nicht zuletzt - die Kasse Pellissans waren die Gründe für manchen Refugie, nach Frankreich zurückzukehren. Solange die Abtrünnigen Einzelgänger blieben und - wie Rocoles und Verse - als Schwächlinge bekannt waren, konnte die Moral des Refuge keine Beeinträchtigung erfahren. Überläufer gab es in jedem Kriege. Empfindlicher jedoch wurde das Ansehen der Emigranten getroffen, als nicht nur Abenteurer, sondern auch Söhne aus bekannten protestantischen Familien zurückkehrten, deren Mitglieder maßgebliche Vertreter der reformierten Konfession in Frankreich gestellt hatten. So gehörten in den Jahrzehnten vor der Revokation die Pastoren Claude Pajon und Mathieu de Larroque zu den protestantischen Wortführern in den Kontroversen mit der Römischen Kirche46. Der Neffe des einen, Isaac Über Rocoles cf. Erman und Reclam, l. c., t. IV. pp. 196 ff. Paul, La deposition d'Aubert de Verse au Synode d'Is-sur-Tille. BuHetin 1911, pp. 513 ff. 42 Aubert de Verse, L'Impie convaincu ... (1684) mit Widmung an den Grafen d'Avaux. 43 Verse überbrachte u. a. Bayle ein Geschenk des englischen Gelehrten Boyle, wie aus einem Brief Larroques an Bayle (s. d. - sicher aus dem Jahre 1685) ersichtlich ist. Bibi. KopenhagJen, MlS. Sammlung Thott. 44 Fonbrune-Berbinau, Le nouveau visionnaire de Rotterdam et l 'imprimerie de Callonge, Bull. 1900, p. 612. 45 Auberl de Verse, L'Anti-Socini en, ou Nouv eHe Apologie de la Foi 40

41

Catholique ... (1692).

46 Pajon zeichnete sich vor allem durch die klare Logik seiner Gedanken in einer Schrift gegen Nicole aus: Examen du Livre qui porte pour titre, Prejugez legitimes contre les Calvinistes . . . {1673). M. de Larroque galt als ein vorzüglicher Kenner des christlichen Altertums. Eines seiner be~ kanntesten Werke, in dem er seine Gelehrsamkeit mit Polemik zu verbinden wußte, war die Conformi te de la Discipline ecclesiastique des Protestans de France avec celle des Anciens Chretiens (1678).

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Papin, und der Sohn des anderen, Daniel de Larroque, bereiteten nur wenige Jahre nach der Revokation dem erstaunten Publikum ihrer eigenen Werke das Spektakel ihrer reumütigen Rückkehr nach Frankreich. Noch 1687 hatte Papin den Katholizismus als geistige Manifestation des Antichrist gebrandmarkt47 , und Larroque hatte die reformierte Sache gegen den Proselyten Brueys und den Historiker Varillas verteidigt4s. Man wußte, daß sich Papin des Wohlwollens des englischen Bischofs Burnet und mehrerer gelehrter Refugies wie Le Clerc und Le Cene erfreute, und daß Larroque der Intimus Bayles war, dessen Nouvelles de la Republique des Lettres er 1687 fortgeführt hatte. Es gab einen Skandal. Die Katholiken triumphierten und die Refugies waren konsterniert. Bossuet nahm am 15. Januar 1690 in Paris persönlich Papins Bekenntnis entgegen49 und führte Larroque in seinen Gelehrtenzirkel einso. Die Antwort der emigrierten Pastoren waren zugespitzte Synodenbeschlüsse, welche jede Abweichung von der orthodoxen Lehre streng verurteilten und damit die apostasie der beiden jungen Leute auf den Mangel an Wachsamkeit und auf die doktrinäre Laxheit mancher Kollegen zurückführtenst. Im Falle Papins waren sicher theologische Gründe bestimmend, allerdings neben äußeren Schwierigkeiten, die ihn keine ordentliche Pastorenstelle im Exil finden ließen5 2 , während er in Frankreich noch Anspruch auf Besitzungen hatte, die jhm nur durch die Revokation aberkannt waren. Für Larroque jedoch spielte die religiöse Frage offenbar keine entscheidende Rolle. Papin rechtfertigte seinen Übertritt zur Römischen Kirche mit einer großangelegten Beweisführung, in der er den Protestantismus ad absurdum führen und seine ehemaligen Glaubensgenossen bekehren 47 Papin, La Foy reduite d ses veritables Principes ..., p. 37. ''' Larroque, Le Proselyte abuse . . . (1684) und Nouvelles accusations contre M. Varillas ... (1687). 49 Über Papin cf. unsere Notiz Isaac Papin a l'epoque de la revocation, Bulletin 1952, pp. r94 ff. 110 Über die Beziehungen Boosuets zu Larroque finden sich einige Andeutungen in der Leibniz-Korrespondenz: so schreibt Larroque an L. (25. 5. 91): "J'estois dernierement chez Mr l'Eveque de Meaux, ou en presence de plusieurs personnes de qualite il parla de vous ...", ebenso in einem Brief vom 6. 2. 93. Bibi. Hannover, MS. L. Br. 529 fol. 1 und 28. 51 Vor allem die Beschlüsse der Synode von Amsterdam (1690), die Puaux, Les precurseurs de la tolerance en France, pp. 199-202, veröffentlichte. Über die Zustimmung weiter Kreise des Refuge zu diesen Artikeln cf. Jurieu, Le Tableau du Socinianisme (1690). 52 Papin blickte schon vor der Emigration sorgenvoll in die Zukunft. Er schrieb aus Bordeaux an den in Amsterdam weilenden Le Clerc: "Je finis en vous conjurant de penser en moy, et de me dire si vous ne croiriez pt. que je pusse trauver quelque retraite dans votre ville, sous Ia simple qualite de precepteur, soit pour les langues, soit pour la Philosophie. Je suis presentemt. plus q. je n'ay jamais ete, incertus quo fata ferant", l. c., Anm. 24.

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wollte53. Larroque hingegen unterließ es, seinen Schritt vor der Öffentlichkeit zu erklären. Auch in seinen Briefen an Bayle und Leibniz schwieg er darüber und berichtete nur über die Neuigkeiten des Büchermarktes. Die wahren Motive seines Handeins blieben im Dunkeln. War es nur sein unbeständiges Wesen, das ihn schon im Refuge von England nach Kopenhagen, nach Holland und Hannover getrieben hatte, ohne ihn jeweils länger als einige Monate dort bleiben zu lassen? Oder war es etwa bloße literarische Neugierde, die ihn dorthin führte, um überall die Koryphäen der republique des lettres kennenzulernen? Es ist kaum anzunehmen, daß Larroque zurückkehrte, weil er sich auch innerlich zur katholischen Kirche und zu deren damaligen intoleranten Praktiken bekehrt hatte. Ebensowenig geht aus seinen Äußerungen hervor, daß er sich eher unter dem absolutistischen System Ludwigs XIV. als unter den politischen Verhältnissen der Exilländer wohlfühlte. Schon wenige .Jahre nach seiner Rückkehr nach Paris klagte er über die Strenge der Zensoren, welche geistreiche Schriften verboten und die Autoren zwangen, ihre Manuskripte ausländischen Buchhändlern anzuvertrauen, während alles mögliche erscheinen durfte, was nur den Vorzug hatte, nicht der Religion und der Staatsraison zuwiderzulaufen54. Wenig später wurde er in Paris zu schwerem Kerker verurteilt, weil er das Vorwort zu einer Satire gegen den französischen Hof geliefert hatte55• Und auch nach seiner Begnadigung und Rehabilitierung widmete er sich lediglich historischen Arbeiten und unterließ es, Kapital aus seiner Konversion zu schlagen56. Der Grund für seine Rückkehr aus dem Exil ist deswegen aller Wahrscheinlichkeit nach darin zu suchen, daß Larroque die Bequemlichkeiten und den Umgang in den Pariser Gelehrtenzirkeln höher schätzte als die Unsicherheit und die Agitation des Refuge; er offenbarte so mit seinem Handeln, P apin, La tolerance des protestans . .. (1692). "Le P. Malbranche me paroit fort degoute d'ecrire par le chagrin que les Censeurs de Livres causent communement aux autheurs en ce pays cy, et par l'impossibilite de les avoir lors qu'ils sont imprimez chez nos voisins. C'est ainsi qu'on nous prive de plusieurs bons ouvrages qui feroient bonne-ur a nötre Nation pendant qu'on luy laisse publier mille bagatelles qui n'ont rien de recommandable hormis de n'etre jugez contraires ni a la religion ni a l'Etat." Larroque an Leibniz, 19. 12. 92, Bibl. Hannover, MS. L. Br. 529 fol. 25. 55 Darüber cf. Gerig und Roosbroeck, Unpublished letters of Pierre Bayle, Romanic Review 1932, p. 121. Basnage de Beauval schrieb an Leibniz (7. 1. 95): "M. de Larroque est en grand danger de faire un ftn tragique." Bibi. Hannover, MS. L. Br. 35 fol. 18. 56 Seine vom Abbe d'Olivet berichtete Behauptung, den viel diskutierten Avis aux Refugiez verfaßt und damit also der katholischen Sache gedient zu haben, wird schon dadurch unwahrscheinlich, daß er sich niemals in der Öffentlichkeit oder auch nur an anderer Stelle in persönlichen Äußerungen zu diesem Werk bekannte. Eine Widerlegung der Nachrichten d'Olivets gab Desmaizeaux in einer längeren Redaktion, British Museum, London, Add. MSS. 4226 fol. 299- 310. M

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was andere Refugü~s fühlten, ohne es offen einzugestehen oder gar daraus Konsequenzen zu ziehen: daß das ursprüngliche religiöse Motiv der Emigration entwertet war. Manchem schwebte so das Fluidum der gelehrten Betriebsamkeit in Paris als geheimes Wunschbild vor. Die Flucht aus Frankreich mußte dagegen als eine voreilige, nur schwer wiedergutzumachende Affekthandlung erscheinen, die man aus einer Art Psychose oder einfach aus Familientradition begangen hatte. Auch Katholiken gingen ins Exil: solche, die durch die Jansenistenverfolgung in Frankreich vertrieben wurden und vor allem bei dem holländischen Bischof J. de Neercassel Unterstützung fanden, und andere, die zum Protestantismus übertraten. Der Große Arnauld selbst mußte noch im achtundsechzigsten Lebensjahr (1679) in das spanische Flandern gehen, wo er in Mons sein Hauptquartier aufschlug. 1680 kam er sogar nach Holland und trug damit den flüchtenden Reformierten den Krieg in ihre eigene Sicherheitszone. Seine nimmermüde Feder wußte auch vom Ausland her noch immer die Kampfparolen für seine Getreuen auszugeben: in der philosophischen Diskussion mit Descartes gegen den Cartesianismus Malebranches, in der Regalienfrage für Rom und gegen den König, in dem Streit um Bossuets gallikanische Artikel für den König und gegen Rom und im Kampf der Konfessionen mit dem König und mit Rom gegen die Reformierten57 . Widersprüche und Inkonsequenzen, Verdrehungen, Verleumdungen, eilige Urteile durchzogen seine Schriften: er arbeitete sich hindurch. Anhänger der cartesianischen Philosophie, aber streng auf die Traditionen der Römischen Kirche bedacht, verteidigte er sich gegenüber dem protestantischen Vorwurf der Heuchelei in der Abendmahlslehress. Von den Jesuiten in der Gnadenauffassung des Calvinismus beschuldigt, suchte er sich in Anklagen gegen die Lehren der Reformierten zu rechtfertigen59. Nach seinem Tode übernahmen Quesnel und andere gefiüchtete Jansenisten die Verteidigung dieser doppelten Frontstellung. Für die Entwicklung der reformierten Geisteshaltung war dieses trojanische Pferd im Refuge insofern von Bedeutung, als hier die Einheit der katholischen Partei am eindrucksvollsten sichtbar wurdeso. Weder der im Exil sterbende Arnauld noch Quesnel schlossen sich der aufbrechenden Kritik an der Regierung Ludwigs XIV. an, die in Frankreich auch im katholischen Lager Anhänger fand. Um jedem Verdacht zu entgehen, cf. Sainte-Beuve, Port-Royal, t.V. pp. 312 ff. Genevieve Lewis, l. c., pp. 160 f. 58 cf. Daum, l. c., pp. 119 f. 60 Schon am 26. 2. 71 hob Arnauld in einem Briefe an den Abbe Le Roi die Standhaftigkeit der Angehörigen von Port-Royal inmitten der Verfolgung und zugleich ihre Verbundenheit mit den Traditionen der Römischen Kirche hervor und sah darin den besten Beweis für die Wahrheit der katholischen Lehre gegenüber der reformierten. Arnauld, Lettres, t. II. 57

~8

af.

p.534.

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mit den als seditiös verschrienen protestantischen Emigranten identifiziert zu werden, verfaßte Quesnel noch 1712 eine Verteidigung der königlichen Souveränität6t. Einzelne Katholiken besaßen weniger Corpsgeist und traten zum Protestantismus über. Es gab unter ihnen ebenso eigenartige Charaktere wie die Rocoles und Verse aus dem protestantischen Lager. Jean-Baptiste Denis aus Toul, der, bei den Jesuiten und den Patres des Oratoire erzogen, in Rouen in den Priesterstand getreten war, begleitete seine Konversion mit der Publikation von Beiträgen zur histoire scandaleuse aiUS dem Leben der französischen Kirchenfürsten6 2 • In London beschwerte er sich darüber, daß er als Proselyt bei der Verteilung von Pensionen und Vergünstigungen zu schlecht abschnitt, und führte eine Art von protestantischem Ahnennachweis, um seinen Ansprüchen Geltung zu verschaffen63. Er appellierte an toute la Genereuse et Equitable Nation Angloise, als sein Konsistorium seiner Frau den Stammplatz in der Kirche von Spitalfields entzog, und schloß sich aus Trotz der anglikanischen Kirche an. Ein anderer Konvertit, ein Monsieur de Vallone, wußte eine anschauliche Schilderung seiner Bekehrung zu bieten. In einer Autobiographie unterstrich er, welch ein schlechter Katholik er gewesen wäre. Als junger Mann sollte er in den Bernhardinerorden aufgenommen werden. DeT Abt von Clairvaux führte ihn persönlich an das Grab de.s hl. Bernhard, um dessen Meinung über den Novizen zu erfahren: doch der Heilige schwieg, weil er keinen so kühlen und gleichgültigen Jünger wie Vallone haben wollte64 • Als er dennoch später Kanonikus von Ste Genevieve wurde, setzten bald Verdächtigungen ein; denn er nannte seine theologischen Gegner Pelagianer, während seine jansenistischen Freunde dieselben Leute nur als Semipelagianer qualifizierten65• Er kümmerte sich nicht um Verwarnungen, die er von vielen Seiten erhielt, und fand sich schließlich im Turmverließ von Ste Genevieve, ohne Soutane, in einem häßlichen groben Kittel, hinter Gittern - wie ein phantome, das nach Luft schnappte, aber glücklicherweise von einigen vorbeikommenden Fräulein bemerkt wurde: sie erschraken und fragten sich, ob das ein Mensch sein könnte, und eilten zu seiner Tante, einer Dame der vornehmsten Hofkreise, die seine Befreiung erwirkte66 • Er beeilte sich, in die Schweiz Quesnel, La Souve-rainete des rois defendue ... Denis, Memoires, anecdotes de la cour et du clerge de France (1712). ÜbeT Denis, der eine Zeitlang Privatsekretär des Nachfolgers Bossuets in Meaux, des Bischofs und späteren Kardinals Henri de Thiard de Bissy, war cf. Haag, l. c., 2e ed. t. V. col. 234 f. 63 Denis, L'Esprit des refugiez francois .. ., pp. 84 f . 64 VaHone, Profession de Foi de Monsieur de Vallone ... precedee de l'Histoire de sa Conversioni .. ., pp. 11 ff. 6li Ibid., pp, 74 f. 66 lbid., pp. 10'1 f. 01

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zu kommen, wurde reformierter Pastor in Süddeutschland, später in Holland und versuchte in einer Profession de Foi, den protestantischen Glauben mit besseren Gründen plausibel zu machen, als es bisher schon geschehen war: konnte er dabei vermeiden, sich von der traditionellen Linie der reformierten Orthodoxie zu entfernen? Der einzige Katholik von Format, der sich im Refuge zum Protestantismus bekehrte, war Michel Le Vassor6 7 • Er gehörte dem Oratoir·e an und hatte schon seit 1680 Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten. Seine Ordensbrüder behaupteten, daß sich sein liederlicher Lebenswandel nicht mit der Klosterzucht vertrug 68 . Die wahrt:!n Hintergründe dafür, daß ihm seine Theologieprofessur am Kloster St. Honore entzogen wurde, lagen aber auf dogmatischem Felde. Man machte ihm zum Vorwurf, seine jansenistischen Ansichten bis zum Schisma treiben zu wollen69_ Auch sein gutgemeinter Versuch, 1683 eine Apologie des Christentums gegenüber der Bibelexegese Simons und den Ansichten der Socinianer zu geben 7 J, wurde übel aufgenommen. 1690 schied er aus dem Orden, emigrierte 1694 nach Rotterdam und trat 1697 in England zur anglikanischen Kirche über. Im Exil beschäftigte er sich vor allem mit historischen Arbeiten, deren kühne Kritik am französisf'.hen Absolutismus ihm sogar Gegner im protestantischen Lager schuf. Die Gemäßigten unter den Emigranten fühlten sich durch die Tonart seiner Histoire generale de l'Europe SOUS le regne de Louis XIII (1700-1711) abgestoßen, die - nach Rankes Zeugnis - in besonderem Maße dazu beitrug, das Ansehen der absoluten Monarchie zu untergraberi71; und die Eiferer zweifelten an seiner Aufrichtigkeit72• Er verlor nach und nach alle Freunde, die ihn erst begeistert aufgenommen hatten, und starb verarmt 1718 in England. Man begegnete überhaupt allen katholischen Überläufern im Refuge mit einem gewissen Mißtrauen. Sie wurden einer genauen Überprüfung ihrer persönlichen Verhältnisse unterzogen und sorgfältig mit dem reformierten Katechismus vertraut gemacht, bevor sie den Lehren der 87 Über Le Vassor cf. die Arbeiten von Kleyser, Der Flugschriftenkampf gegen Ludwig XIV. zur Zeit des pfälzischen Krieges (1935) und Riemann, Der Verfasser der "Soupirs de la France esclave qui aspire apres la liberte" (1938), welche beide Le Vassor die berühmten Soupirs zuschreiben wollten. 88 cf. Batterel, Memoires domestiques pour servir d l'Histoire de l'Oratoire, t. IV. pp. 409-423. 69 Le Vassor hatte wegen dieser Verdächtigungen an den General des Ordens geschrieben. In einem Brief vom 19. 3. 82 berichtete Le Vassor darüber: " ... il me repondit d'une maniere dure & seche ...", Bibi. de !'Arsenal, Paris, MS. 5782 fol. 7. 70 Le Vassor, De la veritable retigion. 71 Ranke, Französische Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert, t.V. p. 145. 72 Elie Benoist z. B. verdächtigte Le Vassor, Hirtenbriefe verfaßt zu haben, in denen die zurückgebliebenen Protestanten in Frankreich entmutigt wurden, Widerstand zu leisten, cf. Chaufepie, Dict., t. I. art. Benoist,

p. 232 b.

Die Politisierung der Emigranten

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Römischen Kirche abschwören konnten73 • Man wachte darüber, daß die Sache der Refugies nicht durch kriminelle Elemente kompromittiert wurde. Als sich ein entlaufener Benediktinermönch meldete, um die Ermordung Ludwigs XIV. anzubieten, wurde er verhaftet: man leitete sogar Verhandlungen ein, ihn nach Frankreich auszuliefern, um dafür einen in der Bastille festgesetzten Pastor freizubekommen74. Allgemein war es so, daß Katholiken und vor allem Angehörige des Klerus, die in der Emigration konvertierten, entweder persönliche Gründe wie Heirat oder Erbschaften hatten oder aber zu besonderem Radikalismus neigten. Vor allem der Fall Labadie in der Mitte des 17. Jahrhunderts und die Konversion Le Vassors um die Jahrhundertwende zeigten, daß die Proselyten leicht über das Ziel hinausschossen, nachdem sie die Schranken der katholischen Tradition hinter sich gelassen hatten. Die Disziplin der protestantischen Kirchen gewährte noch zu wenig Spielraum, um sie nicht als Außenseiter erscheinen zu lassen: Sondergruppen wie die jansenistischen Emigranten sahen sich deshalb nur in ihrem Festhalten an der Autorität der Römischen Kirche bestärkt; und gewisse Kreise im protestantischen Refuge konnten Anzeichen dafür bemerken, daß die überlieferten Formen ihrer Konfession - einst die sichere Basis ihrer Existenz in Frankreich - jetzt zu eng waren, um alle durch das Exil entfesselten Energien einfangen zu können. II

Aus dem bunten Gewirr der Schicksale, welche die Emigration hervorbrachte, gewannen nur wenige ein historisches Profil. Die geistige Führungsschicht der Emigranten wurde zwar von den Theologen gestellt, aber infolge ihrer persönlichen Gegensätze und oft recht partikulären Interessen ergab sich eine Zersplitterung der Kräfte und oftmals eine Anarchie der Meinungen. In Frankreich hatten noch bis über die Mitte des 17. Jahrhunderts hinaus die Nationalsynoden eine straffe Organisation der reformierten Kirche zu gewährleisten vermocht. Schon die Jahrzehnte vor der Revokation hatten jedoch Auf73 Der größte Teil derjenigen freilich, die nach gelungener Flucht im Exil zum Prctestantismus übertraten, bestand aus n ouveaux convertis. Die frz. Kirchen in den Aufnahmeländern des R efuge verfaßten besondere Formules d'abjuration, in denen die wichtigsten Unterschiede der reformierten und der katholischen Konfession herausgestellt und vor allem die Kernpunkte der calvinistischen Orthodoxie betont wurden, cf. Actes du Consistoire de Berlin, 28. 4. und 22. 9. 1700, MS. fol. 459 B und 473 B und Actes du Consistoire de Rotterdam, 5. 12. 1700, Bibi. Wallonne, Leiden, Sammlung Mirandolle, MS. Über die Behandlung der Proselyten in der Schweiz und die Reserven, die man ihnen entgegenbrachte, cf. Chavannes, Les refugil!s frant;ais dans le pays de Vaud... ., pp. 84 f. 74 cf. Griselle, Louis XIV et Jurieu, Bulletin, 1906, pp. 147-167 und Bayle, Dict., t.V. art. Zuerius Boxhornius, p . 633 a, b.

S

Haase, Literatur des Re fuge

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lösungserscheinungen gezeigt, zunehmende dogmatische Divergenzen und disziplinarische Verstöße. In der Freiheit des Exils nun glaubte ein großer Teil der Pastoren der einengenden Synodenbeschlüsse ledig zu sein. Die Verwerfung des kirchlichen Autoritätsprinzips der Katholiken zeigte jetzt ihre Früchte: in England suchten sich manche Emigranten den Presbyterianern, andere den Quäkern anzupassen, in Holland den Arminianern, in Deutschland den Lutheranern und einzelne den überall versteckt lebenden Socinianern. Das Exil hatte die Tür aufgetan. Und viele Pastoren blieben bis an ihr Ende damit beschäftigt, die neuen Eindrücke aufzunehmen und zu verarbeiten. Die Individualisierung ihrer Tätigkeit schritt fort. In den ersten Jahren des Refuge warteten sie noch darauf, daß politische Gewalten ihr Los änderten; dann aber resignierten sie und blieben mit sich selbst beschäftigt. Der Sache der reformierten Konfession in Frankreich war aber damit keineswegs gedient. Und es schien, als wollte die Entwicklung im Refuge den Apologeten der Revokation recht geben, die behaupteten, daß das reform~erte Bekenntnis schon 1685 de facto zu bestehen aufgehört hatte. Wo waren jetzt die führenden Theologen, die großen Sprecher in den vorangegangenen religiösen Kontroversen, die ihren katholischen Gegnern Achtung abzunötigen und bei Hofe Gehör zu finden wußten? Sie gehörten meistens der alten Generation an, die gleichzeitig mit dem Protestantismus in Frankreich zu Ende ging. Pajon erlebte seine letzten Stunden in den Tagen der Revokation75. Claude emigrierte nach Holland und starb bald darauf. Auch Du Bosc amtierte nur noch einige Jahre in Rotterdam, wohin er 1685 als Pastor berufen wurde. Diejenigen Pastoren, welche wie Etienne Le Moyne und Pierre Allix wegen ihrer Gelehrsamkeit geschätzt wurden, vergruben sich in Subtilitäten der hebräischen Philologie, andere wie Jacques Bernard und Jean L e Clerc, welche eine flüssige Feder führten, versuchten sich aLs Berichterstatter in der republique des lettres. Wer aber machte sich zum Führer der Verfolgten, um ihre Energien zu sammeln und in die politische Waagschale zu werd'en? Denn die Revokation, als ein politischer Akt, schien eine ebensolche Reaktion herauszufordern. Immerhin gab es einen Pastor, der von sich glaubte, es einem Goliath gleichtun zu müssen. Es war- wie Bossuet sagte - le seul defenseur de la religion protestante: Pierre Jurieu. Als Enkel des großen Pierre Du Moulin, durch seine Stiefmutter mit den protestantischen Baronen von Alez verwandt, durch Heirat mit seiner Cousine Helene Du Moulin in seinen Beziehungen zu protestantischen Gelehrtenkreisen noch befestigt, glaubte er, als berufener Führer des Exilprotestantismus auftreten zu können. Schon als junger 75 Über das Ende Pajons cf. Bastide (L.), L'Eglise reformee d'Orleans d la R evocation, Bulletin, 1901, p. 66.

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Pastor wurde er als eifriger Vertreter der Orthodoxie bekannt, als er einem viel älteren Kollegen, Isaac d'Huisseau, der für liberale theologische Anschauungen eintrat, den Prozeß machte76. 1673 wußte er sich in der Akademie von Sedan gegen einheimische Kandidaten durchzusetzen77 : er erhielt ein€ Professur für Theologie und damit ein Forum, das es ihm ermöglichte, durch Schriften und Agitation bald in die erste Reihe der Verteidiger der protestantischen Konfession aufzurücken. Mit Arnauld, mit Nicole hatte er es aufgenommen, mit Maimbourg und Pellisson, mit Bossuet rechnete er vom Exil aus ab, und dazwischen zogen sich seine erhitzten Dispute, seine Intrigen gegen all diejenigen Pastoren hin, die seinem Eifer widersprachen. Nicht nur die Auflösung der Akademie von Sedan hatte ihn aus Frankreich vertrieben, sondern vor allem seine kühnen Angriffe in der Politique du Clerge de France 18 , als deren Verfasser er bald genannt wurde. Sein Ruf eilte ihm nach Holland voraus, wo er in Rotterdam - neben Bayle - an einer neu errichteten Ecole Illustre, einer Art Zwischenstufe von Lateinschule und Akademie79, 1682 Professor wurde. Es war ein seltener Charakter. Seine Feinde fürchteten ihn wegen seiner Unberechenbarkeit. Seine Schriften erlebten Neuauflagen und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Schon seine Studenten in Sedan hatten ihn ein Orakel der Kirche und einen Pfeiler der Reformation genanntso. In Rotterdam nun prägte man Medaillen mit seinem Antlitz81 . Er hatte es nicht nötig, wie andere Professoren zusätzliche Stunden zu geben - es sei denn, ein zahlreiches Auditorium wußte seine oratorischen Talente zu schätzen82 . Er wußte, daß er zu Besonderem berufen war, daß Gott ihm die Ehre antat, sich seiner zu bedienen, um die Wahrheit gegen die Feinde des Herrn zu verteidigen83. Ein Hauch des Alten Testaments durchwehte alle seine Äußerungen: nicht nur die Wahrheit zu verkünden, sondern sie zu verteidigen, wenn nicht zu rächen, war sein Amt. Jurieu ging, sobald er in Holland angelangt war, ans Werk. Hatte er sich in seinen Schriften, die er in Frankreich abfaßte, noch auf rein theologischem Felde bewegt, so ging er jetzt auf die Bezirke der Jurieu, Examen du livre de la Reunion du christianisme ... (1671). cf. die Annales de la Ville de Sedan des P. Norbert, Bibi. Nat. Paris, MS. f. f. 11581 fol. 384 und Desmaizeaux, Vie de Bayle (Dict., t. 1). 78 Jurieu, La Politique du Clerge de France, ou Entretiens curieux ... (1681). J. war dem französischen Hofe so unbequem, daß man ihn noch von Holland aus entführen wollte, cf. Chaufepie, Dict., t. III. art. Jurieu, 76

77

p. 70.

79 Über die Ecole Illustre von Rotterdam cf. Kan, De Illustre School te Rotterdam (Rotterdamsch Jaarboekje, I. 1888). 80 Jurieu, Factum de l'affaire de Monsieur De La Conseillere, t.I. p. 6. 81 Kan, Bayle et Jurieu, BuH. d. Egl. Wall., t . IV. p.167. 82 Bayle an seinen jüngeren Bruder, 9. 7. 82. Nouv. Lettres, t. II. p. 167. 83 Jurieu, Apologie du Sieur Jurieu, p. 1.

8'

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politischen Geschichte über.. Er arbeitete fieberhaft daran, die Geschichtsverdrehungen des Jesuiten Maimbourg zu entkräften; er studierte eifrig protestantische und katholische Gewährsleute84 , entwickelte edne ausgedehnte Korrespondenz, um Materialien aus ganz Europa zu sammeln, und brachte dann eilig in vier Bänden eine Art Anti-Maimbourg heraus, der wohl einige Verleumdungen des Jesuiten aufzeigte, im ganzen aber ebenfalls von parteiischem Geiste getragen war.&'. Jurieu errang sich mit diesem Werk, das 1683 erschien und den Beifall der bedrängten Protestanten ~n Frankreich und im Refuge fand, eine führende Stellung. Zahlreiche Kontrov·ersenschriften festigten seinen Ruf. Und als er 1686 begann, seine Lettres Pastorales her·auszugeben, wurden sie gleichsam als offizielles Organ des Refuge, als Gazette ecclesiastique, wie seine Gegner sagten, angesehen. Die Wandlung Jurieus vom Theologen zum Politiker wurde in diesen Hirtenbriefen sichtbar; sie wurde zugleich für die weitere Haltung der Refugies symptomatisch. Jurieu begann damit, in seiner 14tägig erscheinenden Publikation einen Martyrienkalender der daheimgebliebenen Protestanten zu g.eben und die theologischen Argumente, die er in seinen Kontroversenschriften geb:r;acht hatte, zu vulgarisieren. So standen neben Zeugnissen und Briefen von Gefangenen Schilderungen der ersten christlichen Konzilien, Zitate der Kirchenväter und subtile Widerlegungen der katholischen Glaubensartikel. Den Gläubigen in Frankreich sollte damit eine Waffe gegen ihre convertisseurs in die Hand gegeben werden. A-ber wußten sich die in Frankreich gebliebenen Laien, die bürgerlichen Geschäftsleute in den Städten und die Bauern der Cevennen tatsächlich seiner spitzfindigen Argumente zu bedienen? Es half ihnen doch in ihren alltäglichen Gewissensfragen wohl nur wenig, wenn er ihnen empfahl, diesen oder jenen Kirchenvater zu studieren und dott die Ansprüche der Römischen Kirche widerlegt zu sehen. Zweifellos überschätzte Jurieu das Interesse und die Aufnahmefähigkeitder Laien für die Kontroversenliteratur. Man hielt ihm auch deshalb bald entgeg.en, über seinen dozierenden Erörterungen die veligiöse Erbauung der Gläubigen zu vernachlässigen und sie dadurch den Argumenten der Zweifler und Opportunisten auszuliefern. Doch er gl,aubte - zunächst wenigstens - nicht daran, daß die protestantische Religiosität in Frankreich am Erlöschen war: im Gegenteil, es galt nur zu verhüten, daß sich die an den Gottesdienst gewöhnten und nach reHgiöser Betäti-gung verlangenden Gläubigen der kathocf. Oordt, Pierre Jurieu: Historien apologiste de la rejormation, p. 53. Jurieu, Histoire du Calvinisme & celle du Papisme mises en parallele ... Menage sagte darüber: "C'est un mechant rechauffe de tout ce que Du Moulin & les autres ont dit de plus fade contre la Religion Catholique." Menagiana, 2e ed., t. II. p. 23. 8'

85

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lischen Devotion anschlossen86• Die unausgesprochene Voraussetzung der Lettres Pastorales wa11 daher, daß sowohl die Gebildeten wie die breite Masse ihrer Leser noch die konfessionelle Parteinahme als Hauptfrage ihrer menschlichen Existenz überhaupt ansahen. Die einen sollten durch dogmatische Argumente, die anderen durch ergreifende Schilderungen der Verfolgung im Glauben gefestigt werden: die durch die Revokation aufgerissenen Fronten waren somit zu verstärken, Kompromisse waren zu verwerfen, um die Aussicht auf einen totalen Sieg der reformierten Sache freizuhalten. Die Briefe der ersten Jahre hinterließen noch den Eindruck, als wollte Jurieu lediglich eine Rechtfertigung des reformierten Bekenntnisses geben und auf das Unrecht hinweisen, das den Protestanten von Ludwig XIV. und dem Klerus zugefügt wurde: sie enthielten damit keine neuen Argumente. Auffallend war nur die heftige Tonart, die Jurieu vor anderen Kontroversisten auszeichnete. Er wollte vom Exil aus schonungslos den Vorhang aufziehen, den die Apologeten der Revokation über die Grausamkeit fallen gelassen hatten. Er gab Einzelheiten, berichtete gesicherte Tatsachen und andere, die sich lediglich auf das J'ay vu von Augenzeugen stützten87 • Bekenner auf den Galeeren wuooen namentlich aufgeführt, Schicksale in Kerkern wurden in allen schrecklichen Farben geschildert. Ces saints Athletes de Dieu - rief Jurieu aus und stellte sie seinen Lesern vor: jen€ Frau, die bewußtlos wurde, als ihr ein Jesuit die Feder zur Unterschrift in die Hand drückte88 , jene schiffbrüchigen Gefangenen, die bei Martinique in die Hände der Wilden fielen und dort zum ersten Male Mitleid fanden89 , jene Bekenner, die in den finsteren Gefängnislöchern Südfrankreichs bis zum Leib im Wasser stehen mußten90• Und als Kontrast dazu malte er ein Bild der Verfolger. Er scheute keine groben Beschimpfungen: die niederen Kleriker waren ignorans, brutaux, yvrognes, vicieux, concubinaires, sie suchten nur Ruhe und Faulheit, embonpoint; und die Monseigneurs liebten nur raffinierte Köche und sechsspännige Karossen, Treibjagden und den Harem - sie alle waren die Diener des Antichrist91. Diese Schwarz-Weiß-Malerei trat jedoch ebenso wie die trockene Dogmendiskussion allmählich hinter andere Probleme zurück. Jurieus 86 Jurieu, Lettres pastorales, 2e annee, XVI. p.124: " ... Les malheureux convertisseurs de France ne travaillent pas a detourner nos Protestans de Ia devotion, mais de Ia verite. C'est pourquoi il est bien moins necessaire de combattre l'indevotion que l'erreur." 87 Ibid., Ire annee, XV. p. 128. 88 Ibid., Ire annee, XVII. p . 144. 89 Ibid., IIe annee, IV. p. 31. oo Ibid., ne annee, VIII. p. 64. n1 Ibid., Ire annee, XIX. p. 176.

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Attacken gewannen politische Färbung. Noch 1687 hatte er einen Avis für diejenigen in Frankreich verfaßt, die weiterhin zögerten, sich der Verfolgung zu entziehen, und ihnen das Beispiel des Petrus vorgehalten, der auch hinausging, nachdem er den Herrn verleugnet hatte92. Ein Jahr später jedoch, als das Unternehmen des Prinzen von Omnien erfolgreich verlief, änderte er sein Kommando. Die drohende Koalition gegen Ludwig XIV. wurde sichtbar93. Für Jurieu war jetzt die Stunde gekommen, von der Diskussion der Autorität der Römischen Kirche zu der der Souveränität des Königs überzugehen. Nicht mehr die Schilderung der Leiden der Verfolgten war aktuell, sondern die Frage, ob man sich der zwangsweisen Bekehrung mit Waffengewalt widersetzen durfte. Eine neue Problematik war damit aufgeworfen. Die Lettres Pastorales nahmen eindeutig zugunsten der Insurrektion Stellung. Und die übrigen Autoren des Refuge sahen sich vor der ·Alternative, entweder zu schweigen oder zu widersprechen. In beiden Fällen befanden sie sich in einer delikaten Situation. Schwiegen sie, so identifizierten sie sich mit den Ansichten Jurieus und leisteten damit dem Argument Ludwigs XIV. Vorschub, der behauptete, sein Land zu Recht von seditiösen Elementen gesäubert zu haben; widersprachen sie, so gerieten sie in Gefahr, bei ihrem Gönner Wilhelm von Oranien in Mißkredit zu geraten, da er ja seine Revolution mit religiösen Motiven ausgestattet hatte. Die Stellungnahme in dieser Frage wurde bald zu einem Kriterium für die Gruppierung unter den Emigranten. Durch den Gang der politischen Ereignisse, deren Niederschlag, deren Barometer sozusagen in Jurieus Schriften abzulesen war, wurden sie in zwei Parteien gespalten: die Orangisten oder die Eiferer, welche kein Mittel unversucht lassen wollten, um Ludwig XIV. zum Nachgeben zu zwingen, und die Gemäßigten, welche auf die Gnade des französischen Königs hofften. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch die Indifferenten, die Gelehrten und die Abenteurer der n?publique des lettres, die nur in Ruhe ihren individuelh~n Interessen nachgehen wollten, in die politischen Spannungen dieser beiden Gruppen verwickelt wurden. Denn die Eiferer bezichtigten sie bald der Schwachheit, wenn nicht gar des Verrats an der gemeinsamen Sache, und die Gemäßigten suchten ihre Unterstützung und ihre über ganz Europa ausgedehnten Beziehungen zu gewinnen. Für alle Refugies war damit die Stunde gekommen, aus den Gegebenheiten des Exils, denen sie sich aus religiösen Motiven unterzogen hatten, politische Folgerungen zu ziehen. 92 Ibid., IIe annee, XII. p. 90: "Plus de deux cens mille personnes perdues pour le Roy ne suffisent pas encore, il faut donc luy en arracher d'avantage, afin qu'on ouvre les yeux a ce qu'on fait." 93 Jurieu schrieb (ibid., IIIe annee, VIII. p. 64): "La terre tremble: & qui s~ait si les murs de Babel ne seront pas renverses par ce tremblement?"

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Die Masse der Refugies setzte eher auf die Karte Wilhelms als auf den denkbaren guten Willen Ludwigs XIV., Jurieu nur als überspannten Einzelgänger anzusehen. Schon lange vor der Revolution hatte sich Wilhelm die Sympathien der Verfolgten zu sichern gewußt. Die beträchtliche Unterstützung der Flüchtlinge durch die Holländer und ihre relativ schnelle Einordnung in das öffentliche Leben waren nicht zuletzt seinen Winken zu verdanken. Schon aus innerpolitischen Gründen mußten ihm die ankommenden calvinistischen Pastoren willkommen sein; sie konnten in den Niederlanden das Gegengewicht zu der von Remonstranten beeinflußten und hauptsächlich aus Adel und Großbürgertum bestehenden republikanischen Partei nur verstärken. Es ist als sicher anzunehmen, daß prominente Emigranten wie Jurieu schon bald nach ihrer Ankunft mit ihm in Verbindung traten. Auch Du Base beeilte sich, als er 1685 in Holland eintraf, Wilhelm seine Aufwartung zu machen94 • Mit den zunehmenden diplomatischen Intrigen des Prinzen gegen Ludwig XIV. und schließlich mit seiner Intervention in England wurde er zur großen politischen Hoffnung der Refugies; sie nannten ihn ihren Josua, ihren FAVORI DE DIEU95 • Für den Sieg seiner Truppen wurden in den Kirchen Sondergebetsstunden angesetzt96. Jurieu pries in den Lettres Pastorales, daß Gottes Providenz Wilhelm mit Se-gnungen überhäufte und Jakob II. mit Blindheit schlug97. Und in verschiedenen Flugschriften ermahnte er die Fürsten Europas, die Sache des Oraniers zu unterstützen98• Bald wies er darin auf die Notwendigkeit einer protestantischen Einheitsfront gegen das katholische Frankreich hin, bald auf die Tatsache, daß nunmehr die Zeit vorüber war, in der noch die Religion als Hinderungsgrund für politische ·Allianzen galt: der Papst, Habsburg und die protestantischen Staaten sollten jetzt gemeinsam Frankreich zerschlagen99 . Der Eifer des militanten Pastors enthüllte damit schlagartig die Situation: die religiöse Motivierung war auf der Seite Frankreichs wie auf der der großen Koalition nur ein Vorwand für politische Machtkämpfeloo. Blieb den Refugies unter diesen Umständen eine andere 94 Le Gendre, La Vie de Pierre Du Bosc, p. 148. •• Bayle, Avis aux Refugiez, Avertissement. OD. t. II. p. 582 b. Le Clerc schrieb an Tronchin in Genf (10. 8. 89): "On est dans une grande esperance du cöte de la mer. Dieu veuille qu'on ne soit pas trampe ..." U. Bibi. Genf, MS. Archives Tronchin, t. 42. fol. 25 A. 86 Actes du Consistoire de Rotterdam, 1. 6. 92. Bibi. Wall. Leiden, Sammlung Mirandolle, cf. ebenfalls die Priere pour demander d Dieu sa protection en faueur de Mongr le prince d'Orange au sujet des affaires presentes vom November 1688. (Bibl. Mazarine MS. A. 15 424 Nr. 20). 87 Jurieu, Lettres pastorales, IIIe annee, XIV. p. 111. 88 Jurieu, Lettre de B. D. S. C. d M. D. Bourgmestre de Soleure ..., p. 5. 89 Jurieu, Les veritables interets des Princes de l'Europe ..., p. 17. 100 Jurieu, ibid., p. 19: "C'est l'ancien artifice de la France de couvrir ses ambitieux desseins du voile de la Religion ..."

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Wahl als aktiv in den Dienst ·ein-er Partei zu treten, ohne sonst in Gefahr zu geraten, zwischen beiden zerrieben zu werden? Inmitten der politischen Agitation für die Sache Wilhelms und der Hoffnungen der Emigranten, nach seinem vorausgesagten Siege über Ludwig XIV. im Triumphzug nach Frankreich zurückkehren zu können, erschien eine Schrift, die groß-es Aufsehen err-egte: ein Avis important aux Refugiez sur Zeur prochain retour en France. Die Eiferer mit Jurieu an der Spitze sahen darin einen Dolchstoß, eine infame Satire aller ihrer geh-eimen Wünsche. Vom Jahre 1689 hatte marn die große Wandlung in ihrem Schicksal -erwartet. Und im Frühjahr 1690 erschien di-eser Avis in Holland mit den Worten: Voici, moneher Monsieur, Z'annee 1689 expiree, sans qu'il soit rien arrive de fort memorable ... Es war nicht nur eine Persiflage der politischen Hoffnungen des Refuge, sondern eine Anklage gegen die Reformation üb-erhaupt. Was nutzten denn, so fragte der anonyme Autor, den Refugies die seditiösen Maximen der Lettres Pastorales? Sie konnten nur das Mißtrauen der katholischen Herrscher gegenüber ihren protestantischen Untertanen verstärken. Mit d-er Reformation war ohnehin das Prinzip der lA.utorität erschüttert worden. Mit der Politisi-erung der Reformation aber wurde jeder Gehorsam überhaupt aufgegeben und dem Bürgerkrieg Tür und Tor geöffnet101. Und: durften sich die Refugies über die Intoleranz der Katholiken und deren Verbindung von Religion und Politik wundern? Die Geschichte zeigte, so argumentierte der Avis, daß gerade die Protestanten überall dort intolerant auftraten, wo sie ·die Macht besaßen, und dort Toleranz forderten, wo sie in der Minderheit waren. Ein hugenottischer Papst hätte viel mehr Könige erntthront, als es der katholische tat, wenn man von all den Fällen ausgehen wollte, in denen die Protestanten seit 1517 Könige absetzten102. Der Avis zielte damit eindeutig auf das Unternehmen WHhelms und verursachte •einen Skandal, der die Partei der gemäßigten Refugies ernstlich in Mißkredit bringen mußte und den Eiferern eine Handhabe bot, ihre Linie nur noch energischer fortzusetzen. Wer war der geistreiche Autor, der sich unter den Anfangsbuchstaben C.L.A.A. P.D.P. verbarg und der an verschiedenen Stellen seines Buches eine ausgezeichnete Kenntnis der Mentalität des Refuge in Holland verriet? Es gab Verdächtigungen. Zahlreiche Widerlegungen des Avis erschienen, deren lAutoren nicht nur die Reformation und die englische Revolution verteidigen, sondern sich vor allem von dem umstrittenen Anonymus distanzieren wollten. Manche glaubten, das Libell dem nach Frankreich desertierten Larroque zuschreiben zu können, andere 1"1 102

Bayle, Avis aux Refugiez, OD, t. II. p. 606 a. lbid., p. 609 a.

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dachten an Pellisson103 und schienen in ihren Hypothesen bestätigt zu werden, als 1692 in Paris eine 2. Auflage des Avis mit königlichem Privileg erschien104• Jurieu indessen, der von den satirischen Ausfällen des Buches am schärfsten getroffen war, ruhte nicht eher, bis er greifbare Anhaltspunkte dafür gefunden hatte, den vermeintlichen Verfasser zu d€7Ilaskieren. Er erfuhr davon, daß sein alter Freund und Kollege aus der Lehrtätigkeit in Sedan und Rotterdam, Pierre Bayle, einen Projet de paix, der von einem Refugie in Genf verfaßt woTden war, in Druck gab 105. Die pazifistischen Tendenzen dieser Schrift, die betonte offizielle Zurückhaltung Bayles in allen aktuellen politischen F!'lagen und der Stil des Avis, welcher auffallende Ähnlichkeit mit dem der bekannten Schriften des Philosophen aufwies, ließen J .u rieu nicht zögern, in seinem Kollegen den gesuchten Autor zu sehen106• In einem ausführlichen Examen erklärte der erregte Pastor seinem alten Freunde den Krieg, der zur Entlassung Bayles fühl'en und bis zum Tode andauern sollteHl7 • Die Spaltung unter den Refugies wul'lde damit nur noch vertieft. Gewinn daraus konnten nur die Katholiken ziehen; denn die Energien Jurieus und anderer Pastoren blieben fortan darauf konzentriert, Kleinkrieg im eigenen Lager zu führen, zumal neben den politischen .Argumenten der beiden Parteien des Refuge in zunehmendem Maße d>ie alten theologischen und philosophischen Differenzen des französischen Protestantismus hervortraten. 103 Vor allem der englische Journalist Wellwood sprach in seinem Mercurius reformatus (August 1690, vol. 3 Nr. 7) die Vermutung aus, daß Pellisson den Avis auf Bestellung Ludwigs XIV. und Jakobs II. verfaßt habe.

Eine detaillierte Begründung dieser Ansicht versuchte später La Bastide

(Dissertation, ou l'on decouvre te veritable Auteur de l'"Avis aux Refugiez" &c., 1716) zu geben. In Holland indessen ging das Gerücht, Larroque wäre dH Autor (cf. Bayle an Constant, 24. 10. 90, Lettres choisies ... t. I. pp. 287 f.). Auch Leibniz war dieser Ansicht, cf. Leibniz, Textes inedits ... ed. Grua, t. 11. p. 887. 104 Über die Frage dieses Privilegs, dessen Echtheit bestritten wurde, cf. vor allem Jurieu, Factum seton tes formes, pp. 87 ff. 105 Goudet, Huits Entretiens ou Irime et Ariste fournissent des idees pour terminer ta presente guerre par une Paix generate (1690). 106 Zur Frage, ob Bayle tatsächlich der Autor des Avis war oder etwa nur bei der Drucklegung die Hand im Spiele hatte, cf. Delvolve, L c., pp. 186- 194, Charles Ba stide, Bayle est-il l'auteur de l' Avis aux R efugies? Bulletin, 1907, pp. 544--558, Ascoli, Bayle et l'"Avis aux refugies" .. ., Rev. d'Hist. litt., 1913, pp. 517-545 und Dodge, l. c., pp. 94 f . Eine ausführliche

Diskussion des Problems behalten wir uns in einer anderen Arbeit vor. 107 Jurieu, Examen d'un libeHe contre la Religion, contre l' Etat & contre la revolution d'Angleterre ... (1691). Ein anschauliches Bild der Feindschaft der beiden ehemaligen Kollegen, die bis über das Grab Bayles hinaus andauerte, gibt das Gedicht eines Freundes Bayles, La M emoire du philosophe d e Roterdam vangee de la Calomnie (Copie davon Bibl. Nat. Paris, MS. f. f. 14 998 fol. 162-194), das wir unter dem Titel Un epilogue d la controverse Jurieu-Bayle in Pierre B ayle, le Philosophe de Rotterdam (Amsterdam 1959) veröffentlicht haben.

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Die tonangebende Gruppe im Exil blieben die Parteigänger WHhelms. Mit seinen Erfolgen oder Niederlagen und mit seinem zunehmenden oder abnehmenden Interesse für die Vertriebenen stiegen und fielen ihre Hoffnungen. Sie dienten ihm in d~n verschiedensten Funkt:onen. Schamberg trug mit seinen Truppen maßgeblich zum Gelingen der Unternehmungen des Prinzen bei. In französischen Pamphleten wurde er in einem Atemzuge mit dem O:rnnier genannttos. Der Mercure de France brachte ein verzerrtes Porträt seiner Persönlichkeit109. Im Spiel der politischen Kräfte stellte er gewissermaßen die repräsentative Figur dar, deren Name bei Freund und Feind bekannt war. Im Hintergrund indessen, durch prominente Auftraggeber gedeckt, arbeitete eine zahlreiche Gruppe von anonymen Helfern für die Interessen Wilhelms. Ihre Tätigkeit war teilweise so gut getarnt, daß sie der historischen Forschung während zweier Jahrhunderte verborgen blieb. An den verschiedenen Zentren des Refuge saßen diese VertraueillSleute und ließen ihre Verbindungen untereinander und sogar nach Frankreich hinüberspielen. In der Schweiz versuchte der Marquis de Mirmand zwischen den diplomatischen Intrigen Wilhelms, dem Mißtrauen der Schweizer Kantone und den Interessen der Refugies zu lavieren110. In Holland entstand in dem Wirkungsfeld Jurieus ein Aktionszentrum, in dem alle geheimen Fäd.e n zusammenliefen: sein Haus in Rotterdam wurde eine Durchgangsstation für Agenten, Spione und Bandenchefs111. In Berlin saß sein Vertrauensmann Gaultier de Saint-Blancard, der jederzeit Eingang beim Staatsminister Fuchs fand. Und in London genossen der Pastor Pierre Dubourdieu und der So z. B. in dem Couplet Le Prince d'Orange a tort De n'estre pas encor mort b •s { On l'attendoit dans l'Enfer ' Auec son Schamberg Pour dethrosner Lucifer. Bibl. La Rochelle, MS. 673, fol. 273 B. In einem satirischen Gedicht Lucijer detrosne, ou le Prince d'Orange Roi des Enfers wurde Schamberg als Quartiermacher Wilhelms in der Hölle dargestellt, der alle Vorbereitungen traf, um seinen Herrn auch dort auf den Thron zu bringen (Bibl. Mazarine, Paris, MS 3949 fol. 192 B). Als sich 1690 in Paris das Gerücht vom Tode Wilhelms und Schambergs verbreitete, wurden nachts alle Bürger aus den Betten geholt, cf. das satirische, in Holland erschienene Flugblatt Folies Extravagantes De La France sur la mort imagin aire de Guillau m e III. Roy de la Grand'Bretagne etc. (1690) und Malssen, Louis XIV d'apres l es pamphlets repandus en Hollande, pp. 82, 201. 109 Donneau de Vize, Mercure de France, Aug. 1690, pp. 183 ff. uo über die Comites secrets, die sich in den einzelnen Zentren befanden, cf. Mme Alexandre de Chambrier, Henri de Mirmand et les refugies .. ., HIS

pp.105 ff.

111 Dedieu (Le role politique des protestants frant;ais . . ., p. 14) schreibt nach eingehenden Aktenstudien: "Jurieu fut un chef, mais les troupes etaient ardentes. I1 n'eut pas a les exciter, il lui suffisait de les diriger."

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Marquis de Miremont das Vertrauen der jeweiligen englischen Staatssekretäre. Jedes größere politische Ereignis hatte seine Reflexe in diesem Netz der Geheimverbindungen. Und jeder private Zwischenfall im Refuge wurde von den verantwortlichen Agenten mit den politischen Spannungen in Verbindung gebracht. Es war deshalb auch ein leichtes, persönliche Gegner zu verdächtigen und zu denunzieren. Die Leidtragenden dieser stickigen Atmosphäre waren die Partei der Gemäßigten und die Indifferenten. Besonders in Holland unter dem Einfluß Jurieus wurden doktrinäre theologische Spannungen zu politischen Zwecken ausgemünzt. Bayle war das bekannteste, nicht das einzi·ge Opfer dieser ·Agitation. Auf den Synoden wurden besondere Reglements ausgearbeitet, um Denunziationen zu erleichtern und Denunzianten eine privilegierte Stellung gegenüber ihren Opfern zu .sichern112• Die politische Aktivität der Refugies reichte von der Proklamation des Landesverrats bis zu unterwürfigen Gesuchen bei den Beauftragten Ludwigs XIV. Pastoren wie Jurieu, Benoist, Gaultier de Saint-Blancard und La Combe de Vrigny intrigierten, um eine Landung Wilhelms in Südfrankreich vorzubereiten113. Adlige, wie der Marquis de Rochegude, verwandten sich in zahlreichen Gesuchen, um einige der zu den Galeeren verurteilten Bekenner freizubekommen 114 • Unterschiedlich waren die Motive der Akteure. Freilich stand allen obenan die Gloire de Dieu: sie figurierte in den donnernden Ermahnungen Jurieus und in den Trostbriefen für die Gefangenen. Dahinter verborgen aber regten sich die Leidenschaften, die Charaktere. Schon Jurieus Gegner, die nur von seiner publizistischen, nicht aber von seiner politischen Agitation unterrichtet waren, bezichtigten ihn, nur deswegen so laut von dem bevorstehenden Siege Wilhelms zu sprechen, weoil er selbst gern in Notre-Dame predigen wollte115 . Der Marquis de Miremont deutete an, einer Nebenlinie des Hauses Bourbon anzugehören116 . 112 So steht im Art. 30 des Protokolls der Synode von Ter Goes (20. 8. 94): ". . . il a et.e arres.te. . . que la qualit.e de Denonciateur par elle-meme, n'a rien d'odieux et n'empeche point du tout par elle-meme qu'un Denonciateur ne puisse etre Juge ..." Bibl. Wall. Leiden, MS. Sammlung Mirandolle. 113 So schrieb Gaultier über die angestammten Rechte des englischen Königs auf südfranzösische Gebiete: "On sait d'ailleurs les droits que le Roi a sur la Guyenne. C'est une province contigue au Languedoc et qui est aussi remplie de protestants opprimes. Si l'on etait une fois maitre du Languedoc, il serait aise a S.M. d'attaquer la Guyenne par mer et par terre, lorsqu'elle le jugerait a propos. Et il ne lui serait peutctre pas si difficile que l'on pense d'y rentrer en possession de ses droits, dont ses ancetres ont ete depouilll~s." Gaultier an Shrews.bury 23. 7. 90, zitiert von Dedieu, l. c., p. 51. 114 cf. Dedieu, l. c., pp. 265 ff. 115 Bayle, Les Chimeres de la Cabale ..., OD, t . II. p. 725 a. m Dedieu, l. c., p .. 7.

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Andere waren von dem Wunsch der Vergeltung für Verluste in Frankreich beseelt, manche wollten ihre zu Tode gequälten Angehörigen rächen. Es gab indessen auch Diplomaten, Künstler des Möglichen, welche, wie der Marquis de Mirmand, bald mit den Vertretern der großen Koalition konferierten, um kleinere Vorteile für die Emigranten auszuhandeln, bald Projekte schmiedeten, um die überzähligen Refugü~s in Irland anzusiedeln117• Auch der Pastor Jacques Basnage gehörte zu diesen geschickten Gleichgewichtspolitikern. Voltaire sagte von ihm, daß er das Zeug in sich gehabt hätte, an Stelle einer einfachen Pfarre das Amt eines Staatsministers auszufüllen118• Als ihm 1685 die Erlaubnis entzogen wurde, in seiner Kirche in Rouen zu predigen, reichte er ein besonderes Gesuch ein, um von Ludwig XIV. die Überführung seines gesamten Hausstandes einschließlich einer alten Amme zu erwirken. Obwohl als Parteigänger der Gemäßigten bekannt, wußte er sich 1691 gegen den Widerstand Jurieus eine ordentliche Pastorenstelle in Rotterdam zu sichern. Dank seiner guten Beziehungen zu dem holländischen Staatsmann Heinsius konnte er es sich sogar 1702 leisten, den Aufstand der in Frankreich gebliebenen Protestanten öffentlich zu verurteilen. Die holländische Regierung wählte ihn später in Utrecht als Unterhändler mit den Beauftragten Ludwigs XIV. Und der Abbe Dubois, der spätere Kardinal und Premierminister, wandte sich an ihn, weil er sein besonderes diplomatisches Geschick schätzte119, Das Schicksal der Refugies indessen konnten weder die Agitation der Eiferer noch die Talente der Gemäßigten ändern, solange es völlig mit dem Lauf der großen Politik verbunden blieb. Die verhängnisvollen Folgen dieser Abhängigkeit zeigten sich vor allem 1697 bei den Friedensverhandlungen von Rijswijk. Eine neue, die letzte große Hoffnung der Emigranten fand in zahlreichen Entwürfen und Bittschriften Ausdruck. Der Krieg, 1688 begonnen, neigte sich 1696 seinem Ende zu. Eine allgemeine wirtl'lChaftliche und militärische Erschöpfung aller kriegführenden Staaten förderte den FriedenswiUen. In England g,ab es innerpolitische Schwierigkeiten. Durch einen neuerlichen Abfall des Herzogs von Savoyen, dem von Ludwig XIV. die Königswürde zugesichert wurde, trat eine empfindliche Schwächung der großen Koalition ein. Bei Friedensfühlern mit den Engländern gab Ludwig XIV. zu verstehen, daß er die Sache Jakobs II. aufzugeben bereit war. Und Wilhelm deutete an, daß auch er Zugeständnisse machen wollte. Beide Parteien der Emigranten in HolMme de Chambrier, l. c., p. 262. Voltaire, Siecle de Louis XIV, t. II. p. 276. m über Jacques Basnage cf. Chaufepie, Dict., t. I. art. Basnage, pp. 108 ff. und Mailhet, Jacques Basnage, theologien, controversiste, diplomate et historien ... (1880). 117

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Die Politisierung der Emigranten

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land, von den Kirchen des ganzen Refuge unterstütztl 20, intrigierten fieberhaft, um trotzdieser Sachlage noch einige Vorteile auszuhandeln. Doch alle Memoranden, die dem Kongreß von Rijswijk vorgelegt wurden, blieben ergebnislos. Ludwig XIV. lehnte es ab, die Refugies, die sich seiner Ansicht nach in Wort und Tat als Hoch- und Landesverräter erwiesen hatten, wieder heimkehren zu lassen. Und Wilhelm opferte ~hre Interessen ungeachtet seiner einstigen großen Versprechungen den ehrgeizigen Zielen seiner Politik. Als er am 2. August 1697 dem Frieden zustimmte, herrschte bittere Enttäuschung unter den Emigranten. Da die Unterzeichnung des allgemeinen Friedens indessen noch einmal vom 30. August auf den 20. September verschoben wurde, sahen sie eine letzte Gelegenheit, um sich nun direkt an Ludwig XIV. zu wenden. Die Prartei der Gemäßigten schickte ihm eine Ergebenheitsadresset2t. Und die Eiferer kleideten ihr Gesuch als Memoire des Allies Evangeliques ein, den der englische Bevollmächtigte seinen französischen Verhandlungspartnern zustellte. Ludwig XIV. jedoch weigerte sich, diesen Memoire zu empfangen, und ließ auch die Eingabe der Gemäßigten ohne Antwort. Es herrschte allgemeine Verzweiflung im Refuge. Nicht zuletzt waren die Spannungen unter den Emigranten für ihre schwache Position in den Verhandlungen aussclliaggebend. Man fragte sich, wo jetzt die Rohan, die Coligny, die Duplessis-Mornay waren122. Manche wandten sich dagegen, daß sich gerade so kompromittierte Persönlichkeiten wie Jurieu zu Sprechern des Refuge aufwarfen; andere lehnten es überhaupt ab, nach Frankreich zurückzukehren und dort neuer Ungewißheit ausgeliefert zu sein123. Der dauernde Wechsel von Hoffnungen und Enttäuschungen in den 12 Jahren des Exils hatte die Emigranten schon mißtrauisch gemacht124. Der Friede von Rijswijk zeigte ihnen endgültig, daß sie sich mit ihrem Los abzufinden hatten. Nur einzelne Unentwegte intrigierten weiter in der großen Politik. Jurieu organisierte neue Geheimverbindungen. Der Marquis de Miremont wollte nicht darauf verzichten, eine große Rolle zu spielen, und suchte sich einen Platz in den späteren Koalitions-, Kriegs- und Friedensverhandlungen zu sichern. Das Gros der Refugies hingegen blieb fortan für den Gang der politischen Ereignisse ohne wesentliche Bedeutung. Der Traum mancher Agitatoren im Exil,

=

Über die Anteilnahme der Kirche von Berlin z. B. cf. Actes du Con-

sistoire de Berlin, 17. 2. 1697, fol. 329 A.

121 Über die Aktivität der beiden Gruppen cf. Puaux, Essai sur les negociations . .. de Ryswick, Bulletin, 1867, p. 261., Read, Les demarches des reformes huguenots ..., ibid., 1891, p. 386 und Bost, Les Predicants protestants ..., t. II. p. 161.

Laney an den Marquis d'Ausson (8. 6. 97) Bibi. Den Haag. Dedieu, l. c., p. 88. 124 Benjamin de Daillon schrieb an Le Vassor über die Refugies (20. 3. 96): "Ce sont des gens effarouches par les supercheryes qu'on leur a faites ..." U. Bibi. Leiden, MS. B.P.L. 293 B. 122

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

mit Hilfe Wilhelrns und der Koalition auf politischem Gebiet die große Stunde des französischen Protestantismus herbeizuführen und damit für die ständige Benachteiligung der reformierten Konfession im Königreich Revanche zu nehmen, war zu Ende. Nach der durch ein ganzes Jahrzehnt hindurch genährten Fiktion, als Hauptakteure im Weltgeschehen zu figurieren, mußten die Refugies einsehen, daß sie nichts weiter als Werkzeuge gewesen waren. Die Situation hatte sich grundlegend geändert, und die politische Karte der Emigranten war für immer verspielt. Bezeichnend genug dafür war die Tatsache, daß der Marquis de Mirmand bei Friedrich Wilhelm I. von Preußen intervenieren mußte, um zu verhindern, daß den hugenottischen Offizieren im Zuge der Sparmaßnahmen des Berliner Hofes zwei Drittel ihrer Pensionen gestrichen wurlden125. III

Die Politisie11ung der emigrierten Protestanten erwies sich nicht ohne Rückwirkung auf die in Frankreich gebliebenen. Wenn auch nach der Revokation die aktiven Elemente das Königreich verließen, so blieben doch noch genug Reformierte zurück, die sich nicht ohne weiteres zum Meßgang bequemen wollten. Oft trat sogar der Fall ein, daß nur die Pastoren ins Ausland gingen und ganze Gemeinden zurückließen. Gerade für diese Daheimgebliebenen schrieb Jurieu seine Lettres Pastorales. Die Katholiken zögerten nicht, ihm zu antworten, und legten ihre Argumente eben diesen noch in Frankreich vorhandenen Protestanten und den Neubekehrt·en in den Mund 126. Man wies darauf hin, daß die Folgen der Revokation gar nicht so schlimm wären, wie es Jurieu hinstellte, daß die Zahl der Emigranten äußerst klein sei und die Opfer der Verfolgung keine echten Märtyrer wären127 ; und man erhob vor allem den Vorwurf, daß die Pastoren ihre Gemeinden schmählich im Stiche gelassen hätten. Schon bald nach seiner Ankunft in Holland versuchte der Pastor Elie Benoist, diesem Argument mit einer Apologie zu begegnen128. Von seiner sicheren Pfarre in Delft 126 Mme de Chambrier, l. c., p. 368. Mirmand erreichte, daß die Kürzungen nicht allzu empfindlich ausfielen. 128 So z. B. die anonymen Schriften Lettre d'un Avocat nouvellement reuny d l'Eglise Catholique ..., Reponse d un ecrit intitule Lettre pastorale etc., Reponse des Nouveaux Convertis de France d la Lettre Pastorale etc., Reponse fraternelle au nom des nouveaux catholiques de France etc. (sämtlich 1686). 127 So z. B. in der handschriftlichen Lettre des Nouueaux Catholiques de l'Isle d'Aruert en Saintonge d l'Auteur des lettres pretendües Pastorales, IV. Des jaux martyrs de la religion rejormee. Bibl. Aix-en-Provence, MS. 818. 1211' Benoi•s t, Histoire et Apologie de la Retraite des Pasteurs, d cause de la Fersecution de France (1687).

Die Situation in Frankreich

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aus schl'lieb er den Zurückgebliebenen, sie sollten es doch ehrlich eingestehen, daß sie ebenso gern wie ihre Pastoren fliehen würden, wenn sie nur die Möglichkeit dazu hätten129 • Es war doch besser, das Martyrium zu umgehen, wenn man dazu in der Lage war130 . Und die Pastoren - so argumentierte Benoist - hätten nur ihre Gemeinden gefährdet, wenn sie sich, vielleicht irgendwo in Frankreich versteckt, der Ausweisung widersetzten. Die gelungene Flucht war eine glückliche Fügung des Himmels: der katholische Klerus wurde mit Blindheit geschlagen; denn die Pastoren konnten sich aus der Ferne als viel grimmigere Gegner zeigen als in der Nähe 131 . Die Flucht war keine Schande, weil sie die emigrierten Pastoren neuen Prüfungen aussetzte: "c'est une espece de combat, ce n'est plus une ltichete ... " 13 2 • Und außerdem hieß es nach der Revokation einfach rette sich, wer kann133 . Die Apologie des Benoist fand bald regen Widerspruch. Verschiedene Refugies waren d.er Meinung, daß die Pastoren ebenso wie tapfere Generale als letzte das Schlachtfeld zu verlassen hätten 134 • Außerdem konnte eine öffentliche Rechtfertigung der Flucht nur den Katholiken neue Argumente dafür liefern, die Legitimität und die Moral des Pastorenamtes anzugreifen135. Nur der kleinere Teil der Gläubigen konnte fliehen; und was sollten die anderen davon halten, wenn Benoist ihnen verkündete, la fuite assure la foil 36, und wenn sich die Pastoren einfach dahinter verschanzten, dem köni•glichen Befehl Folge leisten zu müssen? Die daheim gebliebenen Gläubigen baten deshalb inständig um die Rückkehr der Pastoren137 : Hilfe und Trost sollten 129

Ibid., p. 68.

"Il n'est pas encore temps d'exhorter un homme a mourir en Chretien, quand il peut demeurer Chretien sans cesser de vivre." 131 Ibid., p. 60. 13 2 Ibid., p. 162. 133 Ibid., p. 92: "C'estoit une conjoncture pareille a celle d'une deroute generale, apres une grande bataille: ou chacun ne pense qu'a se tirer d'affaires, sans se mettre en peine des autres. Le Pere & l'Enfant ne se connoissent plus; les Freres & les Amis s'entre'abandonnent, quand on est reduit a sauve qui peut." 13~ D'Artis, Sentimens desinteresses sur la retraite des pasteurs de France ..., pp. 46 ff. Einen aufschlußreichen Blick in die Meinungsverschiedenheiten der emigrierten Pastoren in dieser Frage vermittelt eine Lettre d'un pasteur d un autre sur le retour des pasteurs en France (s. l. s. d.) Bibi. du prot. fr., Copies der Coll. Court 617L fol. 287-315. Wir lesen fol.293/4: " .. . Il ne s'agit pas ici de courir au martyre, il s'agit d'edifier l'eglise de Dieu et pour cela, point de ces generales deliberations, s'il vous plait, point de ces levees de boucliers eclatantes. Si on ne va pas apres cela, on fait rire l'ennemi; et si on marche, on l'a averti de se preparer au combat qui est a mon avis la chose du monde que nous devons le moins faire." 135 cf. den Auszug aus einem Briefe von Gabriel d'Artis an die frz. Kirche von Berlin, Douen, l. c., Appendice VI, p. 453. 136 Benoist, l. c., p. 168. ts? Z. B. in der im Bulletin, 1863 (pp. 300-305) veröffentlichten anonymffi Lettre des reformez captifs en France aux ministres refugiez . . . Du uo Ibid., p. 161:

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

sie spenden und, wenn es nötig war, den Verfol·gern ausweichen, grundsätzlich aber keine Lebensgefahr scheuen. Fand sich denn unter ihnen keiner, der wie ein neuer Moses aufstand138? Waren die Pastoren nicht jenen Ehefrauen zu vergleichen, die den Barbaren in die Hände fielen und deswegen auch nicht von ihren Ehepflichten entbunden waren139? Benoist erwiderte, sie waren nur Menschen, die nicht wie Jesus Christus sel-bst bei den Getreuen bleiben konnten14o. Eine kasuistische Diskussion ·entspann sich, die nicht über die Diskrepanz von Wort und Tat hinwegtäuschen konnte. Von allen Seiten wurden Vorwürfe und Anklagen erhoben, die deutlich zeigten, daß der französische Protestantismus keine Führer von Format besaß, die den schwer ringenden Gemeinden in Frankreich als Vorbild und den Emigranten als unbestreitbare Autorität erscheinen konnten. Die Revokation hatte Verhältnisse heraufbeschworen, welche einen großen Teil der Pastoren ihrer eigentlichen Mission entfremdeten. Politische Spekulationen und wachsame Orthodoxie genügten ebensowenig dem Gebot der Stunde wie Kontroversenschriften und weitabgewandte Gelehrsamkeit. Und selbst in dieser Aktivität im Exil zogen es viele Pastoren vor, anonym aufzutreten141 . In Wort und Schrift priesen sie Gott und die politischen Herren ihrer Exilländer dafür, daß sie ein gesichertes Auskommen gefunden hatten142 ; und die zu Hunderttausenden unter dem Druck der Verhältnisse konvertierten Glaubensgenossen riefen sie zur Umkehr auf143• Der geistliche Beistand der Pastoren wäre in Frankreich um so nötiger gewesen, je mehr die Grausamkeiten zunahmen. Es gab Blut und Tränen, Gewissensqualen, man erlebte aber auch Beispiele von 29 mars 1686: " ... nous vous conjurons ... au nom de Dieu qui vous a

honorez du saint ministere, de ne plus deshonorer cette sainte charge. par une retraite honteuse ..." 138 Ibid., p. 302. 139 D'Artis, l. c., p. 71. uo Benoist, l. c., p .. 262. "' Brenoist selbst gab das beste Be.ispiel. Als er eine Defense seiner Apologie verfaßt hatte, bat er den Journalisten Le Clerc, dem er sie zur Rezension einschickte, inständig: "Monsieur, ce que je souhaite le plus de cacher c'est mon nom. j'ai ete fort afflige de le voir dans l'histoire des savans. J'ai en France de'Ux enfans enfermez; et un Beau-frere deja mis prisonnier deux fois, sur qui on pourroit se vanger de moi, si Ion en avoit envie" (1. 5. 88. U. Bibl. Amsterdam, MS. C 14). Auch der PastoT Merlat bat darum, anonym zu bleiben, als er Bayle seinen Traite du pouvoir absolu zuschickte, obgleich er darin eine Loyalitätserklärung zum Absolutismus abgab. Merlat an Bayle, 22. 3. 85. Bibl. Kopenhagen, Sammlung Thott, MS. 1208-4°. 142 So z. B. Merlat in seinem Sermon La gloire de la croix (1681), cf. Combe, !. c., p. 178. 143 Jacques Basnage (Considerations sur l'etat de ceux qui sont tombez .. ., p. 466) schrieb den Neubekehrten: "Si nous sommes coupables vous n'estes pas innocents, il importe peu pour vous que nous soions criminels, car nötre faute ne justifie pas !a vötre ..."

Die Situation in Frankreich

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skrupellosem Opportunismus. Schon die militärischen Einquartierungen warfen heikle Probleme auf; denn unter den dragons befanden sich auch protestantische Soldaten, die in einen Konflikt von Gehorsam und Gewissen gerieten: sie wurden in der Ausübung ihres Dienstes besonders scharf überwacht und erhielten, wenn sie sich bekehrten, Beförderung und Geldprämien144 . Dadurch, daß man- wenn auch unter ständig·en Nachteilen und Belästigungen- Protesta•nt bleiben durfte, ohne allerdings seinen Glauben öffentlich bekennen zu können, wurde eine ·allgemeine Unsicherheit geschaffen. Großartige Versp.rechungen, Zusagen des Königs und seiner Minister wurden plötzlich von Haftbefehlen abgelöst1 4S. Den dragons, welche die wirtschaftlichen Verhältn1sse der Gläubigen ruinierten, folgten die missionnaires und die dames de misericorde, welche materielle Vorteile versprachen146. Geringste Verstöße gegen das Edikt von 1685 wurden geahndet. Es gab ausgeklügelte Foltermethoden, um die Hartnäckigen zum Sprechen zu bringen147. Ein Spezialist für gewaltsame Bekehrungen war der Abenteurer Guichard, der als ehemaliger Hofkoch, Valet eines Jesuiten, Gefängnisbeamter und Musiker wegen Die'bstahls eingesperrt worden war und zunächst aus Frankreich fliehen mußte, um später unter dem Namen La Rapine als Freund des Bischofs von Valence ein Schreckensregiment auszuüben148• Besonders hart wurden Neube~ehrte bestraft, die sich weigerten, zur Messe zu gehen, oder gar geheime Verbindungen mit ehemaligen Glaubensgenossen unterhielten. Wer von ihnen sterbenskrank darniederlag und die Sakramente ablehnte, unterlag schwerster Strafe: starb er, so wurde sein Leichnam wie der eines Verbrechers oder Selbstmörders geschleift; wurde er wieder gesund, so kam er auf die Galeeren149• Dort aber herrschten menschenunwürdige Zustände. Die Protestanten wurden mit kriminellen Verbrechern und türkischen Sklaven zusammengepfercht, die man bei Piratenfahrten im Mittelmeer aufgebracht hatte und als Repressalie gegen die Behandlung gefangener französischer Matrosen in Algier und Tunis festhielt150. Gekettet, mit kahl.rnsierten Köpfen und freiem Oberkörper mußten sie i·h ren Dienst bei größter Hitze versehen. Eine Tasse Wein und zwei Glas Wasser waren die einzige Erfrischung am Tagelsl. Und neben den Antreibern, die auf ihre nackten Leiber einschlugen, stand ein Geistlicher, der auf die a' Lehr, l. c., pp. 225 ff. 145 Ch. Ancillon an Bayle, 8./18. 12. 1686. Gigas, p. 133. " 8 Brousson, Apologie du projet des Reformes ..., p. 189. 147 Baird, l. c., t. II. p. 210-211 gibt sachliche Details darüber. 148 Über La Rapine cf. Benoist, Histoire de l'Edit de Nantes, t. III. pp. 970 ff. und Claparede, Une Heroine protestante .. ., pp. 10 ff. m Rulhi'ere, Eclaircissemens historiques ..., t. I. p. 351. 150 Coquerel, Les Fort;ats pour la joi, p. 63. 1 5 1 Erman und Reclam, l. c., t. VII. p. 59--60. 9 Haase. Literatur des Refuge

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

Bekehrung wartete152• Den Verurteilten standen nur zwei Möglichkeiten offen: entweder den Tod zu erwarten oder Katholiken zu werden. Viele bekehrten sich, manche aber blieben standhaft und gaben so ein heroisches Beispiel für ihre unterdrückten oder emigrierten Glaubensgenossen153• Es kam sogar vor, daß kriminelle Katholiken, die mit protestantischen Bekennern verwechselt wurden, eine Konversion zur Römischen Kirche vortäuschten, weil sie dadurch die Freiheit zu gewinnen hofften154• Verschiedene Geldsammlungen im Refuge waren dazu bestimmt, das Los der protestantischen Galeerensklaven zu lindern. Die Pastoren schrieben Trostbriefe, die nur auf Umwegen .ihr Ziel erreichten155 . Schwieriger schon war es, den Gefangenen Kontroversenschriften in die Hände zu spielen. Einige von ihnen, besonders die geistig Regsamen, vermißten diese Lektüre schwer156, Die reformierte Kirche Frankreichs bot so unter der Verfolgung den Anblick der echten Gemeinde Christi, der Kirch.e unter dem Kreuz 157. Kein Dichter fand sich, um ihren Leiden bleibenden Ausdruck zu verleihen. Einer der Verfolgten schrieb eine Elegie in ungelenken Alexandrinern: "Souverain Roy des Rois, a qui tout doit homage, Dieu tout •juste, tout bon, tout puissant & tout sage, Dont la grandeur s'occupe a regir l'Univers, Laisseras tu toujours tes enfans dans les fers?" 158 152 Coquerel, l . c., p. 139 und die Augenzeugenberichte von Jean-Franc;:ois Bion, der als aumönier auf den Galeeren tätig war, cf. Malssen, l. c., pp. 131, 147. 103 So konnte Jurieu schreiben (an den Gefangenen L'Isle du Guast, 1. 9. 86): "Je ne m'epouuante point du petit nombre qui vous accompagne. Je ~ais que la multitude ne fait aucun bien au mensonge, et que le petit nombre ne sauroit faire de prejudice a la verite." British Museum, Eg. MSS. 1717 fol. 13. 154 Coquerel, l. c., p . 140. 155 Die Manuskripte tragen oft Vermerke wie par un voyageur, par amis oder einfach par une voye sure, cf. British Museum, Eg. MSS. 1717 fol. 1 :ff. Über die Gefahren, welche diese briefliche Verbindung den Unterdruckten eintrug, gibt eine Lettre de refugies franc;ois de Rotterdam a ceux de Lausanne, 23. 9. 88 Aufschluß: ".,.. nous sommes fort d'avis que l'on continue a leur ecrire, mais a vec les precautions que Ja conjoncture presente demande de nous, evitant avec soin de donner lieu a leurs persecuteurs de les accuser d'intelligence et de commerce avec les ennemis de l'Etat ..." Bibi. du prot. fr. Copies der Coll. Court, 615 fol. 11. 156 So schrieb der reformierte Adlige L'Isle du Guast aus der Gefangenschaft an Jurieu (22. 10. 86): "C'est Ia plus gra nde des persecutions que ie soufre presentement que celle d'estre priue de Ia lecture de vos ouurages, et de ceux des autres seruiteurs de Dieu ... " und an Claude (s. d. 1686?): " ... quoy que le succez n'ait pas repondu a ce que vous et tous ceux qui aiment la verite en deuoient attendre, il est pourtant certain que malgre la rigueur de nos ennemis vos ouurages fortifient et consolent quantite de pauures fidelles . . ." British Museum, Eg. MSS. 1717 fol. 7 und 19. 157 Benoist, Lettre a un Gentilhomme prisonnier pour la ReHgion, p . 20. 158

Elegie sur le triste & pitoyable estat des Eglises Rejormees du Poictou

Die Situation in Frankreich

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Aber diese Klage klang hölzern; sie wirkte gezwungen und blieb im Rhetorischen stecken. Die Trübsal der Verfolgung war mächtiger als die Ausdrucksfähigkeit der Betroffenen, größer auch als ihre AufnahmebereitschaU für lyrische Formen. Gerade durch ihre Poesielosigkeit unterschieden sie sich von der Partei der Verfolger. Die geistige Nahrung der verwaisten Gemeinden in Frankreich waren nur die Bibel, das Gebet und Kontroversenschriften, die sie oft gar nicht einmal verstanden. Und im übrigen waren Tatsachen, nicht Worte für sie maßgebend. Zuweilen stimmten sie ergreifende Klagen an - so in den Cevennen die Prieres des fideles dans leurs maisans et dans leurs assemblees pour leur pasteur prisonnier159, so auch in jenem handgeschriebenen Gebet, das in der alten Bibel einer protestantischen Familie gefunden wurde: "Seigneur, y eut-il jamais afflixion comparable ä la nötre! Nous n'avons plus de temple; nos assemblees sont dissipees; noo pasteurs interdits et bannis du milieu de nous! Notre soleil s'est couche, qu'il etait encore jour! Les tenebres nous ont surpris en plein midi ... "160 Diese Töne waren echt; sie enthüllten die Verzweiflung der Verlassenen und zeigten deutlich, daß die Not der Kirche auch die der einzelnen Gemeindemitglieder war. Durch das Fehlen der Seelsorger war ein Vakuum entstanden. Noch verlangte man nach ihnen als den berufenen Verkündern des Wortes Gottes. Man war sogar bereit, sich auf ihren Wink hin für den gemeinsamen Glauben zu opfern. Besonders die unteren Volksschichten, die simples d'esprit, wie die Kontroversisten sagten, zö,gerten nicht, das Bekenntnis ihrer Religion als oberstes Gesetz anzusehen161 • Sie warteten nur auf eine Verheißung. Sie lasen in der Bibel - von der Verfolgung des erd Madame la Marquise de*"'*, die Jurieu in seiner Suite de la Politique du Clerge abdrucken ließ. 15P Bibl. Nat. MS. n. a. fr. 4118 fol. 8 A: "Nous ... confessons, Seigneur, a notre honte et confusion, que nos pechez meritent tes plus rudes chatimens, mais Dieu de misericorde! Si tu prends garde aux iniquites, qui est ce qui subsistera? Si aprcs nous auoir ote ton chandellier visible, tu nous priues encore a la manne de vie, que tes seruiteurs nous distribuent dans le desert; que deuiendront tant de foibles et tendres innocens? Et tant d'ames simples et rustiques?" 180 Zitiert von Beaujour, Essai sur l'histoire de l'Eglise Ref.ee de Caen, p.338. 161 Bezeichnend dafür ist ein Brief von Joseph de Nancy an Baneilbon (4. 9.1703): "Comme j'etois sur I'eperon de Ia galere avec ces simples bonnes gens qui n'ont d'autres etudes que de savoir un peu lire, je leur lus ces choses dans leurs propres livres ... j'admirai leur facilite a bien comprendre . . . je ne m'etonne pas si ces simples gens de la campagne vont avec plus de fermete au martyre que quelques riches. J'ai toujours remarque cela sur toutes les galeres et il y a eu nombre considerable de ces gens Ia qui sont vraiment saints." Bibi. du prot. fr., Paris, MS. Coll. Court 613II (Copies) fol. 250. 9"

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Zweites Kapitel: Die Verfolgten

wählten Volkes Gottes, von den Grausamkeiten der heidnischen Tyrannen und schließlich von den Schrecken und dem Triumph der Apokalypse: sollten sie nicht in alledem Parallelen zu ihrer eigenen Situation erkennen? Poesielos, aber nicht illusionslos suchten sie nach einem Sinnbild ihrer Leiden Ull!d Hoffnungen und fanden es in den heiligen Texten vorgezeichnet. Deshalb gerade brauchten die Verfolgten ihrem Dasein auch nicht erst besonderen Ausdruck zu verleihen: es besaß ihn schon; sie brachten keine Dichtung hervor, weil ihr Leben und Leiden selbst schon biblische Poesie waren. Kein Aufenthalt bei Formen und Symbolen, sondern Gehorsam, Erfüllung: der Boden war bereitet, auf dem ein Illuminismus breiter Volksschichten, eine Psychose wuchern konnten. Wie weit diese Mentalität auch in der Emigration verbreitet war, zeigte Jurieus Accomplissement des prophcHies de l' Apocalypse de St. Jean: es war mit zwei Auflagen im Jahre 1686 der bestseller des Refuge. Sowohl die in Frankreich Gebliebenen wie die Emigrierten fühlten sich davon angesprochen. Denn die Voraussage des nahen Sieges, der Befreiung und Vergeltung, des en, defaillant peu a peu, s'en allant visiblement, mesme dans les Provinces ou elle avoit le plus insolemment exerce son empire." Maimbourg, Histoire du Calvinisme, p. 496. 57 Diese These der kath. Propaganda entwickelte die anonyme Schrift Conformite de la conduite de l'Eglise de France . .. avec celle de l'Eglise

Wort und Tat

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dementsprechend das contrains-Zes d'entrer aus Luk. XIV., v. 23. Den Protestanten aber, die sich darüber entsetzten, hielt Bossuet das intolerante Vorgehen Calvins gegen Servet vor Augen58• Warum machten die Pastoren so viel Aufhebens von der gerechten Züchtigung, die ihnen jetzt zu einem ebenso dankbaren Sujet wurde wie den Rednern des alten Griechenl,ands die Schlachten von Salamis und Marathon59? Hatte nicht die christliche Kirche der ersten Jahrhunderte alle Verfolgungen mit unendlicher Geduld ertragen60? Sagte nicht Jesus Christus U!ll.ter Tiberiu.s, man sollte dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und lü:!ß Paulus nicht die Gläubigen für Nero beten61 ? Lei:bniz und das protestantisch.e .A!u.sland wunderten sich über diese Logik62 • Das katholische Frankreich aber bezeichnete diejenigen, die sich nicht bekehren ließen, als halsstarrig. Typisch für diese Auffassung war ein Gedicht des Modepoeten Le Pays, das die Vorziige und Nachteile der reformierten Konfession karikierte: darin wurde ironisch bemerkt, daß die Calvinisten wegen ihrer Prädestination zwar vor den Folgen ihrer Sünden sicher waren, daß sie auch kein Purgatorium zu durchlaufen hatten, in dem man sich ohnehin nur langweilte, daß sie ihre Geheimnisse keinem Seichtvater preiszugeben brauchten und daß sie d' Afrique . . . (1685). Noch nach dem Tode !Judwigs XIV. suchte Catelan,

Bischof von Valence, die Intoleranz mit einem Zitat aus der Epist. ad Vincentium des Augustinus zu rechtfertigen (Discours sur les vertus du tres-haut, tres-puissant, et tres-excellent prince Louis XIVme . . ., p . 37): "Si terrerentur Haeretici, & non docerentur, improba quasi dominatio videretur: Rursus si docerentur, & non terreTentur, vetustate consuetudinis abdurati, ad capessendam salutis viam, pigrius moverentur: sed cum terrori utili doctrina salutaris adjungitur, tune de multorum salute laetamur." 58 Bossuet schrieb einem Refugie (3. 4. 86, OC, t. XXVI. p. 369): "Entendezvous que les princes, qui sont enfans de l'Eglise, ne se doivent jamais servir du glaive que Dieu leur a mis en main pour abat.tre ses ennemis? L'oseriez-vous dire contre le sentiment de vos docteurs memes, qui ont soutenu par tant d'ecrits que la republique de Geneve avait pu et dil condamner Servet au feu, pour avoir nie la divinite du Fils de Dieu?" Über die Bedeutung dieses Arguments in den Kontroversen der Epoche cf. Jacquot, L'affaire Servet dans les controverses sur la tolerance . .. in Becker, Autour de Michel Servet et de Sebastien Castellion, pp. 116 ff. 5" Sainte-Marthe, Reponse aux plaintes des protestans ..., p. 12. 80 Bossuet, Avertissemens aux Protestans V, OC, t. XV. pp. 380 f., schrieb: " ... il n'y a rien de plus oppose a l'esprit du christianisme, que la Refonne se vantoit de retablir, que cet esprit de revolte; ni rien de plus beau a l'ancienne Eglise que d'avoir ete tounnentee et persecute jusqu'aux dernieres extremites durant trois cents ans, et depuis a diverses reprises par des princes heretiques ou infideles, et d'avoir toujours conserve dans une Oppression si violente une inalterable douceur, une patience invincible et une inviolable fidelite envers les puissances ..." 81 Bossuet, Politique tiree de l'Ecriture, OC, t. XXIV. p. 15. 82 So schrieb Ernst von Hessen-Rheinfels an Nicole (Febr./März 1685?): ". . . Il faudroit avoir un front d'airain et un estomac d'austruche pour vouloir digerer certains procedes dont on use en France contre les Huguenots, comme font Filleau, SouHer, Bernard, et autres flatteurs de la Cour ..." (Leibniz, Textes inedits ... ed. Grua, t . I. p. 184).

272

Viertes Kapitel : Für und wider Toleranz

außerdem beim Abendmahl nicht nur eine magere Hostie, sondern auch einen Schluck Wein bekamen. Aber mußte ihnen nicht der bon sens eingeben, daß Calvin nicht klüger als alle Heiligen und Konzilien gewesen sein konnte? Daß die .gewaltsame Bekehrung, der sie nunmehr ausgesetzt waren, nur eine Opemtion darstellte, welche ihre Gesundheit rettete63? 83

"Il faut vous convertir, mais vous convertir tous, Allons viste a la messe, allons, troupeaux ... C'est ainsy que vous parle un Dragon en courroux, Gens du petit troupeau, je conviens avec vous Que vous avez raison d'avoir l'humeur chagrine. Pourquoy quitter vostre doctrine. Vostre religion n'a rien qui ne soit doux, Chez vous on a grasse cuisine Pendant qu'on l'a maigre chez nous. Vos helles a l'am~mr peuvent estre engagees Sans jamais decouvrir le secret de leurs feux; Et les nostres sont obligees D'avouer un Cupidon fascheux. Partez-vous d'icy bas pour aller a la Gloire On vous y rer,:oit promtement. Pour nous impitoyablement On nous reserue un purgatoire Ou l'on s'ennuye horriblement N'est-il vrai que le peche N'a pas a Charenton des suites si fascheuses? Le Salut parmy vous est a meilleur marche Et vous seriez Romains, si Rome avoit presdle Des maximes moins rigoureuses. A ces fortes raisons obstines Huguenots Sans doute vous allez repondre Que vous pouvez en quatre mots Ou me gagner ou me canfandre. Vaus me direz que nas prelats Naus preschent ce qu'ils ne font pas Qu'entre eux plus d'un vous scandalise, Que les bienfaits d'un puissant Roy Et le grand tresor de l'Eglise Fant tout le ztHe de leur foy. Je ne fus jamais en Sarbanne Je ne suis pas grand arateur, Mais vayez camme je raisonne Et le bon sens est mon docteur. Reglant vostre creance ainsi que nous la nostre Sur ce livre sacre que l'on croit tout divin, Pourquoy pour Interprete avair choisy Calvin? Quelle est sa mission pour estre vatre apostre Plustot que St. Ambraise ou que St. Augustin? Entend il mieux luy seul les endroits difficiles Que tous nas Sts et nos canciles? Quand un enfant mutin qu'on a longtemps flatte 'Est paur un bras rompu de dauleur agite, La main qui le guerit, fust elle de san pere, Lui paraist une main pleine de cruaute. Il la maudit cent fais dans le temps qu'elle apere, Mais sans consulter sa calere Par force an lui rend la sante.

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Die Reformierten antworteten mit einer Flut von Flugschriften und Traktaten. Die Druckerpressen in den Exilländern arbeiteten auf Hochtouren. Dissertationen nach scholastischer Manier, emphatische Reportagen und Moritaten, Briefe, Memoiren und - wohl als beliebteste Darstellungsform - Di·aloge, deren Sprecher bald in Paris, bald auf der Flucht, bald sogar auf hoher See diskutierten, überschwemmten den Büchermarkt64 • Viele Emigranten setzten Beschimpfun.gtm gegen Beschimpfungen, um die Herrschaft der Römischen Kirche in Frankreich als eine wahre demonocratie, als die Hölle auf Erden, zu brandmarken65. Die Szenen der Verfolgung lieferten Stoff für sentimentale Schilderungen, welche die Opfer als Märtyrer, die Verfolger als Teufel in Menscheng·estalt erscheinen ließen und den Haß schürten66 • Nur Ainsy des fiers Dragons la mission horrible Vous est aujourd'hui fort sensible, D'un remede si rude on vous voit tous aigris Mais bientost la douceur de vous sentir gueris De vos ressentiments occupera la place. Vous benirez le puissant Roy Dont la tendre bonte se lasse De vous voir parmy nous sans honneurs, sans employ, 11 veut que vous viviez tous heureux sous la loy. Dans le repos le chagrin passe, Vostre bonheur sera parfait Et vous prendrez pour une grace Tout le mal qu'on vous aura fait."

Soweit wir feststellen konnten, sind diese Verse bisher noch nicht veröffentlicht worden. Unter der Bezeichnung Stances irregulieres befinden sie sich in dem Recueil MS. 673, fol. 225 der Bibi. La Rochelle. 6 ' Typische Beispiele dieser DialogfQil'm gaben die in Kap. III zit. Dialogues sur les matieres du temps . . . von Tranehin du Breuil, ferner die Entretiens des voyageurs sur la mer von Gedeon Flournois. Eine Analyse dieses Werkes brachte Rosse•!, Histoire Htteraire de la Suisse romande • . ., t. I. pp. 446 ff. 8" La Peste du Genre humain . .., ed. Jurieu, p. 119. 68 Als Beispiel dafür folgende Schilderung Jurieus (Suite de la politique du Clerge· . .. pp. 60 f.): " ... un pauvre malade est aux prises avec la mort, il a besoin de toutes ses forces pour la combattre & de toute sa tranquillite de son esprit pour l'opposer aux terreul"s qui marchent devant ce dernier moment de la vie; il se console en rendant les derniers soupirs entre les bras de sa femme & de ses enfans; ils luy donnent leurs consolations, il leur fait part de ses benedictions; il voit couler leurs !armes. il les essuye: & dans ces mutuels offices de charite, ils s'attendrissent, leurs creurs s'affoiblissent & se fondent. Ils ne demandent les uns & les autres que la retraite & le repos, afin de pouvoir avec liberte donner cours a leur juste douleur. La-dessus on voit entrer un Magistrat suivi de tout le Clerge d'une Paraisse, ou d'un village, la maison se remplit d'un bruit confus; une papulace est assemblee a la porte, elle jette des cris prodigieux qui parviennent jusqu'aux oreilles du mourant. Il n'avoit plus de force que pour mourir il faut qu'il fasse ce qu'a peine pourroit-il faire s'il avoit toutes les forces de sa sa.nte: Il faut qu'il reponde, qu'il etudie ses paroles: il faut qu'il evite les pieges qu'on luy tend par des interrogations ambigues; il faut qu'il soutienne le choc des menaces & le poids de l'autorite. Il faut 18 Haase, Literatur des Refuge

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wenige Pastoren fanden eine so würdige Sprache wie Claude, der seiner Gemeinde in Charenton vor seiner Abreise tief bewegt sagte: . . . vötre lampe sera eteinte ...67 • Bei den meisten seiner Kollegen traten die Empfindungen der Trauer hinter die einer leidenschaftlichen Empörung zurück. Man sa-gte, daß die grausamen Worte Karls IX. la mort au la messe wieder aktuell geworden wären und daß nun, wie im 16. Jahrhundert, das Blut ·und die Asche der Märtyrer den Samen der KiTche bildeten68 • Man frohlockte darüber, daß die Verfolger nicht alle Spuren der Reformation austilgen und deswegen den Widerspruch der Verfolgten nur noch stärken konnten6 9. Man flehte Ludwig XIV. an70 und räsonnierte über die Hintergründe und Folgen der katholischen Intoleranz. Wollte der französische Klerus die blutigen Exzesse wiederholen, welche den Christen zur Zeit des Arius den Ruf eintrugen, grausamer als die wildesten Tiere zu sein71 ? War die vorgebliche Wahrheit der Katholiken so beschaffen, daß sie erst hinter Gefängnismauem akzeptiert werden konnte7 2 ? Hatte Gott die Bosheit der Menschen nötig, um seinen Ruhm zur Geltung zu bringen73? Ließ sich etwa eilll Gegenstück zu dem Exodus der Reformierten aus Frankreich in den protestantischen Ländern finden 74? Man rechnete Ludque pour consolation il entende un eure ignorant qui, pour toute demonstration de la faussete de nötre Religion, luy dit cent fois en un quart d'heure d'un ton de fureur, que s'il meurt dans cette Religion-la, il est damne comme un diable., ."

67 " ••• Enfin le jour est venu que vötre maison s'en va etre deserte, les Anges qui vous appretoyent la manne se retirent de ces lieux; on n'y verra plus tomher le froment des cieux: au lieu de benedictions ce sera des maledictions, les passants lui hocheront la tete; vötre lampe sera eteinte ...." Claude, La recompense du fidele ... , p. 90. 68 Gaultier de Saint-Blancard, l. c., t. II. p. 239. Jurieu, Le vray Systeme de l'Eglise .. ., Preface, schrieb: "Tu creveras ou tu iras a la messe". 69 Burnet in seiner Preface zu Lactantius (ed. Jacques Basnage), p. 43. Ancillon, L'Irrevocabilite de l'Edit de Nantes .. ., p. 203, schrieb: " ... pour un Martyr qu'on faisoit brßler, il en renaissoit cent de ses cendres ... " 70 Basnage de Beauval, Tolerance des Religions, p. 5, rief dem König noch 1684 ins Gedächtnis, daß er seine protestantischen Untertanen nicht ihren Feinden ausliefern könnte "sans se depouiller de cette qualite de Pere qui luy est plus chere & plus glorieuse que celle de Maistre & de Souverain". 71 Le Clerc, BU, t. XXIII. p. 369. 72 Oft war der Widerstand gegen katholische Bekehrungsversuche auf so z. B. im Falle der die gewaltsamen Methoden zurückzuführen Marguerite Pajon, einer Verwandten des bekannten Theologen, die als 17jähriges Mädchen in ein Kloster gebracht wurde: "Si vous avez raison (disoit-elle en eile meme) pourquoi prisons, pourquoi ces Grilles & ces verroux? La verite a-t-eile besoin de tout cela pour se faire valoir?" Durand, Lettre d Monsieur B** sur la Delivrance de Mlle ... Pajon, Bibi. Huguenot Society, Horsham, MS 17a, fol. 10 f. 73 Brousson, Estat des Reformez en France ..., t. I. p. 124. 74 Rotolp de La Deveze, Apologie des Refugies .. ., p. 86: "D'ou vient donc, Monsieur, qu'on n'a pas conte par cent mille les Refugies Catoliques qui sont sortis de Suede, de Danemarc, & des autres Etats Protestans

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wig XIV. vor, daß die Verfolgung nicht nur dem alten Satz Ecclesia non fundit sanguinem's, sondern vor allem seinen eigenen Interessen widersprach. Der Jurist Charles Ancillon legte dar, daß das Edikt von Nan.tes untrennbar mit dem Gefüge des Königreichs verbunden war: indem es der König widerrief, erschütterte er das Rechtsbewußtsein und die politi.sche Moral im Staate76 • Brousson suchte alle Einwände gegen die Wiedereinführung des Edikts zu entkräften und erinnerte dar~m. daß Ludwig XIV. noch zu Anfang seiner Regierungszeit die Verdienste der Reformierten um die Erhaltung der Krone bestätigt hatte77 • Verschiedentlich wurde betont, daß die Hugenotten von jeher die treuesten Diener des Königs waren78 • Sollten sie nun dafür bestraft werden, daß sie die Quelle ihrer Tugenden, ihren Glauben, bewahren wollten7 9? Die Existenz mehrerer Religionen im Staate stellte keinen Unruheherd dar; sie war vielmehr das Zeichen einer hochentwickelten geistigen Blütezeit. Nur Barbarenvölker besaßen uniforme ReligionenBO. Konnte es der Ehrgeiz des Königs sein, über eine stumpfe Masse zu regieren? Die Kampfschriften der Refugies spiegelten so in mannigfachen Abwandlung·en die Hoffnung wider, daß Ludwig XIV. schließlich noch zu einer besseren Einsicht gelangen und das Edikt von 1685 rückgängig machen könnte. Er selbst wurde auch gewöhnlich nicht als Urheber des Unglücks angesehen. Nach Ansicht der Emigranten fiel die volle Verantwortung dafür auf den katholischen Klerus. Gerade die doppelzüngige Sprache der französischen Prälaten, die schönen Worte von desque la Religion Reformee y a Domine. C'est parce qu'il entre beaucoup de Politique dans la Religion Romaine, & que des qu'on a perdu de veue les Interets mondains & qu'on est mieux dispose par la a reflechir sur son salut, on n'a plus tant de peine a passer dans les sentimens des Protestans ..." 75 Saurin, Reflexions sur les Droits de la Conscience ..., p. 532. 76 Ancillon, l. c., p. 100. 77 Brousson, Lettres et Opuscules ..., p. 272. 78 So schrieb z. B. Fetizon (Apologie pour les Reformez .. ., p. 245) 1683 über das Verhältnis der Reformierten zu Ludwig XIV.: " ... nous sommes les plus attachez a l'independance de sa Couronne ..." 79 Flournois, Les entretiens des voyageurs sur la mer, t. II. p. 169: "Qui auroit cru que dans le temps que les Huguenots prodiguoient leur sang pour le service du Roy Henri le Grand, & que les Catholiques bons Fran!;ois les appelloient les Sauveurs, les Conservateurs, & les Restaurateurs de la France? Qui auroit crfi, dis-je, qu'on les auroit reduits un jour au triste etat ou ils sont, sans avoir donne aucune prise a la malice de leurs adverses parties? ..." 80 Le Clerc, BU, t. XII. p. 476: " ... ceux qui supposent que tout un peuple peut demeurer du meme sentiment en matiere de Religion, supposent une chose qui n'est jamais arrivee que parmi des peuples barbares, comme les Moscovites, qui a proprement parler n'ont point de Sentiment; mais font seulement profession d'aller en certains lieux & faire je ne sai quelles ceremonies, sans savoir pourquoi. Tous les peuples, qui ont quelques lumieres, & qui raisonnent le moins du monde, se divisent facilement en diverses sectes, comme on le sait par l'Histoire ancienne & moderne ..." 18*

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civilite und charite erbitterten die RefugiesB1 . Auf die Grausamkeiten hingewiesen, antworteten die katholischen Missionare ei:n.!fach, der König wäre dazu vom Heiligen Geist inspiriert worden und die Protestanten, die den katholischen Bekehrungsbefehl ~gnorierten, wär·en als Rebellen zu bestrafen82• Der blanke Hohn, der die unzählig.en Schikanen begleitete, setzte so allen Leiden die Krone auf. Man fragte sich, ob dieses Meer der Lüge und Verleumdung, das die Unterdrückung verdecken sollte, nicht viel infamer war als die offene Kriegführung gegen die Hugenotten im 16. Jahrhundert. Damals wenigstens konnte man als Held für seine Sache sterben; den Seelenfoltern aber, die mit der Revokation üblich wurden, war nichts als GeduLd entgegenzusetzen: sie stellten höhere Anforderungen an die Gläubigen als die Verfolgung, die einst von den heidnischen Kaisern betrieben wurde83 . Wenn man behauptete, die Reformierten würden nicht wege!Il. ihrer Religion, sondern wegen ihres Ungehorsams ge.g enüber dem Souverän bestraft, so wurde damit das Martyrium der ersten Christen entwertet: denn auch sie waren dann nicht wegen ihres Glaubens, sondern wegen ihrer Weigerung gestorben, den Kaisern göttliche Ehren zu erweisenB4 • Die katholischen Rabulisten diskreditierten damit das Christentum vor den anderen Religionenss. Sie demonstrierten die Relativität der Begrüfe: wollte man ihnen Glauben schenken, so waren die reformierten Autoren die größten Verleumder der Welt; wollte man hingegen die protestantischen Berichte für wahr halten, so waren die Katholiken die größten Geschichtsfälscher, die es je gegeben hatte 8~. 81 Bayle, Ce que c'est que Za France toute catholique SOUS Ze regne de Louis le Grand, OD, t. li. p. 340 b: "Pour l'amour de Dieu, ... cessez enfin de vous moquer ainsi de Dieu & des hommes, & puis que vous vous servez d'une Langue humaine, aussi-bien que les autres Nations, ne donnez pas aux mots un sens different de celui que les autres Nations leur donnent ... dites-nous comment vous definissez les mots, & ce que c'est parmi vous que violence, hostilite, rupture de paix; car vous confondez tellement ces termes, qu'on n'entend plus rien dans votre jargon ..." S! Ibid., p. 343 b. sa Ibid., p. 345 b. 84 Bayle, NRL, aout 86, OD, t.l. p. 614 a. 8 ~ Bayle, Ce que c'est que Za France .. ., p. 350 a: " ... je plains ... le Christianisme que vous avez rendu puant, pour me servir de l'expression de l'Ecriture, aupres des autres Religions." 88 Bayle, NRL, nov. 85, OD, t. I. p. 413 a: "Tout homme sage doit aller bride en main sur ces matieres, & ne croire ni les Relations des Catholiques, ni celles des Reformez, qu'apres une mure consideration de toutes les circonstances. Ce qu'il y a de bien certain, par Ia seule viie generale des Pieces, c'est qu'il faut, ou que les Ecrivains Reformez soient les plus hardis calomniateurs qui ayent jamais ete au monde, ou que les Ecrivains Catholiques soient les plus grands fourbes, & les plus hardis flateurs dont on ait jamais eu d'exemple; car enfin une Armee qui saccage, ou qui menace du saccagement les maisons des Huguenots par tout un Roiaume, n'est pas un fait dont il soit possible de persuader la faussete ou de supprimer la verite. Il y a donc de part ou d'autre une malice non seulement tres-profonde, mais aussi tout-a-fait grossiere ..."

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Wer mochte aus dem Wust der Schmähungen, der Verdrehungen, der Lügen die Wahrheit ermitteln? Wenigstens stand in den Augen der Refugi{!s und der Beobachter in ganz Europa die eine Tatsache fest, daß der fra~ösische Katholizismus nicht nur bei der Diskussion um eine Wiedervereinigung der Konfessionen, sondem vor allem in der politischen Praxis mit der Revokation einen eklatanten Beweis von Totalitarismus und Intoleranz geliefert hatte. Das gute Recht der Refugies, sich als Opfer einer willkürlichen Verfolgung zu betrachten, a.n.g

.I"e.M. S~U!p.zau-e Jtl rrecessite pour eux de tomher sur le m eme jour. Ainsi voila de la manne qui non seulem ent vous tombe devant la porte chaque matin, comme du pain quotidien, mais aussi qui multiplie la mesure en certains jours d'une 3" 4

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Wilhelms, über das Mißgeschick Jakobs II., Diskussionen über naturrechtliche Vertragsideen, über positivrechtliche Sicherheiten gegen die Ambitionen eines Tyrannen, Vergleiche der Rechtsgrundlagen Englands mit d-en-en anderer europäischer Staaten waren an der Tagesordnung. Und die ungenierte Kritik, welche die französischen Emigranten dabei am absolutistisch,en Regierungssystem übten, stand in lebhaftem Kontrast zu den Lobeshymnen, die .i n Frankreich auf Ludwig XIV. angestimmt wurden. Man :zitierte die Heilige Schrift, die mit Deuteron. Kap. XVII, 18 f. bezeugte, daß die Könige zeitlebens die Gesetzestafeln vor Augen haben sollten308 . Man griff auf die Autoren der Antike zurück und rief die Anekdote aus den Moralia des Plutarch ins Gedächtnis, in der sich selbst eine harmlose Maus durch Biß befreite, als :sie gepeinigt wurde309. Wie in der Natur waren auch in der Geschichte unzählige Beweise dafür anzuführen, daß Gott den Widerstand gegen Unrecht und Tyrannei nicht nur zuließ, sondern sogar förderte, und d-aß zu ailen Zeiten die Freiheit der Untertanen die solideste Basis für die Macht der Souveräne darstellte3 H1• Die englische Revolution 5chien so alle diejenigen T·endenzen zu erwecken, die ~n Merlats Traktat abgewiesen waren. Wilhelm wurde als der groß-e von Gott gesandte Retter angesehen. Das englische Volk erkannte ihn aus freiem Entschluß als Herrscher an. Und er selbst verpflichtete sich fei-erlich,, die bestehenden konstitutionellen Beschränkungen seiner Macht zu ·respektieren311 : die R{dugies konnten damit orig·inär calvinische Denkelemente mit solchen naturrechtlicher Vertragsideologie und positivrechtlicher Vorstellungen vereint und realisiert sehen. Mußten sie nicht darin ein Musterbeispiel für die Anmeldung ihrer terrible maniere. Cette necessite de se rencontrer au meme jour obligeant les Gazetiers a se donner plus de peine pour emporter la preference, c'est a qui debitera plus de fausses Nouvelles, & plus de predictions de mauvais augure contre nous, & a qui les accompagnera de railleries plus passionnees & plus insultantes." :JOs Ancillon, La France interessee d retablir l'Edit de Nantes, p. 14. 309

Ibid., p. 85.

D'Artis, Journal de Hambourg, t. III. p.181: "L'histoire & l'experience de tous les siecles fournissent une infinite de preuves qui font voir clairement que l'honnete liberte des sujets est une source inepuisable de richesses pour les Souverains, & le plus solide fondement de leur puissance ... " Larrey, Z. c., pp. 4{)9 f., führte an, daß die Abneigung gegen den Despotismus nicht nur bei den Refugies zu finden, sondern in der menschlichen Natur zu suchen war: "A l'egard des Refugiez . . . ce sont de pauvres Colonies dispersees en divers pais & sous divers Souverains, qui ne font point de corps, & du sentiment desquels i1 importe peu, n'aiant point de part au Gouvernement. Au fond quel tort ont-ils d'avoir l'aversion pour le Despotisme, soit dans le spirituel, soit dans le temporel? C'est le sentiment de tous lcs hommes qui ne sont pas esclaves; c'est le droit des Gens, c'est celui de la Nature: on nait & on meurt avec lui." 311 cf. die Zusammenfassung dieser verschiedenen Aspekte bei Abbadie, l. c., pp. 215 f. 310

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Forderungen in Frankreich erblicken? Am deutlichsten wurde dieser Aspekt von dem eifrigen Pierre Jurieu betont. Zwar diskutierten auch Abbadie und Larrey in ihren Erwiderungen auf den Avis aux Refugiez, Benoist in der Einleitung zu seiner Geschichte des Edikts von Nantes31 2 , welche Fo1gerungen sich aus der englischen Revolution für die französischen Verhältnisse ziehen ließen. Bei Jurieu jedoch gelangten derartige Erörterungen über einen kommentierenden Charakter hinaus zu grundlegender Bedeutung; und wenn die Nachwelt überhaupt dieses mHitanten Pastors ,gedachte, so in erster Linie wegen seiner politischen Exposes, nicht aber wegen der unzähligen Widersprüche seiner theologischen Ansichten. In leidenschaftlicher Sprache wehrte er nicht nur die Angriffe ab, die von den Katholiken gegen die Person Wilhelms, gegen diesen neuen Absalom, diesen neuen Herodes, diesen neuen Cromwell erhoben wurden3 13 , sondern er versuchte, die esprits tendres im eigenen Lager zu beruhigen, die an dem gewaltsamen Vorgehen Wilhelms Anstoß nahmen: die Revolution wäre nicht geglückt, wenn sie nicht Gottes Absichten entsprochen hätte, behauptete Jurieu; und wenn sich Gott in den ersten christlichen Jahrhunderten keiner weltlichen Waffen bediente, um das Christentum zum Sieg,e zu führen, so war daraus nicht zu schließen, daß er für alle Zeiten auf die Anwendung von Gewalt verzichten wollte 314. Es war nur natürlich, daß Gewalt neue Gewaltanwendung herausforderte. Niemand hätte sich in England dem Unternehmen Wilhelms angeschlossen, wenn Jakob II. ein freies Parlament zugelassen hätteJI15. War in dieser wunderbaren Fügung nicht der Finger Gottes zu erkennen? Und gab der Erfolg Wilhelms nicht die beste Verheißung für die vertriebenen französischen Protestanten316? Das Auge des Ewigen ruhte auf denen, welche ihn fürchteten und seinen Willen aus der geschichtlichen Entwicklung ablesen konnten31 7 • Diese Verheißung bedeutete für Jurieu nichts weniger als eine Revision der Grundlagen der Monarchie. Wie Merlat und andere Refugies suchte auch er sich von den Lehren der protestantischen Monarchomaehen zu distanzteren318, gelangte aber zu Resultaten, welche in Im 2. Bande seiner Histoire de l'edit de Nantes. Diese Epitheta wurden dem englischen König vor allem von Arnauld in seiner Schrift Le veritable Portrait de Guillaume-Henri de Nassau ... (1689) gegeben. Jurieu antwortete mit einer Apologie pour leurs Serenissimes Majestes britanniques. 314 Jurieu, Examen d'un libelle ..., pp. 240 ff. 315 Jurieu, Apologie pour leurs Seren. Majestes britann., p. 131. au Jurieu schrieb in den Lettres pastorales, IIIe annee, IX, p. 72: "Cette grande & surprenante revolution en attirera sans doute d'autres qui ne seront pas moins considerables ..." 317 !bid., XII, p. 93. 318 So z. B. in seiner Histoire du Calvinisme .. ., t. IV. p. 274: " ... ces maximes de Buchanan & de Paraeus ne sont point nos maximes, . . . nous 311 !

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der politi.schen Literatur Frankreichs wie ein Kontinuum zwischen den Kühnheiten des 16. Jahrhunderts und denen des 18. anmuteten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die er besonders in den Lettres pastorales vortrug, war die natürliche Freiheit des Individuums. Von Natur her gab es keine anderen Abhängigkeiten als die zwischen Eltern und Kindern und die zwischen Ehegatten319• Alle übrigen Relationen waren wohl auf Gotte-s Providenz zurückzuführen, nicht aber auf seine Rechtsetzung: sie existierten nicht von Anbeginn der Welt an, sondern entstanden erst nach dem Sündenfall. Mithin waren z. B. die Güterteilung und die gesellschaftliche Über- und Unterordnung als relative Tatsachen zu werten, die nach Zeit und Ort variieren konnten. Eine Gesellschaft, deren Glieder in Gleichheit und Gütergemeinschaft lebten und sich gegenseitig in Hilfeleistungen überboten, war weni.gßtens denkbar. Daß sie nicht zu realisieren war, lag an der Verderbtheit der menschlichen Leidenschaften. Daß sie jedoch als Idealzustand zu konzipieren war, stellte nach Auffassung Jurieus die notwendige Prämisse aller staatstheoretischen Überlegungen dar. Die Entstehung des Staates vollzog sich also in Freiheit: die Indiv~duen traten zum Vertrage zusammen, indem sie sich für eine Regierungsform entschieden. Sie waren einer Gruppe von Erbberechti.gten vergleichbar, die zur Beratung über eine Erbschaft zusammenkamen, einen Vertrag abschlossen und danach ~einerlei Ansprüche geltend machen konnten, die sie sich nicht vorher ausdrücklich bestätigen ließen. So ·e rfolgte die Wahl des Souveräns in Freiheit; so war man ihm nach erfolgter Wahl Gehorsam lin den Grenzen schuldig, die bei der Wahl festgelegt wurden. So war also nicht der Ursprung des Souveräns auf göttliches Recht gegründet, sondern nur der Gehorsam, den man ihm schuldete; denn man war vor Gott nicht verpflichtet, ein bestimmtes Versprechen einzugehen, wohl aber, ein einma'l gegebenes Versprechen zu halten32o. Jurieus Theorie der Volkssouveränität war damit nichts weiter als der Herrschaftsvertrag der Naturrechtslehrer. Die Kontrahenten konnten sich : das geschriebene Recht behielt so lange Gültigkeit, wie es mit dem Gewohnheitsrecht übereinstimmte; aber .es wurde verworfen, wenn es die Umstände verlangten463 • Und sie .gab vor, vom Heiligen Geist inspiriert zu sein: versicherten aber nicht auch jene Sektierer dasselbe, die im 16. Jahrhundert nackend spazierengingen, weil sie der Ansicht waren, daß die Sünde des ersten Adam durch das Auftreten des zweiten bereinigt wo11den wäre und daß man sich also wieder im Zustand der Unschuld befände464? Beispiele für die Relativität der Anschauungen ließen sich dutzendweise auch aus der Heili.gen Schrift zitieren. Denn wollte man die Bibel als absolutes Gesetzbuch nehmen, so wirkte ihre Moral schockierend. Wie war dann die Handlungsweise Davids zu rechtfertigen, die doch eindeutig kriminelle Züge trug465? 461 Bayle, Commentaire philosophique ..., OD, t. II. p. 396 b: " ... l'evidence est une qualite relative; c'est pourquoi nous ne pouvons guere repondre, si ce n'est a l'egard des notions communes, que ce qui nous semble evident le doit pa~oitre aussi a un autre. Cette evidence que nous trouvons dans certains objets peut venir QlU du biais selon lequel nous les envisageons, QlU de la proposition qui se trouve entre nos organes & eux, QlU de l'education, & de l'habitude, ou de quelques autres causes; ainsi il n'y a point de consequence de nous a notre prochain, parce qu'un autre homme n'envisage pas les choses du meme biais que nous, n'a pas les organes qui servent a la com.prehension modifiez comme nous, n'a pas ete eleve comme nous, & ainsi du reste ..." 462 Bayle, Dict., art. Balde, t. I. p. 622 b. ' 63 Ibid., art. Reihing, t. IV. p. 859 a. Bayle zitierte im art. Balde, p. 623 a, die Worte des Nikolaus von Cusa: "... Scripturns esse ad tempus adaptatas & varie intellectas, ita ut uno tempere secundum currentem universalem ritum exponerentur mutatu ritu iterum sententia mutaretur . . ." 464 Ibid., art. Turlupins, t. V. p. 411 a. 485 Über die Diskussion, die der Artikel David des Dict. hervorrief, schrieb Basnage de Beauval an Bayle (1. 12. 96, Gigas, l. c., p. 151): "11 est vray que ce n'est pas votre faute. L'histoire sainte a rapparte les faits, et c'est am:

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Wie war die List Abrahams zu verstehen, der Sarah als seine Schwester ausgab, als sie die Begierde des Philisterkönigs Abi.melech erregte466? Wie war auch Sarah zu beurteilen, die Abraham mit der Dienerin Agar schlafen ließ und so die Nachkommenschaft des Patriarchen ermöglichte467? Hayles unerbittliche Fragen deckten den Zwiespalt zwischen Sein und Schein, zwisch.en Zweck und Mittel auf. Er besaß nicht mehr die metaphysische Scheu ei.nes Montai.gne46B. Seine Skepsis war nicht mehr methodischen und hypothetischen Chal'lakters, sondern stellte vor Tatsachen: sie war illusionslos. Wenn die zehn Gebote zu Recht bestanden, so war es ein Verbrechen, ihnen entgegenzuhandeln. Da sich aber iin der Bibel Beispiele fanden, die derartige Verstöße sanktionierten, so bedurfte der moralische Wert der Offenbarung entweder eines besond'er.en Kommentars oder er war anzufech.ten: in keinem Falle erschien er als unmittelbare absolute Gewißheit. Es konnte deshalb Menschen geben, die sich wie die Atheisten völlig von der biblischen Mo11al abkehrten, um allen Widersprüchen zu entgehen. Bayle ·r iskierte zwar nicht die Behauptung, daß die Moral eines Atheisten gleichwertig neben der eines Christen stand; aber er legte diesen Schluß nahe. Er nahm Zuflucht zum ~ergleich. Aberglauben und Götzend~·enst wurden gemeinhin als ebenso gefährlich für die Religion angesehen wie Atheismus469 . Noch die Kirchenväter sahen Götzendienst als das schwerste Verbrechen an470 . Ein Ungläubiger mußte leichter zur richtigen Religion zu gewinnen sein als ein Irrgläubiger; denn es war schwerer, einen Geizhals zur Freigebigkeit zu bringen als e'in Kind, das weder geizig noch freigebig· war.. In der Geschichte waren die großen Christenv·erfolger keine Atheisten, sondern Götzendiener. Stellte sich damit nicht die verbreitete Ansicht. Atheismus wäre die schlimmste Sünde, als ein Vorurteil heraus? Ferner waren die christlichen Soldaten, die ein Land ausplünderten und verwüsteten, keine Atheisten4 7 1 • Noch viel weniger konnten diejenigen, die auf den Kreuzzügen unglaubliche Verbrechen begingen, des Atheismus verdächügt werden. Ferner waren alle diejenigen keine Atheisten, die ihren leichten Lebenswandel mit einer betont christlichen Devot·ion zu vereinbaren wußten. Offenbar war die Ursache für die SittenverTheoiogiens a nous expliquer, comment la piete s'accorde avec tant de crimes." 466 Bayle, Dict., art. Abimelech, t L pp. 39a ff. 467 Ibid., art. Sara, t. V. pp. 54a ff. 468 cf. Friedlich, Montaigne, p. 169, wo die Denkstruktur Montaignes der Bayles und der französischen Aufklärer gegenübergestellt wird. 469 So schrieb z. B. Basnage de Beauval, HOS, t XIL p. 246: "L'Atheisme & la SUperstition sont deux extremitez egalement eloignees de la vraye Religion. Ce sont deux ecueils contre lesquels la raison de l'homme, incapable de tenir un juslle milieu, ne manque gueres de faire naufrage ..." 47o Bayle, Pensees diverses ..., OD, t. III. pp. 75 ff. m Ibid., pp. 86 ff.

Der moralische Aspekt

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derbnis nicht im Unglauben zu suchen. Atheist zu sein, war für Bayle nicht schlimmer, als eine falsche Religion zu besitzen. Und die richtige Religion zu besitzen, hieß noch nicht, besser als ein Atheist zu sein. So war ein Staat von Atheisten denkbar, in dem dieselben moralischen Handlungen hervorgebracht wurden, die in allen anderen menschlichen Gesellschaften zu beobachten waren. Vorauszusetzen blieb nur, daß die Verbrechen dort streng bestraft und manche Handlungen mit den Begriffen der Ehre und• der Schande verbunden wurden4 72 • An die Stelle ewiger Belohnung und Bestrafung durch Gott rückten dann zwar nur zeitliche Achtung und Verachtung hei den Mitmenschen; sie zeitigten aber sicher ebensolche Beispiele von Hilfsbereitschaft, Mitleid, Treue, Entsagung etc., wie sie gewöhnlich nur einer religiösen Moral zugeschrieben wurden. Die Werte des Ruhmes und des Anstandes z. B. konnten durchaus ohne Religion existieren. Denn der Atheismus hatte Märtyrer aufzuweisen; und er mußte seinen Parteigängern sogar eingeben, viel mehr um das Ansehen nach dem Tode besorgt zu sein als die Christen, denen es angesichts ihres Weiterlebens im Jenseits gleich.g ültig sein konnte, was man auf Erden von ihnen dachte. Moralität und Gottesbegriff waren demnach zu trennen. Atheismus konnte nicht bewi,rken, daß ein Mensch, der keine VorHebe für Alkohol zeigte, zum T.r inker wurde473 . Und Religion konnte nicht verhindern, daß die verbrecherische Anlage eines Menschen zum Durchbruch kam. Bestritt nun Bayle, indem er die Sittlichkeit von ihrer übernatürlichen Basis zu lösen bemüht war, überhaupt die Möglichkeit einer verbindlichen Moral? Wenn er die Moralität der Atheisten gegen die Unmoral der Christen ausspielte, so implizierte er eine sittliche Norm, die allen Menschen g-emeinsam war. Damit konnte jedoch nicht jene "natürliche Sittlichkeit" gemeint sein, welche Abbadie und Basnage als Vorstufe 472 Ibid., pp. 109 a f.: "Comme l'ignorance d'un premier Etre createur & conservateur du monde, n'empikheroit pas les membres de cette societe d'etre sensibles a la gloire & au mepris, a la recompense & a la peine, & a toutes les passions qui se voient dans les autres hommes, & n'etoufferoit pas toutes les lumieres de la Raison, on verroit parmi eux des gens qui auroient de la bonne foi dans le commerce, qui assisteroient les pauvres, qui s'oposeroient a l'injustice, qui seroient fideles a leurs amis, qui mepriseroient les injures, qui renonceroient aux voluptez du corps, qui ne feroient tort a personne, soit parce que le desir d'etre louez les pousseroit a toutes ces belles actions, qui ne sauroient manquer d'avoir l'aprobation publique, soit parce que le dessein de se menager des amis & des protecteurs, en cas de besoin, les y porteroit ..." 473 Diesen Fall präzisierte Bayle in einem Briefe an N. N. cf. Gerig u. Roosbroeck, Unpublished letters of Pierre Bayle, in Romanic Review, 1932, pp. 107 ff.: " . .. Ce que ie dis et que tout le monde ne m'accorde pas est que l'Atheisme ne pousse point les gens a un vice oppose au temperament, ne fait point qu'un homme qui par son temperament, ou par la coutume de son pays, ou la nature du climat (comme en Italie et en Espagne) n'est point porte a l'ivrognerie devienne ivrogne ..."

24 Haase. Literatur des Re fuge

Viertes Kapitel: Für und wider Toleranz

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der christlichen Mo~al ansahen; denn sie setzte die Gottesidee voraus und war damit nicht für Atheisten verbindlich. Damit aber konnte auch noch nicht der kategorische Imperativ gemeint sein474; denn abgesehen davon, daß di.e €rkenntnistheoretische Grundlegung dafür fehlte - trug die Dialektik Bayles einen so eindeutig destruktiven Charakter, daß sie sich ebensowenig wie zu einer materialen zu einer formalen Normierung e.r heben konnte. Was Bayle als ietzte Zuflucht blieb, war eine Bestimmung des "guten Willens", di€ jeder überindividuellen Normierung entbehrte: die reine Regung der conscience stellte das führende Prinzip und zugleich die inhaltliche Bestimmung aller Moral dar. Und Bayle genierte sich nicht, den gefährlichen Relativismus dieser Theorie zuzugeben. Getrieben von seinem Eifer, die Intoleranz jeder Schattierung zu brandmarken, zog er die moralischen Konsequenzen aus seiner Kritik der religiösen Erkenntnis. Es war möglich, daß ein Arzt mit bester Absicht ein Heilmittel verordnete, das seinen Patienten tötete475 • Es war möglich, daß ein Richter einen Unschuldigen verurteilte. Es war möglich, daß sich eine Frau einem fremden Manne hingab, der ihrem eigenen zum Verwechseln ähnlich sah. Es war möglich, daß ein Lakai seinem He-rrn lin gutem Glauben v.erg·ifteten Wein einschenkte. Und wede.r Arzt noch Richter, noch Frau, noch Lakai waren deswegen Verbrecher. Ihr Irrtum war zu entschuldigen, weil er, unvermeidbar, mit gutem Gewissen begangen wurde. Sollten nun aber diejenigen bestraft werden, die von ihrer conscience getrieben wu·r den, den Lehren eines Häresiarch€n zu folgen476? Paulus verdammte die Häresie nicht stärker als Mord, Ungerechtigkeit, Ehebruch und Vergiftung: konnten nun jene Vergehen unter Umständen straflos bleiben, so durfte es auch dieses sein. Wenn man schon in den Bezirken d'es Diesseits groben Täuschungen erlag, so waren in denen des Jenseits noch größere zu erwarten, da das menschliche Erkenntnisvermögen dafür völlig unzureichend erschien. 074 Bayles Lehre vom moralischen Bewußtsein wurde verschiedentlich als Vorstufe zu Kants kategorischem Imperativ angegeben. In neuerer Zeit vertrat diesen Standpunkt, sichtlich durch die AUSführungen Delvolves beeindruckt, Souleyman, The vision of wor~d peace in seventeenth and

eighteenth century France, p. 73. 475

Dieses und die folgenden Beispiele diskutierte Bayle in seinem

Sup~ement

du commentaire philosophique ..., p. 536 b.

p. 536 b: "Il est donc constant, que les plus grands crimes cessent de l'etre, des qu'ils sont involontaires1 & que l'ignorance de banne foi les rend involontaires, comme on l'explique tres-bien dans tous les cours de Philosophie. Donc l'Hlm~sie a le meme privilege, car on ne sauroit donner de raison pourquoi eile ne l'auroit pas, & par consequent ces Heresies qui sont des reuvres de la chair, & qui excluent du paradis, doivent etre conjointes, aussi bien que le meurtre, le vol, & l'adultere, avec la connoissance qu'on fait mal, & sans cela elles deviennent innocentes comme le meurtre, l'adultere &c .. " 476

Ibid.,

Der moralische Aspekt

371

Und wenn die conscience hier rechtfertigte, so mußte sie es auch dort tun. Wollte man andererseits die conscience als verbindliche Rich"schnur ablehnen, so wurd'en die Menschen entweder zu Automaten oder zu Hypokriten. Sie besaßen dann entweder gar keine Moral oder eine doppelte, welche die Diskrepanz von Mittel und Zweck erkennen ließ. D~e Rechte des Gewissens waren deshalb zu respektieren. Sie standen als formales Prinzip der Moral über allen mateTiellen Bestimmungen. Und nur die Verbindlichkeiten, welche die conscience einging, besaßen einen ab.soluten, alle übrigen hingegen einen konditionellen Charakter. So wurden z. B. die Verpflichtungen, die man gegenüber einer Ki.rche eingegangen war, in dem Augenblick hinfällig, in dem die conscience zu einer besseren Einsicht gelangte477• So sehr es gerechtfertigt erschien, daß man mit gutem Glauben einem nicht erkannten Irrtum folgte, so wenig war es zu verstehen, d~ß man sich einem erkannten Irrtum beugte. Bayles Stellung zum Toleranzproblem unterlag damit keinem Zweifel. Wenn schon die kircllliche Lntoleranz keine moralische Rechtfertigung fand, so besaß sie die zivile erst Techt nicht. Der weltlichen Obrigkeit lmnnte keine Autorität in religiösen Bezirken zukommen, denn sonst war der absurde Fall denk·bar, daß ein Souverän seine Untertanen nötigte, Gott zu hassen478. Es war Grenzüberschreitung, wenn die Kirche die Machtmittel des Staates und der Staat die Funktionen d!er Kirche beanspTuchten. Nicht nur das christliche Gebot der Nächstenliebe, sondern überhaupt die elementaren Pflichten der Humanität wurden damit verletzt. Die Exkommunikation, durch zivile Sanktionen verschärft, hob die natürlichen Bande der Verwandtschaft und Freundschaft auf. Sie bewaffnete die Kinder gegen ~hre Eltern479 und zwang die Unschuldigen wie die Schuldigen zur Lüge4BO. Wenn deshalb die katholischen Verfolger das contrains-les d'entrer des Evangeliums als Rechtfertigung der zivilen Intoleranz interpretierten, so richteten sie unermeßlichen Schaden für die christliche Religion an. Sie gaben zunächst zu, daß die Offenbarung Widersprüche enthielt4Bl. Sie stürzten ferner die Moral des Dekalogs um, da unter dem Vorwand der gottgefälligen Absicht jede Schandtat gerechtfertigt werden konnte. Sie provozierten ständige Bürgerkriege, da al'le konfessionellen Fraktionen das Wort des Lukas-Evangel·iums beanspruchen konnten. Und sie verschlossen zugleich den Christen den Zugang zu allen heidnischen Staaten. Die weltliche Obrigkeit hatte das Recht, c11

c1s 478

cso CBI

Dict., art. Gregoire I, t. III. p. 105 a. Commentaire phUosophique ..., OD, t. li. p. 384 b. Dict., art. Acosta, t. I. p. 98. Commentaire phUosophique ..., p. 400 b. lbid., pp, 373b ff.

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Viertes Kapitel: Für und wider Toleranz

Gesetze zur Erhaltung von Staat und' Gesellschaft zu erlassen; sie hatte die Pflicht, alle diejenigen zu bestrafen, welche mit ihren Lehren zu Diebstahl, Aufruhr und Mord aufforderten. Aber sie mußte alle Sekten anerkennen, die von ihren Anhängern Respekt der staatlichen Ordnung und pünktliche Steuerzahlung verlangten482 . Als Maßstab für die Duldung durfte nicht der religiöse Wert einer Konfession, sondern deren Wirkung auf die Ruhe im Staate dienen4B3. Deswegen waren z. B. die Katholiken in den protestantischen Staaten wie Löwen und Leoparden zu bewach·en; aber sie durften weder an der Ausübung ihres Kultes noch in ihrer privaten Bewegungsfreiheit behindert werden. Desrw·egen - so schlug Bayle vor - sollten alle diejenigen, die ihre Religion wechselten, zeitlebens von den Privilegien ausgeschlossen bleiben, von denen sie vor der Konversion wegen ihrer alten Konfession ausgeschlossen waren: erst dann konnte es sich zeigen, ob sie sich aus Überzeugung oder aus Opportunismus bekehrten484. Der soziale Nutzen gebot es, daß Treu und Glauben in der Gesellschaft höher bewertet wurden als Hypokrisie. Gab es Häresien im Staate, die der Souverän beseitigt sehen wollte, so sollte er nicht Soldaten und Henker, sondern Theologen und Professoren mobil machen. Irrtümer konnten ebenso wenig mit Stockschlägen bekämpft werden wie Bastionen mit Ansprachen und Syllogismen4B5. Ausgehend von der Auflösung des Normbewußtseins, die bereits bei mehreren Mora1isten des Refug.e erkennbar war, zog Bayle so die Konsequenzen. Er beseitbgte die Unklarheiten, di·e im protestantischen Lager bestanden. Indem er alle Moralität auf die Regung der conscience gründete, vertauschte er die Maßstäbe: nicht mehr d'i.e Norm des von Gott .gegebenen Gesetzes stand obenan, sondern die des gesetzgebenden Gewissens. Die conscience rückte aus einer heteronomen in eine autonome Position. Zur Auflösung der reformierten Dogmatik und zur Revision des calvinistischen Kirchen- und Staatsbegriffes kam damit ein weiteres Merkmal für die Wandlung der Anschauungen. Bayle führte vor Augen, d:aß alle Versuche, allgemeinverbindliche religiöse .st Ibid., p. 412 a: ". . . pendant qu'une Secte laisse en leur entier les loix qui font Ia surete des particuliers; pendant qu'elle preche Ia SOUmission aux Magistrats; qu'il faut paler les tailles & impöts a quoi ils soumettent leurs Sujets; qu'il ne faut öter a personne ce qui lui apartient, ni troubler personne dans la joüissance paisible de ses biens meubles ou immeubles, de sa reputation, de sa vie, &c. je ne pense pas qu'on ait aucun droit de Ia vexer ..." 4SS Ibid.: "Si l'on me demande donc precisement ce que je pense de certains Etats Protestans, qui ne soufrent qu'une Religion; je reponds que s'ils le font par la seule vue de la faussete, qu'ils croient etre dans les dogmes des autres Religions, ils ont tort; car qui a requis cela de leurs mains?" 484 486

Ibid., p . 412 b. Ibid., p . 412 a.

Der moralische Aspekt

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Bestimmungen in Theologie, Moral, Politik und sonstwo immer anzugeben, zwn Scheitern verurteilt waren: der von manchen seiner Glaubensgenossen erstrebte Mittelweg wurde als !illusorisch a\.ISgewiesen. Eine Lösung des Toleranzproblems war für Bayle so lange nicht denkbar, wie von den streitenden Partei-en absolute Zielsetzungen proklamiert wurden. Er verspottete deshalb die Inkonsequenzen seiner Gegner .i m Refuge, jener demi-tolerans4 86 , die gemäß dem konditionellen Charakter des Begriffes Toleranz im einen Falle Duldung forderten, im anderen aber verweigerten, und die gewöhnlich erst dann g·egen Intolemnz eiferten, wenn sie selbst davon betroffen wurden. Die Hinrichtung Servets war ein ebenso dunkler Fleck in der Geschichte der Reformierten wie die Inquisition in der Tradition der Kathohken4 B7. Dernrtige Exzesse konnten nur vermieden werden, wenn die Aufgaben von Staat und Kirche streng getrennt wurden. Es war ein Verbrechen, wenn die Orthodoxen das Gewissen aller Andersdenkenden zu v·ergewaltigen suchten. Und es war eine Halbheit, w enn die Heterodoxen nur diejenigen in Staat und Ki.rclle geduldet sehen wollten, die sich in den Grenzen der points fondamentaux bewegten. Bayles Folgerungen vindizierten also einen Staat, in dem die Religion Privatsache war und die Obrigkeit keinerlei religiöse Bestimmungen besaß. Seine Forderung hieß demnach nicht mehr Toleranz, sondern Gewissensfreiheit. Und er, nicht aber die Jurieu, Basnage, La Placette etc., war so der eigentliche Gegenspieler Bossuets. Die Toleranzkontroverse gab Bayle Gelegenheit, seine Antithetik von der dogmatischen Diskussion auf die verschiedensten Lebensgebiete auszuweiten und nicht nur die Relativität des Denkens, sondern auch die des Handeins aufzuzeigen. Seine disjunktive Denkweise zerstörte dabei Zug um Zug die Positionen der Synthetiker: sie machte die Illusionen der rationalistischen Theologen zunichte, sie löste die Moral von ihrer übernatürlichen Bindung und unterminierte die religiöse Basis des Staates488. Seine Schicksalsgenossen im Refuge dienten ihm bei diesem Werke sozusagen als Handlanger: ihre widerspruchsvollen Theorien lieferten ihm Materialien und Zündstoff für sein destruktives Denken. Nur Ibid., pp. 421 b f. Ibid., p. 415 a: "Le suplice de Servet & d'un tres-petit nombre d'autres gens semblables, errans dans les doctrines les plus essencielles, est regarde a present comrne une tache hideuse des premiers tems de notre Reformation, fächeux & deplorables restes du Papisme; & je ne doute point que si le Magistrat de Geneve avoit aujourd'hui un tel proces en main, il ne s'abstint bien soigneusement d'une telle violence." 486 Ein maßgeblicher Prälat schrieb 1898: "L'influence de Bayle a ete desastreuse sous certains rapports. Bayle est devenu l'auteur involontaire de grands desordres, contre lesquels il eilt peut-etre proteste s'il eilt vecu .. ." (Rougerie, Bayle le sceptique et la tolerance d Pamiers en 1898, p. 14). "'6

487

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Viertes Kapitel: Für und wider Toleranz

wenigen unter ihnen wurde klar, welche folgenschwere Wendung ihren Argumenten durch die Dialektik Bayles gegeben wurde. Ahnten sie, daß er mit seinem Verfahren, die Theologie auf ·die Moral und die Moral auf die conscience zu reduzieren489 , an der Schwelle eines neuen Zeitalters stand, das die Subtilitäten der Kontroversisten hinwegfegen und die Umwertung aller Werte bringen sollte? Jurieu wenigstens sagte: .. . j'avoue que j'en fremis ...490 •

.- Elie Saurin z. B. hatte (l. c., p. 318) diese Etappen der Argwnentation Bayles klar erkannt. 490 Jurieu, Des Droits des deux Souverains ..., p. 82.

Fünftes Kapitel

In der Gelehrtenrepublik Die theologischen und politischen Kontroversen der Refugü~s zeigten, daß dü! Revokation zum Markstein sowO'hl der äußeren Geschichte alß auch der inneren Entwicklung des französischen Protestantismus wurde. Gewann sie indessen eine ähnliche entscheidende Bedeutung für die allgemeine französische Geistesgeschichte? So eindrucksvoll auch die Ergebnisse der Diskussion im Refuge sein mochten, so wenig konnten sie doch die geistige Entwicklung in Frankreich beeinflussen, solange die Emigranten nur das Forum ihrer Exilländer vor sich sahen. Zwar gab es äußere Verbindungen. Bayle stand in ausgedehntem Briefwechsel mit führenden Persönlichkeiten der Pariser Gesellschaft, und die Herausgeber der entstehenden Zeitschriften registrierten die Neuerscheinungen des internationalen Büchermarktes. Aber genügten derartige Kanäle, um den Einfluß der Emigrantenliteratur auf das Denken 1n Frankreich sicherzustellen? Berührungspunkte zwischen den geistigen Repräsentanten des grand siecZe und denen des französischen Protestantismus gab es auch vor der Revokation. Die beaux esprits feierten die Bekehrung eines Pellisson als Beispiel des guten Geschmacks und bedauerten die obstinate Haltung eines Claude: in beiden Fällen wurde die geistige Isolierung der Reformierten nicht überbrückt, sondern nur noch schärfer als bisher herausgestellt. Sollte nun etwa die Revokation mit ihrer Überspitzung der konfe.ssionellen Gegensätze eine Ära gegenseitiger Aufgeschlossenheit einleiten? Schon die Thematik der Autoren des Refuge schien dem zu widersprechen. Denn die zahllosen Kontroversenschrüten stellten auf den ersten Blick hin nur eine Fortführung der bekannten Argumentation dar, an der die Theologen seit einem Jahrhundert gearbßitet hatten. Den honnetes gens mußten die Probleme dieser Traktate zu speziell, ihre Ausführungen zu pedantisch, ihr Tenor zu parteiisch gefärbt erscheinen, um über die durch die Revokation hervorgerufene Aktualität hinaus besonderer Aufmerksamkeit wert zu sein. Wenn daher irgendwelche Einflüsse der literarischen Produktion der Refugies auf die französische Ideengeschichte möglich waren, so dürften die Bedingungen dafür weder in den losen äußeren Beziehungen der Emigranten zu ihrer Heimat noch in Form und Inhalt ihrer Schriften zu suchen sein: ihre

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Fünftes Kapitel: In der Gelehrtenrepublik

Verbindungen mit Paris wurden durch die vom König ausgesprochene Diskriminierung ihrer Konfession aufgewogen; und ihre literarischen Denkmäler mußten dem verfeinerten Geschmack des französischen Lesers als befremdlich, wenn nicht als barbarisch erscheinen. Die Basis, auf der die Erkenntnisse der Kontroversen des Refuge Eingang in das französische Bewußtsein finden konnten, war vielmehr in Frankreich selbst zu suchen. Sie schien in dem Maße gegeben ru sein, in dem sich die :Synthese des grand siecle auflöste. Solange wenigstens dessen politische, religiöse und philosophische Superlative Geltung behielten, besaß der französische Protestantismus keine Chance, in der nationalen geistigen EntwJcklung die Rolle des Stiefkindes abzuschütteln. Erst eine Wandlung der Denkstrukturen in Frankreich, eine Neuorientiel'IUilg des allgemeinen Bewußtseins, konnten ihm zu einem Wirkungsradius verhelfen: die Symptome dafür blieben niclit aus. I

C'est le propre d'un Esprit borne de se donner tout entier a une seule chose, schrieb der junge Papin1. Und er gab damit dem Lebensstil seiner Generation Ausdruck. Wohl bildeten die Diskussionen um d~o; Wort Gottes, um die richtige Kirchen- und Staatsform, um die Ml1l'alprinzipien die vornehmliehen Gegenstände für die literarische Produktion im Refuge. Sie waren von wesentlicher Bedeutung, weil sie unmittelbar die geistige und politische Existenz der Emigranten betrafen. Aber sie stellten keineswegs das einzige Feld ihrer geistigen Aktivität dar. Und sie waren überdies im Grunde nur ein Teil, nur die Provinz eines universalen Reiches, das sich über die Gebildeten aller Völker und Konfessionen erstreckte: der republique des lettres. Nichts weniger als die Totalität aller geistigen Äußerungen der Epche wurde unter diesem Begriff zu.sammengefaßt: die Diskussionen der Philosophen wie die partikulären Experimente der Gelehrten, die ästhetischen Aufgaben der Dichter wie die vulgarisierenden Tendenzen der Kritiker und die oratorischen Effekte der Prediger. Die republique des lettres bildete ein Terrain, auf dem sich alle Geister - welcher Schule sie auch immer entstammten - in friedlichem Wettstreit begegnen konnten. Ihre Stützpunkte waren nicht an politische und religiöse Zentren gebunden, ihre Agenten waren überall zu finden- in hohen Staatsstellungen wie in der Verbannung, in der Abgeschiedenheit der Klöster wie in den offiziellen Gremien der Royal Society und der Akademien, in den Salons, im Halbdunkel privater Gelehrtenzirkel, in den Kontoren der Buchhändler. Das verbindende Element in diesem viel:fältigen Wirkungsbereich war die Wißbegierde. Kein Phänomen wurde 1

Papin, La Vanite des Seiences .. ., p. 46.

Die Agenten der republique des lettres

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als zu gering angesehen, kein Ereignis verpaßt, um nicht Anlaß zu tausend Fragen zu geben. Man strebte nach universalem Wissen. Das systematische Interesse der vorangegangenen Generation wich einem enzyklopädischen. Und die jeder Systematisierung zugrundeliegende Unterscheidung wichtiger und unwichtiger Denkelemente schwand dahin: es gab keine Daten und Fakten mehr, die nicht die Mühe lohnten, sorgfältig registriert und analysiert zu werden. Die Maßstäbe änderten sich. Besonders auffällig wurde diese Wandlung in Frankreich. Der grand siede hatte in verschiedener Hinsicht höchste L eistungen gezeitigt, die nicht mehr zu .überbieten waren: den Staat Ludwigs XIV. als ideale politische Machtkonzentration, die Literatur der Klassik als vollendeten künstlerischen Ausdruck, die Revokation als Krönung der Bewegung des renouveau catholique, den Cartesianismus als Symbol der emanzipierten ratio. Sollten die Geister gegenüber diesen eindrucksvollen Ergebnissen, die keiner Steigerung mehr fähig zu sein schienen, resignieren? Sie taten es nicht. Sie suchten eigene Wege. Und sie entdeckten, daß. der politische, religiöse und philosophische Totalitarismus historisch bedingt und damit vergänglich war. Sie erkannten, daß seine absoluten Zielsetzungen nur möglich geworden waren, weil den Realitäten Gewalt angetan wurde. An der Jahrhundertwende setzte deshalb das Bestreben ein, die Dinge in das rechte Licht zu setzen, das scheinbar Unbedingte auf seine Bedingungen zurückzuführen und die hochfahrenden Maßstäbe des grand siede auf ein menschliches Niveau zurückzuschrauben. Auf den verschiedensten Gebieten schritt man zur Revision; und es schien zuweilen, als würde es nur eine Revanche der Zu~urzgekommenen sein: aller derjenigen, die durch die überragenden Leistungen der Repräsentanten des grand siede verdeckt und in den Hintergrund geschoben wurden. Unter der Flagge der republique des lettres gewannen sie an Selbstbewußtsein. Mit Hilfe von gelehrten Gesellschaften, von Zeitschriften, Wörterbüchern und Korrespondenzen organisierten sie sich: mit überschwenglichen Lobsprüchen täuschten sie sich und andere darüber hinweg, daß sie einer eigentlich schöpferischen Begabung entbehrten und einem Bildungsideal folgten, das in Vielwisserei, nicht aber in Gedankentief e zu suchen war. Es war im Grunde eine Reaktion der Mittelmäßigen, die keine bleibenden Werte zutage förderte, aber deswegen nicht weniger interessant für den Fortgang der Ideengeschichte wurde. Ohne abergläubischen Respekt vor den Höchstleistungen der abgelaufenen Epoche, aber auch ohne oppositionelle Schärfe, kamen T·endenzen auf, deren Trogweite erstden folgenden Generationen zumBewußtsein kommen sollte. Die Historiker suchten die Grundlagen der Königsherrschaft als ein Zusammenspiel mannigfacher Faktoren zu erklären. Die

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Fünftes Kapitel: In der Gelehrtenrepublik

Dichter ahnten die Bedeutung des individuellen Erlebnisses und begannen, sich von den unpersönlichen Schemen der Klassik zu lösen. Die Theologen beider Konfessionen sahen sich genötigt, der in den Variationen hervorbrechenden Reaktion des religiösen Gefühls gegen die Kirchenanstalten Rechnung zu tragen. Die Philosophen begannen, mit Hilfe der rationalistischen Kriterien die Schwächen der rationalistischen Systeme aufzudecken. Es kriselte, ohne daß man sich destruktive Absichten eingestand. Und nur zu oft waren die Ansatzpunkte für neue Ideen lediglich in menschlicher Schwäche und Eitelkeit zu suchen: in dem Ehrgeiz, durch originelle Gedanken vor anderen zu glänzen und einen Ausweg aus dem Dickicht des Eklektizismus zu finden. Nous ne desirons d'etre S!;avans que pour les autres, & non pour nous, beobachtete Nicole 2 • Nichts lag somit den Koryphäen der republique des lettres ferner als revolutionärer Schwung, der vom Worte zur Tat gedrängt hätte. Sie wollten nichts weiter als sich behaupten, als sich so geachtet sehen, wie sie ihresgleichen achteten. Sie wollten kein Schattendasein führen und weder von politischer noch kirchlicher noch geistiger Macht erdrückt werden. Deswegen beanspruchten sie und fanden sie auch Aufmerksamkeit für ihre gelehrten P.assioruen, für ihre Kuriositäten. Sie bestärkten sich gegenseitig in ihrer Wißbegierde, in ihren originellen Forschungen, in ihren manierierten Formulierungen und Bonmots. Die nationalen, konfessionellen und sozialen Schranken traten hinter dieser intellektuellen Betriebsamkeit zurück. Leibniz wurde in Paris als bel esprit angesehen, obgleich er Deutscher war. Viele Refugies standen in regem Briefwechsel mit den gelehrten Abbes der Hauptstadt. Der Konditorssohn La Monnoye setzte sich an die Spitze der raffinierten Hofpoeten. Jeder ließ jeden gelten, sofern der Bereich der natürlichen Wißbegierde angesprochen und nicht durch doktrinäre Einseitigkeit vergewaltigt wurde. Auch die religiösen und politischen Kontroversen des Refuge konnten deshalb - wenn man von ihrer parteiischen Akzentuierung absehen wollte - in das Blickfeld dieser internationalen und überkonfessionellen Gelehrtenwelt rücken. Sie vermittelten zunächst den Fachleuten neue Gesichtspunkte. Den Historikern eröffnete die These von der perpetuite des katholischen Glauberu; ein weites Arbeitsfeld, den Philologen die Bibelexegese, den Philosophen das Problem der Willensfreiheit etc. Und darüber hinaus zogen die KontrOIVersen auch den Blick derjenigen auf sich, die sonst für die Wortgefechte der Theologen nur ein Achselzucken übrig hatten. Denn mit der Erörterung des Toleranzproblems standen nichts weniger als die staatsbürgerlichen Freiheiten zur Debatte. Die Frage, wie weit sich überhaupt individuelle Ansichten, die im Kontrast zu kollektiven Verbindlichkeiten 2

Nicole, Essais de Morale, t. II. p. 89.

Die Agenten der republique des lettres

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standen, behaupten ließen, ging über die rein religiösen Bezirke hinaus und berührte die Grundlagen geistiger Arbeit schlechthin. Freilich waren damit bereits die Grenzen abgesteckt, welche der Bedeutung der Kontroversen zukamen: so interessant die partikulären Aspekte der Diskussion für die republique des lettres sein mochten, so abstoßend mußten die parteüschen Ausrufungszeichen, die Anklagen, die Verunglimpfungen und der Anspruch wirken, die absolute Wahrheit zu vertreten. Die Belebung der Erudition durch die Kontroversen war in Frankreich schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu beobachten. Die Argumentation der Reformierten nötigte dem katholischen Klerus eingehende Geschichts- und Sprachstudien ab. Um die Häretiker des Irrtums zu überfuhren, genügte es nicht mehr, einfach auf das Tridentinum zu verwei.sen. Sie waren vielmehr mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Führten sie den Kontrast zwischen der Urkirche und der Kirche des 15. Jahrhunderts an, so war ihnen die Identität des katholischen Glaubens in dieser wie in jener an konkreten Beispielen vor Augen zu führen. Beriefen sie sich darauf, daß allein die Reformatoren den wahren Sinn des Christentums aus dem Evangelium ableiteten, so waren deren Irrtümer nachzuweisen: das aber konnte weder mit dem einfachen Hinweis auf die Tradition noch mit den logischen Kunstgriffen der Scholastiker geschehen, sondern erforderte eine detaillierte historische und phiLologische Darlegung. Im Zuge der Bewegung des renouveau catholique gingen so die einzelnen Orden an die Arbeit und entwickelten eine Gelehrsamkeit, ·die bald über den ursprünglichen Zweck - die Abwehr protestantischer Angriffe hinausging und mit der Begründung einer theologie positive gegenüber der theologie scolastique den Blick für die verschiedensten Gebiete offenhieW1• Die gelehrten Kleriker traten in Konkurrenz zu den profanen Vielwissern. Sie erfüllten die traditionelle klösterliche Erudition mit neuem Leben und vertieften sich in die entlegensten Disziplinen. Sie lebten nicht mehr zurückgezogen, sondern traten an die Öffentlichkeit. Mancher von ihnen wußte dabei sein gediegenes Wissen in Numismatik und Paläographie mit weltlicher Gewandtheit zu verbinden und sich dem Ton anzupassen, der in Salons und gelehrten Gesellschaften, unbeschwert von engherzigen parteiischen Zielsetzungen, gepflegt wurde. Die Oratorianer besaßen schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Bourgoing, Amelote, Lecointe und Jean Morin eine Reihe von Patres, die sich nich.t nur auf dem Terrain der Kontroversen, sondern auch auf dem der psych.ologischen Analyse und gelegentlich 3 cf. Rebelliau, Bossuet, historien du Protestantisme ..., pp. 96 ff., u. Martimort, Le gallicanisme de Bossuet, pp. 157 ff.

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Fünftes Kapitel: In der Gelehrtenrepublik

sogar auf dem diplomatischen Parkett mit Geschick zu bewegen wußten4 • Das gesellschaftliche und wissenschaftliche Ansehen gerade dieses Ordens wuchs ständig. Der Akademiker und scharfsinnige Gesell.schaftskritiker Jacques Esprit, eine Zeitlang der Schützling des Kanzlers S€guier und eine der charakteristischen Gestalten im Salon der Mme de Sable, war aus dem Oratoire hervorgegangen. Der Pere Thomassin, einer der sympathischsten Vertreter des Ordens, zeichnete sich neben maßgeblichen Arbeiten zur Dogmengeschichte durch seine Bemühungen aus, die lettres humaines mit den lettres divines in Einklang zu bringen. Malebranche, den Jakob II. und andere fürstliche Persönlichkeiten aufisuchten.5, war Oratorianer, ebenso Richard Simon, Massillon, Renaudot6 . Mit dem Pere Le Brun stellte der Orden einen furchtlosen Kämpfer gegen den Aberglauben, mit dem Abb€ Bignon einen vielseitigen Kritiker, der als Bibliothekar, Akademiker und Mitarbeiter am Journal des S~avans zu einer Hauptfigur in der republique des lettres wurde. Nicht weniger berühmt war die Erudition der Benediktiner: sie wurde sprichwörtlich. Mabillon wurde dank seiner grundlegenden kritischen Ausgaben von Forschern des In- und Auslandes konsultiert und knüpfte auf Reisen durch Flandern, Deutschland und Italien Verbindungen zu den führenden Gelehrten der Zeit an7 • Denis de Sainte-Marthe zeichnete sich nicht nur durch Kontroversenschriften gegen die Protestanten, sondern auch durch historische Studien aus, vor allem durch die Neuordnung und Fortführung des von seiner Familie in Angriff genommenen Monumentalwerkes der Gallia christiana. Bernard de Montfaucon arbeitete an einer Neuausgabe der griechischen Väter und widmete sich wie Sirnon ausge4 Für die Biographien dieser Patres und der weiter unten erwähnten Gelehrten des katholischen und protestantischen Lagers cf. den Dictionnaire von Moreri und den von Chaufepie, ferner das unter dem Namen Zedler figurierende Große Universal-Lexikon, ferner die biographischen Sammelwerke von Baillet (Jugemens des savans sur les principaux ouvrages des auteurs ... ), Fantenelle (die einzelnen Eloges in CEuvres ..., t. V-VI), Ancillon (Memoires concernant les Vies et les Ouvrages de plusieurs modernes celebres .. .), Niceron (Memoires pour servir d l'Histoire des Hommes Illustres ...) und Clement (Bibliotheque curieuse historique et critique); für die protestantischen AutoTen im besonderen die beiden Ausgaben von Haag, La France protestante. Um die Darstellung nicht fortwährend durch Anmerkungen zu unterbrechen, beschränken wir uns im folgenden darauf, lediglich die angeführten Zitate zu belegen und die wichtigsten bibliographischen Hinweise für die Autoren des Refu:ge zu geben. 5 cf. Batterel, Memoires domestiques pour servir d l'Histoire de l'Oratoire ..., p. 362. 6 Allerdings mußten Massillon und Renaudot ebenso wie Esprit aus dem Oratoire ausscheiden, als sie in die Academie francaise aufgenommen wurden, cf. Lallemand, Histoire de l'Education dans l' Ancien Oratoire de France,

p. 396.

7 Über die Verbindungen der Benediktiner zu den führenden Gelehrten des damaligen Europa gibt der 2. Band der von Gigas veröffentlichten Lettres inedites ... Au'fs.c hluß.

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dehnten orientalistischen Forschungen. Auch die Societas Jesu entwickelte neben ihrer Polemik gegen Jansenisten und Cartesianer eine ansehnliche kritische Gelehrsamkeit. Petau schuf fundamentale Werke der katholischen Dogmengeschichte. Labbe und Cos.sart gaben neben geographischen und ethnologischen Arbeiten eine Sammlung der Konzilien heraus. Menestrier trat mit eindrucksvollen kulturhistorischen Arbeiten hervor. Am besten aber - und hierin alle anderen Orden übertreffend - gelang den Jesuiten die Anpassung an die Lebensformen des grand siecle. Der Pere Rapin, zugleich ein eleganter lateinischer Stilist, warf sich zum Schiedsrichter in den belles lettres auf. Maimbourg zog sich wegen -seiner Parteinahme für Ludwig XIV. die Feindschaft Roms zu. Bourdaloue wurde zum Porträtisten der Pariser Hofgesellschaft. Der Pere Daniel wußte alle Register der zeitgenössischen Satire zu ziehen, und der Pere Bouhours schließlich war der beZ esprit P'ar excellence, der aHen Sätteln gerecht zu we·r den S'llchte, bald über die Gnadenlehre, bald über die Etymologie eines Wortes, bald über die maniE~ re de bien penser dissertierte und als Autorität in Fragen der Sprache und des Geschmacks galt. Verschiedentlich allerdings kamen die Früchte dieser vielfältigen Erudition des französischen Klerus nicht den Interessen der Römischen Kirche zugute. Die Eröffnung der historischen Kritik stärkte zwar die katholische Position gegenüber den Protestanten, aber sie ging zugleich auf Kosten gewisser traditionalistischer Vorurteile und arbeitete so einer generellen Revision der Anschauungen vor. Bossuet mußte erkennen, daß dieselbe Methodik, die er für die Ausarbeitung seiner Histoire des variations benutzt hatte, von anderen zum Schaden der Kirche angewandt wurde. Richard Sirnon stand nicht allein da. Der Sorbonnedoktor Jean de Launoy erregte Unwillen, weil er die Heiligenlegenden kritisch sichtete und dabei mehr Heilige aus dem Paradies vertrieb, als zehn Päpste zu kanonisieren vermocht hätten8 • Der Abbe Fleury, der in der Umgebung Fenelons ·z u suchen war, verursachte Skandal mit einer Kirchengeschichte, die wegen ihrer gallikanistischen Tendenzen kurzerhand auf den Index gesetzt wurde. Von jansenistischer Seite wurde immer wieder die Verbreitung von katholischen Bibelübersetzungen gefordert und darauf hingewiesen, daß die wißbegierigen Laien zu protestantischen Versionen griffen, wenn ihnen die Kirche den Zugang zu den Texten verwehrte9. Die Benediktiner sondierten die Apokryphen und förderten manchen fest eingewurzelten Irrtum zutage. Der unerschrockene Kritiker Du Pin suchte in seiner 8 Vigneul-Marville, M elanges d'Histoire et de Litterature, t. I. p. 314: " ... il recherchoit tous les Saints les uns apres les autres, comme en France

on reellerehe la Noblesse .. ." 9 So z. B. Quesnel, La Foy et l'Innocence du Clerge de Hollande ... p. 152.

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BibZiotheque universelle des auteurs ecclesiastiques die historische Wahrheit selbst auf Kosten der kirchlichen Tradition zu ermitteln und bestärkte damit Leibnizens Ansicht, daß der französische Klerus eben nicht nur aus Fanatikern, sondern auch aus gemäßigten Elementen bestand10• Weitere Impulse erfuhr die repubZique des Zettres durch den Hod' und die Pariser Gesellschaft. Mit der Gründung der Academie des sciences und der Academie des inscriptions gewannen die Gelehrten zentrale Gremien, die in Austausch mit ähnlichen Institutionen des Auslandes treten und das Vorbild für zahlreiche provinzielle Akademien abgeben konnten11 • Ludwig XIV. zog darüber hinaus hervorragende Geister wie Huygens, den üalienischen Astronomen Cassini und den deutschen Chemiker Hornberg an seinen Hof und förderte die Forschungsarbeit im Jardin des PZantes, in Laboratorien und Observatorien. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der Erziehung des Dauphin. Unter der strengen Aufsicht des Duc de Montausier arbeiteten Bossuet und Huet daran, dem Prinzen die denkbar beste Ausbildung zu vermitteln12• Wenn auch ihr Zögling gewöhnlich nur mit halbem Ohre zuhörte und damit die eigentliche Erziehungsarbeit scheitern ließ, so blieben ihre Bemühungen doch für die Entwicklung der Erudition fruchtbar. In usum DeZphini wurden eine Reihe v10n Geschichtswerken in Auftrag gegeben und maßgebliche Gelehrte zum Vortrag herangezogen wie der Cartesianer Geraud de Cordemoy, der Anatom Guichard-Duverney, der dänische Astronom Roemer etc. Die besten Köpfe schienen gerade gut genug zu sein, um an der Erziehung des Thronfolgers, die nahezu als nationale Aufgabe angesehen wurde, teilzuhaben. Und das geistige Leben der Hauptstadt bildete ein reiches Reservoir für immer neue Anregungen. Paris war, wie Leibniz feststellte, die Quelle der Wissenschaften13 . Wenn auch die bahnbrechenden europäischen Gelehrten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts keine Franzosen waren, so blieb doch das Pariser Milieu bedeutsam für die Diskussion und Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Der 10 So war Leibniz z. B. über die Zensur Du Piru; durch Bossuet aufgebracht. Er schrieb an Larroque (29. 6. 93, Bibl. Hannover MS. L. Br. 529, fol. 30), daß die Protestanten dadurch bedauerlicherweise in ihrem Widerwillen gegen die unnachgiebige Haltung des französischen Klerus nur befestigt werden konnten. 11 Über die Bedeutung dieser Akademien für die Entwicklung der Erudition cf. Lanson, Origines et premieres manifestations de l'esprit philosophique . .. in Rev. d. cours et conf. 1907/8, p. 454. u Über die Erziehung des Dauphin, die zur Belebung der Erudition maßgeblich beitrug, cf. Floquet, Bossuet, precepteur du Dauphin (1864), Rebelliau, l. c., pp. 109 ff., Martimort, l. c., pp. 301 ff. 13 Leibniz schrieb an Larroque (21/31. 7. 91, Bibl. Hannover MS. L. Br. 529, fol. 3 f.): " ... vous Monsieur, qui estes a la source des connaissances, car c'est ainsi que j'appelle Paris ..."

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politische und geistige Primat Frankreichs unter Ludwig XIV. war wenigstens bis zur Re•vokation unbestritten und beeindruckte die ausländische Gelehrtenwelt so stark, daß sie immer wieder in Paris Anerkennung für ihre Arbeiten suchte. Nirgendwo sonst waren Ho;f und obere Gesellschaftsschichten von solchem universalen geistigen SendungsbewußtBein er:füllt und durch eine so glückliche Verbindung von Formgefühl und gelehrter Vielseitigkeit ausgezeichnet wie in der französischen Hauptstadt. Hier war - solange die Intoleranz des Königs nicht hervortrat - der ideale Resonanzboden für neue Gesichtspunkte, für Entdeckungen, für gelehrte Sensationen zu finden. Die Beschäftigung mit der Wissenschaft wurde zur großen Mode. Beliebte Con.ferenciers wie Regis, Rohault und Leselache sorgten für die Vulgarisierung der philosophischen Diskussion, andere führten ihre physikalischen, chemischen und anatomischen Experimente den Damen und Herren der großen Gesellschaft vor. In den Salons wurden astronomische, geographische, medizinische Fragen diskutiert. Die Entdeckung der Satelliten des Jupiter und die Beobachtung der Sonnenflecken wurden zu gesellschaftlichen Ereignissen und bahnten den Erfolg Fontenelles an, der eine Marquise im Gespräch über die einzelnen Planeten spazierenführte. .Einen wichtigen Gegenstand, zu dem sich jeder ä:ußern zu können glaubte, bildete die ästhetische Problematik, vor allem die der Sprache. In allen Sparten des Wissens tagten gelehrte und halbgelehrte Zirkel. Die Ärzte Bourdelot und Lamy nährten die Traditionen des gelehrten Libertinage der Le Vayer und Patin, die Grammatiker fanden sich bei Menage ein, die Literaten bei dem geistvollen Präsidenten Lamoignon, später bei dem Präsidenten Bouhier, der eine der berühmtesten Bibliotheken Europas besaß. Eine Fülle von Geistern gediegener und mitunter auch seltsamer Prägung, von Spezialisten, von ernsthaften und galanten Abbes, von Spaßvögeln, von Scharlatanen und geistigen Hochstaplern traf sich in Paris. Es gab ein buntes Gemisch von Interessen, von Ambitionen, Schicksalen. Neben Autoritäten wie dem Orientalisten Renaudot, der mehreren gelehrten Gesellschaften des In- und Auslandes angehörte, neben Puristen und Künstlern des Bonmot wie Chevreau, der an den meisten europäischen Fürstenhöfen zu Hause war, machten oberflächliche Abenteurer der iettres von sich reden. Sandr:as de Courtilz, ein skandalöser Vielschreiber, gab aufsehenerregende politische und historische Enthüllungen, die er sogleich mit Gegenschriften widerlegte, um seine Leser zu nasführen und Geld zu machen. Nicht immer gelang es, weder Pedant noch Dilettant zu sein. Allzu oft hielten gerade die brillierenden Autoren nicht kritischer Nachprüfung stand. Aber allzu leicht vergaßen auch die seriösen Gelehrten, daß es nicht mit den Regeln der bienseance zu vereinbaren war, wenn man sein Wissen über das jedem

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Gebildeten zurnutbare Maß hinaus zur Schau stellte14 • Gewöhnlich bestimmte schon das Temperament der Autoren das Ansehen ihrer Werke beim gebildeten Publikum. So war es z. B. den Elaboraten des Bibliothekars Adrien Baillet anzumerken, daß sie von aufdringlicher Pedanterie eingegeben waren und daß ihr Verfasser vor lauter Arbeit nicht einmal die Zeit fand, sich für seine kurzen Ruhestunden auszuziehen. So war andererseits die leichtfertige Darstellung der Kirchengeschichte des Abbe Choisy mit der zügellosen Vergangenheit dieses Höflings zu erklären, der schon von seiner Mutter als Mädchen gekleidet wurde und später in dieser Aufmachung galante Eroberungen machte, bevor er sich dann der Devotion hingab und eine Missionsreise nach Siam antrat. Die gelehrte Atmosphäre der Hauptstadt gestattete es, daß sich jeder ins Licht setzte, daß jedes Kuriosum registriert, jede Passion beobachtet wurde. Natürlich blühte der Klatsch. Aber die Bibliothekare und Physiker, die Abbes, die zurückgekehrten Orientreisenden, die Ärzte und Ästheten hatten wichtigere Aufgaben vor sich: sie glaubten, es sich selbst sowie ihrer Mit- und Nachwelt schuldig zu sein, ihre Beobachtungen und gelehrten Gespräche aufzuzeichnen und untereinander auszutauschen. Auffällig dabei war es, daß die Anregungen des Hofes, die in der ersten Hälfte der Regierungszeit Ludwigs XIV. eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Erudition spielten, in der zweiten zurücktraten. Es schien, als hätte sich die republique des lettres abseits der Kriege und der Frömmelei des Königs allmählich emanzipiert. Und es konnte deshalb nur folgerichtig sein, daß die Gelehrten, die nun der Direktiven des Hofes entbehrten, stärker als bisher der wissenschaftlichen Entwicklung im protestantischen Ausland aufgeschlossen waren. Über die gehässigen Ausfälle der Kontroversisten hinweg bahnte sich so auch eine Zusammenarbeit mit den Refugies an. Die Anzeichen dafür mehrten sich. Der jesuitische Dictionnaire von Trevoux berichtete z. H. in durchaus sachlicher Form über Luther und distanzierte sich damit von den groben Entstellungen, die ein Garasse in der ersten und ein Maimbourg in der zweiten Hä1fte des Jahrhunderts gegeben hatten15. Auf protestantischer Seite rühmte Leibniz, dem von dem konvertierten Papin bescheinigt wurde, daß er l'arbitre de tous les savans de notre siecle wäre16, die Ver:dienste der Mönche um den Fortschritt der Wissenschaften17 • In den Klöstern wurden, wenn auch u Über die Schwierigkeit, die Erudition mit dem Lebensstil des: honnete zu verbinden, cf. Brunot, Histoire de la langue frant;aise .. ., t. IV. pp. 406 ff. 15 cf. Leube, Deutschlandbild und Lutherauffassung in Frankreich, pp. 26 ff. 16 Papin an Karl Gottlieb Ehler (4. 6. 09, MS. Bibl. H annover, L. Br. 232). 17 Leibniz an L arroque (April 92, MS. ibid., L. Br. 529. fol. 7 f.): "Les plus sc;avans hommes des temps passes sont sortis d es Monasteres qui estoient homme

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unter Verschluß, seltene protestantische und sogar socinianische Schriften gesammeltls. Der Abbe Fraguier schrieb Desmai:zeaux, daß er, um der Erforschung der Wahrheit zu dienen, gern über die Schmähungen der protestantischen Autoren hinweglesen wollte1 9. Und der Abbe J3ignon versicherte, daß seine Korrespondenz mit den Refugies ruhig publiziert werden könnte, da nichts als beaucoup de zele et d'union pour les sciences en general darin zu finden wären20 • Der Abbe Dutbos reiste in Deutschland, Holland und England umher, um die moderne empiristische und skepti:zistische Philosophie an der Quelle zu studieren21 . La Monnoye lieferte Bayle reichliche Materialien, der Advokat und Memoirenschreiber Matthieu Marais ganze Artikel für den Dictionnaire. Nur beschränkte Geister konnten sich den tausendfältigen neuen Blickpunkten verschließen, welche die gelehrte Kritik außerhalb Frankreichs eröffnete. Nur Philister unterwarfen die auf Umwegen hereindringenden Schriften des Auslandes einer geistigen Quarantäne. Ein Stoffhunger, wie er seit der Renaissance nicht mehr zu beobachten war, hatte die Gelehrtenwelt ergriffen. Die Beziehungen zur ausLändischen Erudition waren vielseitig. Freilich wurden durch die anhaltenden Kriegsperioden manche Reisepläne zunichte. Nur wenige Ausländer konnten, wie der brandenburgische Diplomat Ezechiel Spanheim, neun Jahre in der französischen Hauptstadt verbringen. Und nur selten gelang es französischen Gelehrten, die vielen Stützpunkte der republique des lettres in London, an den holländischen und schweizerischen Universitäten, in den zahlreichen deutschen und italienischen Residenzen aufzusuchen. Den persönlichen Verkehr ersetzte deshalb gewöhnlich der Briefwechsel. Überall gab es eifrige Korrespondenzen, welche sich über die politische und religiöse Parteiung hinwegsetzten; und diejenigen, die wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung keine Kompromittierung riskieren konnten, besaßen des veritables ecoles. L es sciences et les livres nous ont este conserves par les moines. Blämer cela ce seroit estre ingrat, tant envers eux qu'envers la providence." 18 cf. Reesink, L' Angleterre et la litterature anglaise dans les trois plus anciens periodiques francais de Hollande .. ., pp.19 f . 19 Fraguier an Desmaizeaux (5. 10. 07, Brit. Museum, Add. MSS. 4283, fol. 252 A): ". . . il ne me souvient pas que j'aye jamais eu deux poids & deux mesures. Mais il se peut trouver des gens qui se faschent en trouvant sans cesse sous leurs yeux les noms d'Antechrist, de Papistes, d'Idolatres, et toutes ces expressions que la fureur a f ait naistre, et qui ne devroient jamais avoir place dans des ouvrages de R eligion, ou il est honteux de ne garder pas la moderation qu'elle prescrit. Que cherchent les honnestes gens, si ce n'est Ia Verite, et sont ce la les armes de la Verite, est-ce son langage?" 20 Bignon an Desmaizeaux (11. 6. 08, ibid., Add. MSS. 4281, fol. 164 A) : "Je suis bien aise que mon nom ne vous fasse point de peur et effectivement vos lettres et les miennes pourroient toutes estre ouvertes sans qu'on y put rien trouver que beaucoup de zele et d'union pour les sciences en general malgre les div:i:sions des Etats et des sentimens particuliers." 21 cf. Peteut, Jean-Baptiste Dubos .. ., pp. 20 f. 25

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genügend Handlanger, welche die Verbindungen herstellten. Die Fäden spielten überallhin, wo der Drang nach universalem Wissen lebendig war: nach England zu Locke, zu Boyle und Newton, zu Shaftesbury und Berkeley, zum Grafen Pembroke, zu Theologen wie Stillingfleet, Chillingworth und Richard Bentley, die wegen ihrer vielseitigen Interessen beriihmt waren, zu Tillotson, dem Erzbischof von Canterbury, zu Burnet, dem Kaplan Wilhelrns und späteren Bischof von Salisbury. Nahezu unübersehbar war die Zahl der gelehrten Agenten in Holland. Der Jesuit Papebroch, der Antiquar Gronovius, der Arzt Jansson ab Almeloveen, der Patrizier Paets, der Diplomat Gisbert Cuper, der Jurist Noodt, der Physiker Nicolaa:s Harbsoeker gehörten dort zu den bekanntesten Polyhistoren, die Verbindungen mit aller Welt unterhielten. Deutschland stellte mit Leibniz den Prototyp dieser Zeit, dessen Briefwechsel als Musterbeispiel für alle anderen gelten dürfte. Daneben aber figurierten als beliebte Korrespondenten der Philosoph Tschirnhaus, der Redakteur Mencke, der Berliner Hofprediger Jablonski und die vielen Prod'essoren und Privatgelehrten, die mit ihren gravitätisch klingenden, latinisierten Namen imponierten: Graevius, ein Meister der Editionstechnik, der vor textkritischen Arbeiten nicht zu größeren eigenen Werken kam, der Gräzist und Orientalist Kuhnius, der Historiker Perizonius, der Philologe Crenius, der auf der Jagd nach Plagiaten war, Carpzovius, der zur Befriedigung seiner Briefpartner auch unvermindert weiterkorrespondierte, als er das Handelshaus seines Schwiegervaters in Leipzig übernahm. In der Schweiz saßen als geachtete Adressaten die Brüder Bernoulli, der Historiker Minutoli, die Theologen Louis Tronchin, Jean-Alphonse Turrettini und Osterv.ald. In Italien übten der Ka:rdinal Noris, Verwalter der vatikanischen Bibliothek, und Magliabechi, berii·hmter Gedächtniskünstler und Bibliothekar des Großhe!IZ'Ogs von Toscana, die größte Anziehungskraft aus. Muratori und Vico rückten allmählich in den Gesichtskreis der Gelehrten. Ein imposantes Heer von Briefschreibern war so am Werke. Aus allen Wissensgebieten, aus allen Ländern und Konfessionen meldeten sich die Spezialisten. Der Remonstrant Limborch, der Socinianer Crellius kamen als Historiker und Philologen zu Worte. Auch fürstliche Persönlichkeiten ergriffen die Feder: in Sch•weden Königin Christine, in Deutschland Sophie Charlotte, Herzog Ernst August von Braunschweig, Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels, in Rußland Peter der Große etc. Das Terrain der wissenschaftlichen Korrespondenzen war eine Welt rur sich, eine Insel, auf der andere Qualitäten maßgebend waren als auf dem Festlande der politischen Gegebenheiten. Fürsten waren dort Gelehrte, und Gelehrte gewannen das Ansehen von Fürsten22• Die Erudition stand als gleichwertige 22 Fontenelle, l. c., t.V. p. 554, Eloge de M. Leibnitz: "Un savant illustre qui est populaire & familier, c'est presque un Prince ..."

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Größe neben politischer Macht. Man besann sich darauf, daß die Pariser Universität im Mittelalter nicht weniger zum Ansehen der französischen Hauptstadt beigetragen hatte als die Residenz der Könige23 . Man verglich das Los der Gelehrten mit dem der Souveräne und stellte fest, daß die einen ebensowenig wie die anderen wußten, wie ihre Leistungen von der großen Menge beurteilt wurden24 . Die Acta eruditorum - bezeichnenderweise trug eine der ersten wissenschaftlichen Zeitschriften diesen Titel - besaßen ebensoviel Gewicht wie die Dossiers der Diplomaten. Ja, die gelehrten Korrespondenzen enthüllten viel mehr von der Persönlichkeit der großen Zeitgenossen als die offiziellen, von der gesellschaftlichen Etikette diktierten Äußerungen25 • Deswegen waren alle Briefe als kostbare Zeugnisse zu sammeln. Sie durften nicht in irgendeinem K~binett schlummern und der Nachwelt verlorengehen26. Manche Gelehrte, wie z. B. Cuper, fertigten Kopien ihrer eigenen Briefe an und stellten sie mit den Antworten ihrer Korrespondenten zu ganzen Abhandlungen zusammen27 • Andere fanden keine Zeit, die Früchte ihres Briefwechsels zu ernten. Der Abbe Nicaise z. B. hinterließ außer einer Dissertation, in der er nachwies, daß die Sirenen nicht den Fischen, sondern den Vögeln ähnelten, keine nennenswerten Arbeiten; wohl aber führte er die umfangreichste 23 Fontenelle, l. c., p. 184, Eloge de M. l' Abbe Gallois: "Pendant plusieurs Sjlecles, l'Universite de Paris n'a pas moins contribue a la grandeur de la Capitale, que le sejour des Rois . .. " 24 Larroque, NRL, juillet 1687, pp. 730 f.: "11 en est a peu pres des Auteurs comme des Princes, ils sont toujours les derniers a savoir ce que l'on dit d'eux. A moins que quelque Adversaire ne leur face une guerre ouverte, ou qu'ils ne se trouvent par hazard incognito dans quelques unes de ces compagnies libres, ou chacun suivant le droit que son argent lui a donne sur un Iivre, en dit souvent, avec trop d'ing{muite pour celui qui s'y interesse, tout ce qu'on pense dans le monde ..." 2s Le Clerc, BU, t. XIII. p. 45: " ... Ceux qui font la vie ou les eloges des grands hommes, decouvrent souvent beaucoup de veritez; mais ils imitent presque toujours les mauvais peintres, qui flattent ceux qu'ils representent; au Iieu qu'on voit au nature! dans Ies Lettres l'etat & la disposition du monde & de ceux qui ecrivent. On decouvre meme souvent son creur a des amis, dans cette occasion, sur des choses, qu'il n'est pas permis. de faire conno-itre au public pendant sa vie ... " 25 Le Clerc klagte (ibid.) darüber, daß die schönste Briefsammlung so lange mangelhaft blieb, wie sie nicht zu den einzelnen Briefen auch die entsprechenden Antworten enthielt. 27 Mit besonderer Sorgfalt sammelte z. B. Cuper die Kopien seiner eigenen Briefe sowie die seiner Korrespondenten. Als der Pastor David Martin einmal den berühmten Gelehrten aufsuchen wollte, ihn aber nicht zu Hause antraf, wurde ihm in dessen Abwesenheit die Bibliothek gezeigt. Cuper schrieb aus diesem Anlaß an Martin (7. 10. OG, K. Bibi. De'n Haag, MS 72 C 27'h): "Vous avez vu sans doute dans une armoire les lettres que les S~avans m'ont escrites en grande quantite; mais cela n'est rien au prix et au nombre de celles qui sont gardees quelqu'autre part; vous les y auriez vues a.vec les reponses, ce que j'ay commence de faire il y a quelques annees; et que je voudrois avoir fait tousjours."

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Korrespondenz der Epoche. Den Biographen fiel es schwer, irgendeine bekannte Persönlichkeit- welcher Sprache, Nation und Religion auch immer - zu nennen, die nicht an Nicaise geschrieben hatte. Er starb mit der Feder in der Hand: er war gerade damit beschäftigt, eine alte Inschrift zu entziff'ern, um damit irgendeinen seiner zahllosen Korrespondenten zu delektieren28. Den Refugü~s kamen in dieser vielseitigen republique des lettres wichtige Funktionen zu. Denn viele von ihnen emigrierten nicht nur als Opfer der katholischen Verfolger, sondern auch als namhafte Gelehrte. Und sie wurden deswegen in den Exilländern bei aller Würdigung ihrer religiösen Standhaftigkeit besonders als Sendboten der französischen Erudition aufgenommen und geschätzt. Sie fanden dort den Boden für ihre geistige Aktivität schon vorbereitet - wenigstens in den Universitäten und in den oberen Gesellschaftsschichten der Niederlande, in der Royal Society und in den Kreisen um Saint-Evremond und um die Duchesse de Mazarin, in den vielfältigen Beziehungen Leibnizens und in der geistigen Aufgeschlossenheit v erschiedener deutscher Fürstenhöfe. Andererseits aber sahen sie sich in der Rolle der Berichterstatter für das gebildete französische Publikum. Das erwachte enzyklopädische Interesse verlangte nach den Stimmen des Auslandes. Wer aber konnte die englisch, holländisch oder deutsch verfaßten Abhandlungen lesen? Selbst die lateinischen Dissertationen blieben mehr oder weniger den Fachgelehrten vorbehalten. In einer Zeit, in der die Wissenschaften dem großen Publikum mit Vorträgen und

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folgekriege, einen Friedensschluß um jeden Preis und den Verzicht auf alle Eroberungen. Praktiker wie Vauban und Boisguilbert entwickelten ökonomische Reformpläne, welche Kriegsgefahren vorbeugen sollten. Der Abbe de Saint-Pierre ließ 1712 unter dem fingierten Verlagssignum Cologne- chez Jean le Pacifique den projet eines ewigen Friedens drucken, in dem er die Vereinigten Staaten von Europa konzipierte. Zahlreiche Refugies mußten durch diese vielfachen pazifistischen Äußerungen in ihren eigenen Hof.fnungen bestärkt werden. Wenigstens die Gemäßigten unter den Emigranten hatten - im Gegensatz zur Agitation der Partei Jurieus - von Anbeginn ihres Exils eine friedliche Rückkehr nach Frankreich ersehnt. Sie sahen den Krieg als Verhängnis an, das ihre Erwartungen immer wieder zunichte machte; und sie wurden nicht müde, dessen Sinnlosigkeit anzuprangern. Wenn der Krieg auch von Calvin und Beze unter bestimmten Voraussetzungen als ein Zeichen der Rache Gottes und damit für legitim erklärt wurde836 , so war er in den Augen vieler Refugies doch nur ein monstre furieux 331 • Der Krieg z·erstörte die Postverbindungen338 . Er war der Todfeind der Gelehrten339 ; er verleitete die Fürsten zu Eroberungs- und Ruhmsucht und lenkte sie davon ab, als maßvolle und gerechte Herrscher zu regieren34il; er brachte die Bosheit einiger Führer und die Dummheit der Völker zur Geltung341 . Von 1000 Kriegen waren 999, einschließlich der Defensivkriege, völlig überflüssig342 . sang. La guerre est quelque-fois necessaire, il est vrai: mais c'est la honte du genre humain qu'elle soit inevitable en certaines occasions ..." Ähnliche Formulierungen finden sich in den Dialogues des morts, z. B. XVII, pp.118 f.: "Un peuple n'est pas moins un membre du genre humain, qui est la societe generale, qu'une famille est un m~mbre d'une nation particuliere. Chacun doit incomparablement plus au genre humain, qui est la grande patrie, qu'a la patrie particuliere dont il est ne ..." ÜbeT Fenelon als Vorläufer der Friedensbewegung cf. Osterloh, Fenelon und die Anfänge der literarischen Opposition gegen das politische System Ludwigs XIV., p. 52. 33B cf. Mesnard, L'essor de la philosophie politique au XVIe siecle, p. 288. 337 Tranehin du Breuil, Lettres sur les matieres du temps, IIIe annee, 4e lettre, pp. 49 f.: " .. . la guerre est un Monstre furieux qui ne s'endort jamais. Et c'est en cela qu'on ne peut la comparer avec la Nature, dont le cours ordinaire est de faire du bien aux hommes, & de les enrichir de ses presens; tandis qu'ils ne s'occupent qu'a les detruire en se detruisant eux-mcmes." 338 cf. Bayles Brief an Menage, 1. 1. 91, Gerig u. Roosbroeck, L c., 1932, p.18. 339 Basnage schrieb an den Comte d'Ayen (23. 4. 02, Brit. Mus. Add. MSS. 38846, I, fo·l. 52 B): " ... elle s'allume enfin cette guerre redoutable ennemie mortelle des muses et des gens de lettres ..." 34o Le Clerc, Parrhasiana, t. I. pp. 220 ff. nJ Bayle, Dict., art. Erasme, t. II. p. 768 a. 342 Saurin, Examen de la theologie de M. Jurieu ..., t. II. p. 804: "Je veux bien avoüer mon heresie, je suis persuade que de mille guerres, il

Illusionen und Misere eines Sendungsbewußtseins

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Oft wurden die Kriege unter billigen Vorwänden begonnen:343 ; zuweilen bildeten nur philologische Streitigkeiten ihre Ursache: war nicht die Spaltung in Orient und Okzident, war nicht die Mobilisierung von Armeen und ganzen Generationen auf die Interpretation von einzelnen Worten zurückzuführen 344 ? Weltfremde Illusionisten mochten annehmen, daß die Spekulationen der Philosophen noch keinen Blutstropfen gekostet hätten345 • Geschichte und Gegenwart aber bewiesen das Gegenteil. Die Gelehrten durften es deshalb nicht versäumen, am Frieden zu arbeiten und wenigstens in ihrem Bereich jeden Anlaß zu vermeiden, der zu offenem Streit, zum Einschreiten politischer Instanzen oder gar zum Kriege führen konnte. Sie hatten ihre Dispute unter sich auszutragen346 . Sie sollten jede Meinung gelten lassen und sich nicht zu Tyrannen aufwerfen847 • Ihre Arbeiten waren dazu bey en a neuf cents quatre-vingt dix-neuf d'injustes, y compris !es guerres defensives qui ne sont pas absolument necessaires . . ." 343 Tronchin du Breuil schrieb (L c., IIIe annee, gc lettre, pp. 134 f.): " ... malheureusement le fond du Vice & le nom des Vertus entrent dans le Commerce du Monde, comme le reste des choses dont le prix consiste dans l'usage exterieur; eru;orte que les plus habiles sont ceux, non qui s'appliquent a devoiler cet exterieur, lequel est toujours respecte a proportion de l'inteTet reciproque, du rang, & des dignitez; mais qui feignans de s'y prcter, y savent le mieux trauver leur compte en donnant pour recevoir, & accorda nt pour obtenir. C'est a qui s9ait faire un plus grand usage de Ia credulite des Peuples, & s'etablir un Empire sur la foiblesse de leurs passions. ..." 344 Basnage de Beauval (HOS, t. XVIII. p. 44) bemerkte a nläßlich der Schrift des Basler Professors Samuel Werenfels . .. Dissertatio de Logomachiis eruditorum ... (1702): "On s'echauffe ou s'irrite pour Ia signification d'un mot; on alarme les spectateurs par la crainte de voir perir Ia Philosophie & la Religion; on fait intervenir !es Rois, les Papes; l'Eglise assemblee prononce dans ses Conciles . . ." 345 Noch 1675 hatte der Pastor Jean Brun geschrieben (La veritable religion des Hollandais ..., p.133) : "L'on n'a jamais veu des battail!es perdües, des vil!es gaignes, ni une seule goute de sang rependu, pour toutes les meditations, & !es doutes des Philosophes, qui se promenent dans leur jardins, ou qui sont assis dans leur etude, revans sur les mouvemens des corps celestes, sur leur matiere, leurs formes, leurs figures & leurs qualitez ... " 3 '10 Bernard, NRL, juillet 1704, p. 10, wandte sich gegen die streitsüchtigen Gelehrten: " ... ils s'imaginent que leurs queTelles sur des questions de neant interessent tout l'Univers, & ils trouvent for t mauvais, que les Puissances ne quittent pas tou:t, pour juger de Ieurs differen s, & surtout, pour condamner leurs Adversaires ... " 347 Aubert de Verse, L'Impie convaincu, ou dissertation contre Spinosa .. ., Avertissement: "J'avoue que chacun a droit de penser ce qu'il voudra, & de censurer meme toutes les pensees d'autrui. Mais cela se doit toujours faire sans violence, sans tyrannie sur !es esprits. Lorsque l'on en vient a cette extremite ce n'est plus r aisonner, ni philosopher, c'est faire le tyran, & le faire sur des sujets qui ne soufreut rien si impatiemment que la contrainte. Les hommes peuvent bien par la force regner sur les corps, mais ils ne s9auroient jamais regner par elle sur les esprits. La gloire & le pouvoir de regner sur eux n'appartient qu'a la raison mi'me." 30 Haase, Literatur des Rr-fuge

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stimmt, Sinnbild des Friedens in Kirche und Staat und der Staaten untereinander zu sein348. Als wichtigste Vorbedingung dafür blieben nicht nur religiöse, sondern auch nati01r1ale Vorurteile zu übe:mvinden. Große Hinderniss~ standen im Wege: die Arroganz, die unter den FMiliZOsen herrschte, und die Minderwertigkeitskomplexe, die unter den übrigen Nationen zu bemerken waren. Der Vollkommenheitsanspruch des grand siede hatte - nicht nur in Frankreich - das Urteilsvermögen derartig getrübt, daß französische Maßstäbe schließlich allgemein zu absoluten Wertsetzungen erhoben wurden. Selbst kritische Geister des Auslandes, wie Spanheim und Leibniz, erwiesen ihnen ihre Reverenz 349 . Der Anspruch tonangebender Franzosen, in Umgangsformen, in Mode und Geschmacksbildung schlechthin unwiderstehlich und zugleich unnachahmlich zu sein, konnte dadurch nur gefestigt werden. In England galt das französische Ideal des honnete homme als verbindliche Lebensform35°, in Holland ging die Französierung der Sitten bis zur Lächerlichkeit351, in Deutschland suchten es die Duodezfürsten dem französischen Hofe bis zum wirtschaftlichen Ruin gleichzutun. Gerade den Refugies war bei ihrer Ankunft in den Exilländern diese allseitige Aufgeschlossenheit zustatten gekommen: sie wurden wie Justel in London mit Vorzug in den fürstlichen Bibliotheken beschäftigt; sie fanden wie Jean-Philippe Rebeur, der Erzieher des brand.enburgischen Kurprinzen 35 2 , angesehene Hofstellungen; sie konnten sich wie Jurieu auf Lehrstühlen und Kanzeln in ihrer eigenen Sprache an die Zuhörer wenden, welche sie als Vertreter französischer Urbanität ansahen353. Indessen die Tatsache, daß sie ja nicht als Apostel, sondern als Opfer des vielgerühmten Regimes Ludwigs XIV. zu betrachten waren, bewahrte sie vor jener auffälligen Überheblichkeit, die in Frankreich am Ende des Jahrhunderts anzutreffen war. Vielmehr gewannen sie im Exil vielfältigen Kontakt mit den Gebildeten andere< Nationen und lernten, deren Eigenart und geistige Fähigkeiten zu wür348 cf. Constantinescu-Bagdat, Etudes d'histoire pacifiste III. Bayle ..., pp.104 ff. 349 Spanheim, Relation de la Cour de France en 1690 ..., p. 152; Leibniz schrieb an Larroque (Bibl. Hannover, L. Br. 529, fol. 3 f.): "La France a

aujourd'huy autant de superiorite dans les sciences qu'elle en a dans les affaires publiques, souuent ces deux choses vont de compagnie." 350 cf. Ascoli, La Grande-Bretagne devant l'opinion francaise au XVIIe siede, t. 11. p. 102. 351 cf. Dijkshoorn, L'Inf!uence francaise dans les mceurs et les salons des Provinces-Vnies, pp. 44 ff. 3 ~2 Über die bedeutsame Rolle dieses Retugie cf. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. König in Preußen . .., pp. 37 ff. 3153 Über diese Bedeutung der Emigranten in Holland cf. Murris, La Hollande et les Hollandais au XVII• et au XVIII• siecles, vus par les Francais, pp. 168 ff., und in der SchWiei.z cf. Chavannes, Les refugies francais dans le pays de Vaud ..., p. 68.

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digen: mußten sie sich nicht geradezu berufen fühlen, engstirnigen nationalistischen Tendenzen entgegenzutreten, Mißverständnisse zu beheben und einen friedlicllen Ausgleich zwischen französischer und nichtfranzösischer Geiste.'>art herzustellen? Jedenfalls strebten sie danach. Sie beschönigten keineswegs die Unzulänglichkeiten, die ihnen als Franzosen in ihren Au:fnahme1ändem in die Augen sprangen. Die Mängel an Einbildungskrnft, die sie bei den Holländern feststellten354 , wurden in ihren Rela.tionen ebenso vermerkt wie die versteckt auftretende Roheit der Engländersss und die Trinksitten der Deutschen356 . Aber sie ließen sich dadurcll nicht so abscllrecken wie ihre Landsleute in Paris357 . Um die fremde Umgebung recllt verstehen zu können, waren Geduld und ein behutsames Einfühlungsvermögen nötig35S; Geist und Tugend ließen sich - wie ihr Gegenteil - in allen Ländern entdecken359: sie wollten nur gesucht und durften nicht unterschlagen werden. Die arroganten Urteile, die aus Frankreicll herüberdrangen, hatten zur Folge, daß nationale Gegensätze verschärft und Friedenshoffnung.en zerstört wurden. Sie mußten deshalb korrigiert werden. War es nicht lächerlich, wenn man den Schweizern nachsagte, sie taugten nur für die Kriegführung, nicht aber für die Wissenschaften36o, oder wenn man in Paris über die holländische Sprache zu Gericht sitzen wollte, ohne sie näher zu kennen und ohne zu wissen, daß sie Journal litteraire, t. III. janv./fevr. 1714, p. 186. Sage, Remarques sur l'Angleterre ..., p.113: "Les Anglois se vantent qu'il n'y a point de pai:s au monde ou les Loix ayent si bien pourveu a la surete des B'iens & des Personnes que chez eux; mais l'on peut dire que lorsque !es Loix donnent quelque pouvoir il n'y a pas de Pai:s au monde ou l'on en fasse un plus grand abus. Ainsi: lorsque dans ces dernieres guerres on a permis de se servir de la force pour recruter !es troupes, il s'est commis des cruautes inoüies a cette occasion; Plusieurs etrangers qui etoient a Londres pour leurs affaires ont ete enleves dans les rues & emm~mes avant que d'avoir pu faire connoitre leur etat a leurs amis ..." 356 Misson, l. c., t. I. pp. 83 f. 357 Im Journal litteraire (l. c., p. 184) wturde die Selbstherrlichkeit der Franzosen gegeißelt: ". . . il est certain que c'est assez le caractere de cette Nation, de n'estimer que son tour d'esprit & ses manieres; de faire de son gout l'unique regle du merite, & d'apeller les choses bonnes ou mauvaises, a mesure qu'elles s'en eloignent ou qu'elles en aprochent .. ." 3118 Typisch für diese Einstellung waren u. a. die Regeln, die Chauvin (Nouveau Journal des Scavans .. ., may/juin 98, p. 196) für das Reisen gab: " ... Le Voiageur doit ... avoir l'humeur douce & insinuante, c'est-a-dire une certaine docilite d'esprit, qui agree comme naturellement les choses qui paroitroient devoir le rebuter selon le goiit de sa nation ..." 358 Durand, La vie et les sentimens de Lucilio Vanini, p. 148. 380 Le Clerc, BAM, t. III. p. 171, schrieb anläßtich d~r Rektoratsrede Barbeyracs: "Il est a souhaiter que ce Discours produise de l'effet sur !es esprits de la Suisse; qu'on meprise injustement, comme si les habitans de ce Pai:s-la n'etoient pas propres pour !es Sciences, mais seulement pour la Guerre. On peut dire de ce Pai:s-la, comme de tous les autres, sint Maecenates, non deerunt, Flacce, Marones ..." 354

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reicher und kräftiger war als die durch übertriebene Feinheit verarmte frailJZösische361? Es war unbegreiflich, daß die tyrannisch regierten Franzosen die politischen Freiheiten der Engländer in Zweifel ziehen konnten362. Und es war einfach impertinent, wenn der Pere Bouhours als akklamierter arbiter elegantiae in Frage zu stellen wagte, ob ein Deutscher ein bel esprit sein konnte363. Indem die Emigranten so das Ansehen der Nationen verteidigten, von denen sie gastlich aufgenommen wurden, wollten sie dem Frieden dienen - einem Frieden, der zumindest unter den Gelehrten zu verwirklichen war und in der Tat allerseits erstrebt wurde. Ihre Gesichtspunkte konnten bald selbst in Paris Anerkennung finden, weil allmählich auch dort die Auffassung durchdrang, daß in der Erudition alle Mitarbeiter gleiche Ächtung und gleiche Chancen beanspruchen durften. Wie der in den Pariser Salons gelesene und gerühmte SaintEvremönd sagte, mußten jeder Nation bestimmte Meriten zuerkannt werden364. Das wissenschaftliche Interesse sprengte die nationalen und religiösen Schranken. Die Gelehrten besaßen kein Verständnis mehr dafür, daß die Holländer ihre Berichte über fremde Erdteile mit Rücksicht auf ihre Handelsgesellschaften fTisierten365 , daß die Italiener Ausländern und Nichtkatholiken die Einsicht in seltene Manuskripte verweigerten36 6 , daß die J·esuiten in Ostasien zuweilen bei ihrer Missionsarbeit eine exakte Berichterstattung über Land und Leute vernachlässigten367 oder daß der Durchschnittsleser in seiner so1 Journal litteraire, l. c., p. 182.

36~ Bernard, Lettres historiques ..., nov. 95, t. VIII. p. 533: "Quand on compare l'etat du Peuple Anglois avec celui de quelques Peuples voisins, on peut dire, sans e-xaggerer, qu'il y a autant de difference entr'eux, qu'il y en avoit autrefois entre des personnes libres & des esclaves." Ähnlich ibid., juin 96, t. IX. pp. 675 ff. asa D'Artis, Journal de Hambourg, t. Il. p. 30. 364 Saint-Evremond, l. c., t. II. Ire partie, p. 15: "J'avois cru autrefois qu'il n'y avoit d'Honnetes-gens qu'en nötre Cour; que la Mollesse des Pays chauds, & une espece de Barbarie des Pays froids, n'en laissoient former dans les uns & dans les autres que fort rarement: mais a la fin j'ai connu par experience qu'il y en avoit par tout, & si je ne les ai pas goiites assez-töt, c'est qu'il est difficile a un Francois, de pouvoir go(\ter ceux d'un autre Pays que le sien. Chaque Nation a son Merite, avec un certain tour qui est propre & singulier a son Genie ..." 385 cf. Vigneul-Marville, l. c., t. I. p. 351. 366 Misson, l. c., t. III., in dem Vorwort Au Lecteur: " . . . en Italie particulierement, si un Voyageur n'a pas quelque forte recommendation, on refuse souvent, ou on evite de luy faire voir les choses dont on croit qu'il pourroit tirer quelque avantage contre la Religion Romaine ..." 367 Leibniz an Quesnel (12. 3. fYl, in Lewis, Lettres de Leibniz d Arnauld d'apres un manuscrit inedit ..., p. 110): "Ces peres ne profitent pas assez a mon avis de l'occasion qu'ils ont en main de nous communiquer reciproquement les. connoissances des Chinois, comme ils portent les nostres dans la Chine. Et j'apprehende qu'un jour les Chinois, quand ils auront appris nos sciences; chasseront tous les Europeens, et qu'on regrettera alors l'occasion perdue ..."

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Selbstgefälligkeit bestärkt wurde, wenn er von den seltsamen Sitten gewisser Exoten erfuhr368 etc. etc. In der republique des lettres durfte es keine künstlichen äußeren Grenzen geben. Jeder ihrer Bürger sollte unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sein, das er sich selbst schuf369 . Es wurde damit eine Geisteshaltung gefordert, welche die gesamte gebildete Welt in den Zustand einer friedlichen Anarchie versetzen sollte870 • Freilich demonstrierten gerade die Refugies, wie schwer es trotz aller Bemühungen war, dieses Ideal zu verwirklichen. Wohl ließen sie keine nationale Überordnung gelten. Wie jedoch ihre Toleranzkontroversen zeigten, konnten sie sich nicht - bis auf wenige Ausnahmen - dazu aufraffen, allen Menschen ohne Unterschied der Konfession gleiche Rechte zuzuerkennen: die Atheisten blieben bekanntlich nach Ansicht der meisten Theoretiker von der gesitteten Gesellschaft ausgeschlossen. Das weltbürgerliche Ideal, das den Reformierten im Exil zuzusprechen war, blieb damit in der Regel christlich bestimmt371 • Wenn Basnage z. B. die Liebe zum Vaterland als eine Schwäche hinstellte, so wollte er vor allem davon die ungleich größere Liebe zur Religion abheben372. In ähnlichem Sinne bezeichnete 368 Le Clerc (BU, t. X. pp. 520 f.) deutete eine Möglichkeit an, die dann Montesquieu später realisieren sollte. Er schrieb anläßlich der Histoire naturelle & politique du Royaume de Siam von Gervais€: "Je croi que nous en serions surpris nous memes, si nous les ( = les opinions, d. h. die sonderbaren Ansichten der Siamesen) voyons decrites dans un livre ou elles seroient depouillees des termes, dont nous nous servons pour les expliquer, & de l'air que nous leur donnons. Nous ne regarderions avec guere moins d'admiration nos opinions Europeennes vetues a la Siamoise, que les Siamoises vetues a l'Europeenne .. ." 369 Desmaizeaux sagte in der Preface (p. XXIII) zu seiner Ausgabe der Lettres de Mr. Bayle .. .: "L'Histoire litteraire a pour objet toutes les personnes qui cultivent les Lettres, les Arts & les Sciences. Ils forment un Etat repandu dans tous les E.tats, une Republique ou chaque Membre, dans une parfaite independance, ne reconnoit d'autres Loix que celles qu'il se prescrit a lui-meme ..." 370 cf. Lenient, Etude sur Bayle, p. 220. 371 Sie stimmten darin durchaus mit Leibniz überein, von dem Werner, Geschichte der neuzeitlichen ehrisaich-kirchlichen Apologetik, t. V. p. 187, sagte: "Leibnizens Blick verliert sich in die unermeßlichen Weiten des kosmischen Seins, die Idee der Kirche droht ihm in der Idee des Kosmos, der Christ im geistigen Weltbürger aufzugehen. Aber dieser Weltbürger des göttlichen Universalstaates ist ein Kosmopolit von aufrichtig gemeinten christlichen Überzeugungen ..." Der Terminus Cosmopolite erhielt seine heutige Bedeutung erst im 18. Jahrhundert und fand vorher nur in naturwissenschaftlichem Sinne Verwendung: so wählten ihn z. B. im 16. und 17. Jahrhundert Alchimisten wie Alexander Setbon und Michael Sendivogius als Beinamen, der holländische Anatom Antonius Everaerts als Pseudonym. Wie beliebt und vielseitig verwendbar das Wort später wurde, zeigte u. a. die von Barbier (Dictionnai re des ouvrages anony mes, t. I. col. 779 f.) zusammengestellte Titelreihe. 872 Basnage, Considerations sur l'etat de ceux qui sont tombez ..., p. 506: " . . . l'amour de la Patrie est un foible dont les Philosophes ont triomphe par les seules lumieres de la nature, & les Iiens qui nous y attachent ne

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La Placette den Patriotismus, der sich auf ein Land, eine Provinz, eine Stadt oder sogar auf ein Stadtviertel bezog, als eine der großen Eitelkeiten dieser Welt373. Ciceros Wort Patria est ubicunque est bene wurde so von den Refugü~s in dem Sinne verstanden, daß sie überall dort ihr Vaterland sahen, wo ihnen als höchstes Gut ihre Religion garantiert wurde. Aber ungeachtet dieser partikulären Gesichtspunkte, die sich schließlich nicht von den kosmopolitischen Nuancen ihrer katholischen Zeitgenossen in Frankreich, sondern nur von denen der späteren Aufklärer distanzierten, war ihre Anpassung und ihre Hingabe an die Illusionen der Gelehrtenrepublik unbestreitbar. Dadurch! daß sie die Fiktion eines "goldenen Mittelwegs", den Fortschrittsgedanken und pazifistisch-kosmopolitische Ideale akzeptierten, kehrten sie wesentlichen Traditionen ihrer Religionspartei den Rücken zu. Die Besten unter ihnen reihten sich dafür würdig in eine neue geistige Führungsschicht ein, die sich ähnlich wie einst die der Humanisten zu konstituieren begann374 • Über den religiösen und politischen Parteien stehend, außerhalb auch der in Pedanterie versinkenden Universitäten375, sollten jene Universalgelehrten der republique des lettres zu Vorboten einer Literatengeneration werden, die dann mit der Vielfalt der sachlichen Interessen ein überlegenes Gestaltungsvermögen zu verbinden wußte. Gelang somit den Refugies eine vollkommene Anpassung an den

goilt du siecle? Vermochten sie vom Exil aus eine Entwicklung zu korrigieren, die sie vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zur Revokation immer weiter vom geistigen Leben Frankreichs abgedrängt hatte? Freilich stand ihr Anteil an der französischen Geistesgeschichte we-

sont pas si forts qu'on ne les rompe sur l'esperance d'un gain considerable qu'on trouve dans une terre etrangere; l'exil ne nous paroit donc insuportable que quand il s'agit de la Religion ..." ... "on trouve jusques chez les Scytes des amitiez solides qui peuvent vous consoler. En sortant du lieu de vötre naissance vous entrez dans la maison de Dieu." 373 La Placette, Traite de l'orgueil, p. 44: "Voit-on par exemple personne qui ne soit jaloux de l'honneur de sa nation? Quel est le peuple qui n'ait cet entetement? Que chacun parcoure tous ceux qu'il connoit. Qu'il rappeile dans son esprit les observations qu'il en a faites. 11 m'avouera que non seulement il n'a point veu de peuple, mais qu'il n'a pas meme r emarque de particulier, qui ne se fist une affaire capitale d'elever sa nation sur toutes les autres . . ." m Dilthey, Gesammelte Schriften, t. 111. p. 15: "Sie bildeten eine neue Aristokratie und fühlten sich als solche ..." Aufschlußreich für diese Haltung war z. B. eine Bemerkung des Advokaten Marais, der Auskunft über die Ahnenreihe Bayles geben sollte: "11 est inutile de pousser la genealogie plus loin: les Heros des Lettres soutiennent noblesse par leur science, & le notre orne si fort ses ancestres, que son nom suffit pour les annoblir ..." (Marais an Desmaizeaux, 10. 2. 11, Brit. Mus. Add. MSS. 4285, fol. 70 B). 375 cf. die besondere Betonung dieses Gesichtspunktes bei Schalk, l. c.,

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nigstens zu Beginn des 18. Jahrhunderts außer Zweifel. Sie gelangten dahin, nicht nur von der Erudition in Frankreich Anregungen zu akzeptieren, sondern ihr auch solche zu vermitteln. Sie erhoben sich dabei von der Funktion, nur Aru;chauungsmaterial zu liefern, zu der von geschätzten Mitarbeitern und verschiedentlich sogar von maßgeblichen Wortführern. Aber ungeachtet dieser positiven Beiträge zur französischen Geistesentwicklung blieben genügend Hindernisse bestehen, welche die Bemühungen der Emigranten, sich dem intellektuellen Klima des damaligen Frankreich zu assimilieren, ständig beeinträchtigten: neben den zukunftweisenden Aspekten gab es im geistigen Schaffen der Refugit~s auch unverkennbare Schattenseiten. Die Exilierten konnten nicht einer gewissen Befangenheit entgehen. Trotz aller verbindlichen Worte, die aus Paris zu ihnen gelangten, verkannten sie nicht ihre fatale Situation: sie blieben - auch als sich im Innern Frankreichs die Kritik an der Politik Ludwigs XIV. regteeben immer noch jene Ausgestoßenen, jene Gestrandeten, deren Los e.s war, dauernd zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu schwanken. Die Reflexe dieser Einsicht spiegelten sich deutlich in ihrer geistigen Haltung. Mochten sich die R.efugies auch den Illusionen der internationalen Gelehrtenwelt hingeben, so wurden sie andererseits immer wieder durch die Misere des Exils und zugleich durch ihre persönliche Unzulänglichkeit ernüchtert. Die Tatsache der Verbannung verlieh ihren Erwartungen wie ihren Enttäuschungen eine außergewöhnliche Intensität: je stärker das Bestreben hervortrat, die Isolierung zu sprengen, desto deutlicher auch wurde das Dilemma, sie letzten Endes aus zwingenden äußeren Gründen doch nicht völlig überwinden zu können. Diese Diskrepanz ging zuweilen so weit, daß die positiven Seiten der Erudition des Refuge durch die negativen in Frage gestellt zu sein schienen. Erbitterte Gegensätze unter den Gelehrten, formale Mängel ihrer Arbeiten, Inkonsequenzen, Dissonanzen, die zweifellos auch in der Erudition in Frankreich anzutreffen waren, fielen im Refuge stärker ins Gewicht. Denn infolge ihrer Sonderstellung zogen die Emigranten die Blicke ihrer gelehrten Kollegen sowohl in Frankreich alß auch in ihren Gastländern auf sich: ihr Schicksal, unschuldige Opfer einer willkürlichen Politik zu sein, trug ihnen dabei .z weifellos ebenso viel Beachtung und Sympathie ein wie ihre geduldige Mitarbeit an den Aufgaben der Erudition. Vielleicht wäre von ihnen gerade in dieser exponierten Lage eine elinheitliche Linie oder gar eine Art von Korpsgeist zu erwarten gewesen, wenn nicht ihre intellektuelle Stärke und ihre positiven Beiträge zur Geistesentwicklung im wesentlichen auf einem fein differenzierten Individualismus beruht hätten. Vielleicht auch wäre ihre Argumentation frei von gehässigen Ausfällen, von übereilten Formulierungen geblieben, wenn nicht der Kampf um

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die nackte Existenz oft ihren Blick getrübt hätte. Die historische Realität aber zeigte so das traurige Schauspiel von Verlassenen, die sich gegenseitig aufrieben, von Gezeichneten, die ihr Mal nicht verwischen konnten, von Entwurzelten, die überall und nirgends heimisch waren. Die fruchtbaren Anregungen, welche von ihnen ausgingen, wurden vielfach von diesen Aspekten verdeckt: wenigstens in der späteren Kritik, beginnend schon bei Voltaire, beherrschten die negativen Seiten einfach das Blickfeld; denn es fiel leichter, den Exilierten den Prozeß zu machen, als ihre positiven Leistungen zu würdigen. In der Tat boten sich viele Indizien für eine abwertende Beurteilung an. Den Illusionen der Gelehrtenrepublik standen im Refuge unerbittliche Tatsachen gegenüber. Wo war in den Toleranzkontro·v ersen, in der Polemik zwischen Orthodoxen und Heterodoxen, in der philosophischen Diskussion und in der politischen Agitation jene Ausgeglichenheit zu bemerken, welche von den Theoretikern des juste milieu gefordert wurde? Welcher Gelehrte brachte es über sich, seine persönlichen Ansichten hinter die Regeln der honnetete zurückzustellen, statt sie mit leidenschaftlicher Hingabe durchzufechten? Die wohlmeinenden Ratschläge, keine persönlichen Angriffe zu führen, keine Exzesse der Kritik, keine Störung der rechten Balance zwischen Können und Wollen aufkommen zu lassen, wurden im alltäglichen Kleinkrieg allzu schnell vergessen. Die persönlichen und sachlichen Gegensätze waren stärker als die goldenen Lebensregeln. Die notorischen Rechthaber forderten nicht nur ihresgleichen, sondern allmählich auch die sanftmütigen und konzilianten Temperamente zu einer scharfen Tonart heraus; die Toleranten sahen sich genötigt, die Intoleranten mit allen erdenklichen Mitteln zur Vernunft zu bringen. Verleumdungen, Schikanen, Intrigen erstickten die Einsicht, daß sich im Grunde ja alle Streitenden nur um die Wahrheit bemühten und dafür Tage und Nächte, Gesundheit und Vermögen opferten, um schließlich recht mediokre Resultate hervorzubringen3 76 • Lohnte es sich, deswegen übereinander herzufallen? Vor allem die theologischen und philosophischen Kontroversen des Refuge boten ein chaotisches Bild. Jeder schien mit jedem zu streiten. Wohl schreckten die meisten Autoren davor zurück, für ihre Waffengänge die kirchlichen und politischen Instanzen in Anspruch zu nehmen. Es blieb in der Hauptsache Jurieu vorbehalten, 376 So schrieb z. B. Le Clerc hinsichtlich der Schwierigkeiten, welche die Übersetzung der Bibel verursachte (BC, t. XVI. p. 64): " ... il faut employer les jours & les nuits, pour avancer un peu, dans un chemin si raboteux & si difficile; & enfin epuiser son esprit & sa sante, pour faire, en bien du tems, quelque chose de mediocre. Apres tant de peines:, au lieu de trouver au moins de la reconnoissance dans les esprits de ceux, a qui les Ouvrages de cette espece peuvent etre le plus utiles; on n'y rencontre souvent que de l'envie & de la jalousie, qui produisent mille medisances & mille calomnies atroces .. ."

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seine Gegner bei den Behörden zu denunzieren, aber der Tenor der Streitschriften unterschied sich im allgemeinen kaum von der Vehemenz dieses Groß-Inquisitors. Das Schreckgespenst der Heterodoxie brachte fieberhafte Anklagen und Rechtfertigungen hervor und lähmte das gesunde Urteilsvermögen377 • Die Vielfalt der Streitobjekte verwischte die Fronten. Man wußte schließlich nicht mehr recht, wer gegen wen kämpfte. D'Artis griff Benoist an, weil dieser die Flucht der Pastoren rechtfertigte; beide aber sahen sich als orthodoxe Streiter der Phalanx der Rationalisten gegenüber. Naude bezichtigte Jaquelot der Verleumdung378, arbeitete jedoch mit ihm eifrig daran, Bayle als Feind der Religion hinzustellen. Jurieu jagte nacheinander die Papin, Aubert de Verse, Jaquelot, Saurin etc. vor sich her und erreichte, daß Bayle in Rotterdam aus dem Professorenamt entfernt wurde; aber er stand mit denselben Heterodoxen dann gegen Bayle und wurde schließlich von Bayle gegen die Heterodoxen reklamiert. Eitelkeit, Neid, Rachsucht verfinsterten oft die Argumentation. Niemand wollte seinem Widersacher das letzte Wort lassen. Selbst Bayle erwies sich als hartnäckiger Gegner: unter Zurückstellung der Arbeiten für sein Wörterbuch war er noch in seinen letzten Tagen damit beschäftigt, eine Widerlegung der Ansichten Jaquelots zu Papier zu bringen. Unerbittlich reagierte auch Le Clerc: er sah sich bald von Jurieu, bald von Bayle angegriffen und proklamierte das Recht, jede Attacke mit der gleichen Schärfe zurückzuweisen, mit der sie geführt wurde379 . Die alttestamentliche Maxime des Auge um Auge, Zahn um Zahn kam erneut zur Geltung. Le Clerc konnte vor allem nicht den Erfolg von Bayle.s Dictionnaire verwinden: noch zu Lebzeiten des Philosophen wollte er in aller Sachlichkeit einen Anti-Dictionnaire zusammenstellen380 ; nach dem Tode Bayles indessen suchte er sich in recht unsachlicher Weise an dessen Arbeiten schadlos zu halten und gegen dessen "Gift" ein 377 Typisch dafür war z. B. die Bemerkung des Schweizers Sebastian Hoggner, der Prosper Marehand (s. d. - 1714? - U. Bibl. Leiden, MS. March. 2) davon berichtete, daß einer öffentlichen Bibliothek ein Sammelwerk socinianischer Autoren gestiftet wurde: " ... le· Donateur est une Personne de distinction, le Don d'un prix asses considerable, mais la matiere trop contagieuse. Juges-en par la, s. v. p. que nos ministres non pas eu asses de rage de la toucher seulement avec le petit doigt. Peut-etre couchera-t-elle la in secula seculorum ..." 378 Naude an Leibniz, 5.. 5. 08, Bibl. Hannover MS. L. Br. 679, fol. 18 f. 379 Le Clerc, Parrhasiana .. ., t. II. p. 47: " ... on doit regarder un homme, qui se defend, dans une quereHe ou litteraire, ou theologique, avec le mcme reuil que ceux qui repoussent la guerre que l'on porte dans leur pais. Si l'ennerni n'observe pas les loix ordinaires de la guerre, comme s'il manque de parole a ceux qui se rendent a lui, s'il fait main basse sur tout ce qu'il rencontre, s'il met en feu tout ce dont il se rend maitre, l'attaque est contraint de faire la guerre de la meme maniere . . " '18icolas). - L'Honneste homme ou l'art de plaire d la court. (Hrsg. v. Maurice Magendie). Paris 1925. F asso (Luigi). - Avventurieri della penna del Seicento. Firenze 1923. Faure (Abel). - L'Individu et l'Esprit d'autorite du Moyen Age d la loi Falloux. Paris 1908. Felice (Guillaume-Adam de). - Histoire des protestants de France, depuis l'origine de la reformation jusqu'au temps present. Paris 1850. - Histoire des Synodes nationaux des Eglises reformees de France. Paris 1864. Felice (Paul de). - Les Protestants d'autrefois. Vie interieure des eglises. Mamrs et usages. Les Temples. Les Services religieux. Les Actes pastoraux. Paris 1896. Felice (Philippe de). - Foules en delire. Extases collectives. Paris 1947. Fenelon (Francois de Salignac de La Mothe). - Explication des maximes des saints sur la vie interieure ... Paris 1697. - Les Avantures de Telemaque ... (1699). Paris 1717. - Dialogues des morts anciens et modernes avec quelques fables ... (hrs·g . v. Marquis de Fenelon). 2 Bde., Paris 1718. - E:crits et lettres politiques ... (hrsg. v. Charles Urbain). Paris 1920. Fetizon (Daniel). - Apologie pour les Reformez, ou on voit la juste Idee

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