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German Pages 450 [452] Year 2014
Victoria Luise Gutsche Zwischen Abgrenzung und Annäherung
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 186
Victoria Luise Gutsche
Zwischen Abgrenzung und Annäherung Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17. Jahrhunderts
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
ISBN 978-3-11-035381-5 e-ISBN 978-3-11-035402-7 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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XI
Einleitung
1
2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus 6 2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus 6 2.2 Forschungsüberblick 15 2.3 Methodische Überlegungen 23 2.3.1 Abgrenzungen 23 2.3.1.1 Stoff- und Motivforschung 24 2.3.1.2 Zur Problematik des „Literarischen Antisemitismus“ 26 2.3.2 Übereinkünfte: Methodische und strategische Überlegungen 2.4 Textkorpus: Eingrenzung und Begründung 38
32
„Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie – Konstruktionen des Jüdischen in der Kompilationsliteratur des siebzehnten Jahrhunderts 42 3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken und schwankhaften Erzählungen 47 3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde 86 3.2.1 Exemplarische Sensationen 88 3.2.1.1 Das Auftreten des ‚Ewigen Juden‘ – Von einem Juden mit Namen Ahasveruß 89 3.2.1.2 Der „Fall Engelberger“ und seine Bearbeitungen 99 3.2.1.3 Die Ausweisung der Juden aus Wien 1670 122 3.2.2 Nachrichten über das Judentum: Konstruktionen des Jüdischen in Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae 129 3.2.3 Konversieren über Juden und Judentum 141 3.2.4 Exkurs: Wissen um den Aberglauben – Christoph Helwigs Übertragung des Maysebukhs 155 3
4 4.1 4.2
Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts 166 „Romanische Außzierungen/ und […] warhaffte Geschichten“: Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels 166 „Verworffenes Volk“ und „schändliche Mörder Christi“: Die Romane des Andreas Heinrich Bucholtz 187
VIII
4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5
Inhaltsverzeichnis
Eine „Schöne Jüdin“? Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin Oder Verliebte und Abgefallene Josebeth 207 Von „armen Schelmen“: Konstruktionen des Jüdischen bei Grimmelshausen 225 Konstruktionen des Jüdischen in den simplicianischen Schriften 226 Konversieren über Geld: Das Rathstübel Plutonis 234 Vom Aberglauben der Juden: Die „Esther-Episode“ im zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogel-Nests 245 Eine ‚positive Judenfigur‘? Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherifs Alekes Seltsame Liebes=Geschichte 259
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Von Mördern, Pfandleihern und der Erkenntnis von Schein und Sein: Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne 270 5.1 Zwischen Shylock und Barrabas: Christoph Blümels Der Jude von Venetien 271 5.2 „die juden solt man alle henckhen“: Das Endinger Judenspiel 294 5.3 Rabbiner und Pfandleiher: Andreas Gryphius Horribilicribrifax Teutsch 308 5.4 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne der Societas Jesu 319 5.4.1 Action von einem Judischen Knäblein 321 5.4.2 Nobilis Fidei Victima Proprio Sanguine Purpurata 329 5.4.3 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea 336 5.4.4 Der heilige Udalricus 345 348 5.4.5 Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno 5.4.6 Ergebnisse 350 5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper 351 5.5.1 Die komische Figur in der Hamburger Barockoper 356 5.5.2 Komische Judenfiguren in den Hamburger Lokalsingspielen 361 5.5.2.1 Le Bon Vivant, Oder die Leipziger Messe 363 5.5.2.2 Der Hamburger Jahr-Marckt 368 5.5.2.3 Die Hamburger Schlacht-Zeit 373 5.5.3 Ergebnisse 378 6
Zusammenfassung
383
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis Zur Textgestaltung Namensregister
390 435 436
IX
Vorwort Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation, die 2011 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Für die Drucklegung wurde die bis Ende 2012 erschienene einschlägige Literatur eingearbeitet. Die Arbeit hätte ohne die vielfältige Unterstützung einer Reihe von Personen und Institutionen nicht entstehen können. Bei Ihnen möchte ich mich bedanken. Mein aufrichtiger Dank gilt zunächst Prof. Dr. Dirk Niefanger, der die Arbeit nicht nur anregte, sondern auch über die ganze Zeit mit viel Aufgeschlossenheit für immer neue Funde, Hinweisen, Anregungen und konstruktiver Kritik begleitete. Mein Dank gilt ebenso Prof. Dr. Gunnar Och für seine rege Anteilnahme, die Bereitschaft, die Arbeit als Zweitgutachter zu beurteilen, und die stets wohlwollenden Begutachtungen meiner frühen Exposés sowie Prof. Dr. Birgit Emich, die als dritte Gutachterin an der Disputation mitwirkte. Bedanken möchte ich mich auch bei den Teilnehmern der zahlreichen Erlanger Forschungskolloquien für die vielen Impulse, wichtigen Anregungen und konstruktiven Gespräche. Für die kritische Lektüre und freundliche Aufnahme in die Reihe Frühe Neuzeit bin ich sowohl den Herausgebern Friedrich Vollhardt und Wilhelm Kühlmann als auch dem Walter de Gruyter Verlag zu Dank verpflichtet. Für die Auszeichnung der Arbeit mit dem Lilli-Bechmann-Rahn-Preis 2014 danke ich der Philosophischen Fakultät und dem Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Besonderer Dank gilt dem Evangelischen Studienwerk e.V. Villigst, das durch seine großzügige finanzielle Unterstützung die Entstehung der Arbeit erst ermöglichte. Mein Dank gilt auch der Dr. Günther Findel-Stiftung, die es mir möglich machte, im Rahmen eines dreimonatigen Forschungsaufenthaltes an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel intensive Quellenrecherchen vorzunehmen. Daneben gilt mein Dank den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Herzog August Bibliothek, der Erlanger Universitätsbibliothek sowie der Universitätsund Forschungsbibliothek Erfurt/ Gotha. Tiefen Dank schulde ich meinen Eltern Sibylle Seebach-Gutsche und Thomas Gutsche, die mir meine akademische Ausbildung erst ermöglichten, mich immer unterstützten und bestärkten, sowie Claudia, Cornelia und Lars für immerwährenden Zuspruch. Für zahlreiche Anregungen, freundschaftliche Unterstützung in allen Phasen und nicht zuletzt viele Korrekturen geht mein herzlicher Dank an Simone und Ernst. Bamberg, Januar 2014
Victoria Gutsche
1 Einleitung Antisemitismus war und ist ein Exempel für die Macht des geschriebenen Wortes, die Möglichkeiten rhetorischer Manipulationen, für die Zählebigkeit von Lügen, so sie einmal zu Papier gebracht wurden. Denn nicht die Handlung, nicht eine Tat begründet die offensichtliche Geschichtsmächtigkeit judenfeindlicher Einstellungen. Am Anfang stand das Wort.1
Dieses Diktum des Historikers Günther B. Ginzel aufnehmend, steht in dieser Arbeit „das Wort“ im Mittelpunkt, entspringt jenes „Gerücht von den Juden“2 doch immer aus dem – wenn auch verhohlen – Gesagten, aus dem Niedergeschriebenen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Im Jahr 1642 erschien die Schrift Triumph Cron, Marter Und Grabschrifft deß Heilig-Unschuldigen Kindts Andreae von Rinn des Haller Stiftsarztes Hippolyt Guarinonius,3 in der der angebliche ‚jüdische Ritualmord‘4 an dem Jungen Andreas Oxner geschildert wurde. Guarinonius war daran gelegen, einen Märtyrer- und Heiligenkult nach dem Vorbild des Simon von Trient zu implementieren, doch da vorher niemand etwas von diesem ‚Mord‘ gehört hatte, – Guarinonius hatte ihn schlicht erfunden5 – bedurfte es weiterer Anstrengungen, die „Marter“ des Kindes bekannt zu machen. Bereits 1621 wurde von den Jesuiten in Hall – wohl mit Einfluss Guarinonius – Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea6 aufgeführt und es folgte ein Volksspiel, welches sich zahlreicher Aufführungen vermutlich bis
1 Günther B. Ginzel: Über Antisemiten und Antisemitismus in Deutschland oder: Trotz und alledem – es ist eine Lust, Jude zu sein. In: Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute. Hg. von Günther B. Ginzel. Köln 1991, S. 15–32, Zitat S. 16. 2 Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1997, S. 125. 3 Hippolytus Guarinonius: Triumph Cron Marter Vnd Grabschrifft deß Heilig= Unschuldigen Kindts, Andreae Von Rinn […]. Innsbruck 1642. 4 Da in der vorliegenden Studie stigmatisierende und diffamierende Formulierungen nicht vermieden werden können, werden zugewiesene Stereotype, abwertende Schlagwörter und undifferenzierte Redewendungen über Juden und Judentum im Folgenden in einfache Anführungszeichen gesetzt. So soll nicht nur eine Distanzierung von simplifizierenden Redeweisen über ‚den Juden‘ erreicht werden, sondern auch auf das Diskriminierungspotential der Sprache aufmerksam gemacht werden. 5 Dies ist inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen. Vgl. Georg R. Schroubek: Zur Frage der Historizität des Andreas von Rinn. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 19 (1985), S. 3766–3774 sowie Ders.: Zur Verehrungsgeschichte des Anderl von Rinn. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 20 (1986), S. 3845–3855. 6 Abdruck in: Stefan Tilg: Die Popularisierung einer Ritualmordlegende im Anderl-von-RinnDrama der Haller Jesuiten (1621). In: Daphnis 33 (2004), S. 623–640.
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Einleitung
1893 erfreute.7 Die Legende um Andreas von Rinn verfestigte sich: Es erschienen immer mehr Schriften zu dem Fall,8 Volksschauspiele wurden veranstaltet, eine Kirche wurde über dem angeblichen „Marterstein“ erbaut und bald gab es keinen Zweifel mehr, dass Juden hier tatsächlich einen ‚Ritualmord‘ verübt hätten. Getragen von unterschiedlichen Medien – Orten,9 Texten, Bildern, dramaturgischen Darstellungen, Namen, Geschichten, Ritualen, Bräuchen und liturgischen Formen – und sozialen Systemen – Gemeinden, Vereinen, Familien, Schulen, Kirchen etc. – etablierte sich seit dem siebzehnten Jahrhundert ein Kult um „Anderl von Rinn“, der Jahrhunderte überdauerte und bis in die neueste Zeit reicht.10 Bereits im neunzehnten Jahrhundert gab es zwar kritische Stimmen, die
7 Geistliche Comdia [sic!] Von dem Heiligen Vnschuldigen Cnaben Andreas von Rin [sic!] […]. [o.O.] 1699. Vgl. dazu Ellen Hastaba: Vom Lied zum Spiel. Das Anderl-von-Rinn-Lied des Hippolyt Guarinoni als Vorlage für Anderl-von-Rinn-Spiele. In: Literatur und Sprachkultur in Tirol. Hg. von Johann Holzner, Oskar Putzer, Max Siller. Innsbruck 1997 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 55), S. 273–288; Dies.: Komische Szenen in geistlichen Tiroler Spielen des 17. Jahrhunderts, aufgezeigt am Beispiel der „Comedia Barbara“, Fließ 1644. In: Fastnachtspiel – Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten – Gegensätze. Hg. von Max Siller. Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290), S. 75–101; Ekkehard Schönwiese: Das Volksschauspiel im nördlichen Tirol. Renaissance und Barock. Wien 1975 (Theatergeschichte Österreichs, Band II: Tirol, Heft 3) sowie Anton Dörrer: Guarinoni als Volksschriftsteller. In: Hippolytus Guarinonius (1571–1654). Zur 300. Wiederkehr seines Todestages. Zusammengestellt von Anton Dörrer u.a. Innsbruck 1954 (Schlern-Schriften 126), S. 137–185. 8 Vgl. die Aufstellung bei Schroubek: Zur Verehrungsgeschichte (wie Anm. 5), S. 3845–3850. 9 Am Ort des angeblichen ‚jüdischen Ritualmords‘, dem heutigen Dorf Judenstein, wurde die Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung errichtet. 10 So übernimmt Karl Paulin noch 1984 die Legende kritiklos in sein Kompendium Die schönsten Tiroler Sagen. Innsbruck 1984, S. 24f. Auch der 1999 wegen Volksverhetzung verurteilte Kaplan Gottfried Melzer beharrt in seinen antisemitischen Pamphleten auf einem ‚jüdischen Ritualmord‘. Vgl. Gottfried Melzer: Der selige Andreas von Rinn als Helfer und Wundertäter. Durach 1991 sowie Ders.: Das selige Kind Andreas von Rinn. Ein wahrer Märtyrer der katholischen Kirche. Durach 1993. Zur Verehrungsgeschichte des Andreas von Rinn und die Debatten um die Abschaffung des Kultes vgl. Bernhard Fresacher: Anderl von Rinn. Ritualmordkult und Neuorientierung in Judenstein 1945–1995. Innsbruck, Wien 1998; Michael Langer: „Blutbegier’ge Judenhunde streichen durch dies fromme Land …“ Ritualmordwahn und Tiroler Volksfrömmigkeit. In: Judenstein. Das Ende einer Legende. Dokumentation. Hg. von der Diözese Innsbruck. Innsbruck 1995, S. 31–62; Ders.: Zwischen Vorurteil und Aggression. Zum Judenbild in der katholischen Volksbildung des 19. Jahrhunderts. Freiburg u.a. 1994 (Lernprozeß Christen Juden 9), S. 249–287 sowie Schroubek: Zur Verehrungsgeschichte (wie Anm. 5). Eine analytische Chronik der viel beachteten öffentlichen Diskussion während der endgültigen Sistierung 1985 bieten Rainer Erb, Albert Lichtblau: „Es hat nie einen jüdischen Ritualmord gegeben“. Konflikte um die Abschaffung der Verehrung des Andreas von Rinn. In: Zeitgeschichte 17 (1989), S. 127–162. Vgl. weiter auch Klaus Brandstätter: Antijüdische Ritualmordvorwürfe in Trient und Tirol. Neuere Forschungen zu Simon von Trient
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eine Abschaffung des Kultes forderten, doch erst 1985 kam es durch erhebliche Anstrengungen – vor allem von Seiten des Bischofs Reinhold Stecher – zu einer Neuordnung und 1989 zur Neueinweihung der Judensteinkirche. Dennoch finden bis heute inoffizielle Wallfahrten zum angeblichen Geburtshaus des Kindes statt. Dieses Beispiel möge genügen, um zu illustrieren, welche Wirkmächtigkeit Literatur entfalten kann: Andreas Oxner, „Anderl von Rinn“, wurde von einer fiktionalen Figur zu einer quasi-realen und dokumentiert damit die „Macht des geschriebenen Wortes“. Dieser „Macht“ will sich die vorliegende Arbeit widmen und die Mechanismen der Konstruktion von Juden und Judentum im siebzehnten Jahrhundert untersuchen. Es soll in dieser literatur- und kulturgeschichtlich angelegten Studie jedoch nicht darum gehen, einzelne Legenden von z.B. ‚Ritualmorden‘ oder Stereotype ‚des Juden‘ durch die Jahrhunderte zu verfolgen und auf ihren realitätsgeschichtlichen Gehalt hin zu überprüfen: Vielmehr gilt es zu analysieren, wie und wo sich das Reden und die Redeweisen ‚vom Juden‘ und Judentum konstituieren, sodass sie eine weitreichende Wirkmächtigkeit entfalten können.11
und Andreas von Rinn. In: Historisches Jahrbuch 125 (2005), S. 495–536 sowie Bettina Brühl: Andreas von Rinn. Zur Tradierung einer Ritualmord-Legende in Bayerisch-Schwaben. In: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben III: Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit. Hg. von Peter Fassl. Augsburg 2007, S. 69–93. 11 Da in dieser Arbeit wiederholt der Begriff „Stereotyp“ genutzt wird, sei er im Folgenden kurz erläutert. Der aus den Sozialwissenschaften stammende Begriff „Stereotyp“ bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch vereinfachte, schablonenhafte Vorstellungen von Menschen, die sich weniger auf eigene Erfahrungen gründen, als dass sie mit Wertungen durchsetztes, geronnenes Erfahrungswissen innerhalb kultureller Gemeinschaften transportieren und der Komplexitätsreduktion dienen (Mirosława Czarnecka, Thomas Borgstedt, Tomasz Jabłecki: Vorwort. In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław 8. bis 11. Oktober 2008. Hg. von Mirosława Czarnecka, Thomas Borgstedt, Thomas Jacobłecki. Bern u.a. 2010 [Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte 99], S. 9–11, hier S. 9). Damit kann als „Stereotyp“ jedoch nur das bezeichnet werden, was irgendeine Genese aus der realen Lebenswelt aufweisen kann (so Stefanie Arend: Herrscherallegorien: Überlegungen zur Anwendbarkeit des Begriffs ‚Stereotyp‘ in der Emblematik. In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław. 8. bis 11. Oktober 2008. Hg. von Mirosława Czarnecka, Thomas Borgstedt, Thomas Jacobłecki. Bern u.a. 2010 [Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 99], S. 153– 168, hier S. 154.), womit freilich nichts über den tatsächlichen Wahrheitsgehalt des Stereotyps ausgesagt ist, auch wenn Stereotypen für ‚wahr‘ gehalten werden müssen, um zu funktionieren. Zu unterscheiden ist weiterhin der Begriff „Stereotyp“ von „Vorurteil“ und „Klischee“: Überwiegend wird „im Begriff des Stereotyps […] auf kognitive Prozesse der Unterscheidung und Verallgemeinerung, im Begriff des Vorurteils […] auf affektive Prozesse der Abwertung Bezug genommen“ (Bernd Schäfer: Entwicklungslinien der Stereotypen- und Vorurteilsforschung. In:
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Dementsprechend wird auch, nach einer Begriffsklärung, zunächst in kritischer Auseinandersetzung das dieser Arbeit zugrunde liegende methodische Konzept vorgestellt, gilt es doch, sowohl die zahlreichen polemischen Stellen wie auch konkurrierende Sinnentwürfe in literarischen Texten aufzuzeigen und in ihrem Kontext zu analysieren, ohne dass antisemitische bzw. antijüdische Stereotype weitertradiert und erneut zu einem Steinbruch des Judenhasses werden. Betrachtet werden vornehmlich fiktionale Texte des siebzehnten Jahrhunderts, findet sich doch gerade in jener Epoche neben dem Überleben älterer Denk- und Ordnungsmuster eine deutliche Neuorientierung in fast allen Lebensbereichen, was wiederum Auswirkungen auf die Darstellung des Jüdischen hat. So werden alte Erzählweisen übernommen und weitertradiert, aber auch dekonstruiert, neue Freiräume ausgelotet und getestet – es findet sich mithin eine Vielzahl von Möglichkeiten von, über und mit Juden zu schreiben. Dementsprechend werden in dieser Untersuchung neben kanonischen Texten, wie etwa Grimmelshausens „Esther-Episode“ im Wunderbarlichen Vogel-Nest II, auch ‚vergessene‘ Dokumente, wie unterschiedlichste Erzählsammlungen oder der Roman Der Georgianischen Kemiski Und ihres Gemahls Cherifs Alekes Seltsame Liebes=Geschichte berücksichtigt. Zudem wird ein möglichst breites Spektrum von Textgattungen und -sorten einbezogen. Das verbindende Element ist hier nicht nur die grundsätzliche Fragestellung, wie das Jüdische in den Texten konstruiert wird, sondern vielmehr der Versuch zu ermitteln, wo und inwiefern – gerade im stark rhetorisch geprägten siebzehnten Jahrhundert – Lizenzen auszumachen sind, die Verhandlungen des Jüdischen möglich machen. Es stellt sich also die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, Juden und Judentum zur Darstellung zu bringen. Die untersuchte Gattungsvielfalt bedingt sich durch den Versuch, ein möglichst breites Spektrum zu erfassen, wie auch Differenzen, Gemeinsamkeiten und Interdependenzen zwischen den einzelnen Gattungen in Bezug auf die Fragestellung aufzuzeigen. Die folgenden Ausführungen sollen dazu beitragen, die Texte sowohl in ihrem historischen Kontext zu verstehen als auch ihre gefährliche Wirkungs-
Vorurteile und Einstellungen. Sozialpsychologische Beiträge zum Problem sozialer Orientierung. Festschrift für Reinhold Bergler. Hg. von Bernd Schäfer, Franz Petermann. Köln 1988, S. 11–65, Zitat S. 51). Auf den Begriff des „Klischees“ soll in dieser Arbeit gänzlich verzichtet werden, da der Begriff in nicht-wissenschaftlicher Rede meist dem des „Stereotyp“ gleichgesetzt wird und auf alle Erscheinungsformen von oft wiederholten Äußerungen bezogen wird. Vgl. weiter einführend zur literaturwissenschaftlichen Stereotypenforschung Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, Frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart 2001, S. 1–16 und die dortigen Literaturhinweise. Zur Anwendbarkeit des Begriffs „Stereotyp“ auf frühneuzeitliche Texte vgl. weiter die Beiträge des Sammelbandes Frühneuzeitliche Stereotype.
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geschichte aufzuzeigen, denn gerade nach der Schoah gilt es, dem jüdischchristlichen Verhältnis und seiner Geschichte besonders sensibel nachzuforschen und so bereits lange vor dem Nationalsozialismus bestehende Vorurteilsstrukturen und Denkmuster aufzuzeigen, die bis in die heutige Zeit wirken.
2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus 2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus Eine Beschäftigung mit Konstruktionen des Jüdischen in der deutschsprachigen Literatur des Barock und damit zwangsläufig auch mit verschiedenen Formen der Judenfeindschaft erfolgt heute immer vor dem Horizont der Schoah, sodass man – beispielsweise mit Blick auf Luthers antijüdische Pamphlete, in denen mit einer aus heutiger Sicht rassistisch anmutenden Wortwahl operiert wird – leicht der Versuchung erliegen mag, eine kontinuierliche Judenfeindschaft zu konstatieren, die letztlich in den Mord an über sechs Millionen Juden gipfelte. Damit wird jedoch das Problem der Rückprojektion, nach Bernstein des „backshadowing“,1 virulent, wenn man „die Beziehungen der Juden zu anderen Völkern auf eine reine Verfolgungsgeschichte“2 reduziert. Insofern sind stets die kultur- und geistesgeschichtlichen Fundamente freizulegen, auf deren Basis sich eine dezidiert antisemitische „Judenpolitik“ entwickeln konnte. Dabei wird zum einen deutlich, dass sich der moderne, rassisch motivierte Antisemitismus auf eine lange Tradition gründet, zum anderen, dass keineswegs – davon zeugt die Vielzahl der Forschungsliteratur mit zum Teil sehr disparaten Erklärungsansätzen für die Entstehung des modernen Antisemitismus – von einer sich kontinuierlich steigernden Judenfeindschaft ausgegangen werden kann, lassen sich doch neben Zeiten härtester Repression und Verfolgung auch friedvollere Phasen der Toleranz oder zumindest Duldung finden. Dementsprechend wird in der historischen Antisemitismusforschung meist festgestellt, dass keine eindeutige Entwicklungslinie vom religiös motivierten Antijudaismus hin zum modernen, rassischen Antisemitismus gezogen werden kann.3 Dennoch soll im Folgenden ein kurzer Aufriss der
1 Bernstein definiert “backshadowing” als „a kind of retroactive foreshadowing in which the shared knowledge of the outcome of a series of events […] is used to judge the participants in those events as though they too should have known what was to come.” Michael André Bernstein: Foregone Conclusions: Against Apocalyptic History. Berkeley 1994, S. 16 [Hervorhebung im Original]. 2 Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. München 2004, S. 7. 3 Es sei jedoch mit Strauß und Kampe darauf verwiesen, dass religiöse Judenfeindschaft ein Bestandteil der christlich-abendländischen Kultur darstellt und somit auch des säkularen modernen Antisemitismus. Religiös motivierte Judenfeindschaft ist somit als eine kulturell vermittelte Vorstellung zu verstehen, die zwar immer latent vorhanden ist, jedoch nicht zwangsläufig zur Schoah führen musste (Herbert A. Strauss, Norbert Kampe: Einleitung. In: Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zum Holocaust. Hg. von Herbert A. Strauss, Norbert Kampe. Bonn 1984 [Schriftenreihe für politische Bildung 213], S. 9–28, hier S. 15). Vielmehr ist davon auszugehen,
2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus
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verschiedenen Begriffskonzeptionen4 gegeben werden, zum einen, um gerade Brüche und Kontinuitäten deutlich zu machen und zum anderen, um eine tragfähige Begriffsabgrenzung vorzunehmen, changieren doch die Bezeichnungen für Ressentiments gegenüber Juden in der Frühen Neuzeit zwischen Judenfeindschaft, religiösem Antijudaismus, Frühantisemitismus, Proto-Rassismus und Antisemitismus. Zu beachten ist jedoch, dass damit nicht die Vorannahme verbunden ist, dass die hier untersuchten Texte zwangsläufig eine judenfeindliche Einstellung transportieren und perpetuieren, die Untersuchung beschränkt sich gerade nicht auf den bloßen Nachweis judenfeindlicher Tendenzen, vielmehr sollen auch konkurrierende Deutungsmuster in den Blick genommen werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich gemeinhin die Unterscheidung von Antijudaismus und Antisemitismus eingebürgert. Antijudaismus wird zumeist als Begriff gewählt, um vormoderne Formen der Judenfeindschaft vom rassistischen und eliminatorischen Antisemitismus zu unterscheiden, wie er im neunzehnten Jahrhundert ausgebildet wurde und im nationalsozialistischen Antisemitismus kulminierte. Über diese generelle Unterscheidung hinaus – die im Übrigen nicht unwidersprochen geblieben ist – gibt es Versuche, insbesondere den Begriff Antisemitismus durch Attribute wie „rassisch“, „vormodern“ oder „religiös“ genauer zu fassen.5
dass neben der religiösen Judenfeindschaft auch andere Elemente, wie etwa politische Feindschaft, wirtschaftliche Konkurrenz oder rassistische Deutungsmomente, zur Entstehung des modernen Antisemitismus beigetragen haben. Vgl. einleitend zu verschiedenen Erklärungsansätzen zur Entstehung des Antisemitismus weiter ebd., S. 15–28. 4 Auf den Begriff des „Philosemitismus“, der sich begriffshistorisch und logisch notwendig auf den Begriff des Antisemitismus bezieht, soll hier nicht näher eingegangen werden, da bis heute ein analytischer Philosemitismusbegriff fehlt, der methodisch und begrifflich reflektiert wäre. So konstatieren Rensmann und Faber, dass Philosemitismus als „politik- und sozialwissenschaftliche Kategorie heute nicht mehr ungeprüft tauglich [sei]. Sie ist vielmehr mitunter eine problematische und normativ überfrachtete Begriffsfigur, deren wissenschaftliche Operationalisierbarkeit selbst in Frage steht.“ Lars Rensmann, Klaus Faber: Philosemitismus und Antisemitismus: Reflexionen zu einem ungleichen Begriffspaar. In: Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Hg. von Irene A. Diekmann, Elke-Vera Kotowski. Berlin 2009, S. 73–91, Zitat S. 73. Einen Überblick über Begriffs- und Verwendungsgeschichte bietet weiter der Betrag von Wolfram Kinzig: Philosemitismus – Was ist das? Eine kritische Begriffsanalyse. In: Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps. Hg. von Irene A. Diekmann, Elke-Vera Kotowski. Berlin 2009, S. 25–60. 5 Vgl. beispielhaft Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus in der deutschen Geschichte. Opladen 2002, S. 11–13, der sieben Formen des Antisemitismus unterscheidet: religiöser, politischer, kultureller, rassistischer, neuer und antizionistischer Antisemitismus.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
Solche Unterscheidungen bezeugen nicht nur den Versuch, begriffliche Klarheit zu erreichen, sondern auch, dass darüber hinaus Unklarheit über die Begriffe Antijudaismus/Antisemitismus insgesamt besteht. So lässt sich die erwähnte Unterscheidung zwar im allgemeinen Sprachgebrauch nachweisen, in der wissenschaftlichen Forschung besteht jedoch nach wie vor eine Kontroverse um die Termini. Im Folgenden sei deshalb kurz auf die beiden grundsätzlichen Begriffsauffassungen eingegangen, um im Anschluss die hier verwendeten Begriffe zu klären. Dabei wird jedoch nicht angestrebt, alle Begriffskonzeptionen zu referieren, vielmehr beschränkt sich die Zusammenschau unter Rückgriff auf Johannes Heil auf einige wenige Positionen, nämlich solche, die für den Begriff des Antisemitismus basal sind und in der gegenwärtigen Diskussion dominieren.6 Grundsätzlich lassen sich zwei wesentliche Begriffskonzeptionen ausmachen: 1) „Arbeiten, die weite historische Linien im Blick haben und Judenfeindschaft mit Antisemitismus gleichsetzen“, und 2) „Arbeiten, die eine Wandlung der Inhalte und Zielsetzungen von Judenfeindschaft annehmen und diese – bei unterschiedlicher Terminierung der Wandlungsmomente – auch durch begriffliche Differenzierung kenntlich machen.“7 Die zur ersten Position gehörenden Studien gehen meist davon aus, dass Judenfeindschaft und damit Antisemitismus als Konstante in der historischen Entwicklung des christlichen Europas zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Ausprägungen aufgetreten sei und sich auch durch das Hinzukommen rassistisch begründeter Zielsetzungen, wie der physischen Eliminierung der Juden und des Judentums, qualitativ nicht geändert habe.8 Arbeiten dieser Position folgen meist – mehr oder weniger explizit – der folgenden Begriffskonzeption von Pfahl-Traughber: 6 Die folgende Zusammenschau der Begriffskonzeptionen orientiert sich wesentlich an Johannes Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Begriffe als Bedeutungsträger. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 6 (1997), S. 92–114, der diese aufgearbeitet hat. 7 Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 94. Heil führt darüber hinaus noch Arbeiten an, die gänzlich auf eine Begriffsdiskussion verzichten. Vgl. zur Unterscheidung in vormodernen Antijudaismus und modernen Antisemitismus auch Rainer Walz: Der vormoderne Antisemitismus: Religiöser Fanatismus oder Rassenwahn?. In: Historische Zeitschrift 260 (1995), S. 719–748 sowie Ekkehard W. Stegemann: Von der Schwierigkeit sich zu unterscheiden. Zum Umgang mit der Judenfeindschaft in der Theologie. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann, Mona Körte. Berlin 2004, S. 47–66. 8 Vgl. beispielhaft folgende Studien, die bereits von einem antiken Antisemitismus ausgehen bzw. den Begriff für alle Formen der Judenfeindschaft verwenden: Helmut Castritius: Die Haltung Roms gegenüber den Juden in der ausgehenden Republik und der Prinzipalszeit. In: Judentum und Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Klein, Volker Losemann, Gunther Mai. Düsseldorf 1984; Rosemary Ruether: Nächstenliebe und Brudermord. Die christlichen Wurzeln des Antisemitismus. München 1978; Schmuel Almog (Hg.): Antisemitism through the Ages. Oxford 1980; John G. Gager: The Origins of Anti-Semitism. Attitudes toward Judaism in
2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus
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Antisemitismus soll hier verstanden werden als Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zugehörigkeit in diffamierender und diskriminierender Weise negative Eigenschaften unterstellen, um damit eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder gar Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen. Derartige Praktiken können aus unterschiedlichen inhaltlichen Begründungen abgeleitet werden. Ihnen allen ist das pauschalisierende und stereotype Negativ-Bild von ‚dem Juden‘ oder ‚den Juden‘ eigen und handlungsleitend.9
Da diese Arbeiten den Begriff Antisemitismus nicht näher differenzieren, ist es ihnen möglich, ihn auch auf die Antike bzw. das frühe Mittelalter zu übertragen. Heil hat jedoch deutlich gemacht, dass der Verzicht auf eine zeitliche Differenzierung keineswegs dazu beiträgt, das Phänomen zu konturieren, vielmehr werden Kontinuitäten – etwa die Persistenz judenfeindlicher Vorwürfe wie das Stereotyp vom Juden als Wucherer – und Brüche – wie das Hinzukommen rassistischer Argumentationen – verwischt.10 Auch die Ergänzung des Begriffes um explizierende Attribute, wie sie z.B. Pfahl-Traughber vorschlägt, hilft nicht weiter, werden doch so durch die Begrifflichkeit miteinander eng verknüpfte Erscheinungsformen der Judenfeindschaft voneinander separiert. Insofern ist die Gefahr groß, Interdependenzen zu vernachlässigen und Einzelphänomene unabhängig voneinander zu betrachten. Antisemitismus in zeitlicher Abfolge vom Antijudaismus zu trennen, ist die meist verfolgte Sichtweise. Ausgangspunkt einer solchen Argumentation ist zum einen, dass der Begriff Antisemitismus erst im neunzehnten Jahrhundert als Selbstbezeichnung der Träger dieser Form von Judenfeindschaft aufkam,11 zum anderen, dass die Judenfeindschaft im neunzehnten Jahrhundert in vielerlei Hin-
Pagan and Christian Antiquity. New York, Oxford 1983; Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band 1: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen. Worms 1979; Peter Schäfer: Judenhaß und Judenfurcht. Die Entstehung des Antisemitismus in der Antike. Berlin 2010, insb. S. 20f. sowie Hubert Cancik: Der antike Antisemitismus und seine Rezeption. In: Das ‚bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Hg. von Christina von Braun, Eva Maria Ziege. Würzburg 2004, S. 63–79. Zu den Studien von Ruether, Almog und Gager vgl. weiter auch Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 96f. 9 Pfahl-Traughber (wie Anm. 5), S. 9. 10 So Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 104. 11 „Die Entstehung des Begriffs ‚Antisemitismus‘ ist erstaunlich genau zu datieren. Er ist, so weit bisher bekannt, zuerst im Herbst 1879 in Berlin in Umlauf gebracht worden. Die in der einschlägigen Literatur häufig anzutreffende Behauptung, der damals populäre antisemitische Publizist Wilhelm Marr habe den Begriff ‚Antisemitismus‘ geprägt, hat sich allerdings nicht belegen lassen. Es ist aber unbestritten, dass sich der Begriff von Berlin aus verbreitete, binnen Jahresfrist im deutschen Sprachgebiet allgemein geläufig war und ohne größere Verzögerungen auch in andere europäische Sprachen übernommen wurde.“ Reinhard Rürup: Antisemitismus und moderne Gesellschaft. Antijüdisches Denken und antijüdische Agitation im 19. und frühen
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
sicht eine neue Ausprägung erfuhr.12 Vertreten wird diese Position z.B. von Rürup13 oder Oberman,14 die eine klare Differenz zwischen dem rassistisch begründeten Antisemitismus des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts und dem religiös motivierten Antijudaismus des Mittelalters und der Frühen Neuzeit feststellen: So sei der Antisemitismus Produkt der Moderne, sei doch der zugrundeliegende aggressive Ausschließlichkeitsanspruch, der den Juden unabänderliche ‚Wesensmerkmale‘ zuschreibt und in die Verweigerung der Daseinsberechtigung der Juden gipfelte, nicht Bestandteil des theologisch begründeten Antijudaismus gewesen.15 Angesichts einer solch scharfen Trennung von Antisemitismus und früheren Formen der Judenfeindschaft, insbesondere dem theologisch fundierten Antijudaismus, dürfen die deutlich erkennbaren Kontinuitäten jedoch nicht verwischt werden: „Religiöser Antijudaismus war und ist immer auch politisch, sozial und kulturell vermittelt, und politischer und sozialer Antisemitismus hat religiöse Dimensionen.“16 Die Gefahr, Spezifika zu übergehen, besteht also durchaus. Zudem mag man im Wissen um die Folgen eines staatlich gesteuerten Antisemitismus der Versuchung der Rückprojektion erliegen und so eine ungebrochene Kontinuität in der Entwicklung vom christlichen Judenhass zum modernen Antisemitismus – von der man so nicht sprechen kann – annehmen. Auf der anderen Seite erscheint der Begriff Antijudaismus auch geeignet, ‚vormoderne‘ Judenfeindschaft – im Gegensatz zum Begriff Antisemitismus – als ‚rein religiös‘ zu verharmlosen.
20. Jahrhundert. In: Das ‚bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Hg. von Christina von Braun, Eva Maria Ziege. Würzburg 2004, S. 81–100, Zitat S. 81. 12 So auch Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 99. 13 Vgl. Rürup (wie Anm. 11). 14 Vgl. Heiko A. Oberman: Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation. Berlin 1981. 15 Dementsprechend betont auch Rürup den Wandel von konkreten Anfeindungen der Juden im Zeitalter der Emanzipation zu einem programmatischen Deutungsmuster. Rürup (wie Anm. 11) sowie Ders.: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1987, insb. S. 109–119. Bein fasst die Entstehung des modernen Antisemitismus als Abschluss einer jahrhundertelangen Entwicklung. Schon der Umstand eines neuen, wenn auch nicht unumstrittenen Begriffes, zeige diesen Wandel an. Vgl. Alex Bein: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems. Band I. Stuttgart 1980, S. 217. Auch Volkovs Argumentation zielt in diese Richtung: So wurden die Angriffe auf einen weiteren Kontext gegründet und in abstrakterer Form fortgesetzt, „[…] indem er [Marr; Anm. V.G.] einen neuen Namen für ein altes Phänomenen vorschlug; aber damit schuf er in Wirklichkeit ein neues Phänomenen“. Shulamit Volkov: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990, S. 27. 16 Stegemann (wie Anm. 7), S. 49.
2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus
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Eine Unterscheidung in Antisemitismus und Antijudaismus erscheint dennoch sinnvoll und soll auch in dieser Arbeit getroffen werden, denn Antijudaismus bezeichnet zusammenfassend den gesamten Bereich der christlich-religiös begründeten Aversion gegen Juden und Judentum in all ihren Erscheinungsformen (diese können von der judenfeindlichen Predigt bis zum Pogrom reichen). Ein wesentlicher Zug dieser Vorstellung ist allerdings, dass es nicht zu einer rassistischen Begründung kommt, sondern davon ausgegangen wird, dass die Aufgabe des jüdischen Glaubens und die Annahme der Taufe den Juden zu einem homo novus machen.17 Über die angeführten Schwierigkeiten bezüglich der inhaltlichen Trennung hinaus, wurde in den letzten Jahren auch die zeitlich begründete Trennung in Frage gestellt.18 Dies geschah vor allem im Zuge der Analyse von Quellen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, in denen antisemitismustypische Elemente beobachtet wurden. So konstatiert Wenzel – wenn auch ambivalent –, dass „Antijudaismus und Antisemitismus […] sich […] in den Judenschriften [Luthers; Anm. V.G.] noch nicht (oder nicht mehr) voneinander trennen“ ließen,19 erlaubten doch die Quellen keine einfache chronologische Scheidung von theologisch fundierter und rassisch begründeter Judenfeindschaft. So antizipieren eine Vielzahl von Ausdrucksformen der vormodernen Judenfeindschaft Elemente des rassisch begründeten Antisemitismus. Ähnliches hat Siegele-Wenschkewitz im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit Obermans Studie Die Wurzeln des Antisemitismus und Luthers Werken festgestellt: Sie kommt zu dem Ergebnis, dass der „Raum zur Bekehrung“ lediglich „christliches Postulat“ sei.20 Auch ergebe der Terminus ‚Taufjude‘ „keinen Sinn. Offenbar blieb auch nach den Religionswechsel in der Wahrnehmung der Christen etwas, was die Juden weiterhin als jüdisch erscheinen ließ“.21 Sie macht
17 So Rainer Kampling: Theologische Antisemitismusforschung. Anmerkungen zu einer transdisziplinären Fragestellung. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann, Mona Körte. Berlin 2004, S. 67–81, hier S. 73. 18 Der folgende Absatz bezieht sich wiederum auf Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 100, der sich ebenfalls mit Wenzel und Siegele-Wenschkewitz auseinandersetzt. 19 Edith Wenzel: Martin Luther und der mittelalterliche Antisemitismus. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 301–315, Zitat S. 315. 20 Leonore Siegele-Wenschkewitz: Wurzeln des Antisemitismus in Luthers theologischem Antijudaismus. In: Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Geschichte – Wirkungsgeschichte – Herausforderung. Hg. von Heinz Kremes. Neunkirchen-Vluyn 1985, S. 351– 367, Zitate S. 362. 21 Dies.: Vorwort. In: Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen. Hg. von Leonore Siegele-Wenschkewitz. Frankfurt a.M. 1994 (Arnoldshainer Texte 85), S. VII–XXI, Zitat S. XVIII.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
jedoch keine genaueren Aussagen dazu, worin dieses „etwas“ bestehen könnte.22 Frey kommt im Zuge seiner Analyse eines Pasquills schließlich zu dem Schluss, dass dort „in nuce de[r] moderne[..] Antisemitismus“23 formuliert sei. Solche Zugänge, die versuchen, den Übergang von religiösen zu rassistischen Deutungsmustern bzw. deren Zusammenführung herauszuarbeiten, stellen dabei jedoch nicht in Frage, dass sich ein Zeitpunkt oder Zeitraum zur Ansetzung des Beginns von Antisemitismus bestimmen lässt. Ebenso bestreiten sie nicht die Gegenüberstellung von früherem Antijudaismus und ihn ersetzenden bzw. überdeckenden Antisemitismus – vielmehr wird lediglich der zeitliche Fokus verschoben.24 Problematisch ist bei den genannten Zugängen jedoch, darauf hat Heil dezidiert hingewiesen, dass sie in ihrer Analyse kaum über die sprachliche Ebene hinaus kommen und offen lassen, inwieweit antisemitismustypische Artikulationen tatsächliche Auffassungen wiedergeben. So ist zu prüfen, ob mittelalterliche und frühneuzeitliche Wahrnehmungsweisen mit modernen Ausgrenzungsstrategien des zwanzigsten Jahrhunderts verglichen werden können.25 Entsprechend dieser Auffassung hat Hortzitz Einwände gegen eine solche rein deskriptive Sichtweise erhoben. Durch sprachhistorische Untersuchungen antijüdischer Texte des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts stellt sie fest,
22 Kritisch dazu auch Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), S. 84. Gerade in diesem Zusammenhang wurde wiederholt auf die so genannten spanischen „Blutreinheitsgesetze“ des fünfzehnten Jahrhunderts verwiesen. Diese gelten einigen Autoren als durchaus antisemitisch, doch wird dagegen eingewendet, dass diese Gesetze, nach denen getaufte Juden und ihre Nachkommenschaft von Staatsämtern ausgeschlossen waren, trotz aller Parallelität des Phänomens kein Indiz für einen frühen Antisemitismus sind, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der Auffassung von der Wirksamkeit des Blutes, anzuführen sind hier auch Hostienfrevel- und Ritualmordlegenden, zu deuten sind. Vgl. Yosef Hayim Yerushalmi: Assimilierung und rassischer Antisemitismus. Die iberischen und die deutschen Modelle. In: Ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte. Berlin 1993, S. 53–80; Jerome Friedman: Jewish Conversion, the Spanish Pure Blood Laws and Reformation. A Revisionist View of Racial and Religious Antisemitism. In: The Sixteenth Century Journal 18 (1987), S. 3–30; Max Sebastián Hering Torres: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes” im Spanien der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2006 sowie Kampling (wie Anm. 17), hier S. 73. Vgl. zu einer Einordnung der Gesetze in die Geschichte des europäischen Antisemitismus auch Christina von Braun: Und der Feind ist Fleisch geworden. Der rassische Antisemitismus. In: Der ewige Judenhaß. Hg. von Christina von Braun, Ludger Heid. 2., verbesserte Aufl. Berlin, Wien 2000, S. 149–213. 23 Winfried Frey: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus. Ein antijüdisches Pasquill von 1606 und seine Quellen. In: Daphnis 18 (1989), S. 251–279, Zitat S. 267. 24 So Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 101. 25 So Johannes Heil: Synagoge, Ecclesia, und … Judenfeindschaft als Gegenstand der Mittelalterforschung. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann, Mona Körte. Berlin 2004, S. 83–135, hier S. 107.
2.1 Begriffe: Antijudaismus und Antisemitismus
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dass an die Begrifflichkeit rassistischer Texte gemahnende Äußerungen nicht als Ausdruck ‚protorassistischen‘ Denkens zu werten seien, sondern vielmehr allein in der den Juden zugeschriebenen ‚Verstockung‘ ihre Begründung finden. Dieses belegt sie nicht nur anhand von Einzeltextanalysen, sondern auch durch Überprüfung der außersprachlichen epistemischen Voraussetzungen der Textproduktion, d.h. der „Wirklichkeitssicht“ der Frühmoderne, die zeigt, dass die zeitgenössischen Kenntnisse zu Fortpflanzung und Vererbung nicht ausreichten, um die Existenz „genetisch“ definierter Kollektive oder „Rassen“ zu begründen.26 Vor dem Hintergrund der angeführten Beiträge erscheint es folgerichtig, auf eine zeitliche Differenzierung von Antijudaismus und Antisemitismus nicht zu verzichten. Das bedeutet jedoch nicht, dass von Antijudaismus (theologisch) und Antisemitismus (säkular) als sich gegenseitig stimulierender Vorurteilssysteme ausgegangen wird, denn nicht jede frühneuzeitliche judenfeindliche Äußerung kann als antisemitisch bezeichnet werden, sobald sie nicht direkt an die christliche Theologie gebunden ist.27 So muss Heil zugestimmt werden, wenn er konstatiert: „Mit dem 19. Jahrhundert erreichte die Judenfeindschaft eine neue Qualität.“28 Das heißt nicht, dass nicht auch sehr viel ältere Motive in das „ohnehin nie völlig konsistente[..] antisemitische[..] Denken“ eingingen, wesentliches Kennzeichen des Antisemitismus sei vielmehr die Bündelung, Systematisierung und Instrumentalisierung älterer judenfeindlicher Motive, was zugleich auch Umformungen der Inhalte bewirkte. […] Der eigentliche Kulminationspunkt ist jener Moment, in dem das traditionelle Vorurteilssystem aus seinem religiösen oder religiös bemäntelten Legitimationsrahmen gelöst wurde und damit den Bedeutungsverlust des Religiösen im Gefolge von Aufklärung und Pluralisierung nicht nur unbeschadet, sondern radikaler und vielleicht schlüssiger denn je, überlebte. […] Die Wende hin zu einer rassischen Formulierung der Judenfeindschaft wird als der wesentliche Einschnitt in der Geschichte der Judenfeindschaft in der Neuzeit verstanden und muß auch begrifflich dargestellt werden.29
Dieser Forderung entsprechend, wird in dieser Arbeit auf den Terminus Antisemitismus verzichtet.
26 Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der Frühen Neuzeit (1450–1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Heidelberg 2005 (Sprache – Literatur und Geschichte 28), S. 257–280 sowie Dies.: [D]ie art kan nicht nachlassen […] (Rechtanus 1606) – rassistisches Denken in frühneuzeitlichen Texten?. In: Aschkenas 8 (1998), S. 70–103. 27 Dies betont auch Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 104. 28 Ebd., S. 104. 29 Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 105.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
Es stellt sich sodann jedoch die Frage nach alternativen Termini, denn es steht zu vermuten, dass der Begriff des Antijudaismus das Phänomen der Judenfeindschaft insofern verharmlost, als dass er meist auf den rein theologisch fundierten Judenhass rekurriert. Wie also ist mit zunächst nicht theologisch fundiert scheinenden Formen der Judenfeindschaft umzugehen, denn dass die Judenfeindschaft im Mittelalter und der Frühen Neuzeit auch profane Züge hatte, auch ein ökonomisches, soziales und psychologisches Phänomen war, ist ein Grundsatz der Antisemitismusforschung und bestätigt sich nicht zuletzt anhand der in dieser Untersuchung beleuchteten Texte. Hortzitz hat jedoch darauf hingewiesen, dass zwischen Motiven und die den einzelnen Begründungen und Argumenten zugrunde liegenden Bezugssystemen zu unterscheiden ist: Waren die Motive für Judenfeindschaft und -verfolgung wohl häufig – vielleicht sogar überwiegend – profaner Natur (Neid, Rache, Konkurrenzangst, Streben nach materiellen Vorteilen, diffuse ‚Fremdenangst‘, Kompensation individueller Aggressionen), so erweisen sich die Argumente, Beweise, Erklärungen, die den (sprachlichen) Begründungen und die Rechtfertigungen für Judenfeindschaft zugrunde liegenden ‚ideologischen‘ Bezugssysteme jedoch als theologische.30
Die mentalitätsgeschichtlich orientierte Forschung hat hervorgehoben, dass alle gesellschaftlichen Bereiche der Frühen Neuzeit entscheidend vom Religiösen geprägt waren. So stellt van Dülmen fest: Religiöse Sinngebungen, religiöse Rechtfertigungen und nicht zuletzt die Einbindung in religiös-kirchliche Sozialformen hatten vielmehr entscheidenden Anteil an der gesamten Lebensbewältigung. Nicht nur das Mittelalter war religiös und fromm; dasselbe galt für die Gesellschaft der frühen Neuzeit […]. Religiöses Denken und Handeln war eine öffentliche Angelegenheit, der sich keiner entziehen konnte. Religion war einerseits eng mit dem Leben im Haus, in der Gemeinde und der Ständegesellschaft verknüpft, andererseits bestimmte sie alle kulturellen Prozesse der Zeit mit und bildete eine entscheidende Grundlage jeder Herrschaft, wie des frühmodernen Staatswesens überhaupt. Einen religionsfreien Raum gab es nicht.31
Diese überragende Bedeutung des Religiösen dokumentiert sich ebenfalls im Hinblick auf das Phänomen des frühneuzeitlichen Antijudaismus, der als „‚soziokul-
30 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26), S. 282 [Hervorhebungen im Original]. Ich orientiere mich bei der folgenden Begründung wesentlich an Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26), S. 285f., die sich ebenfalls auf van Dülmen und Honegger bezieht. 31 Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung. München 1994, S. 7.
2.2 Forschungsüberblick
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turelles Deutungsmuster‘ angesehen werden kann, insofern er als aus religiösen Wurzeln gespeistes System zur Weltinterpretation objektiven (historischen) Bedingungen entsprach, subjektive Bedürfnisse erfüllte und bestimmte soziale Funktionen innehatte“.32 Dieser stellte, über die (identitäts-)stabilisierende Funktion mittels kognitiver und normativer Verhaltens- und Einstellungsorientierungen, ein Argumentekorpus bereit, das wesentlich von kulturellen Traditionen her bestimmt war.33 Geht man von dieser Setzung des frühneuzeitlichen Antijudaismus als wesentlich religiös fundiertem kulturellen Deutungsmuster aus, erscheint es nur folgerichtig, den Begriff Antisemitismus für die Frühe Neuzeit als problematisch anzusehen. Der Antijudaismus erscheint als ein „dem Inhalt nach in sich schlüssige[s], im Kern klar konturierte[s], am Rand auch Unschärfen und Widersprüche zulassende[s] Ausgrenzungssystem […].“34 Das heißt nicht, Zwischenformen, wie jene des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, dem Antijudaismus oder Antisemitismus einfach zuzuordnen, sondern sie als „Transformationsformen“ zu markieren.35 Für solche Phänomene soll im Folgenden – im Sinne von Frey36 – der Begriff des Proto-Rassismus gewählt werden, da dieser zum Ausdruck bringt, dass sich hier bereits antisemitisch anmutende Elemente herauskristallisieren – „gewissermaßen Antisemitismen“37 –, die jedoch noch nicht, trotz rassistisch anmutender Argumentation, als Teil einer geschlossenen antisemitischen Ideologie gedeutet werden können. „Als Proto-Rassismus wären damit alle Momente zu bezeichnen, die antisemitismustypische Elemente mit sich führen.“38
2.2 Forschungsüberblick Die literaturwissenschaftliche Erforschung von ‚Juden in der deutschen Literatur‘ – d.h. die Auseinandersetzung mit Darstellungen von Juden und Judentum in der deutschen Literatur – ist vor allem seit den 1980er Jahren recht umfangreich
32 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26), S. 286. 33 So Claudia Honneger: Die Hexen der Neuzeit. Analysen zur Anderen Seite der okzidentalen Rationalisierung. In: Die Hexen der Neuzeit. Studien zur Sozialgeschichte eines kulturellen Deutungsmusters. Hg. von Claudia Honegger. Frankfurt a.M. 1978, S. 21–151, hier S. 25f. 34 Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 108. 35 Ebd. 36 Frey: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus (wie Anm. 23), S. 265. 37 Heil: „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ (wie Anm. 6), S. 108. 38 Ebd.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
geworden.39 Überblickt man die veröffentlichten Studien, sieht man sich mit verschiedenen „Grenzziehungen“40 konfrontiert: So findet sich zunächst ein Nebeneinander verschiedener Forschungsstränge, jedoch keine profilierte literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung, die die verschiedenen Ansätze aufnimmt und so den literarischen Reflexionsraum des Jüdischen auf Basis einer fundierten Methodik auszuloten vermag. Auf diesen Umstand wurde wiederholt und eindringlich hingewiesen,41 eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Tendenzen wird im folgenden Kapitel vorgenommen. Hier sei nur darauf verwiesen, dass sich die Studien grundsätzlich drei Richtungen zuordnen lassen: Neben einer Fülle von Arbeiten aus dem Bereich der Stoff- und Motivforschung, widmet sich eine Reihe von Untersuchungen einzelnen Autoren – hier lässt sich vor allem seit den 1980er Jahren eine Konzentration auf das neunzehnte Jahrhundert und die Haltungen der jeweiligen Autoren feststellen. Seit den 1990er Jahren rücken zunehmend systematische Aspekte in den Fokus, insbesondere zum Zusammenhang von Sprache und Antisemitismus.42 In den letzten Jahren widmete sich zudem eine Reihe von Studien der Erforschung des „Literarischen
39 Auf die Forschung zur deutsch-jüdischen Literatur, hier verstanden als Analyse von Werken von Autoren deutsch-jüdischer Herkunft, soll hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Mona Körte: „Juden und deutsche Literatur“. Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik. In: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Hg. von Werner Bergmann, Mona Körte. Berlin 2004, S. 353–374, insb. S. 361–366; Andreas B. Kilcher: Deutsch-jüdische Literaturgeschichte schreiben? Perspektiven historischer Diskursanalyse. In: Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi, Dorothea M. Salzer. Berlin 2009 (minima judaica 6), S. 351–379; Anne Maximiliane Jäger-Gogoll: „Warum deutsch-jüdische Literatur?“ – Eine Antwort. In: Durchquerungen. Für Ralf Schnell zum 65. Geburtstag. Hg. von Iris Hermann, Anne Maximiliane Jäger-Gogoll. Heidelberg 2008 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft 160), S. 133–142. 40 Körte: „Juden und deutsche Literatur“ (wie Anm. 39). 41 Vgl. Körte: „Juden und deutsche Literatur“ (wie Anm. 39); Dies.: Das „Bild des Juden in der Literatur“. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 140–149; Doerte Bischoff: Handelnde Juden, Verhandlungen des Jüdischen: zur Performativität eines Stereotyps. In: Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Hg. von Eva Lezzi, Dorothea M. Salzer. Berlin 2009 (minima judaica 6), S. 215–250; Torben Fischer: Judenbilder und „Literarischer Antisemitismus“. Bemerkungen zur Forschungsgeschichte. In: Juden.Bilder. Hg. von Matthias N. Lorenz. München 2008 (Text+Kritik 180), S. 115–124. 42 Vgl. exemplarisch Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26); Dies.: „FrühAntisemitismus“ in Deutschland (1789–1871/72). Strukturelle Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Tübingen 1988; Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen 1995; Dietz Bering: Vom kleinen Teil zum großen Ganzen. Etappen der Antisemitismusforschung in der Sprachwissenschaft. In: Das ‚bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Hg.
2.2 Forschungsüberblick
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Antisemitismus“, d.h. einer diskursanalytisch ausgerichteten Antisemitismusforschung, die sich jedoch meist auf Texte nach 1900 konzentriert.43 Vor dem Hintergrund des zugrunde liegenden Textkorpus ist zudem zu beachten, dass sich jenseits dieser methodischen Unterscheidungen ebenfalls chronologische Grenzziehungen finden lassen: So konzentriert sich die literaturwissenschaftliche Erforschung von Darstellungen des Jüdischen fast ausschließlich auf die Zeit nach 170044 und auch die Literatur des (Spät-)Mittelalters und des Humanismus rückte immer wieder in das Interesse der Forschung.45 Für die Epoche des Barock muss man hingegen ein Forschungsdesiderat konstatieren, welches umso mehr verwundert, wenn man sich bewusst macht, dass zum einen die deutsch-jüdische Geschichte im siebzehnten Jahrhundert inzwischen relativ gut erforscht ist46 und zweitens in der literaturwissenschaftli-
von Christina von Braun, Eva Maria Ziege. Würzburg 2004, S. 375–398 sowie Hans Peter Althaus: Mauscheln. Ein Wort als Waffe. Berlin, New York 2002. 43 Vgl. exemplarisch Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1998; KlausMichael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz (Hgg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart 2007. 44 Vgl. exemplarisch Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995; Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hg. von Heinrich Pleticha. Würzburg 1985; Herbert A. Strauss, Christhard Hoffmann (Hgg.): Juden und Judentum in der Literatur. München 1985; Hans Otto Horch (Hg.): Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Tübingen 1988; Hans Otto Horch, Horst Denkler (Hgg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-ReimersStiftung Bad Homburg v.d.H. 3. Bde. Tübingen 1988–93; Elvira Grözinger: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin 2003; Bryan Cheyette: Constructions of ‚the Jew’ in English Literature and Society. Racial Representations, 1875–1945. Cambridge, New York 1993. 45 Vgl. exemplarisch Ursula Schulze (Hg.): Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Tübingen 2002; Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant”. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 14); Natascha Bremer: Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des Mittelalters. Frankfurt a.M. u.a. 1986 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 892); Christine Mittelmeier: Publizistik im Dienste antijüdischer Polemik. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Flugschriften und Flugblätter zu Hostienschändungen. Frankfurt a.M. u.a. 2000 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 56) und das Repetitorium von Heinz Schreckenberg: Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. 3 Bde. Frankfurt a.M. u.a. 1994–1999 sowie John D. Martin: Representations of Jews in Late Medieval and Early Modern German Literature. Oxford, Bern 2004. 46 Vgl. exemplarisch Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas. In zwei Teilbänden. Teilband I: Von den
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
chen Barockforschung immer öfter sozialgeschichtliche Ansätze47 verfolgt werden. Dennoch gibt es nur wenige, mitunter durchaus revisionsbedürftige,48 Einzeluntersuchungen zu Konstruktionen des Jüdischen sowie einige Spezialstudien, die sich jedoch nur auf bestimmte prominente Autoren – hier ist vor allem Grimmelshausen und die entsprechenden Studien von Breuer, Horch, Krobb, Sprenger und Heßelmann zu nennen – beziehen. Eine ausführliche Monographie, die Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des Barock umfassend und vergleichend analysiert, fehlt. Dennoch sollen die vorhandenen Untersuchungen kurz kritisch beleuchtet werden, zum einen um das Forschungsfeld abzustecken, zum anderen um die Notwendigkeit einer umfassenden Analyse von Imaginationen des Jüdischen und des Judentums in literarischen Texten des siebzehnten Jahrhunderts angesichts dieser Forschungslücke deutlich zu machen. Zu nennen ist im Bereich der Überblicksdarstellungen besonders Oskar Frankls Der Jude in den deutschen Dichtungen des 15., 16., und 17. Jahrhunderts.49 Frankl geht es um das „Gesamtbild“50 ‚des Juden‘ im genannten Zeitraum und anhand dieser Zielsetzung lässt sich die Problematik in Frankls Zusammenstellung aufzeigen: Er ordnet die einzelnen Textbelege bestimmten Vorurteilen, Stereotypen oder Anschuldigungen zu, sodass seine Darstellung mehr als Belegsammlung denn als Analyse gelten kann, verzichtet er doch auf eine eingehende detaillierte Untersuchung der jeweiligen Texte. Zudem werden Aussagen über Juden generell mit dem historischen Autor in Beziehung gesetzt und so auf eine ‚judenfreundliche‘ oder ‚judenfeindliche‘ Disposition des realen Autors geschlossen.51
Anfängen bis 1650. Teilband II: Von 1650 bis 1945. Darmstadt 1990; Ders.: Die Juden in Deutschland (wie Anm. 22); Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Deutschjüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Mordechai Breuer, Michael Graetz, Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 85–247 sowie Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn 2005. 47 Vgl. exemplarisch Albert Meier (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1999 sowie Harald Steinhagen (Hg.): Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, 1570–1740. Reinbek 1985 (Deutsche Literatur 3). 48 Einer nachhaltigen Korrektur bedürfen die Arbeiten von Willi Flemming und Elisabeth Frenzel aufgrund deutlich antisemitischer Passagen. Vgl. Willi Flemming: Die deutsche Kultur im Zeitalter des Barock. Potsdam 1937, S. 47f. und Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München 1940, deren gesamte Studie von einer antisemitischen Ideologie durchdrungen ist. Auch Richard Wilhelm Stock: Die Judenfrage durch fünf Jahrhunderte. Nürnberg 1933 argumentiert offen antisemitisch. 49 Oskar Frankl: Der Jude in den deutschen Dichtungen des 15., 16., und 17. Jahrhunderts. Leipzig 1905. 50 Ebd., S. 2. 51 Ebenfalls motivgeschichtlich verfährt Herbert Carrington in seiner Studie Die Figur des Juden in der dramatischen Literattur des XVIII. Jahrhunderts. Heidelberg 1897. Carrington untersucht
2.2 Forschungsüberblick
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Ohne Konzentration auf das siebzehnte Jahrhundert, aber durchaus fiktionale Texte dieser Epoche berücksichtigend, spüren die einzelnen Beiträge der beiden interdisziplinär angelegten Sammelbände Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen und Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen52 verschiedenen Stereotypen, Vorstellungen, Bildern ‚vom Juden‘ nach. Die Autoren widmen sich verschiedenen Aspekten des Antijudaismus und Antisemitismus von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert, sodass sich ein vielschichtiges Panorama unterschiedlicher Formen der Judenfeindschaft eröffnet. Kritisch bleibt anzumerken, dass – auch der Anlage der Sammelbände geschuldet – Interdependenzen zuweilen aus dem Blick geraten und einzelne Beiträge deutlich motivgeschichtlich angelegt sind und somit entweder lediglich Stereotype feststellen oder versuchen, diese auf ihre historisch-reale Reliabilität zu überprüfen.53 Systematischen Aspekten widmet sich Hortzitz in ihren schon angeführten Untersuchungen,54 in denen sie Argumentationsstrategien, Begründungsmuster und sprachliche Darstellungsmittel in antijüdischen Texten in den Blick nimmt. Ihre Darstellungen sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, zeigt sie doch Argumentationsstrukturen auf und analysiert „rassistische“55 und
einige zwischen den Extremen Shylock und Nathan angesiedelte jüdische Figuren, um dann festzustellen, dass diese entweder „judenfreundlich oder judenfeindlich“ angelegt seien (S. 76). 52 Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995; Julius H. Schoeps, Joachim Schlör (Hg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Augsburg 1999. Vgl. weiter auch Wolfgang Benz: Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus. München 2001 sowie Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Hamburg 1991. 53 Als Beispiel seien folgende Beiträge genannt: Avram Andrei Baleanu: Fünftes Bild: Der „ewige Jude“. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps, Joachim Schlör. Augsburg 1999, S. 96–102; Freddy Raphael: Sechstes Bild: Der Wucherer. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps, Joachim Schlör. Augsburg 1999, S. 103–118 sowie Alfred Raddatz: Zur Geschichte eines christlichen Bildmotivs: Ecclesia und Synagoge. In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Hg. vom Jüdischen Museum der Stadt Wien. Wien 1995, S. 53–59. 54 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26). Vgl. weiter auch Dies.: Früh-Antisemitismus in Deutschland (wie Anm. 42); Dies.: Die Sprache der Judenfeindschaft. In: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps, Joachim Schlör. Augsburg 1999, S. 19–40; Dies.: Der „Judenarzt“. Historische und sprachliche Untersuchungen zur Diskriminierung eines Berufsstandes in der frühen Neuzeit. Heidelberg 1994 sowie Dies.: Verfahrensweisen sprachlicher Diskriminierung in antijüdischen Texten der Frühen Neuzeit. Aufgezeigt am Beispiel der Metaphorik. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 194–216. 55 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26), S. 257–280.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
„säkulare“56 Begründungen in zwanzig Texten verschiedener Autoren. Kritisch ist jedoch anzumerken, dass sich die Autorin kaum fiktionalen Texten widmet,57 sodass poetische Verfahren nicht behandelt werden. Eine vorzügliche Belegsammlung schließlich liefert Schreckenberg mit seinem umfangreichen Repetitorium der Adversus-Judaeos-Texte vom ersten bis zum zwanzigsten Jahrhundert, welches auch literarische Texte berücksichtigt.58 Hinzuweisen ist ferner auf Riemers Studie Philosemitismus im deutschen evangelischen Kirchenlied des Barock, der bestrebt ist, anhand der Textsorte des Kirchenlieds eine „judenfreundliche[..] Strömung“59 innerhalb der evangelischen Kirche festzustellen. Da diese Hinwendung zum Judentum innerhalb des protestantischen Kirchenliedes jedoch stets – explizit oder implizit – von der Hoffnung auf Bekehrung getragen ist und sich meist nicht auf das zeitgenössische Judentum bezieht, bleibt die Arbeit von Riemer sowie das evangelische Kirchenlied hier weitgehend unberücksichtigt.60 Im Hinblick auf die hier behandelten Texte muss man eine disparate Forschungslage konstatieren. So haben prominentere Autoren und Werke – zu nennen sind insbesondere Grimmelshausen, Der Jude von Venetien, Das Endinger Judenspiel und Andreas Gryphius – Aufmerksamkeit auf sich gezogen, während unbekanntere Texte, wie die hier untersuchte Kompilationsliteratur, Periochen oder auch der Roman Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherifs Alekes Seltsame Liebes=Geschichte, nicht Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung wurden.61 Jedoch muss man auch bei den bekannteren Texten und Autoren feststellen, dass die vorhanden Studien in höchst unterschiedlichem Maße auf die Konstruktionen des Jüdischen in den genannten Werken eingehen. So findet die Figur des Isaschars in den Untersuchungen zu Gryphius Horribilicri56 Ebd., S. 280–409. 57 Mit Ausnahme von Folz „Ei[n] gar suptil rechnu[n]g“ und den anonymen Schriften „Die geschicht der Jüden tzum Sternberg“ und „Der Jud stellt seine synne nacht vnd tag“. 58 Schreckenberg (wie Anm. 45). 59 Siegfried Riemer: Philosemitismus im deutschen evangelischen Kirchenlied des Barock. Stuttgart 1963, S. 19. 60 Zur Aneignung der Sprache des Alten Testaments, die Riemer als Ausdruck von Philosemitismus wertet, vgl. die wesentlich differenzierter argumentierende Studie von Hans-Jürgen Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Hg. von Hans Otto Horch, Horst Denkler. Bd. 1. Tübingen 1988, S. 71–107. 61 Da hier nur ein Abriss der bisherigen Forschungsergebnisse gegeben werden soll, wird auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der literaturwissenschaftlichen Forschung zu einzelnen Texten und Autoren an dieser Stelle verzichtet. Vgl. dazu die Diskussion in den jeweiligen Kapiteln.
2.2 Forschungsüberblick
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brifax Teutsch nur am Rande Erwähnung62 und das Wanderbühnenstück Der Jude von Venetien wird meist nur als Beleg für die ausgeprägte Judenfeindschaft im siebzehnten Jahrhundert herangezogen,63 von Fulda jedoch im Rahmen seiner Studie Schau-Spiele des Geldes näher analysiert.64 Das Endinger Judenspiel wurde wiederholt Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung, besonders hervorzuheben ist hier Quast, der in seiner Studie Girards Konzept des ‚Sündenbocks‘ auf Spiel und Verhörprotokoll appliziert.65 Gearhart konzentriert sich in seiner Dissertation auf drei Autoren – Bucholtz, Grimmelshausen und Happel – und bietet eine Vielzahl von Belegen im Werk der Autoren, in denen jüdische Figuren zur Darstellung kommen.66 Doch sind auch bei dieser Studie methodische Vorbehalte geboten: So kommt Gearhart in seiner positivistisch ausgerichteten Arbeit über eine weitgehend referierende und dabei keineswegs vollständige Sammlung nicht hinaus. Beschäftigt er sich näher mit den einzelnen Textstellen, verharrt er in dem Versuch, die Belege als Reflexe einer außerliterarischen Wirklichkeit zu lesen.67 Einzig zu Grimmelshausen wurden im Anschluss an Breuer mehrere Aufsätze veröffentlicht, die sich mit der Darstellung
62 Vgl. Ingrid Schiewek: Ein altes Scherzspiel im Kontext des 17. Jahrhunderts. Überlegungen zum „Horribilicribrifax“ des Andreas Gryphius. In: Weimarer Beiträge 5 (1980), S. 77–105; Armin Schlienger: Das Komische in den Komödien des Andreas Gryphius. Ein Beitrag zu Ernst und Scherz im Barocktheater. Bern 1970 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Deutsche Literatur und Germanistik 28); Jolanda Lötscher: Andreae Gryphii Horribilicribrifax Teutsch. Formanalyse und Interpretation eines deutschen Lustspiels des 17. Jahrhunderts im soziokulturellen und dichtungstheoretischen Kontext. Bern u.a. 1994 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 18); Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende liebhaber. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 226–255 sowie Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 102), S. 121–151. 63 Vgl. Johannes Bolte: Der Jude von Venetien, die älteste deutsche Bearbeitung des Merchant of Venice. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 22 (1887), S. 189–201 und Och (wie Anm. 44), S. 183f. 64 Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 62), S. 105–120. 65 Vgl. Bruno Quast: Anthropologie des Opfers. Beobachtungen zur Konstitution frühneuzeitlicher „Verfolgungstexte“ am Beispiel des „Endinger Judenspiels“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 8 (1988), S. 349–360 und weiter Winfried Frey: Das Endinger Judenspiel. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 201–221; Karl Joseph Baum: Das Endinger Judenspiel als Ausdruck mittelalterlicher Judenfeindschaft. In: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlichjüdischen Gespräch. Hg. von Paul Wilpert. Berlin 1966 (Miscellana Mediaevallia 4), S. 337–349. 66 Ezra Frederick Gearhart: The Treatment of the Jew in Works of Bucholz, Grimmelshausen, and Happel. Diss. Michigan 1965. 67 Zudem ist es, insbesondere bei den Ausführungen zu Bucholtz, auffällig, dass Gearhart stets auf den empirischen Autor schließt, sodass er anhand von Textaussagen jeweils eine juden-
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
des Jüdischen in seinem Werk – insbesondere mit der sogenannten „EstherEpisode“ im Wunderbarlichen Vogelnest II – beschäftigen. Die Autoren kommen dabei zum Teil zu sehr disparaten Beurteilungen: Während Breuer die Darstellung des Jüdischen bei Grimmelshausen durchaus positiv beurteilt,68 votiert Krobb für eine kritischere Sicht und kommt zu dem Ergebnis, dass es Grimmelshausen im Vogelnest II um die Verspottung und Erniedrigung des Judentums ging und keineswegs um religiöse Toleranz und Kritik an antijüdischen Stereotypen.69 Eine Auseinandersetzung mit beiden Positionen findet sich bei Horch, der die Unentschiedenheit von Grimmelshausens Position betont, und bei Sprenger, die die Figur Esthers und des Kaufmannes einer Analyse unterzieht. Heßelmann widmet sich hingegen mehr den von Grimmelshausen genutzten Quellen.70 Darüber hinaus wurde das Rathstübel Plutonis insbesondere von Feldman im Hinblick auf Konstruktion des Jüdischen einer Analyse unterzogen: Ausgehend von einer Analyse des Titelkupfers, deutet sie Aaron als Garant der christlichen Identität.71 Die Annahme stützend, dass das Judentum im Gesamtwerk Grimmelshausens wenn auch keine prominente, so doch eine zumindest nicht unbedeutende Rolle einnimmt, hat Bässler kürzlich darauf verwiesen, dass es sich bei dem fiktiven Herausgeber des Galgen-Männlin um einen ‚getauften Juden‘ handelt.72
freundliche oder judenfeindliche Gesinnung der Autoren konstatiert. Vgl. beispielsweise Gearhart (wie Anm. 66), S. 45–95, insb. S. 50, 85, 61 u.ö. 68 Dieter Breuer: Antisemitismus und Toleranz in der frühen Neuzeit. Grimmelshausens Darstellung der Vorurteile gegenüber Juden. In: Simpliciana 9 (1987), S. 27–47. 69 Florian Krobb: Verführung und Bekehrung. Zur „Esther“-Episode in Grimmelshausens „Das wunderbarliche Vogelnest“. In: Simpliciana 12 (1990), S. 527–545 und Ders.: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993 (Conditio Judaica 4), S. 21–41. 70 Hans Otto Horch: Die Neugier des Satirikers. Zum Judenbild des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. In: Von Enoch bis Kafka. Festschrift für Karl E. Grözinger zum 60. Geburtstag. Hg. von Manfred Voigts. Wiesbaden 2002, S. 345–361; Anita Maria Sprenger: Judentum – Christentum. Die Kontroverse um Grimmelshausens Judenbild am Beispiel der Jüdin Esther. In: Simpliciana 14 (1992), S. 35–57; Peter Heßelmann: Zum Judenbild bei Grimmelshausen. Christian Gersons Der Jüden Thalmud (1607), Michael Buchenröders Eilende Messias Juden-Post (1666) und Das wunderbarliche Vogel-Nest II (1675). In: Simpliciana 28 (2006), S. 115–135 sowie Ders.: Nochmals zum Judenbild bei Grimmelshausen. John Evelyns Historia De tribus hujus seculi famosis Impostoribus (1669) und Das wunderbarliche Vogel-Nest II (1675). In: Simpliciana 29 (2007), S. 381–386. Vgl. weiter auch die jüngst erschienene Studie von Jörg Marquardt: Unsichtbares Begehren. Zur Darstellung des Judentums in Grimmelshausens Vogel-Nest II. In: Morgen-Glantz (22) 2012, S. 77–90, der die „philosemitische Struktur des Textes“ (S. 78) herauszuarbeiten bestrebt ist. 71 Linda Ellen Feldman: Modelling Difference: The Construction of Jewish Identity in Grimmelshausen’s Vogelnest II and Rathstübel Plutonis. In: Colloquia Germanica 28 (1995), S. 285–306. 72 Andreas Bässler: Israel Fromschmidt von Hugenfelß: Dämonologe und Konvertit. Grimmelshausens Galgenmännlin (1673) zwischen Dämonenwahn und frühaufklärerischer Aberglaubens-
2.3 Methodische Überlegungen
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Insgesamt muss man aber feststellen, dass sich die vorliegenden Untersuchungen meist nur auf einzelne Passagen im Werk oder auf Einzelaspekte beziehen, sodass hier gilt, was für die literaturwissenschaftliche Barockforschung insgesamt gilt: Es bedarf generell ausführlicher und fundierter Untersuchungen zu Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des Barock, um diese übergreifend und adäquat analysieren und so in die Literaturgeschichte einordnen zu können.
2.3 Methodische Überlegungen 2.3.1 Abgrenzungen Eine Vielzahl der literaturwissenschaftlichen Studien zu Konstruktionen des Jüdischen widmet sich der Untersuchung von literarisch entworfenen ‚Judenbildern‘ bzw. Formen und Funktionen (antijüdischer) Stereotype. Ausgehend von dem Forschungsüberblick lässt jedoch eine genauere Bestandsaufnahme zwei Tendenzen erkennen: zum einen eine historisch-soziologisch argumentierende Stereotypforschung und zum anderen eine auf das System Literatur bezogene Motivforschung. Während erstere meist dazu neigt, Stereotype auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen, um so deren ‚fiktiven‘ Charakter zu konstatieren, beschränkt sich die Motivforschung häufig darauf, Figurendarstellungen als ‚stereotyp‘ auszuweisen. Damit wird zugleich ein unveränderlicher Charakter eines solchen Bildinventars suggeriert und durch die Literaturwissenschaft perpetuiert. Gegen diese Vereinseitigung von Texten wurde neuerdings vorgebracht, Impulse beispielsweise der Interkulturellen Germanistik aufzunehmen und so den literarischen Text nicht nur als Quelle und Beleg zu betrachten, sondern seine spezifische Literarizität zu reflektieren.73
kritik. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2008 (Text+Kritik Sonderband), S. 237–253. 73 Vgl. Körte: „Juden und deutsche Literatur“ (wie Anm. 39); Dies.: Das „Bild des Juden in der Literatur“ (wie Anm. 41); Bischoff (wie Anm. 41); Fischer (wie Anm. 41); Franka Marquardt: Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Münster u.a. 2003 (Literatur – Kultur – Medien 4); Mirosława Czarnecka, Thomas Borgstedt, Thomas Jacobłecki (Hg.): Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft Wrocław. 8. bis 11. Oktober 2008. Bern u.a. 2010 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 99) sowie den Sammelband Literarischer Antismetismus nach Auschwitz.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
Im Folgenden sollen nun diese Ansätze kurz diskutiert werden, um in kritischer Auseinandersetzung ein eigenes methodisches Konzept zur literaturwissenschaftlichen Erforschung von Konstruktion des Jüdischen zu skizzieren.
2.3.1.1 Stoff- und Motivforschung Wie bereits aus dem Forschungsüberblick ersichtlich wurde, führt die so genannte Motiv- und Stoffgeschichte im Bereich der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung „ein untotes Dasein jenseits aller literaturwissenschaftlichen Moden und Methoden“,74 liegt diese Herangehensweise doch insbesondere dort nahe, wo die untersuchten Texte von ihrem literarischen Anspruch her gesehen heterogen sind – wie es in der vorliegenden Studie der Fall ist – und sich „die Frage nach linearen Motivtraditionen und -brüchen aufdrängt“.75 Doch greift die Motivforschung, wie sich bereits anhand der Titel der einzelnen Studien ablesen lässt,76 zu kurz: Sie konzentriert sich – per definitionem – fast ausschließlich auf die imagologische Ebene literarischer Texte und versucht aus ihr ‚Bilder‘ herauszupräparieren, die literaturgeschichtlich miteinander in Beziehung gesetzt werden.77 So ertragreich diese Forschungen im Einzelnen auch sind, im Horizont der hier verfolgten Fragestellung bedürfen sie einer Ergänzung, muss doch die Frage nach dem ‚Bild des Juden‘ in der Literatur um einige spezifische poetische Dimensionen ergänzt werden, wie etwa Gattungsmerkmale, Erzähl- oder Zeitstruktur. Wie bereits angedeutet, fokussiert die Motivforschung die Bildebene der Texte ohne die jeweiligen literarischen Codierungen zu reflektieren. Eine solche deskriptive Untersuchung ist jedoch, so Marquardt zu Recht, im Rahmen dieser Arbeit nicht hinreichend, wenn so nicht nur die spezifischen Kontexte, in denen die Texte
74 Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a.M., New York 2000 (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin 6), S. 12. 75 Ebd. 76 Anhand des Titels lässt sich bereits die Fragerichtung ablesen, die ihrerseits prekäre methodische Vorentscheidungen beinhaltet. Um nur einige Titel herauszugreifen seien genannt: Gustav Kars: Das Bild des Juden in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Freiburg 1988; Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Hamburg 1974; Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hg. von Heinrich Pleticha. Würzburg 1985; Renate Bauer: Adversus Judaeos. Juden und Judentum im Spiegel alt- und mittelenglischer Texte. Frankfurt a.M. 2003. 77 So Marquardt (wie Anm. 73), S. 5.
2.3 Methodische Überlegungen
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erschienen sind, sondern auch die Möglichkeiten der Literatur bei der Analyse außen vor gelassen werden, da die den einzelnen Texten eigene Poetizität nicht miteinbezogen wird. Sie werden auf eine ihrer möglichen Lesarten reduziert und andere Dimensionen vernachlässigt. Diese müssen jedoch in die Analyse miteinbezogen werden, sodass die imagologische Ebene als nur eine unter mehreren, die die Konstruktion von Juden und Jüdischem bestimmen, evident wird.78 Darüber hinaus – darauf wurde unter anderem von Neubauer und Körte hingewiesen – lässt sich eine weitere Tendenz erkennen, die den meisten motivgeschichtlich ausgerichteten Arbeiten gemeinsam ist: In der Regel werden Entwürfe von Juden als literarische Reflexe einer historischen Wirklichkeit behandelt und es wird versucht zu prüfen, inwieweit sich ein der ‚historischen Realität‘ entsprechendes ‚Bild des Juden‘ in den untersuchten Werken widerspiegelt.79 Literatur wird so zur bloßen Quelle, die jedem einzelnen Text spezifischen Codierungen und Eigengesetzlichkeiten sowie Gattungsdynamiken bleiben weitgehend unberücksichtigt. So kommt es meist zu einer Einebnung von Spannungen und Ambivalenzen, mögliche Gegenmodulationen zur Bildlichkeit werden kaum sichtbar.80 Durch das Ausblenden anderer Analysekriterien (z.B. Gattungsmerkmale und -konventionen, Prä- und Intertexte, Textstruktur, Erzählperspektiven, Zeit- und Erzählstruktur, andere Formen des textimmanenten Redens von Juden) kann das Potential der Literatur, „Ideologeme im Spiel der poetischen Reflexion in der Schwebe zu halten“81 und so „Widerstand gegen Ideologiebildungen“82 hervorzubringen, nicht erfasst werden. Mit dem unspezifischen Instrumentarium83 verknüpft ist ein weiteres Problem: So erliegt die Motivforschung leicht dem Versuch, die eigenen Ziele unbe78 Vgl. ebd. 79 So Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1994, S. 35 sowie Körte: Das „Bild des Juden in der Literatur“ (wie Anm. 41). Vgl. dazu beispielhaft Horst Denkler: Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und dem Judentum. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Interdisziplinäres Symposion der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg v.d.H. Hg. von Hans Otto Horch, Horst Denkler. Bd. 2. Tübingen 1989, S. 148–160, der in seiner Studie biographische Begebenheiten (anhand von Nachlassmaterialien) mit literarischen Werken Wilhelm Raabes in Beziehung setzt. 80 So auch Marquardt (wie Anm. 73), S. 23. 81 Körte: Das „Bild des Juden in der Literatur“ (wie Anm. 41), S. 148. 82 Mona Körte: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘. Technik oder Demontage eines Literarischen Antisemitismus?. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz. Stuttgart 2007, S. 59–74, Zitat S. 63. 83 So werden in der Motivforschung neben literarischen Zeugnissen auch Gestaltungen in bildender Kunst, Musik oder Alltagskultur mit in die Analyse einbezogen. Damit werden aber
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
merkt zu unterlaufen. „Man kennt die überlieferten ‚Judenbilder‘ eben und findet so schließlich nur das, was man von Anfang an voraussetzt und eigens für die Suche entworfen hat.“84 Damit aber schreibt man das ‚Bild des Juden‘ auch fort und steht somit immer in der Gefahr, die ‚Judenbilder‘ zu perpetuieren, die man zu entschlüsseln oder zu entkräften hoffte.85 Konstruktionen des Jüdischen erscheinen so mithin „as a fixed, mythic stereotype as is commonly thought“.86 Wird Motivforschung derart einseitig betrieben, lässt sie genau das neu entstehen, was sie offenlegen und hindern will, denn durch Zuschreibung antijüdischer Stereotype und ihrer Fortführung durch bloße Wiederholung konstituiert sich Judenfeindschaft.87
2.3.1.2 Zur Problematik des „Literarischen Antisemitismus“ Angesichts der im Rahmen dieser Arbeit verfolgten Fragestellung erscheint die Methodik der Stoff- und Motivforschung mithin als nicht geeignet und so ist zu fragen, welche methodologischen Auswege sich eröffnen. Überblickt man die neueste literaturwissenschaftliche Forschung, die sich der Analyse von Imaginationen des Jüdischen in literarischen Texten widmet, fällt zunächst auf, dass häufig der Terminus „Literarischer Antisemitismus“ verwendet wird, um das Forschungsfeld abzustecken.88 Man muss jedoch feststellen, dass der Begriff zunächst nur verwendet wird, um ein begrenztes Phänomen zu beschreiben, das des Antisemitismus in der Literatur, wobei durch den Terminus Literarischer Antisemitismus die spezifische ästhetische und mediale Form des Kommunikationsraumes betont werden soll, durchaus in Abgrenzung zu
nicht nur die Unterschiede der medialen Umgebung der Konstruktionen des Jüdischen verwischt, sondern auch die Konturen der einzelnen Disziplinen mit ihrem spezifischen Ansatz. „Erst nach den Fachfragen die jeweiligen Untersuchungsergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen, stellt demgegenüber auch für die Form der Interdisziplinarität, auf die die Antisemitismusforschung in ganz besonderem Maße angewiesen ist, eine notwendige Differenzierung dar.“ Marquardt (wie Anm. 73), S. 21 [Hervorhebung im Original]. 84 Ebd. 85 Ein besonders eindrücklicher Beleg für die Tradierung antijüdischer Stereotype und Vorwürfe gerade durch die Analyse dieser ist Frenzels Studie zu ‚Judengestalten‘. 86 Bryan Cheyette: Constructions of „the Jew“ in English Literature and Society. Racial Representations, 1875–1945. Cambridge, New York 1993, S. 270. 87 Ähnlich auch Körte: Das „Bild des Juden in der Literatur“ (wie Anm. 41), S. 145 und Marquardt (wie Anm. 73), S. 22. 88 Vgl. beispielsweise den Sammelband Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (wie Anm. 43).
2.3 Methodische Überlegungen
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motivgeschichtlich angelegten Arbeiten.89 Darüber hinaus findet jedoch keine Problematisierung des Begriffes statt, es bleibt bei vagen Bekenntnissen, wie „literary antisemitism will be defined as the potential or capacity of a text to encourage or positively evaluate antisemitic attitudes or behaviours“.90 Etwas genauer fasst es zwar Bogdal, wenn er drei Formen von literarischer Präsentation des Antisemitismus unterscheidet – „ein manifester, auch subjektiv intendierter Antisemitismus; ein ‚fahrlässiger‘ (unbewusster oder bewusster) Gebrauch von Stereotypen; das bewusste, dekonstruierende (riskante) Spiel mit dem antisemitischen Sprach- und Wissensrepertoire“91 – doch insbesondere mit Blick auf die vorliegende Untersuchung sind hier Bedenken anzumelden. So ist zu fragen, ob nicht schon – ähnlich den Vorannahmen der Motivforschung – durch den Terminus Literarischer Antisemitismus gewisse Einschränkungen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes getroffen werden. Der Begriff Antisemitismus bezeichnet eine spezielle Form der Judenfeindschaft und insofern ist durch den Begriff bereits ein zeitlicher Rahmen für die zu untersuchenden Texte vorgegeben. Dementsprechend konzentrieren sich die Studien, die das Phänomen des Literarischen Antisemitismus aufgreifen, vornehmlich auf die Literatur ab dem neunzehnten Jahrhundert, insbesondere aber nach 1945. Zu fragen ist also, ob der Begriff nicht ausgeweitet werden sollte, um auch andere Formen der Judenfeindschaft in den Blick zu nehmen, besteht doch sonst die Gefahr, ältere und korrelierende Formen der Judenfeindschaft zu vernachlässigen, obwohl diese konstitutiv auch für neuere Formen der Judenfeindschaft sind. Mit dem Begriff Literarischer Antisemitismus wird somit für die Erforschung literarischer Judenfeindschaft eine systematische (Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum) und eine qualitative (Antisemitismus als Forschungsgegenstand) Vorentscheidung getroffen, die den Untersuchungsgegenstand erheblich begrenzen und so entscheidende Facetten ausblenden. Analog zur mangelnden Reflexion der Terminologie verhält es sich mit der Auseinandersetzung mit den Spezifika des Forschungsfeldes. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Literarischer Antisemitismus oft nur vage ein Phänomen bezeichnet, was genau darunter zu verstehen sei, bleibt offen. Ein Blick in die neueste Forschung zum Literarischen Antisemitismus bestätigt diese Ein-
89 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Vorwort. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz. Stuttgart 2007, S. VII–VIII, hier S. VII. 90 Mark Gelber: What is Literary Antisemitism?. In: Jewish Social Studies 47 (1985), S. 1–20, Zitat S. 16 [Hervorhebung im Original]. 91 Klaus-Michael Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Perspektiven der Forschung. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz. Stuttgart 2007, S. 1–12, hier S. 7.
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schätzung.92 So findet sich weder eine präzise Definition des Begriffs Literarischer Antisemitismus noch eine methodologische Fundierung des Forschungsfeldes, vielmehr wird in programmatischen Aufsätzen93 darauf verwiesen, dass es – nicht nur um sich von motivgeschichtlichen Ansätzen und dem nach wie vor verbreiteten Rückbezug des Textes auf den empirischen Autor abzugrenzen – einer stärker diskursanalytisch ausgerichteten Literaturwissenschaft bedarf. Diese sollte, auf Grundlage einer kulturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (verwiesen wird z.B. auf Erkenntnisse der Historiographie, Alteritätsforschung, kulturgeschichtlich interessierten Sprachwissenschaft oder interkulturellen Germanistik), von dem Versuch geleitet sein, „zu bestimmen, welchen literarischen Reflexionsraum der Komplex des ‚Jüdischen‘ eröffnet und mit welchen anderen werkimmanenten oder außerliterarischen Konstruktionen er in Beziehung gesetzt wird“.94 Dies sind sicher wertvolle Hinweise, doch ist auch zu konstatieren, dass es im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Erforschung von Judenfeindschaft weder zu einer Präzisierung des Forschungsfeldes, noch zu einer umfassenden Theoriebildung gekommen ist. Vielmehr lassen sich die vorgeschlagenen Herangehensweisen auch auf andere Phänomene übertragen, sodass fraglich ist, ob diese unspezifische Methodik zu einer profilierten literaturwissenschaftlichen Antisemitismus/Antijudaismus-Forschung führen kann. Um diesem Problem zu begegnen, wurden innerhalb verschiedener Studien Anstrengungen unternommen, Instrumentarien zum Aufspüren antijüdischer Tendenzen in literarischen Texten zu entwickeln. Zwei dieser Kriterienkataloge sollen im Folgenden referiert und einer Kritik unterzogen werden, um im Anschluss, unter Rückgriff auf die genannten methodischen Zugriffe, die für diese Arbeit maßgeblichen methodischen Fragen zu entwickeln. Gubser hat erstmals umfassender darauf verwiesen, welche Problematik die Übertragung des Phänomens Antisemitismus auf die Literatur zeitigt:95 Fast in jeder Diskussion über literarischen Antisemitismus taucht früher oder später ein Problem auf: Der oder die eine hält einen bestimmten Text für unbedingt antisemitisch, während ein anderer ebenso viele ‚Argumente‘ dagegen findet. So unversöhnlich die Positionen sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Die unterschiedlichen Behauptungen
92 Vgl. die Studien von Körte: „Juden und deutsche Literatur“ (wie Anm. 39); Dies.: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ (wie Anm. 82); Dies.: Das „Bild des Juden in der Literatur“ (wie Anm. 41); Bischoff (wie Anm. 41); Marquardt (wie Anm. 73); Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (wie Anm. 91); Fischer (wie Anm. 41). 93 Vgl. ebd. 94 Fischer (wie Anm. 41), S. 121. 95 Da sich Gubser und die folgenden Studien explizit auf den Terminus Antisemitismus beziehen, wird dieser im Folgenden beibehalten.
2.3 Methodische Überlegungen
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gründen in den seltensten Fällen auf nachprüfbaren Kriterien; individuelle Gesinnung und – gerade in Sachen Antisemitismus – oft auch Betroffenheit der Diskussionsteilnehmer trüben einen klaren Blick auf das Streitobjekt. […] Was macht aber nun einen Text zu einem antisemitischen?96
Er begegnet diesem definitorischen Problem, indem er versucht, sechs ablesbare Indikatoren für literarischen Antisemitismus aufzustellen. Eindeutig antisemitisch sei demnach jeder fiktionale Text, der 1) „zur Zeichnung einer jüdischen Figur jene Klischees verwendet, die sich in der Geschichte des Antisemitismus herauskristallisiert haben“,97 und diese die Figur in pejorativer Weise auf ihr Jüdischsein reduzieren, 2) wenn eine jüdische Figur durch lächerlich machende „jiddelnde“ Sprache gekennzeichnet ist, 3) wenn sprachliche Mittel genutzt werden, das ‚Jüdischsein‘ als andersartig darzustellen und diese Andersartigkeit als negativ qualifiziert wird, 4) wenn den „jüdischen Figuren ausnahmslos die ‚böse‘ und nichtjüdischen Figuren die ‚gute‘ Seite“98 zugewiesen wird (unter der Bedingung, dass die jüdischen Figuren deshalb ‚böse‘ sind, weil sie jüdisch sind) und 5) wenn der Erzählerkommentar „den Leser von der Lächerlichkeit und/oder Verwerflichkeit einer jüdischen Figur zu überzeugen“99 sucht. Der sechste Indikator ist etwas vorsichtiger formuliert: Will ein Autor mit einem fiktionalen Text literarischen Antisemitismus aufzeigen, so muß er durch geeignete Distanzierungsmittel den Unterschied zum Aufweisen hinreichend deutlich machen. Fehlen diese Hinweise, muß der Autor damit rechnen, daß der Text als antisemitisch interpretiert und ihm die Verantwortung dafür angelastet wird.100
Gubsers Liste ist ein hilfreiches Instrumentarium zur Feststellung judenfeindlicher Tendenzen – und wird in dieser Form auch in der Arbeit an entsprechender Stelle herangezogen. Insbesondere das erste Kriterium ist jedoch dahingehend zu präzisieren, dass nicht „Klischees“ nachgespürt wird, „die sich in der Geschichte des Antisemitismus herauskristallisiert haben“, sondern vielmehr Stereotypen und Vorurteilen, die innerhalb des jeweiligen historischen Zeitraumes gelten, geraten doch so auch Formen der Judenfeindschaft in den Blick, die an bestimmte historische Prozesse geknüpft sind. Weiter ist zu kritisieren, dass Gubsers Indikatoren – vor allem vor dem Hintergrund der hier untersuchten sehr dis96 Gubser (wie Anm. 43), S. 83. 97 Ebd., S. 309. 98 Ebd., S. 310. 99 Ebd. 100 Ebd. [Hervorhebungen im Original].
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
paraten Texte – allzu dogmatisch erscheinen und nicht näher darauf eingegangen wird, was z.B. „geeignete Distanzierungsmittel“ seien.101 Darüber hinaus wohnt solchen Kriterienkatalogen – so Lorenz – ein grundlegendes Problem inne: Deskriptiv erhobene Erkenntnisse werden normativ verallgemeinert und so Gebote aufgestellt, die ein Autor zu befolgen habe. Eine derart normativ verfahrende Analyse kann nicht Ziel der Literaturwissenschaft sein.102 Hortzitz hat in der schon erwähnten Studie Die Sprache der Judenfeindschaft in der Frühen Neuzeit (1450–1700)103 anhand von antijüdischen Schmähschriften die wichtigsten sprachlichen Stilmittel der literarischen Judenfeindschaft herausgearbeitet.104 Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang die einzelnen Stilmittel anzuführen, doch ist Hortzitz zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass „die ‚Wörter‘ mit ihren Konnotationen und Gefühlswerten, ihren impliziten Appellen, den Assoziationsfeldern, die sie mitunter eröffnen“,105 maßgebliche Zeichen versteckter antijüdischer Signale im Text sind. Hortzitz Aufstellung und Analyse der verschiedenen Stilmittel, die sie als „Fortsetzung des Inhalts mit anderen Mitteln“106 versteht, ist insbesondere für die vorliegende Untersuchung von großem Wert, da sie sprachlich-stilistische Diskriminierungsmodelle sprachhistorisch einordnet und vor dem Hintergrund „außersprachliche[r] epistemische[r] Voraussetzungen der Textproduktion, das heißt des ‚Weltwissen‘ und der Wirklichkeitssicht der Frühmoderne“107 analysiert. So kann sie auch feststellen, dass vermeintlich rassistisch-antisemitische Argumente, wie „[d]ie Art kann nicht nachlassen; anererbte Bosheit; von Natur frevelhafter und lästerlicher Sinn“,108 nicht als „Ausdruck biologistischen bzw. ‚protorassistischen‘ Denkens zu verstehen sind, sondern im Kontext traditioneller ‚genealogischer‘ Vorstellungen vom physischen Zusammenhang familiärer Verbände in der his-
101 So auch die Kritik an Gubser vonseiten Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz. Stuttgart, Weimar 2005, S. 60. 102 So Matthias N. Lorenz: Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Tod eines Kritikers im Werkkontext. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 59 (2007), S. 142–154, hier S. 144. 103 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26). 104 Auf Hortzitz frühere Studie (Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft [wie Anm. 26]) bezieht sich auch Gubser, der Kategorien literarischer Stilmittel aufstellt. Da er diese auf seinen Untersuchungsgegenstand, die bürgerliche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, ausrichtet, sollen sie hier nicht gesondert aufgeführt werden. 105 Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 26), S. 20. 106 Ebd., S. 20. 107 Ebd., S. 565. 108 Ebd.
2.3 Methodische Überlegungen
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torischen Folge von Generationen aufgefasst werden müssen“.109 Hortzitz Untersuchung ist vor diesem Hintergrund von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da sie sich dezidiert frühneuzeitlichen Texten widmet. Es wurde schon darauf verwiesen, dass sie jedoch keine literarischen Texte in ihre Analyse einbezieht, sondern sich ausschließlich auf antijüdische Schmähschriften bezieht. Es ist also zu fragen, ob und inwiefern sich sprachlich-stilistische Diskriminierungsmodelle in den einzelnen Textsorten unterscheiden. Insofern ist Lorenz zuzustimmen, wenn er feststellt, dass Hortzitz Katalog der in antijüdischer Absicht verwendeten Stilmittel „bei der Sensibilisierung auf der Suche nach literarischem Antisemitismus [hilft], doch es ist wohl kaum unstrittig, dass allein die Verwendung der genannten sprachlichen Mittel kaum etwas über den antisemitischen Gehalt von Literatur aussagt.“110 Hortzitz Katalog ist also ein durchaus hilfreiches Instrumentarium und soll hier auch in dieser Form berücksichtigt werden.111 Insgesamt muss man also feststellen, dass weder die von Gubser vorgeschlagenen Kriterien noch der Katalog antijüdischer Stilmittel von Hortzitz geeignet erscheinen, Judenfeindschaft in literarischen Texten umfassend und adäquat zu analysieren. Sie können lediglich als erste Anregung und Hilfestellung dienen, literarische Judenfeindschaft festzustellen, würde doch die alleinige Anwendung solcher Kriterienkataloge und die daraus resultierende Fokussierung auf einzelne Passagen werkspezifische Ambivalenzen einebnen und die Komplexität des Textes reduzieren.112 Sie erscheinen zudem insofern als nicht angemessen, da es keine eindeutigen Kriterien für Literarischen Antijudaismus gibt, nicht nur wegen des ambivalenten Charakters von Literatur mit ihren Mehrfachcodierungen und ihrem fiktionalen Charakter, sondern auch wegen „des Fehlens einer allgemein gültigen Definition, ‚wo‘ der Antisemitismus beginnt“.113 Darüber hinaus sind bei einer solchen Fragestellung hinsichtlich des Erkenntnisinteresses Bedenken an-
109 Ebd., S. 565 [Hervorhebung im Original]. 110 Matthias N. Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ (wie Anm. 101), S. 64 [Hervorhebung im Original]. 111 Auch Gubser schlägt in Anlehnung an Hortzitz einen Katalog literarischer Stilmittel vor. Er unterscheidet hier die textstrukturelle von der semantischen Ebene: Auf der textstrukturellen Ebene nennt Gubser das manichäische Grundmuster, die Travestie und das parodierte Motiv, auf der semantischen Ebene stellt er das jüdische Figurenarsenal bis zum neunzehnten Jahrhundert vor. Da diese Zuordnungen und Typisierungen für die vorliegende Arbeit jedoch wenig hilfreich erscheinen – Gubser generiert sie ausschließlich aus Texten des neunzehnten Jahrhunderts –, soll darauf verzichtet werden, diese hier zu referieren. 112 Darauf verweist auch Körte: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ (wie Anm. 82), S. 65. 113 Lorenz: „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck“ (wie Anm. 101), S. 75.
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zumelden: Kriterienkataloge, durch deren Anwendung Judenfeindschaft festgestellt werden soll, zielen darauf ab, einen Text als (nicht) antijüdisch/antisemitisch zu bewerten. Ambivalente Figurationen des Jüdischen, die sich nicht einfach als ‚judenfreundlich‘ oder ‚judenfeindlich‘ einordnen lassen, geraten so nur schwer in den Blick. Dementsprechend soll das Ziel dieser Analyse sein, die einzelnen Texte von ihren Möglichkeiten her zu beschreiben, d.h. das dem Text innewohnende Sinnpotential zu erschließen. Im Folgenden werden daher Analysekriterien und Fragen vorgestellt, die jeweils an den Text zu stellen sind, im Versuch zu bestimmen, welchen literarischen und kulturgeschichtlichen Reflexionsraum der Komplex des Jüdischen eröffnet.
2.3.2 Übereinkünfte: Methodische und strategische Überlegungen Lorenz hat darauf verwiesen, dass eines der grundlegenden Probleme einer literaturwissenschaftlichen Erforschung von Judenfeindschaft zunächst die Klärung des komplexen Verhältnisses von künstlerisch-fiktionalen Ausdrucksformen und deren politisch-moralischer Bewertung ist, wird diese Problematik doch evident, wenn der Versuch unternommen wird, literarische Entwürfe des Jüdischen zu bewerten und gegebenenfalls eine – wie auch immer geartete – Judenfeindschaft zu bestimmen. Die Literaturwissenschaft sieht sich hier einer Paradoxie ausgesetzt: Während die Antisemitismusforschung – wie sie von Seiten der Historiographie, Soziologie oder Politologie betrieben wird – in Gebrauch und Variation tradierter Stereotype Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung sowie der Herstellung und Stabilisierung der eigenen Identität erkennt und bestrebt ist, durch eine Vereindeutigung von Textaussagen auf die Intention des Sprechers zu schließen, sind hier – so Lorenz – aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Bedenken anzumelden, zeichnet sich die Literatur doch durch spezifische Merkmale aus, die einer solchen vermeintlichen Eindeutigkeit entgegenstehen.114 Mit der Feststellung der Literarizität darf sich die literaturwissenschaftliche Forschung jedoch nicht begnügen und so dem „Irrglauben an eine unbeschränkte Immunität“ ästhetischer Formen folgen.115 Andererseits darf auch die besondere Qualität „literarischer Texte im bloßen Nachweis stereotyper Zuschreibungen [nicht] vorschnell vernachlässigt werden.“116 Insofern sind stets die Besonderhei-
114 So Matthias N. Lorenz: Juden.Bilder in Literatur und Film seit 1945. In: Juden.Bilder. Hg. von Matthias N. Lorenz. München 2008, S. 3–5, hier S. 3. 115 So Fischer (wie Anm. 41), S. 119. 116 Ebd. So auch Körte: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ (wie Anm. 82), S. 66f.
2.3 Methodische Überlegungen
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ten und spezifischen Eigenarten literarischer Texte und ihres literarhistorischen Umfeldes zu berücksichtigen. Ausgehend von diesem Befund sollen im Folgenden weiterführende methodische Überlegungen angestellt werden, wie man sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht Konstruktionen des Jüdischen nähern kann. Im Anschluss sollen daraus Fragen und Prämissen für die Analyse abgeleitet werden. Diese sind explizit als offene Fragen zu formulieren, um nicht durch zu enge Vorgaben den Blick für abweichende Phänomene zu verstellen. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass literarische Texte keine historischen Quellen sind, die Vorstellungen eines Individuums oder eines Kollektivs unmittelbar zur Darstellung bringen. Sie sind vielmehr „ästhetische Artefakte“,117 die zwar im strengen Sinne historisch sind, deren Besonderheit jedoch reflektiert werden muss. Die Reflexion der Eigenart literarischer Texte bedeutet – so Bogdal –, sich nicht der Evidenz tradierter Stereotype anzuvertrauen, sondern die Texte in ihrem jeweiligen diskursiven Raum ernst zu nehmen: Funktion und Aussage literarischer Präsentationen von Juden verändern sich unter anderen literarischen Kontexten und es gilt, diese historisch korrekt zu vermessen.118 Literarische Texte sind eben keine geschlossenen Werke, sie bewegen sich innerhalb kultureller Muster und diskursiver Gebilde, die „regeln, in welcher Weise überhaupt über das Fremde gesprochen werden kann, welche Topoi seine Beschreibung dominieren, welche Stereotypen produziert werden“.119 Insofern kann bei der Analyse von Topoi und Stereotypen eben nicht von einem einfachen Verhältnis von Literatur und Realität ausgegangen werden: Topoi sind Verfestigungen literarisch-rhetorischer oder ikonographischer Art, die weder mit ihrem Ursprung mehr etwas zu tun haben, der ohnehin kaum rekonstruierbar ist, noch mit der je anderen Wirklichkeit, die sie vermeintlich wiederzugeben suchen, und die sie in Wahrheit selbst erschaffen auf Grund der in Topoi tradierten Rasterungen. Topoi sind der immer schon vorhandene Bestand literarischer oder bildlicher Formeln, die jedes unmittelbare Erfassen von Wirklichkeit unterläuft […].120
117 Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (wie Anm. 91), S. 7. Der Terminus „ästhetisches Artefakt“ geht zurück auf den tschechischen Strukturalismus: Dort bezeichnet der Begriff „Artefakt“ das Kunstwerk als autonomes Zeichen und der Begriff „ästhetisches Objekt“ das Kunstwerk als kommunikatives Zeichen, dem in der Rezeption eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird. Vgl. einführend zum ästhetischen Objekt Jan Mukarovský: Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a.M. 1970, S. 138–147. 118 Ebd. 119 Marina Münkler: Alterität und Interkulturalität. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hg. von Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten. Reinbek 2002, S. 323–344, hier S. 326. 120 Klaus Reichert: Wucher und Wucherklischees am Übergang zur Neuzeit. In: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie 11 (1992), S. 91–107, hier S. 92.
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Bei der Analyse des Textes in seinem Verhältnis zum historischen und kulturellen Kontext erscheint es sinnvoll, literaturanthropologische Zugänge in die Untersuchung mit einzubeziehen, die den Text als kulturelle Äußerung oder Handlung verstehen.121 Insbesondere literarische Texte werden als Medien kultureller Selbstdarstellung und -repräsentation von Gesellschaften verstanden, Literatur dient mithin dem kulturellen Transfer innerhalb einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften. Sie partizipiert an der kulturellen Selbstverständigung einer Gruppe, welche sich über die Literatur ihrer kulturellen Praktiken, Vorstellungen und Konventionen versichert.122 „Literarische Texte sind Medien kultureller Selbstauslegung, deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet.“123 Literatur hat somit eine soziale Funktion und eine Interpretation muss darauf abzielen, jeweils historisch geltende Verhaltensmuster und Wandlungsprozesse, die über die Literatur erfasst werden können, zu benennen.124 Es gilt also, den literarischen Text in seiner Geschichtlichkeit ernst zu nehmen und ihn hinsichtlich seiner diskursiven Verfasstheit zu untersuchen: So kommen historische Prozesse, gesellschaftliche Konstellationen und Wandlungen von Verhaltens- und Wahrnehmungsmustern in den Blick, die die Figurationen des Jüdischen bestimmen und Aufschluss über Kontinuitäten und Diskontinuitäten der jeweiligen literarischen Präsentation von Juden geben. Über einen solchen diskursanalytisch operierenden Zugang hinaus, erscheinen im Rahmen dieser Arbeit insbesondere Erkenntnisse der Alteritätsforschung von heuristischem Gewinn,125 können doch so kulturspezifische Konstruktions-
121 Vgl. einführend zur historischen Anthropologie: Aleida Assmann, Ulrich Gaier, Gisela Trommsdorff (Hgg.): Positionen der Kulturanthropologie. Frankfurt a.M. 2004; Doris BachmannMedick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996; Doris Bachmann-Medick (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin 1997; Gunter Gebauer (Hg.): Anthropologie. Leipzig 1998; Harald Neumeyer: Historische und Literarische Anthropologie. In: Konzepte der Literaturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Hg. von Ansgar Nünning, Vera Nünning. Stuttgart, Weimar 2003, S. 108–131. 122 Vgl. Sabina Becker: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 188. 123 Doris Bachmann-Medick: Einleitung. In: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Hg. von Doris Bachmann-Medick. Frankfurt a.M. 1996, S. 7–64, hier S. 9. 124 So Becker (wie Anm. 122), S. 192f. 125 Vgl. einführend zur Alteritäts- und Interkulturalitätsforschung: Peter Wiesinger (Hg.): Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2002. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Band 9. Bern u.a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 61); Carmine Chiellino: Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar 2000; Michel de Certeau: Heterologies. Discourses on the Other. Manchester, Minneapolis 1986; Kerstin Gernig (Hg.): Fremde Körper. Zur Konstruktion des Anderen in
2.3 Methodische Überlegungen
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prinzipien von Differenz und Distanz begrifflich und methodisch genauer gefasst werden. Das Fremde – in diesem Fall die jüdische Minderheit – gewinnt immer erst in der Differenz zum Eigenen Kontur. Diese Distanz bzw. Differenz ist jedoch nicht von vornherein gegeben, sondern muss als Bedeutungszuschreibung verstanden werden, die Kulturprozesse anregt und in Gang hält.126 Hier ist aber zu unterscheiden zwischen Figurationen des Jüdischen als Konstruktionen des Fremden, die eine Distanz markieren, und Konstruktionen des Anderen, die eine Differenz herstellen, die wiederum ein asymmetrisches Verhältnis zum Bezeichneten begründen soll. Imaginationen des Fremden (Distanz) müssen nicht zwangsläufig antijüdisch sein, vielmehr können sie sich durch Nähe auflösen bzw. ihre Bedrohlichkeit verlieren. Imaginationen des Anderen (Differenz) hingegen, insbesondere wenn sie der eigenen Identitätsbildung und Selbstvergewisserung dienen, gewinnen durch Nähe an Bedrohlichkeit und können eliminatorische Phantasien erzeugen.127 Darüber hinaus kann man mit Holz die ‚Figur des Dritten‘ anführen.128 Der Jude erscheint hier weder als Freund noch Feind, vielmehr wird seine Identität bestritten, er ist an jedem Ort deplatziert.129 Im Rahmen dieser Bedeutungszuschreibungen gewinnt Literatur einen zentralen Stellenwert, „da in ihr kulturelle Ausdrucksformen der Selbstvergewisserung sowohl erzeugt als auch zur Disposition gestellt werden“.130 Die Untersuchung von Zuschreibungen und Differenzen muss jedoch notwendig die Vorgaben der Textsorte und ihrer ästhetischen Struktur sowie die
europäischen Diskursen. Berlin 2001 sowie Edward W. Said: Kultur und Imperialismus. Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt a.M. 1994 und jüngst Anja Becker, Jan Mohr (Hg.): Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8). 126 So Ortrud Gutjahr: Einleitung zur Teilsektion „Interkulturalität und Alterität“. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2002. „Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert“. Hg. von Peter Wiesinger. Band 9. Bern u.a. 2003 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 61), S. 15–20, hier S. 15. 127 So Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (wie Anm. 91), S. 8. 128 Klaus Holz: Die antisemitische Konstruktion des „Dritten“ und die nationale Ordnung der Welt. In: Das ‚bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Hg. von Christina von Braun, Eva Maria Ziege. Würzburg 2004, S. 43–61. 129 Beispielhaft lässt sich dieses an Geschlechterzuschreibungen jüdischer Figuren erläutern. Die jüdische Frau erscheint nicht als Frau, der jüdische Mann nicht als Mann. Die Geschlechteridentitäten werden verwirrt und die entworfenen Konstruktionen fungieren als Gegenbilder zu weiblicher bzw. männlicher Identität. Vgl. Klaus Holz: Die Paradoxie der Normalisierung. Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Hg. von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz. Stuttgart 2007, S. 37–58, hier S. 47–49. 130 Gutjahr (wie Anm. 126), S. 16.
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historischen Vorgaben berücksichtigen, um nicht selbst Stereotype zu verfestigen.131 Insgesamt soll also eine Herangehensweise verfolgt werden, die sich zunächst dem literarischen Text im Rahmen einer genauen philologischen Untersuchung widmet, deren Ergebnisse sodann mithilfe von Erkenntnissen einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft kontextualisiert, fundiert, systematisiert und schließlich adäquat beurteilt werden können. Dort wo es hilfreich erscheint werden dementsprechend – über die angesprochenen Zugänge hinaus – Anregungen der kulturgeschichtlichen Sprachwissenschaft ebenso aufgegriffen wie die bildwissenschaftlichen Arbeiten zum ‚Bild des Juden‘. Das heißt nicht, hinter die Kritik motivgeschichtlicher Arbeiten zurückzufallen, vielmehr sollen diskursive Wandlungen der ‚Judenbilder‘ verfolgt werden. Einer solchen, um weitreichende Kontextualisierung bemühten Textanalyse gelingt es schließlich auch, über eine literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung als Suche nach einer zu verurteilenden Haltung, die in den Texten anhand bestimmter Merkmale identifiziert und dann meist als Disposition eines empirischen Autors konstatiert wird, hinauszugelangen.132 Denn gerade in der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung muss man mit Marquardt zu Recht eine mangelnde systematische Reflexion über die Verabschiedung des Autorkonzepts konstatieren. Sie diagnostiziert, dass „sich auch und gerade in der Nähe zur Frage nach literarischem Antisemitismus die Vorstellung einer ‚auctoritas‘ des ‚auctors‘ und dessen ungebrochener ‚Herrschaft im eigenen Haus‘ besonders hartnäckig“ hält.133 Dass eine solche Interpretation, die vom Text auf den empirischen Autor schließt, keineswegs angemessen ist, bedarf wohl keiner umfassenden Erläuterung, werden doch hier in unzulässiger Weise poetologische, narratologische aber auch mentalitäts- und diskursgeschichtliche Vorlagen und Wechselwirkungen, die über das Individuelle hinausgreifen, vernachlässigt. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht – wie Körte treffend bemerkt hat –, dass man Foucaults Setzung der Verstricktheit des Autors in Diskurse, die ihm weitgehend nicht transparent sind und über die er auch nicht gebieten kann, folgen
131 Vgl. zu einer diskursanalytischen Stereotypenforschung Florack (wie Anm. 11), S. 1–48. 132 Besonders in den 1980er Jahren war es ein Hauptziel vieler Arbeiten, über literaturwissenschaftliche Analysen und ihren biographischen und literaturhistorischen Umfeldern dem Autor und/oder Text eine judenfeindliche Tendenz nachzuweisen bzw. ihn von einem solchen Verdacht zu exkulpieren. Auch wenn diese Autorzentrierung seit Anfang der 1990er Jahre durch Arbeiten zu systematischen Aspekten bereits ansatzweise aufgebrochen wurde, muss man nach wie vor feststellen, dass es häufig zu einem Rückbezug des Textes auf den empirischen Autor kommt. Vgl. dazu Fischer (wie Anm. 91), S. 117. 133 Marquardt (wie Anm. 73), S. 19.
2.3 Methodische Überlegungen
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muss: Die Annahme vom Ausgeliefertsein des Autors und der Unkontrollierbarkeit des Textes würde ihn sodann aus seiner Verantwortung entlassen.134 Vielmehr ist – wie oben schon angeführt – auf folgende Grundannahme zu verweisen: Texte sind keine geschlossenen Werke, sondern sie bewegen sich innerhalb diskursiver Gebilde und kultureller Muster, die regeln, wie und in welcher Weise über das Sagbare und Unsagbare gesprochen werden kann, welche Topoi die Beschreibung des Fremden dominieren und welche Stereotype produziert werden.135 Auf den Kontext Autor muss bei einer um umfassende Kontextualisierung bemühten Analyse der Texte also nicht verzichtet werden, fungiert er doch als „Ordnender und sein Text als spezifisch literarisches Kommunikationsmedium“.136 Somit werden „Fragen nach der individuellen Verantwortung schöpferischer Subjekte um solche gesellschaftspolitischer Dimension“137 erweitert, so dass nicht mehr eine mögliche „individuelle Verantwortung“ des Autors im Zentrum der Analyse steht – dies wäre frühneuzeitlichen Autorkonzepten unangemessen –, sondern der Text in seinem Kommunikationszusammenhang. Im Folgenden werden nun, an die vorangegangen Überlegungen anschließend, offene Fragen formuliert, die geeignet erscheinen zu bestimmen, welchen literarischen Reflexionsraum der Komplex des ‚Jüdischen‘ eröffnet und mit welchen anderen werkimmanenten oder außerliterarischen Konstruktionen er in Beziehung gesetzt wird. Grundsätzlich steht eine genaue philologische Analyse des jeweiligen Textes im Zentrum der Untersuchung, um so die Eigenarten literarischer Texte ernst nehmen zu können. Das heißt, es wird zunächst eine Analyse der poetischen Gestalt, der äußeren Form, des Aufbaus und der Struktur der Texte vorgenommen. Im Fokus stehen hier vor allem der ‚Stoff‘ der Texte (Prä- und Intertexte), das Feld der Akteure literarischer Kommunikation, also Erzähler und Erzählsituation, die Erzählebenen, Friktionen zwischen Figuren- und Erzählerrede und die Organisation der (antijüdischen) Aussagen im Text. Zu fragen ist, ob eine Reduktion oder Pauschalisierung stattfindet. Wie werden die jeweiligen ‚Judenbilder‘ gezeichnet, gibt es Dialogisierungsmanöver? Wie werden Bedeutungszuschreibungen durch textuelle Strategien erzeugt oder dekonstruiert, wie verhalten sich Affirmation und Subversion zueinander? Gibt es eine Koexistenz konfligierender Sinnangebote? Wie wird Distanz bzw. Differenz markiert und gibt es mögliche generalisierende Konstruktionsmuster? Werden tradierte Versatzstücke bloß abgebildet, um sie zu perpetuieren, oder werden diese mit poetischen Verfahren 134 135 136 137
So Körte: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ (wie Anm. 82), S. 67. So Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz (wie Anm. 91), S. 11. Körte: Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ (wie Anm. 82), S. 68. Fischer (wie Anm. 41), S. 120.
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
unterminiert? Welche Assoziationsräume werden eröffnet? Welche Bedeutung hat die Figur für das Werkganze und wie ist das einzelne Werk (und die dortigen Figurationen des Jüdischen) im Werkkontext zu beurteilen? Große Bedeutung hat selbstverständlich auch die Analyse der semantischen sowie lexikalischen Ebene. Jenseits der werkimmanenten Untersuchung ist eine gattungsgeschichtliche bzw. -theoretische Analyse zu leisten, um feststellen zu können, inwiefern auch solche Vorgaben die Konstruktionen möglicherweise dominieren. Denn gerade formale und inhaltliche Normen und Konventionen spielen für das stark rhetorisch geprägte literarische Schaffen des siebzehnten Jahrhunderts eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aus diesem Grund sollen die Eigenarten des jeweiligen Textes zum Ausgangspunkt der Textauslegung gemacht werden und – insbesondere bei den Dramen – im Anschluss an Neubauer138 ein Perspektivwechsel stattfinden: Das heißt ‚Judenrollen‘ sollen vom Theater her (Gattungstraditionen, Rollenfächer, Vorgaben, szenisch-visuelle Wirkung, Modifikationen, Rollenprofil), nicht als Reflex auf oder in Differenz zur historischen Wirklichkeit, gelesen werden. Es geht also nicht um den Nachweis einer wie auch immer gearteten Judenfeindschaft in literarischen Texten und bloßen Aneinanderreihung von Stereotypen, sondern vielmehr darum, mittels einer genauen philologischen Analyse, die umfassend zu kontextualisieren ist, die Spannungs- und Bedeutungsverhältnisse zu beschreiben, in denen Figurationen des Jüdischen konstruiert werden. Vor dem Hintergrund der immer wieder konstatierten Annahme, dass es erst im Zuge der Aufklärung mit Lessing und Gellert zu einer positiven Konnotation des Judentums in der Literatur kam,139 lautet eine weitere Frage: Waren ‚positive Juden‘ in der Literatur des Barock möglich? Literatur soll also von ihren Möglichkeiten her beschrieben werden, um so auch das Ausloten von Freiräumen jenseits antijüdischer Konstruktionen in den Blick zu nehmen.
2.4 Textkorpus: Eingrenzung und Begründung Ausgehend von der breiten Fragestellung wird in dieser Arbeit eine Vielzahl heterogener Texte des siebzehnten Jahrhunderts in die Analyse einbezogen: Zu nennen sind Erzählsammlungen als bisher nur punktuell wahrgenommene Gattung, welche in sich wiederum einen hohen Grad an Diversität aufweisen, höfisch-historische Romane, heroisch-galante Abenteuerromane, die simplicia138 Vgl. Neubauer (wie Anm. 79). 139 Vgl. beispielsweise Och: „Gellerts polnischer Jude gilt als der erste edle Jude der deutschen Literatur und das zu Recht, da sich zuvor weder im Roman noch im Drama eine derart positiv gezeichnete Judenfigur nachweisen lässt.“ Och (wie Anm. 44), S. 122.
2.4 Textkorpus: Eingrenzung und Begründung
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nischen Schriften Grimmelshausens, Dramen der Wanderbühne und des Schultheaters, Periochen des Jesuitentheaters und Libretti der Hamburger Barockoper. Der weitgehende Ausschluss lyrischer Texte bedingt sich durch die Fundsituation, waren doch jüdische zeitgenössische Figuren – ähnlich wie in der Tragödie – aufgrund formaler Vorgaben kaum darstellbar. Diese auf den ersten Blick willkürlich anmutende Auswahl und Anordnung bedarf einer Begründung. Im Mittelpunkt der Textauswahl stand deren Repräsentativität für die verfolgte Fragestellung. ‚Repräsentativität‘ bedarf jedoch einer Problematisierung, will man die damit verbundenen Tücken meiden. Denn – und dies gilt für jegliche Form der Auswahl – es kommt nur das in den Blick, was ausgewählt wird. Dies bedeutet jedoch zwangsläufig, das Ergebnis der Analyse bereits vorwegzunehmen und mögliche gegenläufige Tendenzen auszuschließen. Irritationen und Innovationen können so nicht in den Blick geraten, wenn der Auswahl und damit der Analyse bereits eingeschrieben ist, was sie zu untersuchen meint: Das im Titel angedeutete und noch unbestimmte ‚Dazwischen‘ kommt nicht in den Blick, wenn es der Auswählenden allein darum geht, antijüdische bzw. judenfreundliche Texte vorzustellen und damit eine entweder-oder-Alternative zu suggerieren. Dementsprechend soll in dieser Untersuchung ein möglichst weites Feld literarischer Formen abgeschritten werden, gilt es doch unter anderem zu ermitteln, wie und in welchem Maße Gattungslizenzen wirken und welche Wirkungen konkurrierende Entwürfe entfalten. Dennoch kann die hier vorgestellte Auswahl trotz des Strebens nach Repräsentativität nicht den Anspruch erheben, auch repräsentativ zu sein und ist insofern in gewissem Sinn als arbiträr zu verstehen, denn sie hätte gewiss – zunächst was die Auswahl der Quellen anbelangt – anders aussehen können, beruht sie doch immer auf einem letztlich subjektiven Akt der Zusammenstellung. Doch ist die Zusammenstellung der Texte nicht wahllos, erklärt sie sich doch über ihren Untersuchungsgegenstand: Konstruktionen des Jüdischen, welchen in möglichst repräsentativen Texten nachgeforscht wird. Betrachtet werden vor allem Texte, Textausschnitte und Textgruppen, in denen Juden und Judentum zentral thematisiert werden. Einschränkend ist jedoch hinzuzufügen, dass ausschließlich Texte diskutiert werden, in denen das zeitgenössische, nicht-biblische Judentum verhandelt wird. Der daraus resultierende Ausschluss der durchaus zahlreichen Texte mit alttestamentarischen Stoffen und Motiven begründet sich in der Annahme, dass diese Stoffe, Motive und Figuren konsequent typologisch gedeutet wurden. Insofern stellten sie keine Provokation dar; anders als das zeitgenössische Judentum, das in seiner Fremd- und Andersheit zu einer Stellungnahme reizte. Diese Stellungnahmen, die zwischen Abgrenzung und Annäherung changieren, gilt es zu untersuchen. Des Weiteren ist zu beachten, dass Juden oftmals in Episoden umfangreicher Werke auftreten, ohne dass diese sich ausschließlich oder im Besonderen dem
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2 Systematischer Teil: Begriffe – Methoden – Textkorpus
Judentum widmen. Davon ausgehend, dass der Terminus ‚Jude‘ als Gemeinplatz für verschiedene Kategorien eingesetzt wurden, auf den man vielfach rekurrieren konnte, ohne sich in Details über diese Glaubensgruppe zu ergehen, erscheint es jedoch wichtig, auch diese vereinzelten Rekurse zu betrachten. Teilweise werden also auch wenige Zeilen umfassende Hinweise eingearbeitet, um zu zeigen, dass das ‚Andere‘ präsent war, auch wenn es nicht im Vordergrund steht. Es wurde versucht, ein möglichst breites Spektrum von Textsorten und -gattungen zu berücksichtigen, sodass neben den genannten Texten auch immer wieder nicht-fiktionale Texte in den Blick kommen bzw. zur Kontextualisierung herangezogen werden (z.B. Traktate, Pasquille, Erbauungsschriften, Ratgeber und Verhaltenslehrbücher, Historiensammlungen, Flugschriften sowie wissenschaftliche Publikationsorgane), um – in Anlehnung an diskursanalytische Überlegungen – Interdependenzen zwischen verschiedenen Wissenssystemen aufzeigen zu können. So sind bei der Analyse unter anderem stets Abhandlungen zur jüdischen Theologie, zu jüdischen Riten und religiösen Praktiken oder auch zur Kabbala von Seiten christlicher Hebraisten emphatisch mitzubedenken, die die Auseinandersetzung mit Juden und Judentum mitbestimmten. Beispielhaft zu nennen sind etwa Antonius Margarithas Der gantz Jüdisch glaub (1530)140 oder Johannes Buxtorfs Synagoga Judaica (1603),141 die zahlreiche Auflagen sowie Übersetzungen erlebte.142 Gleiches gilt für die Predigtliteratur und insbesondere für die sogenannten „Judenpredigten“, wie etwa Hosmanns Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz.143
140 Antonius Margaritha: Der gantz Jüdisch glaub mit sampt ainer gründtlichen vnd warhafften anzaygunge [sic!]/ Aller Satzungen/ Ceremonien/ Gebetten/ Haymliche vnd offentliche Gebreüch/ deren sich dye Juden halten/ durch das gantz Jar/ Mit schönen vnd gegründten Argumenten wyder iren Glauben. Augsburg 1530. 141 Johannes Buxtorf: Synagoga Judaica: Das ist/ Jüden Schul: Darinnen der gantz Jüdische Glaub und Glaubensvbung/ mit allen Ceremonien/ Satzungen/ Sitten vnd Gebräuchen/ wie sie bey ihnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß jhren eygenen Bücheren vnd Schrifften/ so den Christen mehrtheils vnbekandt/ vnd verborgen seind/ grundtlich erkläret […]. Basel 1603. 142 Vgl. weiter die Übersicht über 79 Werke, die sich mit jüdischen Ritualen, Zeremonien und Gebeten beschäftigen, bei Deutsch: Yaacov Deutsch: „A View of the Jewish Religion“. Conception of Jewish Practice and Ritual in Early Modern Europe. In: Archiv für Religionsgeschichte 3 (2001), S. 273–295, hier S. 289–295. Vgl. zur Beschäftigung christlicher Hebraisten mit der jüdischen Religion unten, S. 87f. und die dortigen Angaben zur Forschungsliteratur. 143 Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz/ Nebst einigen VorbereitungsMitteln zu der Juden Bekehrung/ Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung/ welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff/ als er vor der Fürstl. Residentz=Stadt Zelle/ nebst andern hochberüchtigten Dieben den 21. Martii An. 1699. abgethan […]. Zelle 1699. Vgl. dazu unten, S. 104–106.
2.4 Textkorpus: Eingrenzung und Begründung
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Insgesamt wird so der Versuch unternommen, ein möglichst umfassendes Bild von Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des siebzehnten Jahrhundert nachzuzeichnen, wobei die Studie immer nur exemplarisch verfahren kann. Die Beschreibungsintention ist also in methodischer wie historischer Hinsicht im Sinne von Geertz „dicht“, aber keineswegs umfassend.144
144 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 2002.
3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie – Konstruktionen des Jüdischen in der Kompilationsliteratur des siebzehnten Jahrhunderts Der Buchmarkt der Frühen Neuzeit war in auffälliger Weise vom kompilatorischen Schrifttum geprägt. Es entstand vor allem seit dem sechzehnten Jahrhundert eine Vielzahl von Sammlungen, die meist unter den Begriffen Schwankbücher, Apophthegmen-, Exempel-, Predigtmärlein-, Tragica- oder Crimina-Sammlungen, Florilegien, Historien-, Wissens- oder Gesprächspielsammlungen firmieren. Doch nur wenige der Kompilationen1 lassen sich eindeutig einer dieser Klassifizierungen zurechnen, sind sie in sich doch extrem heterogen, sodass man, wenn man ihnen mit allzu fertigen Definitionen begegnet, Gefahr läuft, die Spezifik der einzelnen Sammlungen zu missachten und bei Generalisierungen stehen zu bleiben. So unterscheiden sich die einzelnen Sammlungen nicht nur eminent – man denke beispielsweise an Johannes Peter de Memels, d.i. Johannes Prätorius, Lustige Gesellschaft, Matthias Abeles Vivat Unordnung oder Happels Relationae Curiosae –, auch innerhalb dieser lassen sich die Texte verschiedensten Textsorten zuordnen –
1 Der durchaus unspezifische Begriff „Kompilationsliteratur“ wurde hier mit Bedacht gewählt, um so zum einen die Heterogenität der Sammlungen selbst wie auch die der darin vertretenen Textsorten zu markieren, zum anderen um Produktions- und Rezeptionsbedinungen zu markieren (Kompilationen versammelten bekannte und unbekannte Texte und wurden selbst wieder weiterund ausgeschrieben). Alternativbegriffe wie etwa „Buntschriftstellerei“ (vgl. beispielhaft Wilhelm Kühlmann: Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher ‚Buntschriftstellerei‘. In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Hg. von Flemming Schock. Berlin, New York 2012 [Frühe Neuzeit 169], S. 21–42) oder „Kuriositätenliteratur“ (Rudolf Schenda: Art. Kuriositätenliteratur. In: Enzyklopädie des Märchens. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Bd. 8. Berlin, New York 1996, Sp. 647–660) erscheinen ungeeignet, die hier vorgestellten Sammlungen zu bezeichnen. Dies bedingt sich zuvörderst in der Heterogenität der Sammlungen, da so nicht alle Sammlungen erfasst werden würden. So sind beispielsweise die Schwankbücher Memels, Freys oder Kirchhofs nur schwerlich unter diesen Begriffen subsumierbar, da insbesondere der Begriff „Buntschriftstellerei“ vor allem auf Erscheinungsformen von Erzählsammlungen in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts angewendet wird. So gilt Lauremberg dann auch ‚nur‘ als „Wegbereiter[…]“ der Buntschriftstellerei. Vgl. Flemming Schock: Wissensliteratur und „Buntschriftstellerei“ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation. In: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit. Hg. von Flemming Schock. Berlin, New York 2012 (Frühe Neuzeit 169), S. 1–20, hier S. 4. Zum Begriff vgl. weiter ebenda.
3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
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exempelhafte Texte, Historien, Predigtmärlein, Fabeln, Sprichwörter, Fazetien, Schwänke, Rätsel, Berichte über merkwürdige Begebenheiten usw. –, wobei diese innerhalb einer Sammlung auch unverbunden nebeneinander stehen können. Insofern kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, das gesamte kompilatorische Schrifttum der Frühen Neuzeit – was ohnedies wohl kaum in einer einzigen Arbeit zu leisten wäre – zum Gegenstand der Analyse zu machen.2 Diese vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten der einzelnen Textsorten innerhalb verschiedenster Kompilationen deuten eine funktionale Offenheit sowohl der Texte wie auch der Sammlungen selbst an, die aus einer schon im sechzehnten Jahrhundert festzustellenden „Verfremdung der Gattungsintentionen“3 gerade durch das Kompilieren resultiert, wenn ganz unterschiedliche Gattungen nebeneinander gerückt werden und tradierte Funktionsbestimmungen – darauf hat Meierhofer verwiesen –, wie die religiöse und moraldidaktische Unterweisung durch exempla, aufweichen.4 Deutlich wird dies an den adressatenbezogenen topischen Losungen der Kurzweil, der Melancholievertreibung und des Zeitvertreibs, die das Erzählen auch jenseits des homiletisch-pastoralen Nützlichkeitspostulats legitimieren.5 Auch die alte Trennung von historia, argumentum und fabula verliert – dies konnte zuletzt Meierhofer zeigen – allmählich ihre Gültigkeit, wenn unter historia nicht mehr nur historisch Bezeugtes, sondern auch Geschehnisse, die nicht vorgefallen oder undenkbar sind, fallen können und historia zugleich die wahrheitsgetreue Darstellung und nicht die Gegenstände selbst meinen kann. Der Begriff historia entzieht sich so immer mehr einer definitorischen Abgrenzung, ist flexibel einsetzbar und kann als Bezeichnung für Geschichten innerhalb der Schwankprosa, von Flugschriften und Relationen, für chronikalische Geschichtsschreibung oder auch als Gegenstand der Historiographie dienen.6
2 Vgl. dazu Meierhofer, der in seiner Studie die Kompilatorik der Frühen Neuzeit unter dem Aspekt sich transformierender Erzählweisen und Erzählabsichten untersucht und dabei verschiedenste Formen des Sammelschrifttums vom sechzehnten Jahrhundert bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in seine Untersuchung einbezieht. Christian Meierhofer: Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht. Würzburg 2010 (Epistemata. Würzburger Wissenschaftliche Schriften, Reihe Literaturwissenschaft 702). 3 Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort Kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne. In: Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Hg. von Thomas Althaus, Wolfgang Bunzel, Dirk Göttsche. Tübingen 2007, S. IX–XXVII, hier S. XII. 4 So Meierhofer (wie Anm. 2), S. 8f. 5 Dazu Meierhofer (wie Anm. 2), S. 19–58. 6 Ebd., S. 9. Vgl. zum Begriff Historie vor allem Joachim Knape: ‚Historie‘ in Mittelalter und früher Neuzeit. Begriffs- und gattungsgeschichtliche Untersuchungen im interdisziplinären Kontext.
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3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
Diese funktionale Offenheit der Erzählformen begründet, warum im Folgenden zunächst die Kompilationsliteratur beleuchtet werden soll: Sie ist ein „textueller Explorationsraum“,7 in dem sich tradierte Sinngebungsmuster aufzulösen beginnen und zugleich traditionsbildende Konstruktionsmechanismen stattfinden, die wiederum im Rahmen anderer Gattungen aufgegriffen und entsprechend funktionalisiert werden. Es sei ein Beispiel angeführt: Die Geschichte um den falschen Messias ist in der europäischen Literatur in zahlreichen Varianten nachweisbar.8 Ursprünglich wird der Stoff in keinen Zusammenhang mit Juden gebracht,9 in der Literatur des sechzehnten Jahrhunderts werden die Juden dann zu den Betrogenen.10 Es soll hier jedoch nicht darum gehen, Stoffgeschichte(n)
Baden-Baden 1984 (Secula Spiritalia 10) und weiter Rosmarie Zeller: Fabula und Historia im Kontext der Gattungspoetik. In: Simpliciana 20 (1998), S. 49–62; Stefan Trappen: Fiktionsvorstellungen der Frühen Neuzeit. Über den Gegensatz zwischen „fabula“ und „historia“ und seine Bedeutung für die Poetik. In: Simpliciana 20 (1998), S. 137–163 sowie Wolfgang Brückner: Historie und Historien. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. von Wolfgang Brückner. Berlin 1974, S. 13–123, insb. S. 35–53. 7 Althaus, Bunzel, Göttsche: Ränder, Schwellen, Zwischenräume (wie Anm. 3), S. XII. 8 Ein Kleriker oder Student verführt ein jüdisches Mädchen, schwängert sie, ‚erscheint‘ als Bote Gottes bei ihren Eltern und eröffnet ihnen, dass ihre Tochter den langersehnten Messias erwarte. Die Geburt des Kindes (meist ein Mädchen) macht die Hoffnungen der Juden zunichte und zeigt ihnen, dass sie betrogen worden sind. 9 Giovanni Boccaccio: Der Decamerone. Die Novellen des dritten und vierten Tages. Deutsch von Heinrich Conrad. Berlin 1984, S. 159–173. Zu Decameron-Bearbeitungen in den Schwankbüchern des sechzehnten Jahrhunderts vgl. Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ‚novelle‘ im 15. und 16. Jahrhundert. Amsterdam, New York 2005 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 38), insb. S. 415–423; Claudia Bolsinger: Das Decameron in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt a.M. u.a. 1998 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1 1687). 10 Vgl. beispielhaft Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer. München 1961 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 1), S. 92–98; Caesarius von Heisterbach: Item de virgine Hebraeae quodam clerico impraegnata: quam cum parentes parituram crederent Messiam, peperit filiam, zitiert nach der Ausgabe Caesarius von Heisterbach. Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder. Erster Teilband, eingeleitet von Horst Schneider, übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86, 1), S. 425–456; Heinrich Bebel. Fazetien. Drei Bücher. Übersetzt und eingeleitet von Manfred Fuhrmann. Konstanz 2005 (Bibliotheca Suevica 13), S. 162 sowie Hans Wilhelm Kirchhof: Ein mönch zeugt der Juden messiam (I, 2, 50). In: Ders.: Wendunmuth. Hg. von Hermann Österley. 5 Bde. Tübingen 1869, S. 510f. Weitere Varianten finden sich auch in C. A. M. von W.: Neuaußgebutzter/ Kurtzweiliger Zeitvertreiber/ Welcher außgezieret mit allerhand lustigen Hoffreden/ lächerlichen Schwäncken/ artigen Schnacken/ nachdencklichen wolgerissenen Possen […]. Die bey lustliebenden Gesellschafften/ vertraulichen Collationen/ auff Reisen […] können gelesen und fürgebracht werden. Auß unterschiedenen Schrifften, Büchern, Mittheilung
3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
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nachzuzeichnen, es sei vielmehr auf den Umstand verwiesen, dass die Erzählung gerade durch die Popularisierung im Rahmen von Schwanksammlungen Einzug auch in andere Genres erhielt und dort produktiv rezipiert wurde, so etwa in Kormarts Josebeth-Roman oder Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogel-Nest II. In der Kompilationsliteratur werden mithin Motive wie auch Darstellungs- und Erzählweisen vorgestellt, die traditionsbildend sind und damit in andere Gattungen hineinwirken. Zugleich bietet sich die Kompilationsliteratur aufgrund ihrer funktionalen Offenheit zum Erproben neuer Darstellungs- und Erzählweisen vom Juden und Judentum geradezu an. Insofern sollen im Folgenden auch Schwänke des sechzehnten Jahrhunderts in die Analyse einbezogen werden, da diese häufig in Kompilationen des siebzehnten Jahrhunderts Eingang fanden,11 wurden so
guter Freunde, täglichen Anmerkungen auff Reisen und in Gesellschafften zusammen getragen/ und zum Vierdtenmahl vermehret und an vielen Orten verbessert heraußgegeben. [o.O.] 1685, S. 241f. sowie bei Abraham a Sancta Clara: Abrahamische Lauber-Hütt […]. Wien, Nürnberg 1721, S. 32. Vgl. weiter auch Grimmelshausen – auf den noch zu kommen sein wird – sowie Jakob Wassermann (Jakob Wassermann: Die Juden von Zirndorf. Mit einem Nachwort von Gunnar Och. Cadolzburg 1995). Zu den verschiedenen Bearbeitungen der Erzählung vgl. einführend Winfried Frey: The „Messiah of the Jews“ in German Medieval Literatur. In: Canon and Transgression in Medieval Literature. Ed. by Albrecht Classen. Göppingen 1993 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 573), S. 175–193 und Florian Krobb: Die Schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993, S. 22–25. 11 Neben den hier zu analysierenden Schwänken war insbesondere den geistlichen und weltlichen Spielen, die oft mit einem ausgeprägten Antijudaismus operierten, große Wirkmächtigkeit beschieden. Vgl. dazu einführend Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant”. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 14); Dies.: Synagoga und Ecclesia. Zum Antijudaismus im deutschsprachigen Spiel des Spätmittelalters. In: IASL 12 (1987), S. 57–81; Klaus Geissler: Die Juden in mittelalterlichen Texten Deutschlands. Eine Untersuchung zum Minoritätenproblem anhand literarischer Quellen. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 38 (1975), S. 202– 212; Florian Rommel: „ob mann jm vnrehtt thutt, so wollenn wir doch habenn sein blut“. Judenfeindliche Vorstellungen im Passionsspiel des Mittelalters. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 183–208; Monika Wolf: „so tünd ich dir verbinden din ougen vnd brich dir din baner ouch en zwey“. Ecclesia und Synagoge in fortwährendem Streit. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 42–44; Heinz Schreckenberg: Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. 3 Bde. Frankfurt a.M. u.a. 1994–1999, S. 337–419; Friedrich Ohly: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. In: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch. Hg. von Paul Wilpert. Berlin 1966 (Miscellana Mediaevallia 4), S. 350–369; Barbara Könneker: Das Donaueschinger Passionsspiel. In: Euphorion 79 (1985), S. 1–42; Natascha Bremer: Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des Mittelalters. Frankfurt a.M. u.a. 1986 (Europäische Hochschulschrif-
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doch Vorstellungen und Deutungen des Judentums tradiert und zugleich durch die Einbindung in neue Zusammenhänge transformiert. Vor dem Hintergrund der angesprochenen Transformationen hinsichtlich der einzelnen Textsorten wie auch der Begriffe erscheint eine induktive Herangehensweise am ertragreichsten, entgeht man so doch der Gefahr, bei allzu verallgemeinernden Aussagen stehen zu bleiben, wenn man den Texten mit vorgefertigten Definitionen begegnet. Das bedeutet auch, dass es nicht überzeugend erscheint, die einzelnen Texte bestimmten Gattungen oder Textsorten zuzuordnen und diese dann entlang dieser Grenzen zu analysieren, sind doch die Übergänge zwischen den einzelnen Gattungen, z.B. Facetie, Witz, Schwank, Anekdote, Apophthegma usf., meist fließend und die Texte häufig nicht einer bestimmten Gattung eindeutig zuzuordnen. Zudem sagt eine solche Zuordnung noch nichts über die jeweilige Funktion des Textes aus. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Gattungsgrenzen im Folgenden ignoriert werden, vielmehr gilt es, dort wo eindeutige Klassifizierungen möglich sind, diese für die Analyse fruchtbar zu machen. Das Korpus bilden Texte, die unterschiedlichsten Gattungen und Textsorten zuzurechnen sind: berücksichtigt werden unter anderem Schwänke und schwankhafte Erzählungen, Anekdoten, Auszüge aus Relationen, chronikalischannalistischen Kompilationen und Judaica, Flugblätter und -schriften sowie Konversationsliteratur. Damit liegt der Untersuchung ein im Hinblick auf Schreibund Erzählsituation, Darstellungsweise und Entstehungszusammenhang durchaus heterogenes Korpus zugrunde, das jedoch gezielt so ausgewählt ist, um zum einen anhand exemplarischer Texte ein möglichst breites Spektrum der vielfältigen Kompilationsliteratur abbilden zu können und zum anderen die Vielzahl der Begründungsmöglichkeiten, Konstruktionsmechanismen und Funktionen der Texte aufzeigen zu können. Die Auswahl der Texte begründet sich zunächst in der Fundsituation: So wurde – entsprechend der unüberschaubaren Zahl von Werken, die der Kompilationsliteratur zugerechnet werden können – durch Autopsie eine Vielzahl von
ten, Reihe 1 892); Regine Schiel: Die giftigen würm das seit ir. Antijudaismus in Fastnachtspielen des Nürnberger Meistersingers Hans Folz (Ende 15. Jahrhundert). In: Judentum und Antisemitismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch. Hg. von Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj. Berlin 2002, S. 147–177; Dorothea Freise: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters: Frankfurt – Friedberg – Alsfeld. Göttingen 2002 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 178) sowie Werner Röcke: „So sein sie schedlicher den Kristen/ das der teufel mit all seinen listen.“ Christlicher Antijudaismus und Dämonisierung des Fremden in der städtischen Literatur des späten Mittelalters. In: „Nicht allein mit Worten“. Festschrift für Joachim Dyck zum 60. Geburtstag. Hg. von Thomas Müller, Johannes G. Paukan, Gert Ueding. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 124–134.
3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken
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Belegstellen ermittelt, in denen Juden und Judentum zur Darstellung kommen, sodass es notwendig war, exemplarische Texte zur Analyse auszuwählen. Zugleich bedingt die Heterogenität dieser eine Fokussierung auf bestimmte Bereiche: So werden im ersten Teilkapitel zunächst Schwänke und schwankhafte Erzählungen beleuchtet, um im Anschluss „Historien“ – hier verstanden als tatsächlich oder vorgeblich historisch Bezeugtes – zu analysieren. Diese Einteilung begründet sich zunächst in der Feststellung, dass Juden und Judentum in der Kompilationsliteratur vornehmlich im Rahmen dieser Präsentationsformen verhandelt werden. Darüber hinaus erscheint diese Einteilung geeignet – jenseits einer reinen Belegstellensammlung – auch hinsichtlich ihrer Form, Absicht und Zielsetzung disparate Texte in die Analyse aufnehmen zu können, um so Konstruktionen des Jüdischen innerhalb der Kompilationsliteratur möglichst umfassend beschreiben zu können. Die einzelnen Texte werden vor diesem Hintergrund hinsichtlich ihrer Argumentations- und Darbietungsstrategien analysiert – dass dabei der einzelne Text nicht losgelöst von der jeweiligen Sammlung betrachtet werden kann, ist offensichtlich. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass sich die Sammlungen nur unzureichend beschreiben lassen, wenn man den Blick auf die deutsche Literatur verengt, bestehen doch vielfältige Interdependenzen zwischen den einzelnen Nationalliteraturen. Insofern sind hier auch die Quellen der einzelnen Erzählungen zu berücksichtigen – etwa bei der schon angesprochenen Erzählung vom ‚falschen Messias‘, bei Harsdörffers Darstellung der Ereignisse um Catharina Fernandes oder Happels Bericht über Sabbatai Sevi –, um Tradierungen und Transformationen bezüglich der Konstruktion des Jüdischen ermitteln zu können.
3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken und schwankhaften Erzählungen Es wurde schon kurz angedeutet, dass die Schwankbücher des sechzehnten Jahrhunderts in Bezug auf Vermittlung und Tradierung von Erzähl- und Darstellungsweisen des Judentums eine nicht zu unterschätzende Rolle einnehmen, erfreuten sie sich doch großer Beliebtheit, sodass Kocher das sechzehnten Jahrhundert sogar als „das Jahrhundert der Schwankbücher“ deklariert.12 Auch wenn der Typus des 12 Kocher (wie Anm. 9). Vgl. auch Schubert, der, im Anschluss an Strassner, den Prosa-Schwank wegen seiner Beliebtheit als „Mode-Gattung“ des sechzehnten Jahrhunderts versteht. Ernst Schubert: Randgruppen in der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Städtische Randgruppen und Minderheiten. Hg. von Bernhard Kirchgässner, Fritz Reuter. Sigmaringen 1986 (Stadt in Geschichte 13), S. 129–160, hier S. 129.
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Juden in den Prosaschwänken insgesamt weniger vertreten ist als andere Figuren – der lüsterne, pflichtvergessene Mönch, die triebhafte, ehebrecherische Ehefrau oder der tölpelhafte Bauer – und Juden in Schwankromanen eher selten vorkommen,13 eine Ausnahme bildet hier Eulenspiegel14 und die Historia von D. Johann Fausten,15 kommt ihm doch einige Bedeutung zu. Im Folgenden soll eine Auswahl dieser Texte vorgestellt werden, die die unterschiedlichen Formen schwankhaften Erzählens von Juden und Judentum exemplarisch beleuchten soll, wobei bereits hier festgehalten werden kann, dass im Zentrum der Schwänke insbesondere der Erweis des aus christlicher Sicht jüdischen Irrglaubens und die Verspottung der jüdischen Religion steht. Die zu analysierenden Texte finden sich – bisweilen im selben Wortlaut – immer wieder in unterschiedlichen Sammlungen und bilden damit auch einen Beleg für die frühneuzeitliche Kompilationspraxis: die Nachahmung und das Weiterschreiben besonders beliebter Sammlungen.16 Insofern 13 Dies ergab eine Durchsicht der hier zugrunde liegenden Quellen. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Sonja Zöller: Judenfeindschaft in den Schwänken des 16. Jahrhunderts. In: Daphnis 23 (1994), S. 345–369, hier S. 349. 14 So findet sich im Ulenspiegel eine Variante der Erzählung von den „Wahrsagebeeren“ (Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten. Hg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1966, S. 104–106). Die Vorlage für die Historie 35 im „Eulenspiegel“ bildet Folz Langfassung der „Wahrsagebeeren“ (vgl. Rüdiger Brandt, Jürgen Fröhlich: Bisam „Dreck“ und „Unflat“. Pharmakologisch-poetologische Implikationen eines Motivs in den ‚Wahrsagebeeren‘ von Hans Folz und Historie 35 des ‚Eulenspiegel‘. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 124 [1995], S. 76–91, hier S. 76). Zur Version von Folz vgl. unten, S. 56f. Vgl. weiter auch Das XXXIIII. Capitel. Wie Eulenspiegel die Jueden zu Franckfurt am Mayn/ vmb tausendt Guelden betrog/ denn er verkauffte jhnen Dreck fuer Prophten Beer. In: Eulenspiegel Reimensweiß. Ein newe Beschreibung vnnd Legendt deß kurtzweiligen Lebens/ vnd seltzamen Thaten Thyll Eulenspiegels […]. Frankfurt a.M. [o.J.], zitiert nach der Ausgabe Johann Fischart. Sämtliche Werke. Hg. von Ulrich Seelbach, Hans-Gert Roloff, W. Eckehart Spengler. Band II: Eulenspiegel reimenweis, bearb. von Ulrich Seelbach, W. Eckehart Spengler. StuttgartBad Cannstatt 2002, S. 157–161. 15 Zitiert nach der Ausgabe Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann. Hildesheim, New York 1981 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken, Reihe A 13) [Nachdruck der Ausgabe Frankfurt a.M. 1587], S. 147–151. Vgl. dazu unten S. 76–78. 16 So wurden besonders beliebte Sammlungen, wie etwa Prätorius „Lustige Gesellschaft“ oder Talitz „Kurtzweiliger Reyßgespahn“ immer wieder ausgeschrieben. Zu Nachfolgern dieser Sammlungen vgl. Siegfried Neumann: Schwankliteratur und Volksschwank im 17. Jahrhundert. Quellenkundliche Untersuchungen. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 24 (1981), S. 116–151, hier S. 126; Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5), S. 740f. sowie Ferdinand Gerhard: Joh. Peter de Memels Lustige Gesellschaft. Nebst einer Uebersicht ueber die Schwank-Litteratur des XVII. Jahrhunderts. Phil. Diss. Halle a.S. 1893, S. 119–127.
3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken
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soll der Verweis auf andere Fassungen einzelner Texte nicht einer Belegstellensammlung dienen, sondern auf die Beliebtheit solcher Texte verweisen. Zudem kann so die funktionale Offenheit der Texte demonstriert werden, die zur Folge hat, dass diese Texte in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen funktionalen Zuschreibungen erscheinen. So auch bei der Erzählung vom ‚Falschen Messias‘, die sich – wie schon erwähnt – zahlreich seit Boccaccio und Heisterbach nachweisen lässt. Im Folgenden sei zunächst auf Folz Reimpaardichtung und im Anschluss kurz auf die Version Kirchhofs eingegangen.17 In Folz’ Reimpaardichtung Der falsche Messias18 verführt ein Student in einer schlesischen Stadt ein jüdisches Mädchen, das schwanger wird. Er flüstert ihren Eltern ein, dass sie den Messias gebären werde, und sie wird in froher Erwartung von den Juden mit großem Prunk umgeben. Die Einflüsterungen des Studenten, dessen fragwürdiges Verhalten im Übrigen nicht weiter problematisiert wird, verweisen wie die Namen der Eltern Sara und Abraham persiflierend auf Gen. 17,1–27. Folz rückt somit seinen Schwank in den Kontext eines Zentraltextes des jüdischen Selbstverständnisses: Mit den polemischen Mitteln des Schwankes werden so die Heilsgewissheit der Juden verworfen und ihre Messiaserwartung lächerlich gemacht.19 Zugleich wird der angesprochene Herrschaftsanspruch der Juden,20 der dem christlichen Leser durchaus bedrohlich erscheinen musste und auf das immer wieder variierte Stereotyp der ‚jüdischen Weltverschwörung‘ verweist,21 durch die Aussichtslosigkeit desavouiert. Die tendenziöse Darstellung kulminiert in der ‚Ankunft‘ des erwarteten Messias: In Verkehrung der Geburt Jesu – so kommen wie die Gaben der Heiligen Drei Könige Geschenke der „jüdischeit“ an und die Mutter umgibt prachtvoller Luxus statt Ärmlichkeit – kommt entsprechend der kon-
17 Zu Grimmelshausens Version siehe unten S. 245–259. In vergleichender Perspektive betrachtet auch Frey die Erzählung bei Heisterbach: Folz, Bebel, Kirchhof, Grimmelshausen, Abraham a Sancta Clara und Wassermann. Vgl. Frey: The „Messiah of the Jews” (wie Anm. 10). 18 Folz: Die Reimpaarsprüche (wie Anm. 10), S. 92–98. Im Folgenden werden bei Zitaten die Verse angegeben. Die angeführten Reimpaarsprüche werden in der Forschung unter verschiedenen Titel diskutiert. Ich folge in dieser Darstellung Fischer. 19 So Matthias Schönleber: „der juden schant war offenbar“. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtsspielen von Hans Folz. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 163–182, hier S. 167. 20 Secht, das wird alles herschen gar Heidnischer und der christen schar. (Folz: Der falsche Messias [wie Anm. 18], VV. 53f.) 21 Vgl. zum antijüdischen Stereotyp der Weltverschwörung neben Röcke: „So sein sie schedlicher den Kristen/ das der teufel mit all seinen listen.“ (wie Anm. 11), S. 127 auch Johannes Heil: „Gottesfeinde“ – Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert). Essen 2006 (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen 3).
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sequent durchgeführten Gegenbildlichkeit ein Mädchen22 zur Welt.23 Auch die Mutter ist in deutlichem Kontrast zu Maria gestaltet, wenn auf ihren Liebeshunger angespielt wird und sie, entsprechend der Gattungsvorgabe, als lächerliche Figur erscheint.24 Auch die schmerzvolle Geburt kontrastiert Marias schmerzlose, wodurch der von den Juden erwarteten Messianität des Kindes wiederum eine Absage erteilt wird.25 In der Geburt des Mädchens und dem Suchen einer Erklärung kulminiert sodann die antijüdische Polemik: Entsprechend der den Juden angelasteten Verblendung wird – nun aus der Perspektive der Juden – spekuliert, ob es ein sau im ab het pissen mit wurcz und all heraus gerissen, Oder wie ym sunst wer gescheen, Das weiß ich nit […].26
Unter Anspielung auf das jüdische Beschneidungsritual und die Speisevorschriften,27 wahrnehmbare Zeichen für die Zugehörigkeit zum Judentum, wird so
22 Wenzel und Zöller gehen hingegen von einem verstümmelten Jungen aus. Vgl. Edith Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982), S. 79–104, hier S. 84 sowie Zöller (wie Anm. 13), S. 351, Anm. 24. Anders Schönleber (wie Anm. 19), S. 169. 23 Auf diese Gegenbildlichkeit bzw. Kontrastierung der ‚falschen‘ (jüdischen) Messiaserwartung und der ‚rechten‘ Messianität Jesu hat erstmals Schönleber hingewiesen. Vgl. Schönleber (wie Anm. 19), S. 167–170. 24 Ach, das die halp [der Geschenke; Anm. V.G.] het der student, Und ich dafür in meiner hent, Noch heint seins stolczen leibs ein trum, Und schaczt man mich gleich noch so frum. (Folz: Der falsche Messias [wie Anm. 18], VV. 179–183) Vgl. zu ‚lüsternen Jüdinnen‘ auch den Schwank Ein Jüdin hielt viel mehr vom Tauf/ dann von der Beschneidung. In: Jacob Frey: New Garten Gesellschafft. Ein new Hübsches vnnd Schimpfflichs Büchlein/ genant die Garten Gesellschafft […]. [o.O.] 1618, S. 6. Vgl. auch die zwei Schwänke in C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber/ Welcher außgezieret mit allerhand lustigen Hoffreden/ lächerlichen Schwäncken/ artigen Schnacken/ nachdencklichen wolgerissenen Possen […]. Die bey lustliebenden Gesellschafften/ vertraulichen Collationen/ auff Reisen […] können gelesen und fürgebracht werden. Zusammen getragen/ und zum Zweytenmahl vermehrter herauß gegeben. [o.O.] 1668, S. 213 sowie die Nachweise bei Elfriede Moser-Rath: Lustige Gesellschaft. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984, S. 361, Anm. 89. 25 So Schönleber (wie Anm. 19), S. 168. 26 Folz: Der falsche Messias (wie Anm. 18), VV. 129–193. 27 Zöller wie auch Röcke vermuten in dem aufgerufenen Bild der Sau zudem eine Anspielung auf die verbreiteten Darstellungen der ‚Judensau‘. Vgl. Zöller (wie Anm. 13), S. 351, Anm. 24. sowie Röcke: „So sein sie schedlicher den Kristen/ das der teufel mit all seinen listen.“ (wie Anm. 11), S. 129.
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nochmals die Messiaserwartung der Juden verhöhnt. Aus christlicher Sicht findet sich für Mutter und Kind schließlich ein gutes Ende, da sie vor der Rache der Juden, die sich schließlich in hemmungsloser, animalischer und damit gottferner Entladung der Affekte gegen sie selbst richtet,28 durch den Rat der Stadt geschützt werden und nach ihrer Taufe und der Heirat mit dem Studenten von der christlichen Fürsorge profitieren. In Folz Versschwank wird mithin auf zwei Ebenen gegen die Juden polemisiert: Zum einen werden sie explizit angegriffen und dämonisiert,29 zum anderen bilden zwei autoritative Texte – Gen. 17,1–27 und die Darstellung der Geburt Christi im Evangelium30 – die Folie, vor deren Hintergrund die jüdische Messiaserwartung demontiert wird. Ausgangspunkt ist hier die christliche Auffassung der falschen Rezeption des Alten Testaments durch die Juden und ihrer darin begründeten ‚Verblendung‘. Die vorgestellten Juden werden in ihrer Verblendung und Verworfenheit zum Zerrbild und bezeugen damit zugleich die Messianität Jesu.31 Wesentlich einfacher gestaltet Kirchhof seine Erzählung, jedoch mit anderer Stoßrichtung. So ist es wie bei Heisterbach32 in Kirchhofs Schwank Ein mönch
28
Der juden schant war offenbar Außraufftens peide part und har, Swurn, fluchten, liffen stetigs umen, Vater um muter anzukumen. Die hetes gern in stück zurissen Und mit den zenden gar zupissen. (Folz: Der falsche Messias [wie Anm. 18], VV. 219–224) 29 Vgl. Folz: Der falsche Messias (wie Anm. 18), VV. 83–86, VV. 113–115. und VV. 220–224. Vgl. zum „hewln“ der Juden auch Röcke: „So sein sie schedlicher den Kristen/ das der teufel mit all seinen listen.“ (wie Anm. 11), S. 128 sowie Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 82f. Das „hewln“ in der Synagoge greift hier ein beliebtes Stilmittel der Diffamierung auf. Vgl. dazu unten, S. 57, Anm. 55. 30 Darauf verweist Schönleber (wie Anm. 19), S. 171. 31 Die Reimpaardichtung reiht sich in ihrer extrem antijüdischen Ausrichtung ein in eine Reihe weiterer hochpolemischer Angriffe auf die Juden von Folz. Anzuführen sind beispielsweise die Reimpaardichtungen „Die Wahrsagebeeren“, „Christ und Jude“ und „Jüdischer Wucher“ (alle abgedruckt in: Folz: Die Reimpaarsprüche [wie Anm. 10]). Auch die Fastnachtsspiele von Folz sind von einem starken Antijudaismus geprägt. Vgl. dazu weiter Schönleber (wie Anm. 19), S. 173–182 sowie die Angaben in Anm. 155. 32 Vgl. zu Heisterbach Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 79f. Zu Heisterbachs Exempla, in denen jüdische Figuren auftreten vgl. weiter Ivan G. Marcus: Images of the Jews in the exempla of Caesarius of Heisterbach. In: From Witness to Witchcraft. Jews and Judaism in Medieval Christian Thought. Ed. by Jeremy Cohen. Wiesbaden 1996 (WolfenbüttelerMittelalter-Studien 11), S. 247–256.
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3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
zeugt der Juden messiam33 ein Mönch, der ein jüdisches Mädchen verführt. Es wird jedoch nicht nur gegen den Irrglauben und die Naivität der Juden – die nach der Geburt des Mädchen den Rabbinern antragen, „nachzusuochen, ob der messias, weil sich’s so lang verzogen, in eines weibs gestalt solte geboren werden oder nit“34 und damit Lachen provozieren –, sondern auch gegen die katholische Kirche polemisiert. So rückt Kirchhof den Schwank in eine Reihe mit anderen, die sämtlich eine ähnliche Stoßrichtung verfolgen. Der Schwank dient mithin der stereotypen Anprangerung der Lüsternheit der Mönche und zugleich der Verspottung des Judentums ob seiner ‚Verblendung‘. Die gereimte moralisatio macht dann auch die doppelte Gegnerschaft deutlich:35 Faule eyer und stinckend schmaltz, verlegen hopffen, schimlich maltz geben selten gout speiß und tranck, Sondern vilmehr unflat und stanck.36
Dieses Vorgehen, Verspottung und Anprangerung der Vertreter und Zustände in der katholischen Kirche durch Juden, findet sich auch in weiteren Schwänken Kirchhofs. So will sich in dem Schwank Eines Jüden zeugnuß von des papsts heyligkeit ein Jude taufen lassen und begibt sich nach Rom, jedoch nicht ohne zuvor von einem Priester gewarnt worden zu sein. Angesichts des Treibens in Rom will er sich taufen lassen: Nun wil ich der Christen gott gerne anbeten, denn er ist mehr denn gnug gütig und gedultig. Kan er solche büberey und schande zu Rom leiden, so wird er auch alle andere schalckheit und untugent der welt übersehen; gott aber ist nicht grausam hiernach zu achten, daß er uns, sein volck, also sehr geplaget, und diesen so lang übersehen hat.37
33 Kirchhof: Ein mönch zeugt der Juden messiam (wie Anm. 10), S. 510f. Zu Kirchhof vgl. Albrecht Classen: Deutsche Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. Studien zu Martin Montanus, Hans Wilhelm Kirchhof und Michael Lindener. Trier 2009 (Kola 4), S. 64–146 sowie Werner Röcke: Aggression und Disziplin. Gebrauchsformen des Schwanks in deutschen Erzählsammlungen des 16. Jahrhunderts. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachtinger. Tübingen 1993 (Fortuna Vitrea 8), S. 106–129. 34 Kirchhof: Ein mönch zeugt der Juden messiam (wie Anm. 10), S. 511. 35 So Zöller (wie Anm. 13), S. 352. 36 Kirchhof: Ein mönch zeugt der Juden messiam (wie Anm. 10), S. 511. 37 Kirchhof: Eines Jüden zeugnuß von des papsts heyligkeit. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 188f.
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Jude und Judentum figurieren hier nur mehr als Vehikel in der konfessionspolitischen Auseinandersetzung,38 in der auf antijüdische Vorwürfe verzichtet wird. Diese Texte dienen insofern auch nicht mehr allein dem Erweis, dass es sich beim christlichen Glauben um den ‚wahren‘ handele, sondern erhalten eine propagandistische Funktion, indem nicht nur der Sieg über das Judentum, sondern auch über konkurrierende christliche Gruppen und damit die Bestätigung der eigenen Konfession dargestellt wird.39 Diese Funktionalisierung der Juden innerhalb konfessionspolitischer Auseinandersetzungen führt zuweilen sogar zu einer – in engen Grenzen – positiven Zeichnung der Juden, wie in dem Schwank Von der römischen keuschheit:40 Kirchhof polemisiert hier gegen den moralischen Verfall Roms, wo alle erdenklichen Sünden hemmungslos praktiziert würden. Das angehängte Exempel dient ihm sodann zur Illustration, wenn dort ein Jude angesichts der Zustände in Rom konvertieren will. Auffällig ist hier, dass Kirchhof das hohe Ansehen des Juden unterstreicht, das er wegen seiner Intelligenz und seines
38 So auch in „Lustige Gesellschaft“: „Ein Jesuit sprach eine Judinne vmb/ bey jhm zu schlaffen/ an/ sie gab zur Antwort: Herr/ Sawfleisch ist mir verbotten.“ Johannes P. de Memel [Johannes Prätorius:] Lustige Gesellschaft: Comes Facundus in via pro vehiculo: Allen Reisenden/ auch in Gesellschafft anwesenden Herren und Freunden zu Ehren und Lust/ auß vielen andern Büchern zusammen gesucht/ und uff begehren außgegeben. Zippelzerbst im Drömbling 1656, S. 309. Vgl. weiter auch Julius Wilhelm Zincgref, Johann Leonard Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatvm, Das ist/ Deren in den Teutschen Landen/ Wehr-Lehr-Nehr- Weiberstands Personen/ Hofvnd Schalksnarren/ Beywörter […]. Dritter Theil […]. Amsterdam 1653, S. 108 sowie [Anonym:] Gepflückte Fincken/ Oder: Studenten=Confect: Auffgetragen in Zwoen Trachten/ Jede von 100. Gerichten. Das ist: Zwey hundert außerlesene/ kurtzweilige/ mehrentheils neu=gebackene Historien und Possen/ welche auf seiner langwirigen anderthalb=jährigen Reise/ in unterschiedlichen Gesellschafften gesammlet […]/ Und Seinen Herren Lands=Leuten und andern Studenten/ wie auch sonst allerhand reisenden und maulhenckolischen Personen/ sie gehen/ reiten oder fahren/ zu Lande oder zu Wasser/ oder sitzen hinter dem Ofen/ und braten Aepffel/ zur Recreation, Belustigung des Gemüths/ und Verkürtzung der Zeit/ in Druck gegeben hat. Franckenau 1667, S. 88. Vgl. weiter auch Zincgref, Weidner, wo die religiöse Gegnerschaft zwar noch betont, zugleich aber deutlich gemacht wird, dass die konfessionellen Differenzen innerhalb des Christentums schwerer wiegen, wenn diese zu einem Krieg führen, von dem die Juden wiederum profitieren können. Zincgref, Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatvm, [Teil 3], S. 259. 39 Dies hat Frey auch am Beispiel von Berichten über Judentaufen dargestellt. Vgl. Winfried Frey: Christliche Tradition und Judentaufen in deutschen Texten des 16. Jahrhunderts. In: Kulturelle und religiöse Traditionen. Beiträge zu einer interdisziplinären Traditionstheorie und Traditionsanalyse. Hg. von Torsten Larbig, Siegfried Wiedenhofer. Münster 2005 (Studien zur Traditionstheorie – Studies in tradition theory 1), S. 168–185, insbesondere S. 184f. 40 Kirchhof: Von der römischen keuschheit. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 449f. Vgl. zu diesem Schwank Classen (wie Anm. 33), S. 127–129. Der Schwank findet sich auch bei Bebel (wie Anm. 10), S. 62.
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Wissens genießt.41 Zugleich muss jedoch angemerkt werden, dass diese durchaus positive Darstellung nur vor dem Hintergrund der späteren Taufe gerechtfertigt erscheint. Von Toleranz, wie sie seit dem achtzehnten Jahrhundert diskutiert wurde, kann hier folglich nicht die Rede sein und so finden sich bei Kirchhof auch immer wieder Schwänke, in denen bestimmte den Juden zugeschrieben Eigenschaften, wie etwa ‚Halsstarrigkeit‘ oder ‚Geldgier‘, zum Gegenstand der Kritik werden. Dennoch ist festzuhalten, dass jüdische Figuren in der Kompilationsliteratur – wenn auch sehr selten – nicht ausschließlich verlacht oder kritisiert werden. So bringt der Kurtzweilige Zeitvertreiber eine Anekdote, in der Kaiser Maximilian Juden, die ihm goldene Eier als Geschenke bringen, mit der Begründung „Solche Hüner/ die so schöne köstliche Eyer legeten/ wären einem nicht so leichtlich hinzulassen/ sondern wol zu verwahren/ damit sie nicht davon flögen“42 in Haft nehmen lässt.43 Kritik wird hier nicht an den Juden geübt, sondern vielmehr an der Obrigkeit, die sich die Juden in ökonomischer Hinsicht zunutze macht. Zuweilen spielt die religiöse Zugehörigkeit der Figuren für die Komik auch gar keine Rolle, sodass auf antijüdische Anspielungen und Stereotype verzichtet werden kann: In der Sammlung Exilium Melancholiae findet sich ein Schwank, in dem zwei Juden einen anderen zum Galgen begleiten. Sie wollen ihn auf dem
41 Vgl. weiter auch Kirchhof: Beraubung eines Juden. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 187f. In dieser Erzählung dient der Überfall auf einen Juden als Ausgangspunkt für ein Plädoyer für sichere Strassen. Zugleich wird aber wieder implizit das Stereotyp des geldgierigen jüdischen Pfandleihers aufgerufen, wenn der Jude als reich bezeichnet wird und sich ohne weitere Nachfragen auf den Weg zu der vermeintlichen Edelfrau macht. 42 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 53. Die Anekdote findet sich auch in Ernst Wolgemuth: 500 Frische und vergüldete Haupt=Pillen/ Oder: Neugeflochtener Melancholie=Besem [sic!]. Das ist: Fünff hundert außerlesene Antiquitäten/ lustige Schwänke und mehrenteils neugebackene Historien und lächerliche Possen […]. [o.O.] 1669, S. 48 und [Christoph Lehmann:] Exilium Melancholiae, Das ist Vnlust Vertreiber: Oder Zwey Tausend/ scharfsinnige/ kluge Sprüche/ geschwinde Außschläg/ artige Hofreden/ denckwürdige Schertz/ Fragen/ Antworten/ Gleichnussen/ vnd was dem allem gleichförmig/ sonsten Apophthegmata genannt […]. Straßburg 1669, S. 195. Zur unklaren Verfasserschaft des „Exilium Melancholiae“ vgl. Walter Ernst Schäfer: Apophthegmata in der Nachfolge Zincgrefs: ‚Das Exilium Melancholiae‘ (1643). In: Ders.: Moral und Satire. Konturen oberrheinischer Literatur des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 7), S. 1–29, der für eine Verfasserschaft Martin Zeillers plädiert. Für weitere Nachweise siehe Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 360, Anm. 64. 43 Es braucht wohl nicht betont werden, dass solche Texte keinerlei Aussage über die tatsächliche Haltung der historischen Person gegenüber den Juden zulassen, handelt es sich hier doch um eine Anekdote, in der ein merkwürdiger – glaubwürdiger, aber nicht bezeugter – Vorfall einer bekannten Person zugeschrieben wird. Dieses gilt selbstverständlich auch für die im Folgenden erwähnten Anekdoten über Wallenstein und König Alphonso.
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beschwerlichen Weg trösten und berichten ihm von der Glückseligkeit, die ihn nach dem Tod erwarten wird. Der Verurteilte nimmt schließlich so diesen vielen Erinnerungen müde war/ vnd schier vor Durst vmbfiele/ die Gelegenheit in acht/ vnd gab dem/ so ihn ermahnte/ einen solchen vngestümmen Stoß/ daß er darüber den halß brach/ vnd sagt zu ihm: Gehe du vorhin/ vnd setze den Wein ins Kühlwasser.44
Zumindest verbale Überlegenheit wird dem Juden zugestanden, wenn ein Jude eine Frage, die auf die vermeintliche ‚jüdische Geldgier‘ in Zusammenhang mit der Einhaltung des Sabbats abzielt, zurückweist: Einer fragte einen Juden/ wann er an einem Sabbathtag Zehentausend Cronen finden thäte/ ob er sie nicht auffhehen [sic] wolte? Der Jud antwortete: Wir seind nicht am Sabbathtag/ vnd sihe ich keine Cronen.45
Doch sind diese auf antijüdische Invektiven verzichtenden Darstellungen marginal – es findet sich vielmehr eine Vielzahl von Schwänken, Anekdoten, exempelhaften Kurztexten usw., die sich hochpolemisch gegen das Judentum richten. Dies belegt auch anschaulich die Erzählung von den „Wahrsagebeeren“. Diese ist wohl erstmals Ende des vierzehnten Jahrhunderts von dem Florentiner Novellisten Franco Sacchetti verfasst worden:46 Ein Hofnarr verkauft zu Kügelchen geformten Hundekot als Wahrsagebeeren. Als sich die Betrogenen beschweren, dass die Kugeln aus Kot bestünden, antwortet ihnen der Narr, dass damit die Verkaufsbedingungen erfüllt seien, da sie ja schließlich die Wahrheit sprächen. Diese Erzählung wurde immer wieder variiert: So machte sie beispielsweise Brant in seinen Additiones zur Esopus-Ausgabe im Anschluss an Poggio Bracciolini zu einer Beispielgeschichte zur Warnung vor betrügerischen Propheten, die sich in ihrer Vermessenheit gegen Gott vergehen.47 Die Ein-
44 Lehmann (wie Anm. 42), S. 449. 45 Ebd., S. 245. Vgl. weitere Nachweise bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 361, Anm. 86. Vgl. auch Julius Wilhelm Zincgref: Teutscher Nation Denckwürdiger Reden Apophthegmata genant/ Anderer Teil. Straßburg 1631, S. 83. 46 Vgl. dazu Zöller (wie Anm. 13), S. 353. 47 Vgl. Nr. 75 „De eo qui socium suum fecit prophetam”. In: Sebastian Brant. Fabeln. Carminum et fabularum additiones Sebastiani Brant – Sebastian Brants Ergänzungen zur Aesop-Ausgabe von 1501. Mit den Holzschnitten der Ausgabe von 1501 herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Schneider. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur, N.F. 4), S. 236f. Weitere Varianten finden sich beispielsweise bei Bebel (wie Anm. 10), S. 120 sowie bei Martin Luther: Tischreden, zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 2, 3. Weimar 1914, S. 384.
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fügung von Juden, die zum Opfer des Betrugs werden, hat wohl als erster Folz vorgenommen.48 Die Schwankmäre Die Wahrsagebeeren liegt in zwei Fassungen vor, von denen die zweite, gestrafftere Fassung deutlich schärfer als die erste ist, die sich gegen Kurpfuscher richtet und in der die Juden als Beispiel für Dummheit gelten.49 So schließt die zweite Fassung mit einem hämischen, an spätmittelalterliche ‚Judensau‘-Darstellungen erinnernden Moral,50 die Skatologie und Koprophagie als judentypische Phänomene deklariert: Las wir die juden am pisem nagen, pis sie all arßlöcher lern aus mitsamt der spitaler scheißhaus. Etwen finden sie des drecks mer.51
Wie schon in Der falsche Messias greift Folz auf tradierte antijüdische Vorurteile und Stereotype zurück und montiert sie zu einer die Juden diffamierenden Erzählung: Während der Frankfurter Messe gelingt es dem „abentewrer“ drei reichen Juden – womit implizit das Stereotyp des geldgierigen jüdischen Händlers aufgerufen wird – Kotkugeln als Wahrsagebeeren zu verkaufen. Er preist diese an und gerade seine Umschreibung des Herkunftsortes macht sie für die Juden interessant, müssen sie doch vor allem aufgrund ihres exotischen Ursprungs kostbar sein.52 Auch die Aussicht auf die Weissagung überwindet ihr Misstrauen, wodurch zugleich ihre Verblendung offenbar wird, wenn sie auf ihrem eigenen – so die stereotype Zuschreibung – Gebiet, dem Handel, betrogen werden. Der Abenteurer erweist sich jedoch als versierterer Händler, bedient er sich doch ihrer eigenen Überzeugungen, was ihre spätere Fassungslosigkeit erklärt. Nach dem Kauf bringen die
48 So Zöller (wie Anm. 13), S. 353. Vgl. dazu auch Wolfgang Virmond: Eulenspiegel und seine Interpreten. Berlin 1981 (Facetiae 2), S. 50f. 49 Folz: Die Reimpaarsprüche (wie Anm. 10), S. 60–72 [1. Fassung], S. 61–71 [2. Fassung]. Fischer datiert die erste Fassung auf 1479, die zweite um 1485/86. Vgl. Hanns Fischer: Einleitung. In: Hans Folz. Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer. München 1961 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 1), S. XVIII. 50 Zum Motiv der „Judensau“ vgl. einführend Isaiah Shachar: The Judensau. A medieval AntiJewish Motif and Its History. London 1974 (Warburg Institute Surveys, Vol. 5); Birgit Wiedl: Laughing at the Beast: The Judensau. In: Laughter in the Middle Ages and Early Modern Times. Epistemology of a Fundamental Human Behavior, its Meaning, and Consequences. Ed. by Albrecht Classen. Berlin, New York 2010 (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture, Vol. 5), S. 325–364. 51 Folz: Die Wahrsagebeeren II (wie Anm. 49), V. 128–131. 52 Folz: Die Wahrsagebeeren I (wie Anm. 49), VV. 64–81. Vgl. zur ‚Attraktivität‘ der Kugeln auch Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 87.
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Juden die Kugeln auch sogleich zu ihrem Rabbiner, der – nachdem er sich entschlossen hat, dies „nüchtern […] zu thun“53 – in der Synagoge eine Zeremonie abhält. Diese wird mit großer Akribie geschildert und bildet einen Höhepunkt der antijüdischen Polemik des Schwankmäre. So bezeichnen die Juden ihr Gebet selbst als „groß geschray“,54 womit – wie schon im Falschen Messias – ihr unkontrolliertes Verhalten und damit ihre Gottesferne betont wird. Zugleich wird das schon im Fastnachtsspiel beliebte Mittel der „Judenszenen“ oder „Judenschullieder“ aufgenommen, die in mittelalterlichen und älteren volkstümlichen Spielen vornehmlich der Verspottung der Juden dienten, zugleich aber auch aufgrund der Fremdsprachigkeit – den Juden wurden hebräische oder pseudo-hebräische Worte in den Mund gelegt – das Publikum in seiner Ablehnung der fremdartigen und somit bedrohlichen, weil unverständlichen, Minderheit bestärkt.55 Der Betrug wird offenbar, als der Rabbiner die Kotkugeln isst. Nicht nur die Koprophagie erniedrigt hier die Juden, sondern auch der anschließende Prozess, in welchem dem Abenteurer durch seinen Wortwitz wiederum die überlegene Position zufällt.56 Die Popularität der Geschichte beruht wohl hauptsächlich auf den im sechzehnten Jahrhundert beliebten skatologischen und koprophagischen Passagen in Schwank und Fastnachtspiel.57 Ganz der Fäkalkomik verpflichtet ist auch der in Bezug auf die Darstellung des Jüdischen beliebte – darauf verweisen die zahlreichen Übernahmen in verschiedene Sammlungen – Schwank vom Juden im Abort, der von anderen Juden nicht herausgezogen werden kann, da Sabbat ist. Auch am nächsten Tag wird ihm nicht geholfen, da nun Sonntag ist.58 Die Pointe
53 Folz: Die Wahrsagebeeren I (wie Anm. 49), V. 113. 54 Ebd., V. 118 und V. 127. 55 So galt das Hebräische schon seit dem frühen Mittelalter als magische Sprache und Sprache des Teufels. Vgl. dazu Willehad Paul Eckert: Die mittelalterlichen Beschuldigungen gegen die Juden. In: Judentum im Mittelalter. 4. Mai–26. Oktober 1978, Ausstellung im Schloß Halbturn. Hg. von der Kulturabteilung des Amtes der Bgld. Landesregierung. Eisenstadt 1978, S. 91–108, hier S. 93. Vgl. zu „Judenszenen“ oder „Judenschulliedern“ Winfried Frey: Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters. In: Aschkenas 2 (1992), S. 49–72, insbesondere S. 56f.; Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 83 und weiter Irmgard Scheitler: Juden und Judengesang im Schauspiel der Frühen Neuzeit. In: Morgen-Glantz 22 (2012), S. 55–76. 56 Vgl. weiter zur Version von Folz auch Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 86–88. 57 So auch Zöllers Erklärung. Vgl. Zöller (wie Anm. 13), S. 355. Zur Popularität skatologischer und koprographischer Passagen vgl. einführend Johannes Müller: Schwert und Scheide. Der sexuelle und skatologische Wortschatz im Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jahrhunderts. Bern u.a. 1988 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 2). 58 Kirchhof: Ein bischoff zuo Magdenburg vexieret die Jüden. In: Wendunmuth, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 483; Johannes Pauli: Schimpff und Ernst: Das ist/ Ein sehr nützliches/ Buch/ darinn
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hebt damit auf den strengen religiösen Kodex der Juden ab, der bei Christen durchaus Anstoß erregte, verachtete doch die streng eingehaltene Sabbatruhe die Sonntagsheiligung.59 Als weiteres Beispiel sei der Schwank Ein jud ward christen und verdarb und ward wider reych60 angeführt. Ein reicher Jude konvertiert zum Christentum und verliert, nachdem er kurzzeitig an Ansehen gewonnen hat, nach und nach sein ganzes Vermögen und leidet schließlich an der Ruhr. Als er fast stirbt, findet er ein Säckchen mit Edelsteinen oder Geld. Als man ihn fragt, ob sich durch seine Geschichte nicht das Evangelium bestätige, antwortet er: „Ehe ich mein gut mit solchem geforlichem scheissen mer uberkomen wolt, […] ehe wolt ich mich des christen glaubens wider verleugnen“.61 Auch in diesem Schwank wird auf das beliebte Mittel der Fäkalkomik zurückgegriffen, um den Juden zu verlachen, zugleich werden aber weitere antijüdische Ressentiments erkennbar. So hat er „ein grausam groß gut mit wuchern überkomen“62 und wird, als er Geld und Ansehen verliert, krank. Geldgier und der damit verbundene Wucher werden mithin zu existentiellen Bestandteilen der ‚jüdischen Identität‘ erklärt. So auch, wenn ein getaufter ‚jüdischer‘ Arzt seinen Patienten betrügt. In diesem Schwank geht der Spott auf Kosten des Patienten, doch ist der Täter ein ‚getaufter Jude‘, dem – so die Logik des Textes – Betrug gerade aufgrund seines (ehemaligen) Judentums gerade nicht fremd ist, ja mehr noch: Der Geprellte zieht den Spott auf sich, weil er hätte wissen müssen, dass von einem ‚getauften Juden‘ nichts Gutes zu erwarten sei. Insofern steht auch die Taufe unter dem Verdacht, nichts als Betrug zu sein und so spricht Kirchhof am Schluss auch nicht mehr von ‚getauften Juden‘, de facto also von Christen, sondern von Juden, die „unser und
alle Welthändel/ Warhafftige Historien/ Kurtzweilige Exempel/ Gleichnüsse und merckliche Geschichten angezeigt werden […]. Straßburg 1654, S. 388; C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 210; Julius Wilhelm Zincgref: Teutscher Nation Klug-außgesprochene Weißheit/ Das ist/ Deren auß Teutschen Landen erwehlten vnd erbornen Päpst/ Bischoff/ Keyser/ König/ Chur vnd Fürsten/ […] Gelehrten vnd jedes Stands wolbenahmter Personen Lehrreiche Sprüch […]. Straßburg 1628, S. 5; Wolgemuth (wie Anm. 42), S. 66 und die Belege bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 361, Anm. 84, 85. 59 Vgl. zu Konflikten um die Religionspraxis Sabine Ullmann: Sabbatmägde und Fronleichnam. Zu religiösen Konflikten zwischen Christen und Juden in den schwäbischen Landgemeinden. In: Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Hg. von Hartmut Lehmann, Anne-Charlott Trepp. Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), S. 243–264. 60 Jakob Frey: Die Gartengesellschaft. Hg. von Hans von Weber. Leipzig 1922/1923, S. 29f. Auch bei Brant (wie Anm. 47), S. 186f. und Pauli (wie Anm. 58), S. 378. 61 Frey: Die Gartengesellschaft (wie Anm. 60), S. 30. 62 Ebd., S. 29.
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unsers glauben hefftige feindt und verächter seyn, die und den sie täglich lester und verfluochen“.63 Eine solche Polemik gegen ‚getaufte Juden‘ findet sich häufig, räumte man der ‚wahren‘ Bekehrung, d.h. einer Assimilation der ehemals Andersgläubigen nicht nur in den Schwankbüchern und in der Kompilationsliteratur, doch nur geringe Chancen ein.64 Kirchhof bringt eben dieses zum Ausdruck: Ich hab […] gehört sagen, daß ein Jüd, doch auch nicht all, wenn er schon getauffet, guot Christen und fromb wird, wenn eim alten wolff das maul zuowechßt. Denn ob sie schon ein zeitlang ir büberey etlichs gnieß halben bedecken, können sie es am letzten […] nicht verhalten […].65
Die Forderung einer Bekehrung im Hinblick auf ihre eschatologische Bedeutung, wie etwa bei Harsdörffer, auf den noch zu kommen sein wird, spielt hier keine Rolle, vielmehr wird von einer schon fast prinzipiellen Unbekehrbarkeit der Juden ausgegangen. Insofern verwundert es nicht, wenn in schwankhaften Erzählungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts immer wieder Juden vorgestellt werden, die sich nur zum Schein taufen lassen, um monetäre Vorteile zu erhalten oder – trotz Taufe – ‚verstockt‘ und ‚halsstarrig‘ in ihrem Judentum verharren.66
63 Kirchhof: Von eim Juden, der ein arzt war. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 146. Vgl. weiter auch Bebel (wie Anm. 10), S. 298; Zincgref, Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatvm, [Teil 3] (wie Anm. 378), S. 92f.; Lehmann (wie Anm. 42), S. 244f. sowie [Samuel Gerlach:] Eutrapeliae Philologico-Historico-Ethico-Politico-Theologicae, Oder Zwey Tausent schöne/ Nützliche/ Naachdenckliche [sic!]/ Vernünfftige/ Sinn/ Lehr/ Geistreiche/ unnd anmuthige/ auch teils lustige Geschichten und Reden/ Männiglichen zuhr [sic!] Erlustigung und Ergötzlichkeit […]. Lübeck 1647, S. 209. 64 Zur zwiespältigen Einstellung christlicher Theologen und Obrigkeiten gegenüber der ‚Bekehrung‘ und Taufe von Juden vgl. einführend Manfred Agethen: Bekehrungsversuche und Judentaufen in der frühen Neuzeit. In: Aschkenas 1 (1991), S. 65–94; Wolfgang Treue: Aufsteiger oder Außenseiter? Jüdische Konvertiten im 16. und 17. Jahrhundert. In: Aschkenas 10 (2000), S. 307– 336; Herbert Smolinsky: Konversion zur Konfession. Jüdische Konvertiten im 16. Jahrhundert. In: Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit. Hg. von Friedrich Niewöhner, Fidel Rädle. Hildesheim u.a. 1999 (Hildesheimer Forschungen 1), S. 153–170; Cilli Kasper-Holtkotte: Religionswechsel im sozialen Kontext. Moses Goldschmidt und andere Frankfurter Konvertiten des 17. Jahrhunderts. In: Aschkenas 15 (2005), S. 337–369; Elisheva Carlebach: Divided Souls. Converts from Judaism in Germany, 1500–1750. New Haven, London 2001. 65 Kirchhof: Von eim Juden, der ein arzt war (wie Anm. 10), S. 146. 66 Vgl. Kirchhof: Listige Dieberey eines Juden. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 237f.; Ders.: Mutwill eines diebischen Juden. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 2 (wie Anm. 10), S. 239f.; C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 213–215 sowie die Belege bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 361, Anm. 83.
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Dabei wird die negative Einschätzung ‚getaufter Juden‘ ihnen auch selbst in den Mund gelegt: Es hette sich eines mals ein junger Jüd tauffen laßen, war in christlichem glauben so weit unterrichtet, daß er nach der hand zu Cölln ein canonicus, zuletzt auch ein decanus ward, an seinem todbett hat er bestellet und verordnet, daß man an die kirchthür hawen solt sein effigiem oder bildnuß, nemlich also, daß er in der einen hand eine katzen, und in der andern eine mauß hielte, damit er hat wöllen anzeigen, so wenig die katz der mauß könte gut sein, so wenig auch der Jüd einem Christen. Welch freundschafft hat ein katz und mauß, So auch ein Christ ins Jüden hauß, Stürb ein Christ durchs Jüden gesicht, Scorpii gifft ließ der Jüd nicht. Welch haß er tregt auß der natur Zum Christen, die er nirgend fur Schetzet, ist ihn von hertzen feind, Als die ein anathema seind, Maharam motha, wie er meint.67
Die religiöse Zugehörigkeit und damit auch der in der langen angeschlossenen Moral proklamierte Hass der Juden auf die Christen, der sich wiederum durch die religiöse Zugehörigkeit bedingt, erscheint hier als – fast – unabänderlich, wenn die ‚Natur‘ des Tieres mit der religiösen Identität gleichgesetzt wird. Dies beinhaltet jedoch nicht die Annahme eines ‚genetisch‘ definierten Kollektivs oder ‚Rasse‘, die von einer Unabänderlichkeit der Eigenschaften ausgeht, wird doch die Möglichkeit einer ‚wahren Bekehrung‘ bei aller vorgebrachten Skepsis nicht grundsätzlich verneint.68 Dennoch wird der Christenhass als fester Bestandteil der
67 Kirchhof: Jüden bekehrung. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 255. Ähnlich im C. A. M. von W.: Neuaußgebutzter/ Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 10), S. 245f. Vgl. auch weiter C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 214; Zincgref, Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatvm, [Teil 3], S. 296 sowie Johann Talitz von Liechtensee: Viel vermehrter Kurtzweiliger Reyßgespan. Darinnen Schöne Schimpffliche Historien vnd geschichten von allen ständten der Welt begriffen. Allen Reÿßenden zu lieb in truck verfertiget. Ulm 1663, S. 359f. 68 Vgl. auch Brant: Nr. 69 „De monarcho qui mori voluit ut Iudeus“. Hier wird ebenfalls davon ausgegangen, dass eine ‚wahrhafte‘ Bekehrung von Juden kaum möglich sei: „Facillime etenim res in suam naturam redit, omega quoque ad alpha revolat, cum extremitas retrahitur ad principium“. Brant (wie Anm. 47), S. 219. Zugleich wird die Möglichkeit jedoch nicht negiert, wenn von Juden gesprochen wird, die zu tadellosen Christen wurden (Vgl. ebd.). Vgl. zur problematischen Einordnung solcher Quellen in Bezug auf die Begriffe Antisemitismus und Antijudaismus auch oben, S. 11f.
3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken
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jüdischen Identität aufgefasst, sodass nur eine ‚wahre Bekehrung‘ diesen auflösen könne. Die religiöse Gegnerschaft von Christen und Juden bildet mithin stets die Folie, vor der Jüdisches verhandelt wird und der ‚falsche‘ bzw. ‚verkehrte‘ Glauben der Juden wird zum Anlass und Ausgangspunkt für die Verspottung und damit für die Kritik am Judentum. Diese Annahme lässt sich durch die Häufigkeit der religiösen Disputationen in den Schwanksammlungen belegen, die besonders in Form von komischen Laiendisputationen auftauchen. Es handelt sich bei diesen fiktiven Streitgesprächen aber keineswegs um ein Abwägen des Für und Wider, vielmehr steht der Ausgang der Disputation von vorneherein fest. Eine Auseinandersetzung mit Argumenten wie im apologetischen Schrifttum, bei dem der Ausgang ebenfalls gewiss war, ist dies nicht, vielmehr soll der vermeintliche ‚Irrglauben‘ der Juden erwiesen und in komischer Weise bloßgestellt werden.69 So findet sich beispielsweise bei Frey, Prätorius und im Kurtzweiligen Zeitvertreiber ein Schwank,70 in dem Christ und Jude über den Glauben disputieren. Der christliche Kaufmann lässt sich – im Rückgriff auf Mt. 5, 38–39 – von dem Juden auf beide Wangen schlagen und zitiert dann ebenfalls das Evangelium: „Mit welcher maß du missest, mit der selben maß soll dir gemessen werden, ein gute, volle, grosse uffgehaute maß“.71 Daraufhin schlägt der Christ den Juden so heftig, dass dieser in den Rhein fällt und von den Schiffsleuten gerettet werden muss. Der Erzähler schließt befriedigt: „Darnach liesse der jud sein disputieren bleiben und unsern Christum mit seiner lehr zu friden“.72 Ähnlich endet auch ein Disput über den Trinitätsbegriff: Der Jude wird niedergeschlagen und die Treppe heruntergeworfen.73 Häufig belegt ist weiterhin die Wette, wer mehr Heilige aufzählen kann, in deren Folge dem Juden der Bart ausgerissen wird und er so aufs Gröbste
69 Christlich-jüdische Disputationen wurden wiederholt Gegenstand historischer, theologischer und philologischer Forschungen. Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang auf die Forschungsgeschichte einzugehen, verwiesen sei einführend auf Gaby Knoch-Mund: Disputationsliteratur als Instrument antijüdischer Polemik. Leben und Werk des Marcus Lombardus, eines Grenzgängers zwischen Judentum und Christentum im Zeitalter des deutschen Humanismus. Tübingen, Basel 1997 (Bibliotheca Germanica 33), S. 190–316, insbesondere die dortigen Ausführungen zum gattungstheoretischen Ort und formalen Aspekten der Disputationsliteratur. 70 Frey: Die Gartengesellschaft (wie Anm. 60), S. 164; Prätorius: Lustige Gesellschafft (wie Anm. 38), S. 334; C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 215. 71 Frey: Die Gartengesellschaft (wie Amn. 60), S. 164. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 165. Ähnlich auch bei Kirchhof. Vgl. Kirchhof: Ein Jud, umb seine lästerung, bekömt lohn. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 367f.
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erniedrigt wird.74 Das intendierte Lachen resultiert hier jeweils daraus, dass der Jude quasi mit seinen eigenen Mitteln geschlagen wird – die Christen (und damit die christliche Religion) triumphieren über die Juden durch ihre Gewitztheit.75 Behält der Jude einmal das letzte Wort, wird meist durch die Überschrift kein Zweifel daran gelassen, wie der Schwank zu verstehen sei: „Ein spöttische antwort eines gotlosen verdampten Juden auf ein frage eines Christen“.76 Allein bei Bebel wird dem Juden argumentative Überlegenheit zugestanden, sodass der disputierende Christ als Einfaltspinsel zum Objekt des Spottes wird.77
74 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 212. Vgl. auch die Nachweise bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 444f. Zum Bartausreissen vgl. Eberhard Werner Happel: Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae […] 5 Bde. Hamburg 1683–1691, hier Bd. 3, S. 29, der anführt, dass diese Strafe „bey den Türcken und Juden der gröste [sic!] Spott“ sei. Vgl. weiter auch die Komödie „Glücklicher Bastard“ von Johannes Riemer, in der der Schwank auf die Bühne gebracht wird. Joh. Riemers Glücklicher Bastard Oder Tyrannische Groszvater. Merseburg 1678. Zitiert nach der Ausgabe Johannes Riemer. Werke. Hg. von Hellmut Krause. Bd. 2: Dramen. Berlin, New York 1984, S. 1–118. 75 So auch bei Pauli (wie Anm. 58), S. 374. Vgl. auch das Meisterlied „Der hecker mit dem Jüden“ von Hans Sachs. In: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. Hg. von Edmund Goetze und Carl Drescher, 5. Band: Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs. Halle a.S. 1904, S. 271–273. Dort wird ein „hecker“ (Tagelöhner), der oft mit dem Dorfpfarrer über die heilige Schrift disputiert, von einem Juden zu einer Disputation eingeladen unter der Bedingung, Welcher den uberwünde, Das man den andern pünde Und an genad Thet in das fewer schaffen. (S. 271) Der Jude fragt den Tagelöhner, wie Abrahams Vater hieß, der die Frage richtig beantwortet. Daraufhin will dieser von dem Juden wissen, wie sein Vater geheißen habe. Der Jude verweigert die Antwort, da diese Frage nicht in der Schrift stünde. Durch die Verkehrung des Begriffes „Schrift“ behauptet der hecker, dass „die frag stet auch geschrieben“ (S. 272), nämlich im Chorgericht zu Würzburg, wo seine Mutter zwölf Bauernknechte auf Vaterschaft verklagt habe. Die höhnische Herabwürdigung des Juden durch die Gleichsetzung Abrahams mit dem Sohn einer Hure bringt den Sieg in der Disputation und das Lied endet mit den Worten: Da würt der Jüd verprennet. Dem Jüden ist Der spot zümb schaden woren. (S. 273) Vgl. zu diesem Meisterlied weiter Zöller (wie Anm. 13), S. 364f. und zu Hans Sachs Brigitte Jünger: Die Darstellung der Juden im Werk von Hans Sachs. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 77 (1990), S. 17–61. 76 Michael Lindener: Katzipori, zitiert nach der Ausgabe Michael Lindeners Rastbüchlein und Katzipori. Hg. von Franz Lichtenstein. Tübingen 1883 (Bibliothek des littarischen Vereins in Stuttgart 163), S. 96. 77 „Matthias quidam Ulmensis, parum prudens in libris, tamen bibliorum multum exercitatus, disputans cum Iudaeo de fide eius et christianorum, utra melior ver verior esset, tandem inquit:
3.1 Lachen über Juden: Konstruktionen des Jüdischen in Schwänken
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Bereits diese kurze Übersicht macht deutlich, dass im Zentrum des Schwankes meist der Erweis der jüdischen Religion als ‚Irrglauben‘ steht – dies vollzieht sich jedoch nicht nur durch gewitzte Dialoge, sondern auch durch physische Gewalt gegenüber dem Unterlegenen.78 Die Juden werden nicht nur mit Argumenten geschlagen, sondern auch im wörtlichen Sinne – die Erniedrigung vollzieht sich mithin auf zwei Ebenen, wobei die physische Gewalt kaum einer Rechtfertigung bedarf. Zöller vermutet, dass die Gewaltanwendung daraus resultiere, dass man sich auf christlicher Seite argumentativ nicht überlegen fühlte: „Demnach wäre die derbe Beendigung solchen Glaubensstreits als kompensierendes Element für die Schwäche der eigenen Argumentation zu deuten […]“.79 Vor dem Hintergrund,
‚Vos Iudaei non signati baptismate in extremo iudicio sicuti canes, a carnifice in urbibus non signati a dominis, caedemini. Non signati impunes erimus.’ Iudaeus dixit: ‘ubi estis signati?’ Matthias: ‘Charactere baptismatis (uti loquuntur theology), qui est impressus animabus nostris.’ Ad haec Iudaeus: ‘Cum in extreme iudicio aderitis cum corpora, nemo poterit videre hoc signum animae. Nos vero Iudaei sumus circumcision et praeputio signati.’ Cui Matthias: ‘O impudentissimum Iudaeum, velles tu in coetu summi iudicis atque tot milium hominum ostendere virilia et pudenda educere? Vade ad patibulum cum tua impudentia! Atque ita victor se iudice abiit.” Bebel (wie Anm. 10), S. 66. 78 Nicht nur Prügel, sondern die Vertreibung der Juden aus der Stadt ist die Folge des Streitgesprächs in „Die Disputation“ von Hans Rosenplüt. Vgl. Hans Rosenplüt, Die Disputation. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hg. von Hanns Fischer. München 1966 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 12), S. 226–238. Das Spiel ist häufig auch überschrieben mit „Streit zwischen Cristen und Einigen Juden in Nyderland“ oder „Ein disputatz eins freiheit mit eim juden“. Ich folge in dieser Darstellung der Überschrift von Fischer. Hier kommt es zu einem Disput zwischen Juden und Christen um den rechten Glauben, in den die ganze Stadt verwickelt wird. Es wird beschlossen, dass nur die Tüchtigsten diskutieren sollen, wobei ein Freiheit (Landstreicher) die christliche Seite vertritt. Sie stellen einander mit Handzeichen Rätsel, eine wirkliche Disputation findet also nicht statt. Der Freiheit löst die drei vom Rabbiner gezeigten Handzeichen richtig, ohne sie dabei verstanden zu haben, und die Juden müssen die Stadt verlassen. Auch wenn der Sieg der Christen keineswegs rühmlich ist, steht doch die Diffamierung der jüdischen Gelehrsamkeit im Zentrum. Vgl. zu dieser Dichtung auch Schreckenberg (wie Anm. 11), S. 520f.; Denise Menting: Macht Sprache Leute? Untersuchungen zur gesprochenen Sprache und zum Sprachgebrauch im spätmittelalterlichen Nürnberg am Beispiel von ausgewählten Fastnachtspielen und Vergleichstexten. In: Documenta Historiae 5 (2003), S. 1–286, hier S. 246 sowie Zöller (wie Anm. 13), S. 363f. Zu dem in der Tradition der Zeitklage und Ständekritik stehenden Spruchgedicht „Die fünfzehn Klagen“ von Rosenplüt, das zuweilen als Beispiel für eine judenfreundliche Haltung Rosenplüts angeführt wird, vgl. Zöller (wie Anm. 13), S. 366–368. Zöller zeigt, dass die Klage der Juden eben nicht von „erstaunlich großem Verständnis“ für die Juden und „Engagement [für] alle[…] diskriminierten und unterprivilegierten Gruppen“ zeugt (so Jörg Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg. Stuttgart 1985, S. 218f.), sondern vielmehr im Kontext der beliebten Wucherkritiken zu sehen ist. 79 Zöller (wie Anm. 13), S. 363.
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dass Juden jedoch auch zum Opfer von Gewalt werden, ohne dass vorher eine Disputation stattgefunden hat, ist jedoch vielmehr anzunehmen, dass hier die Freude an der körperlichen Erniedrigung des Gegners vorherrschte. Zöller ist hingegen zuzustimmen, wenn sie darauf verweist, dass es sich bei diesen Schwänken immer auch um eine Parodie auf Gelehrtengespräche handelt, die Komik resultiert hier aus der Trivialisierung der Disputationsweise und der Personen.80 Wird in diesen Schwänken und Erzählungen noch um den ‚rechten Glauben‘ zuweilen auch wortwörtlich gerungen, wobei der Ausgang stets schon feststeht, bedarf es in der Mehrzahl der Schwänke keines Beweises mehr, dass die Juden aus christlicher Perspektive einem ‚falschen‘ Glauben anhängen. Diese religiöse Gegnerschaft ist der wesentliche Faktor, der das Verhältnis von Juden und Christen innerhalb der schwankhaften Literatur bestimmt. Ausgangspunkt der Verurteilungen sind dabei meist die schon in frühchristlicher Zeit vorgebrachten Anschuldigungen des ‚Christusverrats‘ und der ‚Verleugnung‘ der Messianität Jesu. Als Beispiel sei ein besonders beliebter Schwank – darauf verweist die Zahl der Belegstellen – angeführt, hier aus dem Kurtzweiligen Zeitvertreiber: Der geitzige Jud. Ein Jud wollte König Alphonso die Abbildung Johannis des Täuffers umb funffzig Ducaten verkauffen/ da sprach Alphonsus: Du magst wol ein rechter Geitzhals seyn/ in dem du für die Abbildung des Dieners funffzig Ducaten begehren darffst/ da doch deine Vorfahren den Herrn und Meister nur umb dreyssig Silberling verkauffet haben.81
Neben des explizit angesprochenen Christusverrats wird dem Juden hier zugleich implizit der Vorwurf des Wuchers gemacht, der seinerseits seine Begründung – wenn es überhaupt einer bedarf – wiederum durch Verweis auf den angeblichen Hass der Juden auf die Christen findet.82 Angesichts des den Juden zugeschriebenen Christenhasses, der, wie oben gezeigt, als unabänderlicher Bestandteil der ‚jüdischen Identität‘ angenommen wird, erfordert die christliche Judenfeindschaft wiederum keine Begründung, ist diese doch nur Reaktion auf das verwerfliche Verhalten der Juden. Als Beispiel seien zwei Anekdoten angeführt, die die „sonderbahre[..]“83 Feindschaft Wallen-
80 Ebd. 81 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 53. Vgl. auch Prätorius: Lustige Gesellschaft (wie Anm. 38), S. 157; Talitz von Liechtensee (wie Anm. 67), S. 358 sowie die Belege bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 360, Anm. 65. 82 Vgl. Kirchhof: Jüden müßen Christenblut haben. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 254. 83 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 211.
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steins gegenüber den Juden zum Thema haben. Diese bildet dann auch den Anlass für „Possen“ auf Kosten der Juden. Wallenstein habe hier „keinen Fleiß gesparet/ wann er nur eintziger Gelegenheit theilhafftig werden können“84 und so hat er einen ernsten Befehl außgeben/ daß kein Jude sonder unablässige Straffe über die Moldauer Brücken gehen solte/ wann er nicht für dem Crucifix den Hut abziehen/ und das Haupt entblössen würde/ zu welchem Ende er auch Schildwachen dahin verordnet/ umb desto genauere Achtung zu geben/ ob seinem Befehl auch gehorsamlich nach gelebet werde.85
Auffällig ist, dass es keinerlei Erklärung bedarf, warum Wallenstein den Juden feindlich gesinnt sei, allein die Tatsache, dass es sich bei den Verspotteten um Juden handelt reicht aus, um die „Possen“ zu rechtfertigen. Im Verlauf der Erzählung erweist sich jedoch diese negative Einschätzung der Juden als richtig, versuchen sie doch auf allerlei Weise den Befehl zu unterlaufen. Sie bestätigen mithin durch ihr Handeln das ihnen vorgeworfene schlechte Verhalten, erweisen sie sich doch als listig und weigern sich, sich der Autorität zu unterwerfen. Doch nicht nur ihr Verhalten rechtfertigt die Ablehnung von Seiten Wallensteins, auch die Erzählhaltung macht durch Zuschreibungen wie „spöttisch“ und „schelmisch“86 deutlich, was von den Juden zu halten sei. Insofern erscheint die Strafe, die Wallenstein verhängt, er lässt sie in die Moldau werfen und sie müssen Geldstrafen zahlen, als angemessen, werden sie doch nun selbst zum Objekt des Spottes. Der zweite Schwank – hier weigern sich die Juden ungültige Münzen am Sabbat zu tauschen87 – illustriert nochmals die mangelnde Unterwürfigkeit von Seiten der Juden und die daraus resultierende ‚Notwendigkeit‘, Befehle auch mit Gewalt durchzusetzen. Der Text suggeriert, dass das Verhalten der Christen gegenüber den Juden stets nur Reaktion ist, der Hass der Christen auf die Juden begründet sich mithin in den gemachten Erfahrungen. Im Zuge dieser hier verfolgten Logik erscheint es dann auch nur folgerichtig, wenn Wallenstein ohne nähere Begründung als „sonderbahrer Feind der Juden“88 bezeichnet wird, provoziert das den Juden angelastete beständige Fehlverhalten, das sodann in der Erzählung vorgeführt wird, doch gerade die Ablehnung von Seiten der Christen. Diese Erklärung – die Feindschaft der Christen gegenüber den Juden als Reaktion auf deren Hass – bildet dabei den Horizont, vor dem das Verhalten gegenüber den 84 85 86 87 88
Ebd., S. 211. Ebd. Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 211.
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Juden seine Rechtfertigung findet. Insofern können und werden in den Erzählungen auch durchaus unterschiedliche Folgen dieses Christenhasses thematisiert, in Frage gestellt wird er nie. So verwundert es auch nicht, wenn sich eine Vielzahl von Erzählungen findet, in der Juden versuchen, Christen zu schädigen oder umzubringen, sie betrügen und ihnen ihr Hab und Gut nehmen wollen, christliche Kinder ermorden, sich der Zauberei schuldig machen oder Hostien schänden. So führt beispielsweise Kirchhof an, wozu die Juden das Blut von Christen benötigten. Auffällig ist jedoch, dass sich der Erzähler von den Vorwürfen distanziert, referiert er dieses „gemein geschwetz“89 doch nur. Zweifel am Hass der Juden auf die Christen werden jedoch nicht zugelassen. Ähnlich verhält es sich in jenem Schwank Kirchhofs, der die angebliche Zauberei der Juden thematisiert. Zwar ist der Jude in diesem Schwank der Leidtragende und Verspottete, dessen angebliche Zauberei als Betrug entlarvt wird. Daran, dass die Juden sich der Zauberei bedienen, um Christen zu schaden, wird jedoch nicht gezweifelt. Wesentlich eindeutiger gestaltet ist das Motiv des Christenhasses in einer Erzählung von Wickram und Pauli, in der die Juden versuchen einen Mönch zu vergiften, da er gegen sie predigt.90 Zu Beginn der Erzählung macht der Erzähler sogleich deutlich, dass die Juden nicht nur dort wider Christen beten und sie verfluchen würden, sondern sich dessen alle Juden schuldig machen würden. Darüber hinaus kündigt er ein eigenes „Tractätlein wider solche jhre böse Gebräuch“ an, „damit ein jeder Christ selbsten lesen vnd vernehmen mag“91 welcher Lästerungen sich die Juden schuldig machen würden und rückt damit die folgende Erzählung in die Nähe der Exempelliteratur. Berichtet wird nun, wie der Predigermönch veranlasst, dass die „schmäliche[n] Gebett“92 aus den Büchern der Juden entfernt werden, woraufhin diese auf Rache sinnen. Sie bestechen einen Mönch, damit er den Prediger vergiftet, der jedoch den Plan offenbart und mit Hilfe eines weiteren Mönches und des Predigers die Juden um ihr Geld betrügt. Aufgerufen werden hier eine Reihe antijüdischer Stereotype – zu nennen
89 Kirchhof: Jüden müßen Christenblut haben. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 366. Vgl. auch Ders.: Zauberrey der Jüden. In: ebd., S. 256. 90 Georg Wickram: Sämtliche Werke. Hg. von Hans-Gert Roloff. Band 7: Das Rollwagenbüchlein. Berlin, New York 1973, S. 157–160; [Anonym:] Schau=Platz der Betrieger: Entworffen in vielen List= und Lustigen Welt=Händeln: Als: In behender Dieberey: Kartenspiel: Liebes=Räncken: Rechts=Sachen: Discursen: Todtschlägen: Rauben: Heurathen: Kauffmanschafften/ und andern unzählichen vielen Begebenheiten […]. Hamburg, Frankfurt 1687, S. 539–543 sowie Pauli (wie Anm. 58), S. 238–343. Im Folgenden wird Paulis Version zitiert. 91 Pauli (wie Anm. 58), S. 239. 92 Ebd., S. 239.
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wären ‚Christenhass‘, ‚Wucher‘ oder ‚List‘ – im Zentrum steht jedoch die Überlistung der Juden. Diese gelingt jedoch nur, weil sich die Mönche nicht bestechen lassen und den Plan offenbaren, sodass die Erzählung dem Leser veranschaulicht – und damit die gängigen Vorwürfe bestätigt –, wie sehr die Juden die Christen hassen würden. Zugleich wird vorgeführt, wie man sich der Juden erwehren könne, nämlich durch Unbestechlichkeit und Besinnung auf die christliche Gemeinschaft. Hier klingt schon einer der wesentlichen, die Konstruktion jüdischer Figuren bestimmenden Faktoren an, auf den schon verschiedentlich hingewiesen wurde – die Identifikation von Judentum und Wucher –, ist doch aus Sicht des Erzählers auszuschließen, dass sie ihr Geld mit ehrlichen Mitteln erworben haben. Der die Christen schädigende Wucher und Betrug, begründet in dem den Juden vorgeworfenen ‚Christenhass‘, ist dann auch ein weiteres Hauptthema jener Schwänke, in denen jüdische Figuren zur Darstellung kommen. So zeigen die bereits angeführten Schwänke, wie z.B. Ein Jude verdarb und ward wieder reich, dass ‚Wucher‘, ‚Geldgier‘ und ‚Betrug‘ als elementare Bestandteile der ‚jüdischen Identität‘ aufgefasst werden. Besonders einsichtig wird dies am Beispiel des Terminus „Judenspieß“, der synonym mit „Wucher treiben“ gebraucht wurde und nicht nur auf Juden, sondern und vor allem auch auf Christen, die sich unlauterer Geschäftspraktiken schuldig machten, angewendet wurde. So im folgenden Spruch: Als gesaget ward/ warumb die Juden zu Speyer am Oelberge keine andere Wehr dann Hellebarten hätten? Antworte einer darauff: Sie haben unsern Bürgern die Spiesse geliehen.93
Mit dieser Anklage der Christen ist jedoch keine positiv geartete Einstellung gegenüber den Juden verbunden, vielmehr bilden sie die Negativfolie, vor der verwerfliches Verhalten von Seiten der Christen beurteilt wird.94
93 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 213. Ähnlich auch bei Kirchhof: Vom ölberg zu Speier. In: Ders.: Wendunmuth, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 366 sowie [Balthasar Kindermann:] Kurandors Schoristen=Teuffel. Das Erste Gesicht. Jena 1661, S. 146. Vgl. weiter auch Pauli (wie Anm. 58), S. 238; Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499. Hg. von Manfred Lemmer. Tübingen 1962, S. 159. Vgl. weiter auch Albert Leitzmann, Konrad Burdach: Der Judenspiess und die Longinussage. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für die Pädagogik 19 (1916), S. 21–56. 94 Ähnlich verhält es sich mit dem Terminus „Korn-Jude“. Vgl. dazu den Artikel „Korn-Juden“ in Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 15. Halle, Leipzig 1737, Sp. 1542f.
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Die Metapher vom „Judenspieß“ baut auf dem antijüdischen Stereotyp des ‚wucherischen jüdischen Geldhändlers‘ auf, auf das immer wieder in der Literatur des fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts rekurriert wird. Seinen Ursprung hat das Stereotyp jedoch wesentlich früher: So ist es bereits angelegt in den Evangelien und den dortigen Erzählungen von jüdischen Geldwechslern und Judas, der Jesus für dreißig Silberlinge verrät. Wesentlich befördert wurde aber der Vorwurf des wucherischen Zinsnehmens und somit der ‚Ausbeutung‘ der Christenheit nach dem Ausschluss der Juden von den ‚ehrbaren’ Berufen seit dem zwölften Jahrhundert und dem allmählichen Abdrängen in den Handel mit Altwaren und in das Pfandleih- und Kreditgeschäft. Scharf angegriffen von Seiten der Kirche wie auch von Seiten der veramten Schichten, die mit der allmählichen Lockerung des Verbots der Zinsnahme durch Christen immer mehr zum Klientel der jüdischen Geldgeber wurden, begann sich die Vorstellung ‚vom Juden‘ als ‚Wucherer’ zu verfestigen, sodass ‚Wucher‘ und ‚Jude‘ spätestens zu Beginn der Frühen Neuzeit semantisch zusammenfielen.95
95 So Nicoline Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft in der Frühen Neuzeit (1450–1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation. Heidelberg 2005 (Sprache – Literatur und Geschichte 28), S. 366–379. Zur ökonomischen Situation der Juden seit dem Mittelalter vor allem in Bezug auf den Geldhandel sind zahlreiche Studien erschienen. Vgl. einführend Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Von den Anfängen bis 1650; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Mordechai Breuer, Michael Graetz, Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 85–247; Michael Toch: Economic Activities of German Jews in the Middle Ages. In: Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen. Hg. von Michael Toch. München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs 71), S. 181–210; Ders.: Zur wirtschaftlichen Lage und Tätigkeit der Juden im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloqia Augustana 2), S. 39–50 sowie Hans-Jörg Gilomen: Wucher und Wirtschaft im Mittelalter. In: Historische Zeitschrift 250 (1990), S. 265–301. Zur Stellung des Wucherers im Mittelalter vgl. Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 1988. Zum Geldhandel in jüdischer und christlicher Tradition und der Perzeption des Geldhandels aus christlicher Sicht vgl. einführend Kurt Schubert: Der christlich-jüdische und der jüdischchristliche Antagonismus im Mittelalter. In: Judentum im Mittelalter. 4. Mai–26. Oktober 1978, Ausstellung im Schloß Halbturn. Hg. von der Kulturabteilung des Amtes der Bgld. Landesregierung. Eisenstadt 1978, S. 112–147, hier S. 127–131; Johannes Heil, Bernd Wacker (Hg.): Shylock? Zinsverbot und Geldverleih in jüdischer und christlicher Tradition. München 1997; Winfried Frey: Der „Wucherjude“ als Karikatur christlicher Praxis. In: Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 10, 2 (2005), S. 126–135; Giacomo Todeschini: Christian Perceptions of Jewish Economic Activity in the Middle Ages. In: Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen. Hg. von Michael Toch. München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs 71), S. 1–16; Markus J. Wenninger: Juden und Christen als Geldgeber im hohen und späten
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Neben den bisher beleuchteten Schwänken, in denen reiche Juden stets durch Wucher und Betrug zu ihrem Geld gekommen sind,96 sei beispielhaft auf Folz Reimpaarspruch Jüdischer Wucher97 verwiesen:98 Kernstück ist eine an den Anfang gestellte versifizierte Rechnung, nach der sich durch Zins und Zinseszins die Schuld von dreißig Pfennigen – die Summe stellt eine Parallele zu jenen dreißig Silberlingen dar, um die Judas Christus verraten hätte – nach einem Jahr fast verdoppelt und nach zwanzig Jahren eine Höhe von 60849403 Pfennigen erreicht hat.99 Folz prangert weiter angebliche Praktiken der jüdischen Geldleiher an und lässt dabei kaum ein antijüdisches Stereotyp und Vorteil aus: So seien sie faul – der Vorwurf, dass die Juden zu faul seien, ihr Brot im Schweiße ihres Angesichtes zu verdienen und deshalb die Christen ‚ausbeuten‘, ist eng mit jenem des ‚Wuchers‘ verbunden und wird auch von Martin Luther vorgebracht100 – und seien nur damit beschäftigt, durch Wucher die Christen zu schädigen. Darüber
Mittelalter. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 281–299. 96 Vgl. neben den angeführten Belegen beispielhaft auch die bei Hortzitz: Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 95), S. 372–379. 97 Abgedruckt in: Folz: Die Reimpaarsprüche (wie Anm. 10), S. 310–318. 98 Zu der illustrierten Flugschrift, die den leicht gekürzten Text von Hans Folz bietet, vgl. Hans Wellmann: Linguistik der Diskriminierung. Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloqia Augustana 2), S. 183–193, hier S. 189f. sowie Petra Schöner: Judenbilder im deutschen Einblattdruck der Renaissance. Ein Beitrag zur Imagologie. Baden-Baden 2002 (Saecvla Spiritalia 42), S. 212–216. Die Flugschrift „Ein gar suptil rechnung Ruprecht kolpergers von dem gsuch der iudn“. [Nürnberg] 1491 ist abrufbar unter Münchener Digitalisierungszentrum. Digitale Bibliothek. http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0002/bsb00027505/ images/index.html?id=00027505&fip=eayayztsewqeayaxssdasyztsqrseayaxs&no=15&seite=4. Stand: 14. April 2011. 99 Vgl. auch das Flugblatt „Meßkram vor die Juden. Oder jüdischer Gelber Ring“ oder das Stück „Juden“ in C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 209f. Beide Texte polemisieren unter anderem gegen den ‚jüdischen Wucher‘. Zum Gebrauch der Null im antijüdischen Kontext Jürgen Fröhlich: Meßkram oder die Einwanderung der Null in den modernen Schaltkreislauf über das spätmittelalterliche Rechnungsbuch. In: Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Hg. von Ulrich Schmitz, Horst Wenzel. Berlin 2003 (Philologische Quellen und Studien 177), S. 135–185, hier S. 141. Vgl. weiter auch die Beispiele bei Winfried Frey: Zehen Tunne Goldes. Zum Bild des ‚Wucherjuden‘ in deutschen Texten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Antonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hg. von Carla Dauven-van Knippenberg, Helmut Birkhan. Amsterdam, Atlanta 1995 (Amsterdamer Beiträge zur Germanistik 43–44), S. 178–194, hier S. 181–189. 100 Vgl. Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen (1543), zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 53. Weimar 1920, S. 417–552, inbs. S. 482f., 521, 525–527.
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hinaus seien sie blind, da sie den Messias nicht erkannt hätten, verletzten beständig die zehn Gebote und seien Kinder des Teufels – den Christen sogar noch verhängnisvoller als dieser.101 Die Juden gingen folglich dem Geldverleih nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern vielmehr aus teuflischer Neigung und Christenhass nach: So „erobern“102 sie das christliche Gut und lassen es dem Antichrist zukommen.103 Sie erscheinen somit nicht nur als Gottesfeinde, sondern auch – darauf verweisen Bezeichnungen wie „Ungeziefer“, „Bluthunde“ oder „Wölfe“ – als ‚Schädlinge‘ der Christenheit. Mit dieser Argumentation wird ein Assoziationsfeld eröffnet, das eine Vertreibung nahelegt, grenzt die verwendete Bildlichkeit die Juden doch nicht nur von der christlichen Gesellschaft ab, sie erkennt ihnen vielmehr das Menschsein ab und degradiert sie zu Objekten, denen alles Negative angelastet werden kann. ‚Juden‘ und ‚schädliches Ungeziefer‘ werden zu synonymen Begriffen, sodass es gilt, die Gesellschaft durch Ausrottung des „unzifer[s]“104 zu heilen, stellt dieses doch nicht zuletzt durch seine Vermehrung und schädliche Wirkung, den Wucher, eine existentielle Störung und Gefahr der Ordnung dar. Dementsprechend wird mit der harschen Polemik gegen die Juden eine Anklage der Obrigkeit verbunden, die die jüdischen Hehlerprivilegien zu verantworten habe,105 sowie ein Lob des Markgrafen Friedrichs und des Bischofs Philipp von Bamberg. Diese hätten sich vorbildlich verhalten, da sie das „unzifer“106 vertrieben und damit ein „götlich werck“107 getan hätten. Implizit ergeht somit die Forderung an die Obrigkeit, es ihnen gleichzutun. Auffällig ist die Steigerung und Verschärfung der Aussagen: Ausgehend von der Rechnung, die in den Rang eines faktischen Beweises erhoben wird, werden traditionelle antijüdische Vorwürfe vorgebracht, die im Zuge der Anprangerung des Kreditgeschäfts wie auch der jüdischen Hehlerprivilegien verschärft werden und in die Vorstellung einer jüdischen Verschwörung zum Zweck der Vernichtung der Christenheit münden. Es wird mithin – insbesondere in dem polemischen Resümee, in dem angekündigt wird, dass weitere, bis dato unerkannte Schandtaten der Juden durch den Verfasser aufgedeckt werden sollen108 – durch die Kombination religiöser Anschuldigungen
101 Vgl. Folz: Jüdischer Wucher (wie Anm. 97), VV. 15–49, VV. 189–190. 102 Ebd., V. 205. 103 Ebd., V. 185. 104 Ebd., V. 229. 105 Ebd., VV. 153–174. Vgl. dazu weiter Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 95–97. 106 Folz: Jüdischer Wucher (wie Anm. 97), V. 229. 107 Ebd., V. 240. 108 Ebd., VV. 246–275.
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mit profanen wirtschaftlichen Vorwürfen ein Bedrohungsszenario evoziert, das durch die Rechnung und die Erwähnung realer Personen umso konkreter erscheint.109 Der Text stellt mit seiner scharfen Polemik sicher einen Höhepunkt der negativen Judendarstellung dar, darf zugleich jedoch nicht als singulärer Fall missverstanden werden, findet sich doch nicht nur das Stereotyp des ‚betrügenden Wucherjuden‘ in zahlreichen Texten, auch die angewandten Metaphern und Argumentationsstrategien finden sich ähnlich beispielsweise in dem Wanderbühnenstück Der Jude von Venetien.110 Während bei Folz ein konkretes Bedrohungsszenario entworfen wird, wird das jüdische Kreditwesen, bzw. der Typus des ‚betrügerischen Wucherjuden‘ als Repräsentant dessen, in der schwankhaften Literatur häufig verspottet. Es wurde bereits mehrfach darauf verwiesen, dass die Begriffe ‚Jude‘ und ‚Wucher‘ annähernd synonym genutzt wurden. Dementsprechend sind die in den Schwänken auftretenden Juden stets, wenn ihr ökonomischer Status erwähnt wird, als vermögend gekennzeichnet. Dieses Vermögen haben sie mit Betrug und Wucher erreicht, sodass sie entweder dessen verlustig gehen bzw. die ihnen unterstellte Geldgier ad absurdum geführt wird. Als Beispiel seien „Stücklein“111 aus der Sammlung Gepflückte Fincken angeführt, in der der Erzähler, ein umherreisender Student, vorgeblich Selbsterlebtes sowie ihm auf der Reise Berichtetes schildert. Diesem wird vom Gehilfen eines Wollwebers von „Doktor Unthier“ berichtet, der „viele lose Stücklein“112 angestellt habe. So prellt er einen Wirt um seine Zeche und betrügt ihn darüber hinaus um Geld und Pferd. Als er mit dem Pferd unterwegs ist, begegnet ihm ein Jude, dem er dieses verkauft. Die Erzählung nimmt nun eine Wendung, da „Unthier dachte/ es ist besser den Juden betrogen/ als den Wirth“:113 Er trägt dem Juden auf, dem Wirt zehn Taler zu bringen, was der Jude auch unternimmt. Als er bei dem Wirt das Geld abgegeben will, fordert dieser sein Pferd zurück und der Jude verliert sowohl dieses wie auch das Geld. Auffällig ist hier zunächst, dass es als „besser“ erscheint, den Juden statt den Wirt zu betrügen. Zurückzuführen ist dies wohl auf den Umstand, dass der Jude aufgrund seines geringeren sozialen Status ein leichteres Opfer darstellt als der Wirt.
109 Vgl. zu diesem Reimpaarspruch weiter auch Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (wie Anm. 22), S. 89–98, die vor allem auf das jüdische Kreditgeschäft und die daraus resultierenden Anschuldigungen von Seiten des Kleinbürgertums eingeht, und Heil: „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“ (wie Anm. 21), S. 520f., der das Motiv der jüdischen Verschwörung in der Dichtung betont. 110 Vgl. unten, S. 277. 111 [Anonym:] Gepflückte Fincken (wie Anm. 38), Vorrede, Aiijv. 112 Ebd., S. 8. 113 Ebd., S. 11.
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Wichtiger ist aber, dass der Jude als ‚Schacherer‘ charakterisiert wird und insofern durch den Betrug seinen ‚verdienten Lohn‘ erhält, denn dass es sich auch hier um einen ‚Wucherjuden‘ handelt, darauf verweist seine Reaktion, als er des Betrugs gewahr wird – er weint sich ob des Verlustes „mit vielem Layder […] die Augen halber auß dem Kopff“114 –, wodurch seine Bindung an das Geld deutlich herausgestellt wird. Diese Geldgier lässt den Typus des Juden dann auch immer wieder zum Objekt des Spottes werden: Ein Handwercks=Gesell reisete mit einem Juden/ von Heydelberg biß nach Franckfurt bath den Juden er möchte ihm doch einen Thaler lehnen/ denn er sich auff der Reise gantz außgezehret hätte/ er wolte ihm darvor seinen Mantel zum Unterpfande geben: Der Jud gab ihm einen Thaler/ und nahm den Mantel. Als sie nun nach Franckfurt an das Thor kamen/ gab jener dem Juden seinen Thaler wieder/ und bedanckte sich/ daß er seinen Mantel/ welcher ihm auff der Reise sehr beschwerlich gewesen/ so weit hätte tragen wollen.115
Auch im Schau=Platz der Betrieger wird von einem Juden berichtet, der ob seiner Geldgier von einem vermeintlichen Edelmann um tausend Reichstaler betrogen wird.116 In der folgenden Erzählung, die das Thema unwesentlich variiert, wird die in all diesen Schwänken mitschwingende Auffassung, dass die Juden keine unschuldigen Opfer seien, sondern vielmehr den Lohn für ihre Betrügerei erhielten, explizit ausgesprochen: „Hierauß merckte der Jude/ daß sein Schatz weg/ und er rechtschaffen betrogen sey/ der sonsten gewohnet war/ andere Leute zu betriegen.“117 Die hier vorgestellten Juden zeichnen sich durch eine einfache und eindimensionale Figurencharakteristik aus: ‚der Jude‘ als Händler und Betrüger. Diffamiert wurden die Juden jedoch nicht nur direkt, sondern auch indirekt, wenn sich beispielsweise Rübezahl verkleidet, um einen Kunsthändler oder Juwelier zu betrügen.118
114 Ebd., S. 11. 115 C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 212f. Vgl. auch Zincgref, Weidner: Teutscher Nation Apophthegmatvm, [Teil 3] (wie Anm. 38), S. 296 sowie die Nachweise bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 361f., Anm. 91. 116 Vgl. [Anonym:] Schau=Platz der Betrieger (wie Anm. 90), S. 10–12. 117 Ebd., S. 12. 118 Johannes Prätorius: Daemonologia Rvbinzalii. Des Rübezahls Anderer/ Und zwar gantz frischer Historischer Theil. Drinnen mehr als hundert warhafftige/ und über alle massen possirliche/ oder anmuthige Fratzen/ von dem berüchtigten Gespenste/ kurtzweilig vorgebracht […]. Leipzig 1671, S. 209f. sowie Ders.: Daemonologia Rvbinzalii. Des Rübezahls Dritter und gantz Nagel=neuer Historischer Theil […]. Leipzig 1673, S. 190–193. Zu Prätorius Rübezahlschriften vgl. Ferdinand van Ingen: Das Geschäft mit dem schlesischen Berggeist. Die Rübezahl-Schriften des M. Johannes Prätorius. In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Hinsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988
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Die Figur des jüdischen Händlers und das ihm zugeschriebene Potential zum Betrug wird hier funktionalisiert, um Dritte zu betrügen, wodurch wiederum die Gleichsetzung von ‚Jude‘ und ‚Betrug‘ offensichtlich wird, macht es die Verkleidung als Jude doch möglich, sich entsprechend des Konstrukts normwidrig zu verhalten. Damit korrespondiert auch, dass Rübezahl Bilder mit Kot beschmiert, womit wiederum auf die als judentypisch deklarierten Phänomene der Skatologie und Koprographie angespielt wird.119 Sie werden aber auch selbst Opfer Rübezahls, wobei jedoch betont wird, dass sie als erste betrogen hätten, sie folglich nur die ihnen zustehende Strafe erhielten: Es waren etliche Mauschel vor 20. Jahren auf dem Riesen=Gebürge gewesen/ und hatten ihre Waren dem Rübezahl unwissend für sehr viel bahres Geld verkaufft: Welches Geld sehr groß ausgesehen. Also daß es den Wucherern gut gedauchet/ wenn sie es ein wenig beschnitten: Sintemal die verzweiffelten Schelme allen Sachen eine Beschneidung müssen beybringen. Aber was geschicht? wie der eine seinen Reichsthalern am eusersten Rande etwas benehmen wil/ da fähret das scharffe Instrument zu tieff hinein/ und verderbet sie unter einander/ daß er sie gar nit hat können nützen und ausgeben. Dem andern geräth sein schnitthafftiges Beginnen also; Daß alles/ was er von den Thalern abgeschnippelt/ zu lauter Koth war geworden[.] Dem dritten war das beschnittene Geld an die Fäuste kleben geblieben mit sambt dem Beschneide=Messer; daß er es sein Lebelang nit hat mögen wieder herunter bringen.120
Opfer Rübezahls sind hier sogenannte Kipper, d.h. Betrüger, die Münzen zum Zweck der Edelmetallgewinnung beschneiden. Dieser Vorwurf wurde insbesondere in der sogenannten „Kipper- und Wipperzeit“ in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts121 zwar nicht nur Juden gemacht, doch war das Stereo-
(Chloe, Beihefte zum Daphnis 7), S. 361–380. Zur gattungsgeschichtlichen Nähe der RübezahlErzählungen zu schwankhaften Erzählungen vgl. insb. ebd., S. 376f. 119 Prätorius: Daemonologia Rvbinzalii. Dritter Theil (wie Anm. 118), S. 210. 120 Ebd., S. 178f. 121 Zur Kipper- und Wipperzeit vgl. einführend Fritz Redlich: Die deutsche Inflation des frühen 17. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Literatur: Die Kipper und Wipper. Köln, Wien 1972 (Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 6); Ulrich Rosseaux: Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (1620–1626). Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Berlin 2001 (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, B. 67), zur Bezeichnung der Kipper und Wipper als „Juden“ S. 294f. Zur Darstellung in Flugschriften und Fugblättern siehe Gabriele Hooffacker: Avaritia radix omnium malorum. Barocke Bildlichkeit um Geld und Eigennutz in Flugschriften, Flugblättern und benachbarter Literatur der Kipper- und Wipperzeit (1620–1625). Frankfurt a.M. u.a. 1988 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 19) und Barbara Bauer: Lutheranische Obrigkeitskritik in der Publizistik der Kipper- und Wipperzeit (1620–1623). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Teil II. Hg. von
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typ vom ‚geldgierigen Juden‘ derart verfestigt, dass „man den Vorstellungskomplex auf den gewinnorientiert Handelnden allgemein bezog und mit der Bezeichnung der Metallgewinnung als ‚Beschneiden‘ der Münzen eine Metaphorik aus dem Bereich des jüdischen Ritus entlehnte, die durch ihre Anschaulichkeit wirkte“.122 Eben dieses wird hier vorgeführt, wenn die Münzmanipulation in direkten Zusammenhang mit dem jüdischen Beschneidungsritus gebracht wird. Der Betrug der ‚Mauschel‘ und ‚Wucherer‘ ist somit – so wird suggeriert – bereits in ihrer ‚religiösen Identität‘ angelegt. Das Ergebnis ihres Betrugs, die minderwertigen Münzen werden ihnen zu Kot, erscheint sodann als rechte Strafe. Dieses Handlungsmuster des betrogenen Betrügers findet sich häufig in der schwankhaften Literatur. Als Beispiel sei das Motiv vom „Fleischpfand“ angeführt, in der meist ein Kaufmann von einem Anderen, der im Übrigen nicht zwangsläufig Jude sein muss, Geld leiht und ihm als Zins oder Pfand ein Pfund Fleisch aus seinem Leib verspricht. Als der Schuldner seine Schulden nicht bezahlen kann bzw. den Zins verweigert, fordert der Gläubiger sein Pfand oder Zins. Die Situation wird schließlich durch einen Richter aufgelöst, der bestimmt, dass der Gläubiger nur genau ein Pfund Fleisch aus dem Leib schneiden dürfte, sodass er schließlich weder den – zuweilen angestrebten – Tod des Schuldners erreicht, noch sein Geld zurück erhält. Diese Erzählung ist zahlreich in unterschiedlichen Versionen belegt und fand unter anderem im Rahmen von Shakespeares Merchant of Venice, Blümels Der Jude von Venetien und Rosefeldts Moschus den Weg auf die Bühne.123 Beispielhaft seien im Folgenden drei Fassungen – aus der Schmiede des politischen Glücks, aus der Historia von D. Johann Fausten124 sowie deren Überarbeitung durch Johann Nikolaus
Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 649–681. 122 Hortzitz: Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 95), S. 378. Vgl. weiter auch Hooffacker (wie Anm. 121), S. 51–58. 123 Eine Zusammenstellung unterschiedlicher Versionen bietet Berta Viktoria Wenger: Shylocks Pfund Fleisch. Eine stoffgeschichtliche Untersuchung. In: Shakespeare-Jahrbuch 65 (1929), S. 92– 174 sowie Eleonore Schamschula: Das Fleischpfand. Mot. J 1161.2 in Volkserzählung und Literatur. In: Fabula 25 (1984), S. 277–295, die anhand von 55 Texten Herkunft und mögliche Wanderungen des Motivs diskutiert. Vgl. weiter auch Hannjost Lixfeld: Fleischpfand. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 4. Berlin, New York 1984, Sp. 1256–1262. Zu Dramatisierungen des Motivs siehe unten, S. 271–307. 124 Weitere Belege finden sich u.a. in Lehmann (wie Anm. 42), S. 246; Gerlach (wie Anm. 63), S. 191; Wolgemuth (wie Anm. 42), S. 13f.; C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 215; Zincgref: Teutscher Nation Denckwürdiger Reden Apophthegmata genant/ Anderer Teil, S. 152f. (wie Anm. 45); Wolfgang Bütner: Epitome Historiarum, Das ist: Christliche vnd kurtze Beschreibung vieler denckwirdiger Historien vnd Exempel […]. Erstlich/ durch M. Wolffgangum Bütnern/ weyland Pfarrherrn in der Graffschafft Manßfeld/ nach den heyligen
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Pfitzer125 – näher beleuchtet. Während die Erzählung häufig nur als kurzes Exempel für den ‚Christenhass‘ der Juden angeführt wird126 – in diesem Falle ist das Pfund Fleisch dann meist Zins und nicht Pfand – dient sie in der Verhaltenslehre Schmiede des politischen Glücks als Exempel für eine umsichtige Rechtsprechung:127 Auch muß ein Richter und Bedienter darnach sehen/ daß er ja keinem unter dem Schein des Rechtens unrecht tuhe/ sondern suchen die Gerechtigkeit zu handhaben und den darunter liegenden Betrug zu entdecken.128
Auffällig ist hier, dass zunächst Gründe für die Aufnahme der Schuld angegeben werden – der Schuldner befindet sich in größter Armut – zugleich jedoch nicht erwähnt wird, wer für die Aufnahme der Klausel in den Vertrag verantwortlich zeichnet. Durch die Angabe der Umstände wird jedoch der Schuldner exkulpiert: Er befindet sich in einer prekären Situation und ist nicht in der Lage, das Geld
Zehen Geboten vnd sieben Bitten deß Vatter unsers zusammen getragen. Jetzo aber auffs Newe vbersehen/ mit vielen nützlichen Historien vermehret […]/ Durch Georgium Steinhart. Leipzig 1596, 349vf. sowie die weiteren Nachweise bei Moser-Rath (wie Anm. 24), S. 360, Anm. 67. 125 Johann Nikolaus Pfitzer: Das ärgerliche Leben und schreckliche Ende deß viel-berüchtigten Ertz-Schwartzkünstlers D. Johannis Fausti, Erstlich/ vor vielen Jahren/ fleissig beschrieben/ von Georg Rudolph Widmann; Jetzo aufs neue übersehen/ und so wol mit Neuen Erinnerungen/ als nachdencklichen Fragen und Geschichten/ der heutigen bösen Welt/ zur Warnung vermehret […]. Nürnberg 1674, S. 225–234. Die Historie vom Fleischpfand findet sich in allen frühneuzeitlichen Fausttexten. Vgl. weiter auch Georg Rudolf Widmann: Erster Theil Der Warhafftigen Historien von den grewlichen und abschewlichen Sünden und Lastern […]: So D. Iohannes Faustus Ein weitberuffener Schwartzkünstler vnd Ertzzäuberer/ durch seine Schwartzkunst/ biß an seinen erschrecklichen end hat getrieben […]. Hamburg 1599, S. 265–271; Das Faustbuch des Christlich Meynenden von 1725. Faksimile-Edition des Erlanger Unikats mit Erläuterungen und einem Nachwort. Hg. von Günther Mahal. Knittlingen 1983 (Publikationen des Faust-Archivs und der Faust-Gesellschaft 1), S. 18 sowie die unter Fußnote 131 genannten Texte. 126 So bei Bütner, wo der Gläubiger dem Juden Ben Schlomo drei Tage nach verstrichener Frist nicht mehr das Geld, sondern nur noch „stracks des Christen fleisch“ will. Bütner (wie Anm. 124), 349v. 127 Zu den rechtlichen Grundlagen, vor allem den altrömischen Zwölftafelgesetzen vgl. Uwe Diederichsen: Das Fleischpfand. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. im Auftrag der Akademie der Wissenschaften von Ulrich Mölk. Göttingen 1996, S. 138–149. 128 Christian Georg Bessel: Schmiede des Politischen Glücks, Darinnen viele heilsahme Lehren enthalten. Neben Angefügten schönen Tractätlein, als: I. Des Wolgebohren und semper freyen Herrn zu Limburgk/ etc. Thesaurus Paternus. 2. Und dann William Cecill, Freyherrn von Burghley, heilsahme Lehren an seinen Sohn gerichtet. Hamburg 1667, S. 155.
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zurückzuzahlen, sodass er kaum eine andere Möglichkeit hat, als in den Vertrag einzuwilligen. Er wendet sich schließlich an die Obrigkeit, die, „wiewol man solchen Vertrag für ungültig hätte erklären könen“,129 darauf erkennt, dass der Gläubiger bei Strafe seines eigenen Lebens nur genau die drei Pfund Fleisch herausschneiden dürfe, sodass er weder Geld noch Pfand erlangt. Auch wenn in dieser Fassung vordergründig auf antijüdische Vorwürfe verzichtet wird, schwingen diese doch mit, wenn es gerade ein Jude ist, der von einem armen Christen ein solches Pfand verlangt, sich mithin als ‚geldgieriger Jude‘ gebärdet, der die Christen ‚ausbeutet‘. Eine andere Variante bietet die Historia von D. Johann Fausten von 1587: Faust leiht von einem Juden sechzig Taler auf einen Monat und will ihm, als er nach dem Monat das Geld nicht zurückzahlen kann, einen Arm oder Fuß als Unterpfand geben, bis er seine Schulden zurückzahlen kann. Der Jude zeigt sich zwar erstaunt, willigt aber ein. Als Begründung wird lediglich angegeben, dass er „ohne das ein Christen feind“130 sei. Nachdem Faust sich nun einen Fuß abgesägt hat, nimmt der Jude diesen und geht seiner Wege. Er wird jedoch müde und stellt Überlegungen über den Nutzen dieses Pfandes an – so ist es schwer, wird anfangen zu stinken, kann nicht wieder angenäht werden und ist auch kaum von Wert –, sodass er es schließlich in einen Fluss wirft. Faust erfährt davon und fordert sein Pfand zurück. Der Jude kann es ihm natürlich nicht wiedererstatten und muss Faust schließlich sogar noch sechzig Taler extra geben. Das Motiv des Fleischpfands wird hier variiert, sodass nicht mehr der Schuldner dem Juden aufgrund widriger Umstände ausgeliefert ist, sondern der jüdische Händler wird zum Opfer Fausts. Auch wenn Faust dieses nur mit Hilfe des Teufels und somit der schwarzen Magie bewerkstelligen kann, für die er letztlich die Verdammnis zu gegenwärtigen hat, bleiben diese Zaubertaten von der streng religiösen Konzeption der Historia unberührt, sodass zumindest in dieser Erzählung keine Kritik am Verhalten Fausts geübt wird. Insofern kann man daraus keine ‚judenfreundliche‘ Haltung ableiten, wird doch auf antijüdische Stereotype nicht verzichtet, wenn berichtet wird, dass der Jude zu faul sei, den Fuß zu tragen, und ihn allein nach seinem Wert bemisst. Der Jude wird hier, wie andere gesellschaftliche Gruppen, dem schadenfrohen Gelächter preisgegeben.131
129 Ebd., S. 156. 130 Historia von D. Johann Fausten (wie Anm. 15), S. 149. 131 Eine andere Version bringt Christoph Roßhirt. In seiner Handschrift (wahrscheinlich nach 1566) finden sich eine kurze und eine lange Version der Erzählung vom ausgerissenen Bein: Faust leiht sich bei einem Juden in Frankfurt zur Zeit der Messe Geld und bestellt diesen in seine Herberge. Als der Jude kommt stellt Faust sich schlafend, so dass der Jude versucht ihn zu wecken. Dabei reißt er ihm vermeintlich ein Bein aus und flieht (vgl. Wilhelm Meyer: Nürnberger
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Eine Umarbeitung erfährt die Historie bei Johann Nikolaus Pfitzer, der das Faustbuch Widmanns von 1599, der seine Vorlagen unter anderem um umfangreiche Kommentare zu den einzelnen Erzählungen ergänzt, überarbeitet. Der Erzählkern bleibt erhalten, doch während in der Historia insbesondere der Jude eindimensional und wenig profiliert erscheint, wird er bei Pfitzer genauer charakterisiert und seine Handlungen, ebenso wie jene Fausts motiviert: Faust entlehnt Geld, um es „mit guten Gesellen zu verspielen“ und damit sein „Nam außgebreitet“ werde132 und der namenlose Jude erweist sich als geldgierig, feige und mit Blick auf die Kommentare als Werkzeug des Teufels auf Erden.133 Auffällig ist, dass der Personenkreis eine erhebliche Ausweitung erfährt. So sind
Faustgeschichten. München 1895, S. 68–72). Als Vorlagen führt Meyer Luthers Tischreden, Hondorffs „Promptuarium Exemplorum“ und Bütners „Epitome Historiarum“ an, wobei jedoch zu beachten ist, dass bei Bütner und Hondorff der Betrogene kein Jude, sondern ein Pferdehändler ist. Auch wird hier mittels verzauberter Strohbündel betrogen, ein Motiv, das bei Roßhirt jedoch keine Rolle spielt. Da bei Luther, von dessen Tischreden Roßhirt im Übrigen im ersten und zweiten Teil der Handschrift eine Abschrift bringt (vgl. Meyer: Nürnberger Faustgeschichten, S. 55), der Betrogene ein Jude ist, ist von einer direkten Abhängigkeit Roßhirts auszugehen. Von Meyer nicht genannt wird zudem die ausführliche Schilderung „Von einem Juden der einem Gaugkler ein Füß auß dem Leib gerissen“ in Montanus „Wegkürtzer“ (auch hier ist der Betrogene ein Jude, der dem Schuldner ein Bein ausreisst, vgl. Martin Montanus: Wegkürtzer. Ein sehr schön lustig vnd auß dermassen kurtzweilig Büchlin/ der Wegkürtzer genant/ darinn vil schnöner lustiger vnd kurtzweyliger Hystorien/ in Gärten/ Zechen/ vnnd auff dem Feld/ sehr lustig zu lesen/ geschriben/ vnd newlich zusammen gesetzt. [Straßburg 1557], 31r–33r). Inwieweit der Wegkürtzer Roßhirt als Vorlage gedient haben mag, kann hier jedoch nicht entschieden werden. Da das Pfandmotiv der Historia in diesen Versionen keine Rolle spielt und in dieser zudem der Betrug am Pferdehändler bzw. Roßtäuscher (Bütner, Hondorff) im darauffolgenden Kapitel ohne Beteiligung von jüdischen Figuren geboten wird, steht zu vermuten, dass Roßhirt in seiner Version zwei bekannte Erzählungen zu einer verschmolz. Roßhirts Version stellt im Komplex der Faustbücher und -handschriften mithin eine Ausnahme dar, ist seine Version doch auch nicht in der vermutlich in Nürnberg entstandenen Wolfenbütteler Handschrift zu finden. Vgl. Historia D. Johannis Fausti des Zauberers nach der Wolfenbütteler Handschrift nebst dem Nachweis eines Teils ihrer Quellen. Hg. von Gustav Milchsack. Wolfenbüttel 1892, S. 82f. Zur Entstehung in Nürnberg vgl. den Hinweis bei Stephan Füssel: „Eine erschröcklich Geschicht ordentlich verfasset“. Nürnberg und der FaustStoff. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 80 (1993), S. 161–179, hier S. 166–171. Vgl. weiter zu den verschiedenen Fassung und den jeweiligen Vorlagen auch Barbara Könneker: Die Geschichten von Rabbi Adam und der Fauststoff. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 6 (1978), S. 91–106, hier S. 98f. Vgl. zum Verhältnis von Roßhirts „Faustgeschichten“ und der „Historia“ auch Stephan Füssel: Die literarischen Quellen der Historia von D. Johann Fausten. In: Das Faustbuch von 1587. Provokation und Wirkung. Hg. von Richard Auernheimer, Frank Baron. München 1991 (Bad Kreuznacher Symposien 2), S. 15–39, hier S. 21–26. 132 Pfitzer (wie Anm. 125), S. 227. 133 Ebd., S. 228f. und S. 69–77.
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nicht nur Studenten von Faust bei der Verhandlung um das Pfand anwesend, sondern auch „zween Gerichts Bediente“134 und auch der Jude versichert sich der Unterstützung zweier anderer Juden. Pfitzer nimmt insofern gegenüber seiner Vorlage weitere, durchaus verbreitete Elemente der populären Historie vom Fleischpfand auf. Dennoch erscheint hier nicht der Gläubiger Faust als Opfer des Juden und dementsprechend dient die Historie auch nicht dem Erweis einer gerechten Rechtsprechung, sondern vielmehr der Verblendung auf Seiten des Juden wie auch Fausts. Vor diesem Hintergrund kann die Historie bei Pfitzer als weiterer Beleg für die proklamierte funktionale Offenheit kleiner Erzählformen gelten. Auch im Wagnerbuch von 1593, das an den Erfolg des Faustbuches anzuknüpfen versuchte, werden Juden zu Spottobjekten: Wagner verwandelt mit Hilfe Meister Auerhans eine Elster in einen Papagei und verkauft diesen einem „sehr reiche[n]“ Juden, der als „arger Wucherer“ charakterisiert wird.135 Überzeugt wird der „Rabi“ durch die angeblichen großen Sprachenkenntnisse des Vogels (er spricht hebräisch, griechisch und lateinisch) und seinen zypriotischen Herkunftsort, der den Vogel umso interessanter macht. Ähnlich wie bei der Erzählung von den „Wahrsagebeeren“ ist es hier wiederum der Anschein des Exotischen, der den professionellen Händler verführt. Wagner und der Jude feilschen um den Preis, wobei sich Wagner – scheinbar – um 800 Kronen herunterhandeln lässt. Wagner wird jedoch nicht übervorteilt,136 sondern betrügt den Juden seinerseits planvoll, ist doch der verhandelte Gegenstand nur Täuschung. Die weitere Handlung vollzieht sich nun von der Figur Wagners abgelöst. Ein weiterer Jude will den Vogel erlangen und tauscht ihn heimlich gegen einen ‚normalen‘ Papagei aus. Dieser Diebstahl bleibt jedoch nicht ungestraft: Der Vogel verwandelt sich in einen Affen und nennt den Juden einen „Schelmen vnnd Dieb“.137 Der bestohlene Jude erfährt wiederum davon und verlangt den Kaufpreis von dem Dieb zurück. In dieser Episode werden somit, wie schon in der Historia, die bekannten antijüdischen Stereotype vom ‚Wucherer’ und ‚hinterlistigen, die-
134 Ebd., S. 229. 135 Ander theil D. Johan Fausti Historien/ darin beschriben ist. Christophori Wageners/ Fausti gewesenen Discipels auffgerichter Pact mit dem teuffel/ so sich genändt Auerhan […]. [o.O.] 1593. Zitiert nach der Ausgabe: Das Wagnerbuch von 1593. Band I: Faksimiledruck des Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek München Signatur: Rar. 798. Hg. von Günther Mahal und Martin Ehrenfeuchter. Tübingen, Basel 2005, S. 106. 136 Anders der Kommentar. Vgl. Das Wagnerbuch von 1593. Band II: Zeilenkommentar, Nachwort und Register. Hg. von Günther Mahal und Martin Ehrenfeuchter. Tübingen, Basel 2005, S. 124. 137 Ebd., S. 108.
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bischen Juden‘ aufgerufen. Vor dem Hintergrund des ihnen angelasteten verwerflichen Verhaltens, Wucher, Geldgier und Diebstahl, wird auch nicht Wagners Verhalten – der Einsatz von Zauberei zur Erlangung monetärer Vorteile – kritisiert, der Betrug an den Juden wird vielmehr als lustige Posse dargeboten, die anhand des betrogenen Betrügers vorführt, dass letztlich jeder die ihm zustehende Strafe erhält. Abschließend sei noch auf einen weiteren betrogenen ‚Schacherjuden‘ verwiesen, von dem bis 1945 in den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm zu lesen war:138 Die Geschichte Vom Knecht Treurecht in der Sammlung Der Geist von Jan Tambour geht zurück auf die Reimdichtung von Dieterich Albrecht Eine kurtzweilige Historia, welche sich hat zugetragen mit einem Bawrenknecht vnd einem Münche und ihre Übersetzung ins Tschechische durch Tobiáš Mouřenín.139 Während hier der Widerpart noch ein Mönch ist, ist es in einer tschechischen Übersetzung der Reimdichtung von 1604 ein Jude. Es kann hier nicht geklärt werden, auf welche Version die hier vorliegende Fassung zurückgeht,140 hinzuweisen ist jedoch auf die bis ins zwanzigste Jahrhundert reichende Rezeptionsgeschichte, die vor allem durch die Aufnahme der Geschichte unter dem Titel Der Jude im Dorn in die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm befördert wurde. Die vorliegende Fassung – die sich, darauf haben schon Bolte/Polívka verwiesen, nicht in der niederländischen Vorlage De Geest van Jan Tamboer (1656) findet141 – unterscheidet sich von jener in den Kinder- und Hausmärchen vor allem in Bezug auf das Ende: Während in der vorliegenden Version der Jude verwundet und verspottet wird und zudem sein Geld verliert, wird er in der Fassung der Gebrüder Grimm hingerichtet. Aber nicht nur diese Wendung verschärft die Erzählung, wird die jüdische Figur dort doch noch stärker diffamiert.142 Es soll jedoch im
138 Vgl. beispielsweise die Ausgabe von 1942. Die Erzählung findet sich dort unter dem Titel „Der Jude im Dorn“. Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe. Bd. 2. Stuttgart 1942, S. 106–111. 139 Vgl. dazu Johannes Bolte, Georg Polívka: Anmerkungen zu den Kinder- u. Hausmärchen der Brüder Grimm. Zweiter Band (Nr. 61–120). Leipzig 1915, S. 492. 140 Zur Stoffgeschichte und den verschiedenen Fassungen vgl. Bolte, Polívka (wie Anm. 139), S. 490–503; Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation. Berlin, New York 2008, S. 246–250 sowie Hermann Hamann: Die literarischen Vorlagen der Kinder- und Hausmärchen und ihre Bearbeitung durch die Brüder Grimm. Berlin 1906 (Palaestra XLVII), S. 37–41. Zur Wirkungsgeschichte vgl. die Angaben bei Uther, S. 250. 141 Bolte, Polívka (wie Anm. 139), S. 494. 142 Vgl. zum „Juden im Dorn“ der Gebrüder Grimm neben Uther (wie Anm. 140), S. 246–250 auch Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln u.a. 2000, S. 282–284 sowie Leander Petzoldt: Der ewige Verlierer. Das Bild des Juden in der
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Folgenden nicht um einen Vergleich der beiden Fassungen gehen, vielmehr soll die Erzählung aus Der Geist von Jan Tambour143 näher beleuchtet werden. Kurz zur Handlung: Im Elsass arbeitet der Knecht Treurecht drei Jahre lang fleißig bei seinem Herrn und erhält von diesem drei Heller als Lohn. Er geht fort und trifft unterwegs dreimal einen alten Mann, „ohn Zweifel ein Engel“,144 und gibt ihm nach und nach die drei Heller. Als Lohn erhält er einen Bogen, der jedes Ziel trifft, und eine Fidel, die jeden, der sie hört, zum Tanz zwingt. Der Knecht wird als treu, fleißig und fromm charakterisiert, wobei dessen Darstellung zuweilen mit Invektiven gegen die zeitgenössische Dienerschaft verbunden wird.145 Insofern eignet sich die Erzählung auch zu einem Exempel guter Dienerschaft, was – wie zu sehen sein wird – nicht ungenutzt blieb. Der Knecht begegnet schließlich einem Juden, der in der ganzen Erzählung namenlos bleibt. Er kann somit, insbesondere vor dem Hintergrund der genauen Beschreibung der Herkunft Treurechts, als Repräsentant ‚der Juden‘ gelten. Der Jude spricht Treurecht an: „Christ/ hast du nicht etwas zu schachern[?]“146 Die jüdische Figur wird somit als ‚Schacherjude‘ eingeführt und darauf festgelegt, wird doch in der gesamten Erzählung diese Disposition immer wieder betont. Dementsprechend versucht er auch mit dem Knecht zu handeln, der ihm schließlich folgenden Vorschlag macht: Wenn der Knecht mit seinem Bogen einen weit entfernten Raben, der im Gebüsch auf einer Insel sitzt, trifft, muss der Jude diesen holen und dem Knecht fünfzig Dukaten geben. Aufgrund der magischen Fähigkeiten des Bogens trifft der Knecht, der den sich sträubenden Juden mit den Worten zwingt: (friß Vogel oder stirb) wirstu dich nicht alsbald ausziehen/ hinschwemmen und den Raben (deiner Zusage nach) holen/ so schwere ich dir/ du solt nicht von dannen kommen/ es sol dir eben wie dem Raben gehen.147
deutschen Volksliteratur. In: Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945. Hg. von Heinrich Pleticha. Würzburg 1985 (Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e.V. 7), S. 29–60. Vgl. auch Timothy McFarland: The Humilation of Beckmesser: „Der Jude im Dorn“ and the Authority of Jacob Grimm in Wagner’s „Die Meistersinger von Nürnberg“. In: Oxford German Studies 41 (2012), S. 197–212, der die Parallelen zwischen der Oper und der Grimmschen Version des „Juden im Dorn“ herausstreicht. 143 [Anonym:] Der Geist von Jan Tambour, Oder Außerlesene Materi für die Kurtzweil liebhabende Jugend. Dritter Theil. Aus dem Holländischen ins Teutsche vertiret. [o.O.] 1662, S. 232– 245. Übernommen wurde die Erzählung auch in Talitz von Liechtensee (wie Anm. 67), S. 86–105. 144 [Anonym:] Der Geist von Jan Tambour (wie Anm. 143), S. 335. 145 Vgl. ebd., S. 233: „Dann zu der Zeit war das Gesinde noch nicht so unverschämpt/ daß sie selbsten den Lohn forderten/ wie itzo/ da man dem Gesinde nocht nicht genug geben kan.“ 146 Ebd., S. 237. 147 Ebd., S. 238.
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Es ist auffällig, wie sehr sich das Verhalten des Knechts hier von seinem vorigen unterscheidet: Zeigte er sich zunächst noch großzügig und gefällig gegenüber anderen, etwa wenn er dem alten Mann seine Heller gibt, erweist er sich nun als grausam und hinterhältig, schickt er den Juden doch bewusst in sein Verderben. Es kommt hier mithin zu einer Verschiebung der Rollenzuschreibungen: Der Knecht, von seinem Herrn um den angemessenen Lohn betrogen, wird nun zum Richter und Herren über den Juden. Kritik wird an diesem Verhalten jedoch nicht geübt, sodass es scheint, als wäre sein Verhalten gegenüber dem Juden gerechtfertigt. Die jüdische Figur ist insofern nicht unschuldiges Opfer, sondern vielmehr verwerfliche Figur, die sich aufgrund ihrer Geldgier, die sich bereits bei ihrem ersten Auftritt erwiesen hat, disqualifiziert hat. Der Knecht verschärft sein Verhalten gegenüber dem Juden noch, als er beginnt, die Fidel zu spielen und so den nackten Juden in den Dornbüschen zwingt, zu tanzen. Der Jude kauft sich aus dieser höchst prekären Lage frei, indem er dem Knecht fünfhundert Dukaten bietet, der sich seinerseits über seinen Gewinn freut. Mitleid mit dem geschundenen Juden wird von Seiten des Erzählers nicht geübt, vielmehr wird kaum verhohlener Schadenfreude von den Qualen des Juden berichtet, ja er ergötzt sich an der Vorstellung, „wie ihm das See Wasser in die geritzten Wunden wird geschmerzt haben“.148 Vor dem Hintergrund, dass der Jude sich an Land sofort um sein verlorenes Geld sorgt, erscheint die Freude an seinen Qualen als angemessen, erweist doch auch die folgende Handlung, dass der Jude ganz und gar dem Stereotyp des ‚geldgierigen‘, ‚hinterlistigen‘ und ‚lügnerischen Juden‘ entspricht. So klagt er Treurecht vor Gericht an, schildert jedoch nicht den wahren Sachverhalt, sondern beschuldigt den Knecht, zu ihm gekommen zu sein mit der Bitte, ihm fünfhundert Dukaten zu leihen. Der Jude habe eingewilligt, wurde jedoch von Treurecht überfallen, sobald sie am Meer gewesen seien. Der Jude lügt hier jedoch nicht nur das Gericht an, er versucht darüber hinaus auch, das Gericht zu bestechen, wenn er fünfzig Dukaten für den Wiedererhalt seines Geldes und fünfzig für den Kopf des Knechtes anbietet. Der Knecht streitet alles ab, wird jedoch vom Gericht zum Strang verurteilt, wobei ausdrücklich darauf verwiesen wird, dass das Gericht sich gerne bestechen lassen will. Opfer- und Täterrolle werden hier wiederum umgekehrt, wenn der Knecht zum Opfer des verlogenen, die Obrigkeit korrumpierenden Juden wird, wobei jedoch zu bedenken ist, dass es sich um eine andere Qualität der Täterschaft handelt. Wurde Treurechts Verhalten gegenüber dem Juden noch aufgrund der diesem zugeschriebenen Disposition und dem daraus resultierenden verwerflichen Gebaren als gerechtfertigt vorgestellt, wird er nun zum Opfer des die Obrigkeit anstachelnden Juden, der
148 Ebd., S. 239.
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sich nicht mehr ‚nur‘ bereichern und dem anderen einen Streich spielen will, wie noch Treurecht, sondern den Tod des Knechtes erreichen will. Zugleich ist damit eine Anklage der Obrigkeit verbunden, die sich nicht für Gerechtigkeit einsetzt, sondern allein der Versuchung des Geldes erliegt und zum Mittäter wird. Solche Beschuldigungen waren nicht selten und kamen insbesondere dort zum Tragen, wo die Obrigkeit ihrer Schutzpflicht gegenüber den Juden nachkam.149 Der Knecht nun will sich aus dieser bedrohlichen Situation retten und bittet „nicht umb Leib und Leben/ viel weniger umb Silber oder Gold“150 – was durchaus als Spitze gegen die Geldgier der Obrigkeit verstanden werden kann – sondern darum, vor seinem Tod nochmals auf der Fidel spielen zu dürfen. Die Bitte wird ihm gewährt, sodass der Jude, der weiß, welche Folgen das Spiel zeitigt, zu fliehen versucht – jedoch nicht ohne sein Geld. Hier wird ein weiterer Charakterzug des Juden offenbar: seine Feigheit. Hatte er vorher schon versucht, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen und sich hinter der Obrigkeit zu verbergen, wird nun umso deutlicher, dass es ihm allein um sein Vermögen geht. Er lässt sich an eine Kiste binden, was ihn noch mehr der Lächerlichkeit preisgibt. Als der Knecht zu spielen beginnt, werden alle Anwesenden gezwungen zu tanzen: Der Erzähler kommentiert, dass es „eine Kurtzweil […] als einer sein Lebtag wünschen möge[..]“ und „eine rechte Lust anzusehen“151 sei. Verstärkt wird die ‚lustige‘ Wirkung – und damit nicht zuletzt die Verspottung des Juden – durch die onomatopoetische Nachahmung des Rumpelns der Kiste. Der Jude gibt schließlich zu, dass er den Knecht zu Unrecht verklagt habe und das Gericht bestimmt, dass dieser dreihundert Dukaten behalten soll und jeweils hundert Dukaten an Hospitäler und Arme sowie an das Gericht gehen sollen. Der Jude muss zudem hundert Dukaten Strafe an das Gericht zahlen. Auch hier erhält folglich jeder seine scheinbar gerechte Strafe: Die korrupte Obrigkeit wird der Lächerlichkeit preisgegeben und der geldgierige Jude verliert sein Vermögen, wird verwundet und verlacht. An diesem Juden werden mithin jene Vorwürfe (Schacher, Lügenhaftigkeit, Geldgier, Bestechung und der damit verbundene Vorwurf der Verschwörung) exemplifiziert, die sich insbesondere auf das Zusammenleben von Christen und Juden beziehen, religiös fundierte Verurteilungen spielen in dieser Erzählung keine Rolle. Vor diesem Hintergrund erscheint sowohl die körperliche Strafe durch die Verletzungen in der Dornenhecke, wie auch der Verlust des Geldes und die Verspottung des Juden beim Tanz als ‚rechter Lohn‘ 149 Vgl. dazu Heil: „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“ (wie Anm. 21), S. 483–488, der den Vorwurf der Mittäterschaft insbesondere anhand von Ritualmordvorwürfen und -prozessen aufzeigt. 150 [Anonym:] Der Geist von Jan Tambour (wie Anm. 143), S. 342. 151 Ebd., S. 244.
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und dient nicht zuletzt der Unterhaltung des Lesers. Darauf verweist auch die an den Schluss gestellte Moral: So ist es dem Juden mit den Christen ergangen/ Schad ists/ daß es nicht allen Juden so gehen sol/ was gilts/ sie wurden sich bedencken/ und nicht so grosse Lust mit den Christen zu schachern haben. Also hat nun diese sehr lustige/ kurtzweilige und fast lächerliche Historie oder vielmehr Comedy ein Ende.152
Die Erzählung dient mithin, darauf verweist der letzte Satz explizit, vornehmlich der Unterhaltung (auf Kosten des Juden), zugleich ist sie aber auch als Exempel wider den ‚jüdischen Schacher‘ zu lesen. Wird die Ausgangssituation, die soziale Auseinandersetzung zwischen treuem Knecht und geizigem Herrn, im weiteren Verlauf der Erzählung kaum weiter ausgeführt, bleibt also blindes Motiv, ist sie für Prokop von Templin Anlass, die Erzählung in eine Predigt zur Entlassung der Dienstboten einzufügen.153 Prokop orientiert sich dabei an der Fassung aus Der Geist von Jan Tambour, kürzt aber die an den Schluss gestellte Moral und geht in seiner Auslegung allein auf die geforderte Treue der Dienstboten ein. Dementsprechend streicht er auch die Handlung um den Juden und die Szene vor Gericht. Dennoch erscheint auch hier der Jude als Widerpart des Knechtes, den es zu überwinden gilt, wobei wiederum keinerlei Kritik am Verhalten Treurechts geübt wird, ja geübt werden kann, soll er doch als positives Exempel dienen. Hier zeigt sich mithin die funktionale Offenheit der kleinen Textformen, dient die Erzählung doch – ohne wesentliche Änderungen vornehmen zu müssen – in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlichen Intentionen: Während in Der Geist von Jan Tambour die Geschichte um den gequälten Juden vornehmlich der Unterhaltung dient und der Nutzen in den Hintergrund tritt, ja die Auslassungen zur Dienerschaft fast zwanghaft angehängt wirken, steht bei Prokop gerade diese im Zentrum, was zur Folge hat, dass die Geschichte um den Juden in den Hintergrund tritt und nur mehr das Exempel der dienerlichen Treue illustriert.
152 Ebd., S. 245. 153 Prokop von Templin: Sanctorale, Das ist: Zwey hundert und Funffzehen gelehrte/ Geistreiche/ mit grosser Klarheit/ annehmlichen Concepten, Biblischen Schrifften/ der HH. Vättern […] in zierlicher hochdeutscher Sprach componirte, völlig außgeführte/ dieser vnd jederzeit nothwendige nutzliche Discurs oder Predigen […]. Tomus II. Salzburg 1668, S. 507–509. Zu Prokop von Templins Programm eines volksbezogenen Predigens, das sich vor allem durch das Prinzip variatio delectat auszeichnet, vgl. Philip v. Brady: Prokop von Templin (1608–1680). „Redner“ und „Poet“. Zur volksbezogenen Praxis eines dichtenden Kapuziners. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Teil II. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 527–541.
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Ergebnisse Anhand der analysierten Schwänke und schwankhaften Erzählungen lassen sich folgende Aussagen festhalten: Zunächst ist davon auszugehen, dass Nationalgrenzen bei der Wanderung der Schwänke und Motive nicht berücksichtigt werden, erhalten sie doch vor allem über Übersetzungen Eingang in die deutschsprachige Literatur und werden hier produktiv rezipiert. Als besonders anschauliche Beispiele können hier die Erzählung vom Knecht Treurecht oder das Motiv des Fleischpfandes gelten. Des Weiteren ist festzustellen, dass die Konstruktion der jüdischen Figuren wesentlich von der jeweiligen Sammlung bestimmt ist. Besonders deutlich wird dies bei Kirchhof, dessen didaktische Intention sowie antikatholische Stoßrichtung sich auch auf die jüdischen Figuren auswirkt, sodass sie als Vehikel innerhalb der konfessionspolitischen Auseinandersetzung dienen können. Auch wenn die jüdischen Figuren hinsichtlich ihrer zugewiesenen Eigenschaften relativ statisch sind und die einzelnen Schwänke in unterschiedlichsten Kontexten vorkommen, wird doch durch die Zusammenstellung zahlreicher Schwänke mit jüdischem Personal, wie etwa im Kurtzweiligen Zeitvertreiber,154 die antijüdische Stoßrichtung deutlich verstärkt. Dagegen werden in zahlreichen Sammlungen, beispielsweise bei Zincgref/ Weidner, die Schwänke unverbunden neben anderen mit nicht-jüdischem Personal geboten, sodass hier davon auszugehen ist, dass die Verspottung der Juden sich grundsätzlich nicht von der anderer Figuren, wie z.B. dem Bauern, unterscheidet. Auch wenn – wie schon erwähnt – jüdische Figuren in Schwänken und schwankhaften Erzählungen des fünfzehnten, sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts nur marginal zur Darstellung kommen, kann man anhand der hier diskutierten Erzählungen doch von einem feststehenden Typus der jüdischen Figur ausgehen, dessen Eigenschaften hier nochmals kurz resümiert werden sollen: So sind die jüdischen Figuren stets durch feststehende Epitheta gekennzeichnet, vor allem ‚Wucher‘ und ‚Gotteslästerung‘ und ‚Verstockung‘. Ihnen werden keine individuellen Eigenschaften zugeschrieben, sie sind als Handlungsträger vielmehr typisierte Figuren und dienen als Repräsentanten für das gesamte Judentum. Grundsätzlich unterscheiden sie sich hinsichtlich der formalen Anlage damit nicht von anderen, häufiger auftretenden, Figuren, wie etwa Bauern oder Mönchen. Vor dem Hintergrund der Analyse können jedoch weitere Aussagen getroffen werden: So ist die religiöse Gegnerschaft stets bestimmend für die Konstruktion der jüdischen Figuren und so kann ihnen selbst im Schwank keine Überlegenheit
154 Vgl. C. A. M. von W.: Kurtzweiliger Zeitvertreiber (wie Anm. 24), S. 209–214.
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zugestanden werden, würde damit doch der Suprematieanspruch der christlichen Kirche und ihre Wahrheiten unterlaufen werden. Dies schließt jedoch nicht aus, dass jüdische Figuren – wenn auch äußerst selten – verbale Überlegenheit zugestanden werden kann, doch wird auch in solchen Erzählungen kein Zweifel daran gelassen, dass die jüdische Religion eine ‚minderwertige‘ sei. Selbst dort, wo es vordergründig nicht um den Erweis der ‚rechten‘ Religion geht, bildet diese Gegnerschaft bzw. die proklamierte Überlegenheit des Christentums stets die Folie, vor der sich die Unterlegenheit der jüdischen Figuren erklärt. Der religiösen Zugehörigkeit kommt dabei meist ein unabänderlicher, statischer Charakter zu – darauf verweisen die zahlreichen Schwänke von getauften und wieder abgefallenen Juden – wobei mit der religiösen Identität weitere Eigenschaften verknüpft werden: vor allem die Disposition zu Wucher und Betrug sowie zu Christenhass und Gotteslästerung. Für die Konstruktion der jüdischen Figuren wesentlich bestimmend sind damit die wichtigsten antijüdischen Stereotype vom Juden als ‚Wucherer‘ und ‚Lästerer‘.155 Diese werden immer wieder aufgegriffen und propagandistisch genutzt, sodass in Schwänken und schwankhaften Erzählungen vor allem ‚Betrug‘ und ‚Wucher‘ zu synonymen Begriffen für ‚Jude‘ werden. In den hier diskutierten Schwänken dienen jüdischen Figuren und Judentum folglich der Bestätigung bzw. Festigung und Wahrung der gegebenen Ordnung, d.h. der christlichen, sowie der Unterhaltung durch Verspottung der – aufgrund der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften zuweilen als bedrohlich empfundenen – Juden. Des Weiteren ist auffällig, dass es in den vorliegenden Schwänken und Erzählungen kaum zu einer sprachlichen Akzentuierung der jüdischen Figuren kommt, die in anderen Gattungen und Textsorten – wie noch zu sehen sein wird – eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Auch jüdische Speisevorschriften, im Alltag ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Juden und Christen, werden – soweit zu sehen ist – kaum diskutiert.156
155 So auch Hortzitz: Die Sprache der Judenfeindschaft (wie Anm. 95), S. 372. 156 Allein in Wolgemuths „500 Frische und vergüldete Haupt=Pillen“ findet sich ein Schwank, der dezidiert das jüdische Verbot des Genusses von Schweinefleisch zum Thema macht. Wolgemuth (wie Anm. 42), S. 178. Bezüglich der sprachlichen Akzentuierung bildet der Schwank „Der betrogene Jude“ in Wolgemuth (wie Anm. 42), S. 99, eine Ausnahme: Ein „Dorffmann“ borgt Tuch von einem Juden, jedoch ohne dies bezahlen zu wollen. Der Jude zieht ihn vor Gericht und leiht ihm dazu noch einen Mantel. Der Dorfmann überzeugt den Richter, dass das Tuch von minderer Qualität ist und der Mantel ihm gehören würde, sodass der Jude beides verliert. Beachtenswert ist hier weniger der Betrug am Juden, als vielmehr dessen sprachliche Kennzeichnung: So wird in jede Äußerung des Juden ein oder mehrere „Jauh“ gemischt.
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3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde Im Folgenden sollen unterschiedliche Formen der Wissensvermittlung über Juden und Judentum beleuchtet werden. Diese Einteilung bedingt sich durch die Feststellung, dass innerhalb der Kompilationsliteratur in Bezug auf Konstruktionen des Jüdischen eine Transformation stattfindet, die sich auch zeitlich festmachen lässt: Während es im sechzehnten und zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts noch vor allem schwankhafte Erzählungen sind, die Juden und Judentum zur Darstellung bringen, stehen seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts immer mehr „Historien“ von Juden, d.h. Berichte oder Erzählungen über historisch Bezeugtes, im Zentrum des Interesses, unabhängig von den jeweiligen Sammlungsformen. Dieses begründet sich wohl vor allem darin, dass auch das Kompilationsschrifttum insgesamt aufgrund des rapiden Wissenszuwachses im siebzehnten Jahrhundert dem Bedürfnis nach Orientierung und Information über aktuelle, historische, politische oder nur curiose Materien nachkommt157 und somit auch das Judentum in den Fokus des Interesses rückt. Damit ist freilich noch nichts über Darstellungsweisen und -strategien oder über Funktionen der einzelnen Texte ausgesagt, dennoch kann schon hier festgehalten werden, dass Juden und Judentum seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts vornehmlich zur Darstellung kommen, um die curiositas158 des Lesers zu befriedigen, auch wenn damit weitere Zielsetzungen, wie die religiös-moralische Unterweisung, verbunden sein können. Im Folgenden stehen deshalb unterschiedlichste Texte und Sammlungen im Fokus, anhand derer zu zeigen ist, unter welchen Prämissen, in welcher Form, mit welcher Absicht und in welchen Sammlungen es zur Aufnahme von Erzählungen und Berichten, die das Judentum betreffen, kommt.
157 Dies lässt sich vor allem an der Vielzahl der Sammlungen ablesen, die sich weiten Themenbereichen widmeten oder auf eine thematische Einschränkung verzichteten. Als Beispiel können hier die polyhistorischen Kompendien der neben Martin Zeiller sicherlich produktivsten Autoren Eberhard Werner Happel und Erasmus Francisci gelten. 158 Zum Begriff der curiositas und der Umwertung des Begriffs der theoretischen Neugierde vgl. einführend Michael Schilling: Curiositas, Buchmarkt und Literatur in der frühen Neuzeit. In: Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften. Hg. von Jan Standke und Thomas Düllo. Berlin 2008 (culture – discourse – history 1), S. 130–147; Klaus Krüger (Hg.): Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 2002; Neil Kenny: Curiosity in early modern Europe. Word histories. Wiesbaden 1998 (Wolfenbütteler Forschungen 81); Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Zum Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974, S. 193–205; Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der „Relationes Curiosae“ von E.W. Happel. Köln u.a. 2011 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Heft 68), S. 84–98.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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Bevor jedoch auf diese Texte eingegangen werden soll, sind noch einige wenige Vorbemerkungen notwendig. So werden im Folgenden vor allem solche Texte beleuchtet, die sich ausgehend von aktuellen Ereignissen dem Judentum widmen. Die Verhandlung von jüdischen Riten und dem Judentum als Religion, wie sie vor allem seit dem fünfzehnten Jahrhundert von Seiten christlicher Hebraisten betrieben wurde, wird zwar am Rande berücksichtigt – insbesondere bei Erasmus Francisci, Eberhard Werner Happel und Christoph Helwig – bildet in der folgenden Untersuchung jedoch keinen Schwerpunkt, da der Fokus auf der Verhandlung von Ereignissen, die das zeitgenössische Judentum betreffen, liegt. Vor diesem Hintergrund sei an dieser Stelle kurz auf die Beschäftigung mit jüdischen Riten und der jüdischen Religion von christlicher Seite verwiesen.159 Im Zuge des Humanismus kam ein neues Interesse am Judentum auf, das sich vor allem auf das Studium und den Gebrauch der hebräischen Sprache richtete, wuchs doch nach der Reformation der Wunsch, die Bibel im Original zu lesen – ein anderer Interessenschwerpunkt war die Kabbala. Eine Auseinandersetzung mit dem Judentum als Religion findet sich in diesen Schriften jedoch nur vereinzelt, sodass die Schriften, die zeitgenössische Bräuche und Rituale verhandeln, einen besonderen Stellenwert einnehmen. Doch schon im sechzehnten Jahrhundert erschienen mehrere eigenständige Werke, die sich diesem Themenkomplex widmeten – hier ist vor allem Antonius Margarithas Der gantz Jüdisch glaub (1530)160 zu nennen – und im siebzehnten Jahrhundert stieg die Zahl der Werke nochmals rapide an: Als eine der wichtigsten Autoritäten galt Johannes Buxtorf mit der Synagoga Judaica (1603),161 das bis ins achtzehnte Jahrhundert ein Standardwerk über jüdische Riten blieb. Es erübrigt sich, die Autoren
159 Ich beziehe mich im folgenden Absatz wesentlich auf die Darstellungen von Deutsch und Deutsch/Diemling: Yaacov Deutsch, Maria Diemling: „Christliche Ethnographien“ von Juden und Judentum. Die Konstruktion des Jüdischen in frühneuzeitlichen Texten. In: Die Konstruktion des Jüdischen in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Michael Konkel, Alexandra Pontzen, Henning Theissen. Paderborn u.a. 2003 (Studien zu Judentum und Christentum), S. 15–27 sowie Yaacov Deutsch: „A View of the Jewish Religion“. Conception of Jewish Practice and Ritual in Early Modern Europe. In: Archiv für Religionsgeschichte 3 (2001), S. 273–295. 160 Antonius Margaritha: Der gantz Jüdisch glaub mit sampt ainer gründtlichen vnd warhafften anzaygunge [sic!]/ Aller Satzungen/ Ceremonien/ Gebetten/ Haymliche vnd offentliche Gebreüch/ deren sich dye Juden halten/ durch das gantz Jar/ Mit schönen vnd gegründten Argumenten wyder iren Glauben. Augsburg 1530. 161 Johannes Buxtorf: Synagoga Judaica: Das ist/ Jüden Schul: Darinnen der gantz Jüdische Glaub und Glaubensvbung/ mit allen Ceremonien/ Satzungen/ Sitten vnd Gebräuchen/ wie sie bey ihnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß jhren eygenen Bücheren vnd Schrifften/ so den Christen mehrtheils vnbekandt/ vnd verborgen seind/ grundtlich erkläret […]. Basel 1603.
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und Werke im Einzelnen anzuführen162 und so sei auf einige wenige Merkmale dieser Schriften verwiesen: Zunächst ist festzustellen, dass ein Großteil der Schriften auf Deutsch erschien, sodass das Zielpublikum ein weiterer Kreis als jener der gelehrten Hebraisten war. Für ein größeres Interesse von Seiten der Rezipienten spricht auch, dass viele der Werke mehrere Auflagen erlebten, im Falle Magarithas waren es beispielsweise dreizehn. Auffallend ist weiterhin, dass die Autoren neben christlichen Hebraisten vor allem jüdische Konvertiten waren, die sich mittels dieser Schriften nicht nur vom Judentum distanzierten, sondern auch ihre neue religiöse Identität zu formen und unter Beweis zu stellen suchten: Das Judentum wird hier zum Anderen, von dem man sich abgrenzt, das man aber aus eigener Anschauung und Kenntnis beschreiben kann. Eng damit verbunden ist das Ziel der vorgeblichen ‚Aufdeckung jüdischer Geheimnisse‘, die häufig bereits programmatisch im Titel angekündigt wird. Das Judentum selbst erscheint in diesen Werken als Religion des Gesetzes und der Praxis – durchaus negativ konnotiert –, die jüdische Theologie spielt kaum eine Rolle. Damit verbunden ist auch der Vorwurf, dass sich die Juden von den biblischen Vorschriften entfernt hätten und dass das Judentum eine Religion sei, die sich vor allem durch Aberglauben auszeichne. Schwerwiegender aber noch ist die immer wieder gemachte Anschuldigung, dass das Judentum dezidiert antichristlich sei.163 Auch wenn diese Werke hier nicht näher analysiert werden sollen, wird im Folgenden auf sie verwiesen, beziehen sich doch insbesondere Francisci und Happel immer wieder auf diese. Insofern muss der antijüdische Impetus der Schriften immer mitgedacht werden, wenn jüdische Bräuche und Riten unter Rückgriff auf diese Werke vermeintlich objektiv beschrieben werden.
3.2.1 Exemplarische Sensationen Ebenso unüberschaubar wie das Kompilationsschrifttum selbst, sind die dort verhandelten Themen. Schon eine flüchtige Durchsicht der Kompilationsliteratur
162 Vgl. die Übersicht über 79 Werke, die sich mit jüdischen Ritualen, Zeremonien und Gebeten beschäftigen, bei Deutsch: Vgl. Deutsch (wie Anm. 159), S. 289–295. 163 Vgl. neben den genannten Studien von Deutsch weiter auch Allison P. Coudert, Jeffrey S. Shoulson (Hg.): Hebraica Veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe. Philadelphia 2004; Carlebach (wie Anm. 64); Ronnie Po-Chia Hsia: Christian Ethnographies of Jews in Early Modern Germany. In: The Expulsion of the Jews. 1492 and After. Ed. by Raymond B. Waddington, Arthur H. Williamson. New York, London 1994, S. 223–235 sowie Stephen G. Burnett: Distorted Mirrors: Antonius Margaritha, Johann Buxtorf and Christian Ethnographies of the Jews. In: The Sixteenth Century Journal 25 (1994), S. 275–287.
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des siebzehnten Jahrhunderts lässt erkennen, dass Darstellungen von Juden jedoch marginal sind: Wird von ihnen berichtet, handelt es sich meist um solche Ereignisse, die sowohl in der jüdischen Minderheit, vor allem aber auch in der christlichen Mehrheitsgesellschaft großes Aufsehen erregten, betrafen sie nun ausschließlich Juden oder sowohl Juden wie Christen. So wird von Taufen, Verbrechern, Vertreibungen und Ausweisungen von Juden sowie von singulären Ereignissen berichtet, wie das Auftreten und Ende des Sabbatai Sevi oder auch des ‚Ewigen Juden‘ Ahasverus. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten ist, die zahlreichen Belegstellen zu analysieren, werden im Folgenden drei vieldiskutierte Ereignisse, die gerade aufgrund ihres Sensationsgehaltes in unterschiedliche Formen von Erzählsammlungen aufgenommen wurden, herausgegriffen und – basierend auf unterschiedlichen Texten, die wiederum disparaten Textsorten zuzurechnen sind – exemplarisch untersucht.
3.2.1.1 Das Auftreten des ‚Ewigen Juden‘ – Von einem Juden mit Namen Ahasveruß Im Jahr 1542 trifft der spätere Bischof von Schleswig, Paulus von Eitzen, in einer Kirche in Hamburg einen Mann. Dieser heiße Ahasverus und sei bei der Kreuzigung Christi anwesend gewesen und habe dem erschöpften Christus die Rast an seinem Haus verweigert. Daraufhin sei Ahasverus von Christus verflucht worden und wandere seither durch die Welt, um die Menschen zu einem gottgefälligen Leben zu ermahnen. Das Auftauchen dieses Mannes erregte großes Aufsehen und in der Folge wurde Ahasverus oder, wie er später genannt wurde, der ‚Ewige Jude‘, immer wieder gesichtet.164 Der erste Bericht über diese schon bald zu einem Stoff der Weltliteratur werdende Begegnung ist eine 1602 veröffentlichte Flugschrift, die binnen kurzem
164 Vgl. beispielhaft die Auflistung von über hundert Werken bei Mona Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik. Frankfurt a.M., New York 2000 (Schriftenreihe des Zentrums für Antisemitismusforschung Berlin 6), S. 327–333. Vgl. weiter auch die Auflistung bei Jos. J. Gielen: De wandelende Jood in Volkskunde en Letterkunde. Amsterdam 1931, S. 158–240. Zum Ahasver-Stoff und seinen zahlreichen Bearbeitungen sind zahlreiche Beiträge erschienen. Vgl. dazu einführend neben den hier genannten Adolf Leschnitzer: Der Gestaltwandel Ahasvers. In: Zwei Welten. Siegfried Moses zum fünfundsiebzigsten Geburtstag. Hg. von Hans Tramer. Tel-Aviv 1962, S. 470–505; Regine Rosenthal: Identity, Difference, and Exile. Demythologizing the Wandering Jew. In: Komparatistik als Arbeit am Mythos. Hg. von Monika Schmitz-Emans, Uwe Lindemann. Heidelberg 2004 (Hermeia 6), S. 275–290; George K. Anderson: The Legend of the Wandering Jew. Providence 1965, insb. S. 11–53 sowie Werner Zirus: Der ewige Jude in der Dichtung. Vornehmlich in der englischen und deutschen (Palaestra 162). Leipzig 1928, insb. S. 1–18.
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eine weite Verbreitung fand, wurde sie doch schon im Jahr ihres Erscheinens vielfach nach- und neugedruckt.165 Ahasverus, eine Schöpfung des frühen siebzehnten Jahrhunderts,166 taucht ab diesem Zeitpunkt an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Zusammenhängen und in unterschiedlichen Medien auf, so dass man dem Ausgangspunkt dieser Legende,167 der Kurtzen Beschreibung vnd Erzehlung/ von einem Juden mit Namen Ahaßverus,168 eine enorme Wirkmächtigkeit zuerkennen muss. Die dort vorgestellte Figur des ‚Ewigen Juden‘ sowie seine Geschichte bleiben jedoch nicht unverändert. Sie sind Konjunkturen unterworfen, sie werden überarbeitet und umgearbeitet und bereits 1602, im Jahr des Erstdruckes, erfährt die Erzählung vom ruhelosen Wanderer eine entscheidende Umwertung. Aus der Erzählung über einen Zeugen des christlichen Heilsgeschehens wird eine dezidiert antijüdische Erzählung und mehr noch: Die ursprüngliche „Sage vom ewigen Juden“169 wird schließlich, so Baleanu, nach jahrhundertelangen antijüdischen und antisemitischen „Entstellungen […] vergessen“:170
165 Bereits 1602 erschienen zwanzig bekannte Ausgaben und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mehr als siebzig. Hinzu kommen zahlreiche Übersetzungen in fast allen europäischen Ländern. Vgl. Avram Andrei Baleanu: Fünftes Bild: Der „ewige Jude“. Kurze Geschichte der Manipulation eines Mythos. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg. von Julius H. Schoeps, Joachim Schlör. München, Zürich 1995, S. 96–102, hier. S. 97. 166 Zu den Vorläufern der Ahasver-Gestalt, anzuführen wären etwa Berichte in verschiedenen Mönchschroniken des sechsten Jahrhunderts, das „Leimonarium“ von Johannes Moschos, die „Bolognesische Chronik“, die „Flores Historiarium“ (1228) des Roger de Wendower, die „Chronica Maiora“ (1243) des Matthäus Parisiensis sowie „De Astronomia Tractatus X“ (1572) von Guido Bonatti, vgl. Baleanu: Der „ewige Jude“ (wie Anm. 165); Michael Tilly: Der „Ewige Jude“ in England. Die mittelalterliche Cartaphilus-Legende. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 289–303; Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten (wie Anm. 164), S. 29f.; Winfried Frey: Ein geborner Jud zu Jerusalem. Überlegungen zur Entstehung der AhasverFigur. In: Von Enoch bis Kafka. Festschrift für Karl E. Grözinger zum 60. Geburtstag. Hg. von Manfred Voigts. Wiesbaden 2002, S. 207–217, insb. S. 209f.; Rafael Edelmann: Ahasuerus, The Wandering Jew. Origin and Background. In: The Wandering Jew. Essays in the Interpretation of a Christian Legend. Ed. by Galit Hasan-Rokem, Alan Dundes. Bloomington 1986, S. 1–10. 167 Mona Körte: Unendliche Wiederkehr. Der Ewige Jude und die Literatur. In: Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur. Hg. von Willi Jasper u.a. Wiesbaden 2006 (Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 15), S. 43–59, hier S. 11. 168 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden/ mit Namen Ahaßverus/ Welcher bey der Creutzigung Christi selbst persönlich gewesen/ auch das Crucifige über Christum hab helffen schreyen […]. Bautzen 1602, S. Aiv. Nach Frey: Ein geborner Jud zu Jerusalem (wie Anm. 166), S. 207, handelt es sich bei diesem Druck um den Erstdruck. 169 Leonhard Neubaur: Die Sage vom ewigen Juden. Leipzig 1884. 170 Baleanu: Der „ewige Jude“ (wie Anm. 165), S. 100.
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Was blieb ist ein Steroeotyp [sic], die fixe Idee, die primitive, automatische Reaktion: Ahasver, ein bizarrer, fremdartiger Name, der in der Vorstellung der Antisemiten die Hakennase zu suggerieren scheint, den Kaftan und die Schläfenlocken; ‚der ewige Jude‘, eine Formulierung, in der sich scheinbar alle ewigen Beschuldigungen gegen den Juden vereinen: der ewige Wucherer, der ewige Kosmopolit, der ewige elitäre Intellektuelle und dekadente Künstler, der ewige Störer der sozialen Ordnung.171
Ausgangspunkt und Ursprung nicht nur der „Sage vom ewigen Juden“ selbst, sondern vor allem ihrer antijüdischen Ausdeutung, sind die insbesondere zu Beginn des Jahrhunderts erschienenen Flugschriften, die im Folgenden näher beleuchtet werden.172 In der Flugschrift Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung/ von einem Juden mit Namen Ahaßverus berichtet der Ich-Erzähler – „Weil dieser Zeit bey uns alhie nichts newes zu schreiben/ wil ich euch etwas altes/ welches doch bey vielen mit verwunderung/ für etwas newes gehalten wirdt erzehlen“173 –, dass Paulus von Eitzen, späterer Bischof von Schleswig, dem Erzähler und vielen anderen Studenten etliche Male erzählt habe, wie er im Winter 1542 in Hamburg bei einem Gottesdienst eine merkwürdige Begegnung gehabt habe. Dass hier als Gewährsmann Paulus von Eitzen angeführt wird, verweist nicht nur darauf, dass der anonyme Verfasser aller Wahrscheinlichkeit nach Protestant gewesen ist, sondern vor allem – und dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund der weiteren Wirkungsgeschichte von Bedeutung –, dass die Kurtze Beschreibung „in der noch jungen Tradition reformatorischer Schriften [steht], die den Ewigen Juden im Spannungsfeld von Apologie und Anklage als Zeugen christlichen Heilsgeschehens popularisieren“.174 Darüber hinaus fungiert der Verweis auf Paulus von Eitzen und die Beteuerung, dass dieser „bey menniglich in ansehen [stehe] vnnd glaubwirdig [sic]“ sei, ebenso als Authentifizierungsstrategie wie der Hinweis, dass auch der Rector einer Hamburger Schule, „ein Gelehrter vnnd in Historijs erfarner Mann“,175 Zeuge der späteren Unterhaltung mit Ahasverus gewesen sei: Angesichts der unerhörten und unglaublichen Erzählung, deren problematischer Status hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit auch im Text selbst implizit reflektiert wird,176 bedurfte es einer glaubhaften Bestätigung
171 Ebd. 172 Auf die weitere Rezeptionsgeschichte, nach Frey „fast inkommensurabel“, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Winfried Frey: Ein geborner Jud zu Jerusalem (wie Anm. 166), S. 210. 173 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden (wie Anm. 168), S. Aiv. 174 Körte: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten (wie Anm. 164), S. 30f. 175 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden (wie Anm. 168), S. Aiijr. 176 So seien über Ahasverus auch vielerley Judicia über jn ergangen/ Der mehrertheil aber hab dafür gehalten/ er habe ein fliegenden geist bey sich/ der jm solche ding offenbare [Sprachkenntnisse;
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von Seiten erfahrener und angesehener Autoritäten. Dementsprechend wird auch an die Erzählung ein Nachtrag angehängt, in dem berichtet wird, dass Legaten des Herzogs von Holstein-Gottorf, mithin glaubwürdige Personen, Ahasver in Schleswig gesehen hätten und er zudem in Danzig gesehen worden sei.177 Genaue Ortsund Zeitangaben werden sodann angeführt, um die ‚Wahrheit‘ des Berichteten zu erweisen. Darüber hinaus wird möglichen Zweiflern mit dem Argument begegnet, dass „[d]ie werck Gottes […] wunderbarlich und unerforschlich [sind]/ und werden je lenger je mehr ding/ die bißhero verborgen gewesen“.178 Der Ich-Erzähler berichtet schließlich weiter, dass dieser barfüssige und ärmlich gekleidete Mann in der Kirche am Gottesdienst teilgenommen hätte und jedes Mal, wenn der „Name Jesus Christus genennet worden/ hab er sich geneigt/ an seine Brust geschlagen/ vnd sehr tieff geseuffzet“.179 Eitzen habe sich daraufhin über diesen Mann erkundigt und erfahren, „daß er ein geborner Jud von Jerusalem/ mit seinem Namen Ahaßverus/ […] auch bei der Creutzigung Christi selbs persönlich gewesen/ vnd seithero im Leben geblieben“180 sei.181 Dieser Ahasverus berichtet Paulus von Eitzen schließlich selbst, dass er zur Zeit Christi in Jerusalem gelebt habe und diesen – von Hohepriestern und Schriftgelehrten beeinflusst – für einen Ketzer und Verführer gehalten, ihn verfolgt und zu seiner Verurteilung beigetragen habe. Es ist auffällig, dass Ahasverus betont, dass er selbst ein Verführter gewesen sei, er habe es „anders nicht gewust“,182 die Verantwortung für seinen Hass auf Christus liege folglich nicht bei ihm, sondern bei den Schriftgelehrten und Hohepriestern, die mithin als wahre Schuldige am Kreuzestod Christi identifiziert werden. Dies entlastet Ahasverus jedoch nicht von seiner eigenen Schuld, denn als Christus auf dem Weg nach Golgatha an seinem Haus rasten wollte, habe Ahasverus ihm dieses verwehrt und ihn beschimpft. Christus habe ihm darauf geantwortet: „Ich will stehen vnd ruhen/ du aber solt
Anm. V.G.]/ Welches er [Paulus von Eitzen; Anm. V. G.] aber nicht dafür gehalten/ weil er nicht allein Gottes Wort gern gehört vnnd davon geredt/ auch allwegen mit grosser andacht vnnd grossen seufftzen den Namen Gottes genennt/ sondern auch kein Fluchen dulden können […]. (Ebd., S. Aiijr) 177 Ebd., S. Aiiiiv. 178 Ebd., S. Aiiijr. Vgl. zur Diskussion um den Wahrheitsgehalt der Historie weiter unten, S. 144– 146. 179 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden (wie Anm. 168), S. Aiv. 180 Ebd, S. Aijr. 181 Zur Namensgebung, die – so Baleanu – wohl auf geringe Bibelkenntnis des Verfassers der Schrift zurückzuführen ist, vgl. Baleanu: Der „ewige Jude“ (wie Anm. 165), S. 97. Baleanu spekuliert weiter, dass der Verfasser möglicherweise durch „Das Spiel von Ahasver“ inspiriert wurde und den Namen Ahasver für einen typisch jüdischen Namen hielt. Vgl. ebd. 182 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden (wie Anm. 168), S. Aijr.
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gehen“.183 Seither wandere er, ohne sterben zu können, als überlebender Zeuge der Passion Christi ruhelos über die Erde. Ahasverus wird hier vorgestellt als ‚typischer‘ Jude, der ‚verstockt‘ und halsstarrig in seinem ‚Unglauben‘ verharrt und Jesus nicht als Messias anerkennt. Er ist mitschuldig an der Verurteilung Jesu und erweist mithin durch seine Taten und Worte die ‚Wahrheit‘ des antijüdischen Stereotyps. Insofern erscheint er auch als Repräsentant aller Juden, auch wenn zwischen den Hohepriestern und Schriftgelehrten und ihm selbst differenziert wird. Dennoch lädt er, wie diese auch, Schuld auf sich, so dass Jesus Verfluchung als gerechtfertigte Strafe erscheint. Nied verweist zudem darauf, dass der Fluch von Jesus nicht recht mit dem Jesus des Neuen Testaments übereinstimme, der predigte, man solle auch die andere Wange hinhalten.184 Die mangelnde theologische Bildung des Verfassers erweist sich, darauf weist Nied ebenfalls hin, jedoch schon auf dem Titelblatt der Flugschrift: Der Verfasser führt hier ein Zitat aus dem Matthäusevangelium (Mt. 16,28) an, ohne jedoch zu reflektieren, dass es sich auf die Jünger Jesu bezieht. Allein der Wortsinn begründet das Zitat, so dass es dem Verfasser augenscheinlich nicht um einen tieferen Sinn des Bibelwortes geht.185 Ignoriert man diese Inkongruenzen erscheint der Fluch Jesu, der Ahasverus zwingt, unsterblich durch die Länder zu wandern, mit Blick auf die frühe und mittelalterliche christliche Theologie, jedoch als durchaus schlüssig: Die Juden – und Ahasverus als ihr Repräsentant – haben durch den Gottesmord die größte Schuld auf sich geladen und sind deshalb zu ewiger Wanderschaft verdammt,186 sie werden durch die Wanderschaft zu Zeugen wider sich selbst, erweist sich doch an ihnen die Göttlichkeit Jesu. Ahasverus erscheint dafür als anschauliches Beispiel: Er ist „lebendige[r] zeuge[..] deß Leidens Christi/ zu mehrer überzeugung der Gottlosen vnd Unglaubigen“,187 er bezeugt die Wahrheit des Neuen Testaments. Im Gegensatz zu anderen Juden ist Ahasverus jedoch „sehend geworden“,188 er hat seine ‚Verstockung‘ aufgegeben und erscheint nun – aus christlich-frommer Perspektive – als ‚gottesfürchtiger Jude‘, der die Messianität Jesu anerkennt. Zugleich übt er sich in gottgefälligem Verhalten, wenn er schweigsam und bescheiden die Länder durchstreift und Geschenke zurückweist. Körte hat darauf verwiesen, dass sein
183 Ebd., S. Aijv. 184 So Stefan Nied: „ich will stehen und ruhen, du aber solt gehen“. Das Volksbuch Ahasver. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 257–278, hier S. 266. 185 Ebd. 186 So Nied, ebd., S. 270f. 187 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden (wie Anm. 168), S. Aijv. 188 Nied (wie Anm. 184), S. 273.
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Verhalten „in einer ungebrochenen Beziehung zu der von den Idealen des Mangels und des Verzichts beherrschten Ethik des Protestantismus“189 stehe. Mit Nied ist jedoch einzuwenden, dass sich Ahasverus Lebensweise an den gängigen Regeln des Mönchtums orientiert. Nied führt dieses mit Tilly auf die Quellen der Kurtzen Beschreibung und Erzehlung zurück, orientierten sich Roger de Wendower und Matthäus Parisiensis doch an den ihnen vertrauten Lebensformen.190 Damit wird die Flugschrift jedoch keineswegs zu einem katholisch geprägten Text, „da die Vermeidung von Maßlosigkeiten als das Merkmal des gottgefälligen Lebens überhaupt bewertet wurde“.191 Auffällig ist weiterhin, dass Ahasverus Geldgeschenke über zwei Schilling verweigert. Bekommt er dennoch etwas verehrt, verteilt er es unter den Armen. Damit konterkariert Ahasverus, der als Jude den antijüdischen Vorwurf der ‚Verstockung‘ und ‚Halsstarrigkeit‘ verkörperte, das Stereotyp des jüdischen Wucherers.192 Ahasverus wird somit zu einer äußerst ambivalenten Figur: Er bestätigt die antijüdischen Stereotype vom ‚verstockten‘, ‚halsstarrigen‘ und ‚verblendeten‘ Juden und unterläuft zugleich das Stereotyp des ‚jüdischen Wucherers‘. Er bestätigt die Messianität Jesu und lebt ein – aus christlich-frommer Perspektive – gottgefälliges Leben und bleibt doch Jude. Insofern wird Ahasverus nicht zum Zeugen bzw. zum Beispiel für eine ‚gelungene‘ Bekehrung von Juden, denn auch wenn er glaubt, bleibt er verflucht. Die Bekehrung zum Christentum erlöst die Juden folglich nicht, sondern ihr Schicksal bleibt unabänderlich.193 Eine nähere Erläuterung vor allem im Hinblick auf die eschatologische Dimension der Bekehrung der Juden findet sich in der Flugschrift jedoch nicht und so fordert Ahasverus in seiner Deutungsspielräume eröffnenden Ambivalenz Vereindeutigungen geradezu heraus. Sein Schweigen provoziert das Erzählen über ihn und so erschien bereits 1602, im Jahr des Erstdruckes, eine ebenso weit verbreitete Bearbeitung der Flugschrift, die für die weitere Wirkungsgeschichte durchaus folgenreich war. Unter dem Pseudonym Chrysostomus Dudulaeus Westphalus194 war der Verfasser nicht nur bestrebt, die Unstimmigkeiten des Erstdruckes zu tilgen – so wird beispielsweise das Matthäus-Zitat auf dem Titelblatt getilgt –, sondern gab der
189 Körte: Unendliche Wiederkehr (wie Anm. 167), S. 45 190 So Nied (wie Anm. 184), S. 268f. 191 Ebd., S. 269. 192 So auch Nied, ebd., S. 269. 193 Darauf verweist auch Frank Stern: „Der Ewige Jude“ – Stereotype auf der europäischen Wanderung. In: Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Hg. vom Jüdischen Museum der Stadt Wien. Wien 1995, S. 117–121, hier S. 119. 194 Das Pseudonym konnte bisher nicht aufgelöst werden. Zur Namensgebung vgl. Nied (wie Anm. 184), S. 274 sowie Frey: Ein geborner Jud zu Jerusalem (wie Anm. 166), S. 216f.
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Erzählung vor allem eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung, die im Erstdruck in diesem Maße nicht erkennbar ist. Westphalus erweitert seine Vorlage stark, indem er der Erzählung nicht nur ein kurzes Gedicht voranstellt, sondern vor allem der eigentlichen Erzählung von Ahasverus eine „Erinnerung an den Christlichen Leser/ von diesem Jüden“ anhängt. Aber auch den Bericht von Paulus von Eitzen überarbeitet er: Neben einem neuen Titel – nun Wunderbarlicher Bericht/ von einem Jüden aus Jerusalem bürtig/ vnd Ahasverus genennet195 – wird der Ursprungstext stilistisch-syntaktisch sowie inhaltlich überarbeitet, so dass erstens der Ablauf leicht verändert wird – Paulus von Eitzen spricht sogleich mit Ahasverus, ohne sich vorher bei anderen über ihn zu informieren –, es fallen zweitens die Beteuerungen weg, dass es sich bei Paulus von Eitzen und den anderen Anwesenden um überaus glaubwürdige Personen handeln würden und drittens fallen die Diskussionen um die Glaubwürdigkeit der Erzählung weg; der Status der Erzählung wird erst in der „Erinnerung an den Christlichen Leser“ verhandelt. Dort betont Westphalus, wie der Verfasser des Erstdruckes, dass die Werke Gottes unerforschlich seien. Dennoch bestand wohl Klärungsbedarf: So wird in der „Erinnerung an den christlichen Leser“ nicht nur der Fluch von Jesus mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass Jesus „vielmahl den Phariseern/ Saduceern/ vnnd andern mehr zum hefftigsten gedrawet“196 habe und der Fluch so als nicht außergewöhnlich vorgestellt, sondern auch das Alter von Ahasverus sowie seine Fähigkeit, jede Sprache zu sprechen, wird unter Rückgriff auf biblische Gestalten, wie etwa Methusalem, erläutert. Darüber hinaus verweist der Verfasser auf „[v]iele dergleichen Historien […] [, die] in Papistischen Schrifften“ stünden und die „biß daher nicht getadelt“, sondern „heut auch noch bey jhnen geglaubet“ würden.197 Viertens schließlich findet eine deutliche Um- und Abwertung der Figur des Ahasverus sowie der Juden insgesamt statt. Diese vollzieht sich zunächst durch die Ansprache aller Juden: So wird Ahasverus nicht durch Hohepriester und Schriftgelehrte zum Hass auf Christi verführt, sondern er hätte „mit den Jüden [Jesus] für einen Ketzer gehalten“.198 Es wird folglich nicht mehr differenziert: Es sind ‚die‘ Juden, die Christus hassen würden und an seinem Martertod Schuld trügen und Ahasverus erscheint als einer unter anderen Juden. Auffällig ist auch,
195 Chrysostomus Dudulaeus Westphalus: Wunderbarlicher Bericht/ von einem Jüden aus Jerusalem bürtig/ vns Ahaverus genennet/ welcher fürgibet als sey er bey der Creutzigung Christi gewesen/ vnd bißher von Gott beym Leben erhalten worden/ sampt einer Theologischen erinnerung an den Christlichen Leser. [Leiden 1602]. 196 Ebd., S. Biiijv 197 Ebd., S. Cijr. 198 Ebd., S. Aijvf. [Hervorhebung V.G.].
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dass Ahasvers Beschimpfungen und das Wegjagen von Jesus motiviert werden: Ahasver vertreibt Jesus „aus eiffer vnd zorn/ vnd vmb Ruhms willen/ bey andern Jüden“.199 Folglich erscheint der Fluch, den Jesus über ihn ausspricht, mehr noch als im Erstdruck, gerechtfertigt und die Strafe, die dort noch unbestimmt war bzw. über deren Ende Ahasverus nur spekulieren konnte, wird genauer gefasst: „du solt gehen biß an den Jüngsten Tag“.200 Auch der Strafzweck wird nun angegeben, soll Ahasverus doch „biß an den jüngsten Tag wieder [sic] die Jüden ein[..] lebendige[r] Zeuge[..] [sein]/ dadurch die vngleubigen vnd Gottlosen des sterbens Christi erinnert/ vnd zur Busse bekehret werden sollen“.201 Ahasverus, der exemplarische Jude, wird mithin als Jude zum Zeugen wider die Juden. Verstärkt wird diese antijüdische Lesart der Erzählung noch in den „Erinnerungen an den Christlichen Leser/ von diesem Jüden“, die den Umfang der „Newe[n] Zeitung von einem Jüden von Jerusalem Ahasverus genant“202 bei weitem übertrifft. Nach einigen kurzen allgemeinen Bemerkungen zur Macht und Weisheit Gottes sowie zur Verfolgung Christi durch „den Teuffel vnd die böse Welt“203 werden die Juden als Gottesmörder angeklagt: Denn ob die Juden wol Gottes Eigenthumb vnd auserwehltes Volck wahren/ welchen zugehörete die Kindschafft vnd die Herrligkeit/ vnd der Bund/ das Gesetz vnd der Gottesdienst/ beneben der verscheischung [sic]. Welche auch seind gewesen die Veter/ vnd aus welchen Christus herkommen/ nach dem Fleisch Rom. 9. so haben jhn dennoch grosse Farren [sic] vmgeben/ fette Ochsen vmbringet/ jhren Rachen wieder [sic] jhn/ wie ein brüllender vnd reissender Lew/ auffgesperret/ Psalm 22. welche jhn endlich biß zum Tode/ ja biß zum Tode des Creutzes verurtheilet/ Philip 2.204
Die Darstellung der Juden als Gottesmörder wird an den Anfang der Erläuterung zu Ahasverus gestellt und damit die Stoßrichtung vorgegeben: Die Juden – und damit auch Ahasverus – seien „Christi Ertzverfolger“205 und Mörder, sie seien ‚verstockt‘ und blind gegenüber der Messianität Jesu; als Beleg werden autoritative Texte aufgerufen. Ahasver habe sich jedoch von einem Saulus zum Paulus gewandelt und sei nun ein „rechter standhafftiger Bekenner“,206 der andere Juden von der Wahrheit des Neuen Testaments überzeugen solle. Die Chancen
199 200 201 202 203 204 205 206
Ebd., S. Aiijr. Ebd., S. Aiijr. Ebd., S. Aiijv. So die Überschrift der eigentlichen Erzählung über Ahasverus. Ebd., S. Aijr. Ebd., S. Bijr. Ebd. Ebd. Ebd., S. Bijv.
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auf eine ‚wahre Bekehrung‘ aller Juden schätzt Westphalus jedoch gering ein, verwirft er doch das zeitgenössische Judentum als „abschlechtige vnd abartige Gesellen von altem Geblüte/ […] [die] in jhrer vnbußfertigkeit zu gleicher verdammnis miteinander lauffen“.207 Die Juden seien „hartneckig[..]“, „verstockt[..]“ und „verblendet[..]“.208 Dennoch wird einer möglichen Bekehrung keine generelle Absage erteilt, wenn auf ihre eschatologische Bedeutung verwiesen wird.209 Dem moral-religiösen Unterweisungscharakter der Schrift entsprechend wird gegen Ende der „Erinnerung“ eine moralisatio eingefügt, die nicht nur die Juden, sondern auch die eigentlichen Adressaten der Schrift, die Christen, anspricht: Folgends so gibet vns nun diese Relation, wann sie dermassen betrachtet wird/ lehr vnd nütze vermahnung. Die Jüden zwar haben allhie ein Spectacul/ in deme diese Sachen jnen mügen eine Erinnerung vnd warnung geben in jrer grossen blindheit/ vnbußfertigkeit vnd verstockung/ ob sie vielleicht hiedurch sich noch möchten zu recht bringen lassen. Christen vnd Jüden zugleich wird ein Exempel an Ahasuero fürgestellet/ jm nach zufolgen/ vnd vom Herrn Christo solch bekandnüß zu thun. Wir aber semptlich so in der welt itzt leben/ sollen vns daraus erinnern/ das wir Pilgram vnnd Frembdlinge in diesem leben sind/ vnnd wenn wir auch lenger als Mathusalem oder auch dieser Ahasuerus lebeten.210
Die Erzählung von Ahasverus zielt somit darauf ab, Christen zu einem gottgefälligen Leben zu ermahnen. Dass die eigentliche Zielsetzung aber vielmehr die Diffamierung und Diskreditierung des Judentums darstellt, wird deutlich, wenn am Ende der „Erinnerung“ die Juden nicht nur ob ihres vermeintlichen Unglaubens, ihrer ‚Verstockung‘ und ‚Verblendung‘, sondern auch ob ihres „Schindgeldt[s]“211 angegriffen werden: Dieweil aber die Jüden vnbußfertig geblieben/ also/ das sie auch darüber ins euserste verderb sind gerathen/ Stad/ Policey vnd Regiment verlohren/ vnnd die jtzigen vermeineten Jüden in aller Welt an vngewissen örtern wohnen/ auch keiner dinge eigenthumb/ ohn jr Schindgelt haben vnnd besitzen […].212
Hier werden die bei Westphalus immer wieder vorgebrachten religiös begründeten Stereotype mit dem profanen des Juden als Wucherer verquickt, so dass es zu
207 208 209 210 211 212
Ebd., S. Biijr. Ebd., S. Biiijr. Ebd. Ebd., S. Ciijr. Ebd., S. Ciiijr. Ebd.
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einer deutlichen Verschärfung der antijüdischen Polemik kommt, die schließlich, so Nied, als „Aufruf zum Pogrom verstanden“213 werden kann: Was denn endlich nun hierauß den vnbußfertigen Jüden insonderheit in acht zu nehmen sein will/ ist dieses/ das Gott der Herr vber die Gottlosen wird regnen lassen Blitz/ Fewer vnd Schweffel/ vnd wird jnen ein Wetter zu Lohn geben. Der Herr ist gerecht/ vnd hat Gerechtigkeit lieb/ Darumb/ das jhr Angesichte schawen auff das recht ist/ Psal. 11. Die Ruhmrechtigen bestehen nicht für seinen Augen/ er ist feind allen Vbelthetern. Er bringet die Lügner vmb/ Der Herr hat Grewel an den Blutgierigen vnd Falschen/ Psal. 5.214
Der Ahasverus des Erstdruckes, Zeuge des christlichen Heilsgeschehens, wird bei Westphalus ein aufgrund seines Judentums zu Recht Gestrafter, der ruhelos durch die Welt wandert. An ihm erweise sich, so Westphalus, die Verwerflichkeit der Juden und die Wahrheit des Christentums. Es genügt dem Verfasser jedoch nicht, die Juden als Gottesmörder anzuklagen: Vielmehr kulminieren seine Vorwürfe zu einer scharfen antijüdischen Polemik, in der der Aufruf zum Pogrom mitschwingt. Mit dieser dezidiert antijüdischen Ausdeutung der Erzählung von Ahasverus gab Westphalus einen Deutungsrahmen vor, den die weiteren Bearbeiter der Erzählung durchaus nutzen: So wurde der Flugschrift ab 1637 ein „Bericht von den zwölf Jüdischen Stämmen, was ein jeder Stamm dem Herrn Christo zur Schmach angethan, und was sie dafür leiden müssen“215 beigegeben. Der ‚Bericht‘ – mutmaßlich übernommen aus dem Jüdischen abgezogenen Schlangenbalg von Franciscus von Mantua216 – listet für die einzelnen Stämme detailliert die Taten der einzelnen Stämme während der Passion Christi auf217 sowie die Strafen, die sie – spiegelbildlich zu ihren Taten – dafür zu gegenwärtigen hätten. Die Erzählung von Ahasverus wandelte sich mithin in ein überaus judenfeindliches Pamphlet:
213 Nied (wie Anm. 184), S. 276. 214 Westphalus: Wunderbarlicher Bericht/ von einem Jüden aus Jerusalem bürtig (wie Anm. 195), S. Ciiijr. 215 Chrysostomus Dudulaeus Westphalus: Der immer in der Welt herum wandernde Jude, Das ist: Bericht von einem Juden aus Jerusalem, mit Namen Ahasverus, welcher vorgiebt, er sei bey der Creutzigung Christi gewesen, und bisher durch die Allmacht Gottes beym Leben erhalten worden.[…]. [Reval 1634]. 216 Franciscus von Mantua: Jüdischer abgezogener Schlangenbalg. Das ist: Betrügliche tückische Boßheiten der verblendten/ von Gott verworffnen Juden/ vnd denen darauß erfolgten Straffen vnd Plagen. Eine erschröckliche Zeitung/ zum Theyl wunderbahrlicher Straffen vnd Plagen Gottes vber die Juden/ welche jhren Rath/ falsche Zeugknuß vnd That/ zu dem allervnschuldigisten bittern Leyden vnd Sterben vnsers Herrn Jesu Christi geben haben. [o.O.] 1631. 217 So auch Frey: Ein geborner Jud von Jerusalem (wie Anm. 166), S. 216.
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„Aus Ahasver, der harmlosen, wundersamen Figur des Volksbuches von 1602, wurde ‚ein lebendiger Zeuge wieder die Juden‘ stilisiert.“218
3.2.1.2 Der „Fall Engelberger“ und seine Bearbeitungen Im August 1642 ereignete sich in Wien Aufsehenerregendes: Drei Diebe wurden in Wien zum Tode verurteilt, weil sie in die erzherzogliche Schatzkammer eingebrochen waren und Geld gestohlen hatten. Einer dieser drei war Ferdinand Franz Engelberger, ein Konvertit aus Polen,219 der nach seinem Übertritt zum katholischen Glauben Schmähschriften gegen das Judentum verfasst hatte. Er berief sich bei der Gerichtsverhandlung auf sein Christentum und hoffte so auf eine mildere Strafe, die ihm jedoch nicht gewährt wurde. Daraufhin widerrief er sein Christentum, verfiel in Gotteslästerungen, zerschlug ein Kruzifix und gestand, Hostien geschändet zu haben. Nachdem auch die Ermahnungen eines Jesuiten nichts fruchteten und er weiterhin auf sein Judentum bestand, brach ein Tumult los, in dessen Folge Häuser der jüdischen Gemeinde in Wien geplündert und zahlreiche Juden erschlagen wurden. Das weitere Verfahren gegen Engelberger wurde unterbrochen, er wurde ins Gefängnis verbracht und die beiden anderen Diebe, welche Juden waren, verurteilt. Am 12./22. August wurden diese hingerichtet und ein neuerliches Verfahren gegen Engelberger eröffnet. Da er weiterhin den christlichen Glauben schmähte wurde er zu einem grausamen Tod verurteilt: Er wurde auf den vier Hauptplätzen Wiens mit
218 Nied (wie Anm. 184), S. 277. 219 In den Quellen wird Engelberger meist als „Rabbi“ betitelt. Kaufmann führt jedoch an, dass es sich bei Engelberger nicht um einen Rabbiner gehandelt habe: „Dass E[ngelberger] Rabbiner gewesen, ist eine aus dem Begleittitel seines hebräischen Namens erschlossene Erfindung.“ David Kaufmann: Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien und Niederösterreich, ihre Vorgeschichte (1625–1670) und ihre Opfer. Wien 1889, S. 36, Anm. 3. Wagenseil zitiert jedoch die Vorrede aus Engelbergers Schrift „Der Catholische Wegweiser“, in der dieser sich als „ein Rabine und Lehrer auch Beschneider unter den Juden“ bezeichnet. Johann Christoph Wagenseil: Tela Ignea Satanae. Hoc est: Arcani, & horribiles Judaeorum adversus Christum Deum, & Christianam Religionem Libri Anekdotoi […]. Nürnberg, Frankfurt a.M., Altdorf 1681, S. 190. Zu Engelbergers Schriften siehe auch Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebreae […]. Bd. 1. Hamburg, Leipzig 1715, S. 982. Vgl. weiter auch Martin Scheutz: Glaubenswechsel als Massenphänomen in der Habsburgermonarchie im 17. und 18. Jahrhundert. Konversionen bei Hof sowie die „Bekehrung“ der Namenlosen. In: Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Hg. von Rudolf Leeb, Martin Scheutz, Dietmar Weikl. Wien, München 2009 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51), S. 431–455. Nach Scheutz sei Engelbergers Konversion zum Christentum erfolgt, um der Strafe für Silberdiebstähle in der Prager Synagoge 1636 zu entgehen. Nach dieser hätte er sich als „missionarischer Schriftsteller“ betätigt (S. 442).
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glühenden Zangen gefoltert, ihm wurde Haut aus dem Rücken gerissen, die Zunge abgeschnitten, die rechte Hand abgehauen, er wurde verkehrt herum an den Galgen gehängt und schließlich verbrannt. So die Schilderung im Theatrum Europaeum.220 Der Fall erregte großes Aufsehen – wohl nicht zuletzt aufgrund der grausamen Hinrichtung – und wurde auch über die Grenzen Wiens hinweg durch Flugschriften und Berichte in Kompilationen bekannt gemacht. Im Folgenden soll nun eine Auswahl dieser näher betrachtet werden, um im Anschluss jene Darstellung der Ereignisse genauer zu analysieren, die Harsdörffer in seiner Kompilation Der grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte bietet. Bereits im gleichen Jahr wurden mindestens zwei Flugschriften sowie ein illustriertes Flugblatt gedruckt, die den Fall des Ferdinand Franz Engelberger einem breiteren Publikum zugänglich machten.221 Während der Warhaffte Bericht222 die Ereignisse sachlich und detailliert berichtet und auf antijüdische
220 Theatrum Europaeum, Oder/ Außführliche und Warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten/ so sich hin und wieder in der Welt/ fürnemblich aber in Europa, und Teutschlanden/ so wol im Religion- als Prophan-Wesen/ vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr […] sich zugetragen haben/ […]. 21. Bde. Frankfurt 1635–1738, hier Bd. 4, S. 976 221 Zum Medium der Flugschrift bzw. Flugblatt vgl. einführend Michael Schilling: Flugblatt. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 607–609; Wolfgang Adam: Theorien des Flugblatts und der Flugschrift. In: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. Hg. von Joachim-Felix Leonhard u.a. 1. Teilbd. Berlin, New York 1999 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 151), S. 132–143; Wolfgang Harms (Hg.): Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. 7 Bde. Tübingen 1985–2009; Wolfgang Harms, Michael Schilling (Hgg.): Das illustrierte Flugblatt in der Kultur der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. u.a. 1998 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 50); Wolfgang Harms, Alfred Messerli (Hgg.): Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Basel 2002 sowie Wolfgang Harms, Michael Schilling: Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen – Wirkungen – Kontexte. Stuttgart 2008. Zu antijüdischen Flugschriften und Flugblättern vgl. Christine Mittelmeier: Publizistik im Dienste antijüdischer Polemik. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Flugschriften und Flugblätter zu Hostienschändungen. Frankfurt a.M. u.a. 2000 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 56); Wellmann (wie Anm. 98), S. 183–193; Winfried Frey: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus sowie Wolfgang Harms: Feindbilder im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit. In: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Hg. von Franz Bosbach. Köln u.a. 1992 (Bayreuther historische Kolloquien 6), S. 141–177, insb. S. 148–130. 222 Warhaffter Bericht So sich zu Wien in Oesterreich mit dreyen Juden zugetragen: darunter einer/ so von diesem ein vornehmer Rabbi gewesen/ unnd sich vor etlichen Jahren zu Rackawitz in Poln tauffen lassen/ aber […] die Christenheit verleugnet […]. So geschehen in Wien den 16/26. Augusti 1642. [Wien 1642].
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Einlassungen weitgehend verzichtet – auch wenn der Delinquent in den Augen des Autors ein besonders „abschewlich[es] Exempel“223 darstellt –, verliert sich der dokumentarische Charakter in der Liedflugschrift Warhaffte vnd Erschröckliche Zeitung224 schon durch die Darbietung des Ereignisses in der eingängigen Form der im „Thon: Wie man den Grafen von Rom/ oder den Grafen von Serin singet“ verfassten Ballade, eignet sie sich doch durch den in der Form bereits angelegten nachfolgenden performativen Akt besonders zur Propaganda.225 Insgesamt wird hier dann auch wesentlich parteiischer argumentiert als im Warhafften Bericht, werden doch insbesondere durch die tendenziöse Wortwahl antijüdische Stereotype aufgerufen – wie ‚jüdische Verschwörung‘ gegen Christen und ‚jüdische Geldgier‘. Auch greifen die Diebe in dieser Version sogar andere Menschen an, um an ihre Beute zu kommen.226 Im Zentrum steht jedoch die ‚Verstockung‘ der Juden insgesamt und Engelbergers im Besonderen. So bezeichnet der Verfasser die Weigerung der beiden jüngeren Juden, sich taufen zu lassen, als „gantz Jüdisch[e] art“.227 Deutlicher wird die Gegenüberstellung von Judentum und Christentum noch, wenn betont wird, dass Engelberger als Christ – trotz seiner Tat – noch Mitleid entgegengebracht wurde, nicht aber mehr dem ‚Gottlosen‘. Die direkt darauffolgenden Schilderungen seiner Gotteslästerung und Hostienschändung verschärfen den Kontrast, zugleich erscheint die Verwerflichkeit Engelbergers umso größer. Es ist nun kein Raum mehr für christliches Mitleid und so werden die Folgen des Tumultes – gewalttätige Übergriffe auf Juden – auch nur mehr konstatiert. Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang nochmals antijüdische Aversionen geschürt, wenn ihre Ringe ausdrücklich erwähnt werden und so ökonomischer Neid beim Publikum pro223 Ebd., 2v. 224 Warhaffte vnd erschröckliche Zeitung/ So geschehen diß 1642. jar/ den 26. Augusti/ in der Kays. Hauptstatt Wien in Österreich/ von drey Gottlosen Juden/ so vmb ihrer Dieberey willen […] vmb das Leben kommen […] in ein Gesang verfaßt […]. [Augsburg] [1642]. Angehängt – und auf dem Titelblatt angekündigt – ist zudem ein „schöne[s] Lied/ von der Kinderzucht/ auß dem 30. cap. Syrachs“. Da keinerlei Bezug zu den Ereignissen um Engelberger festzustellen ist, ist davon auszugehen, dass der Drucker dieses Lied aus drucktechnischen Gründen anhängte, um die acht Seiten (Oktavformat) zu füllen. Ähnlich verhält es sich mit dem Titelholzschnitt, auf dem zwei Männer zu sehen sind, die handeln. Er steht jedoch in keinem offensichtlichen Bezug zum Bericht der Ereignisse um Engelberger und auch nicht zum Lied „von der Kinderzucht“. Insofern ist zu vermuten, dass der Drucker hier lediglich einen bereits vorhandenen Holzschnitt weiter verwendete. 225 Vgl. zum Typus des „Zeitungsliedes“ Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. 2. Bde. Baden-Baden 1974 (Bibliotheka Bibliographica Aureliana 55). 226 So „Rottieren“ sie sich zusammen. Warhaffte vnd erschröckliche Zeitung/ So geschehen diß 1642. Jar (wie Anm. 224), 1v. 227 Ebd., 2r.
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voziert wird.228 Durch Ausrufe wie „O weh der Juden Plag“229 und den Hinweis, dass der Gefolterte sich „wie ein wildes Vieh“230 gebärdet habe, werden die Juden zudem aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Dass die Gesellschaft sich zuvörderst über die Zugehörigkeit zum Christentum definiert, macht nochmals die letzte Strophe deutlich, wenn Judentum und Christentum scharf voneinander abgegrenzt werden: Also seynd sie gestorben die Juden allbereit/ an Leib vnd Seel verdorben/ in alle Ewigkeit/ bittet Jesum von Hertzen ihr lieben Christenleut/ daß Er vns wolle geben die ewige Seeligkeit/ Amen.231
Während in den beiden Flugschriften die Folter und der Tod Engelbergers nicht im Fokus der Berichterstattung stehen, lenkt der illustrierte Einblattdruck die Aufmerksamkeit des Betrachters durch den das obere Drittel des Blattes einnehmenden Kupferstich auf das Autodafé an Engelberger:232 Im Rahmen einer Simultandarstellung werden in acht durchnummerierten Bildern die Urteilsverkündung, die Lästerung des Engelbergers und die einzelnen Strafen graphisch dargestellt. Der erläuternde Text berichtet ausführlich von den Ereignissen um
228 Ebd., 3r. 229 Ebd., 2v. 230 Ebd., 3r. 231 Ebd., 3v. 232 Eine sehr denckwürdige Historie/ Von einem getaufften/ doch wider vom Christenthumb abgefallenen Juden/ welcher wegen Diebstal sampt zweyen andern Juden in Wien ergriffen/ und justificiert worden. [Wien 1642]. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, Inventar-Nr. HB 212, Kapsel-Nr. 1279. Die Graphik des Flugblattes ist auch abgedruckt in Georg Liebe: Das Judentum in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1903 (Monographien zur deutschen Kulturgeschichte 11), S. 104 und in David Kunzle: History of the Comic Strip, Vol. I: The Early Comic Strip. Narrative Strips and Picture Stories in the European Broadsheet from c. 1450 to 1825. Berkeley u.a. 1973, S. 183. Zur Verbrechensdarstellung in Flugschriften und Einblattdrucken Ulrike Landfester: Das Recht des Erzählers. Verbrechensdarstellungen zwischen Exekutionsjournalismus und PitavalTradition 1600–1800. In: Literatur, Kriminalität und Rechtskultur im 17. und 18. Jahrhundert. Tagung am 17. und 18. Juni 1994 an der Technischen Universität Dresden. Hg. von Uwe Böker, Christoph Houswitschka. Essen 1996 (Dresdner Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik 1), S. 155–183 und weiter Joy Wiltenburg: True Crime. The Origins of Modern Sensationalism. In: American Historical Review 109 (2004), S. 1377–1404. Zur Darstellung von Hinrichtungen in illustrierten Flugblättern vgl. auch Dietmar Peil: Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt. In: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Hg. von Wolfgang Harms, Alfred Messerli. Basel 2002, S. 465–486.
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Engelberger, insbesondere von den einzelnen Strafen. Wie schon bei den Flugschriften steht jedoch auch hier die ‚Verstockung‘, Halsstarrigkeit und Gotteslästerung Engelbergers im Vordergrund und so wird immer wieder die „verteuffelte[..] Gottlosigkeit dieses Juden“233 betont. Die Schilderung der Vorgänge unterscheidet sich dabei nur wenig von denen der Flugschriften, auffällig ist jedoch, dass Engelberger eine Disposition zum Diebstahl zugeschrieben wird. Allein diese sei es gewesen – so hätten die anderen Juden berichtet –, die Engelberger zur Konversion zum Christentum getrieben hätte. Bereits hier wird mithin, noch vor dem eigentlichen Abfall vom Christentum, seine Konversion als falsch erwiesen. Die Disposition zum Diebstahl zeichnet jedoch nicht nur Engelberger, sondern die Juden insgesamt aus, wodurch im Umkehrschluss jede Konversion eines Juden unter den Verdacht gerät, allein durch Geldgier motiviert zu sein. Die weitere Verbreitung der Ereignisse förderte sicher auch die Aufnahme der Historie Der verstockte Jude in Laurembergs überaus erfolgreiche Acerra Philologica. Ist diese noch in ihren ersten Auflagen der deutschsprachig-humanistischen Schulliteratur zuzurechnen, weiteten die folgenden Auflagen die behandelten Themenkreise erheblich aus, sodass die Acerra von 1697 auf über 700 Historien – die erste Auflage 1633 umfasste 200 – anwuchs.234 Der verstockte Jude stammt aus der Ausgabe von 1684. Diese umfasst 650 Historien, die keiner wissenschaftlichen Systematik folgen, den verschiedensten Themengebieten angehören und selten mehr als drei Druckseiten umfassen. Den einzelnen Erzählungen ist jeweils eine Moral oder ein Lehrsatz angefügt – so auch bei Der verstockte Jude: Nach einem knapp gehaltenen sachlichen Bericht der Ereignisse, der nur kurz den Diebstahl erwähnt, umso ausführlicher aber auf die Gotteslästerung und die Hostienschändung235 eingeht, findet sich folgende moralisatio: „Juden sind ein
233 Eine sehr denckwürdige Historie/ Von einem getaufften/ doch wider vom Christenthumb abgefallenen Juden (wie Anm. 232). 234 Zu Laurembergs „Acerra Philologica“ vgl. weiter Thomas Bürger: Die ‚Acerra Philologica‘ des Peter Lauremberg. In: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 12 (1987), S. 1–24 sowie Ralf Georg Czapla: Mythologische Erzählstoffe im Kontext polyhistorischer Gelehrsamkeit. Zu Peter Laurembergs Acerra Philologica. In: Simpliciana 21 (1991), S. 141–159. 235 Um die Schändung einer Hostie geht es auch in der vorangestellten Historie „Die blutigen Hostien“. Hier wie dort erhalten, mittels göttlicher Gerechtigkeit, die Täter jedoch ihre Strafe und werden verbrannt. Es ist anzunehmen, dass die Erzählungen nacheinander geboten wurden, um so den Vorwurf der Gotteslästerung durch Juden durch Wiederholung zu bekräftigen und zu bestätigen. Vgl. Peter Lauremberg: Neue und vermehrte Acerra Philologica. Das ist: Sechs Hundert und Funffzig Außerlesene/ nützliche/ lustige und denckwürdige Historien/ und Discursen auß den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammen getragen. […] Allen Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Jnsonderheit der studirenden Jugend zu mercklichen Ubung/ und nothwendigem Unterricht/ in allen Stücken zu gelehrter Wissenschafft beförderlich.
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verstocktes Volck/ und lassen sich schwerlich bekehren/ indem sie/ was sie vorgeben/ selten von Hertzen meynen“.236 Im Zentrum des Interesses – schon der Titel lässt daran keinen Zweifel aufkommen – steht mithin die ‚Verstockung‘ der Juden, das ‚Sichverschließen‘ Engelbergers und der Juden insgesamt gegenüber der christlichen Botschaft. Engelberger dient dafür als besonders eindringliches Beispiel und diese Exemplarität findet sich auch in der Form wieder: So fallen fast alle äußeren Umstände weg, weder werden die zwei anderen Juden erwähnt, noch der Tumult, in dessen Folge es zu Plünderungen und Gewalttätigkeiten gegen Juden kam. Die Historie rückt somit in die Nähe des Exemplums und der Fall des abgefallenen Rabbiners erweist, dass eine Konversion der Juden zum christlichen Glauben stets schwierig sei. Zugleich aber wird der christlichen Missionsbestrebungen keine Absage erteilt, wenn in der moralisatio eine ‚wahrhafte‘ Bekehrung nicht grundsätzlich ausgeschlossen wird. Die ‚Verstockung‘ der Juden steht ebenfalls im Fokus des Traktats Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz des Celler Stadtpredigers Sigismund Hosmanns.237 Der erste Teil der Schrift ist eine Predigt, die Hosmann nach dem Diebstahl der „güldenen Tafel“, dem Altar der St. Michaelis Kirche in Lüneburg, und der Hinrichtung der Diebe hielt. Der zweite Teil enthält ein Programm zur Konversion der Juden, welches eng an Luthers Von den Juden und ihren Lügen orientiert ist und in dessen Rahmen er die ‚Verstockung‘ der Juden, ihren ‚Christenhass‘, ihre ‚Betrügerei‘, ihre ‚Gotteslästerungen‘ – kurz: alle gängigen zeitgenössischen judenfeindlichen Vorwürfe – anhand von Beispielen zu erweisen sucht. Zu diesem Zweck wird eine Reihe von „Quellen“238 herangezogen, unter anderem auch Wagenseils Tela Ignea Satanae, aus dem er die Schilderung des Casus Engel-
Auffs neue mit Fleiß übersehen/ verbessert und mit einem Anhange von fünffzig nützlich=und lieblichen Historien vermehret […]. Frankfurt, Leipzig 1684, S. 879–880. 236 Ebd., S. 882. 237 Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz/ Nebst einigen VorbereitungsMitteln zu der Juden Bekehrung/ Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung/ welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff/ als er vor der Fürstl. Residentz=Stadt Zelle/ nebst andern hochberüchtigten Dieben den 21. Martii An. 1699. abgethan […]. Zelle 1699. Vgl. zu Hosmanns Schrift einführend Hans-Dieter Schmid: „Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz“. Jüdische Unterschicht und christlicher Antisemitismus am Beispiel des Celler Stadtpredigers Sigismund Hosemann. In: Christen und Juden. Ein notwendiger Dialog. Hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover 1988, S. 39–60. 238 Vgl. die Angaben im Titel: „Alles/ zum Theil aus Gottes Wort und der gesunden Vernunfft/ zum Theil aus den Schrifften der Juden selbst/ und andern unwiedersprechlichen Zeugnissen/ und unlaugbahren Geschichten/ auch eigener Erfahrung bewiesen […]“. Hosmann (wie Anm. 237).
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berger übernimmt.239 Hier wird die Exempelhaftigkeit Engelbergers ausdrücklich angesprochen: „Wir halten es mit dem Herrn Wagenseil für würdig/ daß es der Nachwelt zu einem ewigen Gedächtniß über der Juden Abtrünnigkeit beybehalten werde.“240 Es ist die ausführlichste vorliegende Schilderung des Falles, erläutert Hosmann doch die Umstände, die „Rabbi Chaijm“ zur Konversion zum katholischen Glauben bewogen hätten – wiederum ein Diebstahl241 – sowie dessen Leben als Christ in Wien, wo er „in ein wollüstiges unordentliches Leben gesuncken“ sei.242 Auch Engelbergers Schrift, Der Catholische Wegweiser, soll kaum dazu angetan gewesen sein, Juden vom Christentum zu überzeugen, sondern vielmehr dazu beigetragen haben, dass sie in „ihrer Hartnäckigkeit noch kräfftiger möchten gestärcket werden“.243 Im Zentrum des Berichts stehen wiederum die Gotteslästerungen, aber auch die Folterung und Hinrichtung wird detailliert beschrieben, die dem Erzähler vor dem Hintergrund des Fehlverhaltens Engelbergers – er wird als rückhaltloser Dieb, der sich lediglich aus niederen Motiven taufen ließ, ‚verstockt‘ auf seinem Judentum beharrt und sich schlimmster Lästerungen schuldig macht, vorgestellt – durchaus gerechtfertigt erscheinen. Der Stoßrichtung des gesamten Traktates entsprechend wird jedoch nicht nur Engelberger, sondern das gesamte Judentum diffamiert. So hätten sich auch Juden versammelt, um „mit Freuden zuzuschauen/ wie man den abtrünnigen Verläugner ihres Glaubens würde nach den Galgen hinbringen“.244 Auch der Tumult, in dessen Folge Juden geschlagen, mit Steinen beworfen, ihre Häuser zerstört und ihnen die Finger abgeschnitten werden, um an ihre Ringe zu gelangen, wird keiner Kritik unterzogen. Der Schilderung der Ereignisse folgen noch weitere Beispiele für vom Christentum abgefallene Juden, sodass Engelberger
239 Wagenseil: Tela Ignea Satanae (wie Anm. 219), S. 188–192. Hosmanns Darstellung unterscheidet sich nicht wesentlich von jener Wagenseils, der jedoch genauer auf Engelbergers Schrift „Der Catholische Wegweiser“ eingeht (vgl. ebd, S. 189f.). Auch Schudt zieht neben Harsdörffer Wagenseil als Quelle heran, wenn er – ausgesprochen knapp – von Engelberger berichtet. Vgl. Johann Jacob Schudt: Jüdische Merkwürdigkeiten. Vorstellende Was sich curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten […] zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden=Chronik […]. Frankfurt, Leipzig 1714, S. 126. 240 Hosmann (wie Anm. 237), S. 162. Dementsprechend druckt Hosmann im Anhang seiner Schrift jene Gedenktafel noch einmal ab, die sich auch bei Wagenseil (Tela Ignea Satanae [wie Anm. 219], S. 192) finden lässt. Diese fände sich laut Hosmann an der Mauer des Rathauses. Vgl. Hosmann (wie Anm. 237), S. 83–85. 241 Vgl. auch Eine sehr denckwürdige Historie/ Von einem getaufften/ doch wider vom Christenthumb abgefallenen Juden (wie Anm. 232). 242 Hosmann (wie Anm. 237), S. 162. 243 Ebd., S. 162. 244 Ebd., S. 164.
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Hosmann als besonders denkwürdiges Exempel für seine These gilt: „Unter 600. Juden/ die sich tauffen lassen/ ist nicht einer/ ders rechtschaffen meinet.“245 Auch bei Paullini gilt Engelberger als Exempel für mangelnde Ernsthaftigkeit von Juden, die zum Christentum konvertieren. Beachtenswert ist hier jedoch, dass die Bestrafung Engelbergers unerwähnt bleibt, allein von „seine[m] verdienten Lohn“246 ist die Rede, sodass die Gotteslästerungen Engelbergers, die detailliert aufgeführt werden, im Fokus der Erzählung stehen. Die Historie dient insofern zweierlei Funktionen: Zum einen bezeugt sie die vorher ausführlich geschilderten Gotteslästerungen der Juden,247 zum anderen figuriert Engelberger, wie in den bisher angesprochenen Versionen, als Exempel für die ‚Unbekehrbarkeit‘ der Juden. Auffällig ist in allen Texten, dass von Engelberger stets als ‚Jude‘ die Rede ist – und zwar auch schon vor seiner Abwendung vom Christentum. Damit steht stets der Abfall vom Christentum im Zentrum, Engelberger dient so als Exempel für die – so die Verfasser – kaum mögliche Bekehrung der Juden zum Christentum. Insofern erscheint es auch konsequent, wenn er als ‚getaufter Jude‘ bezeichnet wird, denn seine Zugehörigkeit zum Christentum ist keine ‚echte‘, er bleibe, so der Vorwurf, trotz Taufe Jude. Der Fokus auf den Abfall vom Christentum und die damit verbundene Gotteslästerung und Hostienschändung erklärt auch, warum der Diebstahl zwar verurteilt, über ihn meist jedoch nur recht knapp berichtet wird.
Georg Philipp Harsdörffers Der gemarterte Jud Georg Philipp Harsdörffer veröffentlichte 1649/50 zwei Sammlungen kurzer lehrhafter Erzählungen unter dem Titel Der grosse Schauplatz Lust- und Lehreicher Geschichte bzw. Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte, die zahlreiche Neuauflagen erlebten, in der Zeit nach 1700 jedoch einem fast vollständigen Vergessen anheimfielen. In diesen Sammlungen vereinte Harsdörffer zahlreiche Erzählungen unterschiedlichster Thematik: Während sich die Lust- und Lehrreiche Geschichte laut Titel und Zuschrift der „Betrachtung der herrlichen unnd Wundervollen Geschöpffe des Allmächtigen“248 widmet, zeigt die Mordgeschichte
245 Ebd., S. 166. 246 Kristian Franz Paullini: Zeit=verkürtzende Erbauliche Lust/ oder/ Allerhand ausserlesene/ rar= und curiose, so nütz= als ergetzliche/ Geist= und Weltliche/ Merckwürdigkeiten […]. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1692–1697, hier Bd. 2, S. 430. 247 Vgl. ebd, S. 426–429. 248 [Georg Philipp Harsdörffer:] Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte […]. [Frankfurt, Hamburg 1664], zitiert nach der Ausgabe Georg Phillip Harsdörffer. Der Grosse Schau-
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den „blutige[n] Schauplatz/ in welchem die traurigen Geschichte unsrer Zeit vorgestellet werden“.249 Beide Sammlungen, insbesondere aber der Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte, zogen wiederholt das Interesse der literaturwissenschaftlichen wie auch volkskundlich ausgerichteten Forschung auf sich, wobei meist zum einen die Quellen Harsdörffers,250 zum anderen der Status der Erzählungen und die Anwendung der Begriffe Novelle, Exemplum, Mordgeschichte, frühe Kriminalerzählung oder Fallgeschichte diskutiert wurde.251 Es erübrigt sich
platz Lust- und Lehrreicher Geschichte. 2 Bände in 1 Band. Hildesheim, New York 1978 [Nachdruck der Ausgaben Frankfurt und Hamburg 1664], Zuschrifft, a iiijr. 249 [Georg Philipp Harsdörffer:] Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte […]. [Hamburg 1659], zitiert nach der Ausgabe Georg Phillip Harsdörffer. Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte. Beigebunden ist: Neue Zugabe, Bestehend in C. Sinnbildern. Hildesheim, New York 1978 [Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1659], Nothwendige Vorrede an den Neugierigen Leser, 8v. 250 Vgl. beispielhaft Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift für Wolfgang Brückner zum 60. Geburtstag. Hg. von Karl Kramer. Würzburg 1992, S. 530–551; Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires Tragiques. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. von Hans-Joachim Jakob, Hermann Korte. Frankfurt a.M. u.a. 2006 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte 10), S. 177–194; Misia Sophia Doms: „Wann ein Frantzos […] ein teutsches Kleid anziehet“. Die Behandlung konfessioneller Fragen bei der Übersetzung von JeanPierre Camus‘ L’Amphithéâtre sanglant in Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. In: Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zu Gegenwart. Hg. von Marcel Krings, Roman Luckscheiter. Würzburg 2007, S. 51–69; Waltraud Wöller: Bemerkungen zu Harsdörffers Schauplätzen. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 23 (1980), S. 59–64; Hans Gerd Rötzer: Die Rezeption der novelas ejemplares bei Harsdörffer. In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. von Alberto Martino. Amsterdam, Atlanta 1990 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 9), S. 365–383; Italo Michele Battafarano: Von Sodomiten und Sirenen in Neapel. Barocke Erzählkunst bei Martin Zeiller und Georg Philipp Harsdörffer. In: Simpliciana 21 (1999), S. 125–137. 251 Vgl. beispielhaft Volker Meid: Barocknovellen? Zu Harsdörffers moralischen Geschichten. In: Euphorion 62 (1968), S. 72–76; Conrad Wiedemann: Vorspiel der Anthologie. Konstruktivistische, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Die deutschsprachige Anthologie. Band 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Hg. von Joachim Bark, Dietger Pforte. Frankfurt a.M. 1969 (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts 2/2), S. 1–47; Winfried Theiss: Nur die Narren und Halßstarrigen die Rechtsgelehrte ernehren… Zur Soziologie der Figuren und Normen in G.Ph. Harsdörffers Schauplatz-Anthologien von 1650. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Teil II. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 899–916; JeanDaniel Krebs: Deutsche Barocknovelle zwischen Morallehre und Information: Georg Philipp Harsdörffer und Théophraste Renaudot. In: MLN 103 (1988), S. 478–503; Hania Siebenpfeiffer: Narra-
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in diesem Zusammenhang die Forschungsgeschichte nachzuzeichnen, verwiesen sei lediglich darauf, dass es sich um keine Entwicklungsgeschichte handelt, sondern vielmehr um verschiedene Forschungsgeschichten.252 Auch wenn der Status der Mordgeschichten nach wie vor diskutabel erscheint – Harsdörffer selbst stellt die Schauplätze argumentativ in die Exempeltradition,253 wobei es ihm
tio Crimen – Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz Jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliographie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. von Hans-Joachim Jakob, Hermann Korte. Frankfurt a.M. u.a. 2006 (Bibliographien zur Literatur- und Mediengeschichte 10), S. 157–176; Alexander Halisch: Barocke Kriminalgeschichtensammlungen. In: Simpliciana 21 (1999), S. 105–124; Oliver Pfefferkorn: Sind Georg Philipp Harsdörffers Schauplatzanthologien erbaulich?. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer. Band II. Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), S. 663–672; Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers „Schauplätzen“. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. von Italo Michele Battafarano. Berlin u.a. 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur 1), S. 313–331. 252 So Ingo Breuer: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zeitschrift für Germanistik NF 19 (2009), S. 288–300, hier S. 288– 291, der die Forschungsgeschichte aufarbeitet. 253 Vgl. die Widmung zum 2. Band des „Grossen Schauplatzes jämmerlicher Morgeschichte“ der Ausgabe von 1649: Es schreibet Aristoteles/ daß die Gewonheit die natürlichen Neigungen nicht unterbrechen könne/ und giebet das Exempel von einem Stein/ welcher/ wann er auch tausentmal in die Höhe geworffen würde/ doch iedesmals wieder unter sich sinken/ nimmermehr aber über sich zu steigen gewohnen kann. Also/ sagt er ferners/ wann wir offt sehen/ und offt hören/ werden wir doch deßwegen nicht schärffer sehen und besser hören. Dieses kan in etlichen/ aber nicht durchgehend in allen Sachen behaubtet werden/ und leidet seinen Abfall oder Aussatz/ wann nemlich die natürlichen Werke noch nicht zu ihrer Vollkommenheit gelanget. Ein junger Baum/ der kaum zu wachsen angefangen/ lässet sich durch den Pfal an welchen er gebunden/ gerad richten. Die Stimme wird durch die Ubung stärker/ heller und reiner. Die Menschen lernen von Jugend auf Frost und Hitz ertragen/ und gewohnen auch deß Unglücks/ daß sie solches nach und nach gedultig leiden/ welches sie anfangs für unerträglich geachtet/ wie Seneca vermeldet. Jst also eine wichtige Frage: Welcher massen die Jugend (massen das alter gleich Steinen/ in ihren Sitten gleichsam erhartet) zu Gutem könne angewehnet werden? Wann wir Menschen Dantzen/ Springen und andre Leibsübungen mit zuwachsenden Jahren/ durch beharrliche Bemühung erlernen müssen/ ist ausser zweiffel/ daß auch die Übungen deß Gemüts und deß Verstandes durch gute Gewonheit angeführet werden sollen. Die Mittel nun zu so besagten guten Gewonheiten und Sitten zu gelangen/ sind zweyerley: 1. Die heilsamen Lehren; 2. Die löblichen Exempel. Die Lehren sind theils in den heiligen Gebotten Gottes verabfasset/ welche dem natürlichen Verstand so gemäß/ daß man auch bey den Heyden die Wort Christi liesset: Was ihr nicht wolt das euch die Leute thun/ daß thut ihnen wieder nicht/ und ist sich über die schönen Sprüche Epicteti/ Zenonis/ Senecae und andrer erbarer Heyden zuverwundern/ daraus erhellet/ wie das liecht der Natur sie auf richtigem
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zugleich ebenso um umfassende Weltkenntnis geht, die den Menschen moralisch befähigen soll254 –, sei hier ein Ansatz verfolgt, der im Anschluss an Breuer255 und Bergengruen256 von einer Multiperspektivität und aufgrund der kalkulierten Montage der einzelnen Teile von einem „subversiven Charakter“257 der Erzählungen ausgeht. Insofern erscheint die Festlegung auf eine Gattungszugehörigkeit in diesem Zusammenhang überflüssig, gilt es doch vielmehr, den jeweiligen Funktionen der einzelnen Erzählungen nachzuspüren. Unter den 200 Historien, die Harsdörffer in seiner Kompilation Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte bietet, findet sich auch Der gemarterte Jud. Im Unterschied zu den vorher angesprochenen Versionen stellt Harsdörffer dem Bericht jedoch eine Einleitung voran und hängt eine „Trauergeschichte“ an, die
Tugendwege geleitet/ als die Christen die sich den Geist Gottes nicht wollen regieren lassen/ sondern demselben vorsetzlich wiederstreben. Anderstheils werden auch absonderliche Lehrsätze/ zu Anleitung guter Gewonheiten vorgeschrieben/ als: daß ein ieder die kräfften seines verstandes prüfen/ und nichts unternehmen sol/ das ihm zu schwer fallen möchte; daß man sein gemüt erkennen sol/ wann es einer oder der andern Sache am fähigsten; daß man den bösen Neigungen mit Gewalt wiederstreben und das wiederspiel außwürken sol/ wie man einen krummen Stab noch viel krümmer beuget/ damit er gerad werde: also sol ein Geitziger sich zu der Freygebigkeit zwingen/ und ein trunkenbold zu der Nüchterkeit und dem Fasten. Die Wort sind (nach der Jtalianer Sprichwort) weibliches/ die Werke männliches Geschlechtes: Jch will sagen die Lehren/ (welche mündlich oder schrifftlich vorgetragen werden) sind viel schwächer/ als die Exempel/ welcher würkliche Vorstellung zu Gesichte kom[m]en/ oder in warhafften Beschreibungen gelesen werden. Hieraus entstehet die Erfahrung/ darvon das graue Alter den Ruhm der Weißheit und deß Verstandes/ die Jugend aber Ehr und Verwunderung erlanget; in dem man nemlich aus dem vergangenen das zukünfftige beurtheilen lernet; weil dieses Welt=Wesen nichts anders als ein Trauer= und Freuden=Spiel/ welches nach und nach mit veränderten Personen vollführet wird.“ ([Georg Philipp Harsdörffer:] Der Grosse SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte. Fünffter und sechster Theil. Mit vielen merkwürdigen Erzehlungen/ neuüblichen Gedichten/ lehrreichen Sprüchen/ scharffsinnigen Hofreden/ artigen Schertzfragen und darauf wolgefügten Antworten etc. außgezieret […]. Hamburg 1649, Widmung, ijv–vr) 254 [Harsdörffer:] Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte (wie Anm. 248), Zuschrifft, aiiijr-avr. Zum Schreibprogramm vgl. weiter auch Meierhofer (wie Anm. 2), S. 119–127. 255 Breuer: Barocke Fallgeschichten (wie Anm. 252) sowie Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. von Hartmut Böhme. Stuttgart 2005 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 27), S. 291–312. 256 Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel-Literatur – am Beispiel von Harsdörffers teuflischer Mordgeschichte ‚Die bestraffte Hexen‘. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. von Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Perthes. Berlin 2007 (Literatur und Forschung 4), S. 122–142. 257 Ebd., S. 136.
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vom Tod einer getauften Jüdin, Catharina Fernandes, berichtet. Zunächst zur Form der Historie: Harsdörffer gliedert diese in zehn etwa gleichlange durchnummerierte Absätze. Der erste Abschnitt bildet eine Einleitung, in der die Frage aufgeworfen wird, „ob man die Juden dulden sol oder nicht“,258 die Abschnitte zwei bis sieben handeln von den Geschehnissen um Engelberger, die Abschnitte acht und neun haben die Geschichte um Catharina Fernandes zum Thema und der zehnte Abschnitt bietet eine versifizierte moralisatio. Insgesamt besteht die Historie somit aus drei Teilen (Einleitung, Erzählung, moralisatio), der Stil ist sachlich und unterscheidet sich grundsätzlich nicht von jenem der Flugschriften, Laurembergs oder des Theatrum Europaeum. Als Vorlage für die Absätze zwei bis sieben dient Harsdörffer der oben erwähnte illustrierte Einblattdruck Eine sehr denckwürdige Historie/ Von einem getaufften/ doch wider vom Christenthumb abgefallenen Juden – darauf verweisen zum Teil wortwörtliche Übernahmen –, den er jedoch um mehr als die Hälfte kürzt. Harsdörffers Fallgeschichte259 zeichnet sich somit zunächst durch vier wesentliche Komponenten aus: Faktizität durch genaue Orts-, Zeit- und Quellenangaben, einfacher Stil (ornatus gilt als Zeichen des Fabulösen), brevitas260 und chronologische Erzählung. Damit gerät die Erzählung zum Exempel – dies jedoch nur vordergründig: So knüpft Harsdörffer an unterschiedliche Kontexte an – zu nennen wären Religion, Historiographie und Konversationstheorie, aber auch andere Medien wie Relation, Zeitung oder Novelle –, sodass die Erzählung mehrere Funktionen erfüllen kann und jenseits eines bloßen Tugend- bzw. Lastererweises einen Eigenwert erhält.261 Im Folgenden soll nun eine genaue Analyse der Fallgeschichte – unter Berücksichtigung der aufgerufenen Kontexte und im Vergleich mit den bisher angesprochenen Versionen – vorgestellt werden, die diesem Eigenwert nachgeht.
258 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 464. 259 Vgl. zum Begriff „Fallgeschichte“ Breuer: Barocke Fallgeschichten (wie Anm. 252), S. 299f. Zur narrativen Darstellung von Crimina in der frühneuzeitlichen Kompilationsliteratur vgl. Halisch (wie Anm. 251) sowie Thomas Althaus: Auf dem Weg zum Galgen. Literarisierte Exekutionsberichte als ein Archetyp frühneuzeitlichen Erzählens. In: Fortunatus, Melusine, Genovefa. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Dieter Breuer, Gábor Tüskés. Bern u.a. 2010 (Beihefte zu Simpliciana 6), S. 475–493. 260 Nach Breuer (Barocke Fallgeschichten [wie Anm. 252], S. 296f.) wird die Erzählung durch das Merkmal der brevitas zum Exempel (so auch Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten [wie Anm. 250], S. 193). Dies vollziehe sich aber nur vordergründig, da komplexere Strukturen vorherrschten. So richte sich die brevitas polemisch gegen den Roman und seine Digressionen. Damit, wie auch durch das Merkmal der Faktizität, rückten die Erzählungen in den Bereich des Anti-Romans. Vgl. auch Breuer: Tragische Topographien (wie Anm. 254), S. 312. 261 So auch Breuer: Barocke Fallgeschichten (wie Anm. 252), S. 296–299.
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Bereits der erste Abschnitt gibt einen Deutungsrahmen der Erzählung vor und bindet sie in theologische Kontexte ein, wenn gefragt wird, „ob man die Juden dulden sol oder nicht“262 und dann Argumente für das Für und Wider angeführt werden. Dabei bildet insbesondere die lutherische Auseinandersetzung um die Duldung der Juden den Bezugsrahmen: Unter Verweis auf Röm. 11,26 wird die endzeitliche Bekehrungshoffnung artikuliert, was zugleich bedeutet, dass die Juden nicht als eigene Religionsgemeinschaft geduldet werden, sondern nur unter der Voraussetzung ihrer künftigen Konversion. Ausdrücklich wird der Bezug zu Luther hergestellt, wenn angeführt wird, dass „[e]in vornemer Mann […] recht gesagt [hat]: Er liebe alle Juden/ wegen eines Juden/ nemlich deß Herrn Christi“.263 Aufgerufen wird damit ein Diskurs um die Bekehrung der Juden, wobei in der protestantischen Kirche auch von Seiten der Orthodoxie durchaus umstritten war, ob die paulinische Weissagung schon erfüllt sei und ob sich daraus ein Missionsauftrag ableite.264 Vor diesem Hintergrund geht es eben nicht, wie der vermeintlich dialogische Einstieg zunächst vermuten lässt, um die Duldung der Juden, sondern um die Möglichkeit ihrer Bekehrung. Dadurch wird zugleich ein Bezug zur narratio wie auch zur abschließenden moralisatio hergestellt, die schließlich die Juden als unbekehrbar verwirft. Zielt die Argumentation hier also auf die andersgläubige Gemeinschaft in ihrer eschatologischen Dimension, steht im folgenden Abschnitt – der Argumentation wider die Duldung – das zeitgenössische Judentum im Fokus. Es werden profane ‚Argumente‘ – genauer: die gängigen antijüdischen Zerrbilder – vorgebracht, die dem Rezipienten wohl sehr viel näher waren, als das Judentum in seiner heilsgeschichtlichen Dimension. So seien sie ein faules/ unsauberes/ betrügliches und schändliches Volk/ das Christo und allen Christen feind [sei]/ täglich wieder sie bete/ von der Armen Schweiß und Blut lebe/ sich mit Wucher mehre und nicht arbeite/ den Diebstahl fördere/ und alle Nahrung der Christen hindere und hemme.265
262 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 464. 263 Ebd., S. 465. Vgl. Martin Luther: Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei (1523), zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 11. Weimar 1900, S. 314–336. 264 So ging beispielsweise der frühe Luther (Daß Jesus Christus ein geborner Jude sei, 1523) davon aus, dass sich aus Röm. 11,26 ein Missionsbefehl ableite, später hielt er die Weissagung für erfüllt (Von den Juden und ihren Lügen, 1543). Vgl. zur Diskussion um Röm. 11,26 weiter Johannes Wallmann: Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswechsel und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, S. 143–165. 265 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 465.
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Zugleich wird auch hier wieder der Bezug zu Luthers Schriften hergestellt, sind es doch die gleichen Vorwürfe, die sich in seiner Schrift Von den Juden und ihren Lügen finden lassen.266 Der vorgestellte ‚Mittelweg‘ „[e]tliche[r]“267 ist – entsprechend der vorangegangen ‚Argumente‘ – dann auch kein wirklicher, sollen bereits aufgenommene Juden doch nur geduldet werden, wenn keine „erhebliche[n] Ursachen“268 dagegen sprächen. Welche dies sein könnten, bleibt offen. Von der Aufnahme weiterer Juden wird unter dem Hinweis, dass es „allezeit in einer Statt besser ist eine/ als zwo widerige Religionen [zu] haben“, abgesehen.269 Zudem wird durch die Bezeichnung der Juden als „solche Gesellen“270 und des Judentums als „widerige“ Religion auf sprachlicher Ebene Position gegen sie eingenommen. Die folgenden Abschnitte zwei bis sieben widmen sich nun den Ereignissen um Ferdinand Franz Engelberger. Grundsätzlich unterscheidet sich die Darstellung kaum von den bisher betrachteten Erzählungen, doch ergänzt der Erzähler den sachlichen Bericht um einige spezifische Deutungsmomente, sodass es geboten erscheint, die Erzählung genauer zu betrachten. Zunächst werden nach einer historischen Situierung, die der Versicherung der Faktizität und damit der Legitimierung des Stoffes dient, die Umstände geschildert, die zur Verurteilung der Diebe führten. Wurde schon im ersten Absatz Stellung gegen die Juden – hier noch allgemein – bezogen, zeigt sich dieser antijüdische Impetus auch, wenn es um Engelberger und seine Mittäter geht. So wird dieser als falsch und verräterisch eingeführt, der seine Mittäter ohne zwingende Notwendigkeit – gehören die drei doch zu den „vornemsten Juden“271 – zum Diebstahl überredet. Dass er sich nur zum Schein bzw. nicht wahrhaft zum Christentum bekehrt habe, wird dem Rezipienten bereits hier deutlich, wenn von Engelbergers „falschem Christenthum[..]“272 die Rede ist. Zugleich wird dadurch der weitere Verlauf angedeutet, das Todesurteil bildet mithin nur den Ausgangspunkt für das weitere Geschehen. Auffällig – und damit unterscheidet sich Harsdörffers von den anderen Erzählungen – ist der nun folgende Verweis auf die göttliche Gerechtigkeit: „Weiln aber Gott der Allmächtige nicht zulassen wollen/ daß ein solcher Ertzbößwicht unter dem Namen eines Christen sein Leben enden solte“,273 wird auch
266 Vgl. Luther: Von den Juden und ihren Lügen (wie Anm. 100). 267 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 465. 268 Ebd. 269 Damit wird zugleich ein konfessionspolitisches Moment angesprochen, das jedoch in der Erzählung nicht wieder aufgegriffen wird. 270 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 465. 271 Ebd., S. 465. 272 Ebd. 273 Ebd.
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Engelberger – trotz seines (vorgeblichen) Christentums – zum Tode verurteilt, woraufhin er Gott lästert und die Hostienschändung gesteht. Diese Anbindung des Geschehens an heilsgeschichtliche Dimensionen und die damit einhergehende moraldidaktische Auswertung des Erzählten rückt dieses so in die Nähe des Exemplums. Die nun folgenden Schilderungen vom Zerbrechen des Kruzifixes, hier spuckt Engelberger dieses sogar noch an, und seiner Gotteslästerungen erscheinen somit als nachträgliche Bestätigung für die Notwendigkeit des Eingreifens Gottes. Engelberger vollzieht hier mithin, was ihm von Seiten des Erzählers schon vorher zugeschrieben wurde: Er war (und ist) ein ‚falscher Christ‘, der hartnäckig – ‚verstockt‘ – und widerständig, „wie Korah/ Dathan und Abiram“,274 auf seinem Judentum beharrt. Dennoch wird ihm von Seiten der Christen noch die Möglichkeit zur Umkehr gegeben – auch wenn dieses vor dem Hintergrund der Engelberger bisher beigegebenen Epitheta erzähllogisch schon ausgeschlossen ist. Zudem wird durch das allgemeine und anonyme „man“ im Verhältnis zum konkreten Juden – er wird als Einziger namentlich genannt – dessen Außenseiterstellung betont. Dieser Stellung entsprechend will Engelberger auch nicht in die christliche Gemeinschaft zurückkehren – ja mehr noch: Er bleibt dem Laster verhaftet und gesteht die Hostienschändung. Diese wird durch den Fund der Hostie bewiesen, wodurch wiederum die spätere Verurteilung zu Folter und Tod gerechtfertigt wird. Der nachfolgende Tumult, der auf die Ansprache des Jesuiten folgt, wird angesichts der Tat Engelbergers auch nicht kritisiert, sondern vielmehr kommentarlos konstatiert. Dies ist zugleich eine implizite Stellungnahme des Erzählers, vor allem wenn man bedenkt, dass im ersten Abschnitt festgestellt wurde, dass Juden nur geduldet werden sollten, wenn keine erheblichen Ursachen dagegen sprächen. Der folgende fünfte Abschnitt schildert das auf den Tumult folgende Eingreifen des Kaisers und das umfassende Geständnis Engelbergers. Der Kaiser, über die Vorgänge „sehr entsetzet“,275 lässt Engelberger – nicht zuletzt um den Volkszorn zu beruhigen – erneut inhaftieren und vor Gericht stellen. Damit tritt neben die göttliche Gerechtigkeit die höchste säkulare Instanz. Dem Rezipienten wird so eindrücklich vermittelt, dass jedes Vergehen und jedes Laster letztlich gestraft wird. Zudem wird die Unerhörtheit der Ereignisse und der Tat betont, wenn es notwendig ist, dass Gott und Kaiser eingreifen. Doch ist dieses durchaus geboten, übt sich Engelberger doch derart in Gotteslästerungen, „daß viel gefürchtet die Erde thue sich auf/ und verschlinge ihn“.276 Dieser Verworfenheit entsprechend,
274 Ebd., S. 466. Vgl. auch 4. Mose 16,1–17,26. 275 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 466. 276 Ebd., S. 467.
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wird an ihm eine grausame Hinrichtung vollzogen. Auffällig ist, dass das eigentliche Urteil nicht erwähnt wird, lediglich der Zeitpunkt der Urteilsverkündung wird angeführt: „Am Sabbath/ zu der Zeit/ da die anderen ihre Abgotterey verrichten“.277 Mit dieser Zeitangabe wird so zugleich wieder eine Invektive gegen die Juden verbunden und darauf verwiesen, dass nicht nur dieser eine spezielle Jude sich versündigt, sondern die Juden insgesamt. Wenn das Urteil nicht gesondert angeführt, sondern sogleich der Ablauf der Folterung und Hinrichtung geschildert wird, verweist dies auf eine Dramatisierung des Geschehens, die auch durch die Wiedergabe der Schreie Engelbergers unterstrichen wird. Die Schilderung der einzelnen Strafen unterscheidet sich kaum von jenen bisher angesprochenen, allein der Schlusskommentar macht noch einmal deutlich, dass nicht der Diebstahl zu diesem Ende geführt hat, sondern „daß er also wider alle Vermahnung verstockt biß an das Ende verblieben“.278 Die narrative Vorstellung der Tortur und der anschließenden Hinrichtung – und dies gilt für alle angesprochenen Versionen – dient zuvörderst der Abschreckung und Vermahnung, zugleich wird der Erweis der „guten Policey“ erbracht.279 Den historischen Hintergrund bildet hier die Strafjustiz der Frühen Neuzeit, die den Tod keineswegs nur für Kardinalvergehen verhängte. Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 bot einen vergleichsweise entwickelten rechtlichen Rahmen, in dem die Todesstrafe nicht nur für Mord, Brandstiftung und Falschmünzerei, sondern auch für Gotteslästerung, Verrat, Notzucht, Abtreibung, Zauberei, Geisterbeschwörung, Sodomie, Fälschung, Wegelagerei, Raub und nach dreimaliger Verurteilung wegen Diebstahls verhängt wurde.280 Die Strafe
277 Ebd. 278 Ebd. 279 Vgl. dazu einführend Thomas Simon: „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 2004 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170); Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der frühen Neuzeit. Stuttgart 2009. 280 Vgl. zur Constitutio Criminalis Carolina: Sammelband der wichtigsten Strafgesetzbücher des 16. Jahrhunderts. Bambergensis 1507, Brandenburgensis 1516, Carolina 1533. Goldbach 1999 (Bibliothek des deutschen Strafrechts. Alte Meister 35); Peter Landau, Friedrich-Christian Schroeder (Hgg.): Strafrecht, Strafprozess und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina. Frankfurt a.M. 1984 (Juristische Abhandlungen 19); Die Carolina. Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532. Hg. von Friedrich-Christian Schroeder. Darmstadt 1986 (Wege der Forschung 626); Alexander Ignor: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz. Paderborn u.a. 2002 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N.F. Bd. 97), insb. S. 41–82 sowie Richard J. Evans: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987. Berlin, Hamburg 2001. Zum Vorwurf der Gotteslästerung vgl. Helga Schnabel-Schüle: Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Aus-
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bemaß sich dabei auch nach sozialem Rang sowie der Qualität der Verbrechen. Die Kumulation der Strafen im Falle Engelbergers verweist insofern auf die Schwere seiner Verbrechen, wobei die Kombination jedoch keine Strafverschärfung darstellt, vielmehr wurde jedes Verbrechen für sich bestraft.281 Die Tortur dient somit als Strafe, zugleich stellt sie auch den Versuch dar, ein Schuldeingeständnis bzw. die Umkehr und Hinwendung zum christlichen Glauben zu erreichen. Die Vergeblichkeit dieser Bemühungen ist jedoch in diesem Falle offensichtlich, sodass die Folter zur abschreckenden Bestrafung gerät. Die peinliche Strafe war insofern eine ordnungsstiftende Vergeltungsmaßnahme einer souveränen Instanz, eine regulative Gewalt, die nicht nur den göttlichen Zorn besänftigen sollte, sondern auch die unkontrollierte Gewalt bannte. Aus diesem Grund musste die Strafe auch öffentlich vollzogen werden, um als ritualisierte Handlung eine herrschaftsstabilisierende Funktion erfüllen zu können.282 Die nun folgenden zwei Absätze bieten die Parallelgeschichte einer ‚getauften Jüdin‘ und dienen vordergründig, um dem Rezipienten anschaulich zu machen, dass es sich – so schon bei Hosmann – bei Engelberger keineswegs um einen Einzelfall handele. Zunächst wird unter dem Verweis, dass die Erzählung von Catharina Fernandes aus „Bayana“, genauer: dem französischen St. Jean de Luz bei Bayonne, von dem „Trauergeschichtschreiber von S. Lazaro“ übernommen wurde, der Bericht legitimiert.283 Doch wird die Historie nur beiläufig bezeugt, die ungenaue Ortsangabe wie auch der fehlende Zeitpunkt des Geschehenen, macht das Erzählte nicht identifizierbar. Das ist mit Blick auf die Erzählabsicht auch nicht nötig, wird doch der exemplarische Charakter des Dargestellten so in den Vordergrund gerückt: Der Tatbestand ist insofern berichtens-
wirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 1997 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 16), S. 227–237. 281 Vgl. Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München 1985, insb. S. 102–144. 282 Vgl. dazu Jürgen Martschukat: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln u.a. 2000, S. 15. 283 Die Begebenheit schildert ebenfalls Jaques Basnage de Beauval: L’histoire et la religion des Juifs depuis Jesus-Christ jusqu’à present […]. Tome cinquiéme. Rotterdam 1707, S. 1830f. und Erasmus Francisci: Neu-polirter Geschicht- Kunst- und Sitten-Spiegel ausländischer Völcker/ fürnemlich Der Sineser/ Japaner/ Indostaner/ Javaner/ Malabaren/ Peguaner/ Siammer/ […] und theils anderer Nationen mehr: welcher/ in sechs Büchern/ sechserley Gestalten weiset […]. Nürnberg 1670, S. 1131f. Basnages Schilderung der Ereignisse ist noch knapper gehalten als jene Harsdörffers, doch ist das Judentum Catharinas hier eindeutig erwiesen. Auch werden die Ereignisse in einem übergeordneten Zusammenhang eingeordnet, wenn der Verfasser von nur zum Schein zum Christentum übergetretenen Juden berichtet, die in Frankreich öffentliche und kirchliche Ämter bekleiden würden. Zum Komplex der Conversos vgl. unten, Anm. 288.
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wert, als dass er an die bei Engelberger vorgegebene Thematik – wenn auch nur vordergründig – anknüpft und sie evident macht. So habe die Portugiesin beim Abendmahl die Hostie wieder aus ihrem Mund genommen und in ihrem Taschentuch verborgen. Sie entschuldigt sich mit Husten, doch da sie ‚Jüdin‘ ist, glaubt man ihr nicht und verhaftet sie. Die Hostien selbst werden fortan in einem Schrein verehrt. Nach der Darlegung des Sachverhaltes folgt die Strafe: Weil aber ein falsches Geschrey außgekommen/ daß die Oberrichter deß Orts/ sich von den andern Juden bestechen lassen/ hat der gemeine Pöbel die Jüdin aus der Gefängnis mit Macht genommen/ in ein Faß gestecket/ und lebendig verbrennet: ja ihr nicht die Zeit gelassen/ daß sie ihre kostbare Ringe von den Fingern gezogen/ welche hernach unter der Aschen verschmolzen gefunden worden.284
Im Anschluss werden alle Juden aus der Stadt vertrieben. Es wurde schon angedeutet, dass diese Erzählung jene von Engelberger nur vordergründig spiegelt, verhält es sich doch ungleich komplexer: So bleibt zunächst unklar, um wen es sich bei Catharina Fernandes handele, sie wird als Portugiesin und nicht als Jüdin eingeführt – diese Zuschreibung erhält sie erst von ihren Anklägern. Zudem ist ihre Schuld keineswegs erwiesen, an der Reaktion der Ankläger – die Hostie in einem Schrein zu verwahren – wird vielmehr Kritik geübt. So wird angeführt, dass man die Hostie verehre, „ob wir wol die Zeichen der Sacramenten/ ausser ihrem Gebrauch (wie das Wasser bey der Heil. Tauff) noch ehren noch anbeten“.285 Verbunden mit einer konfessionspolitischen Spitze distanziert sich der Erzähler hier somit vom Geschehen, besonders und gerade durch fehlende Zusätze wie ‚falsch‘ oder ‚verstockt‘, die noch Engelberger beigegeben wurden. Ebenso verhält es sich mit ihrem Tod: Es ist eine Lynchjustiz des Pöbels, die aus „falsche[m] Geschrey“ resultiert. Auch wenn, nicht zuletzt aufgrund der geforderten brevitas, auf eine umfangreichere Kritik verzichtet wird, distanziert sich der Erzähler kritisch. So haben die Juden die Richter nicht bestochen, die Schuld Catharinas ist nicht erwiesen und es ist der Pöbel – nach Zedlers Universallexicon „die gemeine Menge niedertrachtiger und aller höhern Achtbarkeit beraubter Leute […]“286 –, der sich über die Gerichtsbarkeit erhebt. Auf der anderen Seite wird der Mord an Catharina ebenso wie die Vertreibung der Juden nur konstatiert und der Verweis auf die „kostbare[n] Ringe“ evoziert wiederum antijüdische Vorurteile und stellt den Bezug zur Einleitung – wie auch der Verweis bei Engelberger auf die „vornemen Juden“ – und dem dort angeführten 284 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 468. 285 Ebd., S. 467. 286 Art. Pöbel-Volck oder der Pöbel. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 28. Halle, Leipzig 1741, Sp. 948.
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Vorwurf her, dass die Juden „von der Armen Schweiß und Blut lebe[n]/ sich mit Wucher nehre[n] und nicht arbeite[n]/ den Diebstal förder[n]“.287 Dennoch ist die zweite Historie in Bezug auf die Konstruktion des Jüdischen wesentlich unentschiedener. Die Parallelgeschichte stützt folglich nicht die noch bei Engelberger vertretene Position vom ‚verstockten‘ Judentum. Verwiesen wird vielmehr auf den historischen Kontext der spanischen und portugiesischen Juden, warf man insbesondere den ‚Conversos‘, den – durchaus auch unter dem Druck der äußeren Verhältnisse, weniger aus innerer Überzeugung – zum Christentum konvertierten Juden, nach den Vertreibungen von 1492 und 1497 aus Spanien und Portugal heimliches ‚Judaisieren‘ vor, sodass sie stets von der Inquisition bedroht waren.288 Auch noch im siebzehnten Jahrhundert standen die geflohenen Conversos oft im Verdacht des ‚Judaisierens‘, viele kehrten aber auch zum Judentum zurück. Die Bezeichnung Catharinas als Jüdin durch den Erzähler verweist jedoch darauf, dass es sich auch bei ihr um eine – zumindest ‚heimliche‘ – Jüdin handele. Dennoch wird auf antijüdische Ausfälle gegen sie, wie noch bei Engelberger, verzichtet. Gerade aber durch den Nichterweis der Schuld kann eben keine eindeutige Moraldidaxe aus diesem Fall abgeleitet werden, der Fokus richtet sich vielmehr auf die Lynchjustiz des Volkes. Ähnlich verfährt auch Francisci in seiner Schilderung des Falles im NeuPolirten Geschicht= Kunst= und Sitten=Spiegel, auch wenn hier die Schuld Catharinas eindeutig bewiesen ist. Francisci übernimmt die Historie aus Willem Baudaerts Memorien ofte Cort verhael der gedenck-weerdichste so kercklicke als werltlicke gheschiedenissen.289 Während Harsdörffer die Historie lediglich mit dem uneindeutigen Verweis auf den „Trauergeschichtschreiber von S. Lazaro“,290 dem unklaren Verweis auf „Bayana“ und der Namensnennung Catharinas legitimiert, gibt Francisci wesentlich genauer an, wann und wo sich der „seltzame[..] Handel“
287 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 465. 288 Vgl. zu diesem Komplex einführend Georg Bossong: Die Sepharden. Geschichte und Kultur der spanischen Juden. München 2008; Haim Beinart: The Expulsion of the Jews from Spain. Oxford u.a 2002; Kevin Ingram (Hg.): The Conversos and Moriscos in Late Medieval Spain and Beyond. Vol. 1: Departures and Change. Leiden, Boston 2009 (Studies in Medieval and Reformation Traditions, Vol. 141/1); Raymond B. Waddington, Arthur H. Williamson (Hgg.): The Expulsion of the Jews. 1492 and After. New York, London 1994. 289 Willem Baudaert: Memorien ofte Cort verhael der gedenck-weerdichste so kercklicke als werltlicke gheschiedenissen van Nederlandt, Vranckryck, Hooghduytschland, Groot Britanyen, Hispanyen […]. Van den Iaere 1603 tot in het Iaer 1624. Tweedde editie grootelicx vermeerdert. Arnheim 1624–1625. 290 Es konnte nicht ermittelt werden, welche Quelle Harsdörffer hier auswertet. Es ist wohl nicht davon auszugehen, dass Harsdörffer Baudaert heranzog, da er in diesem Falle wohl, wie bei Francisci, genauere Orts- und Zeitangaben gemacht hätte.
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zugetragen hat.291 Ebenso werden die Umstände der Tat wie auch die Hinrichtung durch den Pöbel genauestens berichtet. Im Zuge dessen wird kein Zweifel daran gelassen, dass sich Catharina einer „Missethat“292 schuldig gemacht habe, stellte sie sich doch mit „etliche[n] Portugisische[n] Jüdinnen/ aus Forcht/ Leib und Gut zu verlieren/ […] als wären sie Römisch=Catholisch“.293 Vor dem Hintergrund, dass sie sich zweimal mit unterschiedlichen Begründungen – Wahnsinn und Husten – versucht zu entschuldigen, erscheint ihre Schuld unzweifelhaft, sodass sowohl geistliche wie weltliche Autoritäten kommen, um sie zu befragen. Nachdem „Geschrey“ – im Übrigen kein „falsches“, wie noch bei Harsdörffer – laut wird, dass der Richter von Juden bestochen wird, folgt die Hinrichtung durch den Pöbel. Im Anschluss an die Schilderung kommentiert der Erzähler: Ob nun gleich diese deß Pöfels [sic] Gewaltthat von böser Consequenz/ und der Königlichen Authoritet nachtheilig schien: hat mans doch dem vielköpffichtem Thier dasmal so hingehen lassen: voraus/ weil es/ aus einem Glaubens=Eiver/ geschehen.294
Ebenso wie bei Harsdörffer wird weitestgehend auf antijüdische Ausfälle verzichtet und so dient die Historie auch kaum dem Erweis eines ‚verstockten‘ Judentums, der Fokus richtet sich vielmehr auf die Rechtmäßigkeit der Bestrafung durch den Pöbel. Dennoch – und dies ist der wesentliche Unterschied zu Harsdörffer – kann der Rezipient aus dieser Historie eine eindeutige Lehre entnehmen: „Solche fürsetzlichen und freventliche Mißhandlungen/ oder Verleugnungen/ und Gottslästerungen/ strafft man billig härter/ weder die/ so aus einem verruckten Sinn herrrühren“,295 von denen anhand eines „mit falschen Gesichtern betrogene[n] Geistlichen“296 berichtet wurde – es geht mithin um die rechte Bestrafung von Missetaten.297 Gerade der Schulderweis macht die Historie zum Exempel – im Falle Harsdörffers krankt die Exempelhaftigkeit der Historie an der unbewiesenen Schuld. Den letzten Absatz von Der gemarterte Jud bildet schließlich eine moralisatio in Form eines achtzeiligen Gedichtes. In den beiden ersten Zeilen wird der Jude als Individuum – „Weh dir/ o verstockter Jud!“ – und die gesamte Judenheit als
291 Francisci: Neu-Polirter Geschicht= Kunst= und Sitten=Spiegel (wie Anm. 283), S. 1131. 292 Ebd. 293 Ebd. 294 Ebd., S. 1132. 295 Ebd., S. 1130. 296 Vgl. ebd., S. 1129. 297 „Aber nach der Sachen/ und deß Lästerers Gelegenheit/ muß die Straffe gelindert/ oder geschärffet werden.“ Ebd., S. 1132.
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Kollektiv – „Weh dir/ blinde Teuffelsbrut!“ – angesprochen.298 Durch die Alliteration am Anfang der Zeilen wird die Eindringlichkeit der Ankündigung des Leides verstärkt. In den folgenden Zeilen wird dann ausgeführt, worin dieses bestehe: So werde der Jude als Strafe für den Mord an Jesus Christus in der Hölle brennen, weit weg von „deß Himmels Gut“ und somit auch von jeder Vergebung. Das Brennen in der Hölle nimmt hier die erlittenen Strafen von Engelberger und Catharina wieder auf. Die abschließende Zeile wiederholt die erste Zeile des Gedichtes und variiert nur das Adjektiv, wodurch die Unausweichlichkeit der Höllenqualen ob ihrer ‚Verstockung‘ und ‚Verblendung’ betont wird. Der letzte Absatz verdichtet somit die beiden Erzählungen und bindet sie unter Verweis auf Himmel und Hölle in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang ein. Zugleich erweitert das Gedicht den Bezugsrahmen: Standen vorher ‚getaufte Juden‘ im Fokus, rückt nun das gesamte Judentum ins Zentrum. Damit korrespondiert auch, dass in den Erzählungen zwar von konkreten Personen berichtet wird, sie jedoch nur bei der ersten Erwähnung namentlich genannt werden. Danach werden beide stets nur als ‚Jude‘ bzw. ‚Jüdin‘ bezeichnet. Nicht nur durch diese – im Vergleich mit den anderen Fassungen – ausführlichere Moraldidaxe und die Geschichte um Catharina Fernandes erscheint die Historie Der gemarterte Jud wesentlich komplexer als die bisher angesprochenen Versionen. Insofern kann man auch nicht mehr – wie etwa bei Lauremberg – den Text als Exempel bezeichnen, trägt die Kombination der einzelnen Teile der Historie doch wesentlich zu einer Auflösung des Exempelcharakters bei.299 Vordergründig trägt sie noch wesentliche Merkmale des Exempels – Aktualität, Authentizität des Stoffes, Kürze der Erzählung, demonstrative didaktische Intention, Einbindung in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang300 – doch steht die Kompilation und Kombination von einleitender Frage, der Erzählungen von Engelberger und Catharina sowie die angehängte Moraldidaxe dem entgegen. Versteht man Exempel jedoch – worüber grundsätzlich Konsens zu herrschen
298 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 468. 299 So auch, wenn auch in Bezug auf eine andere Historie Harsdörffers, Breuer: Barocke Fallgeschichten (wie Anm. 252), S. 296. Vgl. weiter auch zur Auflösung bzw. Ablösung des Exempel in Harsdörffers „Schauplätzen“ Wiedemann (wie Anm. 251), S. 32; Bergengruen (wie Anm. 256), S. 139 sowie Siebenpfeiffer: Narratio Crimen (wie Anm. 251), S. 168f. Anders Zeller, die insbesondere für Teil 7 und 8 von einem ausgeprägten Exempelcharakter der Erzählungen ausgeht. Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten (wie Anm. 250), S. 185. Auch Pfefferkorn, der zwar von einer funktionalen Mehrschichtigkeit der Erzählungen ausgeht, ordnet Harsdörffers Anthologien in die Tradition christlicher Exempelsammlungen ein. So seien auch die einzelnen Erzählungen nach Pfefferkorn eindeutig Exempel. Vgl. Pfefferkorn (wie Anm. 251), insb. S. 664. 300 So die bei Siebenpfeiffer angeführten Merkmale. Vgl. Siebenpfeiffer: Narratio Crimen (wie Anm. 251), S. 168.
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scheint – nicht als Gattungs- sondern als Funktionsbegriff,301 können die Erzählungen von Engelberger und Catharina jeweils für sich durchaus als Exempel gelten. So führt die Erzählung des ‚falschen‘ Christen Engelbergers anschaulich vor, wohin – nämlich in die Glut der Hölle – ein solch lasterhaftes Verhalten führen kann und – aus christlich-frommer Perspektive – sicher auch führen wird. Steht im Zentrum der Erzählung die ‚Verstockung‘ des Juden, richtet der Titel den Fokus jedoch auf die – rechtmäßige – Tortur und Hinrichtung Engelbergers, wodurch diese Historie in die Nähe der im Kompilationsschrifttum zahlreichen Exekutionsberichte gerückt wird.302 Doch unterscheidet sich die Erzählung deutlich von jenem „Archetyp“303 den Althaus diagnostiziert, wird doch der Geschehenshintergrund, der zur Hinrichtung führt, sowie Verbrechen und Tortur, ausführlich dargestellt. Insofern hat die Erzählung von Engelberger zunächst zwei Funktionen: Erstens dem Erweis, dass sich ‚getaufte Juden‘ keineswegs immer ‚wahrhaft‘ zum Christentum hinwenden, und zweitens der Machtdemonstration und Abschreckung und damit ethischen Orientierung, wird doch immer wieder die göttliche Gerichtsbarkeit und das von Gott auserwählte Werkzeug der Strafe, die Obrigkeit, angesprochen. Der Erweis der „guten Policey“ stellt dann auch die Verbindung zur Erzählung von Catharina Fernandes her, mangelt es doch hier explizit an dieser. Insofern fokussiert der Text auch nicht die – unbewiesenen – Taten Catharinas, sondern vielmehr die aus „falschem Geschrey“ resultierende Lynchjustiz des Pöbels. Konnte im Falle Engelbergers Schlimmeres – die Vertreibung – durch das Eingreifen der Obrigkeit verhindert werden, wurden die Juden der französischen Stadt verwiesen. Insofern stellen beide Erzählungen Ursachen vor, die zu einer Vertreibung führen bzw. führen können und stellen so die Verbindung zur einleitenden Frage her, „ob man die Juden dulden sol oder nicht“.304 Die Geschichten von Engelberger und Catharina greifen die eschatologische (Konversion der Juden zum Christentum) und mit profanen antijüdischen Verurteilungen (Diebstahl) operierende Argumentation der Einleitung auf, eine eindeutige moraldidaktische Lehre lässt sich jedoch gerade durch die Kombination der beiden Erzählungen nicht ziehen, zumal es in der einleitenden Frage um
301 Vgl. Walter Haug: Exempelsammlungen im narrativen Rahmen: Vom ‚Pañcatantra‘ zum ‚Decameron‘. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea. Arbeiten zur literarischen Tradition zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert 2), S. 264–287, hier S. 264f. 302 Vgl. dazu Althaus: Auf dem Weg zum Galgen (wie Anm. 259), S. 475–493. Vgl. weiter auch Halisch (wie Anm. 251). 303 Althaus: Auf dem Weg zum Galgen (wie Anm. 259), S. 482. 304 Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 249), S. 464.
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Juden geht, es sich bei Engelberger und Catharina aber um ‚getaufte Juden‘ handelt. Harsdörffers Der gemarterte Jud entfaltet folglich ein Sinnpotential, das sich der einsinnigen Funktion des Exempels nicht fügt. Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, dass es sich um ein ‚schlechtes Beispiel‘ handelt, vielmehr verdeckt der in der moralisatio explizit herausgestellte einsinnige Zweck andere Absichten.305 Die kalkulierte Montage der einzelnen Teile führt zu einem subversiven Charakter der Erzählung,306 die sich eben nicht mehr einfach nur als interessante Falldarstellung oder Exempel lesen lässt, sondern durch die nicht immer deutlichen Bezüge der einzelnen Teile untereinander und die aufgerufenen Kontexte als ungleich komplexer erscheint. So hat Breuer gezeigt, dass sich Harsdörffers Erzählungen zum „Multimedia-Spektakel“307 auswachsen. Unter Rückgriff auf das Kapitel über die „Tapezereyen“ aus den Frauenzimmer Gesprächspielen und Harsdörffers dort vorgestellten konzeptionellen Überlegungen, kommt er zu dem Schluss, dass die Erzählungen mithin Rohfassungen seien, aus denen gerade das (virtuelle) Gesprächsspiel erst eine künstlerische Erzählung oder Novelle macht: Das Paradox von Harsdörffers Geschichten, dass diese Essenz in all ihrer Schmucklosigkeit erst das Produkt eines umgekehrten Prozesses darstellt, lässt spätestens erkennen, dass es Harsdörffer nicht nur um profane, basale exempla ging, sondern auch und vor allem um die Darstellung, wie Erzählungen hergestellt werden und funktionieren.308
Harsdörffers Erzählung Der gemarterte Jud führt durch seine multiperspektivische Anlage die Konstruktion von Erzählungen vor, zugleich aber kann sie auch als interessante Fallgeschichte dienen und so mehrere Funktionen wahrnehmen. In Bezug auf die Konstruktion des Jüdischen und im Vergleich mit den bisher angesprochenen Versionen, verfährt sie zwar wesentlich unentschiedener, doch lässt sich eine eindeutig antijüdische Erzählhaltung nicht verleugnen. Denn während die anderen Erzählungen die ‚Verstockung‘ Engelbergers ins Zentrum
305 Dies gegen Haug, der konstatiert: „Ein Exempel, dessen Narratio ein Sinnpotential entfaltet, das sich hinterher der einsinnigen Funktion nicht fügt, sei es, daß dieses Potential zu komplex ist, oder sei es, daß es sich in ganz anderer Richtung entfaltet, als die Funktion dies erfordert, ein solches Exempel verfehlt seinen Zweck: es ist schlicht ein schlechtes Beispiel.“ Haug (wie Anm. 301), S. 266. 306 So Bergengruen (wie Anm. 256), S. 136. 307 Breuer: Barocke Fallgeschichten (wie Anm. 252), S. 297. 308 Ebd., S. 300. Vgl. weiter auch Breuer: Tragische Topographien (wie Anm. 254), S. 303–309 und Dieter Breuer: Einübung ins allegorische Verstehen. Zur Funktion des Erzählens in Harsdörffers „Gesprächspielen“. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. von Italo Michele Battafarano. Berlin u.a. 1991 (Forschungen zur europäischen Kultur 1), S. 127–142.
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stellen und bestrebt sind, anhand dieses Falles den Beweis zu führen, dass eine ‚wahrhafte‘ Bekehrung von Juden nicht oder nur sehr schwer möglich ist, verwirft die moralisatio bei Harsdörffer nicht nur ‚getaufte Juden‘, sondern insgesamt alle Juden als ‚verstockt‘, ‚verkehrt‘ und ‚verblendet‘.
3.2.1.3 Die Ausweisung der Juden aus Wien 1670 Ein weiteres Ereignis, das auch überregional großes Aufsehen erregte, war die Ausweisung aller Juden aus Wien 1670 und in der Folge dem gesamten Österreich unter der Enns, dem heutigen Niederösterreich.309 Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Wiener Judenstadt, außerhalb der eigentlichen Stadt am Unteren Werd, einem Teil der späteren Leopoldstadt, gelegen, neben Prag, Frankfurt a.M. und Hamburg zu den bedeutendsten jüdischen Zentren im Heiligen Römischen Reich gehörte. Über die Ursachen und Gründe der Ausweisung waren sich schon die zeitgenössischen Berichterstatter nicht einig, als Motive wurden meist judenfeindliche Tendenzen innerhalb der Studenten, Bürger, Kaufleute und des Kaiserhofes, Skandale in der Judenstadt und die judenfeindliche Propaganda des Bischofs der Wiener Neustadt angeführt. Letztlich blieben die Begründungen und Entscheidungsträger der Ausweisung jedoch vage, auch wenn in der zeitgenössischen Publizistik eher religiöse und moralische und weniger ökonomische Argumente angeführt wurden.310 Mit Rauscher ist davon auszugehen, dass die Entscheidung keineswegs einhellig am Kaiserhof getroffen wurde, vielmehr muss von einem Bündel unterschiedlicher, zuweilen auch widerstreitender, Motive und Interessenslagen ausgegangen werden, die letztlich zu dieser Entscheidung führten.311 Direkten Kontakt zum Hof hatte der Jurist und Schriftsteller Matthias Abele von und zu Lilienberg, dessen literarische Verarbeitung der Ausweisung der Juden aus Wien im Folgenden näher beleuchtet werden soll. In der Kompilation Vivat Unordnung bietet er, wie es im Untertitel heißt, „[m]eistentheils aus eigner
309 Vgl. beispielhaft das Flugblatt Jüdische neue Zeitung vom Marsch aus Wien und andern Orten […]. Wien [o.J.], abgedruckt in: Max Grunwald: Geschichte der Juden in Wien. Vom Jahre 1625 bis zum Jahre 1740. In: Geschichte der Stadt Wien. Hg. vom Alterthumsvereine zu Wien. V. Band. Vom Ausgange des Mittelalters bis zum Regierungsantritt der Kaiserin Maria Theresia, 1740 (II. Teil). Wien 1914, S. 65–99, hier S. 99. 310 So Peter Rauscher: „Auf der Schipp“. Ursachen und Folgen der Ausweisung der Wiener Juden 1670. In: Aschkenas 16 (2006), S. 421–438, hier S. 421–424. Zur Ausweisung der Juden aus Wien vgl. weiter die immer noch wichtige, wenn auch aufgrund ihrer Einseitigkeit problematische Studie von Kaufmann (wie Anm. 219). 311 Vgl. Rauscher (wie Anm. 310), S. 426–435.
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Erfahrnus“ zusammengetragene Materien, die „mit gantz neu erfundenen lustigen Schwencken/ und kurtzweiligen Anmerckungen/ doch zwischen Schimpff und Ernst gezieret und vermehret“ sind.312 Dieses Prinzip der Materienwahl verfolgt Abele auch in den Folgebänden und so wird die Vertreibung der Wiener Juden unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen – er war nicht nur durch seinen Bruder Christoph, Hofkammerpräsident und Geheimsekretär Leopolds I., dem Wiener Hof eng verbunden, sondern hielt sich zwischen 1670 und 1671 über mehrere Monate in Wien auf313 – verhandelt.314 Im Unterschied zu den bisher beleuchteten Texten, bietet er hier jedoch keine Zusammenfassung der Ereignisse anhand verschiedener Berichte, sondern zwei Spottlieder auf die Wiener Juden. Diese Form entspricht dem Schreibprogramm Abeles: Er will den Leser mit kurzweiligen Texten unterhalten, seine curiositas wecken und befriedigen. Wenn er Begebenheiten aus dem eigenen Leben in solcher Weise erzählt, rücken damit zugleich übergeordnete Sinnhorizonte in den Hintergrund – Gegenstand seines Erzählens ist die erfahrene Unordnung der Welt.315 Auch die Darstellung aktueller politischer Vorgänge vollzieht sich vor diesem Horizont: Erzählt wird stets, um den Leser zu unterhalten, wenn auch immer unter der Prämisse der Herrschertreue. Politische Argumentationen werden folglich mit den Möglichkeiten des delectare verbunden316 – dies mag ein erster Hinweis darauf sein, warum Abele die Wiener Judenvertreibung in dieser Form in sein Vivat Unordnung aufnimmt. Er widmet sich diesem Ereignis im dritten Band seiner Erzählsammlung im Rahmen des 40. Kapitels. Zu Beginn wird ein Prozess vorgestellt, den um ihre Ernte gebrachte Bauern gegen Heuschrecken, die als Schädlinge angeklagt wer-
312 Matthias Abele von und zu Lilienberg: Vivat oder so genannte künstliche Unordnung: Das ist: Wunder=Seltsame, niemals in offentlichen Druck gekommene Gerichts= und ausser Gerichts= doch warhaffte Begebenheiten/ Meistentheils aus eigner Erfahrnus/ Zusammengetragen und ebner massen/ mit gantz neu erfundenen lustigen und kurtzweiligen Anmerckungen/ doch zwischen Schimpff und Ernst gezieret und vermehret. Nürnberg 1670. 313 Zu Leben und Schriften von Matthias Abele vgl. einführend Hans Halm: Matthias Abele. Weimar 1912 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 40); Dieter Breuer: Matthias Abele und seine Erzählsammlungen. In: Die Österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert (1050–1750). Hg. von Herbert Zeman. Graz 1986, S. 1135–1148; Ders.: Matthias Abeles Grabschriften auf den ungarischen Rebellen Péter Zrinyi. In: Militia et Litterae. Die beiden Nikolaus Zrínyi und Europa. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Gábor Tüskés unter Mitarbeit von Sándor Bene. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 141), S. 225–241. 314 Zum Erzählverfahren in „Vivat Unordnung“ vgl. Breuer: Matthias Abele und seine Erzählsammlungen (wie Anm. 313), S. 1142–1146. 315 Den Stellenwert des delectare gegenüber dem prodesse, insbesondere im Verhältnis zu Abeles „Gerichts-Händeln“ betont auch Breuer: Matthias Abele und seine Erzählsammlungen (wie Anm. 313), S. 1142–1144. 316 So Breuer, ebd., S. 1146.
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den, führen.317 Sodann werden eine Reihe von Unglücksfällen und Naturkatastrophen des vergangenen Jahres aufgeführt, um schließlich auf die Ausweisung der Wiener Juden zu kommen. Zunächst bietet Abele mehrere Chronogramme auf die Ausweisung, die sowohl von Hofkanzler wie Kaiser so gelobt worden seien, dass er sich veranlasst sah, diese Materie weiter auszuführen. Mit diesem Hinweis auf das Lob der Obrigkeit, nimmt Abele zugleich seine in der Vorrede bekundete Darstellungsintention auf: So will er dem Leser viel unterschiedliche Chronostica und welche in Reim auslauffen/ Chronographica (die erste seynd einer absonderlichen/ die andere aber doppelter Sinnreichlichkeit) auch anbey gantz neue Lieder/ wunderseltzame Geschicht/ und lieb= und kunstreiche Ausführungen mit innerer Ergetzlichkeit deß Gemüts [bieten]/ welche nirgendshero als von meiner lustigen/ unmüssigen/ Tag und Nacht nachsinnigen und vorwitzigen Feder herfliessen/ ausser der Rechts=allegaten und etlicher Teutschen Reimen/ welche ich hin und her theils entlehnet/ auf= und zusammengeklaut hab.318
Es folgt ein zwölfstrophiges Lied: „Hebraeische Gravamina, oder Juden Trauer= und Abzugs=Ballet“.319 Das Lied schildert aus der Perspektive der Juden – aus diesem Grund werden immer wieder jiddische und hebräische Wörter eingemischt – die Verzweiflung ob des Ausweisungsbefehls. Im Zentrum des Liedes steht jedoch der Vorwurf des Wuchers: Schächern/ wuchern/ wechseln ein/ sitzen im Gewölb und Buden spat biß in die Nacht hinein/ das thäten fleissig Juden/ kippen/ wippen/ und Nadelstreich die Arbeit macht uns endlich reich/ und sonders die Saudutten.320
Aber nicht nur des Wuchers und ‚Schachers‘ bezichtigen sich die Juden, sondern auch der Ausbeutung der Christen, der Geldgier, der Münzbeschneidung und der
317 Matthias Abele: Vivat oder so genannte künstliche Unordnung […] [Band 3:]: Worinnen 40. Historien, welche sich so wol in- als ausser Gerichts warhafftig begeben/ doch bißanhero das offentliche Druck=Liecht nicht gesehen. Nürnberg 1671, S. 250–278. Diese Episode erschien bereits zweimal, 1659 und 1666, als gesonderter Druck. Vgl. dazu Arno Traninger: Eine neu entdeckte Flugschrift von Matthias Abele in der Stadt- und Landesbibliothek Wien. In: Frühneuzeit-Info 5 (1994), S. 145–154, hier S. 145. 318 Abele (wie Anm. 317), Vorrede, vijv. 319 Ebd., S. 307–311. 320 Ebd., S. 309.
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Verschwörung.321 Die Juden ‚gestehen‘ hier, was ihnen immer wieder vorgeworfen wurde, wodurch die Anschuldigungen nicht mehr bloße Anschuldigungen sind, sondern in den Rang von Tatsachen erhoben werden. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass der Erzähler wiederholt die vermeintliche Authentizität des vorgebrachten Liedes betont.322 Im Gegensatz dazu durchbricht Abele beim folgenden Lied die Fiktion der Authentizität: Weilen ich aber seithero im Namen und an statt ihrer ein neues Klag= oder Wanderschaffts=Lied/ zwar ungebetten/ verfasst/ als höre dasselbe hiemit/ du kanst es auf offentlichen Jahr= und wochentlichen Marckten/ Kirchtägen und Kirchweyhen/ auch in denen Wirtshäusern und offentlichen Garrkuchlein zwischen mein und dein/ und zwischen Wein und Schwein singen und klingen lassen.323
Das nun folgende Lied, das auch gesondert als Flugschrift gedruckt wurde,324 ist als „Wehemütiges Klag=Lied Von denen auff ewigvertriebnen Juden zu Wien hinterlassen“325 betitelt und nennt als Verfasser Matthias Abele, der hier – anders als auf dem Titelblatt von Vivat Unordnung – nicht darauf verzichtet, sich als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft auszuweisen.326 Diese Verfassernennung verweist bereits auf ein wesentliches Ziel: Das „Wehe= und Klaglied“ in Vivat Unordnung sowie das Flugblatt diente der publikumswirksamen, da Anlass zu einem performativen Akt gebend, antijüdischen Propaganda und sollte die Ausweisung der Juden nachträglich nochmals bestätigen sowie dem Lob des Herrscherhauses dienen.327 Der Name des Verfassers und seine Mitgliedschaft in der Fruchtbringenden Gesellschaft können insofern als Werbemittel gelten, die zur, vom Verfasser ja auch erwünschten, Verbreitung des Liedes führen konnten.
321 Ebd., S. 307, 309, 311. 322 Vgl. ebd., S. 306 und 311. 323 Ebd., S. 311. 324 Siehe den Abdruck des Textes bei Traninger (wie Anm. 317), S. 147–150, der auch die Varianten gegenüber der Fassung in „Vivat Unordnung“ berücksichtigt. 325 Abele (wie Anm. 317), S. 312. 326 Breuer vermutet, dass die Nichterwähnung seiner Mitgliedschaft Konsequenz des verfolgten Erzählprinzips sei, zielten die „Vivat Unordnung“-Bände doch nicht mehr darauf ab, Ehre bei der Fruchtbringenden Gesellschaft zu erlangen. Breuer: Matthias Abele und seine Erzählsammlungen (wie Anm. 313), S. 1148. 327 Es ist unklar, ob die Flugschrift in „Vivat Unordnung“ integriert wurde oder ob das hier dargebotene Lied erweitert und dann gesondert gedruckt wurde. Traninger (wie Anm. 317) macht hierzu keine konkrete Aussage, spricht jedoch einmal davon, dass es sich bei der Fassung in „Vivat Unordnung“ um eine Wiedergabe der Flugschrift handele (S. 145), ein anderes Mal vermutet er, dass die in „Vivat Unordnung“ fehlenden Verse auf eine nachträgliche Legitimationskampagne und somit ein späteres Erscheinungsdatum der Flugschrift hindeuten (S. 146).
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3 „Allerhand Curiositäten“: Zwischen Schwank, Anekdote und Historie
Das Lied selbst besteht aus 24 gereimten Strophen und reflektiert wiederum aus vermeintlich jüdischer Sicht die Ausweisung der Juden. Im Zentrum steht dabei stets die Klage, doch werden darüber hinaus auch immer wieder – wie schon in der „Hebraeische[n] Gravamina“ – Vorwürfe wie ‚Wucher‘, ‚Christenhass‘ oder ‚Schacher‘ aufgenommen. Diese Form der Selbstbezichtigung bestätigt und affirmiert die antijüdischen Vorwürfe – selbst in der deutlich ausgewiesenen Fiktion, wenn auf der Wahrhaftigkeit solcher Anschuldigungen beharrt wird.328 Darüber hinaus lassen sich jedoch noch weitergehende Feststellungen machen. Es wurde schon darauf verwiesen, dass Abele vor allem durch seinen Bruder Christoph Kontakte zum Hof hatte. Vor diesem Hintergrund konnte er als eine von wenigen Personen Verantwortliche für die Ausweisung beim Namen nennen:329 Neben Kaiser Leopold I. und seiner Gemahlin, werden der kaiserliche Beichtvater Philipp Müller, der judenfeindliche Bischof von Neutra und der Wiener Neustadt Leopold Graf Kollonitsch, der Hofkanzler Johann Paul Hocher, dessen Sekretär Abeles Bruder war, der Geheime Hofsekretär Johann Georg Koch, der niederösterreichische Regimentsrat Graf Paul Sixt Trautson sowie der niederösterreichische Regimentsrat und Landuntermarschall Adam Anthonio Grundemann von Falkenberg genannt, die als Kommissare die Ausweisung der Juden befürworteten.330 Es erübrigt sich, den einzelnen genannten Personen und ihrer Rolle innerhalb der Entscheidungsfindung zur Ausweisung hier nachzugehen:331 Angesichts der immer wieder bekundeten Herrschertreue Abeles ist es nicht verwunderlich, dass Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Ausweisungen am Hof und innerhalb der Kommission nicht erwähnt werden – wiewohl er durch seinen Bruder darüber durchaus informiert gewesen sein könnte. Doch mehr noch: Es werden auch keinerlei Motive oder Interessenslagen der genannten Personen angeführt. Dies begründet sich in der Stoßrichtung des Textes: Die Juden erscheinen hier – verstärkt und bestätigt durch die Selbstbezichtigung – als geldgierige Feinde der Christen, deren Ausweisung gerade aufgrund der von ihnen selbst zugegebenen ‚Schlechtigkeit‘ keiner näheren Begründung mehr bedarf bzw. die ‚Ausbeutung‘ der Christen, die sie stets und ausschließlich verfolgen würden,332 ausreicht. Insofern ist auch für Mitleid kein Platz: Die Klage des Juden – der Erzähler übernimmt die Perspektive eines Juden, der wiederum für die jüdische Gemeinde Wiens spricht – und die zum Ausdruck kommende Sorge 328 329 330 331 332
Vgl. Abele (wie Anm. 317), S. 315f. So Rauscher (wie Anm. 310), S. 423. Vgl. Abele (wie Anm. 317), S. 314, 319–321. Vgl. dazu Rauscher (wie Anm. 310), S. 423. Vgl. dazu neben Rauscher (wie Anm. 310) auch Kaufmann (wie Anm. 219). Vgl. Abele (wie Anm. 317), S. 315f.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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um die Kinder sowie das weitere Schicksal333 nimmt im Gegensatz zu den vorgebrachten Anschuldigungen nur marginalen Raum ein.334 Interessant sind weiterhin – abgesehen von der Nennung verantwortlicher Personen – die Reminiszenzen an Vorgänge im Vorfeld der Vertreibung. Im Einzelnen ist dies insbesondere der Vorwurf der Bestechung: 20. Viermal hunderttausend Guld thäten wir offeriren zu Erlangung vorig Huld/ sonderlich wolten schmieren die Commissarios mit Geld/ (das beste Kleynod der Welt) für uns zu obligiren. 21. Sie nahmens aber nicht an/ das Geld sie nur verlachten/ Jüdel nichts mehr richten kan/ wir müssen jetzt verschmachten/ Vorzeiten hätte grosse Krafft zu Wien allhier Schmirali=Safft/ das Geld sie nun verachten.335
Bereits vor der Ausweisung, genauer 1648, wurde der Vorwurf erhoben, dass Juden den Versuch unternommen hätten, am Hof Personen zu bestechen, um einer Steuerschuld zu entgehen. Aber auch im Rahmen der Verhandlungen um die Ausweisung ist davon auszugehen, dass finanzielle Angebote gemacht wurden.336 Laut Abele wurden diese jedoch nicht angenommen – im Gegensatz dazu geht Kaufmann davon aus, dass auch am Hof einige Personen ihren Einfluss zu Gunsten der Juden geltend machten.337 Die Zurückweisung der Angebote entspricht der Stoßrichtung des Textes: Die Ausweisung der Juden wird mittels raffinierter Diffamierung gerechtfertigt und die Obrigkeit gelobt. Besonders deutlich wird dies, wenn im Anschluss an das Lied von der Grundsteinlegung zu einer neuen Kirche durch den Kaiser berichtet wird. Die jüdischen Spuren werden
333 Vgl. beispielsweise ebd., S. 315, 322f. 334 Vgl. zu weiteren antijüdischen Invektiven den Kommentar des Flugblatts bei Traninger (wie Anm. 317), S. 150–152. 335 Abele (wie Anm. 317), S. 321f. 336 Vgl. dazu Rauscher (wie Anm. 310), S. 428 und 438 sowie Kaufmann (wie Anm. 219), S. 132–137. 337 Kaufmann (wie Anm. 219), S. 132–138.
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getilgt und auf dem zerstörten Fundament – hinterließen die Juden die Judenstadt doch „in höchstem Unmut und Verwüstung“338 – baut nun die ‚rechte und wahre‘ Kirche auf, unterstützt und gefördert von der verehrten Obrigkeit. Zugleich wird damit die, im Lied nur marginal angesprochene, Gegenüberstellung von Judentum und Christentum aufgegriffen und somit zur abschließenden Erzählung eines Mahles des Erzählers bei einem „Vornehme[n] Jud“339 übergeleitet. Geschildert wird hier dessen Gespräch mit der jüdischen Familie anlässlich des Ausweisungsbefehls. Die Frauen weinen und der Erzähler schlägt ihnen vor, dass sie sich taufen lassen sollten. Sie antworten jedoch: „Sie wolten sich ehender lieber lebendig verbrennen lassen/ als ein Nadelspitz von ihrem Glauben weichen.“340 Angesichts der hier – aus christlicher Sicht – zum Tragen kommenden ‚Verstockung‘ und Verharrung im ‚falschen‘ Glauben, wird das anfangs noch von Erzähler geäußerte Mitleid ob des Weinens der Frauen überflüssig, ja er verwirft nun die Juden insgesamt: Jch gedachte bey mir/ diese verdambte Teufels Martyrer verharren in ihrer Boßheit und Hartneckigkeit biß über die Ohren/ ich wolte ehender einen Mohren weiß machen und baden/ als dergleichen Jüdisches Geschmeiß von ihrem Jrrthum zu säubern und reinigen.341
Angesichts der Schärfe der Verurteilung ist es offensichtlich, dass dieses abschließende Gespräch – im Anschluss wendet sich der Erzähler Ereignissen in Ungarn zu – keineswegs wie bei Tietze „als das Zeugnis dieses heiteren und dankbaren Gastes eines jüdischen Hauses“ gedeutet werden kann, der das – vorgebliche – Mitleiden des Erzählers in den Mittelpunkt stellt.342 Vielmehr macht dieses abschließende Urteil über die Juden Wiens und über die Juden und das Judentum insgesamt noch einmal deutlich, welches Ziel Abele bei der Darstellung der Ausweisung der Juden in Form der zwei Spottlieder wie auch des Gespräches vornehmlich verfolgte: Die Diffamierung und Verwerfung der Juden und die nachträgliche Rechtfertigung und Propagierung der Ausweisung, die – darauf
338 Abele (wie Anm. 317), S. 323. 339 Ebd., S. 324. 340 Ebd. 341 Ebd., S. 324f. 342 Hans Tietze: Die Juden Wiens. Wien 2007 [zuerst: Wien, Leipzig 1933], S. 68. Anders Pichler, dem das Gespräch als Beispiel für die Glaubenstreue der Juden einerseits und andererseits für „die Charakterlosigkeit des christlichen Berichterstatters“ dient. Walther Pichler: Von der Synagoge zur Kirche. Zur Entstehungsgeschichte der Pfarre St. Leopold, Wien II. Wien 1974 (Veröffentlichungen des Kirchenhistorischen Instituts der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien 15), S. 115.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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verweisen verallgemeinernde Aussagen, wie z.B. die abschließende Invektive gegen das „Jüdische Geschmeiß“, die Aufforderung an den Leser, die weitere Verbreitung des „Klag=Liedes“ zu fördern, sowie das Herrscherlob – auch als Aufforderung an weitere Obrigkeiten gelten können.
3.2.2 Nachrichten über das Judentum: Konstruktionen des Jüdischen in Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae Es wurde bereits darauf verwiesen, dass das Judentum im kompilatorischen Schrifttum insgesamt und insbesondere auch in den historiographisch, kulturoder sittengeschichtlich, naturwissenschaftlich oder geographisch ausgerichteten Sammlungen und Relationen nur marginal zur Darstellung kommt. Aus der Fülle dieser Sammlungen soll nun eine herausgegriffen werden: Die Relationes Curiosae von Eberhard Werner Happel, die auf eine thematische Fokussierung weitgehend verzichten, sodass schon diese Offenheit auch die Aufnahme von Materien, die sich auf Juden und Judentum konzentrieren, ermöglicht. Zugleich bedingt diese Offenheit auch, dass Jüdisches in ganz unterschiedlicher Form verhandelt werden kann. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht dessen, dass die Relationes Curiosae als einer der größten publizistischen Erfolge des siebzehnten Jahrhunderts gelten können, soll die periodische Wissenssammlung343 im Folgenden exemplarisch untersucht werden.344 Verantwortlich für diese Wissenssammlung zeichnete Eberhard Werner Happel, einer der ersten Berufsschriftsteller, der neben den Relationes Curiosae auch 343 Der Terminus „periodische Wissenssammlung“ wird hier im Anschluss an Schock: Die TextKunstkammer (wie Anm. 158), S. 28, verwendet, da der Begriff „Zeitschrift“ in Bezug auf die „Relationes Curiosae“ in hohem Maße anachronistisch erscheint. Siehe dazu ebd., S. 27f. 344 Zu den „Relationes Curiosae“ vgl. einführend Holger Böning, Emmy Moepps: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften. Von den Anfängen bis 1765. Bd.1. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815 1.1), Sp. 76–83; Uta Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels Relationes Curiosae im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 33); Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002 (Presse und Geschichte – Neue Beiträge 5), S. 199–209; Flemming Schock: „Von diesen gelehrten und curieusen Männern“. Zur Kommunikation gelehrten Wissens in der ersten populären Zeitschrift Deutschlands (Relationes Curiosae, 1681–1691). In: Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus-Dieter Herbst, Stefan Kratochwil. Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 119–134 sowie vor allem Ders.: Die Text-Kunstkammer (wie Anm. 158).
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eine Vielzahl historischer Romane und eine Reihe chronikalischer, historiographischer, kultur- und sittengeschichtlicher Sammlungen veröffentlichte. Thematisch nicht gebunden, kommt der schon im Titel deutlich markierten curiositas programmatisches Gewicht zu: So weitet sie den Gegenstandsbereich erheblich aus, ja ihm sind kaum noch Grenzen gesetzt, und wird zugleich vom Leser eingefordert.345 Happel berichtet über die einzelnen Themen jedoch nicht selbst, er kompiliert, d.h. er sammelt und distributiert die selbst aufgefundenen oder ihm zugetragenen Berichte.346 Diese können unterschiedlichsten Themenbereichen zugeordnet werden: Gegenstände der Naturkunde, völkerkundliche Beobachtungen, Städte- und Reisebeschreibungen aus aller Welt, geographische, ethnographische, historische oder naturwissenschaftliche Kuriositäten, aktuelle Tagesereignisse und Geschehnisse der Geschichte, Zauber- und Wunderberichte, Prodigien etc.347 Befriedigt werden soll so nicht nur das Bedürfnis einer möglichst breiten Leserschaft, die durch Wissenswertes unterhalten werden will und soll, damit verbunden ist auch das Bemühen, Wissen und Kenntnisse nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand zu vermitteln. Kompiliert wird mithin, um immer mehr Wissen und Neuigkeiten anzubieten.348 Mit der thematischen Ungebundenheit einher geht dabei das Bestreben, einen möglichst großen Variantenreichtum und damit eine abwechslungsreiche Lektüre zu erzeugen, sodass – obwohl sich diverse, aber nicht durchgehend verfolgte, Ordnungsmuster zeigen – die Reihenfolge des Erzählten kaum relevant ist.349 Auf die angestrebte Vielfältig-
345 Vgl. die Vorrede Wierings: „Viele Lesens= und Wiß=Begierige Gemüther haben mir zum öfftern angelegen/ bey anscheinender lieblichen Friedens=Sonne/ da man/ Gott sey Dank/ von denen obgleich angenehmen/ doch jederzeit schädlichen Kriegs=Materien nichts mehr in den Novellen findet/ nebst meinem ordinairem Courier, wochentlich eine so-genandte Curieuse Relation außzugeben/ umb dadurch manchen ehrlichen Teutschen/ deme in Ermanglung der Lateinischen und anderer frembden Sprachen/ die Begierde dergleichen curieuse Materie zu lesen/ gewaltig anwächset/ einiger massen zu vergnügen […].“ Happel: Relationes Curiosae, Bd. 1 (wie Anm. 74), Vorrede, 2v. Vgl. dazu auch Meierhofer (wie Anm. 2), S. 281. 346 Vgl. dazu Meierhofer (wie Anm. 2), S. 284. Zu den Quellen Happels und Präsentationsweise der Berichte in den „Relationes Curiosae“ vgl. Egenhoff (wie Anm. 344), S. 104–284. 347 Eine groben Überblick über die Vielfalt der in den enzyklopädisch angelegten „Relationes Curiosae“ behandelten Themen bietet Egenhoff (wie Anm. 344), S. 38f. und Schock: „Von diesen gelehrten und curieusen Männern“ (wie Anm. 344), S. 124–130. 348 Vgl. dazu auch Meierhofer (wie Anm. 2), S. 365. 349 Wann wir aber genugsahm erkennen/ die grosse Verschiedenheit der Menschlichen Gemüther/ welche nicht alle an einem oder vielmehr einerley Dinge/ ihre Vergnügung finden/ alß werden wir uns bemühen in unsern Relationen von den grösten Denckwürdigkeiten der gantzen Welt/ jedesmahl verschiedene Sorten von Materien einzuführen/ nemblich bald Physikalische/ oder natürliche/ bald Historische/ bald Mathematische oder Künstliche/ bald einige Wunder=Gebäue verschiedener Nationen/ bald
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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keit lässt sich auch die Übernahme ausgebildeter Darstellungs- und Erzählmodi zurückführen, sodass Exempel und Historien ebenso wie populärwissenschaftliche Abhandlungen die Relationen bestimmen. Das heißt jedoch nicht, dass unter der Prämisse etwas Curioses darbieten zu wollen, genreeigene Intentionen verloren gehen, vielmehr zeugen die heterogenen Schreibweisen wiederum von dem Versuch, dem Leser Abwechslungsreichtum zu bieten.350 Die Erzählungen weisen auch durchaus einen metaphysischen Orientierungsrahmen auf, doch wird keine Lehre, keine persuasio mehr damit verbunden – im Zentrum steht die Rekonstruktion des Vorfalls, das Belehrungsvorhaben tritt dahinter zurück.351 Dieses Nebeneinander von ausgebildeten Erzählmodi, populärwissenschaftlichen Abhandlungen und Berichten historischer Ereignisse, lässt sich ebenso in Bezug auf Darstellungen des Judentums in den Relationes Curiosae feststellen, auch wenn insgesamt Juden und Judentum nur marginal zur Darstellung kommen. So kann der Leser den Bericht über Das getreue Eheweib als Beispiel vorbildlicher ehelicher Treue rezipieren,352 sich über die Kabbala informieren,353 den Betrogenen Juden verlachen354 oder die außergewöhnlichen Ereignisse um Sabbatai Sevi nachverfolgen. Auffällig ist – und der Grund für diese ausführlichen einleitenden Bemerkungen –, dass sich die meisten Berichte über Juden auch in Happels kompilatorisch angelegten Geschicht-Romanen finden lassen, auf die noch zu kommen sein wird.355
annehmliche Dinge/ dass es nicht anders seyn kan/ der Leser wird an einem oder andern/ worzu nemblich sein Gemüth geneigt/ ziemliches Vergnügen schöpffen.“ (Happel: Relationes Curiosae, Bd. 1 [wie Anm. 74], Vorrede, 2v) Vgl. zur Anordnung und den Quellen neben Egenhoff (wie Anm. 344), S. 104–284, vor allem Schock: Die Text-Kunstkammer (wie Anm. 158), S. 129–143 (Anordnung), S. 144–162 (Quellen). 350 So Meierhofer (wie Anm. 2), S. 291. 351 Ebd., S. 291–296 und weiter Lynne Tatlock: Thesaurus novorum. Periodicity and the Rhetoric of Fact in Eberhard Werner Happels Prose. In: Daphnis 19 (1990), S. 105–134, hier S. 131f. sowie Francesca Ferraris: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen des 17. Jahrhunderts: Erasmus Francisci (1627–1694) und Eberhard Werner Happel (1647–1690). In: Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett. Amerika im deutschen Humanismus und Barock. Hg. von Karl Kohut. Frankfurt a.M. 1995, S. 93–107, hier S. 103. 352 Happel: Relationes Curiosae, Bd. 4 (wie Anm. 74), S. 334–339. 353 Ebd., S. 290–302. 354 Ebd., S. 255. 355 So wird über Sabbatai Sevi innerhalb des „Frantzösischen Cormantins“ berichtet und auch die Erzählung über „Das Getreue Eheweib“ findet sich dort (Eberhard Werner Happel: Deß Frantzösischen Cormantin Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman Auf das 1687. Jahr/ Anderer Theil […]. Ulm 1687, S. 9–31 und 311–322). Der Bericht über den marokkanischen Fürsten Tafilette (Happel: Relationes Curiosae, Bd. 3 [wie Anm. 74], S. 224–243), auf den hier nicht eingegangen werden soll, findet sich auch im „Jtaliänischen Spinelli“ (Eberhard Werner Happel: Deß
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Ausgehend von den zahlreichen Belegen, vor allem Flugblättern und -schriften, können die Berichte um Auftreten, Wirken und Ende des selbsternannten Messias Sabbatai Sevi und seines „Propheten“ Nathan aus Gaza 1665/1666 als ein erster „Medien-Hype“ gelten.356 Da hier nicht im Einzelnen auf die sabbatianische Bewegung eingegangen werden kann und soll, mögen wenige Hinweise genügen:357 Sabbatai Sevi wurde im Mai 1665 von dem „Propheten“ Nathan aus Gaza zum Messias und König der Juden ausgerufen. Nathan verkündete in der Folgezeit in einer Flut von Sendschreiben das Kommen des Messias und den Anbruch der messianischen Zeit in ganz Europa. Diese Schreiben erzielten ein erstaunliches Echo in den jüdischen Gemeinden Europas, Asiens und Nordafrikas: Die Gläubigen folgten dem Aufruf zur Buße und beteten, fasteten, geißelten sich, unternahmen rituelle Reinigungen und Kasteiungen, verkauften ihren Besitz und bereiteten sich auf die baldige Abreise ins Heilige Land vor. Man hoffte, dass Sabbatai die Juden aus der Ghetto-Situation herausführte und in allen Gemeinden des Reichs – vor allem in Hamburg, Frankfurt a.M., Wien und Prag – mehrten sich seine Anhänger. Doch schon 1666 brach die Bewegung zusammen, als Sabbatai nach der Gefangennahme durch Sultan Mohammed IV. unter erheblichem Druck zum Islam übertrat. Der Massenbewegung wurde durch Sabbatais Übertritt ein jähes Ende bereitet und die Ernüchterung in den Gemeinden war groß. Die Gemeinden bemühten sich nach Kräften Sabbatai in Vergessenheit zu
Italiänischen Spinelli, Oder So genannter Europäischer Geschicht=Roman, Auff Das 1685. Jahr/ Anderer Theil […]. [Ulm] 1685, S. 311–322). 356 Ingrid Maier, Daniel C. Waugh: “The Blowing of the Messiah’s Trumpet”: Reports about Sabbatai Sevi and Jewish Unrest in 1665–67. In: The Dissemination of News and the Emergence of Contemporaneity in Early Modern Europe. Ed. by Brendan Dooley. Farnham, Burlington 2010, S. 137–152, hier S. 140. Zur Berichterstattung über Sabbatai in Europa vgl. die Angaben bei Maier und Waugh (ebd., S. 141), die angeführten Belegstellen bei Gershom Scholem: Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah 1626–1676. Princeton 1973, S. 939–947; Jetteke van Wijk: The Rise and Fall of Shabbatai Zevi as Reflected in Contemporary Press reports. In: Studia Rosenthaliana 33 (1999), S. 7–27, die sich auf die Berichterstattung in niederländischen Zeitungen konzentriert; Ingrid Maier, Winfried Schumacher: Ein Medienhype im 17. Jahrhundert? Fünf illustrierte Drucke aus dem Jahre 1666 über die angebliche Hinrichtung von Sabbatai Zwi. In: Quaerendo 39 (2009), S. 133–167 sowie die dortigen weiterführenden Literaturhinweise. 357 Grundlegend zu Sabbatai Sevi ist noch immer Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a.M. 1957 (insbesondere S. 313–355) und Ders.: Sabbatai Sevi (wie Anm. 356). In der Forschung wird der Name Sabbatais in den unterschiedlichsten Schreibweisen angeführt. Ich folge in dieser Darstellung Gershom Scholem. Vgl. zur sabbatianischen Bewegung weiter auch Haim Hillel Ben-Sasson: Vom 7.–17. Jahrhundert. Das Mittelalter. In: Geschichte des jüdischen Volkes. Hg. von Haim Hillel Ben-Sasson. Zweiter Band: Vom 7.–17. Jahrhundert. Das Mittelalter. München 1979, S. 384–392; Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden (wie Anm. 95), S. 38–44 und Breuer: Frühe Neuzeit (wie Anm. 95), S. 219–223.
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bringen,358 doch die Tabuisierung führte auch dazu, dass sich innerjüdische Reformkräfte lange nicht mehr bilden konnte.359 Bereits im Mai 1665 erschienen erste Berichte in Zeitungen, die vom Auftreten dieses vermeintlichen Messias berichteten und in der Folge wurde in zahlreichen Zeitungen sowie Flugblättern und -schriften über Sabbatai berichtet. Die Darstellung der Ereignisse um Messias Sabbatai Sevi in den Relationes Curiosae ist, wie schon angedeutet, nicht von Happel selbst verfasst: Er kompiliert verschiedene Berichte über Sabbatai – genannt werden John Evelyns Historia de Tribus seculi famosis Impostoribus360 und Thomas Coenens Ydele Verwachtinge der Joden361 –, sodass nicht so sehr die einzelnen Berichte über Sabbatai interessant sind, sondern vielmehr die Präsentation dieser. Zugleich kann ausgehend von diesem Befund nochmals betont werden, was insgesamt für die hier diskutierte Kompilationsliteratur gilt und schon wiederholt angesprochen wurde: Die Kompilationsliteratur und damit auch die periodischen Wissenssammlungen zeichneten sich in erster Linie nicht durch den Neuigkeitswert der vorgestellten Erzählungen aus, sondern vielmehr durch die gegenseitige Übernahme dieser. Eingeleitet wird der Bericht mit Ausführungen, warum die Juden in der Welt zerstreut seien. Argumentiert wird hier vornehmlich mit stereotypen, antijüdischen Begründungen: So hätten die vormals glaubige Juden den wahren Messiam verachtet/ geschändet und ans Creutz schlagen lassen/[, sodass] es sich mit ihrem Regiment dergestalt verändert/ daß/ da sie vorhin ein gewaltiges Königreich besassen/ itzo in aller Welt zerstreuet sind/ und nirgends mehr ihr eigenes Oberhaupt haben können/ zu verstehen in weltlichen Sachen.362
358 Vgl. Ben-Sasson: Vom 7.–17. Jahrhundert (wie Anm. 357), S. 391f. 359 Zur weiteren Sektenbildung im Anschluss an Sevi vgl. Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden (wie Anm. 95), S. 41–44; Breuer: Frühe Neuzeit (wie Anm. 95), S. 222f.; Johann Maier: Geschichte der jüdischen Religion. Von der Zeit Alexander des Grossen bis zur Aufklärung mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert. Berlin 1972, S. 494–505. 360 John Evelyn: Historia de Tribus hujus seculi famosis Impositoribus, Das ist: Beschreibung der dreyen unlängst berufenen Betriegere/ Nemlich des Padre Ottomanno, Mahomed bei oder Johann Michael Cigala, und Sabatai Sevi […]. [o.O.] [1669], S. 35–90. 361 Thomas Coenen: Ydele Verwachtinge der Joden Getoont in den Persoon van Sabethai Zevi, haeren laetsten vermeynden Messias: Ofte Historisch Verhael van’t gene ten tijde sijner opwerpinge in’t Ottomanisch Rijck onder de Joden aldaer voorgevallen is, en sijn Val. Amsterdam 1669. Vgl. Zu diesem Werk Gerbern S. Oegema: Thomas Coenen’s “Ydele Verwachtinge der Joden” (Amsterdam, 1669) as an Important Source for the History of Sabbatai Sevi. In: Jewish Studies Between the Disciplines – Judaistik zwischen den Disziplinen. Papers in Honor of Peter Schäfer on the Occasion of his 60th Birthday. Ed. by Klaus Herrmann, Margarete Schlüter, Guiseppe Veltri. Leiden, Boston 2003, S. 331–353. 362 Happel: Relationes Curiosae, Bd. 3 (wie Anm. 74), S. 20.
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Im Anschluss wird angeführt, wo sich die meisten Juden aufhielten: Sie hätten „[i]n keinem Ort der Welt […] grössere Freyheit/ als unter den Mahometanern/ und insonderheit in Türkey/ inmassen man sie daselbst zu Diensten befodert/ und gewinnen sie dabey sehr grosse Mittel“.363 Juden und Muslime werden hier in unmittelbare Nähe gerückt und ihnen Sympathien füreinander unterstellt, wodurch – vor dem Hintergrund der andauernden zeitgenössischen Bedrohung Europas durch die Türken – die Juden disqualifiziert werden. Wichtiger aber noch erscheint, dass ausgehend von der religiös fundierten Verwerfung der Juden begründet wird, warum gerade Sabbatai Sevi einen solchen Zulauf erhielt: So suchten die Juden nach einem Messias und Oberhaupt und aufgrund ihrer Zahl im Osmanischen Reich sei dessen Auftreten dort nicht zufällig gewesen. Darüber hinaus werden aber auch profane antijüdische Stereotype aufgegriffen, wie etwa die ‚Geldgier‘, die auch im folgenden Bericht von Sabbatai eine – wenn auch untergeordnete – Rolle spielt. Bevor jedoch auf diesen eingegangen wird, werden zunächst die Ursachen des ‚jüdischen Aberglaubens‘ geklärt: So erkennen die Juden Christus nicht als Messias an, weshalb sie noch auf diesen warteten und anfällig für Betrüger seien, wie etwa Bar Kochba. Schon anhand dieser einleitenden Bemerkungen, wird dem Leser nicht nur deutlich gemacht, dass es sich bei Sabbatai um einen Betrüger handele, mehr noch werden Ursachen und Gründe nicht nur für sein Auftreten, sondern auch für seinen Erfolg angegeben. Zugleich wird der moralische Deutungsrahmen vorgegeben, wenn sich der Bericht nun Sabbatai selbst zuwendet: Aber ich werde mich der Kürtze befleissigen/ und den Ertzbetrieger Sabethai Sevi auff das Theatrum bringen/ welcher vor 19 Jahren den halben Erdkreyß erfüllete und räge machte. Diese Geschicht ist zwar beschrieben in einem Tractätlein/ welchen man den Namen der drey Haupt=Betrieger gegeben; Aber man hat von Smyrna hernach einen genauern Bericht empfangen/ welcher verdienet/ daß er den Historien einverleibet werde/ zum ewigen Andencken vor Christen/ Heyden und Juden. So tritt dann zu deiner eigenen Schande hefür/ du! der du bist Der Ertz=Betrieger und falsche Messias der Juden/ Sabethai Sevi.364
Im Folgenden werden nun die Ereignisse um Sabbatai Sevi genau verzeichnet – es erübrigt sich in diesem Zusammenhang diese einzeln nachzuzeichnen, es sei jedoch angemerkt, dass Sendschreiben des „Propheten“ Nathan von Gaza sowie von Sabbatai eingefügt werden. Diese werden jedoch nicht einfach referiert, sondern darüber hinaus kommentiert:
363 Ebd. 364 Ebd., S. 21.
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Stehe hier still/ curieuser Leser/ und entsetze dich über die Verwegenheit dieses falschen Propheten/ welcher in seinem Betrug und schändlichen Lügen so gröblich verfahren/ daß er gleich im Anfang den ärgsten Todt verdienet hätte; Aber Gott ist barmhertzig/ und straffet nicht zur Stunde.365
Trotz dieser Einlassungen, die sich im Übrigen weder bei Evelyn noch Coenen finden, verzichtet der Bericht weitgehend auf antijüdische Stereotype und Anschuldigungen, vielmehr werden in aller Ausführlichkeit die Ereignisse um Sabbatai und die Reaktionen seiner Anhänger wie auch Gegner dargestellt. Der so entstehende dokumentarische Charakter bedingt, dass durch die Anhäufung von Berichten und Belegen für das Geschehen, das bloße Vermerken der Begebenheiten, die Moraldidaxe in den Hintergrund tritt, mehr und mehr die Befriedigung der curiosen Neugier des Lesers im Vordergrund steht. Die anfänglichen antijüdischen Ausfälle und Verweise auf die ‚Verblendung‘ der Juden erscheinen im Hinblick auf den Umfang der dargebotenen Berichte, die gerade nicht moralisch oder theologisch kommentiert werden, dann auch nur mehr als vorgeschobene Legitimierung. Zugleich wird damit jedoch nicht in Abrede gestellt, dass es dem Verfasser durchaus um didaktische Unterweisung geht, bestimmend für die Sabbatai-Darstellung ist jedoch das curiose Interesse.366 Dementsprechend ist es auch zweitrangig, ob die polemischen Kommentare aus den Quellen – bei Coenen und Evelyn, die einzig genannten Quellen, finden sich diese nicht – übernommen wurden oder ob sie von Happel selbst stammen. Angesichts des weitgehenden Verzichtes auf antijüdische Vorwürfe und Stereotype nicht nur in den Relationes Curiosae, sondern – wie noch zu sehen sein wird – auch in den Geschicht-Romanen, ist jedoch davon auszugehen, dass Happel auf weitere Berichte über Sabbatai zurückgriff und die Kommentare aus diesen übernahm. Ein weiterer Hinweis für dieses Verfahren ist, dass Happel den Bericht über Sabbatai in der Historia Moderna Europae wortwörtlich aus dem zehnten Band des Theatrum Europaeum übernimmt – er streicht lediglich einen kurzen antijüdischen Einschub.367
365 Ebd., S. 24. Vgl. weiter auch ebd., S. 28. 366 Vgl. ebd., S. 31. 367 Vgl. Eberhard Werner Happel: Historia Moderna Europae, Oder eine Historische Beschreibung Deß heutigen Europæ; welche zum Anfang und Fundament hat den Münsterischen Frieden=Schluß/ und von dar an fortfähret/ Unpartheyisch zu beschreiben/ dieses letztere Semiseculum Mirabile […]. Ulm 1692, S. 802–805 und Theatrum Europaeum, Bd. 10 (wie Anm. 220), S. 437–441. Happel streicht hier einen Einschub, der sich auf die Juden in Frankfurt bezieht: „allwo es dieser Blut=Egeln/ die den Christen das Marck aus den Beinen herauß zu saugen wissen/ ein gantzes Nest voll hat/ mit dem Augenschein.“ Theatrum Europaeum, Bd. 10 (wie Anm. 220), S. 440.
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Ebenfalls vornehmlich der Information und Vermittlung von Wissen dient Die Jüdische Cabala.368 Dass es sich bei dieser Materie um im wörtlichen Sinn Merkwürdiges handelt, betont Happel gleich zu Beginn, wenn er die Kabbala zu den „allergeheimste[n] Wissenschafften“369 zählt und damit sein Versprechen einlösen will, möglichst Spektakuläres zu liefern. Entsprechend dieser Zielsetzung steht im Folgenden die „praktische Kabbala“ im Fokus, weil darunter die meiste Denckwürdigkeiten fürkommen. Dann die Cabala Practica ist eine Arth Zauberey/ wodurch die Juden einige Wunderwercke zu verrichten trachten/ mit Buchstaben oder Wörtern/ die sie entweder an den Halß hangen/ den Teuffel zu verjagen/ Kranckheiten zu vertreiben/ oder den Menschen vor allem Unheil zu bewahren/ etc.370
Das Kompilationskriterium, die Vorstellung verwunderungswürdiger Materien, erscheint insofern erfüllt, wobei es scheint, dass die Beschränkung auf die „Cabala Practica“ dieses noch mehr als die „Cabala Theoretica“ einzulösen geeignet ist, wenn explizit darauf verwiesen wird, dass es sich um eine „Arth Zauberey“ handelt. Damit werden die folgenden Ausführungen zugleich aber in einen größeren Zusammenhang gestellt: der frühaufklärerischen Aberglaubenskritik.371 So sei es unzweifelhaft, dass es sich bei der Kabbala um Aberglauben handele, habe doch der Teuffel dem Hebreischen Volck vor andern die Nebel=Kappe angezogen/ das Gesicht mit einer Larven vermumt/ unter dem Schein der höchsten Gelehrtigkeit das Hirn angeblasen/ mit einer absonderlichen Auslegung der Hl. Schrifft.372
Bereits hier wird somit der Deutungsrahmen vorgegeben: Die Kabbala sei Aberglauben, der den Juden vom Teufel eingegeben sei. Auch wenn hier und öfters auf das Stereotyp der ‚Teufelskindschaft‘ der Juden angespielt wird und wiederholt
368 Vgl. Happel: Relationes Curiosae, Bd. 3 (wie Anm. 74), S. 290–302. 369 Ebd., S. 290. 370 Ebd. 371 Vgl. zu den Zauber- und Wunderthemen innerhalb der Relationes Curiosae Egenhoff (wie Anm. 344), S. 118–132, die jedoch den vorliegenden Auszug nicht unter diesen Themen subsumiert. Zum Magie- und Aberglaubendiskurs und der Aberglaubenskritik vgl. einführend Christoph Daxelmüller: Das literarische Magieangebot. Zur Vermittlung von hochgeschichtlicher Magiediskussion und magischer Volksliteratur im 17. Jahrhundert. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner u.a. Teil II. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 837–863; van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 42), S. 78–96; Martin Pott: Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 119). 372 Happel: Relationes Curiosae, Bd. 4 (wie Anm. 74), S. 297.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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der Vorwurf des ‚Christenhasses‘ angeführt wird,373 steht im Zentrum der Ausführungen jedoch nicht das Judentum als Widerpart des Christentums, sondern das Bestreben, mittels der Kabbala den ‚Aber- und Irrglauben‘ der Juden zu erweisen. Dementsprechend wird zunächst über den Ursprung der Kabbala informiert, um im Anschluss über die einzelnen Teile sowie die „Cabala Astrologica“ aufzuklären, wobei immer wieder betont wird, dass der Aberglauben der Juden ihnen vom Teufel eingegeben wäre.374 Trotz dieser Vorwürfe dienen die Ausführungen nicht vornehmlich dazu, das Judentum zu diffamieren, sondern vielmehr als ein Beispiel unter mehreren für verwerflichen Aberglauben – auch von Christen: So werden nach der Überschrift „Die Jüdische Cabala“ und kurzen einleitenden Bemerkungen sechs Texte zu Beschwörungen gebracht, denen sich Christen bedienen würden, bevor auf die Kabbala eingegangen wird. Im Folgenden wird das Thema dann nochmals in sieben Stücken unterschiedlicher Länge variiert. Allein der Umfang der einzelnen Ausführungen weist somit darauf hin, dass es sich hier zuvörderst um eine Kompilation von Ausführungen zu verschiedenen Formen des Aberglaubens handelt, worunter auch die Kabbala zu zählen sei. Wichtiger aber noch ist, dass diese keineswegs aus Happels eigener Feder stammen, er zitiert vielmehr wörtlich aus Adam Lebenwaldt Erstes Tractätel Von deß Teuffels List und Betrug Jn der Hebreer Cabala375 und übernimmt mithin auch nicht nur die dortigen Wertungen, sondern vor allem auch die Stoßrichtung des Traktats, in dem Lebenwaldt die Kabbala als Werk des Teufels bezeichnet.376 Dennoch stellt die Kompilation durch den Verzicht auf moraldidaktische Ausdeutungen377 – die Verurteilung der Juden als abergläubisch ist hier mehr stereotype Floskel, als moralische Verurteilung378 – sowie Beurteilungen der 373 Ebd., S. 297, 299. 374 Ebd., S. 299f., 302. 375 Adam A. Lebenwaldt: Erstes Tractäel Von deß Teuffels List und Betrug in der Hebreer Cabala […]. Salzburg 1680, S. 32–38 und 53–78. Gestrichen werden jedoch die Ausführungen Lebenwaldts zu verschiedensten Personen, die in „die Cabalisterey gerathen“ seien (Ebd., S. 78). Als weitere Quelle wird Buxtorfs „Synagoga Judaica“ angegeben. 376 Zur Auseinandersetzung nichtjüdischer Gelehrter mit der Kabbala vgl. einführend Andreas B. Kilcher, Philipp Theisohn: Jüdische Gelehrsamkeit in Europa und das Judentum im europäischen Gelehrtendiskurs. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch. Hg. von Herbert Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 667–713, insb. S. 700–711. 377 So enden die Ausführungen zur Kabbala abrupt mit einem neuerlichen Verweis auf den teuflischen Ursprung des Aberglaubens: „Endlich befehlen sie/ man solle […] die Wort/ Nahmen der Engel und die Characteres darauff [auf einen Zettel; Anm. V.G.] drucken/ […] damit kan man grosse Würckung thun/ aber wie? mit Teuffels Beyhülff.“ Happel: Relationes Curiosae, Bd. 4 (wie Anm. 74), S. 301f. 378 Ebenfalls aufgesetzt wirken in Anbetracht der ausführlichen Beschreibung von Beschwörungen Rechtfertigungen wie z.B.: „[I]ch will dem verständigen Leser beyde aberglaubische Schriff-
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einzelnen Praktiken, mithin keine Diskussion um den Aberglauben der Juden dar. Es werden vielmehr verschiedene Versatzstücke kompiliert, die sich zuvörderst durch ihren merkwürdigen Charakter auszeichnen und den Aberglauben allgemein diskutieren. Darauf verweist auch die Präsentation der einzelnen Teile der Kabbala sowie der verschiedenen Beschwörungsformeln, die aufgrund ihrer ausführlichen Darlegung gerade nicht geeignet erscheinen, davor zu warnen, sondern die Materien vielmehr nachvollziehbar und interessant machen.379 Es wurde schon darauf verwiesen, dass Happel sich bei der Zusammenstellung der Relationes unterschiedlichster Quellen und somit auch Textsorten bedient. Können die beiden vorhergehenden Auszüge der historischen bzw. theologischen Wissenschaft zugerechnet werden, die dem Leser vor allem Wissen vermitteln sollen, dienen die beiden folgenden Auszüge eher dem delectare, jedoch ohne das prodesse zu negieren. So kann die Erzählung Der betrogene Jude380 durchaus unter dem Begriff der schwankhaften Literatur subsumiert werden, zugleich wird aber auch mathematisches Wissen unterhaltsam vermittelt: Im Zuge der Darstellung verschiedener Zahl- und Rechenarten wird eine Exponentialrechnung vorgeführt, die durch die Einfügung einer jüdischen Figur die Erzählung vom Schachbrett und den Reiskörnern variiert. So will ein Jude dreißig Diamanten kaufen und will für den ersten einen Würfel, für den zweiten vier Würfel, für den dritten sechzehn Würfel usf. geben. Die Würfel sollen schließlich in Geld umgetauscht werden, sodass sich die unglaubliche Summe von „17791998527. Tonnen Goldes/ und 88344 Reichsthl. 3. Cr. 4. Pf. [ergibt,] welche Summa zu erlegen in der Macht aller Europeischen Potentaten zusammen nicht stehet“.381 Auch wenn hier vor allem die Rechnung im Vordergrund steht, illustriert diese Erzählung und insbesondere die Ersetzung der Figur doch nochmals, wie sehr Judentum, Betrug und Geld zusammengedacht wurden. Des Weiteren wird anhand der Erzählung aber auch deutlich, wie die einzelnen Materien hinsichtlich ihrer Gattungs- bzw. Textsortenzugehörigkeit, Darstellungsweise und -absicht wie Thematik variieren. Dies lässt sich auch an einer weiteren Erzählung zeigen: Das getreue Eheweib382 berichtet von einer Frau, die ihren durch Gift gelähmten Mann etliche Meilen von einem Arzt zum andern trägt, um Heilung für
ten allhier mitteilen/ und ist mein Zweck bloß dahin gerichtet/ dass man sich vor dergleichen abscheulichen Dingen/ eben so sehr/ als für dem Teuffel selber/ hüten soll.“ Ebd., S. 291. 379 Vgl. beispielsweise „Die abscheuliche Beschwärung“, ebd., S. 291–293. 380 Ebd., S. 255. 381 Ebd., S. 256. 382 Ebd., S. 337. Möglicherweise übernahm Happel die Erzählung aus Jakob Rosius: Alter und Neuer Schreibkalender […]. Basel 1674, S. 39–41. Zitiert nach: Norbert D. Wernicke: Die Schweizer Kalenderlandschaft 1650–1700. Mit einem Blick auf Grimmelshausen. In: Grimmelshausen als
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diesen zu erlangen. Während ihrer Reise kommen die Eheleute auch zu einem jüdischen Arzt in Stans, der ihnen seine Hilfe anbietet und als erfahrener und kundiger Arzt charakterisiert wird: Dieser Jude war durchs gantze Land berühmt/ wegen seiner guten Kunst und Curen/ die er an etlichen von den Vornehmsten deß Landes/ in sehr gefährlichen Kranckheiten/ erwiesen/ als an Lahmen/ Tauben und blinden Leuthen/ und an denen die der Schlag getroffen.383
Er verschreibt dem Mann eine Salbe, die aus Kalbsblut, Essig und Salz hergestellt werden soll, und gibt der Frau ein Säckchen mit einer angehefteten Petunienwurzel, in dem ein Zettel mit einem hebräischen Spruch ist. Die Einfügung des jüdischen Arztes verweist zunächst auf den Umstand, dass sich ausgebildete jüdische Mediziner und Wundärzte in der Frühen Neuzeit bei Christen durchaus großer Beliebtheit erfreuten.384 Interessanter aber ist, wie der Erzähler die Vorurteile der Frau, die die vom Juden verschriebene Salbe nicht nutzen will, da „er ein Jude; als dem sie nichts Gutes zu traute“,385 als einfältig zurückweist. An der Kunst des Arztes wird mithin nicht gezweifelt, sein Judentum spielt nur insofern eine Rolle, als dass er sich auch „aberglaubische[r]“ Mittel bedient. Damit rekurriert der Text auf den Vorwurf der Zauberei, der vom Erzähler zugleich jedoch zurückgewiesen wird, stellt das „aberglaubische“ Mittel doch vielmehr eine Konzession des Arztes an die Erwartungen der Frau dar. Auch hier dient die Erzählung dem prodesse und delectare: Die merkwürdige Geschichte der treuen Frau unterhält den Leser, zugleich stellt sie aber nicht nur ein Exempel ehelicher Treue dar, sondern auch – in Bezug auf die Figur des jüdischen Arztes – die Mahnung, nicht dem Aberglauben anzuhängen. Dennoch wird auf eine abschließende moralisatio verzichtet, von Belang ist vielmehr der Erzählwert des Ereignisses, nicht die Vorführung von Tugend und Laster, auch wenn Happel in der Vorrede zum dritten Band noch den erzieherischen Wert von Erzählungen betont.386 Die Funktion des Exempels wird hier folglich weitgehend
Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Hg. von Peter Heßelmann. Bern u.a. 2011 (Beihefte zur Simpliciana 5), S. 251–273, hier S. 256. 383 Ebd., S. 337. 384 Vgl. Nicoline Hortzitz: Der „Judenarzt“. Historische und sprachliche Untersuchungen zur Diskriminierung eines Berufsstandes in der frühen Neuzeit. Heidelberg 1994 und Robert Jütte: Contacts at the Bedside: Jewish Physicians and Their Christian Patients. In: In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany. Ed. by Ronnie Pochia Hsia and Hartmut Lehmann. Washington, Cambridge 1995, S. 137–150. 385 Happel: Relationes Curiosae, Bd. 4 (wie Anm. 74), S. 337. 386 Wann demnach sothane Scribenten und Schrifften/ welche zugleich den Nutzen und die Annehmlichkeit fürtragen/ allemahl billich in hohem Werth gehalten worden/ so
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außer Kraft gesetzt, womit jedoch auch alte Wertungsschemata hinfällig werden: Die bloße Entgegensetzung von Judentum und Christentum erscheint als nicht mehr fähig, innerhalb einer komplexer werdenden Welt, das normgerechte Verhalten innerhalb dieser zu gewährleisten,387 sodass auch die Figur des jüdischen Arztes dargestellt werden kann, ohne auf antijüdische Stereotype zu rekurrieren. Ein weiteres Indiz für diese Annahme ist, dass sich Happel in keiner der Ausgaben der Relationes Curiosae dem Judentum als Religion bzw. den Juden als Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft widmet. Juden und Judentum erscheinen insofern nur interessant, wenn es, wie bei Sabbatai, um aufsehenerregende Ereignisse geht oder jüdische Figuren funktional zur Illustration oder zur Kritik eingesetzt werden können. Im Zentrum stehen bei den vier besprochenen Auszügen mithin stets die Befriedigung der curiositas und die damit einhergehende Vermittlung von Wissen.388 Festmachen lässt sich dies – dies gilt ebenfalls für Sabbatai und die Ausführungen zur Kabbala – an der weitgehenden Absenz moraldidaktischer Deutungen, auch wenn auf vereinzelte antijüdische Invektiven nicht verzichtet wird. Das Vorbringen dieser stereotypen antijüdischen Floskeln bedingt sich jedoch vor allem durch das Verfahren der Kompilation: Kompiliert wird, was interessant erscheint und somit auch Materien, in denen Jüdisches verhandelt wird. Die antijüdischen Stereotype werden dabei, das konnte anhand Der Jüdischen Cabala gezeigt werden, die bei weitem am meisten antijüdische Belegstellen aufweist, meist aus den Quellen übernommen. Diese Feststellung sollte jedoch nicht dazu verleiten, Happel zu einem im heutigen Sinne toleranten Autor zu proklamieren, der vom christlichen Absolutheitsanspruch abrückte. Vielmehr ist darauf zu verweisen, dass innerhalb der Relationes Curiosae und ebenso in den Geschicht-Romanen, wie noch zu zeigen ist, Juden und Judentum vielmehr als Kuriosum erscheinen, über das berichtet und vor diesem Hintergrund auch auf moral-didaktische oder theologisch motivierte Ausführungen verzichtet werden kann.
sind warlich die Historische Beschreibungen/ so wohl von Geschichten/ als natürlichen Seltzamkeiten ruhmwürdig/ als worinn beyde diese Dingen/ zusambt denen menschlichen Künsten und Erfindungen bey rechtschaffenen Lesern auff eine sonderbahre Weise zusammen kommen. Der Nutzen kommt mit so viel mehrerm Nachdruck an den Tag/ weil die Exempeln alleweg besser lehren/ alß blosse Ermahnungen und Warnungen. (Happel: Relationes Curiosae, Bd. 3 [wie Anm. 74], 2v–3r) 387 Ähnlich auch Meierhofer (wie Anm. 2), S. 292f., jedoch ohne Bezug zum vorliegenden Text. 388 Zum Ziel der Wissensvermittlung und -popularisierung vgl. ausführlich Schock: Die TextKunstkammer (wie Anm. 158), S. 171–182.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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3.2.3 Konversieren über Juden und Judentum Abschließend seien Erzählsammlungen beleuchtet, die im Anschluss an Harsdörffers Gesprächspielsammlungen in dialogischer Form Wissen vermitteln wollen. Diese Sammlungen bieten im Gegensatz zu Harsdörffer jedoch keine Spielanweisungen, vielmehr wird die Gesprächssituation zur mehr oder weniger abwechslungsreichen Präsentation von Themen genutzt. Dabei beschränken sie sich entweder auf ein spezifisches Thema oder sind offen für alle möglichen curiosen Materien. Im Hinblick auf die Beschäftigung mit Juden und Judentum ist es auffällig, dass meist die gleichen thematischen Komplexe verhandelt werden: Das Auftreten des schon erwähnten ‚Ewigen Juden‘ Ahasver, die Duldung von Juden in Städten und Ländern sowie die den Juden zugeschriebene Disposition zum Wucher.389 Einer der produktivsten Autoren des siebzehnten Jahrhunderts war sicherlich Erasmus Francisci, dessen Kompilationen – davon zeugen die zahlreichen Auflagen – sehr beliebt waren.390 Von seinen Kuriositätensammlungen391 soll im Folgenden Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten392 näher beleuchtet werden, erscheint diese doch hinsichtlich der hier verfolgten Fragestellung als besonders ertragreich, da nicht nur Jüdisches in ganz unterschiedlicher Form verhandelt wird, sondern auch Texte aus der jüdischen Literatur Aufnahme finden. Kurz zur Sammlung: Die vorrangige Zielsetzung der Kompilation ist das Erbauen und Ergötzen mittels „Sinn= und Lehr=reiche[r] Discurse[..]“ und „an389 Diese Themenkomplexe werden jedoch auch in anderen Kuriosasammlungen verhandelt. Vgl. beispielsweise [Anonym:] Pars Secunda, oder Die Erste Fortsetzung deß Politischen und Historischen Schimpffs und Ernsts/ Mit gleichem fleiß/ den Histori=begierigen Leser zu sonderbahren gefallen und auff beliebige Nachfrag zusammen getragen. Von einem auffrichtigen Liebhaber merckwürdiger Geschichten. Nürnberg 1669 sowie Paullini (wie Anm. 246). 390 Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Erasmus Francisci, ein Nürnberger Polyhistor des siebzehnten Jahrhunderts. Biographie und Bibliographie. In: Philobiblion 19,4 (1975), S. 272–303. Vgl. zu Francisci weiter auch Helmut Maximilian Sterzl: Leben und Werk des Erasmus Francisci. Phil. Diss. Erlangen 1951. 391 Vgl. zum Begriff der „Kuriositätensammlung“ bei Francisci Ferraris: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen (wie Anm. 351), S. 93–101 sowie Dies.: Exotismus und Intertextualität. Die Literarische Kuriositätensammlung. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Frankfurt a.M u.a. 1994 (FrühneuzeitStudien 2), S. 465–484. 392 [Erasmus Francisci:] Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten: darauf Viel nachdenckliche Sachen/ sonderbare Erfindungen/ merckwürdige Geschichte/ Sinn= und Lehr=reiche Discursen/ auch zuweilen anmuthige Schertz=Reden und Erzehlungen/ fürgestellet werden […]. Nürnberg 1663–1673.
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muthige[r] Schertz=Reden und Erzehlungen“, die aus einem historio-geographischen Korpus entnommen und vor allem im Hinblick auf ihr exotisches, fremdes und merkwürdiges Potential aufgenommen werden.393 Die einzelnen Materien basieren mithin auf Überliefertem, nicht Selbsterfahrenem, sodass versucht wird, die daraus resultierende mangelnde Empirie durch Quellennachweise auszugleichen.394 Formal orientiert sich die Sammlung am Modell der Gesprächspiele und so werden sechs Versammlungen geboten, die sechs Treffen einer Gruppe von sechs Männern wiedergeben. Damit verbindet sich eine zweifache Zielsetzung: Zum einen soll der Leser im Konversieren über die Welt geschult werden und sein Blick so auf die Struktur und den formalen Verlauf der Gespräche gelenkt werden.395 Zugleich bietet die Gesprächsform die Möglichkeit, die Materien abwechslungsreich durch die scheinbar unsystematische Anordnung darzubieten. Des Weiteren beansprucht die Kompilation Mittel zur Welterschließung zu sein396 und so
393 Dieses gilt auch für Franciscis weitere Sammlungen. Vgl. Ferraris: Neue Welt und literarische Kuriositätensammlungen (wie Anm. 351), S. 95. 394 Dieses lässt sich insbesondere an der Sammlung „Ost= und West=Jndischer wie auch Sinesischen Lust= und Stats=Garten“ zeigen, die einen alphabetisch geordneten Autorenkatalog enthält. Ebd., S. 96. 395 Vgl. [Francisci:] Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten, Bd.1 (wie Anm. 392), Vorrede, vjr. Zur Form des Gesprächs vgl. weiter Ina Timmermann: „löbliche Conversation“ als „Einübung ins Räsonnement“. Das Gespräch als Ziel und Funktion barocker Erzählsammlungen am Beispiel der Lustigen Schau=Bühne von allerhand Curiositäten des Erasmus Francisci (1627– 1694). In: Simpliciana 21 (1999), S. 15–40, insbesondere S. 25–32 und – wenn auch im Hinblick auf den „Ost= und West=Jndischer wie auch Sinesischen Lust= und Stats=Garten“ – Roswitha Kramer: Gespräch und Spiel im Lustgarten. Literatur und Geselligkeit im Werk von Erasmus Francisci. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Teil I. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 505–529, insb. S. 509–520. 396 Vgl. die Widmung im „Ost= und West= Jndischer wie auch Sinesischer Lust= und Stats= Garten“: Kein grössers Buch weiß die Welt/ als sich selbsten. Dessen fürnehmster und edelster Theil aber ist der Mensch: welchem der Allgütige/ an Stat eines schönen Titel=Bildes/ sein unvergleichliches Ebenbild hat vorgedruckt/ über das ihn/ zu einem Auszug/ Kern und Edelgestein der übrigen Theile solches grossen Welt=Buchs/ gemacht; danbenebenst [sic!] auch seiner Natur eine Lust und Begierde eingepfropffet/ in demselben fleissig zu blättern/ und daraus die unermäßliche Grösse/ Macht/ Gewalt/ Majestät/ Herrlichkeit/ Reichthum/ Weisheit und Güte seines Schöpffers/ in solcher Masse/ zu begreiffen/ als viel davon/ durch das enge Thor des Auges/ in die Sinnen und Gedancken sich immermehr bringen lassen will. Hiebey wird ihm gleichfalls zugelassen/ dass er auch/ auf gebührliche Weise und Wege/ seinen selbsteigenen Liebs= und Gemüthsunterhalt darinnen suche/ den Verstand daran wetze/ die Wissenschafften mehre/ und durch Erfahrung bewehre/ das Beste aus dem jenigen/ was entweder die Natur selbst/ oder der Leute Witz und Vernunfft/ hie und
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werden die Materien nicht allein unter dem Aspekt der Belehrung präsentiert, sondern um möglichst umfassende Kenntnis der Welt zu erlangen – ohne dabei aber den theologischen Bezugsrahmen zu negieren.397 Dieses gilt auch für jene Texte, die Juden und Judentum zur Darstellung bringen. In allen drei Teilen der Lustigen Schau=Bühne kommen Juden und Jüdisches zur Darstellung, doch – so kann bereits hier festgehalten werden – in durchaus unterschiedlicher Weise. So wird im ersten Teil im Zuge einer Disputation um Gesten, genauer das Kreuz schlagen, von Herrn Neander ein Exempel des Gregorius Magnus beigebracht: Ein reisender Jude kehrt in ein verlassenes Haus ein und wird in der Nacht von großem Gepolter geweckt, das von Geistern verursacht wird. Der Jude erinnert sich des Kreuzschlagens der Christen, das vor solchen Geistern bewahren soll, und macht etliche Male die Geste. Die Geister suchen ihn, finden jedoch nur ein „gezeichnetes/ aber leeres Vaß“.398 Der Jude entkommt und erzählt dem Bischof des Ortes von seinen Erlebnissen, woraufhin letzterer nach seinen Sünden zu einem christlicheren Leben zurückkehrt.399 Die Gesprächsteilnehmer ziehen folgende Lehre aus dem Exempel: Dieses auf unsern Zweck zu bequemen; spreche ich/ daß alle/ die das Creutz nur an der Stirn/ und nicht in der Brust/ im Glauben/ Leben und Wandel tragen/ dergleichen leere Gefässer seyn: Ob mir gleich nicht unwissend/ daß der Böswicht/ mit selbigen Worten; fürnemlich auf die Sacramenten/ sonderlich der heiligen Tauffe gezielet/ deren der annoch zweiffelhafftige Jude nicht theilhafft worden war. Denn es ist ein grosser Unterscheid/ ob einer das Zeichen deß Gecreutzigten an der Stirn/ oder an der Stirn und im Hertzen zugleich trage/ spricht St. Augustinus.400
Bei dieser Erzählung handelt es sich um ein Exempel, das erzähltechnisch vor allem der Illustration und Abwechslung dient. In Bezug auf die Figur des Juden lässt sich feststellen, dass dieser kaum näher charakterisiert wird, seine
dort gebiert/ in den Bienen=Stock seiner Gedächtniß/ wie die Wachswirckerinnen das Honig aus den Blumen ziehen/ einsammle/ und so wol seinem/ als andren Gemüthern/ eine süße Ergetzlichkeit damit anrichte. (Erasmus Francisci: Ost= und West= Jndischer wie auch Sinesischer Lust= und Stats= Garten/ Mit einem Vorgespräch Von mancherley lustigen Discursen; Jn Drey Haupt= Theile unterschieden […]. Nürnberg 1668, a2vf.) 397 So Meierhofer (wie Anm. 2), S. 217–219. 398 [Erasmus Francisci:] Die lustige Schau=Bühne von allerhand Curiositäten: darauf Viel nachdenckliche Sachen/ sonderbare Erfindungen/ merckwürdige Geschichte/ Sinn= und Lehr=reiche Discursen/ auch zuweilen anmuthige Schertz=Reden und Erzehlungen/ fürgestellet werden […]. Nürnberg 1663, S. 195. 399 Die Geister hatten einander erzählt, dass ein Geist dem Bischof unzüchtige Gedanken eingegeben hatte, sodass dieser mit einer Nonne schlief. Vgl. ebd., S. 195. 400 Ebd., S. 195.
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einzige ‚Eigenschaft‘ ist sein Judentum, das ihn aus christlicher Sicht zu einem „leere[n] Vaß“ macht. Aus diesem Grund ist er zugleich aber auch notwendig für das Exempel, zeichnet sich doch nur der Jude durch ‚Leere‘, nämlich Ferne zum christlichen Glauben, aus. Die typenhafte Darstellung ist insofern konsequent, als dass es auch gar keiner näheren Charakteristik bedarf, um die moralisatio „auf unsern Zweck“, die Wirkungen des Kreuzschlagens, abzuleiten. Vor dem Hintergrund dieser fokussierten Auslegung erklärt sich auch, warum beispielsweise das lasterhafte Verhalten des Bischofs und seine Wandlung nicht näher beleuchtet werden, sind sie doch für das Gespräch über Gesten unerheblich. Dient hier das Exempel vom Juden vor allem illustrativen Zwecken, verhält es sich im zweiten Teil der Lustigen Schau=Bühne anders, wenn das Gespräch auf den ‚Ewigen Juden‘ Ahasver kommt.401 Ausgehend von der Feststellung Ehrenholds, dass Juden wie auch Türken der ‚Verstockung‘ und dem ‚Unglauben‘ anhängen, fragt dieser Kronenthal, ob die Geschichte von Ahasver, der bei der Kreuzigung Jesu anwesend und ihn mit Schuhleisten geschlagen haben soll, glaubwürdig sei. Die Antwort Kronenthals macht sogleich deutlich, worum es im folgenden Gespräch geht: Jch würde diese Frage meinem geehrten Herrn Ehrenhold verdencken; weil sie seiner Ernsthafftigkeit/ und gutem Verstande/ fast zu nahe ist: wenn nicht ansehnliche und berühmte Scribenten derselben gleichfalls hätten Meldung gethan/ und einige Geschicht=Schreiber dazu Anlaß gegeben.402
Anlass, sich dieser Erzählung überhaupt zu widmen, ist folglich nicht diese selbst, sondern vielmehr die Frage nach der Glaubwürdigkeit tradierter Überlieferung. Insofern stehen im folgenden Gespräch auch nicht die Erzählung um Ahasver im Fokus, sondern die verschiedenen Berichte über ihn, die von Berintho und Kronenthal referiert werden. Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang auf diese – angeführt werden Johannes Limnäus, Jaques de Charron, Chrysostomus Dudulaeus Westphalus, Martin Zeiller, Willem Baudaert, Jules César Boulenger und Nicolaus Helduaderus – detailliert einzugehen, werden diese doch lediglich referiert und gegeneinander abgewogen. Zudem werden innerhalb dieser Berichte sowie auch von den Gesprächsteilnehmern selbst keine Aussagen zum Judentum
401 [Erasmus Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne vielerhand Curiositäten Zweyter Theil: Darinn Mancherley lustige Aufgaben/ Fragen/ Beschreib= und Erzehlungen/ von polit= und historischen/ natür= und künstlichen/ ernst= und scherzhafften Sachen/ vermittels eines anmutigen und erbaulichen Red=Wechsels vertraulich=guter Freunde/ behandelt werden […]. Nürnberg 1671, S. 399–410. 402 Ebd., S. 401.
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getroffen, wichtiger erscheint Kronenthal und Berintho stets die Glaubwürdigkeit des Berichteten und so wird – entsprechend der vorgegebenen Zielsetzung – jeweils angeführt, ob die zitierten Autoren die Erzählung selbst als glaubhaft erachten. Vorgeführt wird mithin das Abwägen und Gegeneinanderhalten verschiedener Meinungen, wobei auf Prägnanz und Kürze zugunsten einer möglichst umfassenden Diversifikation des Themas verzichtet wird. Damit wird auch hier, wie schon bei dem das Kreuzzeichen schlagenden Juden, die Materie unter einem bestimmten Aspekt dargeboten. Auffällig ist, dass der Zweifel an der Erzählung – darauf wurde schon bei der Analyse des Erstdruckes verwiesen403 – bereits in den zitierten Berichten angelegt ist bzw. explizit formuliert wird und insofern die Frage nach der Glaubwürdigkeit legitimiert. Gezweifelt wird nicht an den Autoritäten oder der tradierten Überlieferung, sondern an der Erzählung selbst – darauf verweist auch, dass Neander am Schluss der Passage von anderen „dergleichen Betrieger[n]“404 berichtet. Von Interesse ist dabei Kronenthals Fazit, das er am Ende des Referates zieht, und dem von den anderen Gesprächsteilnehmern nicht widersprochen wird: Nicolaus Helduaderus/ ein Theologus/ und guter Mathematicus/ hat es im Jahr 1604. in seiner Sylva Chronologia, eine Fabel gescholten; welche schon damals in offentlichen Druck ausgegangen sey. Welchem ich auch meine Stimme beyfüge/ und es für ein pur lauteres Mährlein achte/ das vielleicht ein geitziger Buchdrucker/ oder Veleger/ durch jemanden aufsetzen lassen/ und der Presse unterworffen: auf daß er/ mit solchem Rauch=Verkauff/ ein Stuck Geldes lösen möchte. Wie es denn solcher Rauch=Händler/ auch bey unsern Zeiten/ noch wol mehr gegeben.405
Angesprochen wird hier nicht nur der unglaubwürdige Charakter der Erzählung, wichtiger ist vielmehr der Verweis auf den literarischen Markt. Unüberhörbar ist hier die Skepsis gegenüber der „Zeitungssucht“,406 die es mit sich bringe, dass die Nachrichten oft unzuverlässig seien und die Sensation im Vordergrund stehe.407 Wenn dennoch solche unglaubwürdigen Materien geboten werden,
403 Vgl. oben, S. 89–99. 404 [Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne vielerhand Curiositäten Zweyter Theil (wie Anm. 401), S. 408. 405 Ebd. 406 Vgl. beispielsweise Johann Ludwig Hartmann: Unzeitige Neue=Zeitungs=Sucht/ und Vorwitziger Kriegs=Discoursen Flucht […]. Rothenburg 1679. 407 Diese Skepsis bringt beispielsweise auch Daniel Georg Morhof in dem Epigramm „Auff die Zeitung=Schreiber/ die ihre Zeitungen mit den Lufft=Gesichtern anfüllen“ zum Ausdruck: Man holt die Zeitung über Meer/ Von allen Orten/ Ecken her. Man bringet alles an das Licht/
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bedingt sich dies zum einen gerade in der Überprüfung des Wahrheitsgehaltes, zum anderen aber stellt die Geschichte von Ahasver eine interessante Materie dar. Insofern begründet sich auch, warum insbesondere Baudaerts Bericht so ausführlich wiedergegeben wird. Erklärbar ist dies mit dem Bemühen um möglichst umfassende Weltkenntnis, durch das sich die gesamte Sammlung auszeichnet. Zugleich geht durch das additive Aneinanderreihen der Berichte nicht nur ein eventueller moraldidaktischer Anspruch verloren, auch der Konversionscharakter verliert sich, ja ist gar nicht mehr notwendig, wenn die Geschichte vom ‚Ewigen Juden‘ Ahasver nur noch ein interessantes Kuriosum ist, dessen Aufnahme in die Sammlung von „vielerhand Curiositäten“ sich gerade durch diese Eigenschaft legitimiert. Auch im dritten Teil der Lustigen Schau=Bühne kommt noch einmal Jüdisches zur Darstellung: Im Zuge der Erörterung von Beschneidungsriten kommen auch die des Judentums zur Darstellung.408 Ähnlich wie im Falle Ahasvers, bilden diese einen interessanten Wissensgegenstand – handelt es sich doch um eine Zeremonie, die nicht öffentlich und somit für Christen kaum erfahrbar war –,409 der basierend auf unterschiedlichen Schriften von Alexander Ross,
Es decke noch so tieffe Grufft/ Und hat mans von dem Lande nicht: So greifft mans endlich auß der Luft. (Daniel Georg Morhof: Teutsche Gedichte. Kiel 1682, S. 361f.) Vgl. dazu weiter auch Elger Blühm: Zeitung und literatisches Leben im 17. Jahrhundert. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 492–505, hier S. 500f., der ebenfalls Morhofs Epigramm anführt, und Jens Gieseler: Vom Nutzen und richtigen Gebrauch der frühen Zeitungen. Zur sogenannten Pressedebatte des 17. Jahrhunderts. In: Die Sprache der ersten deutschen Wochenzeitungen im 17. Jahrhundert. Hg. von Gerd Fritz, Erich Strassner. Tübingen 1996 (Medien in Forschung und Unterricht 41), S. 259–285. 408 [Erasmus Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne mancherley Curiositäten Dritter Theil: Darinn Vielerley Discurse/ von politischen/ historischen/ und natürlichen Sachen/ lustigen Vorfällen/ imgleichen von Türckischen und Persischen Heer=Ordnungen/ von der Macht und Tracht unterschiedlicher ausländischer/ vorab Africanischer Potentaten/ von geist= und weltlichen Gebäuen/ Wallfahrten/ Begräbnissen/ allerhand Schau=Händeln/ und dergleichen Lust= und Nutz=reichen Zeit=Kürtzungen/ geführet werden […]. Nürnberg 1673, S. 251–279. 409 Auf den Umstand, dass jüdische Riten und Zeremonien – jenseits antijüdischer Verurteilungen – einen interessanten Wissensgegenstand bildeten, verweist beispielsweise auch die Schilderung jüdischer Hochzeitszeremonien bei August Bohse: Historischer Welt=Spiegel/ welcher allerhand Lehrreiche Freuden= Trauer= und Wunder=Geschichte sambt vielen merckwürdigen und raren Sachen/ die so wohl in Europaeischen als andern Ländern zu finden/ aus denen glaubwürdigsten Scribenten so wohl zur nutzbahren als ergötzenden Nachricht zeiget […]. Leipzig 1699, S. 184–187.
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Sebastian Schmidt und Johannes Buxtorf410 dargeboten wird. Interessant sind in diesem Zusammenhang wiederum nicht die Schilderungen selbst, sondern vielmehr die Präsentationsweise. So wird als Begründung für die Aufnahme dieser Materie ausdrücklich die „Neu=Gierde“411 genannt. Eventuelle moraldidaktische Implikationen werden somit – zunächst – zurückgedrängt, was auch den Verzicht auf offensichtlich antijüdische Verurteilungen innerhalb der Beschreibung der jüdischen Riten erklärt. Dieses ändert sich, wenn aus Buxtorfs Synagoga Judaica ein Mayse eingestreut wird,412 das die spätere Konversion eines zu beschneidenden Kindes thematisiert. Erzähltechnisch dient dieses Mayse – wie schon das Exempel vom sich bekreuzigenden Juden – der Illustration und Abwechslung innerhalb des langen Referates. Darüber hinaus bietet dieses aber auch Gelegenheit sich über antijüdische Vorwürfe – Verstockung, Blindheit, Aberglauben – von Juden und Judentum abzugrenzen und die christliche Religion als ‚rechtmäßige‘ zu proklamieren. Zugleich wird auch hier wiederum ‚Quellenkritik‘ geübt: Die Erzählung wird als unglaubwürdig erklärt – woran sich wiederum der ‚Aberglauben‘ der Juden erweise – und nach einer möglichen Erklärung gesucht: Jch zweifle gar nicht/ (sprach Herr Kronenthal) dieses sey eine aufrichtige Jüden=Lugende [sic]. Oder (that Herr Ehrenhold hinzu) der scheinheilige Judas hat vielleicht Verstand/ mit dem Teufel/ gehabt/ der/ am Fenster/ in Gestalt eines alten Greisen/ erscheinen müssen/ und die Weissagung thun: damit die blinde Jüden/ in ihrem Aberglauben noch härter möchten verstockt werden. Beydes (fing Herr Neander wiederum an) kann seyn. Wiewol das
410 Alexander Ross: Der gantzen Welt Religionen; Oder Beschreibung aller Gottes= und Götzendienste/ wie auch Ketzereyen/ in Asia, Africa, America, und Europa, von Anfang der Welt/ biß auff diese gegenwertige Zeit […]. Und in die Hochdeutsche Sprache übersetzt von Alerto Reimaro […]. Amsterdam 1667, S. 68–70; Sebastian Schmidt: Tractatus de circumcisione, Primo Veteris Testamenti Sacramento […]. Straßburg 1661; Johannes Buxtorf: Synagoga Judaica: Das ist/ Judenschul: Darinnen der gantz Jüdische Glaub und Glaubens-übung/ mit allen Ceremonien/ Satzungen/ Sitten vnd Gebräuchen/ wie sie bey ihnen offentlich vnd heimlich im Brauche: Auß jhren eygenen Bücheren vnd Schrifften/ so den Christen mehrtheils vnbekandt/ vnd verborgen seind/ grundtlich erkläret […]. Basel 1643, S. 108–145. Zu Buxtorf, dessen „Synagoga Judaica“ bis in das achtzehnte Jahrhundert aus christlicher Perspektive als Standardwerk für die Beschäftigung mit dem Judentum galt und auf das sich zahlreiche nachfolgende Hebraisten immer wieder bezogen, vgl. einführend Stephen G. Burnett: From Christian Hebraism to Jewish Studies. Johannes Buxtorf (1564–1629) and Hebrew Learning in the Seventeenth Century. Leiden u.a. 1996 (Studies in the History of Christian Thought, Vol. 68) und Ders.: Distorted Mirrors (wie Anm. 163). 411 [Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne mancherley Curiositäten Dritter Theil (wie Anm. 408), S. 251. 412 Ebd., S. 263f. Zur Gattung Mayse vgl. den Exkurs zu Christoph Helwigs Übertragung des „Maysebukhs“ unten, S. 155–162.
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erste fast vermutlicher ist; nemlich daß die Jüdische Fabel=Hansen/ als der erwachsene jung Jüde von ihnen abgewichen/ und getauffet worden/ solches alles ertichtet haben: damit sich die andere Jüden/ an seinem Abtritt/ nicht sollten ärgern. Buxtorfius hat es/ aus der 170. Histori des Buchs Maaseh/ genommen/ und nicht eben der Meinung erzehlet/ als ob er solche Umstände glaubte/ oder die gantze Sache nicht für ein Geticht hielte. Wiewol ichs auch so hart nicht streitten will/ daß es/ durch den Satan/ würcklich könne geschehn seyn: sintemal es/ unter den Jüden/ viel Teufels=Beschwerer/ und Hexen=Meister/ gibt.413
Im Anschluss an dieses Mayse wird weiter über die Beschneidungsriten berichtet, die von Neander als „Comödi“414 bezeichnet werden. Bereits diese Klassifizierung deutet die abschließende Beurteilung durch die Gesprächsteilnehmer an, suggeriert doch der Begriff „Comödi“, dass die Rituale der Juden nicht ernst zu nehmen seien. Angesichts dieser nicht nur lächerlichen, sondern auch gefährlichen Rituale415 fände sich laut Berintho wohl auch kaum jemand, der zum jüdischen Glauben übertreten wolle. Die Beschneidung fungiert hier als deutliches Abgrenzungsmerkmal – jedoch nicht als Alleinstellungsmerkmal, wird doch vorher auf die Beschneidung bei den Türken, d.h. den Muslimen, eingegangen –, das die ‚rechte‘ von den ‚falschen‘ Religionen scheide.416 Der damit festgestellte inferiore Charakter des Judentums wird sodann nochmals von Neander bekräftigt, indem er stereotype, religiös fundierte Verurteilungen wiederholt und somit die Attraktivität des Christentums hervorhebt. Insofern erfahre man auch von mehr Juden, die zum Christentum konvertieren, als umgekehrt. Im Rahmen der Diskussion der schwankhaften Erzählungen wurde bereits darauf verwiesen, dass taufwilligen bzw. ‚getauften Juden‘ eine erhebliche Skepsis entgegengebracht wurde. So auch hier: Oder [Juden wollen sich taufen lassen; Anm. V.G.] (sprach Herr Lilienfeld) zum Gelde und Geschencken der Christen. Denn wie viel findt man derer/ unter den verstockten Vögeln/ die Glauben behalten/ und nicht wieder davon streichen? Wie/ vor etlichen Jahren/ allhie derjenige gethan/ welcher sich Rabbi de Pomis nannte/ und in den Morgenländischen Sprachen einen guten Grund gehabt/ auch von dem hiesigen Magistrat/ nicht allein wie ein Schelm/ sondern auch/ als ein Dieb/ davon geritten. Wie hats dessen Vorgänger gemacht? Jedoch gebe ich zu/ daß eher zehen Jüden zum Christenthum/ denn Christen/ oder Heiden/ zum stinckenden Jüdenthum/ treten.417
413 [Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne mancherley Curiositäten Dritter Theil (wie Anm. 408), S. 263f. 414 Ebd., S. 272. 415 So wird ausführlich auf die Gefahren, vor allem Entzündungen, bei der Beschneidung eingegangen. Vgl. ebd., S. 266f. 416 Vgl. ebd., S. 246–251. 417 Ebd., S. 276.
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Bemerkenswert ist neben der schon angesprochenen, deutlich artikulierten Skepsis gegenüber konversionswilligen Juden, vor allem der Versuch der Quantifizierung der Konversionen, wobei es keineswegs verwundert, dass das Christentum als attraktivere Wahl erscheint und so die christliche Religion als ‚rechte‘ Religion vorgestellt und ihr Suprematieanspruch erhärtet wird. Wenn sich dennoch „stoltze Lügner [rühmen]/ daß viel tausend Heiden und Christen/ ihrer Lehre zufallen“418 würden, kann es sich um nichts anderes als eben Lügen handeln. Als Beleg wird sogleich ein Exempel aus dem Mischnatraktat Avoda sara beigebracht, in dem von Kaiser Antonius und dessen Übertritt zum Judentum aufgrund seiner Erfahrungen mit einem wundertätigen Rabbiner berichtet wird. Das Exempel gilt den Gesprächsteilnehmern jedoch nicht als Beleg für die Anziehungskraft des Judentums, es wird vielmehr aus judenfeindlicher Perspektive umgedeutet: Hieraus erscheinet/ was ein Jüde für ein hoffärtiges Thier. Das liederliche Geschmeiß entfärbt sich nicht/ in ihren Lugenden zu tichten/ daß Keyser und Könige sich/ zu Schämeln ihrer stinckenden und garstigen Füsse/ verdemütiget haben. Noch ein andres von einem Römischen König/ könnte ich/ aus demselben Buche erzehlen; mag aber meine Herren mit dergleichen abgeschmackten Fabeln nicht länger speisen; besorgend/ sie möchten/ von so vieler kalter Materi/ endlich ein Magen=Fieber bekommen.419
Wurde vorher noch verhältnismäßig ‚objektiv‘ – wenn auch immer unter dem Verdikt des christlichen Wahrheitsanspruches – argumentiert, kommt hier eine ausgesprochen antijüdische Haltung zum Tragen, die besonders mit Blick auf die verwendeten Epitheta wie etwa „hoffärtig“, „stinkend“ und „garstig“ deutlich wird. Es lässt sich jedoch noch ein Weiteres feststellen: Wurden zunächst andere Autoren referiert und so deren Perspektive und Darstellungsverfahren übernommen, die zumindest in den ausgewählten Auszügen weitgehend auf antijüdische Verurteilungen verzichten, kommen nun die Gesprächsteilnehmer zu Wort, die mittels ihrer Kommentare nicht nur den theologischen Bezugsrahmen der Kompilation, sondern auch ihren moraldidaktischen Anspruch garantieren. Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die Konstruktionen des Jüdischen in Franciscis Lustiger Schau=Bühne Folgendes festhalten: Vorrangige Zielsetzung der Sammlung ist prodesse und delectare, was sich auch an den vorliegenden Auszügen zeigen lässt. Dient das Exempel vom Juden vor allem der Abwechslung und Illustration, wird mittels der Geschichte von Ahasver die Glaubwürdigkeit tradierter Überlieferung diskutiert und Wissen über Beschneidungsriten vermittelt, wobei die einzelnen Mayse wiederum der Illustration dienen. Franciscis Ziel,
418 Ebd., S. 276f. 419 Ebd., S. 278f.
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Kurzweil durch interessante Materien und Erkenntnisgewinn des Lesers durch Wissensentgrenzung und Wissenkomplexion420 zu erreichen, bestimmt auch die Darbietung jener Materien, die sich thematisch mit Juden und Judentum beschäftigen: So finden sich zwar antijüdische Verurteilungen, wie etwa ‚Blindheit‘, ‚Verstockung‘ und ‚Aberglauben‘, doch erscheint das Judentum vielmehr aufgrund seiner Andersartigkeit, seiner Exotik als interessant. Alterität wird dabei – vornehmlich im letzten Auszug – durch die Differenzmarkierung innerhalb der wenigen Kommentare der Gesprächsteilnehmer hergestellt, die den innerhalb der Referate kaum präsenten religiös-theologischen Bezugsrahmen und damit die eigene religiöse Identität sichern und zugleich die Materien legitimieren. An die Tradition von Harsdörffers Gesprächspielen knüpfte Johannes Lassenius mit seinen beiden in Gesprächsform verfassten Sammlungen Bürgerliche Reiss= und Tischreden und Adeliche Tischreden an. In diesen trifft sich eine homogene Gruppe – wohlhabende Kaufleute bzw. Adlige –, um in geselliger Runde sie betreffende Themen zu erörtern. Es bleibt jedoch nicht bei solchen und so wird auch „zu angenehmer Lust und dienender Ergötzlichkeit“421 konversiert.422 In den Bürgerlichen Reiss=und Tischreden verhandelt eine Gruppe von Kaufleuten auf einer Reise verschiedenste Themen – auch solche, die das Judentum betreffen: So kommt die Gesellschaft423 an einen Ort allwo [sich] lauter Juden auch aufhielten/ und allerhand Freyheiten von deß Orts Obrigkeit/ erhalten hatten/ um allda zu wohnen/ und jhren Handel und Wandel zu treiben. Aus welcher Gelegenheit Mons. Louys Ursache nahme zu fragen/ ob es auch recht wäre/ daß man die Juden unter sich duldete.424
420 So Meierhofer (wie Anm. 2), S. 215. 421 Johannes Lassenius: Bürgerliche Reiss= und Tischreden/ Jn zwölff nützliche und anmutige Gespräch/ abgetheilet. Darinnen nebenst denen zur Kauffmannschafft gehörigen Sachen und Eigenschafften/ derer ein Kauff= und Handelsmann/ so wol in seinem Handel/ als bürgerlichem Leben/ nicht wohl entrathen kann; Auch allerhand andere nutzlichte/ erbauliche und anmuthige Unterredungen geführet werden […]. Nürnberg 1662. 422 Zu den beiden Sammlungen vgl. einführend Philip M. Mitchell: Johann Lassenius und seine ‚Tisch-Reden‘. In: Virtus et Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hg. von Joseph P. Strelka, Jörg Jungmayr. Bern u.a. 1983, S. 544–556. 423 Die Gesellschaft setzt sich zusammen aus Don Sylvio, Signor Pietro, Monsieur Louys, Hernn Rosander und Herrn Hyastes. Bei dem vorliegenden Gespräch beteiligt sich Signor Pietro jedoch nicht. 424 Lassenius: Bürgerliche Reiss= und Tischreden (wie Anm. 421), S. 247.
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Es entwickelt sich ein Meinungsaustausch zwischen den Reisenden, wobei die Duldung der Juden jedoch nur den Ausgangspunkt des Gespräches bildet, der sich in zwei thematische Blöcke einteilen lässt. Zunächst dominiert eine moraldidaktische Erzählweise, wenn Don Sylvio, der als Gesprächsleiter fungiert, die Forderungen des Hyastes, Juden mit Gewalt zu begegnen,425 zurückweist und gottgefälliges Verhalten anmahnt: So geht er zwar davon aus, dass Juden Betrüger seien, doch müsse man sie „als abtrünnige und verführte Schafe/ zur Warheit und zum Liecht deß Evangelii“ führen.426 Dieses gelänge jedoch nur, wenn man als Christ selbst ein gutes Beispiel biete und sich eines frommen Lebenswandels befleiße. Damit gibt Don Sylvio den Deutungsrahmen vor: Das Judentum gilt ihm als Prüfstein für die christliche Gesinnung, ohne dabei jedoch von einer Verwerfung des Judentums als ungläubig abzuweichen. Dementsprechend will er, dass man so viel möglich ist/ keine sonderbare Gemeinschafft mit ihnen [habe]/ damit man sich jhres Glaubens und Boßheit nicht theilhafftig mache/ absonderlich aber wünsche ich/ daß die Christen der Jüdischen Gasterey sich enthielten/ und nicht mit ihnen/ jhre Speise und zugleich Gottesdienst vermischten.427
Angesichts eines Einwurfs von Herrn Rosander, der ihn darauf hinweist, dass einige Christen mit Juden feiern würden, zeigt sich Don Sylvio erbost und verbindet seine Angriffe auf die „so genannte Christen“428 mit antijüdischen Vorwürfen. Vor dem Hintergrund seiner Äußerungen dient das Judentum mithin vornehmlich, um verwerfliches Verhalten von Christen anzuprangern. Aus heilsgeschichtlicher Perspektive gilt es zwar, die Juden zum Christentum zu bekehren, dennoch warnt er vor alltäglichem Umgang mit ihnen, seien sie doch boshaft, verstockt und betrügerisch.429 Im zweiten thematischen Block wendet sich das Gespräch nun konkreteren Themen zu: dem Würfeleinfordern von Juden, den Unterschieden zwischen den zeitgenössischen und biblischen Bräuchen und Ritualen der Juden und ob die Juden dem Moloch tatsächlich ihre Kinder im Feuer geopfert hätten. Es erübrigt sich, im Einzelnen das Gespräch nachzuzeichnen, angemerkt sei jedoch, dass Don Sylvio auch hier wieder als Gesprächsleiter und Antwortgeber fungiert, die Funktion der anderen Gesprächsteilnehmer beschränkt sich auf die der Fragen-
425 426 427 428 429
Ebd., S. 248. Ebd. Ebd., S. 249. Ebd., S. 250. Vgl. ebd., S. 247, 251.
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steller. Auch wenn es vornehmlich um die Vermittlung interessanter Einzelaspekte, die nicht unbedingt direkt – so im Falle der Frage nach der Opferung für den Moloch – das Judentum betreffen, lassen sich dennoch einige Feststellungen machen: So wird das zeitgenössische Judentum gegen das des Alten Testaments abgegrenzt, wobei dem zeitgenössischen Judentum „Abgötterey“ und „Zerrüttung jhrer Gesetze“430 aufgrund beständiger Neuauslegung des Talmuds durch die Rabbiner vorgeworfen wird. Das zeitgenössische Judentum erscheint als Degeneration des alttestamentarischen Volkes Israels. Im Zentrum steht folglich die Vermittlung von Wissen nicht über das Judentum selbst, sondern vielmehr die Exegese des Alten Testaments. Auch wenn das Judentum innerhalb der Bürgerlichen Reiss= und Tischreden nur marginal präsent ist,431 kann man doch Folgendes festhalten: So erscheint das Judentum als Widerpart des Christentums, mehr aber noch will Don Sylvio seine Gesprächsteilnehmer – und den Rezipienten – zu gottgefälligem, christlichen Leben anleiten. Darüber hinaus werden aber auch profane und religiös begründete antijüdische Stereotype aufgegriffen, nicht nur um das zeitgenössische Judentum von jenem des Alten Testaments abzugrenzen, sie dienen vielmehr auch der Warnung vor dem Laster. Zusammenfassend ist die zentrale Zielsetzung – zumindest in den vorliegenden Auszügen – die Belehrung, ist Lassenius doch, neben der Popularisierung von Wissensgegenständen, um die Ausstellung von Tugend- und Verhaltensidealen bemüht. Abschließend sei noch kurz eine weitere Sammlung beleuchtet: Das Courieuse Caffee=Haus zu Venedig432 von Philipp Balthasar Sinold von Schütz, das zwischen Gesprächspielsammlungen und den späteren Moralischen Wochenschriften verortet werden kann.433 In „Wasser=Debauchen“, den periodischen Charakter der Sammlung betonend, eingeteilt, werden im Courieusen Caffee=Haus zum Teil in dialogischer Form Anekdoten aus der Welt der Soldaten, Abenteurer und der
430 Ebd., S. 253. 431 Auch in den „Adelichen Tischreden“ wird im Zuge einer Disputation um Cromwell auch das Judentum in Gestalt Menasse ben Israels kurz angesprochen. Vgl. Johannes Lassenius: Adeliche Tisch=Reden/ in sich begreiffende zwölff Lehrreiche/ nützliche und anmuthige Gespräch/Darinn bey Anführung mancherley Geschichten/ Gleichnüssen/und lehrreichen Sprüchen/ allerhand erbauliche Unterredungen/ von unterschiedlichen/ Absonderlich aber/ Deren heutiges Tages in der Welt gänglichen Sachen/vorgestellet […]. Nürnberg 1661, S. 236f. 432 [Philipp Balthasar Sinold, gen. von Schütz:] Das Courieuse Caffee=Haus zu Venedig/ Darinnen die Mißbräuche und Eitelkeiten der Welt/ nebst Einmischung verschiedener so wol zum Staat als gemein Leben gehörige Denwürdigkeiten/ vermittelste einiger ergötzlicher Assemblen von allerhand Personen/ vorgestellet/ Allen honetten und Tugendliebenden Gemüthern aber zu fernerem Nachsinnen übergeben. Die erste Wasser=Debauche. Freiburg 1698. 433 Vgl. dazu Frühsorge (wie Anm. 158), S. 199 und Böning (wie Anm. 344), S. 225, Anm. 668.
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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europäischen Höfe geboten und Moden, Sprachen, die galante und politische Welt wie auch Literarisches verhandelt. In der ersten „Wasser-Debauche“ erzählen sich ein Neapolitaner, ein Venetier und ein Deutscher verschiedene Geschichten, wobei auch belanglose Ereignisse als Anlass zur Präsentation der Anekdoten genutzt werden. Die drei Gesprächsteilnehmer machen schließlich einen Spaziergang und kommen unterwegs zu einem Sommerhaus, in dem eine Gesellschaft, bestehend aus einem holländischen Kapitän, einem spanischen Sprachlehrer, einer „vermeynte[n]“434 französischen Dame, einem italienischen Quacksalber und einem portugiesischen Juden, Bassetta spielt. Auffällig ist hier zunächst, dass das folgende Geschehen aus einer extradiegetischen Perspektive durch einen heterodiegetischen Erzähler berichtet wird; die drei Spaziergänger nehmen selbst nicht am Geschehen teil, diskutieren es jedoch im Anschluss. Damit verweist die formale Anlage der Erzählung auf die Schreib- und Erzählintention: Es werden, in diesem Fall kaum mit der Rahmenhandlung verbunden, dem Leser curiose Materien dargeboten, die als Anlass zur Diskussion verschiedenster Sachverhalte dienen, ja mehr noch: Der curiose Mensch zeigt sich an allem interessiert, auch an jenen Materien, die ihn in seiner unmittelbaren gesellschaftlichen Rolle gar nicht betreffen. Zur Erzählung selbst: Wie erwähnt, findet sich in einem Sommerhaus eine heterogene Gruppe zusammen, um Karten zu spielen. Die einzelnen Figuren sind dabei stets auf den eigenen Vorteil bedacht: So will der Jude die Christen betrügen und zugleich der Dame habhaft werden, die ihrerseits allein an dessen Geld interessiert ist. Der Kapitän und der Lehrer werden eifersüchtig, wollen doch auch sie die Gunst der Dame erlangen. Es kommt zu einer heftigen Prügelei, in deren Verlauf die Verkleidung der – vermeintlichen – Dame gelüftet wird und ein „Spitzbube“435 zum Vorschein kommt. Der Quacksalber schließlich zieht seinen Gewinn aus den Verletzungen des Juden. Satirisch verspottet werden hier die Torheiten der Liebe. Opfer des Spottes wird somit jedoch nicht nur der Jude, sondern auch der eifersüchtige Kapitän und der Sprachlehrer. Dennoch steht insbesondere der Jude im Fokus der Erzählung: Während die anderen als „verliebte Narren“436 bezeichnet werden, sei er ein „verliebte[r] Stinck=Bock“,437 der die Christen und sogar die angebetete Dame, mit beschnittenen Münzen betrügt. Lüsternheit und Geldgier sind mithin jene Eigenschaften, die die Figur auszeichnen, und für die er gestraft wird, wird ihm doch fast ein Ohr abgeschnitten und ein Galgen auf der Stirn eingeritzt. Sein Geld verliert er 434 435 436 437
von Schütz (wie Anm. 432), S. 46. Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. Ebd., S. 46.
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schließlich an den Quacksalber, dem er seine Salben teuer bezahlen muss. Aufgrund der hier vorgebrachten Stereotype sowie der satirischen Schreibart rückt die Erzählung funktional in die Nähe der hier schon besprochenen schwankhaften Erzählungen: Hier wie dort ist die jüdische Figur durch Stereotype gekennzeichnet und er wird zum Objekt des Spottes. Schon die Tatsache, dass jedoch nicht nur die jüdische Figur verspottet wird, sondern auch der Kapitän und der Sprachlehrer deutet an, dass hier nicht die Diffamierung des Judentums im Zentrum steht, sondern vielmehr die Verirrungen der Liebe. Dementsprechend endet die Episode auch mit dem Lachen der Spaziergänger, die die Torheiten der Liebe diskutieren. Interessanter aber als diese Erzählung ist der „Kommentar“ in der Sammlung Das Ausgefegte Caffee-Haus.438 In dieser Sammlung eines anonymen Verfassers wird das Caffee=Haus einer Kritik unterzogen, unter anderem auch die vorliegende Erzählung. So sei diese unglaubwürdig, da man zwar wol [wisse]/ daß die Portugesischen Juden ein geiles Volck seyen/ aber mehr als alle Völcker der Welt dieses Sprüchw. in Obacht nehmen. Si non casté saltem caute: wo nicht keusch jedoch behutsam.439
Ein Jude wäre nicht derart forsch aufgetreten, „dann sie seyen allzu listig und nachdencklich/ so förchten sie auch zu sehr die Straff/ sowol von ihrem als Christlichen Gericht“.440 Die Erzählung wird zurückgewiesen, da „die Umstände der Wahrheit nicht ähnlich gnug [sic] seyen“,441 sie wird dem Bereich der fabula zugewiesen und aufgrund ihrer mangelnden Faktentreue und damit Authentizität verworfen. Dennoch wird auch hier mit antijüdischen Stereotypen operiert: So seien Juden listig, feige und lüstern. In Bezug auf den vorgebrachten Vorwurf der Unwahrscheinlichkeit wird damit die Überzeugungskraft und Verbreitung von antijüdischen Stereotypen, die als Fakten erscheinen, bestätigt, wird doch auf ein bestehendes Stereotypenarsenal zurückgegriffen, das hinsichtlich seines Wahrheitsgehaltes unzweifelhaft erscheint und so die Wahrscheinlichkeit und damit Wahrheit des Erzählten garantieren soll.
438 [Anonym:] Das Ausgefegte Caffee-Haus zu Venedig/ Welches von des Authoris, der die Mißbräuche und Eitelkeiten der Welt zu reformiren/ und viel Staats- auch andere Merckwürdigkeiten zu beschreiben sich unterfangen hat/ Mucken/ Irrthumen und Schwachheiten gesäubert/ und dem Neubegierigen Leser zum Nutzen ist mitgetheilt worden […]. Freystadt [1699]. 439 Ebd., E4v. 440 Ebd. 441 Ebd.
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3.2.4 Exkurs: Wissen um den Aberglauben – Christoph Helwigs Übertragung des Maysebukhs Es wurde bereits mehrmals darauf verwiesen, dass es innerhalb der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts von Seiten christlicher Autoren zuweilen auch zu Übernahmen aus der jiddischen Erzählliteratur kommt. Eine Quelle dieser Erzählungen, genauer der Mayse,442 soll in dem folgenden Exkurs beleuchtet werden: Christoph Helwigs Übertragung des Maysebukhs. Das Maysebukh,443 eine Sammlung von Erzählungen, Sagen, Legenden und Gleichniserzählungen, war eines der populärsten jiddischen Bücher des siebzehnten Jahrhunderts und wurde schon bald nach dem Erscheinen der Baseler Erstausgabe 1602 von verschiedenen Hebraisten und Kompilatoren in ihre Werke einbezogen. So übernahm Johannes Buxtorf der Ältere in sein 1603 erschienenes Werk Synagoga Judaica444 eine Erzählung und auch Johann Andreas Eisenmenger445 sowie Johann Jacob Schudt446 beziehen sich auf einzelne Texte des Maysebukhs. Des Weiteren fügte Johann Christoph Wagenseil in seine Belehrung der Jüdisch-Teutschen Red- und Schreibart Übungsstücke aus diesem ein.447 Einem breiteren – christlichen – Publikum zugänglich wurde das Maysebukh jedoch durch die Übertragung ins Deutsche durch Christoph Helwig.448 Vermittelt über
442 Zum Begriff „Mayse“, „Ma’asse“, „Maa’seh“ oder „Ma’ase“ vgl. Erika Timm: Zur Frühgeschichte der jiddischen Erzählprosa. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 117 (1995), S. 243–280, insb. S. 246–249 und Lucia Raspe: Jüdische Hagiographie im mittelalterlichen Aschkenas. Tübingen 2006 (Text and Studies in Medieval and Early Modern Judaism, Vol. 19), S. 50–55. Ich verwende im Folgenden die Variante „Mayse“. 443 Un beau livre d’histoires. Eyn shön Mayse bukh. Fac-similé de l’editio princeps de Bâle (1602). Traduction du yiddish, introduction et notes par Astrid Starck. 2. Bde. Basel 2004 (Schriften der Universitätsbibliothek Basel 6). 444 Buxtorf (wie Anm. 410), S. 116. 445 Johann Andreas Eisenmenger: Entdecktes Judenthum oder Gründlicher und wahrhaffter Bericht welchergestalt die verstockten Juden […] lästern und verunehren […]. [Frankfurt a.M. 1700], S. 30, 311, 513–515, 535f. 446 Schudt (wie Anm. 239), S. 263, 338, 367, 407–409, 441–444. 447 Johann Christoph Wagenseil: Belehrung der Jüdisch-Teutschen Red- und Schreibart […]. Königsberg 1699, S. 324–328. Zur Rezeption des „Maysebukhs“ durch christliche Hebraisten vgl. die Angaben bei Nathanael Riemer: Unbekannte Bearbeitungen des Ma’assebuches. In: JiddistikMitteilungen 38 (2007), S. 1–23 sowie Ders.: Stories of the Ma’aseh Book (Maysebook) in the Scriptures of Christian Hebraists (Version 1, November 2007). In: Publikationsserver der Universität Potsdam. http://opus.kobv.de/ubp/volltexte/2007/1549/. Stand: 02. März 2009. 448 Christoph Helwig: Jüdische Historien/ Oder/ Thalmudische/ Rabbinische/ wunderbarliche Legenden/ so von den Jüden als warhafftige und heylige Geschicht/ an ihren Sabbathen und Feyertagen gelesen werden. Darauß dieses verstockten Volcks Aberglauben und Fabelwerck zu
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diese Übersetzung sowie Buxtorfs Synagoga Judaica erhielten die Mayse dann auch Eingang in christliche Erzählsammlungen: So findet sich in der Lustigen Schaubühne449 eine über Buxtorf vermittelte Erzählung, im Viridarium Historicum450 sind es drei durchaus umfangreiche Textübernahmen und auch die Brüder Grimm rezipierten die Übertragungen Helwigs für ihre Kinder- und Haus-Märchen.451 Schon diese kurze Aufstellung von Rezeptionszeugnissen zeigt das Interesse an jüdischer Literatur auf christlicher Seite. Auf den offensichtlich großen Anklang bei christlichen Lesern lässt auch die zweite Ausgabe der Jüdischen Historien schließen, die bereits 1617 erschien. Doch wie begründet sich dieses Interesse? Wohl nicht allein in der Wissbegierde christlicher Gelehrter, die sich über jüdische Riten und Bräuche informieren wollten, sondern es scheint, dass auch christliche Leser an den Geschichten Vergnügen fanden.452 Darüber hinaus muss man aber auch von einem Austausch zwischen christlicher und jüdischer bzw. jiddischer Literatur ausgehen, rezipierte und übersetzte doch beispielsweise die altjiddische Literatur im sechzehnten Jahrhundert deutsche Romane, wie etwa Die schöne Magelone. Es soll und kann in diesem Rahmen nicht weiter auf Interdependenzen zwischen deutscher und jüdischer Literatur eingegangen werden,453 vielmehr wird anhand der Übersetzung des Maysebukhs der Frage nachgegangen, wie die Aufnahme dieser Erzählungen legitimiert und gerechtfertigt wurden. Dementsprechend werden im Folgenden zunächst Helwigs Jüdische Historien beleuchtet, wobei jedoch auf die
ersehen […]. Gießen 1611. Zitiert wird nach der Ausgabe Erster vnd Ander Theil Jüdischer Historien. Oder Thalmudischer/ Rabbinischer/ wunderbarlicher Legenden/ so von den Jüden als warhafftige und heylige Geschicht/ an ihren Sabbathen und Feyertagen/ gelesen werden. Darauß dieses verstockten Volcks Aberglauben und Fabelwerck zu ersehen […]. Gießen 1617, die um einen zweiten Teil ergänzt wurde. 449 [Francisci:] Der lustigen Schau=Bühne mancherley Curiositäten Dritter Theil (wie Anm. 408), S. 263f. 450 [Gottfried Händel:] Viridarium Historicum das ist Historischer Lustgarten/ aus welchem Anstatt heilsamer/ frischer Menschen und Vieh erquickender Gewächse/ hundert außerlesener Geist= Hertz und Gemüth erfreuender Geschichte […] hervor kommen/ […]. Nürnberg [ca. 1670]. 451 Vgl. Riemer: Unbekannte Bearbeitungen des Ma’assebuches (wie Anm. 447), S. 1, Anm. 3. 452 Dies vermutet auch Zeller in ihrer Rezension. Rosmarie Zeller: Un beau livre d’histoires. Eyn shön Mayse bukh. Fac-similé de l’editio princeps de Bâle (1602). Traduction du yiddish, introduction et notes par Astrid Starck. 2. Bände. Basel: Schwabe Verlag 2004 [Rezension]. In: MorgenGlantz 15 (2005), S. 340–342, hier S. 341. 453 Vgl. zur Aufnahme von Prosaerzählungen nicht-jüdischer Herkunft in die jüdische Literatur Timm (wie Anm. 442), S. 243–280, insbesondere S. 250; Jakob Meitlis: Das Ma’assebuch. Seine Entstehung und Quellengeschichte. Zugleich ein Beitrag zur Einführung in die altjiddische Agada. Berlin 1933, S. 1–12 sowie weiter Martin Przybilski: Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Berlin, New York 2010 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichtliche 61).
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einzelnen Mayse nicht näher eingegangen wird, sind doch vielmehr die Begründungsstrategien interessant, die Helwig in der Vorrede bietet, um die Lektüre von christlicher Seite aus zu rechtfertigen. Im Anschluss sollen ausgewählte Mayse, die in christliche Kompilationen Eingang fanden, näher beleuchtet werden.454 Zunächst zu Helwigs Jüdischen Historien: Helwig diente als Quelle seiner Übertragung455 die Baseler Erstausgabe von Jakob bar Abraham bei Konrad Waldkirch von 1602. Von den bei Helwig gebotenen 103 Erzählungen, stammen 75 aus dem Maysebukh Abrahams.456 Während im ersten Teil die einzelnen Erzählungen unkommentiert abgedruckt werden, ist im zweiten Teil jeder Erzählung ein notae angehängt, das die vorhergehende Erzählung kritisch kommentiert und eine Lehre ableitet.457 Jedem der zwei Teile ist eine Vorrede in Form einer Widmung vorangestellt, die im Folgenden einzeln analysiert werden sollen, um so die Argumentationsstruktur sowie die Legitimierungsstrategien aufzeigen zu können.
454 Vgl. zum „Maysebukh“ auf das in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden soll: Meitlis (wie Anm. 453); Timm (wie Anm. 442); Moses Gaster: Ma’aseh Book. Book of Jewish Tales and Legends. Translated from the Judeo-German. Vol. 1. Philadelphia 1934, S. XVII–XLIII; Arnold Goldberg: Form und Funktion des Ma’ase in der Mischna. In: Frankfurter Judaistische Beiträge 2 (1974), S. 1–38; Helmut Dinse: Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet. Stuttgart 1974; Astrid Starck-Adler: Das „Maysebukh“ (1602). Die Frau und die jiddische Literatur im europäischen Kontext. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Hg. von Jean-Marie Valentin. Band 2: Jiddische Sprache und Literatur in Geschichte und Gegenwart – Niederlandistik zwischen Wissenschaft und Praxisbezug – Alteritätsdiskurse in Sprache, Literatur und Kultur der skandinavischen Länder. Bern u.a. 2007 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 78), S. 13–18; Dies.: Mayse-Bukh et Métamorphose. In: Bulletin du CRFJ 8 (2001), S. 49–68; Josef Bamberger: „Weiblicher Geschmack“ und männlicher Erwartungshorizont in der Jiddischen Literatur des 16. Jahrhunderts. In: Aschkenas 14 (2004), S. 469–484 sowie Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 220–223 und vor allem Astrid Starck: Traduction (wie Anm. 443), S. 9–74. 455 Helwigs „Jüdische Historien“ müssen als „Übertragung“ bezeichnet werden, da er nicht das „Maysebukh“ übersetzt, sondern die Erzählungen in abweichender Reihenfolge bringt und sie mit Texten aus anderen Quellen ergänzt. 456 Zu den Quellen Helwigs und der Anordnung der einzelnen Texte, die sich nicht nach der des „Maysebukhs“ von 1602 richtet, vgl. Nathanael Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (1581–1617) and the translation of Jewish stories in his work “Juedische Historien”. In: European Journal of Jewish Studies 5 (2011), S. 71–104, hier S. 85–99. Ich danke Herrn Dr. Nathanael Riemer, Potsdam, herzlich für die freundliche Überlassung des deutschsprachigen Manuskripts (Der christliche Hebraist Christoph Helwig [1581–1617] und seine Übertragung jüdischer Erzählungen in den „Jüdischen Historien“). 457 Riemer vermutet, dass die Unterschiede zwischen dem ersten und zweiten Teil der „Jüdischen Historien“ vor allem auf den Termindruck im Vorfeld der Frankfurter Messe 1611 zurückzuführen sind. Vgl. Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 80.
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Bereits zu Beginn der ersten Vorrede wird das Bestreben deutlich, das Vorhaben der Übertragung zu erläutern und legitimieren: So verweist Helwig darauf, dass „nichts so böse [sei]/ das nicht zu etwas könne gut seyn“.458 Bereits hier lassen sich die wesentlichen Elemente von Helwigs Argumentation ausmachen: Zum einen, ausgehend von der Klassifizierung der Mayse, die Diffamierung und Diskreditierung des Judentums, zum anderen das Bestreben, der Übertragung dieser einen Nutzen zuzuschreiben, der für ihn wiederum im Erweis des ‚Aber- und Unglaubens‘ des Judentums besteht. Entlang dieser Argumentationslinien, die immer wieder eng geführt werden und sich gegenseitig ergänzen, ist die erste Vorrede aufgebaut. So rechtfertigt er im weiteren Verlauf zunächst die Übertragung der „Jüden Fabeln“459 – schon der Titel betont ja das aus Helwigs Sicht Abstruse und Wahnhafte der jüdischen Erzählungen –, sieht er sich doch genötigt, der Frage zu begegnen, warum der christliche Leser sich für solche ‚Lügen‘ interessieren sollte, „denn möchte jemand sagen/ was gehet mich an/ was die Jüden gläuben/ was gibt vnnd nimpt mirs“?460 Denn tatsächlich würden die Mayse nicht nur „alber[n]“ und „lächerlich“461 sein, es wäre vielmehr „wol am besten/ dass sie nie erdacht oder geschrieben weren/ oder so bald verbrennet worden“.462 Angesichts dieser Polemik wirkt die nachfolgende Rechtfertigung jedoch nur wenig überzeugend: Gleichwol aber/ weil dieses nicht ein geringe Straff Gottes ist an dem verstockten Volck/ dass sie nunmehr solchen greifflichen Lügen gläuben/ vnnd gleichsam vor Heiligthumb halten/ demnach sie die himmlische Warheit von sich gestossen vnnd gelästert/ auch noch täglich lästern: Kan [sic] es nicht schaden/ dass man/ Gottes gerechtes Gericht desto besser zu erkennen/ vnnd daran sich zu stossen/ an Tag bringe solche jhre Blindheit vnd Lügen: Sonderlich weil sie nicht eben gern sehen/ dass Christen vmb solche vnnd dergleichen Sachen Wissenschaft haben/ ob sie es schon nicht bey sich kommen lassen wollen.463
Gerechtfertigt wird die Übertragung der jiddischen Erzählungen folglich mit dem Bestreben, die ‚Blindheit‘ und ‚Verstockung‘ der Juden zu offenbaren. Gestützt wird diese Argumentation nicht nur mittels religiös begründeter Vorwürfe (Blindheit, Verstockung und Gotteslästerung), sondern vor allem auch mit dem Vorwurf der Verschwörung, erscheint es angesichts des angeblichen Versuchs von Seiten der Juden, ihre „Sachen“ geheim zu halten, doch geradezu als Pflicht, diese zu erwei-
458 459 460 461 462 463
Helwig: Jüdische Historien, I (wie Anm. 448), Aijr. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Aijv. Ebd.
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sen, um „Gottes gerechtes Gericht desto besser zu erkennen“.464 Insgesamt – darauf verweist auch Riemer – erscheint die Rechtfertigung der Übertragung jedoch inkonsistent.465 So bringt Helwig bei der Angabe anderer Motive auch keine weitergehenden Erläuterungen vor, sondern vielmehr topoihafte Begründungen: So seien ihm eine Reihe solcher „Fabeln“ bereits bekannt gewesen, bis er ein „eigen Buch solcher Legenden“466 erhalten habe, das „selbst auß vnterschiedlichen Büchern gemacht“ sei, und welches er „auf anregen guter Freunde“ in „recht Teutsch […] gesetzt“ habe, gilt ihm das Jiddische doch aufgrund der „vmbschweifenden vnformlichen Reden“467 als ‚undeutsch‘ und unverständlich. Das Jiddische wird somit deutlich negativ konnotiert. Im Hinblick auf die zitierte Textstelle lässt sich weiter Folgendes feststellen: So bezeichnet Helwig die Mayse ausschließlich als „Fabeln“ und „Lügen“, die die Juden jedoch für „Historien“ und damit für „wahrhafftig[..]“468 hielten. Doch nicht nur das: Sie hielten diese „gleichsam vor Heyligthumb“. Belegt wird diese Annahme nicht nur mit dem Verweis, dass ‚getaufte Juden‘ dieses berichtet, sondern auch mit einer Definition des Begriffes „Maasaeh“: So hieße Mayse „kein Fabel/ sondern ein Geschicht“,469 Gleichnisse oder Fabeln hießen hingegen „Maschal vnnd nicht ein Masaeh/ wie in Bereschith Rabba“470 und anderen Midrashim. Dennoch handele es sich bei den Mayse um „Lügen“ und „Fabeln“, also um fabula und nicht historia, womit er die Gattungsmerkmale des Mayse – Faktizitätsanspruch, relative Zeitgeschichtlichkeit (zumindest im Moment des Entstehens) und Personenbezogenheit471 – in ihr Gegenteil verkehrt. Dies mag sich in Unkenntnis über wesentliche Aspekte des Judentums begründen, wichtiger aber erscheint, darauf hat Riemer verwiesen, dass Helwig die Definition von Mayse und Mashal dazu dient, das Judentum als leichtgläubig zu diskreditieren und dem Leser ein verzerrtes Bild des Judentums zu vermitteln.472 Im Anschluss überträgt Helwig den Titel des Maysebukhs ins Deutsche, um dem Leser zu veranschaulichen, „wie sie von dem Buch vnd Fabeln sehr hoch halten“.473 Darüber hinaus gibt ihm dieser aber auch Gelegenheit, nochmals gegen
464 465 466 467 468 469 470 471 472 473
Ebd. Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 82–84. Helwig: Jüdische Historien (wie Anm. 448), I, Aijv. Ebd., Aiijr. Ebd., Aijr. Ebd. Ebd., Aiijef. Vgl. dazu Raspe (wie Anm. 442), S. 49f. So Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 83f. Helwig: Jüdische Historien, I (wie Anm. 448), Avr.
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das Judentum zu polemisieren, wenn er den Juden mangelnde Heiligung des Sabbats vorwirft.474 Angesichts dieser Diffamierung des Judentums und insbesondere der Abwertung des Maysebukhs bedarf die Übertragung aus christlich-frommer Perspektive einer Rechtfertigung, sodass Helwig am Ende der Vorrede nochmals seine Zielsetzung erläutert: Solches nun ist nit allein vndienlich/ daß es die Christen wissen/ nicht allein die auff Vniversiteten studieren/ sondern auch ins gemein alle/ welche nur so viel Zeit dran wenden wollen/ jhre Blindheit zu erfahren.475
Innerhalb dieser Argumentationsmuster bewegt sich auch die Vorrede zum zweiten Teil: Die Mayse seien „Mährlein“, die von den Juden für „glaubwirdige Historien“ gehalten werden und aus diesem Grund bei den Christen Spott provozieren würden.476 Darüber hinaus bestätigten die Mayse die Juden in ihrem ‚Aberglauben‘ und ihrer ‚Blindheit‘. Des Weiteren trügen aber auch die Rabbiner große Verantwortung für das Verharren der Juden in ihrem ‚Unglauben‘, hielten sie doch jedes Wort der Rabbiner, die einander aber widersprechen, für das Wort Gottes.477 Die Vorwürfe gegen letztere gipfeln schließlich in einer das gesamte Judentum einbeziehenden Polemik: […] denn es ist ein Hochmüthig Volck vnd tregt einen heimlichen vbermachten [sic] Stoltz bey sich im Hertzen/ weil sie allein vom Geblüt Abraham vnd Gottes Volck seyn wollen/ vnd halten alle/ so nit Jüden seynd/ vor verflucht vnnd verdampt/ wie sie dessen auß jhren eigenen Rabbinen können vberzeugt werden/ wie sehr sie es auch läugnen. Dannenheri sie die Nase hefftig rümpffen/ wenn man ihn [sic] vermeyntes Heyligthumb verachtet/ vnd wenn die Flüche/ welche sie im Herzten wider vns schöpffen/ alle solten ergehen/ würde fürwar keiner den morgenden Tag erleben […].478
Stärker noch als in der ersten Vorrede werden hier antijüdische Vorwürfe (Christenhass, Verschwörung und Hochmut) vorgebracht – bestätigt werden sie durch ‚Zeugen‘ wie Ernst Ferdinand Heß oder Christian Gerson, zum Christentum konvertierte Juden, die ihrerseits antijüdische Polemiken herausgaben479 –, die das Projekt einer Übertragung des Maysebukhs wiederum fraglich erscheinen lassen.
474 475 476 477 478 479
Ebd. Ebd., Avv. Helwig: Jüdische Historien, II (wie Anm. 448), Aijr. Ebd., Aijvf. Ebd., Aiijvf. Vgl. oben, S. 87f.
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So ist ein unmittelbarer Nutzen für den christlichen Leser – jenseits des Erweises des jüdischen ‚Aberglaubens‘ – kaum erkennbar: Weder auf den unterhaltenden noch den erbaulich-belehrenden Charakter der Erzählungen wird verwiesen, noch auf das Bestreben, die Mayse für eine systematische Wissensvermittlung über das Judentum nutzbar zu machen.480 Dennoch kann insbesondere der letzte Punkt, die – nicht systematische, aber unterhaltsame – Vermittlung von Wissen, als ein, wenn auch eben nicht explizit formuliertes – dem widerspricht die verzerrende Definition des Mayse – Anliegen Helwigs gelten: Wir wöllen unter dessen ein wenig besehen jre Tandmährlein/ davon sie vns nicht verdencken werden. Denn es ist ie bräuchlich daß man stattliche Palläst/ Gebäw/ oder sonsten was köstlich vnd denckwürdig ist/ besihet/ vnd sich damit belustiget/ so werden sie auch vns nit missgönnen/ wenn wir ihr H. Gaukelspiel vnnd andächtiges Fabelwerck besichtigen/ welches sie noch vbrig haben von jrem Königreich/ darauff sie so hoch pochhen vnd trotzen/ auch wider auffzurichten gedencken. Zu dem Ene/ hab ich mich vor eim halben Jahr vnternommen ein Jüdische Legendenbüchlein in teutsch zu verfertigen/ darauß man etlicher Massen dieses Volcks hartneckige abergläubische Blindheit zu erkennen hett […].481
Helwig verortet hier mit dem Verweis auf zu beschauende Paläste, Gebäude und allgemein denkwürdige Sachen und Begebenheiten die Jüdischen Historien innerhalb der Kompilationsliteratur, die dem Leser merkwürdige Materien zur Unterhaltung und Bildung bot. Insofern können die Jüdischen Historien – darauf verweist Riemer – als frühe Form dieser Kuriositätenliteratur gelten,482 will Helwig doch den Leser mittels der ‚Fabeln‘ der Juden unterhalten und zugleich ihren ‚Aberglauben‘ erweisen – das Werk dient mithin ebenfalls – wie schon die im vorangehenden Kapitel diskutierten Texte und Sammlungen – dem prodesse und delectare. Zugleich zielt Helwig mit seiner Übertragung vornehmlich auf die Diskreditierung und Diffamierung des Judentums ab – darauf verweisen die zahlreichen antijüdischen Invektiven, die im weiteren Verlauf der Vorrede folgen. So hinderten „solch Gedicht“483 die (erwünschte) Bekehrung von Juden zum Christentum, da sie durch die Mayse „in jhrem Aberglauben gehalßstarriget werden“.484 Im Folgenden äußert sich Helwig noch kurz zum Entstehungsprozess des zweiten Teils der Jüdischen Historien sowie zu dessen Aufbau: So wird jede Erzählung um kurze „notis“ ergänzt, 480 481 482 483 484
So Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 83f. Helwig: Jüdische Historien, II (wie Anm. 448), Aiiijrf. Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 81. Helwig: Jüdische Historien, II (wie Anm. 448), Aiiijv. Ebd.
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darbey man sehen man [sic] die Rabbinen in jhren Lügen wol köndt ertappen/ vnnd den Jüden zeigen/ auff was schendlich Lügenwerck sie von jhren Rabbinen geführet werden/ wenn es werth wer/ die Zeit damit zu verliehren.485
Die einzelnen Erzählungen dienen folglich nicht nur der Bildung und Unterhaltung des christlichen Lesers, sondern auch, um den Juden „ihr Lügenwerck für die Nasen [zu] legen“.486 Dementsprechend gestalten sich, wie Riemer darlegt, die Kommentare: Meist werden einzelne Gesichtspunkte herausgegriffen und diese dann zu wesentlichen Aspekten des Judentums erklärt. Gegen diese werden dann wiederum logische Argumente angeführt, um sie lächerlich zu machen, oder sie werden mit Bibelversen oder christlichen Lehren konfrontiert, um die ‚Verstockung‘ und ‚Blindheit‘ der Juden zu belegen.487 Helwigs Übertragung der jiddischen Erzählungen zielt mithin auf die Diffamierung des Judentums ab. Dem folgt auch die Argumentationsstrategie innerhalb der beiden Vorreden, wird doch immer wieder darauf verwiesen, dass es sich bei den Erzählungen um „Fabeln“ und „Lügen“ handele und keineswegs um Historien, also historisch bezeugtes Geschehen, wie die Juden glauben würden. Diese werden somit als leicht- und abergläubisch diffamiert – ein Verfahren, das sich insbesondere auch in den Kommentaren der Erzählungen zeigt. Darüber hinaus sind die Vorreden gespickt mit zahlreichen antijüdischen Vorwürfen. Angesichts dieser scharfen Verurteilung des Judentums erscheinen jedoch die Argumente, mit denen Helwig die Übertragung zu legitimieren sucht – Erweis des ‚Aberglaubens‘ der Juden, Offenbarung ‚geheimer‘ Aspekte des Judentums, Unterhaltung und Bildung des christlichen Lesers –, als wenig tragfähig. Insofern ist mit Riemer zu vermuten, dass sich Helwig mit der beständigen Betonung des ‚Aberglaubens‘ der Juden nicht zuletzt vor dem Vorwurf des ‚Judaisierens‘ schützen wollte.488 Dennoch – und das ist im Rahmen dieser Arbeit wichtiger, als der Erweis des Antijudaismus Helwigs – macht er durch seine Übertragung der Erzählungen möglich, diese auch in andere Sammlungen zu übernehmen. Dies bedingt sich wohl vor allem in dem Verweis auf die Kuriositätenliteratur, ist damit doch bereits hier eine Legitimationsstrategie angelegt, die auch von späteren Kompilatoren
485 Ebd. 486 Ebd., Avr. Die Vorrede schließt schließlich mit einem Lob des Johannes Burchard Voltz, dem diese gewidmet ist, sowie dessen Vaters und Großvaters, auf das hier nicht eingegangen werden soll. 487 So Riemer: The Christian Hebraist Christoph Helwig (wie Anm. 456), S. 84f. 488 So ebd., S. 84, Anm. 45. Riemer bezieht sich jedoch auf die Kommentare der einzelnen Erzählungen.
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übernommen wird: Die Bildung des Lesers. Damit soll freilich nicht suggeriert werden, dass sich die späteren Kompilationen ausschließlich auf Helwig als Vermittler der Mayse berufen – als Quelle dient vor allem auch Buxtorf – oder es vor Helwig keinen Transfer zwischen jüdischer und christlicher Literatur gab. Es soll vielmehr darauf verwiesen werden, dass Helwig jenseits seiner Polemik gegen das Judentum die Erzählungen gerade durch die Verortung seiner Sammlung auch für christliche Autoren und das christliche Publikum interessant machte, sodass es in der Folge zur, wenn auch marginalen, Übernahme von Mayse in Kompilationen christlicher Autoren kam. Helwig liefert hier mit seiner Sammlung mithin ein konstitutives Moment innerhalb der Vermittlung jüdischer Literatur, werden doch hier Argumente vorgegeben, die die Übertragung und die Weitervermittlung der Erzählungen rechtfertigen, sodass es dieser später kaum noch bedarf. Beispielhaft seien abschließend einige wenige Sammlungen kurz angeführt, die unter anderem auch Mayse vorstellen. Auf das Mayse innerhalb der Lustigen Schau=Bühne wurde bereits eingegangen: Hier dient die Erzählung – wie bei Helwig – dem Erweis des ‚Aberglaubens‘ der Juden, aber auch der Illustration und Abwechslung innerhalb der Darstellung von Wissensgegenständen.489 Bevor eine weitere Sammlung beleuchtet werden soll, die ebenfalls Mayse vorstellt, sei noch auf Quirsfeld Historisches Rosen=Gebüsche und Zeisselers Neu=eröffneter Historischer Schauplatz verwiesen, die zwar keine Mayse bieten, aber vor allem im Hinblick auf die Strategien der Rechtfertigung mit Helwig und auch Francisci vergleichbar sind. Quirsfelds Historisches Rosengebüsche490 ist angelegt als eine Fortsetzung von Laurembergs Acerra Philologica und zeichnet sich wie die späteren Ausgaben der Acerra durch eine Tendenz zum Curiosen aus. Die Sammlung soll jedoch nicht nur die Wissbegierde des curiosen Lesers stillen, sondern zugleich auch als Spiegel guter und böser Sitten, als allgemeine und praktische Tugendlehre dienen. Dieses Bestreben zeigt sich auch, wenn die Messiaserwartung der Juden verhandelt wird. So werden den Ausführungen, Quirsfeld bezieht sich hier auf Buxtorfs Synagoga Judaica, einleitende Bemerkungen vorangestellt, in denen unter Rückgriff auf die bekannten Stereotype von der ‚Verworfenheit‘ und ‚Verblendung‘ der Juden das Folgende gerechtfertigt wird. Es sind die gleichen Argumente, die auch bei Helwig angeführt werden: So will der Verfasser anhand
489 Siehe oben, S. 147f. 490 Johann Quirsfeld: Historisches Rosen=Gebüsche/ Oder der so genannten Acerrae Philologicae: Bestehend in Drey Lehr= und Lust=Gängen/ Deren jeder hundert auserlesene/ alte und neue Historien/ anmuthige Geschichte/ nützliche Lehren und merkwürdige Discursen/ so wol von Geistlich= als Politisch= und natürlichen Dingen/ welche bishero noch wenig in teutscher Sprache bekannt gewesen/ in sich hält […]. Nürnberg, Altdorf 1689, S. 243–264.
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dieses „recht närrisch[en] Fabelwerck[s]“491 den ‚Unglauben‘ der Juden erweisen. Die einzelnen Ausführungen zu den zehn Zeichen, die dem Kommen des Messias vorangehen, und den zehn Tröstungen sowie die zwei „Fabeln“492 werden jeweils referiert, jedoch um Kommentare ergänzt, die in Verkehrung älterer Traditionen des Judentums dieses als leichtgläubig diffamieren sollen. Eine ganz ähnliche Rechtfertigungsstrategie findet sich im Neu=eröffneten Historischen Schauplatz,493 wenn über den „Jrrthum der Jüden von dem Meßia“ berichtet wird: Auch hier gilt es, die „närrischen Fabeln“494 der Juden zu offenbaren. Ein weiteres – außerordentliches – Beispiel für die Aufnahme von Mayse ist die Sammlung Viridarium Historicum von Gottfried Händel. Diese beinhaltet hundert belehrende Historien, die jeweils mit moralisierenden Vierzeilern abgerundet werden. Unter diesen Historien findet sich auch Der rare Wünschelring, Der wieder aus dem Paradieß gekommene Jud und Der die Schaff verstehende Rabbi.495 Während es bei Helwig und bei Francisci noch dem Verweis auf den Nutzen dieser Erzählungen bedurfte, werden hier die Mayse lediglich mit der Angabe der Quelle abgedruckt und auch die moralisatio bezieht sich nicht auf das Judentum als Religion oder die Juden als Minderheit innerhalb der Gesellschaft, sondern es wird aus der Erzählung eine Lehre abgeleitet, die sich allgemein auf Tugenden und Laster bezieht.496 Auch wenn hier wiederholt auf göttliches Wirken verwiesen wird, wird dennoch weder in der moralisatio noch innerhalb der Erzählung selbst eine Differenz zwischen Juden- und Christentum hergestellt, sodass die
491 Ebd., S. 243 492 Ebd., S. 624. 493 Christoph Zeisseler: Neu=eröffneter Historischer Schauplatz/ Vorstellend Hundert auserlesene Historien/ unterschiedener denckwürdiger Begebenheiten/ aus vielen Autoribus mit Fleiß zusammen getragen […]. Leipzig 1695, S. 31–33. 494 Ebd., S. 31 495 Händel (wie Anm. 450), Axr-Ciijr, Kr-Kijr, Mxijr-Nr. 496 Vgl. die jeweiligen Lehren: Boßheit bleibt nicht ungerochen Wer auf solche viel wil pochen/ Der wird endlich werden inner Daß Gott strafft das böß Beginnen. (Ebd., Ciijvf.) Die sich von der Warheit kehren Hindan setzen Gottes Lehren/ Und mit Lust die Fabeln hören/ Die pflegt Gott auch zu bethören. (Ebd., Kijr) Wer glaubet daß die Schafe reden/ Der ist einer von den Blöden. Dem und andern seines gleichen/ Man muß scharffe Nießwurtz reichen. (Ebd., Nr)
3.2 Curiöses: Das Judentum als Objekt der Neugierde
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Erzählungen sowohl Christen als auch Juden vornehmlich unterhalten, aber auch belehren. Die Sammlung Viridarium Historicum stellt damit nicht nur durch den Verzicht auf antijüdische Verurteilungen, sondern vor allem auch durch die Absenz einer Rechtfertigung für das Vorbringen solcher Materien eine Ausnahme dar. Dennoch ist sie zugleich ein Beleg für die Bedeutung des Curiösen, können doch gerade im Verweis auf sie unterschiedlichste Materien zur Darstellung gebracht werden, die nicht eben nicht mehr – wie etwa bei Helwig, Francisci und Quirsfeld – moraldidaktischer oder religiös-theologischer Rechtfertigungen bedürfen.
4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts Wie im vorangegangen Kapitel deutlich wurde, ist die Bandbreite der Prosadichtung im siebzehnten Jahrhundert groß – im Folgenden soll nun der Roman im Fokus stehen, der selbst kaum in den Poetiken des siebzehnten Jahrhunderts reflektiert wurde und insgesamt weniger normiert war als andere Gattungen, wie etwa die Tragödie. Darüber hinaus war die Verbreitung der Romane im siebzehnten Jahrhundert noch relativ gering, waren diese meist umfangreichen Werke doch exklusive Produkte in einer mehrheitlich illiteraten Gesellschaft. Des Weiteren ist es inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden, dass sich der deutschsprachige Roman des siebzehnten Jahrhundert kaum auf eine nationale Tradition berufen kann und vielmehr als europäisches Phänomen begriffen werden muss, orientierten sich doch auch die seit der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts veröffentlichten „Originalromane“1 an europäischen Romanformen und nicht an den deutschsprachigen Prosaromanen des sechzehnten Jahrhunderts. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl der hier zu beleuchtenden Romane wider und so stehen neben Happels Geschicht-Romanen und dem ersten heroischen Roman, Bucholtz’ Herkules, auch zwei Übersetzungen aus dem Französischen im Fokus: Die zum Christenthum neubekehrte Jüdin, oder verliebte und abgefallene Josebeth und Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes seltsame Liebes=Geschichte. Darüber hinaus wird auch der satirische Roman berücksichtigt, vertreten durch Grimmelshausens Wunderbarliches Vogelnest Zweyter Theil. Die Auswahl bedingt sich wiederum in dem Versuch, ein möglichst breites Spektrum von Konstruktionen des Jüdischen abbilden und analysieren zu können, mithin verschiedene Formen des Romans zu berücksichtigen und so Gattungslizenzen, die die Verhandlungen des Jüdischen bestimmen, in den Blick zu nehmen.
4.1 „Romanische Außzierungen/ und […] warhaffte Geschichten“: Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels Wenn Eberhard Werner Happels Romane hier am Anfang stehen, so bedingt sich dies vor allem in der schon angedeuteten Nähe zwischen den Relationes
1 Ernst Weber, Christine Mithal: Deutsche Originalromane zwischen 1680 und 1780. Eine Bibliographie mit Besitznachweisen. Berlin 1983.
4.1 Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels
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Curiosae und den Geschicht-Romanen:2 Ebenso wie Happels Relationes sind auch die Romane kompilatorisch angelegt, hier wie dort ist die leitende Absicht die Wissensvermittlung und so nutzt er in den Geschicht-Romanen die Romanform, um unterschiedlichste Wissensbereiche in „wol=erfundenen Liebes= und Helden=Geschichte[n]“ unterhaltsam aufzubereiten. Das Heliodor-Schema der Trennungs- und Bewährungsgeschichte dient ihm, so Gelzer, dabei jedoch nicht zum Spannungsaufbau, sondern bildet vielmehr die Klammer, die bisweilen sehr umfangreichen Wissensgegenstände zu verbinden und in eine zusammenhängende Form zu bringen.3 Zusammengestellt werden Berichte über aktuelle und historische Ereignisse, Beschreibungen von Ländern hinsichtlich ihrer Kultur, Sitten, Geographie, Ethnographie, Ökonomie und Populärwissenschaftliches – kurz: alle berichtenswerten Materien, sodass Happel sogar seine Leser auffordert, ihm interessante Texte zuzusenden.4 Darüber hinaus dienen ihm als Quellen, wie schon bei den Relationes Curiosae, vor allem Zeitungen, Avisen und Relationen, aber auch das eigene Werk, sodass innerhalb der Romane jene Materien Verwendung finden, die schon in den Relationes Curiosae geboten wurden. Zugleich hat dies zur Folge, dass, so Kühlmann, der Roman zur Historien- und Wissenssammlung wird und der ästhetische Anspruch mithin hinter dem Gebrauchswert und dem Sammelvorhaben zurücksteht.5 „Der Stoff verselbständigt sich in einem Maße, dass der Roman nurmehr
2 Vgl. zum Zusammenhang der verschiedenen Publikationsformen Happels Flemming Schock: Die Text-Kunstkammer. Populäre Wissenssammlungen des Barock am Beispiel der „Relationes Curiosae“ von E.W. Happel. Köln u.a. 2011 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Heft 68), S. 63–83. 3 Florian Gelzer: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 125), S. 156. 4 „Was Romanische Außzierungen/ und was warhaffte Geschichten und Erzehlungen sind/ wird auß dem Tractat selber zur Gnüge erhellen/ allermassen diese/ wo möglich/ mit gewissen autoribus, oder mit ihrem dato und Tag durchgehends sollen bekräfftiget werden. Solte sich nun iemand finden/ er sey wer er wolle/ der da Lust hätte/ eine oder andere Materie gerne in unserm Geschicht=Roman angeführet und abgehandelt zu wissen/ der hat mich allemahl zu seinen bereitwilligen Diensten/ und kan sothane Materie entweder an mich/ allhier nach Hamburg/ oder nach Ulm an den Verleger senden/ so soll der Sache schon geschehen/ was recht ist/ ohne daß wir uns vorbehalten/ in keine Partheylichkeiten einiger massen eingeflochten zu werden.“ Eberhard Werner Happel: Der Jtaliänische Spinelli, Oder So genannter Europaeischer Geschicht=Roman, Auff das 1685. Jahr. Worinnen Man die fürnehmsten Geschichten/ von Wundern/ Krieg/ Estats=Sachen/ Glücks= und Unglücks=Fällen/ und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1685. Jahr passiret […]. Ulm 1685, 2r–2v. 5 Dies gilt generell für die hier besprochenen Kompilationen, wobei dieses in der Frühen Neuzeit nicht diskreditiert war. Vgl. – wenn auch in Bezug auf Zeiller – Wilhelm Kühlmann: Lektüre für den Bürger: Eigenart und Vermittlungsfunktion der polyhistorischen Reihenwerke Martin Zeillers
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
als stoffliches Arsenal, nicht aber als präzise künstlerische Form beschrieben werden kann.“6 Begründet wird diese Form der Wissensvermittlung – Verschränkung von „Romanische[n] Außzierungen“ und, nach Maßgabe Huets,7 „warhaffte[n] Geschichten und Erzählungen“8 – nach Meierhofer mit der Notwendigkeit der Bewusstwerdung über die eigene geschichtliche Position:9 Was die Historie vor ein nothwendiges Stück in der Welt/ weiß ein jeder Vernünfftiger bey Ihm selber zu erkennen. Ohne dieselbe tappen wir im Finstern/ und unsere Nachkömmlinge würden über fünffzig oder sechzig Jahr nicht mehr wissen/ ob sie von Türcken/ Heyden/ Juden oder Christen erzeuget worden.10
(1589–1661). In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Teil II. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), S. 917–934, hier S. 925f. 6 Gelzer (wie Anm. 3), S. 23. Vgl. zur Form der Geschicht-Romane und der Vermittlung von Wissen weiter Gerhild Scholz Williams: A Novel Form of News. Facts and Fiction in Happel’s GeschichtRomane (Der Teutsche Carl – Der Engelländische Eduard – Der Bäyerische Max [1690–1692]). In: Daphnis 37 (2008), S. 523–545; Dies.: Staging News: The Theater of Politics and Passions in Eberhard Werner Happel’s Deß Engelländischen Eduards (1690/91). In: metaphorik.de 14 (2008), S. 361–378. Abrufbar unter: Metaphorik.de/14/williams. pdf; Stand: 31. Mai 2011; Lynne Tatlock: The Novel as Archive in New Times. In: Daphnis 37 (2008), S. 351–373; Lynne Tatlock: Thesaurus novorum. Periodicity and the Rhetoric of Fact in Eberhard Werner Happels Prose. In: Daphnis 19 (1990), S. 105–134. 7 Happel bietet im „Insulanischen Mandorell“ eine Übertragung von Huets „Traitté de L’Origine des Romans“. Eberhard Werner Happel: Der Jnsulanische Mandorell, Jst eine Geographische Historische und Politische Beschreibung Allen und jeder Insulen Auff dem gantzen Erd=Boden/ Vorgestellet Jn einer anmüthigen und wohl erfundenen Liebes= und Helden=Geschichte: Worbey auch sonsten allerhand schöne Discurse und Materien, insonderheit der Uhrsprung der so genannten Romanen; gründlich und in einer guten Teutschen Redens=Arth an= und außgeführet werden. Alles genommen auß den bewehrtesten so neuen als alten Scribenten. Hamburg, Frankfurt 1682, S. 574–577. 8 Happel: Der Jtaliänische Spinelli (wie Anm. 4), 2r. 9 Meierhofer (wie Anm. 2), S. 285–287. 10 Eberhard Werner Happel: Der Frantzösische Cormantin, Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman, Auf Das 1687. Jahr. Worinnen Man nächst denen Angelegenheiten deß Königreichs Frankreich/ die fürnehmste Schlachten/ Belagerungen/ Wunder/ Kriegs= und Estats=Fälle/ und was sonsten Merckliches in allerhand Materien passiret/ nach seiner richtigen ordnung ganz ohnpartheyisch/ samt ander eingefallen curieusen Discursen zu vernehmen hat/ in einer wol=erfundenen Liebes= und Helden=Geschichte leß=würdig fürgestellet. Ulm 1687, Vorrede [beachte: Vorrede und Zuschrift befinden sich am Ende des Registers].
4.1 Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels
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Neben dieser Form der Geschicht-Romane lässt sich im Anschluss an Meyer11 noch ein weiterer Roman-Typus im Werk Happels erkennen: der „geographische Informationsroman“. Hier dient – komplementär zum Geschicht-Roman – die narrative Rahmenhandlung vornehmlich zur Vermittlung geographischen Wissens.12 Vor diesem Hintergrund – Romane als Historiensammlung und Mittel der Wissensvermittlung – erscheint es sodann legitim, jene Textbelege, in denen das Judentum verhandelt wird bzw. jüdische Figuren auftreten, aus dem Gesamtzusammenhang des Romans herauszulösen und weitgehend isoliert zu betrachten. Dieses Verfahren erscheint auch vor dem Hintergrund gestattet, dass Juden und Judentum in den zahlreichen Romanen nur marginal verhandelt werden. Die Belegstellen wurden durch eine Autopsie aller Geschicht-Romane ermittelt und es wurde eine exemplarische Auswahl getroffen.13 Happels Schreibprogramm, Wissensgegenstände in „wol=erfundenen Liebes= und Helden=Geschichte[n]“ unterhaltsam aufzubereiten, lässt sich auch in Bezug auf die Verhandlung des Jüdischen feststellen: So wird von historischen und aktuellen Ereignissen berichtet, die Juden in der einen oder anderen Weise betreffen oder Anlass zur Diskussion geben. Des Weiteren treten jüdische Figuren im Rahmen der Handlung auf. Auch wenn diese Bereiche zuweilen nicht klar voneinander abzugrenzen sind, soll im Folgenden zunächst kurz auf ‚jüdische Materien‘ eingegangen werden, um im Anschluss den Fokus auf die jüdischen Figuren zu richten. Zunächst muss man feststellen, dass Happel auch in Bezug auf Berichte über Juden häufig aus seinen eigenen Schriften schöpft, in denen er sich wiederum auf
11 Gerd Meyer: Nachwort. In: Gustav Könnecke, Lebensbeschreibung des Eberhard Werner Happel (1647–1690). Herausgegeben anlässlich des 300. Todestages. Ergänzter Nachdruck. Kirchhain, Marburg 1990 [zuerst 1908], S. 95–108, hier S. 99. 12 Vgl. dazu weiter Schock: Die Text-Kunstkammer (wie Anm. 2), S. 64–67 (zum „geographischen Informationsroman“) und S. 67–71 (zum „Geschichts-Roman“). 13 Happels Werk umfasst folgende Romane: Der Asiatische Onogambo, Der Europäische Toroan, Christlicher Potentaten Kriegs=Roman, Der Jnsulanische Mandorell, Der Ungarische Kriegs=Roman, Der Jtaliänische Spinelli, Der Spanische Quintana, Der Frantzösische Cormantin, Der Ottomanische Bajazet, Afrikanischer Tarnolast, Der Teutsche Carl, Der Academische Roman. Nicht mehr von Happel selbst sind: Der Engelländische Eduardo, Der Bäyerische Max, Der Sächsische Witekind, Der Schwäbische Ariovist, Die Portugiesische Clara. Diese letzteren Romane sollen aufgrund ihrer großen formalen Nähe zu Happels Romanen hier jedoch ebenfalls Berücksichtigung finden. Vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verb. u. wesentlich verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Dritter Teil: Franck – Kircher. Stuttgart 1991, S. 1952–1968.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
andere Vorlagen stützt.14 So findet sich der Bericht zum Auftreten und Wirken Sabbatai Sevis, auf den schon im Zusammenhang mit den Relationes Curiosae eingegangen wurde, wortwörtlich im zweiten Teil des Frantzösischen Cormantins wieder:15 Die Ereignisse werden durch Frankenstein berichtet, wobei jedoch die Präsentationsweise jener in den Relationes Curiosae gleicht, allein die Romanform erfordert, dass ein Anlass für den Bericht angegeben wird. Dieser besteht jedoch nur aus einer einfachen Frage Cormantins nach Sabbatai und es findet auch keine weitere Erörterung statt, sodass hier das Bestreben, möglichst interessante Materien zu bieten, den ästhetischen Anspruch überlagert.16 Ähnliches lässt sich im Falle der Schilderung über den marokkanischen Fürsten Tafilette im Italiänischen Spinelli17 feststellen, in der unter anderem auch von einem jüdischen Fürsten berichtet wird, der von Tafilette betrogen wird. Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang näher auf den Bericht einzugehen, übernimmt Happel ihn doch aus der Warhaffte[n] und merckwürdige[n] Geschichts=Erzehlung Von Tafilette/ Dem grossen Bestreiter und Käyser Der Barbarey18 und bietet denselben auch im dritten Band der Relationes Curiosae.19 Insofern können solche Texte auch nicht als Beleg für eine ‚judenfreundliche‘ Haltung des Autors herangezogen werden – wie es beispielsweise Gearhart unternimmt20 –, sondern müssen vielmehr im Kontext von Werk und Überlieferung bewertet werden. Eine andere Form der Verhandlung jüdischer Materien findet sich im Bäyrischen Max und im Sächsischen Witekind: Hier dienen Meldungen aus Zeitungen, Avisen und Gazetten als Anlass, sich über bestimmte Themen auszutau-
14 Zu Happels Wiederverwertung eigener Texte vgl. Lynne Tatlock: Selling Turks: Eberhard Werner Happel’s Turcica (1683–1690). In: Colloquia Germanica 28 (1995), S. 307–355, hier S. 316–318. 15 Happel: Deß Frantzösischen Cormantin […] Anderer Theil (wie Anm. 10), S. 9–31. 16 Ebenfalls im zweiten Teil des „Frantzösischen Cormantins“ findet sich die Erzählung vom treuen Eheweib, die oben bereits beleuchtet wurde. Hier dient sie als Exempel rechtschaffener Ehefrauen. Vgl. ebd., S. 279–280. 17 Happel: Deß Italiänischen Spinelli […] Anderer Theil (wie Anm. 4), S. 311–322. 18 [Anonym:] Warhaffte und merckwürdige Geschichts=Erzehlung Von Tafilette/ Dem grossen Bestreiter und Käyser Der Barbarey. Aus der Englischen in die Frantzösische/ und aus solcher in die Teutsche Sprach übersetzet. Nürnberg 1670. 19 Eberhard Werner Happel: Gröste Denkwürdigkeiten der Welt Oder so genannte Relationes Curiosae […] 5 Bde. Hamburg 1683–1691, hier Bd. 3, S. 224–243. 20 So leitet Gearhart aus der Darstellung des jüdischen Fürsten, der als gutherzig und gerecht beschrieben wird, ab, dass sich Happel entschieden gegen die schlechte Behandlung von Juden wende. Vgl. Ezra Frederick Gearhart: The Treatment of the Jew in Works of Bucholz, Grimmelshausen, and Happel. Diss. Michigan 1965, S. 169.
4.1 Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels
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schen.21 So bietet im Bäyrischen Max im Zuge der Erörterung von Nachrichten aus aller Welt, die Meldung, dass während eines Brandes in Zolkiew ein Großteil der Stadt durch ein Feuer vernichtet wurde, Anlass, über Glauben und Aberglauben zu diskutieren. So wurde die Synagoge vom Feuer verschont und Goribald vermutet, dass die Juden diese durch „ihre Feuer=Kunst“22 geschützt hätten. Der Wirt weist jedoch darauf hin, dass es der Wind gewesen sei, der das Feuer abgehalten hätte und will wissen, ob „die Juden so künstlich seyn/ das Feuer durch gemachten Wind abzutreiben/ oder ihre Gebäue vor dem Brand zu verwahren?“ Goribald ist sich diesbezüglich auch unsicher, verweist aber darauf, dass dies „liederliche Volck“ sich „ihre[s] Arcano und Wunder=Kunst“23 rühmen und dieses als Argument zur Duldung unter den Christen anführen würden. Es gebe aber verschiedene Exempel, die belegten, dass „ihre Kunst betrüglich/ und den Stich nicht allezeit halte“.24 Dennoch referiert Goribald im Folgenden zwei Arten, mit denen Juden das Feuer beherrschen könnten: erstens mit Worten und zweitens durch Schrift. Die genaue Wiedergabe – er habe diese Informationen von einem „berühmte[n]/ hochgelehrte[n]/ und in Jüdischen Händeln trefflich erfahrene[m] Mann“25 – der hebräischen Schriftzeichen und der einzelnen Handlungen ist nicht so sehr auf das Bestreben zurückzuführen, den ‚Aberglauben‘ der Juden zu erweisen – dieser stehe außer Zweifel –, sondern vielmehr dem Leser die im Titel versprochenen „sehr Curiosen und Leß=würdigen Materien“ zu bieten. Darüber hinaus kann Goribalds Referat aber auch als Beitrag zur Aufklärung über vermeintliche jüdische Geheimnisse rezipiert werden, verweisen doch Bezeichnungen wie „Heimlichkeit“ oder „Arcano“ darauf, dass es sich bei dieser Kunst um eine vor den Christen verheimlichte
21 Vgl. zur Einfügung von „Gazetten“ und „Avisen“ in die Romane Scholz Williams: A Novel of Forms (wie Anm. 6), S. 527–532 und Tatlock: The Novel as Archive in New Times (wie Anm. 6), S. 367. 22 [Anonym:] Deß Bäyerischen Max, Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman, Auf das 1691. Jahr/ Zweyter Theil […]. Jn welchem in einer Liebes= und Helden=Geschichte die denckwürdigste Wunder=Begebnüsse/ Kriegs= und Politische Staats=Sachen/ Glück= und Unglücks= auch hohe Todes-Fälle/ Hoch-Fürstl. Beylager/ Schlachten/ Belager= und Eroberungen/ ingleichem was sonsten in diesem Jahr in Europa Notabels sich zugetragen/ neben mehr andern sehr Curiosen und Leß=würdigen Materien/ nach Weise der bißherigen Geschicht-Romanen beschrieben werden. Ulm 1691, S. 72. 23 Ebd., S. 73. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 74.
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handele, wodurch das Vorbringen solcher Materien umso interessanter im Sinne von curiositas-befriedigend erscheint.26 Im zweiten Teil des Sächsischen Witekinds27 wird der Vorwurf des ‚Ritualmordes‘ verhandelt: Witekind fragt, „ob man nichts neues auß Teutschland hätte“, woraufhin ihm „aus denen Gazetten berichtet“ wird, dass in der Osterwoche bei Würzburg ein toter Junge gefunden wurde, „welcher ermordet/ und ihme alle Adern mit Pfriemen durchstochen waren“.28 Obwohl die Täterschaft unklar sei, habe man sofort die Juden in Verdacht gehabt. Die Gesprächsteilnehmer diskutieren diese Meldung: Orlindo ist der Ansicht, dass Juden den Jungen getötet hätten, da „diese Leuthe der Christen=Kinder Blut/ zu vielerley Sachen/ und sonderlich ihren Glaubens=Geheimnüssen/ vonnöthen hätten/ ja auch ohne dergleichen nicht sterben könten.“29 Zudem hätte man zahlreiche Beispiele für solche ‚Ritualmorde‘. Witekind widerspricht dieser Ansicht und nennt zunächst detailliert die vermeintlichen Anwendungsgebiete des christlichen Blutes, wie sie in zahlreichen antijüdischen Pamphleten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts kolportiert wurden.30 Obwohl er sich gegen den Glauben, dass Juden das Blut von Christen gebrauchen würden, ausspricht, diese Auffassung sogar ausführlich mit Gegenargumenten zu widerlegen sucht, verbreitet er doch zugleich antijüdische Vorurteile und Stereotype, wie etwa die des Wuchers, des Christenhasses und des Mordes an Christen. Entkräftet wird folglich nicht der
26 Eine ähnliche Legitimationsstrategie findet sich auch in den „Relationes Curiosae“, wenn sich Happel der Kabbala widmet. Vgl. oben, S. 136f. 27 [Anonym:] Deß Sächsischen Witekinds/ Oder so genannten Europäischen Geschicht=Romans, Auf Das 1692. Jahr/ Zweyter Theil; Jn welchem/ Nach Ahrt deß Jtaliänischen Spinelli, Spanischen Quintana […] in einer Liebes= und Helden=Geschichte/ die Denck=würdigsten Begebnüssen/ Kriegs= und Politische Staats=Sachen/ Glück= und Unglücks= auch hohe Todes=Fälle […] dieses Jahrs/ unpartheyisch beschrieben werden. Ulm 1696. 28 Ebd., S. 69. 29 [Anonym:] Deß Sächsischen Witekinds Zweyter Theil (wie Anm. 27), S. 70. 30 Vgl. beispielsweise Johann Schmidt: Feuriger Drachen=Gifft und Wütiger Ottern=Gall/ Mit welchen Des Teuffels Leibeigen Juden=Volck durch gräuliches und abscheuliches Gotteslästern/ Schänden/ Fluchen/ Lügen/ Schrifft verkehren/ Betriegen/ vnd andere unmenschliche Boßheit […] kurtz angezeigt. Ratzeburg 1684, S. 114; Franciscus von Mantua: Jüdischer abgezogener Schlangenbalg. Das ist: Betrügliche tückische Boßheiten der verblendten/ von Gott verworffnen Juden/ vnd denen darauß erfolgten Straffen vnd Plagen. Eine erschröckliche Zeitung/ zum Theyl wunderbahrlicher Straffen vnd Plagen Gottes vber die Juden/ welche jhren Rath/ falsche Zeugknuß vnd That/ zu dem allervnschuldigisten bittern Leyden vnd Sterben vnsers Herrn Jesu Christi geben haben. [o.O.] 1631 sowie Ders.: Offenbartes Geheimnuß Der Juden-Plag. Daß ist: Erschröckliche/ zum theil Wunderliche Straffen/ Rach und Plagen Gottes/ derer Juden/ Welche jhren Rath/ falsch Zeugnuß und That geben/ zu dem aller vnschuldigsten bittern Leyden und Sterben unsers Herrn Jesu Christi/ gegeben. [Nürnberg] 1627.
4.1 Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels
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Vorwurf des Mordes, sondern nur die Begründung des ‚Ritualmordes‘, das Verlangen der Juden nach christlichem Blut. Auffällig ist weiterhin, dass Witekind seine Gegenargumente ausschließlich aus dem religiösen Bereich entnimmt, wodurch die profanen Vorurteile, die sich vor allem aus sozialem und wirtschaftlichen Neid speisten, nicht nur nicht widerlegt werden, sondern durch die scheinbar abwägende und objektive Argumentation umso überzeugender erscheinen.31 Insofern kann Witekind den ‚Vorwurf‘, dass er ein „Patron der Juden“32 sei, auch zurückweisen, argumentiere er doch nur wie „fromme und Gewissenhaffte Richter/ […] Käyser/ Könige und Fürsten“, die schon „vor mehr als 200. Jahren […] verbotten […]/ daß niemand die Juden beschuldigen solle/ als ob sie zu ihren Nothdurfften Christen=Blut haben müsten.“33 Witekind führt hier mithin die Obrigkeiten34 gegen die „gelehrten Männer“ an, die dem Glauben an den jüdischen Blutdurst anhingen, und plädiert damit implizit für eine kritische Lesart überkommener Schriften. Die Erörterung schließt sodann mit Mutmaßungen Witekinds über den Ursprung des Vorwurfs – „weilen das Hebraeische Wort zweyerley Verstand hat/ und nicht nur Blut/ sondern zugleich auch Geld heisset“35 –, wobei jedoch auch hier nicht auf den Vorwurf, dass die „Juden den Christen auf allerley Weise nach ihrem […] Geld trachten“,36 verzichtet wird. Der Vorwurf des ‚Ritualmords‘ wird auch im zweiten Buch des zweiten Teiles des Ungarischen Kriegs=Romans37 aufgegriffen. Hier bildet er im Gegensatz zu der
31 Im Gegensatz dazu widerlegt Wagenseil 1705 den Vorwurf nicht allein mit Verweis auf religiöse Vorschriften der Juden, sondern auch mit eigenen Beobachtungen und Verweisen auf die Lebensweise der Juden. Vgl. Johann Christoph Wagenseil: Benachrichtigungen wegen einiger die Judenschafft angehenden wichtigen Sachen[.] Erster Theil/ worinnen I. Die Hoffnung der Erlösung Jsraelis […]. II. Wiederlegung der Unwarheit […]. III. Anzeigung/ wie leicht es dahin zu bringen/ daß die Juden forthin abstehen müssen/ die Christen mit Wuchern und Schinden zu plagen. Leipzig 1705, S. 126–206. Vgl. dazu Peter Blastenbrei: Johann Christoph Wagenseil und seine Stellung zum Judentum. Erlangen 2004, S. 70–78 sowie Paul Gerhard Aring: „Wage du, zu irren und zu träumen…“ Juden und Christen unterwegs. Theologische Biographien – Biographische Theologie im christlich-jüdischen Dialog der Barockzeit. Köln 1992, insb. S. 22f. 32 [Anonym:] Deß Sächsischen Witekinds Zweyter Theil (wie Anm. 27), S. 72. 33 Ebd., S. 72. 34 So versuchte Kaiser Friedrich II. mit der Goldenen Bulle (1236) die Juden vom Vorwurf des Ritualmordes zu entlasten – 1247 folgte ihm Papst Innozenz III. Vgl. dazu Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band 1: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen. Worms 1979, S. 53. 35 [Anonym:] Deß Sächsischen Witekinds Zweyter Theil (wie Anm. 27), S. 72. 36 Ebd. 37 Eberhard Werner Happel: Deß ungarischen Kriegs=Romans Anderer Theil/ Eine außführliche Beschreibung/ Der Kriegs=Sachen/ So Anno 1684. Zwischen den Alliirten Christlichen Potentaten
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
eben beleuchteten Textpassage jedoch nicht den Gegenstand gelehrter Erörterung, sondern den Anlass, sich über verschiedene die Juden betreffende Begebenheiten auszutauschen. Bevor diese genauer beleuchtet werden, sei zunächst kurz auf den Anlass des Gesprächs eingegangen. Die beiden Helden Zolsiar und Rodrigo kommen auf dem Weg von Norditalien nach Neapel nach Treviso nahe Venedig und quartieren sich in einer Herberge ein. Zu dieser Zeit wird die geschändete Leiche eines Bürgersohnes in der Kloake gefunden und der Verdacht fällt auf die Juden, „so dergleichen Tragoedien an Christen=Kindern mehrmahlen gespielet“.38 Entgegen dieser Vermutung wird bei einer Hausdurchsuchung bei den Juden jedoch nichts gefunden, was auf eine Täterschaft hindeutet, womit am Anfang der Vorwurf des ‚Ritualmordes‘ wenn auch nicht zurückgewiesen, so doch zumindest dahingehend relativiert wird, dass man – wie schon bei Witekind – bei Morden nicht sogleich von einem jüdischen ‚Ritualmord‘ ausgehen könne. So bleibt auch in der Folge die Täterschaft zunächst unklar, man findet jedoch in der Herberge ein blutiges Messer unter der Matratze Rodrigos, woraufhin dieser und Zolsiar festgesetzt werden. Aufgrund der Fürsprache angesehener Personen werden sie jedoch wieder freigelassen und in der Herberge überwacht. Erst nach den zu beleuchtenden „Discursen“39 wird der Täter festgenommen: Es handelt sich um einen Juden, von ‚Ritualmord‘ ist jedoch keine Rede mehr. In der Herberge bildet der Mord nun den Anlass für ein Gespräch mit dem Wirt, der sich davon überzeugt zeigt, dass sich Juden wiederholt des rituellen Mordes schuldig machen würden und belegt dies mit einem angeblichen ‚Ritualmord‘ in Bozen. Trotz der ‚Tatsache‘, dass „die boshaffte Juden ihren Durst mit Christen=Blut […] löschen“40 würden, tritt er zugleich aber für eine differenziertere Sichtweise ein und gesteht zu, dass „ihnen auch offtmal ein Ding zugeschrieben wird/ welches sie nimmer verrichtet haben.“41 Es folgt nun die Erzählung einer Jüdin – Happel übernimmt sowohl die einleitenden Bemerkungen über Klugheit und List sowie die Erzählung selbst mutmaßlich aus Schiebels Historischem Lust=Hauß42 –, die sich geschickt des Verdachtes des ‚Ritualmordes‘
und dem Türckischen Keyser fürgefallen. Sambt vielen eingeschlossenen lieblichen Discursen und Materien/ unter einer ansehnlichen Liebes= und Helden=Geschichte fürgestellet. Ulm 1685, S. 537–541. 38 Ebd., S. 537. 39 Ebd., S. 567. 40 Ebd., S. 537. 41 Ebd. 42 Johann Georg Schiebel: Zweytes Historisches Lust=Hauß/ Darinnen abermals Ein annehmlicher Vorrath Außerlesener Geschichte/ Sinnreicher Wahl=Sprüche/ Artiger Gleichnüsse/ merck-
4.1 Die Geschicht-Romane Eberhard Werner Happels
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entzieht: Eingeleitet wird die Episode mit einer Unterscheidung von Klugheit/ Weisheit und List/ Tücke, wobei den Juden Klugheit abgesprochen wird und sie als tückisch und listig bezeichnet werden. Dies belege auch die Erzählung über eine Jüdin: Ein Christ erschlägt das Kind seiner Nachbarin und wirft es in das Haus einer Jüdin. Diese entdeckt den Leichnam, schnallt sich – als die Mutter lautstark einen ‚jüdischen Ritualmord‘ vermutet – das tote Kind um, zieht ihre Kleider darüber und gibt vor schwanger zu sein. Bei der Haussuchung finden die Richter nichts und die Frau lässt das Kind nachts von zwei Männern wegbringen, vorgebend, dass sie eine Totgeburt hatte. Auffällig ist hier zunächst, dass der Wirt die Geschichte nicht weiter kommentiert43 – die Erzählung wird somit keinem Korrektiv unterzogen, sodass sie die einleitenden Passagen unterläuft, erweist sich die Jüdin doch durchaus als klug. Wichtiger aber noch erscheint, dass hier nicht nur die Willkür antijüdischer Anschuldigungen vorgeführt wird, sondern auch die Wirkmächtigkeit und Konsistenz des antijüdischen Vorwurfes des ‚Ritualmordes‘, wurde doch bei dem Fund insbesondere von Kinderleichen sofort an eine Schuld der Juden gedacht. Wurde an der ‚Tatsache‘, dass Juden ‚Ritualmorde‘ verüben würden, kaum gezweifelt, offenbart die Erzählung mithin, auch wenn der Vorwurf des ‚Ritualmordes‘ nicht bestritten wird, die wahren Opfer solcher ungerechtfertigter Anschuldigungen: die Juden. Die Erzählung der schlauen Jüdin entfaltet mithin ein subversives Potential, das (vermeintlich) feststehende Bezugsgrößen unterläuft. Auch das nächste Kapitel widmet sich den Juden: So konstatiert Zolsiar, dass es im Mohrenland hin und wieder sehr viel Juden gebe/ sie wären aber so hartnäckig/ daß sie sich keines Weges zum Christlichen Glauben begeben wollten/ und wann sich ja etliche dazu verstünden/ geschehe es nur auß Heucheley/ oder ein Stück Geldes zu sammlen/ sintemal man unter Tausend kaum einen finden würde/ der nach seiner Bekehrung beständig bliebe/ es sey dann/ daß man grossen Fleiß an sie gewandt/ und lange Zeit mit ihrer Bekehrung zugebracht […].44
Hier werden mithin bekannte Vorwürfe, die bekehrungswilligen Juden entgegengehalten wurden, auf jene des „Mohrenlandes“ übertragen und somit die Juden generell als ‚verstockt‘ und ‚habgierig‘ diffamiert.45 Zolsiars Einwurf gibt dann
würdiger Sinnbilder/ Zu des Lesers Nutz und Lust eröffnet wird. Leipzig, Frankfurt 1682, S. 322– 325. 43 Eine Kommentierung oder abschließende Moral findet sich auch in der Vorlage nicht. 44 Happel: Deß ungarischen Kriegs=Romans Anderer Theil (wie Anm. 37), S. 541f. 45 Vgl. zur Argumentation, dass „man unter Tausend kaum einen finden würde/ der nach seiner Bekehrung beständig bliebe“, auch Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden-
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auch einem „Teutsche[n] Cavallier“ Anlass, von dem Juden Anstedt zu berichten:46 Dieser wurde 1553 in Weißenstein zum Tode verurteilt. Vor seiner Hinrichtung versuchte man, ihn zum christlichen Glauben zu bekehren, doch als alle Versuche scheiterten, hängte man ihn an den Füßen auf und hängte – nach wiederum vergeblichem Zureden – neben ihn zwei Hunde, die ihn angriffen. Auch wenn Anstedt unter großen Schmerzen litt und das Publikum anrief, Erbarmen zu zeigen, wollte er sich weiterhin nicht zum christlichen Glauben kehren, sodass der Pfarrer von Göppingen einen letzten Versuch unternahm, den Delinquenten zu überzeugen. Referiert wird sodann die ausführliche Unterweisung des Geistlichen, die schon aufgrund ihres großen Umfangs wohl weniger einer Wiedergabe der realen Umstände entspricht, als vielmehr dem christlich-frommen Leser zur Erbauung dient. Darauf verweist auch der Hinweis, dass die Hunde aufhörten, Anstedt anzugreifen, solange der Pfarrer sprach. Seine Bemühungen zeigten schließlich Erfolg und Anstedt bekannte sich zum christlichen Glauben: Er wurde vom Galgen abgenommen, getauft und wiederum an den Galgen gehängt – diesmal jedoch nicht an den Füßen, sondern am Hals. Nach der Schilderung des Falls des am Galgen ‚Bekehrten‘ wird noch eine weitere Konversionserzählung angehängt und die Vorrede aus Christian Gerson Der Jüden Thalmud47 zitiert. Vorgestellt werden mithin zwei Konversionserzählungen, die zum einen antijüdische Vorurteile bedienen (Betrug, Diebstahl und
Hertz/ Nebst einigen Vorbereitungs-Mitteln zu der Juden Bekehrung/ Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung/ welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff/ als er vor der Fürstl. Residentz=Stadt Zelle/ nebst andern hochberüchtigten Dieben den 21. Martii An. 1699. abgethan […]. Zelle 1699, S. 156, 166. 46 Als Vorlage diente Happel mutmaßlich Jacob Andreä: Warhafftige Geschicht von einem Juden/ so zu Weyssenstein in Schwaben gericht […] worden. [o.O.] 1560. Happel kürzt zwar die Vorlage, aufgrund der deutlichen Übereinstimmungen hinsichtlich Syntax und Semantik, ist jedoch von einer Beziehung zwischen den beiden Texten auszugehen. Vgl. zu diesem Fall weiter Stefan Lang: …dann man hebe denn judenn khain creutz dürffen thun. Rechtliche Rahmenbedingungen im Alltag hohenrechbergischer Schutzjuden des 16. Jahrhunderts. In: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben. Bd. 3: Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit. Hg. von Peter Fassl. Augsburg 2007, S. 3–24, hier S. 12f. sowie Ders.: „Spectaculum miserabile“. Die Hinrichtung des Juden Ansteet in der rechbergischen Herrschaft Weißenstein 1553 und seine Bekehrung durch Jakob Andreae. In: Hohenstaufen/Helfenstein – Historisches Jahrbuch für den Kreis Göppingen 11 (2001), S. 81–94. Vgl. weiter auch den Bericht des lutherischen Theologen Felix Bidembach, abgedruckt bei Stefan Schreiner: Der Fall des Juden Ansteet – Zugleich ein Beispiel protestantischer Inquisition. In: Judaica 37 (1981), S. 90–102. 47 Christian Gerson: Der Jüden Thalmvd Fürnembster innhalt/ vnd Widerlegung/ In Zwey Bücher verfasset. Jm Ersten Wird die gantze Jüdische Religion/ vnd falsche Gottesdienste beschrieben. Jm Andern Werden dieselbe/ beydes durch die Schrifft des Alten Testaments/ vnd des Thalmuds selbst/ gründlich widerlegt und umbgestossen. Goslar 1609.
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Wucher), zum anderen durch die Konversion den ‚wahren‘ christlichen Glauben bestätigen, sodass das Referat des deutschen Kavaliers vornehmlich zwei Zielen dient: Unterhaltung durch eine interessante Fallgeschichte und Erbauung des christlich-frommen Lesers durch die Darstellung der Anziehungskraft der ‚wahren Kirche‘. Die Konversion bzw. die Schwierigkeit dieser bietet dann auch den Ausgangspunkt, um wiederum von Sabbatai Sevi zu berichten: Rodrigo ließ sich hiebey vernehmen/ daß die Bekehrung der Juden deßwegen so schlechten Fortgang hätte/ weil sie eine gar zu veste Einbildung hätten/ es würde ein anderer Messias dermaleins erscheinen. Der Satan/ fuhr er fort/ hat diese blinde Leute auch fast alle 100. Jahr einmal mit einem falschen Messias geäffet/ und singen die Türcken in allen ihren Städten lange Lieder von dem Betrieger Sabathai oder Cacham Sevy/ der sich vor etwa 18. Jahren herfür thäte/ und einen grossen Anhang/ als vermeynter Messias bekam.48
Es erübrigt sich hier auf den Bericht im Einzelnen einzugehen, unterscheidet er sich doch nicht wesentlich von jenem in den Relationes Curiosae und im Frantzösischen Cormantin. Festzustellen ist jedoch, dass dieser im Verhältnis zur Vorlage gekürzt wurde – insbesondere die Prophezeiungen Nathan Levis bleiben unerwähnt –, sodass sich der Fokus auf das Verhalten der Juden, die als aberund leichtgläubig dargestellt werden, und die Reaktionen von Seiten der Türken richtet. Der Bericht dient hier neben der Befriedigung der curiositas mithin der Diffamierung des Judentums als leichtgläubig (Anhänger Sabbatais) und betrügerisch (Sabbatai selbst). Diese Deutung wird noch durch die folgende Erzählung unterstützt – sie wird von Rodrigo als „Exempel“49 bezeichnet –, in der von einem getauften Juden berichtet wird, der in der orthodoxen Kirche in Konstantinopel bis zum Patriarchen aufsteigt, auf dem Sterbebett aber sein Judentum bekennt. Es ist jedoch auffällig, dass sich dieses ‚Exempel‘ weniger gegen ‚getaufte Juden‘ richtet, auch wenn der Patriarch als „Ertz=Bößwicht“50 bezeichnet wird, als vielmehr gegen die orthodoxe Kirche, in der man nur mittels monetärer Gaben zu höheren Ämtern gelangen könne.51 Dennoch offenbare auch diese Erzählung laut Zolsiar die ‚Verstockung‘ und ‚Hartnäckigkeit‘ der Juden, was ihn jedoch verwundere, seien doch die Weissagungen des Alten Testamentes über den Messias erfüllt und auch an den Strafen, die Gott den jüdischen Stämmen auferlegt habe,
48 Happel: Deß ungarischen Kriegs=Romans Anderer Theil (wie Anm. 37), S. 555. 49 Ebd., S. 559. 50 Ebd., S. 561. 51 Vgl. ebd., S. 560. Anzumerken ist weiterhin, dass sich insbesondere bei dieser Erzählung das kompilatorische Verfahren Happels aufgrund von Inkonsistenzen offenbart. So wird vorgegeben, dass Rodrigo das Exempel erzählt, zugleich findet sich aber die Wendung: „[…] hätte ich sollen schreiben […]“. Ebd.
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erweise sich die ‚Verstockung‘ der Juden. Da Zolsiar jedoch keine Auskunft über die angesprochenen Plagen der zwölf Stämme geben kann, springt der Wirt ein und referiert die spätestens seit der Flugschrift über den ‚Ewigen Juden‘ Ahasver bekannte und immer wieder neu aufgelegte Auflistung der Stämme mit den ihnen zugedachten Plagen.52 Dieser höchst antijüdische Text schreibt den Juden aufgrund angeblichen Verhaltens bei der der Kreuzigung Christi körperliche Gebrechen zu und konstruiert somit Differenz nicht nur über die religiöse, sondern auch über körperliche Merkmale – insofern kann man hier Elemente eines Proto-Rassismus konstatieren – und grenzt sie aus der christlichen Gemeinschaft als andersartig aus: Er lässt sie zum radikal Anderen werden. Durch die Wiederholung werden diese Vorstellungen tradiert, sodass der unterhaltende, zeitverkürzende Diskurs53 zum antijüdischen Pamphlet wird, wenn durch die Kompilation unterschiedlichster Erzählungen über Juden sowohl profane wie auch religiös begründete Stereotype vorgebracht und affirmiert werden. Angesichts des die Juden diskreditierenden und diffamierenden Charakters des Gesprächs, das damit zugleich auch der Bestätigung des christlichen Glaubens durch Abgrenzung dient, wird das subversive Potential der Erzählung von der schlauen Jüdin jedoch zurückgenommen. Die Form der Kompilation bedingt hier folglich, dass gegenläufige Tendenzen eingeebnet werden – allein die punktuelle Lektüre offenbart diese. Wie schon angesprochen, wird Jüdisches aber nicht nur in Bezug auf Berichte von Juden und der Erörterung dieser verhandelt, sondern es treten, wenn auch vereinzelt, immer wieder jüdische Figuren auf. Dabei ist zunächst auffällig, dass diese häufig als Sklavenhändler in Erscheinung treten.54 Beispielhaft sei eine Episode aus dem Italiänischen Spinelli angeführt:55 Hier kommt der jüdische Sklavenhändler mit seinem Sklaven an Bord, da auf diesem Verwandte des Sklaven sind, die ihn frei kaufen wollen. Diese zählen das Geld, Compan aber, der
52 Ebd., S. 563–567. Happel dient hier als Vorlage von Mantua (wie Anm. 30). Vgl. dazu oben, S. 98. 53 Happel: Deß ungarischen Kriegs=Romans Anderer Theil (wie Anm. 37), S. 567. 54 Vgl. beispielsweise Eberhard Werner Happel: Deß Ottomanischen Bajazet Oder so genannten Europaeischen Geschicht=Romans, Auf Das 1688. Jahr/ Anderer Theil, S. 265–267; Ders.: Der Academische Roman, Worinnen das Studenten=Leben fürgebildet wird; Zusamt allem/ was auf den Universitäten passiret/ wie diese bestellet werden/ wie die Professiones und Facultäten eingetheilet sind/ […] und was man von dem Academischen Leben zu wissen verlangen mag. Das Gute zur Lehre/ das Böse aber zur Warnung der Ehr=liebenden Jugend/ in einer schönen Liebes=Geschichte fürgestellet. Ulm 1690, S. 992, 1019; Ders.: Deß Französischen Cormantin […] Anderer Theil (wie Anm. 10), S. 305; Ders.: Deß Französischen Cormantin Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman Auf das 1687. Jahr/ Dritter Theil (wie Anm. 10), S. 196f. 55 Happel: Deß Italiänischen Spinelli […] Anderer Theil (wie Anm. 4), S. 265.
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Kapitän, wirft den Juden von Bord, da es auf seinem Schiff nur freie Menschen gebe. Der Jude wird von mitleidigen Matrosen gerettet und „halb todt“56 aus dem Wasser gezogen und an Land gebracht. Der Sklavenhändler wird hier – auch wenn sich aufgrund der Kürze der Belegstelle kaum weitergehende Aussagen treffen lassen – deutlich negativ konnotiert. Dies gilt auch für die übrigen jüdischen Sklavenhändler, die sich durchgängig als listig, betrügerisch und geldgierig erweisen. Selbst wenn der in Gefangenschaft geratene Held vom Sklavenhändler gut behandelt wird, ist dieser doch stets auf seinen monetären Vorteil bedacht.57 Die dort bereits anklingende Identifikation von Jude und Geldgier zeigt sich jedoch nicht nur bei Sklavenhändlern. So reist der Franzose Pansa im Christlicher Potentaten Kriegs=Roman58 unter anderem mit einem Juden durch die Wüste und versucht diesen zum christlichen Glauben zu bekehren. Der Jude aber erweist sich nicht nur als ‚verstockt‘, sondern ergeht sich auch in „Gotteslästerliche[n] Schmähworte[n]“, sodass Pansa seine Bemühungen aufgibt. Als sie an eine Zollstation kommen, wird bei dem Juden jedoch ein Beutel Juwelen entdeckt, den er nicht verzollen wollte, und nachdem er diesen abgegeben muss, zeigt er höchste Verzweiflung: Mein Gott! wie ging er seine Sache darauff an: Er risse die Haare auß dem Kopfe/ er weinete alß ein Kindt/ er kam zu mir gelauffen und schwur hoch und theur/ daß er nun allererst die Rechtfertigkeit meines Glaubens erkennete/ verfluchte sich auch sehr hoch/ daß er/ im Fall ich ihm zu diesen Jubelen verhelffen wurde/ alsobald zum Christlichen Glauben tretten wolte.59
Pansa bittet daraufhin für den Juden, doch die Zöllner beharren darauf, die Juwelen zu behalten. Der Jude zeigt sich darüber erbost, sodass er einen von den
56 Ebd., S. 265. 57 Vgl. Eberhard Werner Happel: Der Europaeische Toroan, Jst Eine kurtz-gefassete Beschreibung aller Königreiche und Länder in gantz Europa; sampt ihren Regenten/ so viel man von Anhang der Welt/ biß auff diese Zeit haben kan. Welches alles auß eines jeden Landes bestem Geschichtschreiber außgezogen/ und Jn einem Türckischen Roman vorgestellet hat. Hamburg 1676, S. 116–118. 58 Eberhard Werner Happel: Christlicher Potentaten Kriegs=Romans Erster und Anderer Theil/ Vorstellend eine genaue Beschreibung aller blutigen Feldschlachten/ Bestürmungen/ Massacren/ Feldzüge/ See-Treffen/ Verwüstungen/ Bündnüssen/ Friedensschlüssen/ etc. so von Anno 72. biß zum End 80. in der Christenheit unter den kriegenden Partheyen vorgangen. Anbenebenst Eine kurtze Relation des Candischen und Savoisch Gunesischen= Kriegs/ […]. Alles verfasset Jn einer lieblichen Helden= und Liebes=Geschicht/ etlicher außländischen Printzen und Printzessinnen […]. Stockholm 1681, S. 272f. 59 Ebd., S. 273.
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Zöllnern angreift, woraufhin ein Kampf entbrennt, in dessen Verlauf der Jude getötet, weitere Reisegefährten verwundet werden und Pansa gefangen genommen wird. Hier werden mithin die wichtigsten Stereotype genutzt – ‚Gotteslästerung‘, ‚Verstockung‘ und ‚Geldgier‘ –, um den Juden zu charakterisieren, ja mehr noch: Die jüdische Figur zeichnet sich ausschließlich durch diese Zuschreibungen aus. Geldgier erscheint dabei als konstituierendes Merkmal ‚jüdischer Identität‘ – so auch, wenn der später konvertierte Jude Creul seinen Vater aus reiner Geldgier erschlägt.60 Doch nicht nur in fernen Ländern ist die die Juden bestimmende Disposition die Geldgier. Als Beispiel sei eine Episode aus dem Academischen Roman angeführt: Der Student Troll spielt mit anderen Studenten dem Cerebacchius verschiedene Streiche und stiehlt diesem unter anderem die Kleider. Diese will er nun, verkleidet als ein Spanier, bei einem Juden versetzten, der sie genau taxiert: Hiermit zeigete er [Troll; Anm. V.G.] ihm die Kleider/ er wolte aber/ weil sie sehr zerschlissen/ nichts sonderliches darauf bieten/ jedoch stachen ihn die silbernen Knöpffe am Rock so viel in die Augen/ daß er dem Troll 6. Reichs=Thaler dafür zahlete […].61
Es ist der Blick des geschulten Pfandleihers, der hier beschrieben wird – zugleich wird durch den Hinweis auf die dem Juden ins Auge stechenden silbernen Knöpfe das Stereotyp der jüdischen Geldgier aufgerufen und so die jüdische Figur disqualifiziert. Als Troll, nun wieder in Gestalt eines Italieners und deshalb für den Juden nicht identifizierbar, bei ihm am nächsten Tag vorstellig wird und ihn mitsamt verschiedener Kleider zu Cerebacchius bestellt, erkennt dieser seine eigenen wieder. Er fragt den Juden, wie viel sie kosten sollen: „Er antwortete: Zwantzig Ducaten. Cereb. Jch wil dir dreissig geben. Jud: Das ist mir so viel lieber.“62 Wurde der Vorwurf der Geldgier vorher noch eher versteckt formuliert, tritt er hier offen zu Tage, wenn der Jude zwanzig Dukaten fordert – dies würde einen Gewinn von über sechzig Prozent und damit Wucher bedeuten. Da Cerebacchius jedoch glaubt, dass der Jude ihm die Kleider gestohlen hat – Troll hatte ein Fenster offen gelassen, um diesen Eindruck zu erwecken –, prügelt er auf den Juden ein, der wiederum „schwur bey seiner Schamma/ daß es ihm zwar diese Nacht erst gebracht worden/ aber von einem Spanier mit einem Aug/ dem er 20. Reichs=Thaler dafür erleget hätte.“63 Der Jude erscheint durch diese Äußerung nicht nur als geldgierig, er erweist sich auch als Lügner. Zugleich wird durch 60 61 62 63
Ebd., S. 433. Happel: Der Academische Roman (wie Anm. 54), S. 252. Ebd., S. 256. Ebd., S. 256f.
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den Schwur der Vorwurf des falschen Judeneides und der Unglaubwürdigkeit der Juden aufgerufen.64 Cerebacchius will nicht bezahlen und es kommt wiederum zu einer Prügelei, die Troll schließlich auflöst. Der Jude beharrt auf den geforderten zwanzig Talern, Troll gibt ihm jedoch nur die sechs und der Pfandleiher muss sich mit diesen zufrieden geben.65 Vorgeführt wird hier mithin ein Jude, der ganz dem Stereotyp des ‚betrügerischen Pfandleihers‘ entspricht. Auffällig ist jedoch, dass die Studenten ihn nicht verspotten, er ist vielmehr nur Mittel, dem Cerebacchius eine Posse zu spielen, sodass er – nachdem er in seine Schranken gewiesen wurde – auch unbehelligt entkommen kann. Es findet sich noch eine weitere Episode, in der antijüdische Stereotype aufgegriffen und produktiv genutzt werden – wenn auch in auffällig anderer Weise. So verkleidet sich Troll als Jude, um mit der von ihm begehrten Margara eine Nacht verbringen zu können. Die Verkleidung ist notwendig, da sie als „Frauenzimmer in Jtalien gar eingezogen gehalten wird“.66 Ihre Mutter lässt jedoch nachts manchmal einen jüdischen Händler zu sich kommen – er wird über ein Seil am Haus hinauf in eine Kammer gezogen –, sodass sich Troll als Jude verkleiden soll, um ins Haus zu kommen. Am Abend erhält er die Kleider und geht als Jude in den Straßen von Padua spazieren. Dabei spricht er mit sich selbst: […] dannenhero viel Nacht=Raben/ die ihm aufstiessen/ stehen blieben/ und vermeynten/ dieser Mensch wäre nicht recht bey Sinnen/ oder truncken/ oder habe sich verirret/ dannenhero wolten sie ihm zurecht helffen; So bald sie aber näher kamen/ und seinen Jüdischen Habit erblicketen/ stiessen sie ihn mit Ungestümm von sich/ und sagten: Packe dich/ du
64 „In der mental geschlossenen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit galt der Jude als der Dissident, der außerhalb der christlichen Lebenswelt Stehende, der Ausgeschlossene, der Fremde schlechthin. Der promissorische Rezeptionseid eines Schutzjuden impliziert ebenso wie der im Prozeß abzulegende assertorische Eid die Frage nach der Glaubwürdigkeit des ‚Ungläubigen‘; als ‚impius‘ war der Jude auch in bürgerlichen Angelegenheiten jemand, dem perfidia anhing und der im Hinblick auf die Wahrheit zunächst als fide indignus galt.“ Erner Marzi: Judentoleranz im Territorialstaat der Frühen Neuzeit. Judenschutz und Judenordnung in der Grafschaft Nassau-Wiesbaden-Idstein und im Fürstentum Naussau-Usingen. Wiesbaden 1999 (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 16), S. 118. Vgl. auch Otto Böcher: Der Judeneid. In: Evangelische Theologie 30, NF 25 (1970), S. 671–682; Oda Cordus: Prozeßrecht im Dienste eines Vorurteils: Der Judeneid. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11 (2002), S. 13–30 und Walter Röll: Zu den Judeneiden an der Schwelle zur Neuzeit. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981, S. 165–204. 65 Vgl. Happel: Der Academische Roman (wie Anm. 54), S. 257f. 66 Ebd., S. 271.
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beschnittener Hebreer/ du eingesaltzener Schweins=Schincken/ wie trittest du auf der Gassen/ als wann sie dir allein zukäme?67
Satirisch entlarvt werden hier mithin die antijüdischen Vorurteile und die daraus resultierenden Reaktionen der Passanten, die sich, sobald sie des angeblichen Juden gewahr werden, in Beschimpfungen ergehen: Der anfängliche Affekt des Mitleids schlägt um in Ablehnung und Hass – ausgelöst allein durch den Anblick jüdischer Kleider. Eine die Juden ablehnende Haltung scheint auch vom Erzähler vertreten zu werden, wenn er sie als „Geschmeiß“68 bezeichnet. Trotz der satirischen Schreibart69 wird hier mithin nicht für eine differenzierte Haltung gegenüber den Juden plädiert, es geht vielmehr um die Aufdeckung der Wirkung von Vorurteilen und Stereotypen, was sich auch am weiteren Handlungsverlauf zeigt. So nutzt Troll den Vorwurf, dass Juden sich nur zum Schein taufen lassen würden bzw. sich nur um der materiellen Vorteile wegen zur Taufe bereiterklärten, um bei einem Seidenweber Kost und Logis zu erhalten. Der Seidenweber, der an dem Juden ein gutes Werk tun will, wird jedoch betrogen: So flüchtet Troll heimlich nach dem Mahl, wodurch sich der Seidenweber in seinen Vorurteilen gegenüber den Juden bestätigt sieht.70 Troll bezieht schließlich jedoch selbst Prügel: So zieht ihn Margara nicht am Seil zu sich herauf, sondern lässt ihn hängen, sodass die hinzukommenden Wachen ihn für einen Dieb halten. Als sie gewahr werden, dass es sich (vermeintlich) um einen Juden handelt, der einbrechen wollte, schlagen sie auf ihn ein. Der hinzukommende Seidenweber glaubt zudem, dass Troll einen silbernen Becher von ihm gestohlen habe, sodass Troll auch von diesem geprügelt wird. Die satirische Episode führt mithin die Überzeugungskraft antijüdischer Vorurteile und Stereotype vor und übt Kritik an ihnen: So ist es eben kein Jude, sondern der Student Troll, der den Seidenweber betrügt, und auch der Verdacht des Diebstahls, der sich allein darauf gründet, dass der vermeintliche Übeltäter ‚Jude‘ ist und insofern qua Stereotyp zu den Betrügern und Dieben gehört, ist ungerecht-
67 Ebd., S. 314f. 68 Ebd., S. 315. 69 Vgl. dazu Wilhelm Kühlmann: Happels ‚Academischer Roman‘ und die Krise der späthumanistischen Gelehrtenkultur. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 383–395, S. 387. Kühlmann weist aber daraufhin, dass die Figuren nicht allein in der Funktion pikarischer Figuren auftreten, sondern auch als heroische Helden, Studenten oder galante Helden. 70 Vgl. Happel: Der Academische Roman (wie Anm. 54), S. 317.
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fertigt. Dennoch werden die Juden von Vorwürfen nicht freigesprochen – man bedenke die Episode mit dem betrügerischen Pfandleiher –, es wird vielmehr an der Denkfigur des ‚betrügerischen, diebischen Juden‘ Kritik geübt, basiert diese doch nicht auf Tatsachen, sondern allein auf unbewiesenen Vorwürfen. In diesem Sinne wird dafür plädiert, die Figuren allein an ihren Taten zu messen und nicht anhand von unbelegbaren Vorstellungen, die – wie im Falle des verkleideten Trolls – eben trügen können. Dies bezieht sich jedoch nicht allein auf jüdische Figuren, sondern beispielsweise auch auf Türken, die sowohl als grausame Widersacher wie auch als Freund und Vertrauter des Helden figurieren.71 Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf eine Episode in Johann Beers Teutschen Winter=Nächten. Dort wird das Schwankmotiv des betrogenen Betrügers aufgegriffen und im ersten Kapitel geschildert, wie ein Gärtner sich als Jude verkleidet und betrogen wird. Die Schlossherrin schickt diesen in die Stadt, um Geld zu wechseln, „und damit sich der Gärtner nicht zu bloß gebe/ verkleidete ihn die Edelfrau gleich einem Juden“.72 Er wird jedoch von dem Edelmann Ludwig betrogen, denn dieser „hielte es vor keine Sünde/ einem Juden über den Tölpel zu werffen“.73 Als Ludwig anlässlich einer Einladung auf das Schloss unwissentlich den Betrug zugibt, holt man den Gärtner aus dem Gefängnis: ‚Herr‘/ sprache der Gärtner/ ‚wie ist die Ducat und die Guldi/ und die Guldi? Ist die gued/ hat sie das Gewicht/ Schalamachey/ Ey/ Ey/ schlimmi Christ schlimmi Christ/ betrogne Christ/ issi schlimmi Leut/ Ey/ Ey Schalamachey‘.74
Ludwig verspricht, nachdem er die ganze Geschichte gehört hat, das Geld zurückzugeben, und bittet die betrogene Edelfrau, „[s]ie sollte ihm die verübte Unhöfflichkeit/ als eine kluge Dam/ nicht vor übel halten/ es wäre nicht ihr/ sondern dem Juden/ gemeinet gewesen“.75 Auch hier wird die Verkleidung genutzt, um die Willkür gegenüber Juden bloßzustellen und den Träger solcher Einstellungen – in diesem Fall Ludwig, der sich als Angehöriger des Adels nicht in die ihm zugeteilte Vorbildrolle findet –, satirisch zu entlarven. Folgerichtig geht der Betrüger seiner Beute auch wieder verlustig. Des Weiteren ist auf die Sprache des Gärtners zu verweisen: Er ver-
71 Vgl. dazu Tatlock: Selling Turks (wie Anm. 14), S. 316. 72 [Johann Beer:] Zendorii á Zendoriis Teutsche Winternächte Oder Die ausführliche und denckwürdige Beschreibung seiner Lebensbeschreibung seiner Lebens Geschicht […]. [Nürnberg] 1682, zitiert nach der Ausgabe Johann Beer: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans Gert Roloff. Bd. 7: Teutsche Winternächte. Bern 1994, S. 45. 73 Ebd., S. 47. 74 Ebd. 75 Ebd.
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wendet in seiner Rede vermeintliche Jiddismen wie „Ey/ Ey Schalamachey“ und hebt damit auf Kuriosität und komische Wirkung ab. Diese Parodie kehrt sich jedoch letztlich gegen den Gärtner selbst und er wird als Betrogener Gegenstand des Spottes. Satirisch aufgegriffen wird hier mithin das Rollenprofil des ‚komischen Juden‘, das sich später unter anderem in den Libretti der Hamburger Barockoper nachweisen lässt.76 Innerhalb der Happelschen Romane selbst zeichnen sich die jüdischen Figuren vornehmlich durch ihre Geldgier aus. Dennoch kommt es zumindest an einer Stelle innerhalb Happels umfangreichen Romanwerkes zu einer durchaus positiv konnotierten Zeichnung einer jüdischen Figur: Im Asiatischen Onogambo kommen Juden nur marginal zur Darstellung, die auftretenden Figuren, der reiche Jude Aben Moyses und seine zwei Söhne, sind hinsichtlich ihrer Anlage jedoch umso interessanter. Im Folgenden richtet sich der Fokus auf Aben Moyses, da seine Söhne zwar positiv erwähnt werden, sich zu ihnen aufgrund der Kürze der Belegstellen jedoch kaum fundierte Aussagen treffen lassen. Aben Moyses ist ein reicher Zöllner, den die Titelfigur Onogambo, ein asiatischer Prinz, auf einem Schiff kennenlernt, auf dem letzterer gefangen gehalten wird. Sie kommen miteinander ins Gespräch und Aben Moyses erläutert Onogambo, dass er für sich und seine Söhne um sein Vermögen fürchte und einen sicheren Ort zum Leben suche. Sie verabreden, dass Aben Moyses Onogambo nach Turkestan bringen soll und ihm die Hälfte seines Vermögens gibt, wenn dieser beim König Fürsprache für ihn einlegt, sodass sich Aben Moyses dort ansiedeln kann. In der Folge unterstützt dieser Onogambo durch die Bereitstellung von Unterkunft und Sklaven. Er macht sich schließlich zusammen mit seinen Söhnen und Onogambo auf die Reise nach Turkestan, doch sie werden durch ein Unwetter getrennt.77 Polixa, ein Freund des Onogambo, und die Juden werden schließlich gerettet und vom Bruder des Onogambo verhört. Als Aben Moyses und seine Söhne berichten, dass sie Gefährten des Onogambo seien, werden sie „vor ehrliche Leute auffgenommen“78 und erhalten die Erlaubnis, „sich nieder zu lassen/ wo sie wolten/ und nach ihrem Belieben zu leben und zu handeln“.79 Der These, dass es erst mit Gellert und Lessing zu einer positiven Zeichnung jüdischer Figuren gekommen ist, kann mit Verweis auf die Figur des Aben Moyses
76 Vgl. unten, S. 356–361. 77 Eberhard Werner Happel: Der Asiatische Onogambo Darin Der jetzt=regierende grosse Sinesische Käyser Xunchius. Als ein umbschweiffender Ritter vorgestellet/ nächst dessen und anderer Asiatischer Prinzten Liebes=Geschichten und ritterlichen Thaten/ auch alle in Asien gelegene Königreiche und Länder/ […] kürtzlich mit eingeführet werden. Hamburg 1673, S. 414–447. 78 Ebd., S. 479. 79 Ebd., S. 482.
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widersprochen werden, auch wenn es sich bei diesem nicht um eine Hauptfigur handelt. So wird die religiöse Differenz zwar angesprochen, wenn Onogambo und Polixa in Smyrna alleine speisen, jedoch nicht pejorativ konnotiert. Aben Moyses wird vielmehr durch seine Handlungen, die stets darauf gerichtet sind, Onogambo zu unterstützen, als positive Figur ausgewiesen. Der Hinweis, dass es sich bei ihm um einen sehr reichen Mann handele, kann ebenfalls kaum als antijüdisch gelten, sein Reichtum ist vielmehr die Bedingung für die Möglichkeit, dem Helden zu helfen. Auch die Bezeichnung als Jude bzw. Juden hat kaum weitere Implikationen, werden doch auch Türken oder Tartaren als solche bezeichnet.80 Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die Geschicht-Romane Happels zunächst festhalten, dass das Jüdische grundsätzlich in zwei unterschiedlichen Weisen verhandelt wird: Zum einen werden Berichte über historische und aktuelle Ereignisse dargeboten, die entweder unkommentiert vorgebracht werden und vornehmlich der Wissensvermittlung sowie Befriedigung der curiositas des Lesers dienen, oder Anlass zur Erörterung geben. Hier lässt sich zuweilen eine deutlich antijüdische Stoßrichtung ausmachen, auch wenn – wie im Falle des angeblichen Blutgebrauchs im Witekind – scheinbar objektiv argumentiert wird. Happel übernimmt durch seine Kompilationsarbeit antijüdische Stereotype und Vorstellungen, popularisiert und tradiert sie weiter. Dennoch ist Vorsicht angebracht, kann dieses doch als Beispiel dafür gelten, dass man bei dem Versuch anhand von Texten auf eine ‚judenfreundliche‘ oder ‚judenfeindliche‘ Disposition des realen Autors zu schließen, leicht zu vorschnellen und gegebenenfalls nicht haltbaren Schlüssen kommt.81 So bezieht sich der Verfasser zwar auf antijüdische Polemiken – wie Gersons Der Jüden Thalmud oder der „Bericht“ von den zehn Stämmen und ihren Plagen – und trägt so zu ihrer weiteren Verbreitung bei, jedoch können diese Passagen nicht mit einer wie auch immer gearteten Meinung oder Haltung des Autors identifiziert werden, ist doch zu berücksichtigen, dass zum einen der Sächsische Witekind wie auch der Bäyrische Max nicht aus Happels
80 Vgl. zu „Onogambo“ weiter auch – trotz der teilweise recht einseitigen Deutung – Fawzy D. Guirguis: Bild und Funktion des Orients in Werken der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Phil. Diss. Berlin 1972, S. 48–68. Es ist jedoch darauf zu verweisen, dass Guirguis nicht nur die Figur des Aben Moyses verschweigt, sondern in Abrede stellt, dass eine solche Figur im Roman überhaupt vorkommen könne: „[…] im ganzen Roman [werden] keine Personen aus dem Volke, d.h. hier, keine nichtadligen Figuren zu wichtigen Handlungsträgern […]. Treten jedoch Personen aus dem nichthöfischen Bereich in Erscheinung, so gehören sie bezeichnenderweise nicht dem orientalischen, sondern dem europäischen Lebensraum an: holländische Seefahrer oder christliche Mönche.“ Ebd., S. 63. 81 So z.B. Gearhart, der Happel vom Vorwurf des Antijudaismus zu entlasten sucht. Vgl. Gearhart (wie Anm. 20), S. 195–197. Bezeichnenderweise berücksichtigt Gearhart dann auch jene Romane nicht, in denen deutlich antijüdische Passagen zu finden sind.
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eigener Feder stammen, zum anderen, dass es Happel stets um umfassende Welterkenntnis zu tun ist, er mithin bestrebt ist, alle wissenswerten Materien aufzunehmen – wie abstrus sie zuweilen auch sein mögen. Die zweite Form Jüdisches zur Darstellung zu bringen, ist die Einfügung jüdischer Figuren. Bestimmend für die Konstruktion ist vor allem die den Juden zugeschriebene Disposition zur Geldgier, die dazu führt, dass sie andere betrügen. Trotz dieser stereotypen Zeichnung der meisten Figuren finden sich sehr vereinzelt auch durchaus differenzierte, ja vorbehaltlose Figurationen des Jüdischen, etwa wenn im Falle des verkleideten Trolls die Wirkung judenfeindlicher Stereotype satirischer Kritik unterzogen wird, wenn Aben Moyses zum Beschützer und Freund des Helden wird oder wenn ein Jude die schiffbrüchige Prinzessin Cartilucci vor dem Verhungern rettet und ihr ausführlich über das Osmanische Reich berichtet.82 Möglich wird dieses zum einen gerade durch die Methode der Kompilation, zum anderen durch den Umstand, dass Happel die Handlung in exotische Länder verlegt und bestrebt ist, nationale und kulturelle Differenzen zu berücksichtigen. Dies hat wiederum auch Auswirkungen auf das decorum: So stellt Happel eben keine europäischen, sondern – im Falle des Asiatischen Onogambo – asiatische Figuren vor, für die das entsprechende decorum zu gelten hat. In diesem Zusammenhang ist auf ein fingiertes Streitgespräch in Thomasius Monatsgesprächen zu verweisen, auf das Gelzer aufmerksam gemacht hat:83 Hier verteidigt ein Rezensent gegenüber einem Gegner der Happelschen Romane eben dieses angemessene bzw. angepasste decorum. Der Herr Happel beschreibe einen Africanischen Fürsten/ und keinen Europaeischen. Derowegen dörffte man auch seine inventiones nicht nach denen Europaeischen manieren ausmessen. Africa wäre ein heiß Land/ und also wäre das Frauenzimmer darinnen/ und in denen angräntzenden Orten/ hitziger als bey uns/ ja es schiene daselbst die Sonne so starck auff das Frauenzimmer von hohen Stande/ als auff die gemeine. Und solchergestalt wäre es nicht stracks wider das Africanische πρεον, wenn ein Frauenzimmer einen Cavallier ihre Liebe entdeckte/ ob es gleich unserm decoro zuwiederlieffe. Eben deßwegen hätte ich mehr Belustigung in dem Tarnolast gefunden/ als in vielen anderen Romanen, weil es immer
82 Happel: Deß ungarischen Kriegs=Romans Vierdter Theil (wie Anm. 37), S. 10–35. Es ist jedoch zu beachten, dass diese Figur äußerst ambivalent gestaltet ist: So hilft und unterstützt der Jude die Prinzessin zunächst, schließlich will er sie jedoch vergewaltigen, sodass die Prinzessin ihn tötet. 83 Vgl. zur Rezension des „Tarnolasts“ durch Christian Thomasius in den Monatsgesprächen Gelzer (wie Anm. 3), S. 162–170, der die Rezension von Thomasius im Zusammenhang mit der Diskussion um den Nutzen von Romanen (Unterhaltung und Wissen) anführt. Gelzer zitiert ebenfalls die hier angeführte Passage (S. 168) und verweist auf das von Thomasius geforderte angemessene decorum, ohne jedoch auf mögliche weitergehende Konsequenzen, wie etwa die Darstellung jüdischer Figuren, einzugehen.
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schiene/ als wenn der Autor wider die Regeln anstiesse/ und dennoch allezeit Ursachen da wären/ wenn man die Sache genauer überlegte/ durch welche man ihn entschuldigen könte.84
Diese Hinweise sind freilich nicht als Versuch zu verstehen, Happel vom Vorwurf des Antijudaismus freizusprechen, sondern vielmehr dem Bestreben geschuldet, differenzierte und durchaus ambivalente Texte als solche ernst zu nehmen und nicht dem Versuch zu erliegen, diese zu vereinseitigen und lediglich eine vermeintliche Haltung des realen Autors zu konstatieren.
4.2 „Verworffenes Volk“ und „schändliche Mörder Christi“: Die Romane des Andreas Heinrich Bucholtz Im Folgenden sollen zwei Romane im Fokus stehen, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert durchaus erfolgreich waren:85 Des Christlichen Teutschen Groß=Fürsten Herkules Und Der Böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder=Geschichte86 sowie der Fortsetzungsroman Der Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus und Herkuladisla Auch ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuthige Wunder=Geschichte87 des protestantischen Geistlichen Andreas Heinrich Bucholtz. Bevor auf jene Textstellen, in denen Jüdisches verhandelt wird,
84 Christian Thomasius: Freymüthiger Jedoch Vernunfft= und Gesetzmäßiger Gedancken/ Uber allerhand/ fürnemlich aber Neue Bücher September des 1689 Jahrs. Halle 1689 [Nachdruck Frankfurt a.M. 1972], S. 737f. Thomasius bezieht sich hier zwar auf den Roman „Africanischer Tarnolast“ von Happel, seine Ausführungen können jedoch für die Figuren der Geschicht-Romane generell gelten. 85 Der „Herkules“-Roman erlebte im siebzehnten Jahrhundert drei Auflagen (1659/60, 1666, 1693), drei weitere, zum Teil bearbeitete, Ausgaben erschienen im achtzehnten Jahrhundert (1728, 1744, 1781–83). Vgl. insbesondere zu den Ausgaben im achtzehnten Jahrhundert Ingeborg Springer-Strand: Barockroman und Erbauungsliteratur. Studien zum Herkulesroman von Andreas Heinrich Bucholtz. Bern, Frankfurt a.M. 1975 (Europäische Hochschulschriften 118), S. 6–8. Häufig wird auch darauf verwiesen, dass die „schöne Seele“ in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ betont, dass ihr „unter allen der ‚Christliche deutsche Herkules‘ der liebste“ war. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Hg. von Erich Trunz. München 1977 (Hamburger Ausgabe VII), S. 359. 86 [Andreas Heinrich Bucholtz:] Des Christlichen Teutschen Groß=Fürsten Herkules Und Der Böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wunder=Geschichte […]. Braunschweig 1659. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1659. Hg., eingeleitet und mit einem Personen- und Sachverzeichnis versehen von Ulrich Maché. Bern, Frankfurt a.M. 1973. 87 [Andreas Heinrich Bucholtz:] Der Christlichen Königlichen Fürsten Herkuliskus und Herkuladisla Auch ihrer Hochfürstlichen Gesellschafft anmuthige Wunder=Geschichte. In sechs Bücher
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genauer eingegangen wird, seien einige Bemerkungen zu Form und Anlage der Romane vorangestellt.88 In der „Freundliche[n] Erinnerung an den Leser“, mit der Bucholtz den Herkules-Roman einleitet, entwickelt er in Auseinandersetzung mit dem AmadisRoman, den er zwar als „schandsüchtig“89 bezeichnet, an dessen Abenteuerschema er sich – zumindest im ersten Teil – aber noch weitgehend orientiert,90 sein Programm eines heroischen Romans. Die Kritik am Amadis zielt dabei insbesondere auf drei Punkte: So enthalte der Amadis erstens viel Unwahrscheinliches und es fehle eine glaubwürdige Einordnung in die Geschichte, zweitens zeichne er sich durch einen Mangel an moralischen Grundsätzen aus, der sich vor allem in unerlaubten Liebesbeziehungen erweise, die eine Gefährdung der Sittlichkeit darstellten, und drittens übt er Kritik an den magischen Fähigkeiten der Ritter, die „nit allein vor gut und zugelassen sondern wol gar vor Christ= und götlich wil gehalten werden“.91 Bucholtz hält sein Programm seines erbaulichen Romans dagegen: Er verlegt die Handlung in eine historisch identifizierbare Zeit – in das zweite Jahrhundert nach Christi – und erhöht somit den Wahrscheinlichkeitscharakter des Werkes, verzichtet auf magische oder phantastische Begebenheiten – werden dennoch wunderbare Begebenheiten dargestellt, sind diese stets aus christlicher Perspektive zu deuten – und lässt keine vorehelichen Liebesbeziehungen zu. Wichtiger aber noch ist, dass er den Roman um eine entscheidende Dimension ergänzt: die christliche, die nicht nur die zahlreichen katechetischen Einschübe legitimiert, sondern auch strukturbildend wirkt.92 Offensichtlich wird dieses bereits in der Vorrede, in der Bucholtz das gesamte Personal nach Tugend- und Lasterkatego-
abgefasset […]. Braunschweig im Jahr 1665. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1665. Hg. und eingeleitet von Ulrich Maché. Bern, Frankfurt a.M. 1982. 88 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den „Herkules“-Roman, gelten jedoch gleichermaßen für den „Herkuliskus“. 89 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), Erinnerung an den Leser, S. 1. 90 So Springer-Strand (wie Anm. 85), S. 28f., 60. 91 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), Erinnerung an den Leser, S. 1. Vgl. zu Bucholtz’ AmadisKritik Martin Disselkamp: Barockheroismus. Konzeptionen ‚politischer‘ Größe in Literatur und Traktatistik des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002 (Frühe Neuzeit 65), S. 83–85; Walter Ernst Schäfer: „Hinweg nun Amadis und deinesgleichen Grillen!“. Die Polemik gegen den Roman im 17. Jahrhundert. In: GRM NF 15 (1965), S. 366–384, insb. S. 372–375; Gerhard Spellerberg: Höfischer Roman. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Bd. 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock 1572–1740. Hg. von Harald Steinhagen. Reinbek 1985, S. 310–337, insb. S. 319–323; Springer-Strand (wie Anm. 85), S. 4–6, 15–30 sowie Ulrich Maché: Die Überwindung des Amadis-Romans durch Andreas Heinrich Bucholtz. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 85 (1966), S. 542–559. 92 Vgl. dazu Disselkamp (wie Anm. 91), S. 107–117.
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rien ordnet und erläutert, welche Personen welche Tugenden und Laster verkörpern. An der Spitze steht der vorbildliche Held Herkules, der „als ein Ebenbilde eines nach vermögen volkommenen Christen, der im weltlichen Stande lebet“,93 am unteren Ende der Skala stehen Artabanus, Orsillus, Nitsla und andere, die die „schnödesten Untugenden“ vorstellen, wobei moralisches und politisches Verhalten stets in enger Verbindung steht.94 Daran, dass die einzelnen Figuren vom Leser als exemplarisch zu verstehen sind, wird kein Zweifel gelassen, wenn darauf verwiesen wird, dass Herkules zeige, wie man weder durch irdische Glükseligkeit noch durch Unglüksfälle sich von Gott und vom Christlichen Wandel abziehen lassen/ sondern allemahl seinen Heiland im Herzen haben/ Christlich leben/ die Welt verachten/ Fleisch- und Blutes Bewegung und die reitzende Lüste dämpfen/ der Untugend absagen/ den wahren Gott vor der Welt bekennen/ der Tugend nachsetzen/ und äussersten Vermögens seines Nähesten Besserung und Rettung jhm angelegen seyn lassen müsse.95
Der Exempelcharakter – darauf hat Disselkamp hingewiesen – beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Helden und ihre Antagonisten, sondern hat Einfluss auf die Komposition des Romans, der selbst als Exempelsammlung angelegt ist. Bucholtz inszeniert die christliche Erbauung in zahlreichen additiv aneinander gereihten Tugend- und Lastererzählungen – zu ihnen gehören auch die hier zu analysierenden Episoden, in denen jüdische Figuren auftreten. Die Reihung der Exempelerzählungen hat jedoch kompositorische Konsequenzen, führt sie doch dazu, dass einzelne Handlungssequenzen unverbunden nebeneinanderstehen und handlungslogische Begründungen fehlen:96 „Entscheidender Strukturgesichtspunkt ist nicht die innere Kohärenz, sondern die rhetorisch-exemplarische Funktionalität.“97 Vor diesem Hintergrund erscheint es sodann auch legitim, die einzelnen hier zur Debatte stehenden Episoden herauszugreifen und gesondert zu analysieren, haben sie doch keinen Einfluss auf die weitere Handlung und bleiben auch ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs als Beispielgeschichten verständlich. Eine Begründung erfährt diese Komposition im Hinblick auf den katechetischen Charakter des Werkes, auf den Bucholtz in der Vorrede verweist:
93 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), Erinnerung an den Leser, S. 2. 94 Vgl. dazu neben Disselkamp (wie Anm. 91), S. 83f. auch Springer-Strand (wie Anm. 85), S. 23–28. 95 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), Erinnerung an den Leser, S. 2. 96 So Disselkamp (wie Anm. 91), S. 100–104. Vgl. dazu auch Springer-Strand (wie Anm. 85), S. 45–60. 97 Disselkamp (wie Anm. 91), S. 103 [Hervorhebung im Original].
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Jedoch sol der Leser hiemit Christlich vermahnet seyn/ dieses Buch nicht dergestalt zu lesen/ daß er nur die weltlichen Begebnissen zur sinlichen Ergezligkeit heraus nehmen/ und die eingemischeten geistlichen Sachen vorbey gehen wolte; sondern vor allen Dingen die Christlichen Unterrichtungen wol beobachte/ sie ins Herz schreibe/ und darnach sein Leben zurichten/ jhm lasse angelegen seyn/ insonderheit den zum Ende gesezten Begrieff des allgemeinen Christlichen Glaubens nach allen seinen Stücken recht fasse/ als welcher jhm zur Richtschnur seines Christentuhms dienen/ und die Erkäntnis der Christlichen Lehre wol beybringen kan.98
Der Erbauung dienen jedoch nicht nur die Tugend- und Lastererzählungen, sondern auch die zahlreichen Einschübe von Gebeten, Liedern, Psalmenübersetzungen und religiösen Unterweisungen im Hinblick auf bestimmte Glaubensinhalte.99 Verbunden mit der einprägsamen Vermittlung und Bestätigung der einzig ‚wahren‘ Lehre, der christlichen, ist zugleich ein scharfer Ab- und Ausgrenzungsgestus, wird doch jede Form der Häresie und jede andere Religion abgelehnt.100 Dies zeigt sich insbesondere an jenen Episoden, in denen es zur Verhandlung des Jüdischen kommt, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Herkules, ein in jeder Hinsicht vorbildlicher Held, der mit einer „reichhaltigen charismatischen und providentiellen Ausrüstung“ – dazu gehören sein Erscheinungsbild, das äußerliches Zeichen für seine innere Schönheit ist, sein Ruhm, seine Vergöttlichung durch andere Figuren und seine göttlich begründete felicitas – versehen ist,101 pflegt ein sehr freundschaftliches Verhältnis zum Bischof von Jerusalem und hält sich bei diesem als Gast auf. Eines Tages unterhalten sie sich auf der Straße, als der Bischof sich unvermittelt ins Haus zurückziehen will. Nach der Ursache gefragt, antwortet er: Er sähe dort einen sehr frechen und verwägenen Juden herkommen/ einen Erzfeind des Christlichen Nahmens/ welcher ihm zur Geissel gegeben währe/ und von ihm/ so offt er ihm begegnete/ übel gescholten und angespeiet würde/ währe auch wegen grosser Erfahrenheit in Waffen/ so hochmühtig/ daß er fast jederman höhnete.102
98 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), Erinnerung an den Leser, S. 3. 99 Vgl. dazu neben Disselkamp (wie Anm. 91), S. 107–114, der die Erbauung im Roman in den Kontext zeitgenössischer Lehren zur Religionspolitik stellt, vor allem auch Andreas Lindner: A.H. Bucholtz Herkules-Roman 1659/60. Zur Synthese von Erbauungs- und zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur im Barock. Berlin 2006 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie 8), der die theologischen Schwerpunkte des Romans zusammenstellt. 100 So Disselkamp (wie Anm. 91), S. 109f. 101 So Disselkamp, ebd., S. 106. Herkules führt hier den Namen Valikules, zur besseren Verständlichkeit wird hier jedoch der Name Herkules beibehalten. 102 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 488f.
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Der jüdische Ritter Ben-Levi – sein Rittertum ist Voraussetzung dafür, dass es später zwischen ihm und dem christlichen Ritter Herkules zu einem Duell kommen kann – wird hier als eine Figur eingeführt, dessen Verhalten analog zu dem gängigen Stereotyp des ‚Christenhasses‘, der sich im Ausspeien und Verhöhnen manifestiere,103 gestaltet ist. Christenhass ist – wie noch gezeigt werden wird – eine der bestimmenden Dispositionen der Juden im Roman und mehr noch: Der ‚jüdischen Identität‘ ist, so wird suggeriert, der Christenhass inhärent, sodass es auch nicht notwendig ist, weitere Motive für das Verhalten Ben-Levis anzugeben. Die zweite die Juden bestimmende Disposition offenbart sich, wenn der Bischof Ben-Levi auf Anraten Herkules entgegentritt und von diesem angespieen wird, woraufhin letzterer den Juden niederschlägt und ihn zum Duell fordert: Es gehub sich der Jude nicht anders/ als währe er von Sinnen kommen/ und schwuhr bey dem wahren lebendigen Gott/ er müste von seinen Händen sterben/ und in kleine Bißlein zerhacket werden; weil er aber [Herkules; Anm. V.G.] solcher Dräuworte wenig achtete/ hieß er ihn fortmachen/ weil er nit lange der weile hätte auff ihn zuwarten. Also muste dieser vor dißmahl die Ohrfeige verschlucken/ die er doch schwer zurächen gesinnet wahr […].104
Rachsucht, verbunden mit mangelnder Affektkontrolle, sind jene Laster, die diesen Juden – und schließlich die Juden insgesamt – vom christlichen vorbildhaften Helden unterscheiden, ja die Tugenden des christlichen Ritters verkehren sich beim jüdischen in ihr Gegenteil: […] solte in einem Juden wol rechtschaffene Tugend seyn/ deren höchstes nur in rasichter Wuht bestehet? Er mag biß daher mit seinem viehischen Trotze durchgedrungen haben/ obs aber wahre Ritterschaft oder tumme Verwägenheit sey/ sol mit meines Gottes hülffe er mir noch heut einen schärfferen Beweißtuhm sehen lassen/ als der in Schändung geistlicher Lehrer bestehet.105
103 Vgl. beispielsweise Hosmann (wie Anm. 45), S. 55; Kristian Franz Paullini: Zeit=verkürtzende Erbauliche Lust/ oder/ Allerhand ausserlesene/ rar= und curiose, so nütz= als ergetzliche/ Geist= und Weltliche/ Merckwürdigkeiten […]. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1692–1697, hier Bd. 2, S. 426; Schmidt: Feuriger Drachen=Gifft und Wütiger Ottern=Gall (wie Anm. 30), S. 113; Matthäus Hammer: Viridarium Historiarium: Oder Neu=vermehrter und gepflantzter Blumen=Garten/ Angefüllet mit den anmuthigsten Historien/ denckwürdigen Begebenheiten/ und reiffsinnigen Lehren/ worinnen die Tugenden gelobet/ und mit schuldiger Ehr belohnet; Die Laster aber verstossen/ und mit gebührender Schande gestrafft werden […]. Dresden 1664, S. 127; [Erasmus Francisci:] Neu-erbauter Schau=Platz denckwürdiger Geschichte/ und seltzamer/ mehrentheils trauriger Fälle: Voll leß=würdiger Erzehlungen; und mancherley/ sowol bey jetzigen/ als längstverwichener Jahren/ begebener Exempeln/ samt deren nutzlich-beygefügten Erinnerungen […]. Nürnberg 1663, S. 800. 104 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 489. 105 Ebd., S. 490.
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Gerade aufgrund dieser den Juden auszeichnenden Eigenschaften fürchtet der Bischof um Herkules Wohlergehen – hier wird christliche misericordia gegen jüdische Laster gesetzt. Herkules beruhigt ihn jedoch mit den Worten, „es würde der gerechte Gott diesem Gotteslästerer schier die verdiente Straffe auflegen“.106 Diese Gewissheit begründet sich dabei nicht nur in der von Gott garantierten felicitas des Herkules, sondern auch in dem dem Roman zugrundeliegenden Prinzip, dass Unrecht gegen Christen letztlich immer gestraft wird, sodass Herkules Versicherung auch als Vorausdeutung auf das weitere Geschehen gelesen werden kann. Um die Spannung herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten sowie das Duell zu einer Bewährungsprobe des Helden zu stilisieren, ist es notwendig, ein Bedrohungsszenario zu evozieren: Dieses manifestiert sich vor allem in den Äußerungen des Bischofs und des hinzugezogenen Statthalters von Jerusalem, die Herkules vor Ben-Levi warnen, ihre Unterstützung aber zusichern, „[…] daß er nicht etwa von dem heillosen Juden Gesindle/ unredlicher weise überfallen würde/ sondern wider unbillichen Gewalt Schutz haben möchte.“107 Dass dieses – trotz Herkules Vertrauen auf Gott und seine Erfahrung108 – durchaus angebracht ist, zeigt sich spätestens, als Ben-Levi und acht weitere Bewaffnete Herkules in einer Gasse überfallen wollen. Zum Kampfplatz wird schließlich der Garten Gethsemane, Ort der Gefangennahme Jesu durch die Vertreter der Hohepriester, erwählt und es kommt zur Konfrontation der beiden Parteien. Dort gibt Herkules Ben-Levi die Möglichkeit zur Umkehr und fordert Reue, woraufhin die umstehenden Juden „verächtlich“ ausspeien, Ben-Levi aber „vermeynete des anmuhtens vor Zorn zubersten“.109 Hier werden mithin jene Vorwürfe wiederholt, die schon beim ersten Auftreten Ben-Levis vorgebracht wurden, und somit dem Rezipienten eingeprägt. Es lässt sich jedoch noch ein Weiteres feststellen: Die Möglichkeit der Umkehr wird von Ben-Levi bewusst ausgeschlagen, womit nicht nur das Motiv der ‚Verstockung‘ Bestätigung findet, sondern ein Sieg des Herkules als Vertreter der göttlichen Gerechtigkeit umso gebotener erscheint, hat sich doch der Jude versündigt und ist nicht bereit zur Reue, sodass er zurechtgewiesen werden muss. Die beiden Gegner geben ihre Schilde ab – der jüdische Ritter aus „rasichter Wut“110 und Selbstüberschätzung, der christliche aus Gerechtigkeitssinn – und Herkules schlägt Ben-Levi vom Pferd, welches Herkules „seiner Gewohnheit
106 107 108 109 110
Ebd., S. 489. Ebd. Vgl. ebd., S. 490. Ebd. Ebd.
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nach“111 nun anstelle seines Reiters attackiert. Dies ist beachtenswert, wird doch das Pferd von Herkules in Kampfszenen selbst zur „Inkarnation heroischer Größe“.112 Insofern verwundert es auch nicht, dass sich die Laster des jüdischen Ritters auf sein Pferd übertragen. Ben-Levi wird sodann von Herkules nochmals die Möglichkeit zur Umkehr gegeben. Dieser antwortet in seiner Raserei jedoch nicht, sondern stürmt als „ergrimmeter Löue“113 auf ihn zu – der Löwe wird hier zum Sinnbild für den Teufel (1. Petr. 5,8). Dass es ihm aber an Macht und Stärke mangelt, wird schnell deutlich, dominiert doch Herkules den folgenden Kampf. Er wird dem Juden zum „Meister“,114 sodass Ben-Levi auch nicht mehr auf einen Sieg sinnt, sondern nur noch darauf, Herkules mit in den Tod zu nehmen. Es folgt das dritte Angebot zur Abbitte, was Ben-Levi jedoch ablehnt: Ich weiß nicht/ antwortete dieser/ ob du ein Mensch oder ein Teufel bist; doch gestehe ich mich zu nichts/ weil ich aller Christen Feind leben und sterben wil/ als deren ich schon mannichen erwürget habe.115
Vor dem Hintergrund, dass sich der jüdische Ritter selbst hier noch als Christenfeind erweist und hartnäckig ‚verstockt‘ bleibt, erscheint es sodann als Gottesurteil, wenn Herkules als Arm Gottes Ben-Levi den Kopf spaltet. Dieser Sieg des ‚wahren‘ Ritters wird sodann auch von geistlicher Warte aus bestätigt, sodass Herkules Vorausdeutung, dass Gott ihm gegen das verhasste Judentum zu seinem Recht verhelfen würde, Bestätigung erhält: „Da solches der Bischoff sahe/ hub er seine Hände auf gen Himmel/ weinete vor Freuden/ und sagete: Herr mein Gott/ dieses ist ja dein Werk.“116 Diese Deutung bekräftigt auch nochmals Herkules selbst, wenn den exemplarischen Charakter der Episode betont: Ihr Juden/ lasset euch dieses ein Beyspiel seyn/ und scheuhet euch nach diesem/ Christliche fromme Lehrer zubeschimpffen; Ihr wisset was vor Leibes-Stärke und Erfahrenheit hinter diesem gestecket/ und dannoch hat mein Jesus ihn durch meine als eines Jünglings Hand nidergelegt.117
111 Ebd. 112 Disselkamp (wie Anm. 91), S. 155. Zur Zähmung des Pferdes durch Valiska vgl. [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 601f. 113 Ebd., S. 491. 114 Ebd., S. 492. 115 Ebd., S. 492. 116 Ebd., S. 492. 117 Ebd.
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Ein weiterer Jude fordert Herkules daraufhin zum Kampf und beschuldigt ihn, den Sieg nur durch Zauberei erlangt zu haben. Der Vorwurf der Zauberei wird hier mithin – schon im Hinblick auf die Anlage des Romans zu Unrecht – übertragen auf den christlichen Ritter. Herkules nimmt diesen Vorwurf auf und wendet ihn unter Verweis auf den „Schem Hamphoras“ gegen die Juden.118 Bucholtz Bezugsfolie ist hier Luthers Schrift Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi,119 in welcher Luther im ersten Teil die Juden der Zauberei beschuldigt. Der Kampf selbst gestaltet sich kurz: Der Jude geht – wie schon Ben-Levi – mit „unerhörter Verwägenheit und blinder Wuht“120 auf Herkules los, der ihm sein Schwert durch einen Schlag entwendet. Benjamin flieht, versteckt sich unter den umstehenden Juden und bringt sich aus Angst um. Die übrigen Juden, ebenfalls von Rachegefühlen getrieben, beschließen daraufhin, Herkules anzugreifen, werden jedoch von den Rittern des Statthalters zurückgehalten. In dieser Episode werden die wesentlichen Elemente der Konstruktion der jüdischen Figuren beider Romane schon aufgenommen: So zeichnen sie sich durch Rachsucht, Feigheit, Hochmut und mangelnde Affektbeherrschung aus – die Tugenden des christlichen Ritters werden von ihnen ins Gegenteil verkehrt. Auffällig ist weiterhin, dass Herkules die einzelnen Figuren stets nur als „Jude“ anspricht, obwohl ihre Namen bekannt sind. Sie sind insofern letztlich austauschbar, alle Juden zeichnen sich durch dieselben Laster aus, es gibt – so die Logik des Textes – keine Ausnahmen. Weiterhin kann festgestellt werden, dass die von den Juden ausgehende Bedrohung, die insbesondere durch den Statthalter und den Bischof evoziert wurde, durch den leichten Kampf, so wird Herkules nicht nur nicht verletzt, ja er schont noch seine Kräfte, aufgehoben wird. Zugleich ist das bedrohliche Szenario jedoch notwendig, um die Überlegenheit des christlichen Ritters effektreich inszenieren zu können. Die Warnungen des Statthalters verweisen zudem auf ein Weiteres:121 So bilden die Römer zusammen mit den Christen eine Allianz gegen die Juden – eine Ab- und Ausgrenzungsstrategie, die bei den folgenden Episoden noch mehr Bedeutung erlangt. Dass Rachsucht die bestimmende Disposition der Juden ist, erweist sich auch, als sich Herkules nach seinem kurzen Aufenthalt in Jerusalem wieder auf die Reise macht: Herkules und sein Gefährte Gallus werden überfallen. Beide „erlegen“122 –
118 Vgl. ebd., S. 492. 119 Martin Luther: Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (1543), zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 53. Weimar 1920, S. 579–648. 120 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 492. 121 Der Statthalter bekundet auch, dass er den „Juden in meinem Herzen niemahls hold“ gewesen sei, sich aber zu den Christen hingezogen fühle. Ebd., S. 494. 122 Ebd., S. 500.
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trotz Verwundung – zahlreiche Juden, aufgrund der gegnerischen Überzahl müssen jedoch die Ritter des Statthalters zur Hilfe kommen. Die Juden werden geschlagen und der Anführer gesteht unter der Folter, es hätten noch 112 Gewappnete Juden zu Fusse den Weg nach Emahus besetzet/ und sich verschworen/ keine Kleider abzulegen/ biß Ben-Levi tapferes Blut an seinem Mörder gerochen währe.123
Die restlichen Juden werden schließlich getötet oder gefangen genommen, „worüber Herkules sich herzlich erfreuete/und Gottes augenscheinlichen Schutz spürete“124 – wieder ein Verweis auf die durch Gott garantierte felicitas –, und bis zur Genesung von Herkules „wol verwahr[t]/ daß sie auff Herkules wieder erlangete Gesundheit verurteilet würden/ weil er/ sie härtiglich zu straffen/ entschlossen wahr.“125 Die Juden werden drei Wochen später verurteilt. Da Herkules jedoch der Ansicht ist, dass nicht alle die gleiche Schuld auf sich geladen hätten, sendet er ins Gefängnis einen „Christlichen Sanfftmühtigen Lehrer“,126 der ihnen – im Falle ihres Übertritts zum Christentum – die Freiheit bzw. eine mildere Strafe zusichert. Die Versuche des Geistlichen bleiben jedoch erfolglos und so werden sie auf den Platz des Kampfes geführt, wo sechzig Kreuze aufgerichtet sind. Angesichts dieser erhebt sich ein „Geschrey“127 – Zeichen für mangelnde Affektkontrolle – und die Juden wenden sich an den Statthalter, der eine Anhörung zunächst jedoch ablehnt. Auf Zureden Herkules wird schließlich der älteste Jude, Meister Schmuel, vorgelassen, der sich an den Statthalter wendet und in seiner Rede versucht, die Allianz zwischen Christen und Römern aufzulösen und eine Verbindung zwischen Juden und Römern zu konstruieren. Herkules soll als „Fremdling“128 aus der vermeintlichen Gemeinschaft ausgegrenzt werden, sodass Schmuel in seiner Rede mithin das vollzieht, was an den Juden von Seiten der Christen und Römer schon vollzogen ist: die Ausgrenzung. Darüber hinaus erweist sich in der Rede die den Juden zugeschriebene ‚Verschlagenheit‘ bzw. ‚Lügenhaftigkeit‘, behauptet er doch, dass die Juden Herkules keinen Schaden zufügen wollten. Der Hinweis auf den Schutz der Obrigkeit mag zudem auf zeitgenössische Zustände anspielen, genauer auf die kaiserliche Kammerknechtschaft der Juden, die aufgrund der
123 124 125 126 127 128
Ebd. Ebd., S. 501. Ebd. Ebd., S. 531. Ebd. Ebd.
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später noch deutlicher werdenden Insubordination der Juden als verfehlt kritisiert wird.129 Dass der Versuch, die Allianz zwischen Römern und Christen zu schwächen und gegen die Christen zu wenden, notwendig scheitern muss, bestätigt sodann der Statthalter in seiner Antwort auf die Rede Schmuels. So könne hier der Schutz der kaiserlichen Obrigkeit nicht zur Anwendung kommen, würden doch keine Juden, sondern „Mörder“130 verurteilt. Zudem hätten sie sich des Landfriedensbruches schuldig gemacht, sodass er die Juden, die vorgetreten waren, wieder ins Gefängnis bringen lässt, bis von höherer Stelle ein Urteil über sie ergeht.131 Zudem verkündet er, dass alle Juden, die „sich mit Waffen würden finden lassen/ oder
129 Im siebzehnten Jahrhundert differiert die rechtliche Stellung der Juden in den unterschiedlichen Territorien zum Teil sehr, sodass man keine allgemein gültigen Grundsätze zur rechtlichen Stellung der Juden festmachen kann. Generell kann man feststellen, dass es eine Reihe sich überlappender, zum Teil konkurrierender Rechtsvorschriften gab, deren Geltung höchst unterschiedlich war. Im Wesentlichen bildeten sich aber vier Prinzipien heraus, die als supplementäre Rechtsprinzipien die Rahmenbedingungen der jüdischen Existenz bildeten: die kaiserliche Kammerknechtschaft, das römische Bürgerrecht, die Ausgestaltung des Judenregals und die Ausbildung des Schutzjudentums. Insgesamt kam es im siebzehnten Jahrhundert zu einer Verrechtlichung der jüdischen Existenz, die neue Möglichkeiten des Schutzes – wie der Klage vor dem Reichskammergericht – bot. Dieses Recht nutzten die Juden offenbar auch in beträchtlichem Maße, um z.B. Schuldforderungen geltend zu machen. Vgl. dazu Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten“. Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004, S. 143–184; J. Friedrich Battenberg: Rechtliche Rahmenbedingungen jüdischer Existenz in der Frühneuzeit zwischen Reich und Territorium. In: Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches. Hg. von Rolf Kießling. Berlin 1995 (Colloquia Augustana 2), S. 53–79; Ders.: Von der Kammerknechtschaft zum Judenregal. Reflexionen zur Rechtsstellung der Judenschaft im heiligen Römischen Reich am Beispiel Johannes Reuchlins. In: Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004, S. 65–90; Wilhelm Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts. Sigmaringen 1981; Alfred Haverkamp: „Concivilitas“ von Christen und Juden in Aschkenas im Mittelalter. In: Jüdische Gemeinden und Organisationsformen von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Robert Jütte, Abraham P. Kustermann. Wien u.a. 1996 (Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, Beiheft 3), S. 103–136 sowie Dietmar Willoweit: Die Rechtsstellung der Juden. In: Germania Judaica. Band III 1350–1519. Hg. von Arye Mainon, Mordechai Breuer, Yacov Guggenheim. 3. Teilband: Gebietsartikel, Einleitungsartikel und Indices. Tübingen 2003, S. 2165–2207. 130 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 531. 131 Später wird berichtet, dass das Urteil des Statthalters rechtens sei. Die Juden werden zum Tode verurteilt, sofern sie keine Reue zeigen. Da sie jedoch ‚halsstarrig‘ bleiben, werden sie hingerichtet.
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heimliche Zusammenkunfft halten“132 zum Tode verurteilt werden würden. Dass diese Drohung durchaus ihre Berechtigung hat, macht der Erzähler deutlich, wenn er berichtet, dass sich schon Juden zur Befreiung der Gefangenen versammelt hätten, wodurch der Vorwurf der jüdischen Verschwörung aufgerufen wird und die ihnen zugeschriebene Rachsucht wiederum bestätigt wird. Der Fokus richtet sich nach diesem Einschub wieder auf die Richtstätte: Nachdem der Suprematieanspruch des Christentums im Kampf durch Gottesurteil bestätigt wurde, kommt es nun zum geistigen Duell. Der Statthalter erlaubt es, dass vor dem Vollziehen der Strafe noch ein christlicher Priester mit den Juden spricht, der Judentum und Christentum einander gegenüberstellt, um sie zu bekehren. Die Katechese dient hier jedoch nicht nur dem Erweis der ‚wahren‘ Religion und der Widerlegung des Judentums im Romangeschehen, sondern auch der christlichen Erbauung des Lesers.133 Die Wahrheit des Christentum erweist sich sehr schnell, bekehrt sich auf die Rede des Geistlichen und die an Argumenten arme Widerrede des Mose doch nicht nur ein Jude aus der Menge, sondern auch Mose selbst. Er wird ‚überwunden‘ und versucht nun seinerseits die Verurteilten vom christlichen Glauben zu überzeugen, die jedoch zunächst ‚verstockt‘ bleiben und Mose als Apostaten beschimpfen. Erst nach neuerlicher Ansprache durch den Geistlichen konvertieren sich weitere sechs, die nun nicht mehr ‚verstockt‘ sind, sondern ihre Sünden bekennen und Reue zeigen. Den bekehrungswilligen Juden wird schließlich auf Herkules Intervention die Freiheit geschenkt: Auffällig ist hier, dass sie sogleich vom Schuldvorwurf entlastet werden, wenn angeführt wird, dass sie zu dem Anschlag auf Herkules genötigt wurden.134 Der Statthalter betont schließlich nochmals, dass das Urteil rechtens sei, würden die Juden doch nicht aufgrund ihres Judentums, sondern aufgrund von Landfriedensbruch verurteilt. De facto aber ist – wenn man der Logik des Romans folgt – ihr Judentum der Grund, ist die Insubordination gegen Obrigkeiten ihnen doch genauso ‚Wesensmerkmal‘ wie die Rachsucht. Angesichts der den Konversionswilligen zugestandenen Gnade wollen zehn weitere zum paganen Glauben übertreten, doch der Erzähler lässt keinen Zweifel an ihrer Intention: „welches sie doch nur aus Heucheley/ dem Tode zu entgehen/ und aus Feindschafft wieder den Christlichen Nahmen tathen.“135 Dementsprechend zeigt sich der Statthalter auch höchst skeptisch und lässt den Glauben der Juden unter anderem dadurch prüfen, dass sie Schweinefleisch essen müssen.
132 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 532. 133 Zur Katechese durch den Christen und die Widerrede durch Mose vgl. Lindner (wie Anm. 99), S. 160–164. 134 Vgl. [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 536. 135 Ebd., S. 536.
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Dies ist jedoch nicht nur eine Glaubensprobe, sondern auch Erniedrigung. Dass ihre Konversion keine ‚wahre‘ ist, offenbart sich, als sie trotzdem gestraft werden sollen: da sie solches vernahmen/ kam alsbald die Reue/ lieffen zum Feur/ stiessen es mit den Füssen umb/ und schrien; sie wolten als fromme Juden sterben/ fluchten auch dem Jupiter/ und rieffen; der Gott Abraham/ Isaak/ und Jakobs ist allein wahrer Gott.136
Sie werden gegeißelt und ans Kreuz geschlagen. Auf Zureden des Konvertiten Mose treten noch sechs weitere Juden zum Christentum über, die zwar gestraft werden, ihr Leben jedoch behalten. Anhand der ‚Bekehrten‘ wird hier eine Hierarchie der Religionen vorgestellt, wenn die zum Christentum konvertierten standhaft bleiben, und jene, die sich nur aus Falschheit zum ‚falschen‘ Heidentum übertreten wollen, gestraft werden. Die genauen Zahlenangaben, die auch im Schriftbild hervorgehoben werden, sollen dabei den Erfolg der christlichen Missionsbestrebungen hervorheben, konvertiert doch über ein Drittel der Verurteilten zum Christentum. Die Überzeugungskraft des christlichen Glaubens wird später zudem auch am Statthalter von Jerusalem exemplifiziert, wenn dieser seine Hinwendung zum Christentum bekundet.137 Ausgangspunkt einer weiteren Episode ist wiederum die Rachsucht der Juden. So werden Herkules und Gallus am Berg Thabor von „lang geübte[n] Räuber[n]“138 überfallen. Herkules fragt sie nach ihrem Glauben und sie bekennen, „standhaffte Juden und aller Christen Feinde“ zu sein, wodurch auch hier wiederum deutlich wird, dass den Juden der Christenhass inhärent sei. Die zweite größere Episode, in der der Gegensatz zwischen Juden- und Christentum verhandelt wird, spielt am Hof des medischen Großfürsten Pharnazabus in Ektebana. Während eines Essens erkundigt sich Herkules, „wie mancherley Glauben und Gottesdienst in diesen Morgenländern üblich und zugelassen währe“.139 Pharnazabus erläutert, dass der „Persische Gottesdienst“ vorherrschend sei, d.h. 136 Ebd., S. 536f. 137 Vgl. ebd., S. 541. Die den Juden zugeschriebene ‚trotzige Hartnäckigkeit‘ erweist sich später nochmals, wenn Herkules im zweiten Teil des „Herkules“ verschiedene Orte in Jerusalem besichtigt. Im Garten Gethsemane stehen noch die Kreuze der hingerichteten Juden, doch sind sie mit hebräischen Kritzeleien bedeckt. Es stellt sich heraus, dass diese Verfluchungen über Herkules und den Statthalter sind. Die Kreuze werden observiert und schließlich sechzehn junge Juden festgenommen, die „als Auffrührer wieder die höchste Obrigkeit“ gegeißelt und gekreuzigt werden. Vgl. [Bucholtz:] Herkules II (wie Anm. 86), S. 238. Zur Infragestellung des obrigkeitlichen Denkmalmonopols vgl. Disselkamp (wie Anm. 91), S. 125f. 138 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 543. 139 Ebd., S. 684.
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ein paganer Glaube. Dieser wird gegenüber den „närrischen Tichtereyen der jetzigen Griechen und Römer“140 aufgewertet, sodass dem Rezipienten ein ‚edles‘ Heidentum vorgeführt wird. Es wird mithin in Bezug auf die verschiedenen Religionen eine klare Rangfolge gemäß der ihnen zugeschriebenen Wertigkeit aufgestellt. An der Spitze steht das Christentum, die einzig ‚wahre‘ Religion, danach folgt der „Persische Glauben“, der gegenüber dem paganen Glauben der Griechen und Römer aufgewertet wird, indem betont wird, dass er sich nicht durch „heidnischen Wahn“141 auszeichne.142 Dem Christentum näher als dem Judentum steht der heidnische Glauben auch insofern, als dass die Bekehrung zum Christentum eher vollzogen wird, zeichnet er sich doch nicht durch jene Merkmale aus, die einer Konversion der Juden hinderlich sind, wie etwa ‚Halsstarrigkeit‘ oder ‚Verstockung‘. Das Judentum erscheint aber nicht nur aufgrund seiner Verweigerung gegenüber den christlichen Missionsbestrebungen als ‚Irrlehre‘, sondern vielmehr noch durch den Vorwurf des Gottesmordes, die Verleugnung der Messianität Jesu und die den Juden zugeschriebenen Eigenschaften. Zeichnen sich die Christen durch tugendhaftes Verhalten aus, wird dies bei den Juden ins Gegenteil verkehrt – die Juden erscheinen als das Negative schlechthin. Diese Gegenüberstellung wird auch in der Rede des Pharnazabus vollzogen: Die Juden/ antwortete Pharnabazus/ sind überal dem Wucher ergeben; essen weder mit Christen noch Helden; Aufrichtigkeit findet sich bey ihnen nit; zum gebrauch der Waffen sind sie gar ungeschikt; befleissigen sich aller tückischen boßheit/ und hoffen auf einen ihres Geschlechts/ der sie aus aller Welt versamlen/ und in ihr Land wieder führen solle. Den Christen wird auch viel böses nachgesagt/ aber es wil sich dannoch allerdinge [sic] nicht finden; einmahl ist gewiß/ daß sie ihrem Gottesdienste fleissig obliegen/ und sich lieber durch allerhand Pein hinrichten lassen/ als daß sie ihren Gott verleugnen solten; man hat sich oft bemühet/ diese Lehre zuvertilgen/ aber weil sie durch Verfolgung nur zunimt/ und sie gleichwol noch keinmahl wieder die Obrigkeit Empörung vorgenommen/ wie die Juden sich wol unterstanden/ lässet man sie hingehen.143
Vorgestellt werden hier die bekannten antijüdischen Vorwürfe und Stereotype, wobei auffällig ist, dass zumindest der Vorwurf, dass die Juden im Waffengebrauch ungeschickt seien, den Ereignissen in Jerusalem entgegensteht. Es scheint, dass das Bestreben, Juden und Judentum abzuwerten und zu diffamieren
140 Ebd., S. 684. 141 Ebd. 142 Aufgewertet wird der pagane Glaube auch durch die Tatsache, dass Herkules nicht mit Pharnazabus über seinen Glauben disputieren will. Vgl. ebd., S. 684. 143 Ebd., S. 685.
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und das Christentum positiv aufzuwerten, derart dominant ist, dass dies mitunter auch Inkonsistenzen zeitigt.144 Herkules möchte nun einen Christen kennenlernen und man holt, da die Christen sehr unauffällig leben würden, einen Juden, „dann diese sind ihre rechten Spührhunde und abgesagte Todfeinde“.145 Entsprechend der gängigen zeitgenössischen Stereotype – vor allem das des jüdischen Wuchers und betrügerischen Pfandleihers wird hier aufgerufen – findet man den Juden an der „Wechselbank“.146 Der herbeigerufene Jude Eleasar tritt „ohn eherbietung“ ein und versucht sogleich zu „schacher[n]“.147 Als man ihm bedeutet, dass er nicht zum Handeln gerufen wurde, sondern um einen Christen zu holen, bricht der Jude sogleich in Beschimpfungen wider diese aus, sodass sich Herkules nur mit Mühe zurückhalten kann.148 Der hinzukommende Christ weist ein dem Juden konträres Verhalten auf und bestätigt damit die Postulate des Großfürsten: Er zeigt sich demütig und begrüßt die Anwesenden ehrfürchtig. Er wird zu seinem Christentum befragt, wobei er deutlich macht, dass er – im Gegensatz zu Eleasar – unter dem christlichen Gebot der Vergebensbereitschaft steht.149 Auf die Frage nach dem Verhältnis von Judenund Christentum reproduziert er die schon bei Ben-Levi vorgebrachten Anschuldigungen und gibt für die schlechte Behandlung sogleich ein Beispiel: Wir hüten uns mit allem Fleiß vor ihnen/ können aber doch nicht unangefochten bleiben/ sondern da sie bey uns hergehen/ speien sie uns an/ und fluchen unserm Heylande an den wir gläuben; wie mich dann jezt der Anwesende Jude hart angegriffen/ daß wegen meines Lügen-Gottes (mein Gott verzeihe mirs/ daß ich ihm die Lästerung nach rede) von einem jungen hochmuhtigen Ritter/ und wie er ihn mehr nennete/ er sich hätte müssen über das Maul hauen lassen; wo aber/ und wann solches geschehen/ hat er nicht hinzugetahn.150
144 So weist Lindner beispielsweise darauf hin, dass der Vorwurf, dass die Juden ungeschickt im Gebrauch von Waffen seien, den Vorgängen in Jerusalem widerspricht. Lindner (wie Anm. 99), S. 167. 145 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 685. 146 Ebd. 147 Ebd. Der hier nur angedeutete Vorwurf der Geldgier wird später weiter ausgeführt, wenn drei Juden versuchen die großen Schätze der Reisegesellschaft durch Betrug zu stehlen. Vgl. [Bucholtz:] Herkules II (wie Anm. 86), S. 239. Vgl. auch [Bucholtz:] Herkuliskus und Herkuladisla (wie Anm. 87), S. 914, wo Juden als Motiv für ihren Betrug ausdrücklich „Geld=Liebe“ angeben. 148 Der Jude Eleasar ist im Gegensatz zu Ben-Levi jedoch kein Ritter und somit auch nicht satisfaktionsfähig. Darauf verweist auch Lindner (wie Anm. 99), S. 167. 149 Vgl. zu der hier formulierten Verbindung von Vergebung und göttlicher Rache ebd., S. 167. 150 [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 686.
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Daraufhin wird wiederum Eleasar hereingerufen, der die Vorwürfe jedoch leugnet und versucht, den Vorwurf der Lüge gegen den Christen zu wenden. Angesichts dessen fordert Herkules ihn auf, zu beweisen, „daß die Christen solche boshafte Leute seyn; hernach/ daß ihr Gott ein Lügen-Gott sey“.151 Bevor Herkules ihn jedoch sprechen lässt, widerlegt er selbst die Anschuldigungen des Juden, sodass eine Widerrede des Juden von vornherein unmöglich gemacht wird. Der Großfürst verurteilt Eleasar schließlich zum Tode, doch entgeht dieser der Strafe durch Herkules Fürbitte. Es ist jedoch kein Eingeständnis der Reue zu erreichen, sodass sich Herkules an den Großfürsten wendet: Dieser Lästerer ist in seiner Bosheit so verhärtet/ daß alle besserungs Hoffnung an ihm verlohren ist; ich bitte aber sehr/ ihre Durchl. wollen ihn ungestraft gehen lassen/ weil er die Obrigkeit und ihre außdrükliche Satzungen nicht beleidiget noch übertreten hat; vor das übrige wird ihn der gerechte Gott schon finden.152
Dieser ändert sein Urteil dahingehend, dass Eleasar bei allen Christen Abbitte leisten müsse, ansonsten würden er und seine Familie gekreuzigt. So weit kommt es jedoch nicht: Es erscheinen drei große schwarze Hunde, die Eleasar ohn einziges gebelle anfielen/ in kleine Stücke zurissen/ und doch nichts von ihm frassen/ sondern liessen alles liegen/ ohn daß sie das Eingeweide auff der Gassen zerzerreten; und ob gleich eine sehr grosse menge Volkes dabey stund/ kehreten sich doch die Hunde an niemand/ sondern nach verrichteter Taht lieffen sie deß Weges den sie kommen wahren/ und sahe kein Mensch wo sie endlich blieben.153
Es ist dies ein Gottesurteil, dessen Allmacht sich anhand dieses Exempels offenbart. Herkules Ankündigung, „dafern der Christen Gott ein warhaftiger Gott ist/ werde er seine Ehre schützen“,154 bestätigt sich und belegt somit nicht nur die Überlegenheit, ja mehr noch die „Wahrheit“ des christlichen Glaubens, sondern – diesem inhärent – den Unglauben der Juden. Des Weiteren verdient die Reaktion der Hunde einige Beachtung, wird der Jude doch aus der menschlichen Gemeinschaft ausgegrenzt, indem kein Mensch, sondern drei schwarze Hunde – in der christlichen Kunst Reittier der Allegorie der invidia und Attribut der ira; hier werden sie zu Höllenhunden, zum Synonym für den Teufel selbst155 – das Gottes-
151 Ebd. 152 Ebd., S. 687. 153 Ebd., S. 687. 154 Ebd., S. 685. 155 Zum ins Negative gewendeten Motiv den Hundes vgl. Peter Gerlach: Art. Hund. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Hg. von Engelbert Kirschbaum. Zweiter Bd.: Allgemeine Ikonographie Fabelwesen – Kynokephalen. Rom u.a. 1970, Sp. 334–336. Vgl. auch Artikel „Hund“. In:
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urteil vollziehen. Der Verweis auf das Verschmähen der Leichenteile verstärkt noch die Interpretation als Gottesurteil, wird doch so die Möglichkeit, dass die Hunde Eleasar allein aus Aggressivität und Hunger angefallen haben, ausgeschlossen.156 Auch im Herkuliskus, dem Fortsetzungsroman des Herkules, kommt es wiederholt zur Konfrontation zwischen Juden und dem christlichen Helden Herkuliskus. So sieht eine Gruppe von Rittern, die sich auf dem Weg von Zypern nach Syrien befinden, ein Schiff in Seenot. Die Schiffbrüchigen wollen sich jedoch nicht retten lassen, d.h. in einen zypriotischen Hafen schleppen lassen. Man erfährt schließlich, dass sich auf dem Schiff 160 Juden befänden, denen, sollten sie nach Zypern gelangen, dort der Tod drohe. Den Kontext dieser Episode bilden die von Cassius Dio berichteten Ereignisse im Zusammenhang mit dem Babylonischen Aufstand 116/117: So sei es nach der Ermordung von 240.000 Zyprioten durch jüdische Aufständische zum Erlass eines Gesetzes gekommen, das den Juden bei Todesstrafe verbot, die Insel zu betreten, selbst im Falle eines Schiffbruches.157 Bucholtz versetzt dabei den Statthalter für Judäa, Lucius Quietus, nach Zypern und schreibt ihm den Erlass des Gesetzes zu.158 Nachdem die Juden schließlich gewahr werden, dass ihr Schiff sinkt, flehen sie die umliegenden Schiffer an, sie aufzunehmen, die dieses jedoch abschlagen, da sie befürchten, die Juden würden die Schiffe übernehmen und damit ans Festland segeln. Daraufhin ertrinken etliche Juden, nur wenige werden gerettet und gefangen genommen. Man durchsucht sie nach Geld und Schmuck – hier wird die
Johann Heinrich Zedler: Grosses Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschafften und Künste […]. Bd. 13. Halle, Leipzig 1735, Sp. 1190. Vgl. zum Vergleich von Juden und Hunden Winfried Frey: Woͤlt Gott man hing sie wie die Hund. Vergleiche von Juden mit Hunden in deutschen Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Das Mittelalter 12 (2007), S. 119–134. 156 Die jüdische Rachsucht wird nochmals aufgenommen, wenn im weiteren Verlauf berichtet wird, dass der Christ von Juden überfallen wird. Die festgenommenen Juden gestehen schließlich – der Hinweis, dass sie stets nur unter der Folter gestehen, mag als weiteres Indiz ihrer ‚Verstockung‘ gelten –, dass „die ehrliche Judischeit dieser Stad sich gestern Abend verbunden/ nicht zu ruhen/ ehe dann der Zäuberer Ammonius [d.i. der Christ; Anm. V.G.] von ihnen getödtet währe/ welcher durch des Teuffels Hülffe den ehrlichen und beständigen Juden Eleasar so schändlich umbgebracht hätte“. [Bucholtz:] Herkules (wie Anm. 86), S. 689. Das folgende Geschehen verläuft sodann nach bekanntem Schema: Die Anführer werden gegeißelt und gekreuzigt, Herkules unternimmt – diesmal jedoch erfolglos – Missionsversuche und den restlichen Juden wird unter Androhung des Todes und der Versklavung verboten, Christen zu beleidigen. 157 Cassius Dio: Römische Geschichte, übersetzt von Otto Veh. Bd. V: Epitome der Bücher 61– 80. Zürich, München 1987, S. 221. Vgl. dazu weiter auch Lindner (wie Anm. 99), S. 160, Anm. 178. 158 Vgl. Lindner (wie Anm. 99), S. 169f. und Schmuel Safrai: Das Zeitalter der Mischna und des Talmuds. In: Geschichte des jüdischen Volkes. Erster Band: Von den Anfängen bis zum 7. Jahrhundert. Hg. von Haim Hillel Ben-Sasson. München 1978, S. 377–469, hier S. 454–458.
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Vorstellung vom ‚reichen Juden‘ evoziert – und nimmt ihnen ihre Reichtümer als Entschädigung für Schäden an den eigenen Schiffen. Die Habgier von Seiten der Christen erscheint als gerechtfertigt, wird doch zweimal betont, dass die Schätze eine Entschädigung seien, zudem wird das unrechtmäßige Verhalten der Christen relativiert, wenn kurz vorher von den schrecklichen Taten der Juden berichtet wird. Die Gefangenen werden schließlich nach Zypern gebracht, wo Herkuliskus159 sie nach der Ursache ihres „elende[n] Geheule[s]“160 befragt und versucht, sie vom christlichen Glauben zu überzeugen. Sie bleiben jedoch ‚verstockt‘ und ‚hartnäckig‘, sodass Herkuliskus sie mit den Worten „Wol dann so fahret hin/ […] weil jhr so gar vom bösen Teufel verblendet seyd“161 ihrem Schicksal überlässt: Sie werden von römischen Soldaten entkleidet, erschlagen und die Leichname ins Meer geworfen. Herkuliskus nächste Begegnung mit Juden findet in Tyrus statt: Er erblickt vor seiner Herberge einen Juden, der von zwei anderen Juden einen „leibeigenen starken Knecht hinter sich her führen ließ/ mit schweren Ketten beladen.“162 Herkuliskus erkundigt sich nach dem Sklaven und erfährt von dem Anführer, dass dieser „sein gekauffter Leibeigener [sei]/ und gar ein Widerspenstiger Bösewicht/ der jhm groß Leid angefüget/ und daher eines peinlichen Todes sterben müste“.163 Der Sklave Günther selbst berichtet schließlich, dass er ein ehemaliger Ritter des Herkules sei und bittet Herkuliskus um Hilfe, der sie ihm gewähren will. Es kommt schließlich zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung, in dessen Verlauf Herkuliskus mit seinen hinzukommenden Gefährten den Sklaven befreit. Die Juden verklagen nun Herkuliskus vor einem Richter, der „daselbst gut Jüdisch wahr“164 und es entspinnt sich eine Auseinandersetzung zwischen ihm und Emilianus, einem mit Herkuliskus befreundeten römischen Feldherren. Emilianus lässt sich von Günther dessen Lebensgeschichte berichten. Günther erzählt, dass der Sklavenhändler, als er von Günthers Christentum erfahren habe, ihn „über die masse stränge und unbarmherzig“ behandelt habe: [Er] belegte mich mit schweren Ketten/ und ließ mich täglich geisseln/ nebenst anzeige/ daß ich keine andere Gnade in meiner Leibeigenschaft zugewarten hette/ als daß ich bey angehendem unvermöglichem Alter eines sehr schmerzlichen Todes sterben müste.165
159 Er führt hier den Namen Festus, zur besseren Verständlichkeit wird jedoch der Name Herkuliskus beibehalten. 160 [Bucholtz:] Herkuliskus und Herkuladisla (wie Anm. 87), S. 61. 161 Ebd., S. 61. 162 Ebd., S. 63. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 64. 165 Ebd., S. 65.
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Als Günther nach vier Jahren verkauft wird, wird er bei seinem neuen Herrn noch mehr gedemütigt: So musste er sich bei Versammlungen der Juden nackt in die Mitte eines Kreises stellen und wurde „mit Spießruthen zur Kurzweil dergestalt zugerichtet/ daß ich nahe meines Lebens ende wahr/ und sie doch mittel und wege funden/ mich wieder zu erquicken.“166 Die Schilderung Günthers über die ihm zugefügten Leiden bestätigt wiederum den Vorwurf des Christenhasses, ist die alleinige Ursache für den ihm entgegengebrachten Sadismus doch sein Christentum. Auffällig ist, dass sich nicht nur die beiden Herren von Günther als Christenfeinde erweisen: Der Vorwurf wird durch den Hinweis, dass Günther vor einer großen Gruppe gedemütigt wird, auf die Juden insgesamt bezogen. In Bezug auf die Günther zugedachten Strafen und Erniedrigungen ist anzumerken, dass grausame Strafen zwar häufig in beiden Romanen vorkommen, in der Regel aber die Antagonisten treffen. Es ist insofern reiner, auf Christenhass gegründeter Sadismus, den Günther zu erleiden hat – er wird zum Stellvertreter einer unter den Juden leidenden Christenheit.167 Bucholtz greift hier mithin Vorwürfe auf, die schon Luther in seinem Pamphlet Von den Juden und ihren Lügen formuliert hatte.168 Angesicht des durch die Juden begangenen Unrechts bedarf es notwendig einer Verurteilung der Juden und so strengt Emilianus einige Zeit später den bis dato nicht gelösten Prozess wieder an. Er wendet die Sache jedoch gegen den Richter, sodass sich nicht mehr Herkuliskus wegen Entführung Günthers verantworten muss, sondern der Richter, da die boßhaften Juden den damaligen Römischen Richter daselbst durch viel Schenkungen gar auf jhre Seite gezogen hatten/ so daß niemand wider dieselben das Recht erhalten könte/ und sie daher gar frech und übermuthig wurden.169
Durch die Folter zweier gefangener Juden erfährt Emilianus, dass der Richter nicht nur bestechlich sei, sondern vor wenigen Monaten auch zum Judentum konvertiert sei, sodass er sich nun nur noch zum Vorteil der Juden einsetze, worüber sich der römische Feldherr heftig [ereiferte]/ und ob er gleich kein Christen=Freund wahr/ so trug er doch wider die Juden einen unversöhnlichen Haß/ als welche auch bey dem Käyser selbst keine Gnade
166 Ebd. 167 So auch Lindner (wie Anm. 99), S. 170, Anm. 188. 168 Vgl. Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen (1543), zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 53. Weimar 1920, S. 417–552, hier S. 522f. 169 [Bucholtz:] Herkuliskus und Herkuladisla (wie Anm. 87), S. 73.
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hatten/ […] daß etliche in den Gedanken stunden/ er selbst währe der Christlichen Lehre zugetahn.170
Der Richter, der seine Konversion zunächst noch leugnet wird schließlich „durch erschreckliche Pein“171 hingerichtet. Auch die Peiniger des Sklaven Günthers können nicht straflos ausgehen: Während die beiden Bediensteten, die unter der Folter den Richter verraten hatten, aus der Stadt verbannt werden, ereilt den Sklavenhalter wiederum ein Gottesurteil: Der von Statikleon [ein Gefährte des Herkuliskus; Anm. V.G.] verwundete Jude hatte Anfangs die Häuptwunde nicht groß geachtet/ welche in kurzer Zeit gefährlich ward/ schlug auch ein heftiger Wahnwitz darzu/ daz [sic] man ihn mit Ketten binden und anschliessen muste/ biß er endlich in erschrecklicher Verzweifelung sein Leben endigte.172
Ein Eingreifen seitens der Obrigkeit ist nicht mehr notwendig, die Strafe erscheint als Exempel göttlicher Gerechtigkeit, hatte sich der Jude doch nicht nur gegen Günther, sondern gegen die gesamte Christenheit versündigt. Mit der Verurteilung und Bestrafung der Hauptakteure endet die Episode jedoch nicht: Es hatte sich die Judischheit in kurtzer Zeit zu Tyrus sehr vermehret/ daß sie den Jnwohnern überaus beschwehrlich wahren/ und ihnen alle Nahrung abstricketen/ nachgehends den verarmeten Bürgern ihre Wohnungen umb grosses Geld abkauften/ vielliegende Gründe an sich brachten/ wie dann sie in der Hofnung [sic] stunden/ der ganzen Stad sich zu bemächtigen/ und keine andere als Judengenossen daselbst wohnen zulassen; Worüber sich der Raht gegen Emilianus beschwehrete/ und bey ihm erhielt/ daß alle Juden/ so innerhalb zwey Jahren sich daselbst nidergelassen hatten/ in Zeit von 6. Wochen alle ihre liegende Güter an der Stad Jnwohner/ so keine Juden/ verkauffen/ und die Stad räumen/ nach verlauff aber solcher Zeit aller unverkauften Güter/ als Gründe und Häuser verlustig seyn.173
Hier werden wiederum Vorstellungen transportiert, wie sie Luther und andere propagierten: der Jude als ‚Parasit‘, der den Christen nicht nur ihr Geld ‚abwuchere‘, sondern auch ihr Leben ‚aussauge‘. Einzige Möglichkeit sich dessen zu erwehren, ist die Vertreibung. Diese Argumentation – in der religiöse und ökonomische Motive verquickt werden – wurde nicht nur in der Literatur, beispielsweise im Wanderbühnenstück Der Jude von Venetien174 – immer wieder aufgegriffen, son170 171 172 173 174
Ebd., S. 74. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. unten, S. 277f.
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dern auch in realen Debatten um Aufnahme oder Ausweisung von Juden vorgebracht.175 Durch den Rekurs auf zeitgenössische Diskussionen wird mithin suggeriert, dass dieses ‚Problem‘ schon seit langer Zeit bestehe, die Juden mithin seit jeher ‚Plage‘ der Christen seien. Ungebührliches Verhalten von Seiten der Juden ist auch der Anlass für eine weitere Auseinandersetzung. So erweist sich eine Gruppe jüdischer Kaufleute gegenüber Axel, einem schwedischen Fürsten, und seiner Reisegesellschaft als unhöflich.176 Nachdem die Gesellschaft in einem Dorf Rast gemacht hat – die Schilderung des Aufenthaltes dient wiederum der positiven Abgrenzung der Christen gegenüber den Juden – kommt es schließlich zur Konfrontation zwischen den Parteien, die ihren Ausgang in der Frage nimmt, wer das Vorrecht auf der Straße habe. Es kommt zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung, in deren Verlauf zahlreiche Juden sowie die zur Hilfe eilenden Juden aus dem nahegelegenen Dorf getötet werden. Hier sind wiederum – wie schon im Herkules – Rachedurst und Betrug die die Juden bestimmenden Eigenschaften, die Christen zeichnen sich hingegen durch Gnade und Ehrlichkeit aus.177 Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Konstruktion des Jüdischen in Bucholtz Romanen feststellen, dass diese gänzlich vom Bestreben dominiert sind, das Christentum als einzig ‚wahre‘, das Judentum hingegen als ‚falsche‘ Religion zu erweisen. Diesem Zweck dienen sodann auch die zahlreichen katechetischen Einschübe, die nicht nur dem Leser zur Erbauung dienen, sondern vor allem auch der Widerlegung und Abgrenzung vom Judentum. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass den Vertretern der jüdischen Religion nur wenig Raum zur Widerrede gelassen wird und an jenen Stellen, an denen sie sich äußern können, ihre Argumente als bloße Leugnung der ‚Wahrheit‘ erscheinen. Dass die christlichen Figuren den jüdischen nicht nur in Religionsdisputen, sondern auch
175 Vgl. dazu Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn 2005, S. 118f. 176 Vgl. zur heroischen Höflichkeit im „Herkules“-Roman Disselkamp (wie Anm. 91), S. 151–157. 177 Vgl. [Bucholtz:] Herkuliskus und Herkuladisla (wie Anm. 87), S. 656f. Die Gesellschaft zieht schließlich mit ihren Gefangenen nach Jerusalem, um dort die Sache vor die Obrigkeit zu bringen. Doch ist der Statthalter bestechlich, sodass er versucht, die Anklage zu Gunsten der Juden zu wenden. Erst die Vorlage kaiserlicher Empfehlungsschreiben führt dazu, dass nicht die christlichen Ritter, sondern die Juden verurteilt und ihnen ihre großen Reichtümer genommen werden. Auf dem Weg zurück nach Babylon trifft die Gesellschaft sodann auf eine weitere Gruppe jüdischer Kaufleute. Axel drängt einem von ihnen einen Glaubensdisput auf und katechisiert sie über die Messianität Jesu und dessen Wirken. Es erübrigt sich, das Gespräch, welches von Axel dominiert wird, im Einzelnen nachzuzeichnen, festzuhalten ist, dass die Juden seinen Argumenten nichts entgegensetzen können und so als bloße Leugner erscheinen. Vgl. ebd., S. 660f. Dazu Lindner (wie Anm. 99), S. 172f.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
207
im Kampf stets überlegen sind, bedingt sich dabei zum einen in der konstatierten Überlegenheit des christlichen Glaubens, zum anderen in dem Exempelcharakter der vorgestellten Figuren und Episoden. Die einzelnen Figuren – Christen, Heiden und Juden – werden nicht als Personen vorgestellt, die sich durch individuelle Eigenschaften auszeichnen, sie sind vielmehr Träger einer Norm, Repräsentanten einer Glaubensordnung. Die Grenzen zwischen ‚rechten‘ Glaubenssätzen und Irrlehren markiert dabei zugleich die Grenze zwischen Tugend und Laster – insofern kann es in den Bucholtzschen Romanen auch weder ‚schlechte Christen‘ noch ‚gute Juden‘ geben, determiniert doch der Glauben das Verhalten. Die jüdischen Figuren als exemplarische Vertreter einer sich dem Christentum ‚hartnäckig‘ und ‚verstockt‘ verweigernden Glaubensgemeinschaft können sich folglich auch nur durch Laster auszeichnen, mehr noch: ihnen ist das Laster inhärent. Zugleich bestätigen sie durch die ihnen zugeschriebenen Dispositionen – Rachsucht, Mordsucht, Geldgier, Insubordination gegen die Obrigkeit, mangelnde Affektbeherrschung, Unaufrichtigkeit und vor allem Christenhass – positiv die christliche Tugendordnung. Sie erscheinen als das radikal Andere, das absolut Negative, das allein durch die Macht des Christentums überwunden werden kann.
4.3 Eine „Schöne Jüdin“? Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin Oder Verliebte und Abgefallene Josebeth Handelte es sich bei den Romanen von Bucholtz um durchaus erfolgreiche Romane, verhält es sich bei dem nun zur Diskussion stehenden Roman Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin, oder verliebte und abgefallene Josebeth ähnlich, wurde er doch nach seinem Erscheinen 1680 fünfmal neu aufgelegt.178 Dennoch
178 Erstmals 1680 unter dem Titel „Die verliebte und abgefallene Jüdin Jn einer warhafften Liebes-Geschichte beschrieben“ anonym erschienen. Es folgte eine Ausgabe 1682 und unter neuem Titel (Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin Oder Verliebte und Abgefallene Josebeth Jn einer Wunder-würdigen schönen Liebes-Geschichte mit vielen Jüdischen Ceremonien beschrieben) weitere Ausgaben 1688, 1702, 1705 und 1712. Dieser Arbeit liegt aufgrund der besseren Erreichbarkeit die letzte Ausgabe zu Grunde: [Christoph Kormart:] Die zum Christenthum neubekehrte Jüdin/ Oder Verliebte und abgefallene Josebeth/ Jn einer Wunder=würdigen schönen Liebes=Geschichte Mit vielen Vor diesem unbekannten/ doch nachdencklichen Jüdischen Ceremonien der Curiosen Welt zu geziemender Ergötzung und nothwendiger Wissenschafft an Tag gestellet. [o.O.] 1712. In: Münchener Digitalisierungszentrum. Digitale Bibliothek. http://www. bsb-muenchen-digital.de/~web/web1011/bsb10112052/images/index.html?digID=bsb10112052& pimage=00001&v=100&nav=0&l=de. Stand: 19. August 2009. Die Autorschaft Christoph Kormarts bestätigt sich durch Angaben in seinem Tractatus Juridicus de Jure Consiliorum […]. Dresden 1693. Vgl. dazu Robert J. Alexander: Einleitung. In: Christoph Kormart, Polyeuctus oder
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wurde dem Roman von Seiten der Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. So gehen zwar Lauer und Krobb im Rahmen ihrer Analysen auf diesen ein,179 doch betrachtet vor allem Krobb ihn vornehmlich im Hinblick auf das Konstrukt der ‚Schönen Jüdin‘, sodass eine umfassende Analyse nach wie vor aussteht. Bevor auf den Josebeth-Roman näher eingegangen werden soll, sind einige wenige einleitende Bemerkungen vorauszuschicken. So muss zunächst festgestellt werden, dass von der Forschung bisher übersehen wurde, dass es sich keineswegs um eine, wie beispielsweise Alexander proklamiert, „selbst verfasste Prosaromanze“180 Christoph Kormarts handelt, sondern vielmehr um eine Übersetzung aus dem Französischen: Die Vorlage bildet Mémoires de Hollande von 1678, mutmaßlich von Marie-Madeleine de La Fayette,181 die Kormart zwar um die einleitenden Ausführungen zur Auseinandersetzung zwischen den Regenten und dem Statthalter der Stadt Amsterdam kürzt, den größten Teil des Romans jedoch wörtlich übersetzt – ohne aber darauf hinzuweisen.182 Der Roman ist der Gattung der heroisch-galanten Abenteuerromane
Christlicher Märtyrer. Faksimiledruck der Ausgabe von 1669. Hg. und eingeleitet von Robert J. Alexander. Bern u.a. 1987 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts 37), S. 11–91, hier S. 44. 179 Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 145f.; Florian Krobb: Verführung und Bekehrung. Zur „Esther“-Episode in Grimmelshausens „Das wunderbarliche Vogelnest“. In: Simpliciana 12 (1990), S. 527–545 sowie Ders.: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen 1993 (Conditio Judaica 4), S. 21–41. 180 Alexander (wie Anm. 178), S. 44. Auch Weber/Mithal kennzeichnen den Roman nicht als Übersetzung. Weber, Mithal (wie Anm. 1), S. 171. 181 [Marie-Madeleine de La Fayette:] Mémoires de Hollande. Paris 1678. Zur Verfasserschaft der „Mémoires de Hollande“ vgl. Wilhelm Füger: Die Entstehung des historischen Romans aus der fiktiven Biographie in Frankreich und England. Unter besonderer Berücksichtigung von Courtilz de Sandras und Daniel Defoe. Phil. Diss. München 1963, S. 24 sowie André Thomas Barbier: Avertissement de L’Editeur. In: Mémoires de Hollande. Histoire particulière en Forme de Roman par Mme la Comtesse de la Fayette. Quatrième Edition, par J.P.A. Parison et publiée avec des Notes par A.T. Barbier. Paris 1856, S. V–XVI. 182 Übersetzungen wurden nicht grundsätzlich von Originalromanen unterschieden und häufig nicht gekennzeichnet. Vgl. dazu Weber, Mithal (wie Anm. 1), S. 68f. Vgl. zur Übertragung französischer Romane ins Deutsche, wenn auch mit Fokus auf die Romanproduktion ab 1730, Yong-Mi Quester: Frivoler Import. Die Rezeption freizügiger französischer Romane in Deutschland (1730 bis 1800). Mit einer kommentierten Übersetzungsbibliographie. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 116), insb. S. 104–156. Darüber hinaus erschien 1697 in Amsterdam „De verliefde en afgevallene Joodin“. Vgl. dazu Michael Zell: Reframing Rembrandt. Jews and the Christian Image in Seventeenth-Century Amsterdam. Berkeley u.a. 2002, S. 82f. und die dortigen weiterführenden Literaturhinweise.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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zuzurechnen.183 So finden sich zwar genaue Orts- und Zeitangaben, die der Erzählung einen größeren Realitätsgehalt zu verleihen scheinen184 – das Geschehen ist entsprechend der Ankündigung der Vorrede, dass es sich um eine „warhaffte[..]/ in Holland ehemals vorgegangene[..] Begebenheit“185 handele, zur Zeit der Belagerung Amsterdams 1650 angesiedelt –, doch lässt sich der Roman nicht nur aufgrund des Sujets, sondern auch aufgrund der eingeschobenen Briefe, der galanten Unterhaltungen zwischen Josebeth und Villeneuve, der vorgeführten galanten Conduite der Hauptpersonen sowie der eingeschobenen lasziven Szenen dieser Gattung zuordnen.186 Weiterhin ist festzuhalten, dass man Josebeth nur mit erheblichen Einschränkungen als „Konversionsroman“, der am Anfang einer Reihe fiktiver Konvertitenautobiographien in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stehe, bezeichnen kann.187 So handelt es sich zwar zweifelsohne um die Narration eines Glaubenswechsel, doch ist zu klären, inwieweit von einer ‚wirklichen‘ Konversion Josebeths gesprochen werden kann. Der Roman selbst fällt in eine Zeit des erstarkenden Interesses am Judentum,188 welches schon in Bezug auf die Erzählsammlungen konstatiert wurde – er ordnet sich folglich mit dem Hinweis, dass dieser die „Curiose Welt“ über „Jüdische[..] Ceremonien“ aufkläre, in einen Diskurs über das Judentum ein, in dem die Wissensvermittlung vornehmlich über das curiose Interesse des Lesers legitimiert wird. Eine Begründung des vorgebrachten Stoffes findet sich in der Vorrede: So will der Roman zum einen Vergnügen bereiten, indem der „Weeg [sic] der Tugend und Ehre“189 Josebeths verfolgt wird, zum anderen soll des „verfluchten
183 So Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 30f. 184 Ebd., S. 31. 185 Kormart (wie Anm. 178), 3r. 186 Zum galanten Roman siehe einführend Herbert Singer: Der galante Roman. 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1966; Gelzer (wie Anm. 3); Olaf Simons: Zum Korpus ‚galanter‘ Romane zwischen Bohse und Schnabel, Talander und Gisander. In: Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Hg. von Günter Dammann, Dirk Sangmeister. Tübingen 2004 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 25), S. 1–34; Ruth Florack, Rüdiger Singer: Politesse, Politik und Galanterie. Zum Verhältnis von Verhaltenslehre und galantem Roman um 1700. In: Konjunkturen der Höflichkeit in der Frühen Neuzeit. Hg. von Gisela Engel, Brita Rang, Susanne Scholz, Johannes Süßmann. Frankfurt a.M. 2009 (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 13), S. 300–321; Dirk Rose: Galanter Roman und klassische Tragödie. Hunolds Europäische Höfe und Schillers Prinzessin von Zelle im gattungsgeschichtlichen Kontext. In: Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog. Hg. von Andre Rudolph, Ernst Stöckmann. Tübingen 2009 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 135), S. 1–27. 187 So z.B. Johannes Graf: Judentaufen in der Literatur der Spätaufklärung. In: IASL 22 (1997), S. 19–42, hier S. 24f. 188 So Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 31. 189 Kormart (wie Anm. 178), 2v.
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Jüdischen Volckes itzige Bosheit/ verkehrter Gottesdienst/ Ungerechtigkeit/ verdeckte Hurerey und andere Sünd und Laster durch diese Geschichte an hellen Tag“190 gebracht werden, sodass auch hier wiederum die Annahme einer doppelten Wirkungspotenz von Literatur die Legitimation des außergewöhnlichen Stoffes bildet. Es steht jedoch der Nutzen im Vordergrund, was sich wohl zuvörderst in der Abwehr möglicher Kritik aufgrund der lasziven und frivolen Szenen begründet: Der christliche Leser soll durch das Exempel Josebeths zu tugendhaftem Verhalten angeleitet werden, die „Bosheit“ des Judentums erkennen und somit in seinem christlichen Glauben bestätigt und gestärkt werden. Zudem wird über „[v]or diesem unbekannten/ doch nachdencklichen Jüdischen Ceremonien“191 aufgeklärt. Verbunden wird dieser erbauliche Aspekt mit dem Vergnüglichen, soll doch das Exempel Josebeths auch unterhalten. Darüber hinaus lassen sich in Bezug auf die kurze Vorrede noch weitere Feststellungen machen: So wird nicht nur bereits hier die Stoßrichtung des Textes vorgegeben – eben keine objektive Erläuterung jüdischer Riten, sondern Diskreditierung und Diffamierung des Judentums, die umso mehr Überzeugungskraft durch die Gegenüberstellung Josebeths mit dem „Jüdischen Volcke“ erhält –, sondern es wird zugleich der Handlungsverlauf angedeutet, wenn Josebeth zunächst als „Jüdische Vollkommenheit“, dann als „[c]hristliche[..] Jüdin“, „[c]hristliche Josebeth“ und schließlich als „heilige verborgene Christin“ bezeichnet wird.192 Hier wird mithin vorweggenommen, was sich später auf der Handlungsebene vollzieht. Des Weiteren wird mit dem schon angesprochenen Hinweis, dass es sich um eine „warhaffte[..]/ in Holland ehemals vorgegangene[..] Begebenheit“193 handele, der Versuch deutlich, das Präsentierte zu beglaubigen und wahrscheinlicher zu machen, wobei der Hinweis zugleich der Abwehr des Vorwurfs dient, dass das Dargestellte eine fabula sei. Es wird also nicht nur das Erzählte, sondern auch das Erzählen selbst legitimiert, was angesichts der Außerordentlichkeit des Stoffes umso notwendiger erscheint. Bereits in der Vorrede werden mithin wesentliche Deutungselemente sichtbar, denen im Folgenden weiter nachgegangen werden soll. Wie schon angesprochen, ist der Roman zur Zeit der Belagerung Amsterdams durch Wilhelm II. angesiedelt. Ort der Handlung ist somit eines der bedeutendsten Zentren der sephardischen Juden in Europa.194 Bei der Flucht vor den Fluten findet der französische Adlige Villeneuve, ein in allen ritterlichen und höfischen
190 Ebd., 3r. 191 So die Ankündigung im Titel. 192 Kormart (wie Anm. 178), 2v–3v. 193 Ebd., 3r. 194 Vgl. einführend zur sephardischen Gemeinde in Amsterdam Hiltrud Wallenborn: Bekehrungseifer, Judenangst und Handelsinteresse. Amsterdam, Hamburg und London als Ziele sefar-
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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Künsten vorbildlicher Held,195 einen Brief, in dem eine Frau dazu aufruft, „ein Weibsbild aus ihrem Elende zu erlösen“.196 Er begibt sich in die Stadt, trifft dort mit drei anderen Bewerbern zusammen und wird schließlich von Josebeth als „Schönste[r]“197 ausgewählt. Es dauert jedoch, bis sich das Paar treffen kann, gilt es doch Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, und so wird Villeneuve erst am nächsten Tag von einer Dienerin in eine Kammer geführt, in der er auf die hilfesuchende Frau wartet. Es zeigt sich ihm schließlich eine Frau, die „ihm in der grösten Herrlichkeit und Schönheit damahls erschiene“:198 Sie ware in Samarr von güldenen Stücke gekleidet/ und der Rock auf beyden Seiten mit prächtigen Spitzen aufgesteckt/ unter welchen ein schneeweisser dinner [sic] seidener Rock hervor gieng/ welcher so klar und zart ware/ dass man auf jeden tritt die Gestalt ihrer Glieder an Knie und Beinen unterschiedlich durch selbigen wohl erkennen kunte. An ihrem Halse sahe man eben dergleichen schneeweisse Gestalt/ und ob er wohl mit einem Venetianischen Flor umzogen/ kunte man doch alle die Vollkommenheiten erblicken/ welche bey einer himmlischen Venus-Brust zu ersehen. Jhr Haar hunge in krausichten Locken um das Haupt/ welches durch seine braun=schwärtzliche Farb die weisse Klarheit des Angesichts desto herrlicher abstache. Und war es die Warheit/ dass über diese Gestalt nur die Augen einer so himmlichen Schönheit/ alleine mächtig schienen/ jedes Menschen Hertz durch ihren Blitz zu verblenden/ massen aus selbigen ein so kräfftiges Licht hervor leuchtete/ welches jedermann zur Huldigung dieser anbethens=würdigen Schönheit brachte/ gestalt diese braunen Augen eben die Krafft vollkommener Liebes=Würckung hatten/ so man sonst den blauen Augen pfleget zuzuschreiben. Endlich mit kurtzen [sic] zu sagen/ was ihre Schönheit angienge/ so wurde solche von dem andern Frauenzimmer nur darum geneidet/ weil ihre Corallen=rothe Lippen sich nit recht mit dem Purpur vergleichen sollten. Das weisse Helffenbein/ womit ihre Zähne den Meister spieleten/ und andere Zärtlichkeiten einer Jugend nicht zu gedencken/ richtete ihre gantze Gestalt und Geberden dahin/ als ob sie nur zu herrschen gebohren/ dahero man diese Josebeth/ als eine rechte Vollkommenheit unter menschlichen Creaturen erkennen und rühmen muste.199
Die Darstellung der Frau vollzieht sich hier entlang poetologischer Traditionen, die Referenzebene bildet der Petrarkismus und so wird jeder Körperteil aufgelistet und in seiner Vollkommenheit und erotischen Potenz gelobt. Ihr Körper wird Stück für Stück mit Blicken abgetastet und taxiert, die Schaulust wird narrativ vollzogen, sodass auch der Leser zum Beobachter wird. Josebeth wird zum Objekt
discher Migration im 17. Jahrhundert. Hildesheim u.a. 2003 (Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen 27). 195 Vgl. die Beschreibung Villeneuves: Kormart (wie Anm. 178), S. 11–15. 196 Ebd., S. 7. 197 Ebd., S. 35. 198 Ebd., S. 45. 199 Ebd., S. 45–47.
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des männlichen Blickes degradiert, zugleich werden jedoch ihren Blicken magische Qualitäten beigemessen, die sie über die reine Objekthaftigkeit erheben und sie zur Verführerin des Betrachters machen. Doch zeichnet sie sich nicht nur durch ihre körperlichen Vorzüge aus, wird doch ihre kostbare Kleidung explizit betont, sogar noch vor den körperlichen Merkmalen erwähnt, sodass über die Assoziation von Judentum und Reichtum Josebeths Judentum unterschwellig in die Beschreibung eingeht.200 Dass Josebeth jedoch keine ‚offensichtlichen jüdischen Merkmale‘ – wie etwa die Esther Grimmelshausens, die sich durch eine ‚jüdische Nase‘ auszeichnet201 – aufweist, bedingt sich in der Anlage des Textes: Alles ist auf ihre spätere Konversion zum Christentum hin angelegt und so ist auch ihre Schönheit Vorausdeutung auf die Taufe.202 Der Hinweis auf die blauen Augen dient dann auch mehr dazu, die exotische Schönheit mit den Schönheitsidealen der eigenen Geschmackswelt zu vereinbaren: „Nur gemäßigte, erkennbar nicht allzu fremde Schönheit kann der Jüdin, gemäß ihrer Rolle als Partnerin des Christen und Konvertitin, zugesprochen werden.“203 Kurz zusammenfassend kann man somit feststellen, dass in dieser Beschreibung Josebeths in nuce jene Merkmale angesprochen werden, die dem Konstrukt der ‚Schönen Jüdin‘204 eigen sind. Im Folgenden sei kurz auf dieses eingegangen, um im Anschluss die Figur der Josebeth hinsichtlich dessen zu überprüfen. Dem Konstrukt der ‚Schönen Jüdin‘ liegen nach Grözinger im Wesentlichen drei Darstellungsmuster zugrunde:205 Erstens die Stilisierung von Frauengestalten der hebräischen Bibel über das Neue Testament und die Apokryphen zu ‚Heldinnen‘, die sich durch begehrenswerte Schönheit, Intelligenz und Klugheit 200 Ganz ähnlich auch Sprenger in Bezug auf die Darstellung Esthers im Wunderbarlichen Vogelnest II von Grimmelshausen. Vgl. Anita Maria Sprenger: Judentum – Christentum. Die Kontroverse um Grimmelshausens Judenbild am Beispiel der Jüdin Esther. In: Simpliciana 14 (1992), S. 35–57, hier S. 37f. Die Assoziation von Reichtum und Juden wird im Roman immer wieder aufgerufen. So mutmaßt beispielsweise Villeneuve bereits vor dem ersten Treffen über Josebeths Reichtum (vgl. ebd., S. 20f.) und auch durch das dem Text vorangestellte Titelkupfer wird die Verbindung hergestellt. So sind auf diesem vier Figuren zu sehen: links Villeneuve und Josebeth, rechts zwei Juden. Diese bieten dem Paar in bittender Haltung Schmuck und andere Kostbarkeiten aus einer prall gefüllten Truhe an, wodurch bereits noch vor der eigentlichen Erzählung das Stereotyp des reichen, bestechenden Juden aufgegriffen wird. 201 Vgl. unten, S. 248f. 202 So Krobb: Verführung und Bekehrung (wie Anm. 179), S. 536. 203 Ebd., S. 36. 204 Im Anschluss an Krobb sei im Folgenden die Formel ‚Schöne Jüdin‘ in einfache Anführungsstriche gesetzt, um größtmögliche Distanzierung zu erreichen. Ebd., S. 18f. 205 Der folgende Absatz bezieht sich wesentlich auf Elvira Grözinger: Die schöne Jüdin. Klischees, Mythen und Vorurteile über Juden in der Literatur. Berlin, Wien 2003, S. 7–28. Vgl. zum Konstrukt der ‚Schönen Jüdin‘ weiter auch Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 8–20.
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auszeichnen, zweitens die Stilisierung zum Opfer, wobei gerade das Opfer aufgrund seiner Ausgeliefertheit wiederum Anziehungskraft erhält, und drittens die Stilisierung zur Verführerin, bei der die verderbliche Macht, ihre Arglist und Schläue sowie ihre Verführungskunst betont werden. Im Fokus steht dabei stets die von der Frau aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit ausgehende Anziehungskraft, die, verbunden mit exotischer Fremdheit, Neugier erzeugt, die vor allem bei antijüdischen bzw. antisemitischen Texten bis hin zu sadomasochistischen Wunschträumen führen kann.206 Diese stereotypen Rollenzuschreibungen finden sich jedoch nicht nur in der literarischen Gestaltung von jüdischen Frauen, sondern auch auf christlicher Seite: Schlagwortartig seien nach Grözinger nur die – meist misogynen – Weiblichkeitsentwürfe wie die Frau als Hexe, Hure oder auch Jungfrau und Mutter angeführt. Das Konstrukt der schönen und/ oder gefährlichen Jüdin korrespondiert mit den unterschiedlichen Wahrnehmungen des Weiblichen, ist mit solchen Weiblichkeitsentwürfen jedoch nicht hinreichend beschreibbar. So finden sich auch in anderen Kulturen schöne Frauen wie Cleopatra, Helena oder Semiramis, doch das Konstrukt der ‚Schönen Jüdin‘ impliziert auch immer zersetzende, ja tödliche Macht, sie oszilliert zwischen Täter- und Opfergestalt, als Heldin oder Verführerin.207 Diese Komponenten der Entwürfe jüdischer Weiblichkeit, lassen sich auch bei der Figur der Josebeth festmachen, sie wird entlang dieses freilich noch recht allgemeinen, aber doch fest umrissenen literarischen Bildes beschrieben: So erscheint sie als außerordentliche Schönheit, als vollkommene Frau, die mit ihren
206 Auf diese Vorstellung rekurriert auch Jean-Paul Sartre, den Grözinger ebenfalls zitiert, in seinen „Réflexions sur la question juive“, in denen er das Phänomen der ‚Schönen Jüdin‘ psychologisch zu erklären sucht: In den Worten ‚eine schöne Jüdin‘ liegt eine ganz besondere sexuelle Bedeutung, die sich stark unterscheidet von der einer ‚schönen Rumänin‘, ‚schönen Griechin‘ oder ‚schönen Amerikanerin‘. Sie strömen so etwas wie einen Geruch von Vergewaltigung und Massaker aus. Die schöne Jüdin ist die, welche die Kosaken des Zaren an den Haaren durch ihr brennendes Dorf schleifen; die auf Schilderungen von Auspeitschungen spezialisierte Literatur räumt den Jüdinnen einen Ehrenplatz ein. Aber man muß nicht in pornographischer Literatur suchen. Von der Rebekka aus ‚Ivanhoe‘ bis zur Jüdin von ‚Gilles‘ über die Jüdinnen von Ponson du Terrail haben die Jüdinnen in den seriösesten Romanen eine wohl definierte Funktion: häufig vergewaltigt und geschlagen, gelingt es ihnen mitunter, durch den Tod der Schande zu entgehen, aber nur mit knapper Not; und die ihre Tugend bewahren, dienen untertänig oder lieben gedemütigt gleichgültige Christen, die sich mit Arierinnen vermählen. Mehr braucht es nicht, meine ich, um den sexuellen Symbolwert der Jüdin in der Folklore zu charakterisieren. (Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Deutsch von Vincent von Wroblewsky. Reinbek bei Hamburg 1994 [Jean-Paul Sartre. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften 2], S. 33) 207 So Grözinger (wie Anm. 205), S. 7–28.
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magischen Blicken den Betrachter zu verführen vermag. Diese potentiell gefährliche Macht wird jedoch durch die wiederholten Verweise auf den himmlischen Ursprung ihrer Schönheit ins Positive gewendet.208 Josebeth ist innerhalb dieser Beschreibung dann kaum mehr als Jüdin identifizierbar und wird dementsprechend in der zitierten Textstelle auch nicht als solche bezeichnet, sie erscheint als anbetungswürdige Frau, die sich jedoch nicht nur durch äußerliche Reize auszeichnet. Diese korrespondieren vielmehr mit ihrer inneren Schönheit, sodass sie ihrem Partner Villeneuve ebenbürtig ist.209 Sie verhält sich stets keusch und tugendhaft, nicht nur wenn sie von Manasse oder Wanberger bedroht wird, sondern auch wenn Villeneuve droht, ihren Reizen zu erliegen,210 sie ist lebensklug – dies erweist sich vor allem dort, wo sie sich der Avancen des Rabbiners Manasse erwehren muss –, gebildet und zeichnet sich durch galante Conduite aus, sie ist fromm, auch wenn sie zunächst noch der ‚falschen‘ Religion anhängt, gerecht und mildtätig, wenn sie die übrigen Juden während des Pogroms am Schluss verschont.211 Kurz: Sie zeichnet sich durch all jene Eigenschaften aus, die dem christlichen Leser auf der Rezeptionsebene zur Erbauung dienen und Josebeth auf der Handlungsebene befähigen, zum Christentum zu konvertieren. Zugleich erscheint sie durch ihren Opferstatus, sie wird durch den Rabbiner Manasse und ihren Mann Wanberger nicht nur sexuell, sondern auch mit dem Tod bedroht, als noch anziehender, gilt es doch, eine schöne, tugendhafte Frau, die hinsichtlich der ihr zugeschriebenen Eigenschaften – so die Logik des Textes, wie noch gezeigt werden wird – dem Christentum näher als dem Judentum steht, vor den Fängen des „verfluchten Jüdischen Volckes itzige[r] Bosheit“212 zu retten. Vor diesem Hintergrund kann man Josebeth mit einigem Recht als ‚Schöne Jüdin‘ bezeichnen. Auffällig ist jedoch, dass die ins Negative gewendete Seite des Konstrukts ebenfalls aufgegriffen wird: Abigail, die Geliebte des Wanbergers, figuriert
208 Krobb hat zudem darauf verwiesen, dass im Roman zum ersten Mal ein gehäufter Gebrauch des Begriffes „schöne Jüdin“ festzustellen ist und zählt auf 280 Seiten acht Belege. Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 36. 209 Darauf verweist auch Krobb, ebd., S. 34f. 210 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 54f. und 96. Dies gegen Zell, der davon ausgeht, dass es in dem Roman nicht um Zuneigung und deren Erwiderung gehe, sondern um „Anbahnung und Verteidigung einer außerehelichen Sexualbeziehung“. Hier werde die „sexuelle Befriedigung als das Hauptziel einer Bürgerlichen hingestellt. Die schöne Bürgerin zeigt keine aristokratische Zurückhaltung; sie wird nicht umworben, sondern tut selbst den ersten Schritt.“ Zell (wie Anm. 182), S. 82f. Zell bezieht sich auf die Hauptfigur Josebeth – vor dem Hintergrund der hier verfolgten Deutung kann diesem jedoch nicht zugestimmt werden, allein auf Abigail könnte diese These bezogen werden. 211 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 267. 212 Ebd., S. 3r.
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als Gegenpart zu Josebeth nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch hinsichtlich ihrer Charaktereigenschaften. So zeichnet sie sich ebenfalls durch große körperliche Anziehungskraft aus, wobei sogleich ein Bezug zu Josebeth hergestellt wird: Villeneuve findet unter anderen Papieren auch „[…] ein Conterfeyt/ welches eine Frau in Trauer=Kleidern darstellte/ ohngefehr bey 30. Jahr alt/ jedoch von einer Wunder=vollen Schönheit/ dass man Josebeth kennen muste/ wann man sich nicht in diese Schilderey verlieben wolte.“213 Ähnlich verhält es sich im Übrigen auch bei Villeneuve und Wanberger: Beide sind „hübsch und wohlgestalt“,214 doch hinsichtlich ihrer inneren Werte grundverschieden. Abigails Schönheit entspricht jedoch nicht wie bei Josebeth auch herausragenden Charaktereigenschaften, diese werden vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt: Sie begeht mit Wanberger Ehebruch und zeigt sich eben nicht treu und keusch, sondern derart lüstern, dass sie sich auch mit dem Diener Wanbergers einlässt.215 Sie ist geldgierig,216 besticht die Rabbiner, damit sie ihr freizügiges Leben dulden217 und erweist sich in der Liebe als unbeständig. Insofern ist Abigail nicht – wie auch immer wieder betont wird218 – mit Josebeth zu vergleichen, sie figuriert vielmehr als weiblicher Antagonist, der Josebeth mittelbar sogar mit dem Tod bedroht. Diese Gegenüberstellung hat jedoch noch weitergehende Folgen: Anhand der Paare Josebeth-Villeneuve und Abigail-Wanberger zeigt sich das Konstruktionsprinzip der Parallelisierung, das genutzt wird, um das tugendhafte Paar sowie die Einzelpersonen gegenüber dem lasterhaften Paar positiv hervorzuheben. Jenseits der gattungskonformen Heraushebung von Josebeth und Villeneuve, wird durch diese Gegenüberstellung auch das Christentum positiv gegen das Judentum abgegrenzt. Zunächst sei jedoch kurz darauf verwiesen, wie sich diese Gegenüberstellung im Roman gestaltet: Zum einen vollzieht sie sich durch direkte Konfrontation, wenn beispielsweise Josebeth mit Abigail verglichen wird oder wenn die Briefe zwischen Josebeth und Villeneuve mit jenen Wanbergers verglichen werden, die sich eben nicht durch die Beherrschung der galanten Sprache der Liebe auszeichnen,219 sondern vielmehr als „komisch verliebte Kauf-
213 214 215 216 217 218 219
Ebd., S. 136. Ebd., S. 64. Vgl. auch die Beschreibung Villeneuves ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 275. Vgl. ebd., S. 186. Vgl. ebd., S. 150, 169. Vgl. die Beschreibung der Fertigkeiten Villeneuves: […] und/ in Warheit/ er vermochte sich in alles so Wunderwürdig zu schicken/ daß er auch nach seiner Wissenschafft/ so wohl in ungebundener Rede/ als gebundener Re-
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mannsprosa“220 bezeichnet werden können. Damit korrespondiert auch die Beherrschung des höfischen Verhaltenscodes,221 den Villeneuve durch Lebenserfahrung und Josebeth aus Romanen erlernt hat. Hier ist zudem darauf zu verweisen, dass die Romanlektüre Josebeths nicht kritisch abgewertet wird, sondern vielmehr die Bedingung dafür ist, dass sie sich auf das galante Abenteuer einlässt und seine Regeln sicher befolgt.222 Zudem legitimiert der Hinweis auf den Nutzen der Romanlektüre auf der Metaebene auch den Roman selbst. Während sich das Paar in tugendhafter und selbstverständlich bis zur Hochzeit keuscher Liebe übt, erweisen sich Abigail und Wanberger als affektgesteuert und ergehen sich in sinnlicher, ausufernder und deshalb abzulehnender Liebe. Die Beherrschung bzw. Nicht-Beherrschung des angemessenen Verhaltenscodes zeigt sich auch, wenn die Figuren auf Verstellung und Verkleidung angewiesen sind: Während diese bei Josebeth und Villeneuve im Sinne der politisch klugen dissimulatio durchaus positiv gedeutet wird,223 erscheint sie im Falle Abigails, Wanbergers und auch Manasses nicht nur als lächerlich,224 sondern aufgrund der damit verfolgten Ziele – vornehmlich des Ehebruches – als verwerflich.225 Durch die illegitime Verkleidung und Verstellung werden die wahren Absichten und die Figuren als Betrüger offenbart, wobei die Diskrepanz zwischen Schein und Sein
dens=Art/ klüglich seine Feder zu führen wuste/ und zwar so vollkommen/ daß die Hof=Leute/ welche gemeiniglich wenig Verstand/ und nicht viel gelernet haben/ weder Wissenschafft tragen/ einen guten Brieff zu schreiben/ ja ihren grösten Ruhm zu seyn achten/ wann sie nicht recht ihren Namen schreiben können/ auffrichtig bekennen sich nicht schämeten/ wie Villeneuve vor einen Edelmann als zu gut und wohl zu schreiben wüste/ und zwar mehr als ihm nach ihrer eingebildeten Vollkommenheit des Adels möchte zustehen. Das Frauenzimmer war nichts minder seiner Geschicklichkeit geneigt ergeben/ und empfung damahls die Königin von Böhmen nicht wenige Briefe von dessen gelehrten Händen. (Ebd., S. 14f.) 220 Lauer: Die Rückseite der Haskala (wie Anm. 179), S. 146. 221 Vgl. beispielsweise Kormart (wie Anm. 178), S. 55, 70ff., 96, 165. 222 So Lauer: Die Rückseite der Haskala (wie Anm. 179), S. 146. 223 Vgl. beispielsweise Kormart (wie Anm. 178), S. 30, 85, 237. 224 So, wenn Manasses seinen Bart nicht unter den Frauenkleidern verbergen kann. Vgl. ebd., S. 215. 225 Vgl. beispielsweise ebd., S. 197f. Zum Konzept der politisch klugen Verstellung vgl. einführend Lutz Dannenberg: Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert: dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit. Hg. von Claudia Benthien, Steffen Martus. Tübingen 2006 (Frühe Neuzeit 114), S. 45–92; Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992 (Communicatio 1), insbesondere S. 10–124; Michael Titzmann: „Verstellung“. Semiotische, anthropologische, ideologische Implikationen im Drama des deutschen Barock. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von Wolfgang Adam. Bd. 1. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 543–557.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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auch explizit durch Villeneuve angesprochen wird.226 Darüber hinaus offenbart sich die Parallelisierung aber auch im Hinblick auf die immer wieder angesprochene, den Roman letztlich organisierende, providentielle Ordnung: So ist Villeneuves und Josebeths Zusammenführung von vornherein durch göttliche Wirkung bestimmt, wenn Villeneuve den Brief „[d]urch sonderbahres Glücke“227 findet und vor dem Treffen von einem „gleichsam vom Himmel zugeschickte[n] Frauen=Bild“228 träumt. Diese Verweise auf die Providentia ziehen sich durch den gesamten Roman,229 sodass kein Zweifel aufkommt, dass die Konversion der Jüdin und die Heirat gottgewollt sind. Doch die Zusammenführung der richtigen Paare vollzieht sich nicht nur am positiven Beispiel Villeneuves und Josebeths, sondern auch bei Abigail und Wanberger, die ehemals verliebt waren und heiraten wollten.230 Insgesamt ist die Ordnung des Textes mithin darauf angelegt, dass die rechten Paare zusammengeführt werden und jeder den Lohn für seine Taten erhält. Dies zeigt sich auch bei Manasses, auf den noch zu kommen sein wird. Die providentielle Ordnung zeigt sich jedoch am deutlichsten an der Konversion Josebeths zum Christentum, die die Voraussetzung für die spätere Heirat ist. Es wurde bereits angesprochen, dass der Roman von Anfang an auf die Hinwendung zum Christentum angelegt wird, was besonders in der Vorrede und
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Wann das übrige/ sagte er hierauf/ mit dem/ was ich gesehen/ überein kommt/ so ist Abigail in Warheit hoch zu schätzen. Er wolte ihr zwar weiter folgen/ allein sie bedeckete ihr gantzes Angesicht und gieng unter die andern Weiber/ den Gottesdienst mit beyzuwohnen. Bey ihrer Andacht kunte er nicht unterlassen seine Gedancken über sie zu führen. Ach/ sagte er bey sich selbst/ dass die Verstellung und Heucheley ein Werck der Untugend/ welches der Tugend in allen widerstreitet. Dann wann die Untugendhaffte sich einbilden/ als ehrliche Leute zu scheinen/ so bekennen sie öffentlich/ daß nichts anders/ als die scheinheilige äusserliche Gestalt der falschen Aufrichtigkeit sey/ welche einen guten Namen verursachet/ und daß alle andere Güter des Lebens/ ohne die Untugend/ keine Ehre können zuwege bringen. Dann sehe ich Abigail hier an/ da ich sie wol beschrieben weiß/ was leichtsinnigen Genüthes sie sey/ so scheinet sie/ nach ihrer äusserlichen Gestalt/ die allergottsfürchtigste zu seyn/ wie dann ihre Schönheit solche Vollkommenheit ihrer Tugend vorstellet/ daß ich sie fast nicht für leichtfertig glauben kan/ und wolte ich wetten/ daß sie/ wie sonst alle Weibsbilder geartet/ sich vor fromm und erbar gnug selbst einbildet/ auch zum wenigsten nur den äusserlichen Schein ihres Gottesdienstes also heilig vorzustellen. (Kormart [wie Anm. 178], S. 167–169) 227 Ebd., S. 9. 228 Ebd., S. 19. 229 Vgl. beispielsweise: „Der Himmel/ welche sie beyde vereiniget hatte/ gab selbst seinen Segen/ zu so schöner und herrlichen [sic!] Verbündnüs.“ Ebd., S. 282. 230 Vgl. ebd., S. 149.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
den dortigen Bezeichnungen für Josebeth sowie in der Abgrenzung von den übrigen Juden deutlich wird. Es finden sich auch keine Hinweise darauf, dass sich Josebeth aus einer bewussten Entscheidung heraus zum Christentum bekennt – so übt sie sich z.B. nicht im Studium christlicher Schriften – und ihre Konversion vollzieht sich nicht entlang tradierter Argumentationsschemata, die sich meist auf die zwei klassischen Konversionsfiguren Paulus und Augustinus beziehen. Des Weiteren wird auch der der Taufe normalerweise vorhergehende katechetische Unterricht nicht erwähnt, sie wird am Schluss des Romans nur mehr kurz erwähnt:231 „Sie reiseten damit nach Brüssel/ allwo sie in Gegenwart dieser Herren Geistlichen die heilige Tauffe empfienge.“232 Insofern erscheint der Übertritt als rein äußerlicher Vorgang, sodass der Roman insgesamt auch nur mit Einschränkungen als „Konversionsroman“ bezeichnet werden kann, stehen doch die Verwicklungen der Liebe im Vordergrund. Darauf verweist auch, dass Kormart dem Roman einen „Anhang Etlicher lustige[r] Liebs=Geschichten“233 beigibt, sodass der Liebesgeschichte auch strukturell eine höhere Bedeutung zugemessen wird.234 Josebeths Hinwendung zum Judentum wird vornehmlich mit ihrer christlichen Erziehung in einer Converso-Familie – Krobb weist darauf hin, dass hier historische Realitäten und jüdische Erziehungsmaximen ad absurdum geführt werden235 – begründet,236 seit der sie einen „Abscheu vor den Jüden trägt“.237 Dieser „Abscheu“ wird jedoch nicht näher erläutert, allein die sie umgebenden Männer – namentlich ihr Ehemann Wanberger und der Rabbiner Manasse – erscheinen als Ursache ihres Widerwillens: Wann sie aber die ehemalgelesene [sic] Geschichte bey sich betrachtete/ wie des Gottes Anubis heidnische Priester/ die Durchlauchtige Paulina/ unter dem Schein der Gottesfurcht entehret und geschändet/ bekam sie einen solchen Ekel und Abscheu vor solchen lästerlichen Beginnen/ daß sie wider diesem Rabbinen/ wie hoch und werth sie ihn sonst gehalten/ einen solchen Abscheu und Zorn truge/ welcher hernachmahls in keine Weege kunte geändert werden.238
231 Vgl. zum Übertritt von Juden zum Christentum aus der Fülle der Forschungsliteratur einführend Gesine Carl: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hannover 2007 sowie Elisheva Carlebach: Divided Souls. Converts from Judaism in Germany, 1500–1750. New Haven, London 2001. 232 Kormart (wie Anm. 178), S. 281. 233 Ebd., S. 284–336. 234 Diese finden sich nicht in der französischen Vorlage. 235 Krobb: Verführung und Bekehrung (wie Anm. 179), S. 534. 236 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 59–63. 237 Ebd., S. 65. 238 Ebd., S. 104f.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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Ausgangspunkt ihres späteren Übertritts ist mithin keine Ablehnung der jüdischen Religion, sondern vielmehr ihrer Vertreter, die sie an der Auserwähltheit des Judentums zweifeln lassen.239 Zugleich offenbart sich die Überlegenheit der christlichen Religion, nicht nur durch die Mangelhaftigkeit des Judentums, sondern auch durch die hervorragenden christlichen Figuren, vor allem Villeneuve. Das Christentum erweist sich somit durch die Gegenüberstellung von positiv und negativ zu bewertendem Figuren als überlegen sowie durch die Überführung Josebeths von einem äußerlichen Zustand der Sünde in den Schoß des Christentums.240 Darüber hinaus korrespondiert der „Abscheu“ vor dem Judentum mit der Ablehnung des Kaufmannslebens, das – vertreten durch den „hefftigen Eiffer“241 des Juden Wanberger, dessen Verhältnis zu Josebeth sich hauptsächlich auf deren Vermögen gründet242 – als typisch jüdisch erscheint. Kritisiert werden mithin die angebliche Lebensweise der Juden und ihrer Vertreter, sodass es hier zu einer Mischung sozialer und religiöser Verurteilungen kommt, wobei jedoch stets die jeweiligen Personen und ihr Verhalten im Fokus stehen, nicht das Judentum als Religion. Vor dem Hintergrund der mangelhaften Begründung der Konversion, der christlichen Erziehung sowie der nicht stattfindenden Auseinandersetzung mit Juden- und Christentum, hat beispielsweise Sprenger angezweifelt, dass es sich bei Josebeth tatsächlich um eine Jüdin handele.243 Dennoch kann, auch wenn sich die Konversion als rein äußerlicher Vorgang gestaltet und das Judentum Josebeths vordergründig nur als ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Vereinigung der Liebenden erscheint,244 an ihrer jüdischen Identität kein Zweifel sein: So erweist sie sich anfänglich gegenüber den Begründungen, mit denen Manasses seine Avancen rechtfertigt, als durchaus aufgeschlossen, ja ihr Judentum ist die Bedingung dafür, dass sie überhaupt für die Geschichte vom Messias empfänglich ist. Darüber hinaus ließ auch Josebeth ehemals „Eifer“ beim Gottesdienst erkennen, wobei Villeneuve jedoch bestrebt ist, diesen ihrer Ju-
239 Vgl. ebd., S. 121: „Wie/ sagte sie/ ist nun dieses auserwählte Volck/ welche uns als Propheten zu solcher Schande führen/ und die uns so offt die gröste Sünde vorbilden/ seins Nechsten Weib zu begehren: Was für ungeheure Sünde/ Schand und Laster!“ 240 So Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm.179), S. 22. 241 Kormart (wie Anm. 178), S. 181. 242 So hat Wanberger Josebeth ‚gekauft‘. Vgl. ebd., S. 63. 243 Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 50. Vgl. weiter auch Krobb: Verführung und Bekehrung (wie Anm. 179), S. 537. 244 So Lauer: Die Rückseite der Haskala (wie Anm. 179), S. 145.
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gend und Einsamkeit anzulasten und sie somit von den anderen Juden abzuheben.245 Im Rahmen der Analyse der Erzählsammlungen wurde bereits auf das Motiv des vermeintlichen Messias eingegangen, weshalb an dieser Stelle die Tradierung nicht nochmals diskutiert werden soll.246 Es ist jedoch festzustellen, dass, anders als beispielsweise bei Folz, die Zeugung des Messias nicht als nachträgliche Rechtfertigung des Beischlafs genutzt wird, sondern zur Anbahnung dessen: Der alte Rabbiner Manasses ben Israel247 ist aufgrund seiner Weisheit und Frömmigkeit innerhalb der Gemeinde hoch angesehen, doch handelt es sich dabei nur um „äusserliche[n] falsche[n] Schein“,248 womit noch vor der Darstellung des versuchten Betruges die jüdische Gemeinde und damit die Juden insgesamt – werden doch die Urteile über die Amsterdamer Juden stets auf das gesamte Judentum übertragen249 – als leichtgläubig diffamiert werden. Manasses verliebt sich nun „rasend“250 – ein Hinweis auf seine mangelnde Affektkontrolle – in Josebeth und wird zunächst durch ihre „besondere[..] Ehrehrbietung“251 bestätigt. Da er ihr jedoch nicht näher zu kommen vermag, wendet er eine List an und erzählt er ihr, [w]ie er im Lesen der heiligen Bücher ausgegründet/ daß dieser versprochene Messias müste aus einem alten Mann/ welcher unbeweibet und nie kein Frauenzimmer berühret/ absonderlich bey den zwölff Stämmen auch seine Weisheit und Gottesdienst in grossen Ansehen/ gebohren worden [sic]. Wieder in der dritten Anheimsuchung wiese er ihr einen Brieff aus Portugal/ worinnen man ihnen zu wissen thäte/ wie solches eine Prophetin an selbigen
245 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 169: „Jch muß zwar bekennen/ sagte er/ daß Josebeth nicht weniger schlechten Eifer bey diesem Gottesdienst sehen lassen/ sie ist aber noch jung und bringt ihr Leben in einer steten Einsamkeit zu. Und so kan es auch wohl seyn/ daß sie in ihren [sic!] Hertzen keine Jüdin ist/ welches alles zu ihrer Entschuldigung dient.“ Diese Textstelle kann jedoch nicht als Beleg dafür herangezogen werden, dass es sich bei Josebeth um keine ‚richtige‘ Jüdin handele, scheint sich doch selbst Villeneuve nicht sicher zu sein (Verwendung des Konjunktivs!). 246 Vgl. oben, S. 44, Anm. 10. 247 Zell identifiziert in dem Rabbiner Manasse den Amsterdamer Rabbiner Manasse ben Israel, der sich vor allem mit seiner Schrift „Die Hoffnung Israels“ (1655) für die Wiederaufnahme von Juden in England einsetzte (Vgl. Zell [wie Anm. 182], S. 96). Da jedoch weitergehende Hinweise auf letzteren im Roman fehlen – allein der Name ist identisch – und die Unterstellung einer Identität der Figur mit der historischen Person für die Analyse des Romans keine weitergehenden Erkenntnisse erbringt, sei hier nur am Rande auf die These Zells verwiesen. Zu Menasse ben Israel, der historischen Person, vgl. einführend Cecil Roth: A Life of Menasseh ben Israel. Rabbi, Printer, and Diplomat. Philadelphia 21945. 248 Kormart (wie Anm. 178), S. 98. 249 So ist beispielsweise in der Vorrede vom gesamten „Jüdischen Volck[…]“ die Rede. Ebd., 3r. 250 Ebd., S. 98. 251 Ebd., S. 99.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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Orten verkündigte/ daß der grosse König der Jüden in Holland würde gebohren werden. Welche Verkündigung er mit etlichen zeugnüsses des alten Testaments bewährte/ deren Auslegung nicht so ungereimt schiene/ daß sie leichtlich eine Person/ wie Josebeth von 22. Jahren/ betrügen kunten.252
Auffällig ist hier zunächst, dass Josebeth von dem Vorwurf der Leichtgläubigkeit ausgenommen wird bzw. ihr Glauben an Manasses Erzählungen mit ihrem jungen Alter entschuldigt wird. Sie wird mithin wiederum von der Gruppe der übrigen Juden ausgenommen, die den Lügen des Manasses unbesehen glaubt.253 Der Vorwurf erhält noch mehr Überzeugungskraft, wenn in einem Einschub von zahlreichen Betrügern berichtet wird, die sich durch List den Beischlaf erschlichen haben. Der Erzähler kommt zu dem Schluss: „Alle Jüdinnen in der gantzen Welt hätten können durch eine dergleichen Teuscherey und List betrogen werden/ die Josebeth alleine war zu klug/ sich davor besser in Acht zu nehmen.“254 Auch wenn sich Josebeth anfangs, wie schon angesprochen, als durchaus empfänglich für Manasses Anerbieten erweist,255 ermöglicht ihr ihre ausgiebige Lektüre – als Bezugsfolie dient ihr die bei Flavius Josephus berichtete Episode um die Römerin Paulina256 – jedoch den Betrug zu erkennen. Sie wird damit nicht nur vom Vorwurf der Leichtgläubigkeit ausgenommen, sondern sie erweist sich als klüger als die restliche Gemeinde, ist sie doch fähig, aus der Geschichte zu lernen. Darüber hinaus handelt sie aber auch klug, wenn sie Manasses im Folgenden aus Angst vor ihm und ihrem Mann nicht offen zurückweist, sondern ihn immer wieder vertröstet, was schließlich zu lächerlichen Szenen führt, wenn sich der als Frau verkleidete Manasse im Bett Wanbergers wiederfindet. Das Motiv des falschen Messias wird hier folglich aufgenommen, um zum einen den ‚Un- und Aberglauben‘ sowie die ‚Verstockung‘ der Juden vorzuführen und sie dem Verlachen preiszugeben, zum anderen um Josebeth gegenüber dem Rest der Gemeinde positiv abzugrenzen. Darüber hinaus dient die Einfügung des Motivs, um den Rabbiner Manasses charakterisierend einzuführen und die Bedrohung Josebeths durch ihn und ihren Mann zu motivieren. Manasses figuriert mithin, wie Wanberger und Abigail, als Antagonist, der Josebeth nicht nur hinsichtlich ihrer ehelichen Treue und körperlichen Unversehrtheit bedroht – er schließt auch eine mögliche Vergewaltigung nicht aus257 –, sondern schließlich,
252 Ebd., S. 100f. 253 Vgl. ebd., S. 101f. 254 Ebd., S. 104. 255 Vgl. weiter auch ebd., S. 110. 256 Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz. I. Band: Buch XI–XX. Wiesbaden 101990, S. 516–518. 257 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 202.
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getrieben von Rachegefühlen, ihren Tod will. Das Bedrohungsszenario wird jedoch durch jene Episoden relativiert, in denen er am Zaun hängen bleibt – ein ähnliches Schicksal erleidet im Übrigen auch Abigail – oder im falschen Bett liegt und Prügel bezieht und so der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Des Weiteren figuriert Manasses aber auch als Exempel für das Judentum insgesamt, vereint er in sich doch all jene negativen Eigenschaften, die dem Judentum angelastet werden und sich auch bei den anderen jüdischen Figuren zeigen: List, Lüsternheit, Leichtgläubigkeit, Rachedurst, Gier und Bestechlichkeit. Aufgrund der Vielzahl der antijüdischen Invektiven, sei hier nur eine Auswahl vorgestellt: So zeichnet die Lüsternheit neben Manasses, Wanberger und Abigail auch andere Figuren aus, wie etwa die Magd Josebeths, die von Manasses einen „Neben Messias“258 will oder den Diener Wanbergers, der mit Abigail ein Verhältnis hat. Aber auch höhergestellte Figuren entgehen dem Vorwurf nicht, wenn z.B. beschrieben wird, wie die Rabbiner und Leviten das Hemd Josebeths Hemd genau begutachten.259 Auch der Vorwurf des Rachedurstes, der sich bei Manasses in den Verfolgungen der Josebeth manifestiert, wird auf die gesamte Gemeinde bezogen, wenn sie einen „Abgefallenen“ beim Laubhüttenfest verfolgen.260 Der Vorwurf der Geldgier wird insbesondere im Falle Wanbergers evident,261 aber wiederum auch auf die Gemeinde ausgeweitet, die im Zuge des Pogroms zuvörderst um ihre Güter fürchtet.262 Darüber hinaus kommt es aber auch immer wieder zu Diffamierungen, die nicht auf einzelne Figuren bezogen sind.263 Da kaum eine jüdische Figur von diesen stereotypen Verurteilungen ausgenommen wird – ausgenommen ist lediglich die Dienerin Salomonne, die sich durch ihre Treue zu Josebeth qualifiziert und sich wahrscheinlich, das legt zumindest die auf den Sieg des Christentums hin angelegte Ordnung des Textes nahe, taufen lässt264 –, erscheint entsprechend der in der Vorrede gemachten Ankündigung, des „verfluchten Jüdischen Volckes itzige Bosheit/ verkehrter Gottesdienst/ Ungerechtigkeit/ verdeckte Hurerey und andere Sünd und Laster durch diese Geschichte an hellen Tag“265 zu bringen, das gesamte Judentum als
258 Ebd., S. 207. 259 Vgl. ebd., S. 238. 260 Vgl. ebd., S. 94. 261 Vgl. beispielsweise ebd., S. 63. 262 Vgl. ebd. S. 273. 263 Vgl. beispielsweise ebd., S. 22, 26, 109, 171, 253. 264 Eine weitere Ausnahme bildet der Rabbiner Elsazar, der die Wasserprobe verzögert und Salomonne über den neuen Termin informieren will. Im übrigen Text wird jedoch nirgends darauf verwiesen, dass das Urteil verzögert wird, sodass dieser Einschub für den weiteren Handlungsverlauf unerheblich bleibt. 265 Kormart (wie Anm. 178), 3r.
4.3 Die zum Christenthum neu-bekehrte Jüdin
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schlecht und verworfen. So können dann auch die pogromartigen Ausschreitungen am Ende des Romans als verdiente Strafe gelten: So merckte auch dieses unglaubige Volk aus dem erschrecklichen Tumult/ daß ihnen ein Ungewitter dräuete/ weil sie mit der Josebeth so übel gehandelt und ungerecht verfahren/ […].266
Die von Villeneuve und seinem Diener organisierte Stürmung der Synagoge erscheint darüber hinaus als Katalysator für angeblich erfahrenes Unrecht, tatsächlich wohl aber eher sozialen Neid, legitimiert doch der vermutete Reichtum der Juden, der qua Stereotyp nur durch Unrecht erworben sein kann, die drastischen Mittel. Dementsprechend wird auch keinerlei Kritik an den plündernden und mordenden Bootsknechten geübt, die Heraushebung des Helden Villeneuves aus der plündernden Masse ist dabei gattungskonform. Vor dem Hintergrund der polemischen Anklage des Judentums ist es kaum verwunderlich, dass es keineswegs zu einer objektiven Darstellung jüdischer Feste und Riten kommt, die der Titel verspricht. So kommt die Schilderung in Bezug auf das Laubhüttenfest kaum über eine oberflächliche Beschreibung der Zurichtungen zum Sukkot hinaus. Der Ursprung der ausführlich dargestellten „Wasserprobe“, die Manasses für seinen Racheakt nutzt, ist nicht zu klären, Krobb vermutet hier einen Reflex auf unverstandene jüdische Scheidungsvorschriften bzw. eine „phantastische Parallelbildung zu Hexenfeststellungen durch Brandund Wassertests, wie sie zu dieser Zeit ja immer noch praktiziert wurden“.267 Jenseits möglicher realer Ursprünge der „Wasserprobe“ ist es in Bezug auf die Konstruktion des Jüdischen im Roman jedoch offensichtlich, dass die Probe hier zur Bestätigung antijüdischer Vorurteile – Geheimhaltung,268 Verschwörung, Grausamkeit, Rache und Niedertracht – dient. Es kommt also keineswegs zu einer Aufklärung über jüdische Riten, vielmehr wird der christlich-fromme Leser in seinen Vorurteilen bestätigt und bestärkt. Insofern ist es auch nicht notwendig, die Überlegenheit des Christentums explizit zu erläutern, erweist sich diese doch nicht nur am Handlungsverlauf, sondern auch in der ‚Mangelhaftigkeit‘ des Judentums. In diesem Zusammenhang ist es jedoch auffällig, dass die christlichen Geistlichen nur mit Einschränkungen als positiv gezeichnete Figuren verstanden werden können, beharren sie doch wiederholt auf dem ihnen von Villeneuve versprochenen Geld, wodurch der Vorwurf der Geldgier auch auf christlicher Seite
266 Ebd., S. 264. 267 Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 33f., Zitat S. 34. 268 Vgl. Kormart (wie Anm. 178), S. 233.
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evident wird.269 Es wird an ihnen jedoch keine Kritik geübt und so ist eher anzunehmen, dass entsprechend des den Roman strukturierenden Schemas jeder den Lohn für seine Taten erhält – so stirbt beispielsweise Manasse durch das Josebeth zugedachte Gift und Wanberger verliert sein Vermögen. Auch die Belohnung der Geistlichen entspricht diesem Muster, retten sie doch Villeneuve aus seiner Gefangenschaft und unterstützen ihn darin, Josebeth aus den „Klauen zu erretten/ die der Teuffel denen verfluchten Juden zureicht“.270 Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: In dem, gemessen an der Auflagenzahl, durchaus erfolgreichen Roman Josebeth wird der exemplarische Weg einer bekehrungswilligen Jüdin vom ‚verworfenen‘ Judentum zum allein ‚seligmachenden‘ Christentum vorgeführt. Verbunden mit dieser Bekehrungshandlung wird eine abenteuerliche Liebes- und Betrugsgeschichte, in der die Beschreibung der jüdischen Gemeinde zur Diffamierung und Verspottung des Judentums genutzt wird. Vollzogen wird die Abwertung des Judentums dabei nicht nur durch das Vorbringen antijüdischer Stereotype und Vorurteile sowie das Aufgreifen des Motivs vom falschen Messias, sondern vor allem durch die Gegenüberstellung der positiven Exempelgestalten Josebeth und Villeneuve mit der jüdischen Gemeinde als Unterdrücker und Verfolger des christlichen Glaubens, als deren besonders abschreckendes Beispiel der Rabbiner Manasses figuriert. Diese Kontrastierung hat dabei mehrere Implikationen: So wird dem Leser mit Josebeth ein Beispiel vorgeführt, das ihn nicht nur in seiner christlichen Glaubensgewissheit bestätigt, sondern die Überzeugungskraft des Christentums deutlich und unwiderlegbar vor Augen führt. Die vorbildhafte Jüdin Josebeth, die sich durch zahlreiche Eigenschaften auszeichnet, die dem Rezipienten zur Erbauung dienen, wird dabei gegen das Judentum ausgespielt, sodass dieses im Angesicht der leuchtenden Heldin nur als verworfen und schlecht erscheinen kann. Zugleich hat die klare Abgrenzung von ‚schlechtem‘ Judentum und ‚gutem‘ Christentum aber auch zur Folge, dass es vereinzelt zu Inkonsistenzen kommt, so wenn etwa betont wird, dass Josebeth keinerlei Kontakt zu Christen hat,271 Salomonne sich aber am Schluss an die „vornehmsten Christen=Weiber[..]“ wendet, „welche die schöne Josebeth wohl gekennet“.272 Solche Widersprüchlichkeiten führen zugleich aber auch vor Augen, wie sehr der Roman von dem Bestreben getragen ist, das Christentum als allein gültige Religion vorzustellen und das Judentum so zu disqualifizieren. Zur Folge hat die deutliche Kontrastierung, die sich sowohl auf inhaltlicher wie auch struktureller Ebene vollzieht, jedoch noch 269 270 271 272
Vgl. ebd., S. 235, 256. Ebd., S. 253. Ebd., S. 67. Ebd., S. 256.
4.4 Von „armen Schelmen“: Konstruktionen des Jüdischen bei Grimmelshausen
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ein Weiteres: Konkurrierende oder gar subversive Lesarten werden nicht zugelassen – dazu bedarf es differenzierterer und ambivalenter Darstellungsverfahren wie bei Grimmelshausens sogenannter „Esther-Episode“.
4.4 Von „armen Schelmen“: Konstruktionen des Jüdischen bei Grimmelshausen Es wurde bereits im Forschungsüberblick darauf verwiesen, dass Grimmelshausen einer der wenigen Autoren des siebzehnten Jahrhunderts ist, der von Seiten der literaturwissenschaftlichen Forschung im Hinblick auf Konstruktionen des Jüdischen Aufmerksamkeit erfahren hat. Dies mag sich wohl auch in der Bedeutung des Autors begründen,273 wichtiger aber noch erscheint, dass das Jüdische im Werk Grimmelshausens, wenn auch keine prominente, so doch eine zumindest nicht unbedeutende Rolle einnimmt, kommt es doch nicht nur in der sogenannten „Esther-Episode“ im zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogel-Nestes – diese ist aufgrund der novellistischen Geschlossenheit zuweilen auch als „EstherNovelle“ bezeichnet und losgelöst vom Romanzusammenhang untersucht worden274 – zur Verhandlung des Jüdischen, sondern auch – mehr oder weniger direkt – im Ewig=währenden Calender, im Simplicissimus Teutsch, in der GaukelTasche, im Galgen-Männlin oder im Rathstübel Plutonis. Schon diese Aufstellung und der Hinweis des simplicianischen Autors – auch wenn die letzten drei Schriften nicht zum simplicianischen Zyklus gezählt werden können, zugleich aber vielfältige Interdependenzen mit eben diesem aufweisen –, dass „alles von diesen Simplicianischen Schrifften aneinander hängt/ und weder der gantze Simplicissimus, noch eines auß den obengemeldten letzten Tractätlein allein ohne solche Zusammenfügung genugsam verstanden werden mag“,275 macht
273 So stellt etwa Volker Meid in seiner Einführung fest, dass Grimmelshausen der einzige unter den deutschsprachigen Autoren des siebzehnten Jahrhunderts sei, der in die Weltliteratur eingegangen sei und dessen Werk noch heute gelesen werde. Vgl. Volker Meid: Grimmelshausen – Epoche, Werk, Wirkung. München 1984, S. 9. 274 Vgl. beispielhaft Fritz Aronstein: Eine jüdische Novelle von Grimmelshausen. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1934), S. 237–241 sowie Krobb: Verführung und Bekehrung (wie Anm. 179). Darüber hinaus wurde die Episode auch zweimal separat veröffentlicht: Die Juden=Novelle des Christoffel von Grimmelshausen. [Hg. von Manuel Schnitzer]. Berlin 1920 sowie Courage, The Adventuress & The False Messiah by Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Ed. by Hans Speier. Princeton 1964. 275 Grimmelshausens Werke werden – bis auf den „Ewig=währenden Calender“ – nach der Ausgabe Breuers zitiert: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/1 [Simplicissimus Teutsch, Continuatio]. Frankfurt a.M. 1989, Bd. I/2 [Courasche, Springinsfeld, Wunderbarliches
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deutlich, dass das Ignorieren des Werkkontextes bei der Untersuchung der Esther-Episode sowie des Rathstübel Plutonis, die hier im Zentrum stehen sollen, zu vorschnellen Schlüssen und Simplifizierungen verleiten kann. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden zunächst kurz die Konstruktionen des Jüdischen im Ewig=währenden Calender, im Simplicissimus Teutsch, in der Gaukel-Tasche und im Galgen-Männlin beleuchtet werden, um im Anschluss genauer auf das Rathstübel Plutonis und die Esther-Episode einzugehen.
4.4.1 Konstruktionen des Jüdischen in den simplicianischen Schriften Mag man durch das Ignorieren des Werkkontextes zu vorschnellen Schlüssen gelangen, gilt dasselbe auch für die Nichtbeachtung historischer Kontexte. Als Beispiel sei die Historie „Grosser Sterben und Juden=Noth“ in der sechsten Materie des Ewig=währenden Calenders angeführt, in der über Ausbruch und Folgen der Pest 1348 berichtet wird. So sei „ein grosser Dampff am Himmel hergeloffen“, der die Menschen vergiftet habe, so dass kaum der „zehende[..] Theil der Menschen“ überlebt habe.276 […] daß musten die arme Schelmen die Juden entgelten/ welche bezügtigt wurden/ daß sie hin und wider die Brunnen vergifften: solch Sterben dadurch angerichtet: auch der Christen Kinder heimblich getödtet und Brieff und Siegel sambt der Müntz verfälscht hätten; Welches in Teutschland viel tausenden das Leben kostet/ […] etliche in solcher Noth weil sie nicht entfliehen kondten/ zündeten jhre Häuser an und verbrandten sich selbst mit Weib und Kindern […]; etliche wurden getaufft/ aber mit schlechter Andacht/ damahls jagten die Reichs Stätt jhre Juden von sich/ zerissen jhre Häuser und Synagogen/ und verbesserten jhre gemeine Gebäw damit/ Pfaltzgraff Ruprecht bey Rhein beschützte die arme Tropffen/ mit Anzeigung daß ihnen Unrecht geschehe/ darvor sie in die Silberbüchs blasen müsten/ es wehren jhrer sonst wenig darvon kommen/ dann sie essensmässig in Italien und Frankreich mit Fewr und Schwerd verfolgt worden […]/ etliche rechnen bey 120000. Juden/ so in diesem Jammer jhre Hälß hergeben müssen.277
Vogelnest I und II, Rathstübel Plutonis]. Frankfurt a.M. 1992, Bd. II [Keuscher Joseph, Dietwalt und Amelinde, Musai, Beernhäuter, Gaukel-Tasche, Ewigwährender Calender, Prinz Proximus und Lympida, Stoltzer Melcher, Bart-Krieg, Galgen-Männlin]. Frankfurt a.M. 1997 (Bibliothek der frühen Neuzeit 16–17). Hier: Grimmelshausen: Das Wunderbarliche Vogelnest II, S. 459. 276 [Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen:] Des Abentheurlichen Simplicissimi Ewig= währender Calender/ Worinnen ohne Die ordentliche Verzeichnus der unzehlbar vieler Heiligen Täge auch unterschiedliche Curiose Discursen von der Astronomia, Astrologia, Jtem Calendern/ Nativitäten/ […] Viel Seltzame/ jedoch Warhaffte Wunder=geschichten/ und andere Merckwürdige Begebenheiten/ samt Beyfügung etlicher Künst= und Wissenschafften befindlich […]. Nürnberg 1670, S. 93 u. 95. 277 Ebd., S. 93 u. 95.
4.4 Von „armen Schelmen“: Konstruktionen des Jüdischen bei Grimmelshausen
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Gegenstand der Historie ist die Entstehung der Pest sowie deren Auswirkungen insbesondere auf die Juden. Auffällig ist hier zunächst, dass als Ursache für den Ausbruch der Pest 1348/49 Miasmen angegeben werden278 und die Anschuldigung, dass die Juden aus Christenhass Brunnen vergiftet hätten, damit zurückgewiesen und die Pogrome auf ökonomische Beweggründe zurückgeführt werden. Vor diesem Hintergrund bezeichnet Horch die Darstellung als „fast aufklärerisch“, da die Anschuldigungen als „Wahn“ entlarvt würden.279 Hier sind jedoch Bedenken anzumelden: So wird zwar zweifelsfrei der Vorwurf der Brunnenvergiftung zurückgewiesen, nicht jedoch der Vorwurf des ‚Ritualmordes‘ und der Münzfälschung. Diese werden vielmehr als Ursachen der Pogrome genannt, wobei sie weder widerlegt noch bestätigt werden. Darüber hinaus kann man die Ablehnung des Vorwurfes der Brunnenvergiftung kaum als „fast aufklärerisch“ bezeichnen, wenn man bedenkt, dass Papst Clemens VI. bereits im Juli und September 1348 zwei Bullen erließ, in denen er die Judenverfolgungen untersagte und die Unsinnigkeit der Anschuldigungen anprangerte.280 Des Weiteren ist es fragwürdig, ob der Text wirklich Mitleid errege, wie Breuer feststellt.281 So werden die Juden zwar als „arme Schelmen“ und „arme Tropffen“ bezeichnet und die Judenverfolgungen und Auswirkungen der Pogrome, Haverkamp bezeichnet sie als „den tiefgreifendsten Einschnitt in der Geschichte des deutschen Judentums von den Anfängen der Ansiedlung bis zur nationalsozialistischen ‚Endlösung‘“,282 erzeugen beim heutigen Leser mit Sicherheit Mitleid und Betroffen-
278 Zum Diskurs um die Ursachen der Pest vgl. einführend Gerhard F. Strasser: Ansteckungstheorien der Pest in der Frühen Neuzeit am Beispiel von Girolamo Fracastoro und Athanasius Kircher. In: Gotts verhengnis und seine straffe – Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit. Hg. von der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 2005, S. 69–76; Neithart Bulst: Die Pest verstehen. Wahrnehmungen, Deutungen und Reaktionen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Hg. von Dieter Groh, Michael Kempe, Franz Mauelshagen. Tübingen 2003 (Literatur und Anthropologie 13), S. 145–163 sowie Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters. Frankfurt a.M., Wien 1994, insb. S. 21–26. 279 Hans Otto Horch: Die Neugier des Satirikers. Zum Judenbild des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. In: Von Enoch bis Kafka. Festschrift für Karl E. Grözinger zum 60. Geburtstag. Hg. von Manfred Voigts. Wiesbaden 2002, S. 345–361, hier S. 348. So auch Dieter Breuer: Antisemitismus und Toleranz in der frühen Neuzeit. Grimmelshausens Darstellung der Vorurteile gegenüber Juden. In: Simpliciana 9 (1987), S. 27–47, hier S. 37. 280 Vgl. einführend dazu Herzig (wie Anm. 175), S. 46–51. 281 Vgl. Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 37. 282 Alfred Haverkamp: Die Judenverfolgungen zur Zeit des schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981, S. 27–93, hier S. 27. Vgl. weiter
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heit, ob dies jedoch auch beim zeitgenössischen Leser der Fall war, ist zumindest zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass im siebzehnten Jahrhundert der Antijudaismus äußerst verbreitet und weitestgehend unbestritten war. Ferner anzumerken ist, dass das Verhalten von Pfalzgraf Ruprecht bei Rhein nicht, wie Heßelmann der Ansicht ist, als vorbildlich dargestellt wird,283 wenn explizit betont wird, dass die Juden „darvor […] in die Silberbüchs blasen müsten“, d.h. finanzielle Abgaben leisten mussten, und der Schutz des Grafen folglich erkauft wurde. Geboten wird hier mithin nicht Aufdeckung antijüdischer Stereotype und Anschuldigungen als ungerechtfertigt – allein der Vorwurf der Brunnenvergiftung wird zurückgewiesen –, sondern vielmehr eine Historie über – wie im Titel angekündigt – im wörtlichen Sinne „Merckwürdige Begebenheiten“. Im Simplicissimus Teutsch kommt es wiederholt zu Verhandlungen des Jüdischen, wenn auch nur marginal.284 So werden immer wieder Wendungen wie etwa mit dem „Juden-Spieß rennen“285 als Attribut des Wucherers genutzt oder es wird ‚geschachert‘ „ärger als ein 50jähriger Jud“.286 Diese, aus heutiger Sicht sicher inkorrekte Wortwahl, eignet sich jedoch nicht, um eine wie auch immer geartete Disposition Grimmelshausens daraus abzuleiten, handelt es sich dabei doch um zeitgenössische Redewendungen.287 Auch begegnen immer wieder jüdische Pfand- und Geldleiher, ohne dass diese Figuren näher kommentiert werden.288 Allein als Olivier, ein Straßenräuber, einen jüdischen Händler ermordet, kommt es zu einer genaueren Darstellung: Als wir solche angebunden hatten/ und ich mich ein wenig umbschauete/ sahe ich ohnweit von uns einen Kerl stockstill an einem Baum stehen/ solchen wise ich dem Olivier, und vermeinte es wäre sich vorzusehen; ha Narr! antwortet er/ es ist ein Jud/ den hab ich hingebunden/ der Schelm ist aber vorlängst erfroren und verreckt/ und indem gieng er zu ihm/ klopfte ihm mit der Hand unten ans Kinn/ und sagte/ ha! du Hund hast mir auch viel schöne Dukaten gebracht/ und als er ihm dergestalt das Kinn bewegte/ rollten ihm noch
auch František Graus: Pest – Geissler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Göttingen 1988 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 86), S. 155–389. 283 Vgl. Peter Heßelmann: Zum Judenbild bei Grimmelshausen. Christian Gersons Der Jüden Thalmud (1607), Michael Buchenröders Eilende Messias Juden-Post (1666) und Das wunderbarliche Vogel-Nest II (1675). In: Simpliciana 28 (2006), S. 115–135, hier S. 127. 284 Auf diesen Umstand verweisen auch Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 35 und Horch (wie Anm. 279), S. 345. 285 Vgl. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 275), S. 92, 412, 547. 286 Grimmelshausen: Constinuatio (wie Anm. 275), S. 600. 287 Dies gegen Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 35, der in der Anwendung der Redensart – ausschließlich auf Christen – ein dialektisches Verfahren erkennt. Vgl. zum Terminus „Judenspieß“ auch oben, S. 68. 288 Vgl. Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 275), S. 82, 395, 432.
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etliche Dublonen zum Maul herauß/ welche der arm Schelm noch bis in seinen Todt davon bracht hatte/ Olivier griff ihm darauff in das Maul/ und brachte zwölff Dublonen und einen köstlichen Rubin zusammen/ diese Beut (sagte er) hab ich dir Simplici zu dancken/ schenckte mir darauff den Rubin/ stieß das Geld zu sich/ und gieng hin seinen Bauren zu holen/ mit Befelch/ ich solte indessen bei den Pferden verbleiben/ solte aber wohl zusehen/ daß mich der todte Jud nicht beisse/ womit er mir verwiese/ daß ich kein solche Courage hätte wie er.289
Breuer und Horch erkennen hier ein „Erschrecken“ des Simplicius über den Mord an dem Juden.290 Hier ist jedoch anzumerken, dass sich das Erschrecken keineswegs auf den Mord bezieht, sondern auf die Gestalt am Baum, die Zeuge des Überfalls bzw. der Aufteilung der Beute sein könnte. Simplicius Mitleid mit dem Opfer – so bezeichnet er den Juden als „arm Schelm“ – wird sodann auch auktorial unterlaufen und verspottet, wenn der Versuch des Juden, Geld und Edelstein zu retten, schließlich kläglich scheitert.291 Das Opfer ist mithin zugleich Täter, bei ihm – wie bei anderen Figuren auch – werden die schlechten Eigenschaften herausgestellt und das Laster der Geldgier der satirischen Kritik unterzogen, ohne dass damit eine Parteinahme verbunden wäre. Das Stereotyp der ‚jüdischen Geldgier‘ wird auch in der Gaukel-Tasche aufgegriffen und produktiv genutzt: So ist unter der Inscriptio „Mauschale betreffend“ neben einem Horn und zwei Münzen auch die Abbildung eines Juden, kenntlich durch den Ring auf dem Mantel, zu sehen. Die Subscriptio lautet: Karger Jud! Wiltu mehr Gold Auch aus meinen Buch erpressen? Das ich selbst gern haben wolt: Du kommst mir vor sehr vermessen. Laß darvor die güldnen Stück Springen/ die du eingeschlossen/ Diese laß mir hier zu rück/ Sonst machstu mir schlimme Possen.292
Relativiert wird der Vorwurf der Geldgier durch ‚den Juden‘ jedoch durch die Einbeziehung des Ichs, das sich selbst dieses Lasters schuldig macht. Die ‚jüdische Geldgier‘ wird so zum Synonym für die allgemeine, d.h. nicht allein auf
289 Ebd., S. 430f. 290 Vgl. Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 35 und Horch (wie Anm. 279), S. 345. 291 So Rainer Hillenbrand: Quellen der Autorintention in Grimmelshausens Simplicissimus. In: Simpliciana 29 2007), S. 221–237, hier S. 231. 292 Grimmelshausen: Simplicissimi wunderliche Gaukel-Tasche (wie Anm. 275), S. 343.
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Juden bezogene, Geldgier, sodass das Stereotyp des geldgierigen Juden hier im formalen Modus der Lastersatire dazu dient – wie schon in der Episode mit Olivier und dem toten Juden –, die Verkehrungen der sündigen Welt zu entlarven. Zugleich muss man jedoch auch feststellen, dass der Vorwurf der ‚jüdischen Geldgier‘ durch die Aufnahme und Nutzung des Stereotyps weiter popularisiert und tradiert wird.293 Auf die weite Verbreitung nicht nur von Stereotypen und Vorurteilen, sondern auch von Erzählungen über Juden, genauer jene vom ‚Ewigen Juden‘, verweist jene Episode im Simplicissimus, in der der fromme Simplicius in einem Wirtshaus für eben diesen gehalten wird: […] jeder wolte wissen wer ich wäre; der eine sagte ich wäre ein Spion oder Kundtschaffter/ der ander sagte ich sey ein Widdertauffer/ der dritte hielte mich vor einen Narren/ der vierdte schätzte mich vor einen heiligen Propheten/ die allermeiste aber glaubten ich wäre der ewig Jud/ davon ich bereits oben Meldung getan; also daß sie mich bey nahe dahin brachten aufzuweissen daß ich nicht beschnitten wär; endlich erbarmbt sich der Wirth über mich/ risse mich von ihnen und sagte/ last mir den Mann ungeheuet/ ich weiß nicht ob er oder ihr die gröste Narren seindt/ und damit lise er mich schlaffen führen.294
Bezugsfolie, die der betrunkenen Menge hier zur Deutung dient, ist die seit 1602 häufig gedruckte Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung/ von einem Juden mit Namen Ahaßverus.295 Der Wirt weist solche Deutungen als Narrheiten zurück, nicht jedoch die Erzählung vom ‚Ewigen Juden‘ an sich.296 Aufschlussreicher in Bezug auf simplicianische Konstruktionen des Jüdischen als solche Einzelbelege sind jedoch die zwei im Folgenden zu beleuchtenden Schriften: Simplicissimi Galgen-Männlin und das Rathstübel Plutonis. Zunächst zum Galgen-Männlin:297 Während insbesondere die simplicianischen Schriften Grimmelshausens das Interesse der Forschung auf sich ziehen, wurde die kleine Schrift Galgen-Männlin bislang meist vernachlässigt.298 In diesem Zu-
293 Vgl. weiter zur „Gaukel-Tasche“ Maik Bozza: Bilder aus der Gaukel-Tasche. Perspektiven auf das simplicianische Bilderbuch. In: Oxford German Studies 37 (2008), S. 160–172. 294 Grimmelshausen: Continuatio (wie Anm. 275), S. 636. 295 [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung/ von einem Juden mit Namen Ahaßverus […]. Bautzen 1602. Vgl. weiter auch die Angaben oben, S. 89–99. 296 Vgl. dazu weiter Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 36 und Horch (wie Anm. 279), S. 346f. 297 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 737. 298 Ausnahmen sind hier Andreas Bässler: Israel Fromschmidt von Hugenfelß: Dämonologe und Konvertit. Grimmelshausens Galgenmännlin (1673) zwischen Dämonenwahn und frühaufklärerischer Aberglaubenskritik. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2008 (Text+Kritik Sonderband), S. 237–253; Italo Michele Battafarano: Alraun,
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sammenhang erweist sich das Galgen-Männlin jedoch als ertragreich, nicht so sehr wegen des verhandelten Themas – der Alraunenglaube – sondern vielmehr aufgrund der Kommentator- und Herausgeberfiktion, die im Folgenden im Fokus stehen soll. Insofern wird auch keine umfassende Deutung der Schrift vorgestellt, sondern es wird im Rückgriff auf Bässlers Studie die Figur des Israël Fromschmidt von Hugenfelß einer Analyse unterzogen.299 Zunächst kurz zur Form der Schrift: Der Text besteht aus einem Brief des alten Simplicius an seinen Sohn, in dem er vor dem Alraunenglauben warnt und dessen Herkunft, Wesen und Wirkung erläutert. Der Herausgeber Israël Fromschmidt von Hugenfelß verteilt den Brief auf sieben Kapitel, denen er jeweils umfangreiche Annotationen beigibt. Auch wenn Bezeichnungen wie „Bericht“ oder „Tractätl“300 es nahe legen, dass es sich um einen nicht-fiktionalen Text handele, hat Bässler deutlich gemacht, dass es sich eben nicht um einen Traktat handelt: Darauf verweisen die Herausgeber- und Kommentator-Fiktion, die fiktionalen Figuren des Simplicius und seines Sohnes, das Missverhältnis zwischen Brief und Kommentar – die Kommentare weisen einen erheblich größeren Umfang als die Briefauszüge auf – sowie die doppelte Perspektive auf den Gegenstand.301 Auch der „ungewöhnliche[..] newe[..] styli“302 des Briefschreibers Simplicius, er lässt alle unbetonten e-Vokale weg, um einen Text aus einsilbigen Wörtern zu verfassen, sodass der Brief zum Sprachexperiment gerät,303 spricht gegen den Traktatcharakter. Und dennoch handelt es sich um einen Traktat, wenn man allein die Anmerkungen von Fromschmidt in den Blick nimmt: Während Simplicius ohne längere Ausführungen seinen Sohn vor abergläubischen Praktiken warnt, ergeht sich
Mandragora, Galgen-Männlin: Mattioli, Praetorius, Grimmelshausen. In: Ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u.a. 1994 (Iris, Forschungen zur europäischen Kultur 8), S. 186–205; Dieter Martin: Grimmelshausen und die gelehrten Diskurse seiner Zeit. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. München 2008 (Text+Kritik, Sonderband), S. 32–50, insb. S. 35–38; Wilhelm Kühlmann: Grimmelshausen und Prätorius. Alltagsmagie zwischen Verlockung und Verbot. Anmerkungen zu Simplicissimi Galgen-Männlin. In: Simpliciana 26 (2004), S. 61–75 sowie Ders.: Alltagsmagie zwischen Verlockung und Verbot. Zum oberrheinischen Kontext der Faust-Reminiszenzen in Grimmelshausens Simplissimi Galgen-Männlin (1673). In: Faust-Jahrbuch 2 (2006), S. 83–93, wobei letzterer Aufsatz Kühlmanns weitgehend identisch mit dem vorhergehenden ist. 299 Ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen zum „Galgen-Männlin“ wesentlich auf Bässlers Studie. Bässler (wie Anm. 298). 300 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 737. 301 So Bässler (wie Anm. 298), S. 237f. 302 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 737. 303 Vgl. dazu Dieter Breuer: Grimmelshausen Handbuch. München 1999, S. 165f.
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Fromschmidt in umfangreichen Erläuterungen, in denen er unter anderem Prätorius und Rist zitiert, um so die knappen Warnungen des Simplicius mit dem Verweis auf Autoritäten und – entsprechend seiner Ankündigung, seine Ausführungen „mit einer annemlichen mehr Kurtzweil: als ernstlichen art naturäl abzumahlen“304 – anhand zahlreicher Exempel, die sowohl der Abschreckung wie auch der Unterhaltung und Entzauberung dienen,305 zu bestätigen. Fromschmidt ist mithin ein Gelehrter, der sich jedoch nicht dem Wahrheitsgehalt des Alraunenglaubens widmet, sondern vielmehr dem Aberglauben und dem abergläubischen Subjekt, die den eigentlichen Gegenstand der Schrift bilden.306 Um wen aber handelt es sich bei diesem Gelehrten, der sich durch seine Anmerkungen in die Tradition der Dämonologien aus theologischer Perspektive einordnet?307 So ergeben sich erste Hinweise zuvörderst aus seinem Namen: Das Anagramm ist zu Grimmelshausens eigenem leicht erschließbar – darüber hinaus ist er aber auch ‚sprechend‘, deutet doch sein Vorname Israël auf das Judentum hin. Doch nicht nur der Name fällt auf, sondern auch sein Wissen in Bezug auf das Judentum: So verweist er auf Flavius Josephus308 und weist Prätorius Spekulationen über die Bundeslade unhaltbar zurück.309 Zugleich kann Fromschmidt jedoch kein Jude sein, vertritt er doch dezidiert christliche Positionen, sodass es sich bei ihm um einen konvertierten Juden handeln muss.310 Vor diesem Hintergrund erklärt sich sodann auch der Nachname Fromschmidts, der gerade seine Frömmigkeit im neuen Glauben betonen soll. Dieses Verfahren ist aus zahlreichen Konversionsfällen bekannt: Die Annahme eines neuen Namens nach der Konversion, der deutlich christlich konnotiert war, diente dabei zuvörderst, um nicht nur dem symbolischen Bruch mit der Vergangenheit und der spirituellen Neugeburt Ausdruck zu verleihen, sondern auch der Identifikation mit dem neuen Glauben. Bei einem ‚sprechenden‘ Nachnamen, wie jenem Fromschmidts, sollte dieser wohl auch der ständigen Mahnung zur Glaubenstreue dienen.311 Über den Namen des fiktiven Herausgebers und Kommentators eröffnet sich noch eine weitere Deutungsperspektive, erweckt Israël Fromschmidt doch schon
304 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 738. 305 Vgl. dazu auch Battafarano: Alraun, Mandragora, Galgen-Männlin (wie Anm. 298), S. 195f. 306 Vgl. dazu ebd., S. 193 und 197. 307 Die folgenden Ausführungen zur Figur Israel Fromschmidt beziehen sich sämtlich auf Bässler (wie Anm. 298), S. 238–241. 308 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 738. 309 Ebd., S. 746. Bässler (wie Anm. 298), S. 241f., der die Ausführungen zur Bundeslade jedoch fälschlicherweise Rist zuordnet. 310 Dieses hat erstmals Bässler (wie Anm. 298), S. 242 festgestellt. 311 Vgl. dazu Carl (wie Anm. 231), S. 139–145.
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durch seinen Namen den Verdacht des unbeständigen Christen, der Apostasie.312 Es wurde schon wiederholt angesprochen, dass ‚getauften Juden‘ mit erheblicher Skepsis und Ablehnung begegnet wurde und sie stets dem Verdacht des – neuerlichen – Glaubensabfalls ausgesetzt waren. Die neuen Christen, die durch ihre Namen schnell als ehemalige Juden identifizierbar waren, wurden zur doppelten Zielscheibe von Verurteilungen, wurden doch nicht nur antijüdische Stereotype auf sie übertragen, auch der Verdacht des Taufbetrugs und der Religionswechsel begründete Misstrauen und Ablehnung.313 Innerhalb dieses Spannungsfeldes bewegt sich auch Fromschmidt, der durch die Beibehaltung des jüdischen Namens, markiert dieser doch deutlich die ehemalige Zugehörigkeit zum Judentum, dem Verdacht der Apostasie Nahrung verschafft314 und diesem durch seine betont christliche Position und die Aufdeckung jüdischer Irrlehren aus einer intimen Kenntnis heraus315 begegnen will. Die Wahl eines jüdischen Konvertiten als Herausgeber und Kommentator und damit durchaus ambivalenten Figur ist dabei nach Bässler alles andere als zufällig: So erwähnen nicht nur die Dämonologien seit dem fünfzehnten Jahrhundert immer wieder Juden – meist, weil man sie magischer Praktiken und des Teufelsbundes bezichtigte –, sondern auch innerhalb der polemisch geführten Kontroversen zwischen Dämonologen und ihren Gegnern bezichtigte man sich der religiösen Abweichung und des ‚Judaisierens‘.316 Wichtiger aber noch erscheint, die Urteile und Wertungen des Israël Fromschmidt auf auktorialer Ebene als bigott zu entlarven.317 Denn gerade aus der Position des potentiell vom Glauben Abfallenden bzw. den Verdacht der Apostasie durch die Namensgebung nährenden Konvertiten erscheinen seine Urteile und Wertungen zumindest zweifelhaft, sodass der Leser gefordert ist, kritische Distanz zu wahren – nicht nur gegenüber dem Glauben an die Wirkung der Alraune, sondern vor allem gegenüber vermeintlichen Autoritäten. Vollzogen wird dies auf zwei Ebenen: auf der inhaltlichen, wenn sich Fromschmidt mit Prätorius Ausführungen kritisch auseinandersetzt und sie als lachhaft und „langes Geschwätz“318 ablehnt,319 und auf der auktorialen Ebene, wenn – wie angeführt – die Äußerungen Fromschmidts
312 So Bässler (wie Anm. 298), S. 245. 313 So auch Carl (wie Anm. 231), S. 143. 314 So Bässler (wie Anm. 298), S. 246. 315 Vgl. Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 742. 316 So Bässler (wie Anm. 298), S. 246–248. 317 So Bässler, ebd., S. 246. 318 Grimmelshausen: Galgen-Männlin (wie Anm. 275), S. 746. 319 Vgl. dazu auch weiter Battafarano: Alraun, Mandragora, Galgen-Männlin (wie Anm. 298), S. 198f.
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aufgrund seiner ambivalenten Position stets kritisch zu hinterfragen sind. Grimmelshausen nutzt innerhalb des komplexen Textes mithin die uneindeutige Figur des Israël Fromschmidt, um nicht nur den Aberglauben anzuprangern und als Sünde bloßzustellen,320 sondern auch die bigotten Dämonologen satirisch zu entlarven und den Leser so zur Quellenkritik aufzufordern.
4.4.2 Konversieren über Geld: Das Rathstübel Plutonis Es scheint mittlerweile in der Forschung zum Werk Grimmelshausens unbestritten zu sein, dass das Streben nach Geld und Reichtum ein zentrales Thema innerhalb des simplicianischen Zyklus darstellt.321 Dennoch hat jene Schrift Grimmelshausens, die meist nicht zum Zyklus gezählt wird, sich jedoch zentral mit dem Motiv des Geld- und Besitzstrebens befasst – trägt sie dieses doch schon im Titel –, von Seiten der Literaturwissenschaft nur recht wenig Aufmerksamkeit erfahren.322 Erst in jüngster Zeit erschienen einige wenige Studien, die sich dezidiert mit dem Rathstübel Plutonis Oder Kunst reich zu werden auseinandersetzen – besonders hervorzuheben sind hier vor allem die Untersuchungen von Kaminski und Zeller, wobei erstere das Rathstübel im Hinblick auf die übrigen simplicianischen Schriften analysiert und es eng an diese, insbesondere den Simplicissimus Teutsch, bindet, letztere widmet sich der im Rathstübel verfolgten Gesprächsspielkonzeption.323 Des Weiteren gilt das Rathstübel in Bezug auf die Einfügung der Figur des Juden Aaron immer wieder – insbesondere bei Breuer und Horch – als Beleg für die Erprobung einer weitgehend vorurteilsfreien Kommunikation im utopischen Raum.324 Feldman geht hingegen davon aus, dass die jüdische Figur durch seine
320 Vgl. ethisch-religiösen Dimension der Schrift weiter ebd., S. 201–205. 321 Vgl. beispielhaft die Studie von Ortwin Lämke: Zirkulationsmittel und hermeneutischer Zirkel. Zum Geldmotiv im simplicianischen Zyklus. In: Simpliciana 27 (2005), S. 135–156 und die dortigen Angaben sowie Christoph Deupmann: Geldverhältnisse. Ökonomie und Geld in Grimmelshausens Roman Das wunderbarliche Vogel-Nest. In: Simpliciana 28 (2006), S. 169–183. 322 Darauf hat schon Boeckh 1959 verwiesen. Joachim J. Boeckh: Grimmelshausens Rathstübel Plutonis. In: Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae 2 (1959), S. 347–367, hier S. 347. 323 Nicola Kaminski: ‚Gespräch über die Poesie‘? Der Abentheuerliche Simplicissimus aus der Perspektive von Grimmelshausens Rathstübel Plutonis. In: Simpliciana 29 (2007), S. 285–299 und Rosmarie Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“. Ein Gesprächspiel zwischen Fiktion und „Geschicht-Erzehlung“. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von HeinzLudwig Arnold. München 2008 (Text+Kritik, Sonderband), S. 224–236. 324 Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 38–40; Ders.: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 1026f. und Horch (wie Anm. 279), S. 348–353.
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Außenseiterposition als Garant christlicher Selbstvergewisserung fungiert und somit von einer vorurteilsfreien Kommunikation keine Rede sein könne.325 Im Folgenden soll es darum gehen, die Figur des Juden Aaron, der zum Gesprächspiel über Geld und Reichtum ‚geladen‘ wird, näher zu beleuchten. Bevor jedoch auf diese eingegangen wird, seien einige Bemerkungen zu Form und Anlage des Rathstübel vorangestellt. Auf dem Bauernhof des alten Simplicissimus versammelt sich nach und nach eine Gesellschaft von vierzehn Personen: Zunächst kommen der inkognito reisende Fürst Martius Secundatus mit seinem Schreiber Erich Stainfels von Grufensholm, dem Ich-Erzähler, der Kaufmann Alcmaeon Atheniensis mit seiner Frau Cidonia Corinthia und Tochter Spes sowie der Handwerker Laborinus zum Hof des Simplicissimus und treffen dort diesen, der mit der Schauspielerin Coryphaea unter einer Linde sitzt. Später kommen noch Knan und Meuder des Simplicissimus, der Jude Aaron und eine Gruppe Zigeuner mit ihrer Anführerin Courasche sowie Springinsfeld hinzu. Die Gesellschaft setzt sich mithin aus fiktiven und fiktiv-realen Personen zusammen, womit nicht zuletzt ein Bezug zu den übrigen simplicianischen Schriften hergestellt wird.326 Ein Hinweis auf die ungewöhnliche Zusammenstellung der Teilnehmer ist auch die Aufmerksamkeit, die der Sitzordnung gewidmet wird und die im Titelkupfer dokumentiert wird: Gestaltet sich die Sitzordnung zu Anfang noch entlang sozialer Kriterien, wird diese durch das Auftreten des Juden, des Knan und der Meuder sowie durch Courasche und Springinsfeld gestört. Auf dem Hof am Sauerbrunnen unter einer Linde, einem locus amoenus, der jedoch zugleich – darauf hat Kaminski verwiesen – ein „wirklich schattige[r] Ort“327 ist, verweist doch nicht nur der Titel, sondern auch der „abgelebte“ Springinsfeld auf einen Ort in der Unterwelt,328 will sich die Runde „mit einem annehmlichen und lustigen Gespräch [..]ergetzen“.329 Der Text folgt damit dem insbesondere von Harsdörffer entwickelten Modell des Gesprächspiels, jedoch mit einigen entscheidenden Abweichungen:330 So werden alle Stände einbezogen sowie auch außerhalb der ständischen Gesellschaft stehende Gruppen. Es ist
325 Linda Ellen Feldman: Modelling Difference: The Construction of Jewish Identity in Grimmelshausen’s Vogelnest II and Rathstübel Plutonis. In: Colloquia Germanica 28 (1995), S. 285–306, hier S. 288–292. 326 Vgl. dazu Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“ (wie Anm. 323), S. 233f. und Kaminski: ‚Gespräch über die Poesie‘ (wie Anm. 323), S. 285–299. 327 Kaminski: ‚Gespräch über Poesie‘ (wie Anm. 323), S. 287. 328 Ebd., S. 286–289. 329 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 658. 330 So Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“ (wie Anm. 323), S. 224–236.
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mithin keineswegs wie noch bei Harsdörffer eine homogen gestaltete Gruppe. Gerade die Einbeziehung der unteren Stände hat jedoch zur Folge, dass nicht immer die im Vorfeld bestimmten Regeln eingehalten werden, sodass es zu Irritationen kommt. Weiterhin ist anzumerken, dass das Rathstübel Plutonis jedoch nicht nur auf die Gesprächspieltradition anspielt, sondern auch auf eine Gerichtsverhandlung. Es werden jedoch nicht, wie etwa bei Harsdörffer üblich, vom Vorsitzenden Secundatus Streitigkeiten geschlichtet oder ein Urteil gesprochen, allein Knan wird einmal mit einem „Täpgen“ zurechtgewiesen.331 Auch die Zusammenfassung, die Secundatus und Simplicissimus am Schluss vorstellen, bezieht sich nur lose auf das Vorhergehende. Dennoch gestaltet sich das Gespräch als Gesprächspiel, wenn von den Teilnehmern bestimmte Regeln eingehalten werden und der Spielcharakter auch immer wieder angesprochen wird.332 Grimmelshausen nutzt hier mithin die literarische Form des Gesprächsspiels, die jedoch durch genau gesetzte Irritationen gestört und so unterlaufen wird, sodass man das Rathstübel Plutonis mit Zeller auch als Parodie der Form der Gesprächspiele deuten kann.333 Der Text selbst beinhaltet zwei Ebenen: zunächst eine Art Rahmenhandlung, in der vom Erzähler Erich vom Zustandekommen der Gruppe, der Verabredung zum Spiel, dem Auftreten der Hinzukommenden und den damit verbundenen Störungen und dem abschließenden Mahl berichtet wird. Die zweite Textebene bildet das Gesprächspiel, das sich aus drei Gesprächen zusammensetzt, wobei diese Ebene von der ersten durch das Auftreten der Zigeuner unterbrochen und gestört wird.334 Das Spiel umfasst drei Runden: In der ersten geben die Anwesenden kurze Antworten auf die Frage, „durch was Mittel einer der Armut entfliehen und zur [sic] Reichtumb gelangen könte“,335 in der zweiten steht die Frage im Vordergrund „was wir sonst für Regulen haben/ die uns Reichtumb zugewinnen dienlich seyn“.336 In der dritten Runde – an der nun auch Courasche und Springinsfeld teilnehmen – ist jeder Teilnehmer aufgefordert, eine Historie zu erzählen, „was massen eine und andere Person in der jenigen profession, in deren er vermeinet/ daß man am besten darin prosperiren könte reich werden“.337 Es soll
331 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 711. 332 Vgl. ebd., S. 712, 719. 333 So Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“ (wie Anm. 323), S. 228f. und 231. 334 Die zum Spiel gehörenden Passagen sind auch im Druckbild abgesetzt. So ist über den jeweiligen Einlassungen stets der Name des Betreffenden angegeben und die Äußerungen sind durchnummeriert. 335 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 661. 336 Ebd., S. 663. 337 Ebd., S. 688.
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hier nicht dezidiert auf den Inhalt der einzelnen Gespräche eingegangen werden – es sei lediglich vermerkt, dass die Geldgier, der Geiz und die Käuflichkeit der Welt satirisch angeprangert werden. Zunächst zum Auftreten der jüdischen Figur: Nachdem sich die ersten neun Teilnehmer auf dem Hof zusammengefunden haben und von Secundatus nach einigen Schwierigkeiten in eine sozialen Hierarchien entsprechende Sitzordnung gebracht wurden, um sich „mit einem annehmlichen und lustigen Gespräch zuergetzen“338 – jedoch noch ohne ein Thema gefunden zu haben –, wird die Runde gestört: Knan, Meuder und ein „eben so alte[r] Jude“339 kommen hinter dem Haus hervor und streiten sich um die Bezahlung von Mastochsen. Der Jude Aaron ist sogleich als solcher erkennbar, trägt er doch nicht nur – ausgehend vom Titelkupfer – Hut und Mantel mit einem aufgenähten Ring, die ihn als Juden kenntlich machen, er gibt auch übertriebene körpersprachliche Signale von sich, die vom Erzähler als eindeutig ‚jüdisch‘ klassifiziert werden: „welcher […] so nach ihrem Brauch mit den Händen umb sich fochtelte/ als wann er eine wichtige disputation außzuführen vorgehabt“.340 Des Weiteren unterscheidet sich Aaron aber auch sprachlich von den anderen Gesprächsteilnehmern, wenn er über die Teuerung klagt: „[…] jau das Geld ist jetzt tauwr! Es mangelt an allen orten bey meiner Schamme […]“.341 Die Differenz wird somit bereits beim ersten Auftreten durch körperliche und sprachliche Merkmale markiert und Aaron von den übrigen Anwesenden abgegrenzt. Auffällig ist jedoch, dass er innerhalb des Spiels keine (pseudo‑)jiddischen Wendungen mehr nutzt, was als Hinweis darauf gelten mag, dass Aaron bestrebt ist, während des Spieles die Differenz seinerseits aufzulösen und als gleichwertiger Gesprächspartner wahrgenommen zu werden. Dass die ihm zugeschrieben Inferiorität jedoch auch innerhalb des Spieles aufrechterhalten wird, wird noch gezeigt. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass in den simplicianischen Schriften Juden meist in der Funktion von Pfand- und Geldleihern bzw. Händlern auftreten – so auch Aaron. Er ist jedoch nicht ‚nur‘ ein Händler, er verkörpert für die anderen Figuren vielmehr das Stereotyp des ‚geldgierigen jüdischen Händlers‘, der stets auf seinen Vorteil bedacht ist: So entzündet sich der Streit zwischen den Bauern und ihm daran, dass der Knan sich von Aaron übervorteilt wähnt. Es bleibt unklar, ob es sich tatsächlich so verhält, sodass der Konflikt bestehen bleibt
338 339 340 341
Ebd., S. 658. Ebd., S. 659. Ebd., S. 659. Ebd., S. 660.
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und so auch der Verdacht,342 dass Aaron betrüge, nicht entkräftet wird. Dementsprechend verweist der Knan später auf die „Gefahr“343 des Handelns mit Juden, in die man sich zwar freiwillig begebe, die aber ohne Zweifel bestehe. Auch denkt Aaron beim Auftauchen der Zigeuner, denen ebenfalls mit Vorurteilen vor allem von Seiten des Knans und der Meuder begegnet wird, sogleich ans ‚Schachern‘.344 Das Stereotyp vom betrügerischen Händler wird später nochmals von Secundatus aufgegriffen, wenn er Aaron mit folgenden Worten zu beruhigen versucht: Es bedarff hier nicht/ dich und dein aufrichtig Geschlecht zuentschuldigen/ weil der Ruff ewers Wolverhaltens/ und wie getreulich und ohn einige Betriegerey ihr handelt/ ohne daß durch die gantze Welt genugsam erschallet/ also auch die unverständliche Kinder darvon zusagen wissen […].345
Vordergründig wird der Vorwurf des Betrügens hier zwar zurückgewiesen, doch wenn man in Betracht zieht, dass es ja gerade die ‚Unverständigen‘ sind – Knan und Meuder346 –, die Aaron widrige Geschäftspraktiken vorwerfen und nichts davon zu wissen scheinen, „wie getreulich“ „das aufrichtig Geschlecht“ handele, wird die Ironie hinter Secundatus Einlassung deutlich.347 Das somit mehrfach von verschiedener Seite vorgebrachte Stereotyp des ‚geldgierigen Händlers‘ wird jedoch produktiv genutzt, wenn Simplicissimus den Streit zum Anlass nimmt, den Juden „im Schertz“ zu fragen, „wie weit er noch hin hette reich zu werden“348 und so das Thema des folgenden Gesprächspiels vorgibt. Secundatus bezieht ihn sodann in die Runde ein, jedoch nicht aus einer wie auch immer gearteten toleranten Haltung heraus, sondern anlässlich seiner Klage über die Teuerung und ausgehend von seiner ihm zugeschriebenen Disposition, erscheint doch der Jude qua Stereotyp als ‚Experte‘ auf dem Gebiet des Handels und der „Kunst reich zu werden“. Dafür spricht auch, dass Secundatus sich
342 Dies gegen Breuer, der davon ausgeht, dass sich Knan und Aaron über den Verkauf der Ochsen handelseinig geworden seien. Breuer: Grimmelshausen Handbuch (wie Anm. 303), S. 129. 343 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 710. 344 Vgl. ebd., S. 689. 345 Ebd., S. 723. 346 So verstößt die Meuder gegen die Regeln des Spiels (ebd., S. 670) und insbesondere Knan wird durch falschen Gebrauch von Fremdwörtern (ebd., S. 681, 710) und die Anrede der anderen Figuren mit falschen Namen (ebd., S. 708–710) als ungebildet dargestellt. Darauf verweist auch Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“ (wie Anm. 323), S. 229. 347 Als weiterer Beleg der These sei angeführt, dass Secundatus Aaron kurz darauf als „Mauschele“ bezeichnet. Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 724. 348 Ebd., S. 659.
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Drohungen und körperlicher Gewalt bedient, als Aaron sich zunächst mit dem Hinweis, „daß es ihm nicht gebühre“,349 entziehen will. Breuer deutet die Gewaltanwendung gegen den Juden zum einen als Zeichen für „den ungeheuer großen Abstand der Juden von der übrigen Ständegesellschaft, ihre Rechtlosigkeit“350 – diesem ist sicherlich zuzustimmen – zum anderen zeige die Gewaltanwendung „aber auch die Voraussetzung einer sozialen Änderung: die Macht des absolutistischen Monarchen und die wohlwollende Gesprächsbereitschaft seiner Untertanen“.351 Bei dem zweiten Punkt sind jedoch Bedenken anzumelden, wird hier doch – wenn man das Verhalten von Secundatus gegenüber Aaron als vorbildlich auffasst – suggeriert, dass Toleranz im heutigen Sinne nur um den Preis der Gewalt zu haben sei. Vielmehr offenbart die Textstelle die Willkür des Monarchen, der sich des Juden ‚gebraucht‘, sofern es dienlich erscheint – wie etwa im Falle der Hofjuden.352 Zugleich wird die Differenz zwischen Aaron und der übrigen Gesellschaft aber auch durch seine Weigerung selbst betont: Die Abgrenzung gestaltet sich mithin keineswegs einseitig, sondern geht vielmehr von beiden Seiten aus. Die Runde, deren Außergewöhnlichkeit von Erich betont wird,353 setzt sich schließlich zum Spiel, jedoch nicht ohne dass „der Knan/ die Meuder und der Jud wegen deß Kauffs noch alß mit einander zu kippelen und zu märzahlen“354 hätten, und Secundatus verkündet als Spielleiter die Regeln, an die sich jeder zu halten habe. Der Spielstab wird herumgegeben, den jeder zur Bestätigung der Regeln berühren soll. Aaron weigert sich jedoch wiederum, sodass ihm Secundatus erneut Gewalt androht, die übrigen ihm aber versichern, „daß dises gar kein Eyd/ noch an Eydsstatt“355 sei. In der Forschung wurde dies meist dahingehend gedeutet, dass Aaron sich weigere, da es ihm entweder aus religiösen Gründen verboten sei,356 einen Eid zu leisten oder er seine Religion „so ernst“ nehme, dass er „nicht leichtfertig schwören will“.357 Horch verweist lediglich darauf, dass der Eid „in seiner vorgeschriebenen christlichen Form für Juden generell problema-
349 Ebd., S. 659. 350 Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 38. 351 Ebd., S. 38. 352 Diesen Bezug stellt auch Breuer in seiner Deutung des Titelkupfers her. Breuer: Grimmelshausen Handbuch (wie Anm. 303), S. 128. 353 „Es sahe in warheit recht lächerlich auß/ weil sie [sic!] so unterschidliche Leuth da beysammen befunden […]“. Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 659. 354 Ebd., S. 660. 355 Ebd., S. 661. 356 So Zeller: Grimmelshausens „Rathstübel Plutonis“ (wie Anm. 323), S. 231. 357 Franz M. Eybl: Informalität als Bedingung von Unterhaltung? Grimmelshausens Rathstübel Plutonis. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel.
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tisch war, sodass man die Form des ‚Judeneids‘ schuf“.358 Es wird mithin davon ausgegangen, dass Aaron das Berühren des Stabes für einen Eid halte, doch ist es keineswegs so klar, wird doch die Weigerung Aarons nicht von ihm begründet, allein die anderen Teilnehmer gehen davon aus, dass er hier einen Eid vermute. Wenn man dennoch davon ausgeht, dass Aaron sich weigere zu schwören, ist diese Weigerung ebenfalls nicht eindeutig: So mag dies tatsächlich religiös begründet sein oder auch dem Versuch, dem ‚Judeneid‘ und der damit verbundenen Demütigung zu entgehen, wurden die Juden bei den Eideszeremonien mitunter durch entwürdigende Rituale und Selbstverfluchungen diskriminiert.359 Zugleich kann die Weigerung aber auch dahingehend gedeutet werden, dass hier der Vorwurf des ‚falschen Eides‘ aufgegriffen wird, jedoch in hintersinnig anderer Weise, wenn Aaron nicht schwören will und sich somit der Verpflichtung zur Wahrheit entziehen will. Insofern steht dann auch alles, was er im Rahmen des Spieles sagt unter dem Verdacht der Lüge. Jenseits der Bedeutung des Eides ist es jedoch offensichtlich, dass auch hier wieder deutlich die Differenz zwischen Aaron und der übrigen Gesellschaft, diesmal ausgehend von Aaron, betont wird. Diese Verweigerungshaltung wird im Übrigen auch im Titelkupfer aufgegriffen, wenn Aaron abwehrend die Hände erhebt. Es wurde schon darauf verwiesen, dass die Differenz auch während des Spieles aufrechterhalten wird. So unterscheiden sich zwar seine Äußerungen nicht wesentlich von denen der anderen Gesprächsteilnehmer: Sie alle offenbaren nach und nach ihre Geldgier und ihren Geiz. Aaron nimmt einmal sogar eine vorherige Äußerung Corypheas auf und führt den schon vorgebrachten Aspekt weiter aus.360 Insofern ist es auch etwas zu weit gegriffen, wenn Breuer Aarons Empfehlung, niemandem Geld ohne entsprechendes Pfand zu leihen,361 als Hinweis auf die rechtlose Situation jüdischer Händler und Geldverleiher deutet, gilt diese Empfehlung doch nicht nur jüdische Pfandleiher.362 Dennoch klagt Aaron durchaus über die Situation der Juden, wenn Secundatus ihm ein „gewissenlose[s] Gewissen“, „List und Betriegerey“ vorwirft. So würden die Juden von den Christen ungerecht behandelt und er verweist darauf, dass eben nicht nur die
Hg. von Franz M. Eybl, Irmgard Wirtz. Bern u.a. 2009 (Beihefte zu Simpliciana 4), S. 123–145, Zitat S. 133. 358 Horch (wie Anm. 279), S. 349. 359 Vgl. dazu einführend neben den auf S. 181, Anm. 64 genannten Studien auch Christine Magin: „Wie es umb der iuden recht stet“. Der Status der Juden in spätmittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern. Göttingen 1999, S. 275–332. 360 Vgl. Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 687f. 361 Vgl. ebd., S. 665. 362 So Breuer: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 1039.
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Juden – was er im Übrigen nicht leugnet –, sondern auch die Christen betrügen würden, ja sich diese noch rühmen würden, wenn sie einen Juden betrügen, der auf keine rechtliche Unterstützung hoffen kann. Es ist sicherlich bemerkenswert, dass hier der – ja durchaus berechtigten – Klage eines Juden so viel Raum eingeräumt wird. Dennoch muss angemerkt werden, dass dieses keineswegs zu einer Veränderung der Einstellung der übrigen Figuren gegenüber dem Juden führt, seine Kritik bleibt letztlich wie jene Knans ungehört, Aaron bleibt ausgegrenzt. Deutlich wird dies insbesondere an Secundatus, der ihn mit Schimpfworten belegt, die von den anderen Teilnehmern unwidersprochen bleiben. Auch wenn Secundatus selbst deutlich in der Kritik steht und die Wahrheit hinter Aarons Einlassungen nicht erkennt,363 wird doch deutlich, dass eine gleichberechtigte Inklusion des Juden in die Gesellschaft auch hier am „utopischen Ort“364 nicht stattfindet. Vor diesem Hintergrund kann Heßelmann auch nicht zugestimmt werden, der von einer gleichberechtigten Aufnahme Aarons „in die tolerante simplicianische Gemeinschaft“ ausgeht.365 Trotz der berechtigten Klage des Juden, erscheint er dennoch – wie schon im Simplicissimus – auch hier wieder sowohl als ‚Opfer‘ und ‚Täter‘, wenn Aaron sich im Anschluss den Stand eines Fürsten wünscht, da dieser über unermessliche ökonomische Mittel verfügt: Auff ein solch gut Fundament were gar herrlich zubauen: deß Herrn Hoffmeister sagt ja selbst/ das Gelt deß Unterthanen fliesse in den Cassen ihrer Herren zusammen/ wer wolte dann in einem solchen Stand nicht reich werden/ wann man dasselbig fein genau zusammen hielte? Wo man nur hinkomt/ da gehen die Klagen aller Unterthanen über die Beschwerungen und unerschwingliche Aufflagen deren Gelter so vielerley Nammen [sic]/ alß mancherley Gattung Sorten man findet/ die sie der Oberkeit geben müssen: wer wolte/ wann man darnach hausete/ nicht grosse Schätz samlen [sic] können?366
Horch erkennt in dieser Einlassung Aarons eine Mahnung an die Verantwortung des Fürsten für die Wohlfahrt seiner Untertanen.367 Es muss jedoch angemerkt werden, dass es Aaron hier mehr um die Vorteile des fürstlichen Standes – die legale Anhäufung großer ökonomischer Mittel – geht, als um die Wohlfahrt der Untertanen. So verweist er zwar auf die Klagen dieser, eine direkte Kritik ist damit jedoch nicht verbunden.
363 So Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 39 und Horch (wie Anm. 279), S. 351. 364 Horch (wie Anm. 279), 349. 365 Heßelmann: Zum Judenbild bei Grimmelshausen (wie Anm. 283), S. 126. 366 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 723f. 367 Horch (wie Anm. 279), S. 352.
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Die Differenz zwischen Jude und übriger Gesellschaft wird im gesamten Text aufrechterhalten und bleibt unwidersprochen – darauf wurde wiederholt verwiesen. So auch beim abschließenden Festmahl: Aaron kann an diesem aufgrund der jüdischen Speisevorschriften nicht teilnehmen, sodass die Meuder ihm „auß Mitleyden ein Par Eyer spendierte/ damit der arm Schelm so nicht mit uns speysen wolte/ kein Hunger leyden dörfte“.368 Breuer und Horch deuten diese Geste als Zeichen der Toleranz,369 das den „Stigmatisierte[n]“ laut Horch zum „Mit-Menschen“ mache.370 Breuer erkennt in dem Festmahl sogar eine „bunte, alle Stände und Schichten umfassende simplicianische Gesellschaft: Vorgeschmack des Paradieses als Zielpunkt der dichterischen Einbildungskraft.“371 Sicher kann die Gabe der Meuder als Zeichen von Toleranz oder zumindest als Versuch der Einbeziehung des Juden gelten, dennoch bleibt die Eierspeise ambivalent. So erscheint sie tatsächlich als vernünftige Alternative: Eier als gemäßigte Speise372 im Gegensatz zur verschwenderischen Nahrung der anderen Figuren, die ihrerseits zwar auch Mäßigung einfordern, diese aber nicht einüben. Zugleich wird aber von der Meuder selbst über die Eier wiederum der Bezug zu Geld und Gewinn hergestellt, wenn sie schildert, wie ihre Mutter aus ein paar Eiern Gewinn gezogen hat.373 Insofern erscheinen die „Par Eyer“ – wendet man es gegen Aaron – als die ihm angemessene Speise. Die Herstellung der Verbindung zwischen Eiern und Gewinn wertet zugleich die Gabe aber auch auf, wenn die Meuder Aaron mit einer potentiell gewinnbringenden Speise bewirtet. Insofern können die Eier weder eindeutig als ‚gute‘ Speise im Sinne eines Toleranzangebots, noch als ‚schlechte‘ Speise im Sinne minderwertiger Nahrung gewertet werden. Das Alternativangebot der Meuder bleibt vieldeutig und die Festschreibung Aarons als Anderer aufgrund seiner religiösen Vorschriften bleibt – auch wenn man die Speise der Meuder positiv wendet – unwidersprochen. Er bleibt aufgrund seiner religiösen Identität ein Ausgeschlossener, der aber auch selbst durch seine Weigerung am Mahl teilzunehmen, die Differenz betont. Auf die Bedeutung der religiösen Differenz hat auch Feldman in Bezug auf das Titelkupfer hingewiesen: So impliziere die Nummer zwölf einen religiösen Subtext, durch den Aaron gleichzeitig die gesamte Judenheit symbolisiere und
368 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 741f. 369 Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 38; Horch (wie Anm. 279), S. 353. 370 Horch (wie Anm. 279), S. 353. 371 Breuer: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 1026f. 372 Vgl. die Äußerung Knans: „[…] dann ich hab vom Doctor hören sagen/ ein Ey gebe dem Menschen so viel Nahrung/ und mache so viel gesund Geblüt alß ein Pfund Fleisch“. Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 685. 373 Ebd., S. 686f.
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somit auch Judas Iscarioth. Damit werde der Betrug an Jesus und die Opposition zu diesem im Titelkupfer aufgegriffen.374 Offensichtlicher sei jedoch die Namensgebung: Aaron war der erste Hohepriester, der jedoch die Würde seines Amtes verletzte, indem er das goldene Kalb anfertigte und sich gegen Moses auflehnte (4. Mos. 12, 1). Doch wie die Eierspeise ist auch die Namensgebung wiederum zwiespältig: Aaron erscheint im Alten Testament als durchaus ambivalente Figur, der auf der einen Seite – wie Feldman anführt – als Sünder erscheint, auf der anderen Seite aber auch als Helfer Mose, der mit seinem Stab – den Aaron im Rathstübel verweigert – Plagen in Ägypten hervorruft, und für die Versöhnung Gottes mit den Schuldigen steht (4. Mos. 17). Zudem wird er erwählt, mit seinem Stamm, den Leviten, über die Gesetze Gottes zu wachen. Der Name Aaron ist mithin weder eindeutig negativ noch positiv konnotiert. Sowohl Name wie auch die Eierspeise offenbaren mithin eine „Offenheit der Bedeutungszuschreibung“.375 Feldman geht weiter davon aus, dass die durch die Nummerierung hergestellte Nähe des Juden zu Courasche und der Schauspielerin Coryphaea zudem nicht nur seine Stellung am untersten Rand der Gesellschaft markiere, sondern durch die Nähe zu Coryphaea und Courasche auch die Affinität zu Betrug und Täuschung impliziere.376 Dieser Deutung widerspricht jedoch die räumliche Anordnung: So sitzen neben dem Fürsten und der reichen Bürgerfamilie Schauspielerin und Jude erhöht, dem Juden wird von Secundatus sogar der Platz auf dessen – so der Text, nicht aber das Titelkupfer – rechter Seite zugewiesen.377 Diese Anordnung lässt sich – so Breuer – als Anspielung auf die neue Ordnung nach dem 374 Vgl. Feldman (wie Anm. 325), S. 289. In der jüdischen Geschichte verstand sich das jüdische Volk als Gemeinschaft von zwölf Stämmen, sodass die Zwölf die Gesamtheit des jüdischen Volkes repräsentiere. Zur Zahlenallegorese vgl. weiter auch Dieter Breuer: Die sinnreiche Siebzehn – Zahlenallegorese bei Grimmelshausen. In: Literatur und Kultur im deutschen Südwesten zwischen Renaissance und Aufklärung. Neue Studie, Walter E. Schäfer zum 65. Geburtstag. Hg. von Wilhelm Kühlmann. Amsterdam, Atlanta 1995 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 22), S. 267–282 sowie Siegfried Streller: Grimmelshausens simplicianische Schriften. Allegorie, Zahl und Wirklichkeitsdarstellung. Berlin 1957 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 7). 375 Friedrich Vollhardt: Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente in literarischen Texten der Frühen Neuzeit (Grimmelshausen). In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Ursula Peters, Rainer Warning. München 2009, S. 243–266, Zitat S. 266. 376 Vgl. Feldman (wie Anm. 325), S. 289. 377 Laut Text sitzt zunächst die Schauspielerin Coryphea an der rechten Seite des Fürsten, der nach der Ankunft von Knan, Meuder und Aaron, letzterem diesen Platz zuweist. Das Titelkupfer gibt die Sitzordnung jedoch spiegelverkehrt wider, so dass Aaron hier zur Linken des Fürsten sitzt. Darauf verweist auch Breuer: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 1035. In der posthumen Gesamtausgabe von 1683/84 (abgedruckt bei Breuer: Hans Jacob Chri-
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30-jährigen Krieg interpretieren – Bürger, jüdischer Hoffaktor und Mätresse als Stützen des absolutistischen Fürstenstaates.378 Einleuchtend erscheint diese These, wenn zum einen die Ausführlichkeit der Schilderung der Platznahme und zum anderen der Zwang, den Secundatus auf Aaron ausüben muss, bedacht wird: Auch Hoffaktoren leisteten ihre Dienste nicht immer freiwillig, waren sie doch den jeweiligen Fürsten, die daraus wiederum ihren Vorteil zogen, ausgeliefert.379 Der Text selbst gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass Aaron als Hoffaktor figuriert. Vielmehr ist er Viehhändler, der seine Kleider auf „der Gandt und auff dem Grempelmarckt […] erfucker[t]“380 und mit den ankommenden Zigeunern ‚schachern‘ will.381 Abschließend sei noch auf eine weitere Quelle Grimmelshausens verwiesen, auf die Eybl aufmerksam gemacht hat und aus der Grimmelshausen die Anregung zur Einfügung einer jüdischen Figur erhalten haben mag:382 Johann Balthasar Schupps Von der Kunst reich zu werden.383 Jenseits der Titelkongruenz finden auch hier am Sauerbrunnen Gespräche statt und auch hier tritt eine jüdische Figur auf, „den sie Rabbi Ben Israel nenneten“.384 Dieser tritt jedoch – im Gegensatz zu Aaron – ausdrücklich in der Funktion des Wucherers auf, der Argumente für und wider die Wucherer anführt und – qua professionem – Expertenwissen anbietet. Im Gegensatz zu Aaron beklagt er jedoch nicht die Situation der Juden, sondern bestätigt vielmehr antijüdische Vorwürfe: So hätten Juden kein Gewissen – dies ist der Vorwurf, der auch Secundatus den Juden macht –, seien
stoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 [wie Anm. 275], Tafel XII [Bildteil]) stimmen Text und Illustration überein. Vgl. zur Sitzordnung auch Klaus Haberkamm: „Rechts“ und „Links“ bei Grimmelshausen. Zur Allegorese einer sprachlich-literarischen Dichotomie. In: Simpliciana 32 (2010), S. 303–332, hier S. 311–315. Haberkamm konzentriert sich jedoch auf die Platzwechsel Corypheas, die sie allmählich vom Fürsten wegrücken lassen. Der Zuweisung Aarons auf den Platz an der linken Seite des Fürsten, die weniger wert sei als die rechte, widmet Haberkamm hingegen kaum Aufmerksamkeit. 378 Vgl. Breuer: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 1032 sowie Feldmann, Modelling Difference (wie Anm. 325), S. 290. 379 Vgl. dazu Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Mordechai Breuer, Michael Graetz, Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 111f. 380 Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis (wie Anm. 275), S. 670. 381 Ebd., S. 689. 382 Vgl. Eybl: Informalität als Bedingung (wie Anm. 357), S. 142f. 383 Johann Balthasar Schupp: Lehrreiche Schrifften/ deren sich beydes Geist= als Weltliche/ wes Standes und Alters sie auch sind/ nützlich gebrauchen können. Frankfurt a.M. 1677, S. 648–727. 384 Ebd. S. 677.
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boshaft und ungläubig.385 Ben Israel entspricht hinsichtlich seiner Konstruktion wesentlich gängigen antijüdischen Stereotypen, die umso überzeugender wirken, werden sie doch von einem ‚Experten‘ vorgebracht. Das bedingt jedoch auch, dass Ben Israel wesentlich einfacher gestaltet ist als Grimmelshausens Figur des Aaron, deren Gestaltung und Funktion sich eindeutiger Zuschreibungen entzieht: So werden bekannte antijüdische Stereotype an ihm vorgeführt und ausgestellt und nicht in Frage gestellt. Zugleich wird Aaron breiter Raum gelassen, um unangenehme Wahrheiten und bittere Kritik vorzubringen – auch wenn diese im Rathstübel selbst ohne Folgen bleiben. Insofern kann man die Einfügung der jüdischen Figur schwerlich als Plädoyer für Toleranz oder zumindest einen vorurteilsfreieren Umgang mit Juden deuten, einen deutlich antijüdischen Charakter des Rathstübel kann man hingegen ebenso wenig feststellen. Das Rathstübel Plutonis bewegt sich hinsichtlich der Figur des Aaron vielmehr in einem ‚Dazwischen‘ und lässt sich nicht auf eine eindeutige Position festlegen.
4.4.3 Vom Aberglauben der Juden: Die „Esther-Episode“ im zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogel-Nests Anhand der bisherigen Ausführungen wurde bereits deutlich, dass innerhalb von Grimmelshausens Werk jüdische Figuren vornehmlich im Zusammenhang mit Geld- und Besitzstreben auftreten. So auch im zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogel-Nests: Der dem Laster der Geldgier völlig verfallene namenlose Kaufmann kommt nach Amsterdam, wo er nicht nur einen reichen Juden bestiehlt, sondern auch dessen Tochter, die schöne Jüdin Esther, unter Zuhilfenahme des unsichtbarmachenden Vogelnestes verführt und schwängert. Bevor nun genauer auf diese Episode eingegangen wird, ist es zunächst notwendig, sich über die Erzählerfigur, den Kaufmann, klar zu werden: Das erzählende Ich des Kaufmann berichtet aus zeitlicher Distanz – nach seiner Bekehrung – über seine Taten und Erlebnisse, er ist mithin ein extradiegetischhomo- bzw. autodiegetischer Erzähler. Eingeschoben in die Darstellung des Vergangenen sind aber immer wieder Reflexionen des erzählenden Ichs, das seine Taten aus der Perspektive des vermeintlich Geläuterten kritisch beleuchtet.386 Die hier vorgenommene Einschränkung deutet jedoch ein Problem an: So ist es
385 Vgl. ebd., S. 678f. 386 Zur Erzählsituation, jedoch mit Fokus auf den ersten Teils des „Vogel-Nests“, vgl. auch Rolf Tarot: Die Kunst des Erzählens in Grimmelshausens Wunderbarlichem Vogel-Nest. In: Simpliciana 28 (2006), S. 25–41, der sich im Rückgriff auf Stanzel mit den verschiedenen Formen der Reflektorfigur auseinandersetzt.
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fraglich, ob sich der Kaufmann am Ende wahrhaft bekehrt und seinen Lastern, vor allem der Geldgier, entsagt, wenn er auch nach der Bekehrung seinen Vorurteilen verhaftet bleibt. Darauf deuten die Reflexionen des erzählenden Ichs hin, in denen deutlich wird, dass er noch immer in seinem Wahn gefangen ist und sein zu Unrecht erworbenes Geld nicht verschenkt, sondern es zur Bezahlung für genossene Leistungen nutzt.387 Es handelt sich mithin um einen unzuverlässigen Erzähler, ist doch stets unklar, ob insbesondere die indirekt wiedergegebenen Gedanken der jüdischen Figuren innerhalb der Fiktion als wahr zu bewerten sind oder ob es sich vielmehr um Projektionen des wahnbefangenen Erzählers handelt. Denn auch wenn sich dem Blick des Unsichtbaren potentiell alles Sichtbare darbietet, ist ihm die Introspektion verwehrt.388 Dem Perspektivismus des Kaufmanns, der in der Forschung weitgehend unbestritten zu sein scheint,389 ist also Rechnung zu tragen, wenn nun die jüdischen Figuren sowie die Verhandlung jüdischer Glaubensinhalte näher betrachtet werden sollen. Der Kaufmann erfährt kurz nach seiner Ankunft in Amsterdam vom drohenden Krieg zwischen Frankreich und Holland und will aus diesem Grund „eine namhaffte Summa Gelts in Goldsorten“390 stehlen. Als Opfer wählt er einen reichen Juden – ebenso wie der Hellebardier des ersten Teiles. Auffällig ist hier, dass sowohl Hellebardier wie auch Kaufmann den Diebstahl an einem Juden als weniger verwerflich darstellen, als den Diebstahl an einem Christen. So recht-
Zur Konstruktion des „Simplicianischen Autors“, der nach Kaminski für die beiden Teile des Vogelnests Autorität beansprucht und hinter dem sich der Hellebardier des ersten Teils verbirgt vgl. Nicola Kaminski: Der vergessene Schatten. Auf den narratologischen Spuren des ‚Simplicianischen Autors‘ (Teil I). In: Simpliciana 28 (2006), S. 195–214 sowie Dies.: Der vergessene Schatten. Auf den narratologischen Spuren des ‚Simplicianischen Autors‘ (Fortsetzung). In: Simpliciana 29 (2007), S. 359–379, hier S. 367–369. 387 Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 630. Vgl. dazu weiter auch Deupmann (wie Anm. 321), S. 180. Kaminski hat zudem darauf verwiesen, dass auch die Bekehrung des zweiten Vogelnest-Besitzers nicht ohne Irritationen bleibt, etwa wenn der Hellebardier den Schatz der Leyerin behält. Kaminski: Der vergessene Schatten II (wie Anm. 386). 388 Insofern kann auch nicht von einem gottgleichen, sondern nur gottähnlichen Erzähler gesprochen werden. Vgl. Hania Siebenpfeiffer: Mediologie des Blickes. Ordnungen der Sichtbarkeit bei Grimmelshausen. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von Heinz-Ludwig Arnold. München 2008 (Text+Kritik, Sonderband), S. 51–68, hier S. 67, Anm. 36. 389 Vgl. etwa Breuer: Grimmelshausen Handbuch (wie Anm. 303), S. 113; Andreas Merzhäuser: Der Leser als Voyeur und Komplice. Zur problematischen Verschränkung von Lust und Gewalt in Grimmelshausens simplicianischem Zyklus. In: Simpliciana 31 (2009), S. 127–141, hier S. 139 oder Sprenger (wie Anm. 200), S. 36. 390 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 538.
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fertigt der Kaufmann diesen im Nachhinein mit seiner Fürsorgepflicht für Esther und auch der Hellebardier hält ihn für eine lässliche Sünde: Jch schlug mich auff die rechte Hand gegen der Polnischen Gräntze der Meinung einem reichen Juden desselbigen Königreichs so viel Ducaten außzuwischen/ als ich würde tragen können/ dann ich fieng an so Gewissenhafftig zu werden/ daß ich durchauß keinen Christen bestehlen wolte/ er hätte dann ärger als ein Jud seyn müssen/ dergleichen ich mir aber nirgends zu finden getraute/ und solte ich gleich alle Winckel der Welt außlauffen.391
Deutlich wird hier die Wahnbefangenheit Michaels – er nimmt schließlich Abstand von seinem Vorhaben, als er erkennt, dass „sintemal das siebende Gebot ohne einige Bedingung das Stelen verbeut/ und einer zum Dieb wird/ er stele gleich einem Juden oder Christen“392 –, zugleich wird jedoch auch offenbar, was oben schon angedeutet wurde: Ausgangspunkt für die Einführung jüdischer Figuren ist stets393 die ihnen zugeschriebene Nähe zu Ökonomie und vor allem Reichtum, besitzen doch alle – außer Aaron, der zwar über seine prekäre Lage klagt, aber dessen tatsächliche finanzielle Ausstattung unklar bleibt – große Reichtümer. So auch Eliezer, jener Amsterdamer Jude, den der Kaufmann schließlich um seine Tochter und seinen Reichtum betrügt und der „wie man ins gemein darvor hielte/ die Summa seines Vermögens selbst nicht wuste“.394 Jenseits der den Juden zugeschriebenen Disposition zum Handel, mag der Verweis auf die unermesslichen Reichtümer Eliezers aber auf der Rezeptionsebene auch ökonomischen Neid provoziert haben, auch wenn Hinweise darauf fehlen, wie Eliezer diesen erlangt hat.395 Darüber hinaus wird der Vorwurf, dass Juden ihren Reichtum vor allem dem Betrug an Christen zu verdanken haben – dass diese Assoziation nahe lag, belegen die zahlreichen bisher beleuchteten Texte, in denen dieser Vorwurf ausdrücklich aufgerufen wurde –, im Unbestimmten gelassen. Die mögliche Assoziation wird durch diese bewusst gesetzte Leerstelle weder bestätigt noch widerlegt. Bereits hier gilt mithin, was Merzhäuser in Bezug auf die Gewaltdarstellung im simplicianischen Zyklus festgestellt hat: Der Leser wird aufgefor-
391 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogelnest I (wie Anm. 275), S. 385. 392 Ebd., S. 414. 393 Allein der „Ewigwährende Calender“ stellt eine Ausnahme dar. 394 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogelnest II (wie Anm. 275), S. 538. 395 Ähnlich auch Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 28 in Bezug auf die spätere Erwähnung des goldenen Kalbes: „Die Erwähnung des Goldenen Kalbes deutet an, daß bei der Verspottung dieser reichen sephardischen Juden auch materieller Neid eine Rolle spielt. In der Fiktion nimmt der Autor, wohl im Sinne seiner Leserschaft, gleichsam stellvertretend Rache an der jüdischen Geschäftstüchtigkeit.“ Problematisch ist diese Deutung jedoch vor allem hinsichtlich der Identifizierung von Autor und Erzähler, die wie gezeigt wurde, so nicht aufrechtzuerhalten ist.
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dert, sich aus seiner passiven Rolle zu lösen und sich der Fiktion eben nicht blind anzuvertrauen, sondern auch die eigene Position als Leser in Frage zu stellen.396 Der Kaufmann erblickt Esther zum ersten Mal als er das Haus, welches „gespickt [ist] mit allem dem/ was reiche Leut zu haben pflegen“,397 auf der Suche nach Schätzen durchstreift. In einem Zimmer findet er ein Weibs-Bild ein Wehr-Gehenck mit Gold/ Silber und Perlen sticken […]/ über deren unvergleichlichen Schönheit ich allerdings erstaunete/ dann sie war so außbündig und unbeschreiblich schön/ daß ich mich nimmermehr überreden lassen/ oder glauben kan/ daß ein Mahler in der gantzen weiten Welt zu finden sey/ der ein schöner Bild mahlen könne/ ihre schwartzbraune Augen strahleten dermassen mit Liebreitzenden Blicken/ daß sie genugsam gewesen wären/ die gantze Welt mit Liebes-Flammen zu entzünden/ so fern dieselbe nur so wol auff die Augen der Manns-Bilder/ gleich wie auff die schöne perlen Arbeit ihrer Alabasternen Hände loß gangen wären; Dann gleich wie sie selbsten über solcher ihrer außbündigen Arbeit oder vielmehr Künstlerey eine Freud und hertzlichs Wolgefallen hatte/ also gab sie derselbigen/ als einem Ding/ das sie hertzlich liebte/ gleichsam mit lächelndem Angesicht manchen inniglichen Blick/ welche so beschaffen waren/ daß ihre Kräffte in einem nun durch die Augen deren/ so sie auffgefangen/ in das innerste der Hertzen tringen müssen/ selbige mit Liebe zu fesseln/ und solten sie gleich von hartem Stal/ ja gar von kaltem Crystall und Diamant gewesen seyn; Als ich gleich im ersten Anblick/ da sie eben in solcher Andacht gegen ihre Arbeit begriffen/ und deßwegen Stockstill sasse/ warnam/ wie künstlich und schön die Hochweise unter die liebliche Rosenfarb in ihrem/ ohne das überauß auffs schönste gebildete Angesicht gemengt und außgetheilet war/ zumalen sahe/ daß ihre Lippen wie mit hoch Spanisch Leibfarb gemahlet hervor schienen/ gedachte ich/ das gantze Bild möchte irgends eines Kunstreichen Meisters bestes Kunst-stück seyn/ wie man dann dergleichen Bilder in Lebens Grösse von Wax bossirt/ und herrlich gekleidet/ ehemalen in Teutschland herumb geführt/ und umb Gelt sehen lassen/ aber als sie sich wider bewegte und zu sticken begunte/ war mir vor Verwunderung nicht anderst/ als etwan dem Pygmalione gewesen seyn mag/ da seinem schönen Jungfräulichen Bild/ so er selbst auß Helffenbein zum fleissigsten verfertigt/ von der Venere eine lebendige Seele eingegossen worden; […] nichts Jüdisches konnte ich an ihr abnehmen/ als etwas wenigs an ihrer wolformierten Nase/ welches ihr aber in meinen Augen mehr vor eine treffliche Zierd taugte/ als daß es vor die Signatur einer Jüdischen Physiognomie gehalten hätte werden sollen; Jhr Geschmuck in den Haaren/ umb den Hals/ ihre Ohrgehenck/ Ring und Armbänder waren von hohem Werth/ ihre Pantoffel wie das Wehr-Gehenck das sie stickte/ und ihre LeibsBekleidung von solchem Zeug/ dergleichen Privat-Personen nicht alle Tag zu tragen pflegen/ […] und in dem ich solcher massen den Vorwitz meiner Augen contentirt/ soffe ich mit den stärcksten Zügen gantz unvermerckt das süsse Gifft der Liebe […].398
396 Vgl. Merzhäuser (wie Anm. 389), S. 140f. 397 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 539. 398 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 539–541.
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Dieser erste Blick auf Esther ähnelt jenem von Villeneuve auf Josebeth – ohne dass damit jedoch eine direkte Abhängigkeit suggeriert werden soll: Auch hier vollzieht sich die Darstellung der Frau entlang poetologischer Traditionen und so wird jeder Körperteil aufgelistet und in seiner Vollkommenheit gelobt. Der Kaufmann wendet dabei alle ihm zur Verfügung stehenden Beschreibungsmuster an, wobei seine Aufmerksamkeit zwar auch ihren körperlichen Vorzügen gilt, im Zentrum steht jedoch mehr die taxierende Beschreibung ihrer kostbaren Kleidung. Dies ist, wie auch Sprenger betont, der Blick des Kaufmanns,399 eines „homo oeconomicus“,400 vergisst er doch selbst beim Vergleich mit den Wachsfiguren nicht den finanziellen Wert dieser. Esther wird in der Beschreibung des Kaufmanns wie Josebeth zum Objekt des männlichen Blickes degradiert, allein ihre Blicke, denen der Kaufmann magische Qualitäten beimisst – dies deckt sich später mit seiner Perzeption Esthers als Versuchung des Teufels401 –, erheben sie über die reine Objekthaftigkeit, indem sie sie zur Verführerin des Betrachters machen. Beachtenswert ist auch der Hinweis auf ihre „wolformierte[..] Nase“. Diese ‚andere‘ Nase steigert jedoch noch Esthers Schönheit, da sie Esther von anderen abhebt und durch den Hauch des Exotismus umso interessanter erscheinen lässt.402 Darüber hinaus wird deutlich, dass auch hier wieder Judentum und Reichtum eine enge Verbindung eingehen. Dieses vollzieht sich nicht nur durch die Taxierung von Esthers Kleidung, sondern auch durch Esther selbst: Sie wird selbst zum Schatz, den sich der Kaufmann aneignen will, der Geldgier, Kardinallaster des Kaufmanns, folgt hier die sexuelle Gier.403 Besonders offensichtlich wird dies jedoch – darauf hat Sprenger aufmerksam gemacht404 –, wenn man die Worte des Kaufmann, die er für sein Streben nach bzw. den Verlust des Reichtums findet, mit jenen vergleicht, mit denen er seine Gier nach Esther beschreibt: Es sind dieselben Qualen mit denselben Symptomen405 und sowohl Esther wie auch der Reichtum sind ihm „süsses Gifft“.406 Aber auch auf der Handlungsebene findet sich diese Parallelsetzung, wenn die Suche nach dem von der Leyerin gestohle-
399 Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 37f. 400 Deupmann (wie Anm. 389), S. 176. 401 Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 38. 402 So auch Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 27. 403 Die Verbindung von Geldgier und Wollust findet sich auch in der Beschreibung des „Monstrums“ im dritten Kapitel wieder. Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 474f. 404 Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 39. 405 Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 468 und 541– 543. 406 Ebd., S. 467.
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nen Schatz mit dem unsichtbaren Raubzug des Kaufmanns in Beziehung gesetzt wird,407 wobei „Esther vor dißmal der Schatz war/ nach dem ich verlangte“.408 Esther ist mithin die „menschliche Verkörperung seiner eigentlichen Liebe zum Geld“.409 Dementsprechend erlischt auch sein Interesse an Esther schließlich nach vollzogenem Beischlaf und flammt erst wieder auf, als Erasmus Esther heiraten soll, sein „Schatz“ also in den ‚Besitz‘ eines anderen übergehen soll. Dementsprechend handelt es sich auch keineswegs um Liebe, die der Kaufmann für Esther empfindet, sie wird vielmehr zum reinen Sexualobjekt, sie ist dem Kaufmann nicht mehr als ein „stück fleisch“ auf das sich seine „Viehische Begierde[..]“410 richtet, das er sich ‚einverleiben‘ will.411 Insofern kümmert es ihn auch nicht, dass es sich bei Esther um eine Jüdin handelt: Zwar/ das meine Geliebte eine Jüdin war/ gab mir die geringste Anfechtung und Bekümmernus; dann einem solchen Gewissen/ das sich einmal entblödet/ durch deß Teufels Hülff wieder zu seinem verlornen Gelt zu gelangen/ gilts auch gleich/ ob die Viehische Begierden an einem getaufften oder ungetaufften stück fleisch vollbracht werden […].412
Es wurde schon angedeutet und klingt auch in dieser Textstelle an, dass der Kaufmann seine Begierde zu Esther als Anfechtung des Teufels darstellt, die Jüdin wird zum Mittel des Teufels, den Kaufmann um sein Seelenheil zu bringen.413 Dies hat zur Konsequenz, dass Esther auch hier wiederum nur als Objekt erscheint, was zugleich die eingeschränkte Wahrnehmung des Kaufmanns offenbart: Selbst aus der Rückschau ist er nicht fähig, Mitleid mit Esther zu empfinden und weist die Schuld an seinem lasterhaften Verhalten dem Teufel zu.414 Der Kaufmann, getrieben von seiner Wollust, durchstreift in der Folge Eliezers Haus und beobachtet dabei auch jüdische Rituale415 – im Übrigen nicht ohne wiederum auf den großen Reichtum der jüdischen Familie zu verweisen416 –, die ihn auf den Gedanken bringen, wie er Esther verführen kann. Grimmelshausen knüpft hier an das schon mehrfach erwähnte Motiv des falschen Messias an: Der
407 408 409 410 411 412 413 414 415 416
Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 39. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 546. Sprenger (wie Anm. 200), S. 40. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 543. So Sprenger (wie Anm. 200), S. 40 und Krobb: Die Schöne Jüdin (wie Anm. 179), S. 26. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 543. Vgl. ebd., S. 544f. Vgl. dazu auch Sprenger (wie Anm. 200), S. 40f. Vgl. dazu Heßelmann: Zum Judenbild bei Grimmelshausen (wie Anm. 283), S. 125. Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 546.
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Kaufmann gibt sich als Engel Uriel und Prophet Elias aus und gaukelt den Amsterdamer Juden vor, dass er mit Esther den erwarteten Messias zeugen wird. Wie im Falle Josebeths wird der Messiasglauben der Juden genutzt, um den Beischlaf anzubahnen, nicht ihn zu rechtfertigen. Erzähltechnisch ist dies nicht unbedeutend, erlaubt es diese Handlungsfolge doch, umfangreiche Erläuterungen zu jüdischen Glaubensinhalten vorzustellen.417 Diese werden dem Kaufmann durch Erasmus vermittelt, einen zum Christentum konvertierten Juden, von dem der Kaufmann berichtet, dass er die Juden hasse und von ihnen als Apostat gehasst werde.418 Als Konvertit ist er ‚Experte‘ für das Judentum, zugleich aber potenziert sich die Unsicherheit in Bezug auf die Zuverlässigkeit des Dargestellten: So werden die Erläuterungen von Erasmus über den Kaufmann vermittelt, der, wie dargestellt, als unzuverlässiger Erzähler gelten muss, zugleich ist aber auch Erasmus selbst – bedingt durch seine Konversion – unzuverlässig. So wurde bereits im Hinblick auf Israël Fromschmidt ausgeführt, dass die Äußerungen eines Konvertiten stets unter dem Verdacht der Unzuverlässigkeit stehen, ist dieser doch bestrebt, seine Treue zum neuen Glauben durch scharfe Abgrenzung von seinem alten Glauben unter Beweis zu stellen. Durch die doppelte Unsicherheit ist folglich nicht zu entscheiden, ob der Vorwurf des Aberglaubens, der im Zuge der Darstellung der jüdischen Glaubensinhalte immer wieder aufgegriffen wird, von Erasmus oder vom Kaufmann selbst stammt. Zugleich ist es jedoch unzweifelhaft, dass es sich bei den „Lugenden und Fabelpossen“419 tatsächlich um Inhalte des jüdischen Glaubens handelt, gelingt es doch dem Kaufmann auf Grundlage dieser, den Betrug durchzuführen. Wichtiger aber noch erscheint, dass eine solch ausführliche Darlegung des jüdischen Messias-Glauben erzähltechnisch eigentlich nicht notwendig ist – auch wenn der Kaufmann dies wiederholt betont420 –, kann doch anhand der zahlreichen Belegstellen innerhalb der Erzählliteratur vermutet werden, dass der Rezipient den Betrug an Esther auch ohne diese umfangreichen Ausführungen verstehen kann. Warum also diese ausführlichen Darlegungen? Zu vermuten ist, dass – wie schon im Falle der Erzählsammlungen – die curiositas des Lesers befriedigt werden soll. Wichtiger
417 Zu den Quellen Grimmelshausens, die er zur Darstellung der jüdischen Glaubensinhalte und Rituale nutzte, vgl. Heßelmann: Zum Judenbild bei Grimmelshausen (wie Anm. 275) sowie Ders.: Nochmals zum Judenbild bei Grimmelshausen. John Evelyns Historia De tribus hujus seculi famosis Impostoribus (1669) und Das wunderbarliche Vogel-Nest II (1675). In: Simpliciana 29 (2007), S. 381–386. Zu den Parallelen zwischen Grimmelshausen, Folz und Boccaccio vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 42–46. 418 Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 547. 419 Ebd., S. 555. 420 Vgl. ebd., S. 548, 554.
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aber erscheint, dass die umfangreichen Ausführungen – auch unter dem Verdikt des unzuverlässigen Erzählens – dazu dienen, den ‚Aberglauben‘ der Juden zu erweisen und dem Verlachen preis zu geben.421 Vor diesem Hintergrund erklärt sich sodann auch, warum die Erklärungen der Juden, die an der Tochter Esthers trotz ihres offensichtlich ‚falschen‘ Geschlechts als Messias festhalten, so häufig wiederholt werden, eignen sie sich doch besonders, den zum Lachen reizenden ‚Aberglauben‘ der Juden vorzuführen.422 Der Kaufmann macht sich nun seine durch Erasmus vermittelten Kenntnisse zunutze und bläst Zettel in die Synagoge, auf denen das Kommen des Messias angekündigt wird. Das Verhalten der Juden spiegelt die Reaktionen auf das Auftreten Sabbatai Sevis 1666:423 Jch schlieche etliche Täge nacheinander unsichtbarer Weise in unterschiedlicher Juden Häuser herumb/ und sahe mit Verwunderung/ wer diese Zettel dem aberglaubischen/ albern und verblendeten Volck vor eine Freud und gewisse Hoffnung eingesteckt/ wie sie deßwegen Gastereyen und Feyertäglich Wol-Leben anstellten/ und etliche solcher Zettel auff der Post in Poln/ in Jtaliam/ in Teutschland/ ja gar in Asiam zur frölichen Bottschafft ihrer gewissen Erlösung schickten.424
Angesichts dieser Reaktionen – die vor allem die den Juden zugeschriebene ‚Verblendung‘ offenbaren, wird von ihrer Seite doch nicht daran gezweifelt, dass es sich tatsächlich um Zeichen für das Kommen des Messias handele – findet sich der Kaufmann bestätigt, sodass er als vermeintlicher Prophet Elias unsichtbar an Festmählern und Beschneidungen teilnimmt und sich dort an den Speisen bedient, was wiederum den Juden als untrügliches Zeichen für das Kommen des Messias gilt. Der Kaufmann verkleidet sich schließlich als Engel Uriel und verkündet Eliezer, dass seine Tochter den Messias empfangen werde. Die Verkleidung erfüllt dabei zwei Funktionen: Zum einen macht sie Eliezer glauben, dass tatsächlich ein Engel zu ihm spricht, zum anderen gibt sie ihn dadurch aber auch der Lächerlichkeit preis, hegt er doch keinen Zweifel daran, dass der „gebutzte[..]“ Kaufmann in seinem „ungewöhnlichen Habit“425 tatsächlich ein Engel sei. Das Vogelnest wird
421 Vgl. beispielsweise die Darstellung des Festmahles bei Ankunft des Messias. Dieses Mahl diente beispielsweise auch Quirsfeld im „Historischen Rosengebüsche“ als Beleg dafür, dass die Juden dem Aberglauben anhängen würden. Vgl. oben, S. 163f. 422 Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 571, 575, 587, 589. 423 Auf Sabbatai Sevi wird später auch nochmals explizit verwiesen, wenn sich der Kaufmann darüber von Erasmus berichten lässt, um „ihn auff einen andern Laun zu bringen“. Ebd., S. 573. 424 Ebd., S. 557. 425 Ebd., S. 559.
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hier folglich nicht zum Medium der Entlarvung der verkehrten Welt, sondern zum Medium des Lasters, mit dessen Hilfe der Kaufmann die Wahrnehmung anderer manipuliert. Innerhalb der ‚Verkündigung‘ ist vor allem auffällig, dass sich Eliezer erst überzeugt zeigt, als der ‚Engel‘ deutlich macht, dass nicht seine Ehefrau Sara, sondern seine Tochter auserwählt sei. Sprenger deutet dies dahingehend, dass „[n]achvollziehbar menschliche Erklärungen […] also selbst bei Engeln überzeugender [sind] als Hinweise auf die Allmacht Gottes“.426 Desgleichen finden jedoch auch die Vorurteile des Kaufmanns – die Juden seien „ein gelehrtes/ schlaues/ spitzfündiges und verschlagenes Volck“427 – gerade durch die Nachfragen Eliezers ihre Bestätigung. Darüber hinaus wird so auch – wie schon bei Folz – persiflierend auf Gen. 17,1–27 verwiesen und so die Heilsgewissheit der Juden verworfen und ihre Messiaserwartung lächerlich gemacht.428 Zugleich wird der vermeintliche Herrschaftsanspruch der Juden – Eliezer erkundigt sich nach den „Particularitäten“ „wie es mit Einnehmung deß gelobten Lands hergehen möchte“429 und sieht sich als Großvater des Messias schon als „der gröste Fürst in der Welt“430 – durch die Aussichtslosigkeit der Hoffnung auf den Messias desavouiert. Auch die Verbindung von Judentum und Reichtum sowie der Vorwurf der ‚Ausbeutung‘ wird aufgerufen, wenn der Kaufmann deutlich macht, dass sich die Juden an „Gold und Silber/ […] Kleinodien und Edelgestein/ […] Haab und Güter von beweglichem Vermögen“431 der unterworfenen Völker bereichern würden, woraufhin sich Eliezer „schon halber im Paradeiß“432 wähnt. Hier werden mithin nicht nur der ‚Aberglauben‘ und die ‚Leichtgläubigkeit‘ der Juden vorgestellt, sondern es finden auch antijüdische Vorwürfe durch die Reaktion Eliezers ihre Bestätigung. Nach der Darstellung der ‚Verkündigung‘ ist eine Reflexion des ‚bekehrten‘ Kaufmanns eingefügt, in der das erzählende Ich das lasterhafte Verhalten des Kaufmannes anprangert. Doch auch hier zeigt sich wieder, dass von einer späteren Bekehrung nur eingeschränkt gesprochen werden kann, gibt der Kaufmann die Schuld an seinem Verhalten doch dem Teufel und versucht sein Verhalten im
426 Sprenger (wie Anm. 200), S. 46. 427 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 243), S. 552. 428 Vgl. dazu oben, S. 51. 429 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 561. 430 Ebd., S. 562. Dieses weltliche Machtstreben findet sich später auch bei Esther: „Sie sagte/ vollbringe an mir/ was die der Herr befohlen hat/ und dauchte sich schon in ihrem Sinn/ neben ihrem künfftigen Sohn zu Jerusalem eine großmächtige Käiserin über die gantze Welt zu sein.“ Ebd., S. 569. 431 Ebd., S. 562. 432 Ebd., S. 562.
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Nachhinein zu rechtfertigen: So sei Eliezer ein „stoltze[r] Jude[..] und Ertzfeind/ so wol unseres Herrn Christi/ als seiner Kirchen/ oder deß gantzen Christlichen Volcks“,433 sodass der Betrug an ihm und seiner Familie geradezu geboten erscheint und als „kurtzweil und artlicher Spaß“ erscheint. Und auch wenn der Kaufmann vorgibt, dass „weit mehr unverandwortlichers darhinder“434 stecke, nimmt er doch nicht den Betrug an sich als Sünde wahr, sondern lediglich die Bestärkung der Juden in ihrer „Jrrsal“.435 Die Sünde des Kaufmannes bestehe mithin in seinem Wirken gegen Gott, nicht gegen die Juden und so kann sich auch kein Gegendiskurs des Mitleids oder der Barmherzigkeit wie etwa im Simplicissimus formieren, wenn die Rache des Simplicius an Olivier geschildert wird und der Verspottung Begriffe wie „der arme Jäger“ entgegengesetzt werden.436 Deutlicher noch wird die Verstrickung des Kaufmanns in seinen Wahn, wenn er sich unsichtbar in Eliezers Haus begibt, die Vorbereitungen der Juden beobachtet und zu dem Schluss kommt, dass „diß elende Volck betrogen seyn wolte“,437 und sich unter Verweis auf Joh. 5, 43 sogar als Werkzeug Gottes sieht. Die Begegnung mit Esther selbst gestaltet sich dann, wie schon bei Folz, in Verkehrung der Empfängnis Marias: So umgibt die zukünftige Mutter prachtvoller Luxus statt Ärmlichkeit, Esther gebärdet sich nicht keusch, sondern „Gottlos[..] und leichtfertig“438 und es finden sich – darauf hat Sprenger verwiesen439 – zahlreiche Allusionen und Referenzen auf Maria Empfängnis, die jedoch in ihr Gegenteil verkehrt werden, wodurch der ‚heilige Akt‘ „entmythisiert, vermenschlicht, seine Glaubhaftigkeit angezweifelt“440 wird. Sprenger zieht daraus die Konsequenz, dass durch die Gleichsetzung des Betrugs an Esther mit der Empfängnis Marias die von ihr konstatierte kritische Lesart auch auf die Rezeption der Heilsgeschichte des Neuen Testaments übertragen werde.441 Sprenger geht hier meines Erachtens jedoch fehl, wird der Betrug an Esther doch nicht mit der Empfängnis Marias gleichgesetzt, sondern die Empfängnis Marias wird bei Esther in ihr Gegenteil verkehrt,442 wodurch die Messiaserwartung der Juden ad absurdum geführt
433 Ebd., S. 563. 434 Ebd. 435 Ebd., S. 564. 436 Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch (wie Anm. 275), S. 250. Vgl. dazu Merzhäuser (wie Anm. 389), S. 134f. 437 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 565. 438 Ebd., S. 568. 439 Vgl. Sprenger (wie Anm. 200), S. 51f. 440 Vgl. ebd., S. 52. 441 Vgl-. ebd., S. 53. 442 Die Gegenüberstellung von ‚rechtem‘ Christentum und ‚verkehrtem‘ Judentum wird auch deutlich, wenn der Kaufmann auf die Titulierung Gottes durch die Juden eingeht, sei bei den
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wird und die ‚Verblendung‘ sowie die ‚Verstockung‘ der Juden, die eben nicht den ‚wahren‘ Messias anerkennen würden, bloßgestellt und dem Verlachen preisgegeben werden. Diese Gegenbildlichkeit erweist sich auch später, wenn sich die Geburt schmerzvoll – im Gegensatz zu Marias schmerzloser Geburt – gestaltet und ein Mädchen geboren wird. Auch der eigentliche Akt wird profaniert, wenn an seine Stelle eine schwankhafte Anekdote tritt, das Selbstverständliche Leerstelle bleibt und so der Leser als Voyeur ausgeschlossen bleibt.443 Durchbrochen wird die ‚Aura des heiligen Aktes‘ auch, wenn der ‚Prophet‘ im Anschluss an den Akt ‚Alltagsgeschäften‘ nachzugehen hat. Esthers Status als reines Sexualobjekt wird darüber hinaus durch die Gabe des „köstlichen Ring[es]“444 deutlich, macht der Kaufmann sie doch so zur Hetäre, auch wenn er später vorgibt, ihr den Ring als Zeichen des Betruges gegeben zu haben.445 Zudem ist es auffällig, dass dem Akt im Verhältnis zur Verführung nur wenig Raum zugestanden wird, sodass im Zentrum weniger die Einlösung des sexuellen Verlangens, als vielmehr die Manipulation und Verführung selbst steht, deren Erfolg der Akt beglaubigt: „Die eigentliche Lust liegt für den Kaufmann im Selbstgenuss seiner subjektiven Allmacht, die sich in der beliebigen Manipulation und Entwürdigung seiner Mitmenschen […] bestätigt.“446 Insofern verliert der Kaufmann auch schnell das Interesse an Esther, die sich wie die übrige Gemeinde im Folgenden vor allem durch Hochmut auszeichnet. Als schließlich eine Tochter geboren wird, versuchen die Juden Erklärungen für diesen ‚Fehler‘ zu finden – es wurde schon darauf verwiesen, dass die häufige Wiederholung der Erklärung wohl vor allem darauf zurückzuführen ist, dass so die ‚Verblendung‘ der Juden erwiesen werden sollte. Diese offenbart sich auch, wenn diese dem vermeintlichen Propheten Elias Taten zuschreiben, an denen der Kaufmann keinen Anteil hat.447 Das abflauende Interesse des Kaufmanns an Esther offenbart sich auch auf der Erzählerebene, wenn sich dieser nun Erasmus zuwendet, der aufgrund der Ereignisse an seinem neuen Glauben zu zweifeln beginnt, sodass der Kaufmann ihn schließlich in den Betrug einweiht. Erasmus, dessen Zweifel an seiner Konversion damit ausgeräumt werden, reagiert mit einer „scharpffe[n] Predigt“, in der er das sündige Verhalten des Kaufmanns anprangert – Mitleid oder Verständ-
Christen doch der „Fürst der Welt“ der Teufel, sodass der Vorwurf der Teufelskindschaft der Juden aufgerufen wird. Vgl. Ebd., S. 568. 443 So auch Sprenger, ebd., S. 52. 444 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 570. 445 Vgl. ebd., S. 596f. 446 Merzhäuser (wie Anm. 389), S. 139. 447 Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 570.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
nis für die Juden zeigt er nicht. Jenseits dieser Mahnungen ist es auffällig, dass er eine schwankhafte Erzählung in seine „Predigt“ einfügt: Jch habe mir sagen lassen/ daß an einigen unteutschen Orten Gewinsichtige Juden etlichen gailen Huren-Hengsten auß den Christen (ich mach mich schier der Schand theilhafftig/ daß ichs als ein nunmehr getauffter Christ sage/ aber wer kan vor leichtfertige Leut/ wann sie unsere Mitbrüder seyn) Judendirnen zugeführt/ als wären solches gemeine Weiber auß Christlichem Geschlecht gewest/ und hernach damit glorirt/ daß sie solche Sünder so Meisterlich übervortheilt/ und mit ihres Geblicks/ die sie Hündin schelten/ betrogen/ sagende/ wann sie Hunde/ und nicht so wol Menschen als die Christen wären/ so würde ja ein Christ/ wann er eine Jüdin beschlieffe/ leicht mercken können/ daß er mit keinem Menschen/ sondern mit einer Hündin zu thun […].448
Die Conclusio bleibt hier unklar: Entweder wird das Vorurteil der Christen als unrichtig entlarvt oder die Christen treiben mit den Jüdinnen „Sodomiterey“. Letztere Deutung vertritt wohl Erasmus, wenn er nicht glauben will, dass sich der Kaufmann dieses Vergehens schuldig gemacht hat. Erasmus ist wie dargestellt jedoch ein unsicherer Erzähler, sodass die Funktionen – jenseits der reinen delectatio – und Didaxe der Erzählung letztlich unklar bleiben: Sowohl die Juden wie die Christen erscheinen als Sünder und werden verlacht.449 Trotz dieser Predigt bleibt der Kaufmann seinem Wahn verhaftet und macht seine Begierden für sein Verhalten verantwortlich. Insofern steht er auch nicht zu seinen Taten, sondern sucht „dem guten Erasmo“ Esther und ihre Tochter „auffzubürden“,450 ja sie ihm zu verkaufen, wenn er dazu finanzielle Mittel einsetzen will, „daß es ihm eine solche Bürde/ welche zu tragen vielen gantz abgeschmackt/ und zu wider pflegt zu seyn/ erleichtern“.451 Seine mangelnde Einsicht in sein eigenes lasterhaftes Verhalten zeigt sich auch daran, dass er diese Mittel jedoch nicht selbst aufbringen, sondern vielmehr durch Betrug und Diebstahl an diese gelangen will. Er verstrickt sich immer mehr in seinen Wahn und wendet sich schließlich sogar der schwarzen Magie zu. Von seinem „Lehrmeister“452
448 Ebd., S. 576. 449 Vgl. zu dieser Binnenerzählung auch Gerhard Lauer: Historizität und Interessantheit. Anmerkungen zum Innovationsanspruch der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. In: www.germanistik2001.de. Vorträge des Erlanger Germanistentags. Hg. von Hartmut Kugler. Bd. 2. Bielefeld 2002, S. 925–944, insb. S. 929–934 und S. 937–940. 450 Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 578. 451 Ebd., S. 578. 452 Ebd., S. 581.
4.4 Von „armen Schelmen“: Konstruktionen des Jüdischen bei Grimmelshausen
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erhält er eine Schlösser öffnende „Spreng- oder Spring-Wurtzel“,453 die er dazu nutzt, um von Eliezer Esthers ‚Aussteuer‘ zu stehlen. Der Kaufmann versucht in der Folge Erasmus mit Esther zu verkuppeln und erfährt dabei, dass diese vor dem Betrug gemeinsam zum christlichen Glauben übertreten wollten und einander – in deutlicher Abgrenzung zum sündigen Verhalten des Kaufmanns – in keuscher Liebe zugetan waren: Esther habe ehemals „den Christlichen Glauben weit mehr als das Jüdische Gesetz gelehrt und geliebt“454 – das Judentum erscheint hier deutlich negativ konnotiert als Religion des Gesetzes –, sodass der Kaufmann die Konversion durch seinen Betrug verhindert habe. Seine Egozentrik zeigt sich sodann, wenn er sich später rühmt, „drey Jüdin zu Christinnen gemacht“455 zu haben, Esther de facto aber – wie Josebeth – durch die Schrift ‚bekehrt‘ wurde. Es gelingt ihm schließlich, dass Esther, ihre Dienerin Josanna und die Tochter katechisiert und getauft werden und Esther und Erasmus heiraten. Die Annahme der neuen Namen – Esther nennt sich nun Esther Maria – verweist dabei nochmals auf die ambivalente Position der Konvertiten.456 Dennoch stellt dies kein ‚glückliches‘ Ende dar, bedroht Eliezer doch seine Tochter durch seine Macht, die allein – wie der Kaufmann betont – auf seinem Reichtum beruhe.457 Der Kaufmann verkleidet sich daraufhin nicht mehr als Engel, sondern als Dämon und sucht Eliezer in einer Art Schreckensvision heim: Er befiehlt Eliezer die Suche nach seiner Tochter aufzugeben, jedoch nicht ohne den Juden nochmals im Glauben daran, dass seine Tochter den Messias geboren hätte, zu bestärken.458 Die Szene stellt eine Verkehrung jener dar, in der der Kaufmann als Engel Uriel auftritt, wobei die Episode durch den Absturz ins Skatologische zur schwankhaften Erzählung wird und so die vermeintlichen Visionen Eliezers profaniert und verlachbar gemacht werden. Es erübrigt sich hier ausführlich auf die Qualen des Kaufmannes nach der Hochzeit einzugehen, erweisen sie doch abermals seine Verblendung und sein wahn- und lasterhaftes Verhalten. Festzuhalten bleibt, dass trotz des Perspektivismus des Kaufmanns, dem in seiner Egozentrik jede Einsicht in sein sündiges Verhaltens verwehrt bleibt und der eine deutlich antijüdische Einstellung vertritt, das Judentum nicht als gleichberechtigte Religion neben dem Christentum erscheint. An dem Suprematieanspruch der christlichen Kirche wird nicht gezwei-
453 454 455 456 457 458
Ebd., S. 583. Ebd., S. 587. Ebd., S. 598. Vgl. dazu auch oben, S. 58, 60, 106. Vgl. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 591f. Vgl. ebd., S. 600.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
felt, wenn für Esther, Erasmus und ihre Tochter das glückliche Ende in der Taufe besteht und in den Ausführungen die ‚Leichtgläubigkeit‘ und der ‚Aberglauben‘ der Juden vorgestellt wird. Dass auch der Aberglaube der Christen Gegenstand der satirischen Kritik ist, relativiert die Verwerfung der jüdischen Religion dabei nicht, ist doch die Darlegung der jüdischen ‚Verblendung‘ innerhalb der Ausführungen des Erasmus zu umfangreich. Auch das Verhalten der Juden, insbesondere von Esther und Eliezer, ist nicht dazu geeignet, eine vorurteilsfreiere Haltung gegenüber diesen einzuüben, bestätigen sich doch an ihnen die gängigen antijüdischen Vorwürfe wie etwa Geldgier und Machtstreben. Denn auch wenn das Erzähler-Ich selbst eine verblendete und deshalb zu kritisierende Figur ist, nach Breuer „die häßlichste Gestalt Grimmelshausen[s]“,459 heißt das im Umkehrschluss nicht, dass das Judentum auf auktorialer Ebene aufgewertet wird, lässt sich der Rückgriff auf eindeutig antijüdische Texttraditionen doch nicht verhehlen. Dass es sich bei der Esther-Episode nicht um ein Plädoyer für Toleranz im heutigen Sinne handelt, belegt auch das ‚Religionsgespräch‘ am Ende des Romans: Auf der Heimreise wird der Kaufmann nochmals mit einem Juden konfrontiert, „dessen Gegenwart mich offt mit peinlichen Schmertzen an meine lose Stück erinnert/ die ich zu Amsterdam begangen“.460 Innerhalb der Reisegesellschaft kommt es wiederholt zu Disputen zwischen Katholiken, Reformierten und dem Juden „wegen der Religion“:461 Im Zuge dieser verweist der Jude darauf, laut Kaufmann ein „beschlagen[er]“ „Maußkopff“,462 dass erst unter den Christen Einigkeit herrschen müsse, bevor er sich zum christlichen Glauben bekehren würde, woraufhin der Pater und Pfarrer auf die Uneinigkeit unter den Juden verweisen. Dies mutet vordergründig als Plädoyer für ein tolerantes Miteinander der Religionen an, wie etwa Breuer meint.463 Dass es sich um ein solches jedoch nicht handelt, zeigen nicht nur die Bezeichnungen des Kaufmanns für den Juden, der ‚hartnäckig‘ und somit ‚verstockt‘ auf seinem Glauben beharrt. Auch die anderen Religionsvertreter gehen keineswegs verständnisvoll oder gar tolerant miteinander um, wenn beispielsweise der Reformierte verlacht wird. Insofern mögen hier zwar Missionsbestrebungen von Seiten der Christen eine Absage erteilt werden, zugleich deutet die Einstellung des ‚Religionsgespräches‘ an, dass hier weder zwischen Juden und Christen, noch zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen Einigkeit zu erreichen ist.464
459 460 461 462 463 464
Breuer: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Bd. I/2 (wie Anm. 275), S. 951. Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest II (wie Anm. 275), S. 646. Ebd. Ebd., S. 647. Vgl. Breuer: Antisemitismus und Toleranz (wie Anm. 279), S. 41. So auch Horch (wie Anm. 279), S. 360.
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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Dem Leser werden mithin eindeutige Lesarten versagt, er kann sich nicht mehr blind der Fiktion anvertrauen, sondern muss sich vielmehr selbst ein Urteil bilden. Denn so deutlich die Verworfenheit des Kaufmannes ist, so ambivalent bleibt vor dem Hintergrund der hier angeführten Texte der Religionsdiskurs nicht nur im Vogel-Nest, sondern im gesamten Werk Grimmelshausens. Insofern ist gerade die Unentschiedenheit, die auch gegenläufige Lesarten ermöglicht, kennzeichnend für die Verhandlung des Jüdischen. Die Texte entziehen sich durch poetische Verfahren eindeutiger Stellungnahmen, sodass sie weder als Belege eines frühen Toleranzdenkens des achtzehnten Jahrhunderts noch als Belege eines offensichtlichen Antijudaismus gelten können.465
4.5 Eine ‚positive Judenfigur‘? Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherifs Alekes Seltsame Liebes=Geschichte Zum Abschluss dieses Kapitels sei noch auf einen weiteren Roman eingegangen, der von Seiten der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang keine Aufmerksamkeit erfahren hat. Der vollständige Titel lautet: Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes seltsame Liebes=Geschichte/ so ihnen so wohl in Georgien als anderen unterschiedenen Ländern Asiens und Europae begegnet; nebst kurzen Beschreibungen sothaner Länder/ und der Gewonheiten derselben Einwohner/ zu besserem Verständniß der Geschichte hin und wider mit eingemischet.466 Es handelt sich bei diesem Roman um eine weitgehend wörtliche Übersetzung aus dem Französischen – der anonyme Übersetzer ergänzt das Werk lediglich um eine kurze Vorrede –; die Vorlage stammt von Jean-Baptiste de Chèvremont, der das Werk unter dem Pseudonym Madame D*** herausgab.467 Im Folgenden sei zunächst zur besseren Verständlichkeit eine knappe Inhaltsübersicht vorgestellt, um im Anschluss nach einigen wenigen Bemerkungen zu Form und Konzeption genauer auf die Konstruktion des Jüdischen im Roman einzugehen.
465 Ähnlich auch Horch, ebd., S. 361. 466 [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes seltsame Liebes=Geschichte/ so ihnen so wohl in Georgien als anderen unterschiedenen Ländern Asiens und Europae begegnet; nebst kurzen Beschreibungen sothaner Länder/ und der Gewonheiten derselben Einwohner/ zu besserem Verständniß der Geschichte hin und wider mit eingemischet. Aus dem Frantzösischen übersetzt. Leipzig 1698. 467 [Jean-Baptiste de Chèvremont:] Histoire et les aventures de Kemiski Georgienne par Madame D***. Brüssel 1697.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
Im Zentrum der Handlung steht die Georgierin Kemiski, vorgeblich Enkelin des Kosakenhetmans Bohdan Chmel’nyc’kyj, deren „Vortrefflichkeit alle andere[n] Schönheiten des gantzen Landes“468 übertrifft, sodass die Königin von Imirette sie zusammen mit ihrer Mutter Zencub, die ebenfalls außergewöhnlich schön ist, zu sich auf ihr Schloss kommen lässt und dort in einer schwer zugänglichen Grotte festhält. Der Ruf der Schönheit Kemiskis dringt auch über die Landesgrenzen, sodass der Sohn des Scherifen von Mekka, Alekes, von Kemiski erfährt und sich zum Hof begibt, um sie zu sehen. Aufgrund der strengen Bewachung durch die Königin, gelingt es Alekes erst durch die Hilfe des Juden Octrini, der einen Weg in die Grotte Kemiskis findet, sich heimlich mit ihr zu treffen. Während der verschiedenen Treffen kommt es zu einer doppelten Paarbildung: Das Heldenpaar Kemiski und Alekes sowie die Begleitpersonen Zencub und Octrini werden einander zugeordnet und heiraten. Sie beschließen gemeinsam zu fliehen, doch während der Flucht kommt es zu Verwicklungen, sodass Zencub zurückbleibt und sich Kemiski, Alekes und Octrini ohne sie auf den Weg nach Konstantinopel machen. Zencub gelingt jedoch später ebenfalls die Flucht: Sie gerät jedoch in einen Sturm und kommt schließlich nach Isfahan, wo sie am Hof des Schahs hohes Ansehen erlangt. Alekes und Kemiski – Octrini ist in Smyrna geblieben, wo er seinen Wohnsitz hat – reisen unterdessen weiter nach Mekka. Ihre Karawane wird jedoch von Arabern überfallen. Erst als Alekes dem Anführer Amanzuab, der mit Alekes Vater befreundet ist, seine Identität entdeckt, werden sie freigelassen und Kemiski, die unterdessen von anderen Arabern entführt wurde, befreit. Unter den Entführern befindet sich auch ein Offizier, der von der Königin von Imirette beauftragt wurde, Kemiski zurückzuholen. Dieser weiß, wo sich Zencub befindet und durch eine List kann Zencub vom Hof des Schahs nach Jucotta reisen, wo sie Alekes, Kemiski und Octrini trifft. Octrini und Zencub bleiben schließlich in Smyrna, Alekes und Kemiski reisen nach Mekka. Kemiski ist in Mekka jedoch unglücklich, da Alekes sie zur Konversion zwingen will, und flieht in Verkleidung eines Spahis (arabischer Reiter) nach Smyrna. Dort kommt es zu Verwechslungen in deren Folge Octrini durch einen in Kemiski rasend verliebten Kadi verhaftet wird, da man der Meinung ist, die Juden hätten den Spahi, d.h. Kemiski, ermordet. Erst durch die Einflussnahme Alekes, der nach Smyrna gekommen ist, gelingt es, dass Octrini freigelassen wird und Kemiski und Zencub aus den Fängen des Kadis befreit werden. Alekes und Kemiski versöhnen sich und die zwei Paare gehen nach Chios. Als Alekes und Kemiski sich wieder auf den Weg nach Mekka machen, werden sie wiederum
468 [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski […] Liebes=Geschichte (wie Anm. 466), S. 55.
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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überfallen, gefangen genommen und versklavt. Durch einen Zufall werden sie vom Bruder des Octrini gekauft und freigelassen. Da Octrini im weiteren Verlauf nicht mehr auftritt, sei hier lediglich darauf verwiesen, dass Kemiski noch zweimal entführt und gerettet wird, bis Alekes stirbt. Nach seinem Tod begibt sie sich auf eine Reise nach Candia und Georgien und wird auch während dieser wiederholt Opfer männlicher Begierden. In Mania heiratet sie nochmals, bekommt drei Söhne und begibt sich nach dem Tod des zweiten Mannes schließlich nach Georgien. Sie gibt zwei ihrer Söhne in die Obhut Octrinis und zieht sich in die Einöde zurück, wo sie ihr restliches Leben in frommer Zurückgezogenheit verbringt. Anhand dieser Übersicht wird deutlich, dass dem Roman ein recht einfaches Handlungsschema zugrunde liegt: Kemiski wird aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit sowohl von Männern wie Frauen geliebt, die sie entführen und gefangen halten bis der nächste Verehrer sie befreit bzw. entführt, wiederum gefangen hält bis sie wieder befreit wird usf. (Rasende) Liebe und Eifersucht zu der mit fast überirdischer Schönheit bedachten Frau bilden mithin stets das Handlungsmovens. Der Roman entwirft die Liebe als Fatalität, die über die jeweiligen Individuen hereinbricht und erst der Rückzug ins Eremitendasein kann Kemiski, die sich nun ganz Gott hingibt, aus dieser Spirale des Begehrens befreien. Eingewoben in das Geschehen, das in unmittelbarer Vergangenheit spielt, sind darüber hinaus zum Teil recht umfangreiche Erläuterungen zu Politik und Geschichte und Beschreibungen der verschiedenen Länder und Völker.469 Die Anlage des Romans orientiert sich formal am Modell der Nouvelle historique der französischen Klassik: Darstellung der unmittelbaren Vergangenheit, linear-chronologische Darstellung des Geschehens, weitgehender Verzicht auf Nebenhandlungen, Darstellung historischer Ereignisse, Anspruch auf Wahrheit und Faktizität des Berichteten.470 Zugleich finden sich jedoch auch deutliche Anleihen an den heroisch-galanten Roman: Verwicklungen wie Schiffbruch oder
469 Vgl. beispielsweise die Schilderung des Kosakenaufstandes unter Chmel’nyc’kyj sowie der Bündnispolitik seines Nachfolgers Dorošenko zu Beginn des Romans. Ebd., S. 1–12 und weiter S. 25–52 oder S. 253–270. Da Chèvremont jedoch auf Erläuterungen zur jüdischen Minderheit im Osmanischen Reich verzichtet, erübrigt es sich an dieser Stelle, den Quellen nachzugehen. Es ist jedoch zu vermuten, dass Chèvremont sich auf diplomatische und konsularische wie auch Reiseberichte stützte. Darauf hin deuten Formulierungen wie etwa „Wenn ich den Emir Cencenes Amorza glauben soll/ der mich etliche Tage als eine Geissel bey sich gehabt/ und in der Zeit vielerley gutes erwiesen hat“. Ebd., S. 258. 470 Verwiesen sei zudem darauf, dass mehrere Einzelheiten an den 1678 erschienenen Roman „La Princesse de Clèves“ von Madame de Lafayette erinnern: So übertrifft die Heldin mit ihrer Schönheit alle anderen, sie hat zur Mutter ein besonders vertrauensvolles Verhältnis, es gibt
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Entführungen, Verlegung des Geschehens in den Orient und auch der Umfang von 520 Seiten deutet auf eine Orientierung an der älteren Form des Romans hin.471 Insgesamt kann somit von einer Kontamination von heroisch-galantem Roman und Nouvelle historique ausgegangen werden, die zuweilen jedoch auch Inkonsistenzen zeitigt, etwa wenn die zwei ersten Söhne Kemiskis im Text ‚verschwinden‘, die Königin plötzlich beschließt zu heiraten oder sich Alekes völlig unmotiviert versteckt und so die Flucht verzögert. Mit von Stackelberg wäre Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes […] Liebes=Geschichte wohl den „Trivialromanen“ zuzuordnen,472 dass er dennoch hier beleuchtet werden soll, bedingt sich nicht nur in dem hier verfolgten Anliegen auch ‚vergessene‘ Dokumente in die Analyse einzubeziehen, sondern vor allem in der Figur des Juden Octrini, die gegenüber den bisher betrachteten Figuren immens aufgewertet wird, wenn er die Mutter der Heldin heiratet. Dennoch erscheinen die Juden im Roman zunächst als den anderen Figuren nicht ebenbürtig, wenn der Erzähler anführt, dass in Georgien die Armenier als die reichsten Handelsleute verachtet würden: Die Georgianer halten sie sonst wegen einer natürlichen Antipathie, welche sich zwischen ihnen findet/ sehr verächtlich/ und sind bey ihnen fast eben das/ was bey uns die Juden.473
Die Juden dienen hier als Vergleichsobjekt, durch das das Geschehen in der Ferne dem Erfahrungshorizont des Rezipienten angenähert wird. Zugleich wird jedoch durch den Vergleich, auch wenn hier nicht Juden, sondern Armenier diffamiert werden, die Differenz zwischen Juden und Christen festgeschrieben und auf „natürliche[..]“ Ursachen zurückgeführt. Die hier vorgenommene Abwertung der Juden wird im weiteren Verlauf nicht zurückgenommen, auch wenn Octrini zunächst als gleichwertiger Partner von Alekes eingeführt wird: Alekes, der nicht weiß, wie er zu Kemiski gelangen soll,
eine – zumindest zeitweise – Abneigung zwischen den Ehepartnern und auch Kemiski zieht sich am Schluss zurück. 471 Vgl. einführend zum Modell der Nouvelle historique und zum heroisch-galanten Roman der französischen Klassik Jürgen von Stackelberg: Die französische Klassik. Einführung und Übersicht. München 1996, S. 158–189; Andrea Grewe: Die französische Klassik. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 17. Jahrhunderts. Stuttgart u.a. 1998, S. 69–79, 124–129 sowie Jürgen Grimm, Das ‚klassische Jahrhundert‘. In: Französische Literaturgeschichte. Hg. von Jürgen Grimm. Stuttgart 1989, S. 136–180, insb. S. 152f., 169–171. 472 Vgl. zu diesen, wenn auch ohne Bezug auf den vorliegenden Roman von Stackelberg (wie Anm. 471), S. 181–189. 473 [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski […] Liebes=Geschichte (wie Anm. 466), S. 50f.
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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trifft ihn bei einem Spaziergang am Hafen. Sie sind sich bereits bekannt und so schärft der inkognito reisende Alekes ihm ein,474 ihn nicht zu verraten. Einige Tage später erzählt Alekes Octrini von seinem Verlangen nach Kemiski, der sogleich „allen möglichen Beystand und Hülffe“475 verspricht. Auffällig ist, dass Octrini sich nicht aufgrund der Stellung von Alekes – kann dieser ihn doch, wie später deutlich gemacht wird, auch zwingen – hilfsbereit zeigt, sondern weil dieser „mit so verliebten und empfindlichen Minen“476 von Kemiski spricht. Das Verhältnis zwischen Octrini und Alekes beruht folglich zunächst auf gegenseitigem Vertrauen, Octrinis Judentum spielt keine Rolle. Auf auktorialer Ebene wird die Differenz jedoch deutlich markiert, wenn Octrini häufig als „der Jude“ bezeichnet wird,477 was umso auffälliger erscheint, als die anderen Figuren meist mit ihrem Namen bezeichnet werden.478 Die hier implizit deutlich gemachte Differenz findet sich sodann auch auf der Handlungsebene wieder, wenn das Verhältnis zwischen Octrini und Alekes gerade durch die dem Juden zugeschriebene geringere Stellung und das schlechte Ansehen der Juden gestört wird. So stellt Octrini – charakterisiert als „sehr verschlagen und muntern Geistes“,479 ohne dass dies jedoch negativ konnotiert wäre – umfangreiche Nachforschungen an, die auch durchaus erfolgversprechend zu sein scheinen. Dessen aber ungeacht war er in einem verwirrten Zustande/ indem ers mit einem mächtigen/ und zugleich verliebten Türcken zuthun hatte/ der ihm zwar gantze Hände voll Gold gabe/ damit er ihn anfrischen möchte; dabey aber ihn einer grossen Nachlässigkeit beschuldigen könte/ in Ansehung des Mißtrauens/ welches die Ottomannen gleichsam von Natur wider alle Juden haben/ indem er so fürnehm war/ daß er ihn ohne alle Gnade durffte zu tode prügeln lassen/ und solches zwar ungerochen/ wenn er sich nur wolte kunt geben.480
Verwiesen wird hier auf die schwierige rechtliche Situation der Juden im Osmanischen Reich,481 waren sie doch, auch wenn sie im Verhältnis zu den absolutistischen Staaten Mittel- und Westeuropas ein höheres Maß an Sicherheit genossen, ebenso wie Christen, als ḏimmīs (Ungläubige) Verfolgungen und Repressionen 474 Es bleibt offen, warum Alekes sich als Kaufmann ausgibt und nicht unter seinem wahren Namen reist. 475 [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski […] Liebes=Geschichte (wie Anm. 466), S. 80. 476 Ebd., S. 80. 477 Vgl. beispielsweise ebd., S. 89, 107, 119, 121. 478 Eine der wenigen Ausnahmen bildet das folgende Zitat, in dem Alekes als „verliebte[r] Türcke[…]“ bezeichnet wird. Ebd., S. 108. 479 Ebd., S. 107. 480 Ebd., S. 108f. 481 Vgl. auch ebd., S. 229, wo betont wird, dass Alekes in Smyrna Octrini und dessen „Leuten“ „zubefehlen hatte/ als wenn sie seine eigene wären.“
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ausgesetzt.482 Wichtiger aber noch ist, dass das Verhältnis zwischen Octrini und Alekes nicht wie anfänglich suggeriert auf Freundschaft oder gegenseitiger Achtung gründet, sondern vielmehr auf Repression und Angst. Aus diesem Grund verstärkt Octrini sodann auch seine Bemühungen, einen Weg zu Kemiski zu finden, was ihm schließlich gelingt. Er begibt sich auf den Felsen, wo Kemiski und Zencub festgehalten werden, und kann ein Gespräch zwischen ihnen belauschen, in dem sie sich über mögliche Wege aus der Gefangenschaft unterhalten. Zencub führt an, dass man sich in Gefahr begebe, wenn man auf einem unbekannten Schiff fliehe, denn „was wolten wir wohl vor andere als Türckische/ Persianische oder Juden=Schiffe finden? Und ich habe vor allen diesen Völckern einen gleichen Abscheu [...]“.483 Im Anschluss wird Octrinis Reaktion auf diese Worte dargestellt: Er konte sich des Lachens nicht enthalten/ wie er von der Kemiski [eigentlich Zencub; Anm. V.G.] hörete/ daß sie einen so grossen Abscheu vor seiner Secte hätte/ und wuste sie Ursache desselben nicht zuerrathen/ insonderheit weil er zu den Juden gehörete/ welche man in denen Morgenländern die Christianisirten nennet/ weil sie sich gar leicht mit allerhand Arten von Leute und religionen vertragen können/ in dem sie nicht von denjenigen scrupeln halten/ welche ihre Lehre von ihnen erfordert.484
Dieser Hinweis auf Octrinis „Secte“ ist bedeutend, ist er doch Voraussetzung dafür, dass er später Zencub – trotz seines Judentums – heiraten kann: Die
482 Dies gegen die simplifizierende Behauptung, dass Juden und Muslime unter islamischer Herrschaft friedlich und harmonisch zusammenlebten. Vgl. dazu einführend Mark R. Cohen: Unter Kreuz und Halbmond. Die Juden im Mittelalter. München 2005, der feststellt: „In der islamischen Welt galten Juden und Christen, obwohl sie als ḏimmīs Schutz genossen, als Ungläubige und hatten Demütigungen und verächtliche Behandlung von seiten der dominierenden Gruppe zu erdulden. Das enstsprach der Auffassung ihrer religiösen Inferiorität und ihres niederen Rangs in der Hierarchie der islamischen Gesellschaft. Dennoch überschritten die Juden unter islamischer Herrschaft im Alltag regelmäßig die Grenzen der Hierarchie und nahmen, wenn auch nur zeitweilig und bisweilen in loser Form, faktisch gleichwertig mit Muslimen der gleichen Schicht am gesellschaftlichen Leben teil. Obgleich sie stets Gefahr liefen, sich den Zorn der Muslime zuzuziehen oder sogar verfolgt zu werden, genossen die Juden doch während der Entstehungszeit und der klassischen Epode des Islam ein erhebliches Maß an Sicherheit.“ Ebd., S. 200. Vgl. zur sozial-politischen Stellung der Juden unter osmanischer Herrschaft weiter auch Bernard Lewis: Die Juden in der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. München 2004, insb. S. 124–139; Avigdor Levy: Introduction. In: The Jews of the Ottoman Empire. Ed. by Avigdor Levy. Princeton, Washington D.C. 1994, S. 1–150 sowie Benjamin Braude, Bernard Lewis (Hgg.): Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society. Vol. 1: The Central Lands, Vol. 2: The Arabic-Speeking Lands. New York, London 1982. 483 [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski […] Liebes=Geschichte (wie Anm. 466), S. 114f. 484 Ebd., S. 119f.
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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Differenz zwischen den Religionen wird hier eingeebnet und durch Octrinis „angepasste“ Religion wird eine spätere Zusammenkunft erst ermöglicht. Zugleich werden Zencubs antijüdische Vorurteile aber nicht unterlaufen, betreffen doch die Vorurteile nicht Octrini, der kein ‚richtiger‘ Jude, sondern vielmehr schon ‚fast‘ Christ ist. Gerade dieser Umstand qualifiziert ihn folglich sowohl zur Heirat mit Zencub als auch zur späteren Aufsicht über Kemiskis Söhne. Dennoch bleibt Octrini ein Teil seiner ‚jüdischen Identität‘ erhalten, wenn sich alle in Erscheinung tretenden Juden allein und ausschließlich durch ihr Besitzstreben auszeichnen, Geldgier mithin zum integralen Bestandteil der ‚jüdischen Identität‘ erhoben wird. So auch bei Octrini, der sich zunächst weigert, nochmals den gefährlichen Weg zu Kemiski und Zencub auf sich zu nehmen, da er dort nur Mühe, aber keine „Ergetzung“485 fände. Octrini ist hier kein selbstloser Helfer eines Verliebten, sondern ein ökonomisch Denkender, der stets auf seinen Vorteil bedacht ist. Erst als Alekes den „verfluchte[n] Jude[n]/ welcher zum Dienst und Gehorsam der Ottomannen gebohren“,486 bedroht, willigt Octrini ein, mit Alekes zu Kemiski und Zencub zu gehen. Bei dem anschließenden Treffen der vier Personen weist Kemiski, deren Verbindung mit Alekes von vornherein feststeht, ihrer Mutter Zencub den Juden Octrini zu, womit sich beide einverstanden erklären – sein Judentum, vor dem Zencub eigentlich einen „Abscheu“487 hat, spielt hier keine Rolle mehr. Es bleibt unklar, wie es zu dem plötzlichen Gesinnungswandel kommt, eine Begründung erfährt er nicht. Diese Leerstelle ist wohl darauf zurückzuführen, dass der Leser schon informiert ist, dass es sich bei Octrini um keinen streng gläubigen Juden handelt, sondern um einen „Christianisirten“.488 Zudem erklärt sich Zencub mit der Wahl einverstanden, nicht weil sie Octrini als Person wertschätzt, sondern vielmehr aufgrund der durch ihn versprochenen Freiheit: Zencub fand hingegen an der Person des Octrini so viel/ daß sie ihre Neigungen zu demselben wohl rechtfertigen konte/ sie liebete die Freyheit/ sie suchete darinne ihr höchstes Gut/ und dieses war genung [sic] einen solchen Menschen zu lieben/ dem sie dieselbe einzig und allein zu dancken hatte/ und der ihr eine ewige Liebe zuschwohre.489
Octrini selbst liebt Zencub aufgrund ihrer Schönheit, dennoch spielen auch andere Motive eine Rolle, wenn explizit erwähnt wird, dass sie ihm „mehr wegen 485 486 487 488 489
Ebd., S. 140. Ebd. Ebd., S. 115. Ebd., S. 120. Ebd., S. 150.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
ihrer Schönheit/ als wegen des grossen Reichthums/ welchen sie ihme übergabe/ noch viel lieber“490 sei. Auffällig ist hier, dass sich Octrini weniger am Besitz Zencubs interessiert zeigt, als an ihrer Schönheit. Das mit Blick auf vergleichbare Romane – beispielsweise von Happel oder Bucholtz – naheliegende Stereotyp der Geldgier wird mithin zunächst zurückgewiesen. Dennoch wird Octrini immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, wenn beispielsweise Kemiski gegenüber Octrini – und bezeichnenderweise nicht gegenüber Alekes – darauf beharrt, dass sie ihren Besitz behalten wolle491 oder sich Octrini nicht nur über die Heirat mit Zencub freut, sondern auch über ihren Reichtum, „welches ein vortrefflicher Umstand in dem Gemüthe eines geitzigen und verliebten Judens war“.492 Die zunächst nur angedeutete und sich nur allmählich offenbarende Geldgier Octrinis zeigt sich schließlich deutlich, als er sich bei dem Wiedersehen mit Kemiski sogleich und ausschließlich nach dem Fortgang der Geschäfte erkundigt, da er „begierig nach dem Gewinn“ sei.493 Im Hinblick auf Octrinis jüdische Identität ist es auffällig, dass sich ausschließlich er selbst sowie die anderen jüdischen Figuren durch dieses Laster auszeichnen. Auch wenn die Geldgier nicht Octrinis bestimmende Eigenschaft ist, erscheint sie insofern als Alleinstellungsmerkmal der Juden. So werden nicht nur alle jüdischen Figuren im Roman als Händler vorgestellt, sondern sie sind dabei stets allein auf ihren Vorteil und Gewinn bedacht. Beispielhaft sei der Bruder Octrinis angeführt, der „nach der geitzigen Gewonheit dieser Leute/ etwas erschacheren will“.494 Verbunden mit dem Vorwurf der Geldgier wird darüber hinaus noch ein weiteres antijüdisches Stereotyp: ‚jüdischer Verrat‘ bzw. ‚jüdische Spionage‘. So bedient sich der Offizier, der im Auftrag der Königin Zencub und Kemiski verfolgen soll, eines jüdischen Spions495 und auch Don Jeronimo, der in sich ebenfalls rasend in Kemiski verliebt, greift auf solche zurück, wie denn diese Leute sich lieber in tausend Stücken zerhacken liessen/ ehe sie das Geringste bekennen sollten/ was man ihnen vertrauet/ wenn man sie nur dabey wohl bezahlet […].496
Die ‚jüdische Geldgier‘ führt mithin dazu, dass sich Juden als Spione verdingen und zu Helfern verderblicher Machenschaften werden. Dies betrifft auch Octrini,
490 491 492 493 494 495 496
Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 193. Ebd., S. 195. Ebd., S. 302. Ebd., S. 340. Vgl. ebd., S. 249. Ebd., S. 453.
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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der in seiner Funktion als Helfer des Alekes letztlich auch dazu beiträgt, dass Kemiski zum Opfer männlicher Begierde wird. In Smyrna, wohin Kemiski in Verkleidung eines Spahi reist, kommt es schließlich zu folgenreichen Verwechslungen, in deren Folge Octrini und seine Mutter festgenommen werden. Lautet die Anklage zunächst nur auf Beleidigung – „weil die Juden von alle dem/ was in ihren Häusern vorgienge/ Rede und Antwort zugeben schuldig wären/ so müsten auch diese darüber gestraffet werden/ daß ein Muselmann bey ihnen beschimpfet worden“497 – wird diese später auf Mord ausgeweitet. In diesem Zusammenhang verweist der Erzähler nochmals auf die prekäre rechtliche Situation der Juden: Wiewohl nun die Juden so unter der Bothmäßigkeit der Ottomannen leben/ wegen der geringsten Ursachen/ so sie nur hervor suchen können/ von den Obrigkeitlichen Bedienten sehr hart gedrucket werden […].498
Auch wenn diese Einlassung vordergründig wie eine Anklage der Unterdrückung der Juden anmutet, steht im Zentrum doch vielmehr die rechtliche und soziale Verfasstheit des osmanischen Reiches und so wird das harte Vorgehen gegen die Juden auch entschuldigt, wenn der Erzähler darauf aufmerksam macht, dass die Anklage durchaus begründet sei: […] so war doch diese Auflage nicht ohne allen Grund: Octrini bekennete daß er den Spahis bey der Zoll=Buden gesehen/ seine Mutter gestunde/ daß sie denselben hinein gelassen/ und diese Bekäntniß wurden durch eine fast untrügliche Muthmassung bekräfftiget/ denn der Bey hatte das canal, welches unter des Octrini Hause weg gieng/ mit einer brennenden Fackel durchsuchen lassen/ worinne man die Kleidung des Spahis nebst seinem Seebel und Affricanischen Bunde gefunden hatte.499
Angesichts dieser Hinweise auf die ‚Schuld‘ einzelner Juden, erscheint es dann auch gerechtfertigt, eine Geldstrafe von der jüdischen Gemeinde „zuerpressen“.500 Mitleid mit den Juden ob ihrer rechtlichen Situation und der ungerechtfertigten Anklage wird mithin nicht geübt. Bemerkenswert ist weiterhin, dass explizit darauf verwiesen wird, dass Zencub um „ihre[n] Mann[..]“501 fürchtet, obwohl er sie zwingen wollte, zum Judentum zu konvertieren. Er wurde mithin eidbrüchig, hatten doch sowohl Alekes wie
497 498 499 500 501
Ebd., S. 309. Ebd., S. 312. Ebd., S. 312f. Ebd., S. 313. Ebd., S. 314.
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4 Konstruktionen des Jüdischen im Roman des siebzehnten Jahrhunderts
Octrini den Frauen versprochen, dass sie sie keinem religiösen Zwang aussetzen würden. Dennoch fühlt sich Zencub verpflichtet, ihrem Mann treu zu bleiben und ihm beizustehen. Hier werden jedoch nicht vermeintliche Missionsbestrebungen der Juden kritisiert, denn Alekes wollte Kemiski ja ebenfalls zur Konversion zwingen und auch der Schah zwingt Zencub dazu, sich beschneiden zu lassen, sodass sie ihr Christentum nur noch im Geheimen ausüben kann. Eine Bedrohung der religiösen Selbstbestimmung geht mithin sowohl von Islam wie Judentum aus. Dies wird jedoch nicht religiös-theologisch begründet, sondern erscheint vielmehr – auf Grundlage einer jansenitischen Liebeskonzeption – als Folge rasender, männlicher Liebe, die dazu führt, dass beide Männer den Frauen Eide leisten, die sie später nicht einhalten, und die Frauen von der Ausübung ihres christlichen Glaubens abhalten. Dennoch bleibt Zencub bei Octrini, der schließlich von Alekes aus dem Gefängnis befreit wird, und Kemiski gibt später sogar zwei Söhne in seine Obhut – jedoch unter der Bedingung, dass sie im griechischorthodoxen Glauben erzogen werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Konstruktion der jüdischen Figuren im Roman Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes […] Liebes=Geschichte durchaus ambivalent gestaltet. So werden wiederholt antijüdische Stereotype aufgegriffen und insbesondere die Geldgier erscheint, da sich keine andere Figur dieses Lasters schuldig macht, nicht nur als ‚typisch jüdische Eigenschaft‘, sondern vielmehr als Alleinstellungsmerkmal. Da dieses jedoch keinen Einfluss auf die Handlung hat, ist vor dem Hintergrund, dass in den bisher beleuchteten Texten Judentum und ‚Geldgier‘ häufig zusammengedacht werden – verwiesen sei beispielhaft auf den Terminus „Judenspieß“ –, zum einen zu vermuten, dass das Motiv eingefügt wurde, um einer vermeintlichen Erwartungshaltung des Lesers entgegenzukommen, zum anderen, um das sich in exotischer Ferne ereignende Geschehen durch den Rekurs auf bekannte Stereotype wahrscheinlicher zu machen. Auffällig ist, dass die jüdische Religion keine Rolle spielt. So wird die religiöse Differenz zwar im Zusammenhang mit dem von Alekes und Octrini ausgeübten Konversionsdruck aufgegriffen, doch bleibt dieses vor allem im Falle von Zencub und Octrini folgenlos. Auch der von Alekes ausgehende Druck dient lediglich dazu, eine weitere Entführungshandlung einzuleiten, nicht um die religiöse Differenz zu reflektieren. Ausgehend von der Absenz moral-theologischer Erläuterungen – dies betrifft sowohl Judentum wie auch Islam und griechischorthodoxen Glauben – erscheint es dann auch unproblematisch, Bindungen und Ehen über die Religionsgrenzen hinaus einzugehen. Trotz des Aufrufens und der Affirmation antijüdischer Stereotype – wie im Übrigen auch antiislamischer – wird die Figur des Juden vor dem Hintergrund der bisher beleuchteten Texte damit aufgewertet. Differenz wird hier nicht mehr über die religiöse Zugehörigkeit
4.5 Der Georgianischen Kemiski […] Seltsame Liebes=Geschichte
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hergestellt, wenn die religiösen Grenzziehungen verwischen und Octrini nicht mehr durch die religiöse Zugehörigkeit zum Außenseiter wird. Durch die Heirat mit Zencub und als Ziehvater der Söhne Kemiskis wird er zum, wenn auch nicht gleichwertigen, so doch gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft und ist insofern durchaus mit Aaron des Rathstübel Plutonis vergleichbar. Ermöglicht wird die Einbeziehung der jüdischen Figur in die Gesellschaft vor allem durch die Verlegung des Geschehens in den exotischen Raum, ist hier doch – wie am utopischen Ort unter der Linde am Sauerbrunnen –, wie Simons in Bezug auf den sogenannten asiatischen Roman feststellt, „so gut wie alles möglich“.502
502 Olaf Simons: Marteaus Europa oder Der Roman, bevor er Literatur wurde. Eine Untersuchung des deutschen und englischen Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720. Amsterdam, Atlanta 2001 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 52), S. 458.
5 Von Mördern, Pfandleihern und der Erkenntnis von Schein und Sein: Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne Die Dramatik der Frühneuzeit stellt eine Experimentierphase dar und ist reich an Neugründungen; denn es werden nicht nur die innerliterarischen Anregungen aus der antiken Komödie und Tragödie, erst der lateinischen, dann auch der griechischen, aufgenommen und adaptiert, nicht nur wirken die Traditionen des mittelalterlichen Geistlichen Spiels und der Moralität weiter, sondern dazu kommt auch eine neue, breit angelegte Hinwendung zu biblischen Materien, zur Geschichte, Hagiographie, der Mythologie und weiteren Stoffbereichen und Erzählformen, aber zugleich auch die Aufnahme von außerliterarischen aktualen Phänomenen, von Elementen der jeweiligen Lebenswelt, der Politik, der Konfessionalisierung, der Ordnung der sozialen Stände und diverser Lebenssituationen, wodurch neue Formen für das Drama und Theater gefunden, alte Gattungsgrenzen übersprungen werden.1
Drama und Theater der Frühen Neuzeit stellen mithin ein in sich differenziertes, hochkomplexes Phänomen dar, ist doch durch eine immense Formenvielfalt keine einheitliche Gattung und damit keine Einheitlichkeit des Untersuchungsgegenstandes gegeben. Aber gerade angesichts dieser vielschichtigen und heterogenen Erscheinung stellt sich notwendig die Aufgabe, so Meier und Ramakers weiter, die konzeptionellen Leistungen und Kommunikationsabsichten, darin vermittelte Wertvorstellungen und Bedeutungen zu analysieren und sie auf gesellschaftliche Kontexte zu beziehen.2 Einen geeigneten Ansatzpunkt für die Analyse dieses Phänomens stellen nach Meier und Ramakers Figuren dar. So liefern diese – neben Raum, Zeit und Handlung – wesentlichen Konstituenten des dramatischen Textes3 in Bezug auf ihre Auswahl und Konzeption Indizien und Hinweise auf Problemkonstellationen und Wertediskurse, die auf der Bühne verhandelt werden.4 Diesem Ansatz folgend, soll nun exemplarisch anhand der Figur ‚des Juden‘ aufgezeigt werden, wie 1 Christel Meier, Bart Ramakers: Akteure und Aktionen im Drama der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. In: Akteure und Aktionen. Figuren und Handlungstypen im Drama der Frühen Neuzeit. Hg. von Christel Meier, Bart Ramakers, Hartmut Beyer. Münster 2008 (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496 23), S. 9–31, Zitat S. 9. 2 Vgl. ebd., S. 10f. 3 Hier ist darauf hinzuweisen, dass vor allem ‚Figur‘ und ‚Handlung’ in einem Interdependenzverhältnis stehen (Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 112001, S. 220). So sind für bestimmte Figuren Handlungen festgelegt, z.B. bei biblischen Figuren, doch wird das Aktionsrepertoire dieser Figuren stets nach Maßgabe der Aussageintention angepasst. 4 So Meier, Ramakers (wie Anm. 1), S. 11.
5.1 Christoph Blümels Der Jude von Venetien
271
über Figuren Sinnpotentiale des dramatischen Textes erschlossen werden können und die spezifische Aussageintention erst deutlich wird.5 Der Untersuchung zugrunde liegen dabei unterschiedliche dramatische Formen – Wanderbühne, Jesuitendramatik, Schulkomödie oder auch Opern –, um sich so zum einen der angesprochenen Formenvielfalt zumindest zu nähern, zum anderen um verschiedene Konzeptionen der Figur ‚des Juden‘ aufzuzeigen. Dass die Analyse auch in diesem Falle exemplarisch verfahren muss, versteht sich von selbst.
5.1 Zwischen Shylock und Barrabas: Christoph Blümels Der Jude von Venetien Am Anfang der Untersuchung zu Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne soll ein Wanderbühnenstück stehen, welches sich großer Beliebtheit erfreute: Der Jude von Venetien6 von Christoph Blümel aus der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts.7 Diese Anordnung ist vor allem gattungsgeschichtlich begründet, waren es doch die englischen Wandertruppen, von denen im letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts wesentliche Impulse auf die Entwicklung der deutschen Komödie ausgegangen sind.8 Doch trotz des großen Einflusses der englischen und später auch deutschen
5 Vgl. zu dem hier verfolgten Ansatz, über die Figurenanalyse Sinnpotenziale zu erschließen, Meier, Ramakers (wie Anm. 1), S. 9–16. 6 Im Folgenden wird nach dem Druck bei Flemming zitiert: Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien/ Componiert von Christoph Blümel studioso Silesiens. In: Das Schauspiel der Wanderbühne. Hg. von Willy Flemming. Leipzig 1931 (Deutsche Literatur, Reihe Barock. Barockdrama 3), S. 204–276. Im Folgenden wird bei Zitaten und Verweisen hinter der Seitenzahl auch Akt und Szene angegeben. 7 Bolte hat die Entstehungszeit um 1660 und wahrscheinlich nach 1654 datiert. Vgl. Johannes Bolte: Der Jude von Venetien, die älteste deutsche Bearbeitung des Merchant of Venice. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 22 (1887), S. 189–201, hier S. 197. Och datiert das Manuskript auf die Zeit der Wiener Judenvertreibung 1669/70 und ordnet es aufgrund seiner stark ausgeprägten judenfeindlichen Tendenz der damaligen Hetzkampagne zu. Vgl. Gunnar Och: Imago Judaica. Juden und Judentum im Spiegel der deutschen Literatur 1750–1812. Würzburg 1995, S. 183f. Grundsätzlich ist festzustellen, dass sowohl die Karlsruher wie auch die Wiener Fassung aus dem späteren siebzehnten Jahrhunderts datieren, was sich insbesondere an der Sprachbehandlung festmachen lässt. Vgl. Daniel Fulda: Schau-Spiele des Geldes. Die Komödie und die Entstehung der Marktgesellschaft von Shakespeare bis Lessing. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 102), S. 107. 8 Zur Wanderbühne bzw. den Englischen Komödianten vgl. einführend Ralf Haekel: Die Englischen Komödianten in Deutschland. Eine Einführung in die Ursprünge des deutschen Berufsschauspiels. Heidelberg 2004 (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 212); Anna Baesecke: Das
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Wanderbühnen und der bereits in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts erschienenen Sammlungen,9 ist heute nur ein Bruchteil der Stücke bekannt.10 Diese schwierige Quellenlage zeigt sich auch bei dem hier zu besprechenden Stück, sind doch mehrere Aufführungen belegt, aber nur zwei Handschriften überliefert.11 Eine erste Aufführung des Spiels Von dem Juden scheint bereits 1607 gewesen zu sein – Stahl vermutet, dass hier der Merchant of Venice mit Elementen des Jew of Malta durchsetzt wurde.12 1608 wurde in Graz die Komödie von einem König von Cypern und von einem Herzog von Venedig gespielt, 1611 in Halle die Teutsche Komedia der Jud von Venedig, aus dem engelländischen, für 1626 und 1674 sind Aufführungen der Comödia von Josepho Juden von Venedigk sowie die Tragoedia von Barrabas, Juden von Malta nachweisbar, 1651 wurde in Prag Von dem König von Cypern und dem Fürsten aus Venetia gespielt. Des Weiteren führt die Liste, auf der Magister Velten das Repertoire seiner Truppe als Angebot für sein Gastspiel am Heidelberger Hof 1679 zusammengestellt hat, neben weiteren Stücken auch Der reiche Jude von Venedig auf.13 Die Zahl dieser belegten Aufführungen macht
Schauspiel der englischen Komödianten in Deutschland. Halle 1935 (Studien zur englischen Philologie 87); Eckehard Catholy: Das deutsche Lustspiel. Vom Mittelalter bis zum Ende der Barockzeit. Stuttgart u.a. 1969, S. 113–146. 9 [Friedrich Menius:] Englische Comedien und Tragedien. Das ist: Sehr Schöne/ herrliche vnd außerlesene/ geist- und weltliche Comedi vnd Tragedi Spiel […]. [Leipzig] 1620; [Anonym:] Liebeskampff Oder Ander Theil der Englischen Comoedien vnd Tragoedien […]. [Leipzig 1630]. 10 Ebenso ist der Schwerpunkt des Wandertruppenspiels, das Aktionstheater, heute nicht mehr greifbar. 11 Neben dem in Karlsruhe aufgefundenen Manuskript „Der Jude von Venetien“, auf dem der Druck bei Flemming beruht, ist auch die Wiener Handschrift „Comoedia Das Wohl Gesprochene Uhrtheil Eynes weiblichen Studenten oder Der Jud von Venedigk“ (Abdruck bei Johannes Meissner: Die englischen Komödianten in Oesterreich. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 19 [1884], S. 113–154, hier S. 131–189) erhalten geblieben. Diese Version unterscheidet sich nur geringfügig von ersterer: So ist abgesehen von der verschiedenen Szeneneinteilung im zweiten und fünften Akt nur die Pickelhäringsrolle an zwei Stellen erheblich erweitert, die übrigen Differenzen betreffen nur einzelne Wendungen und Ausdrücke. Des Weiteren lässt sich „Der Jude von Venetien“ zuverlässiger datieren und so wurde diesem Dramentext bei der Analyse Vorrang gegeben. Zu den Differenzen vgl. Bolte: Der Jude von Venetien (wie Anm. 7), S. 200. 12 Vgl. Ernst Leopold Stahl: Shakespeare und das deutsche Theater. Wanderung und Wandelung seines Werkes in dreiundeinhalb Jahrhunderten. Stuttgart 1947, S. 10f. 13 Vgl. Johannes Meissner: Die englischen Komödianten in Oesterreich. In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 19 (1884), S. 132–136; Albert Cohn: Shakespeare in Germany in the sixteenth and seventeenth centuries. An Account of English Actors in Germany and the Netherlands of the plays performed by them during the same period. Wiesbaden 1865 [Neudruck 1967], S. LXXXIX–CXVI sowie Stahl (wie Anm. 12), S. 30. Darüber hinaus reicht die Aufführungsgeschichte bis in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts: So sah es Lessing auf einer Breslauer Bühne. Vgl. Och (wie Anm. 7), S. 160f. und weiter S. 55.
5.1 Christoph Blümels Der Jude von Venetien
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die große Beliebtheit des Stoffes deutlich und zeigt zugleich, dass die Wanderbühnenstücke einer ständigen Entwicklung unterworfen waren. Daneben dokumentieren die verschiedenen Titel aber auch einen aktiven Rezeptionsprozess: In der Entwicklung der Wanderbühne wurden Elemente verschiedener Tragödien und Komödien miteinander kombiniert, sodass man nicht, wie noch die ältere Forschung,14 von einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zwischen Shakespeares Merchant of Venice, Marlowes Jew of Malta und Der Juden von Venetien ausgehen kann, sind doch die Bezüge zwischen den Manuskripten der Wanderbühne oft stärker als zu den englischen Prätexten,15 sodass das Stück, wie Fulda deutlich gemacht hat, als Text sui generis zu beurteilen ist.16
14 So z.B. Bolte: Der Jude von Venetien (wie Anm. 7). Scheit gibt zudem die Möglichkeit zu bedenken, dass sowohl Shakespeares Stück wie dem der Wanderbühne ein drittes, älteres zugrunde liegt, das verloren gegangen ist: „The Jew“ von 1579. Vgl. Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg i.Br. 1999, S. 143, Anm. 56. Vgl. weiter zu diesem Stück und anderen möglichen Vorlagen Shakespeares: John Gross: Shylock. Four Hundred Years in the Life of a Legend. London 1992, S. 7–19. Eine weitere Vorlage mag die Komödie „Moschus“ von Jacob Rosefeldt gewesen sein, die ebenfalls – wie Bolte betont hat – keine direkte Abhängigkeit vom „Merchant of Venice“ aufweist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich hier um eine Dramatisierung des bekannten Motivs vom Fleischpfand handelt (vgl. dazu oben, S. 74–78). Eine direkte Abhängigkeit zu Blümels „Der Jude von Venetien“ lässt sich ebenfalls nicht ausmachen. Vgl. Jacob Rosefeldt: Moschvs. Comoedia Nova Histrionicè tornata et Adornata ad nvptias v. clariss. & consvltiss. Caroli Starcci, V.I.D. et Virginis lectißsimae pudicißimaeque Ivlianae. […] Ad diem 12. Iulij. Jena 1599. Zu diesem Stück siehe Johannes Bolte: Jakob Rosefeldt’s Moschus, eine Parallele zum Kaufmann von Venedig. In: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft 21 (1886), S. 187–210. 15 So finden sich in verschiedenen Spielen sehr ähnliche lazzi, die belegen, wie Elemente der verschiedenen Komödien und Tragödien miteinander kombiniert wurden. Beispielhaft seien zwei lazzi angeführt, die die Gefräßigkeit des Narren zum Thema haben. So bekommt Hans in „Tiberius und Anabella“ (Tiberius von Ferrara und Anabella von Mömpelgard. In: Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895 [Theatergeschichtliche Forschungen 12], S. 177–218, hier S. 196f.) eine übermäßig hohe Rechnung für Speisen und Getränke präsentiert, die von Tiberius beglichen wird. Auch im „Tugend- und Liebesstreit“ (Tugend- und Liebesstreit. In: Die Schauspiele der englischen Komödianten. Hg. von Wilhelm Creizenach. Berlin, Stuttgart 1889 [Deutsche National-Litteratur 23], S. 71–124, hier S. 95f.) begleicht der Herzog die Rechnung – hier wurde der lazzo jedoch leicht abgeändert, sodass er große Ähnlichkeit mit jenem im „Juden von Venedig“ hat (Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien [wie Anm. 6], S. 220–222). Vgl. dazu Haekel (wie Anm. 8), S. 138–141. 16 Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 107f. Haekel weist zudem darauf hin, dass das Motiv der verkleideten Liebenden Bezüge zum „Tugend- und Liebesstreit“ bzw. zu „Twelth Night“ sowie zur Komödie des „Königssohnes von England und der Königstochter von Schottland“ herstellt. Vgl. Haekel (wie Anm. 8), S. 138. Bezüge zu Marlowes „Jew of Malta“ ergeben sich vor allem aus der Namensgebung des Juden sowie der Bedrohung Zyperns durch die Türken.
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Grundsätzlich sei jedoch im Anschluss an Fulda auf folgende Unterschiede und Verschiebungen gegenüber der Vorlage des Merchant of Venice verwiesen:17 So bewahrt das Wanderbühnenstück zwar das Motiv der Kreditaufnahme gegen ein Pfand von einem Pfund Fleisch und auch hier rettet die Protagonistin in Verkleidung eines Juristen ihren Geliebten vor dem Tod und bringt damit den jüdischen ‚Wucherer‘ um seinen Gewinn. Gestrichen ist jedoch die Handlung um die Tochter des Juden und ihren Geliebten, um den Diener des Juden und seinen Vater sowie die Kästchenwahl und die Ringepisode. Weiterhin gestrichen sind die venezianischen Freunde der Hauptfigur, die in Blümels Stück von einem Diener, Pickelhäring, begleitet wird, in welchem sich die Funktionen der Freunde vereinigen. Ebenfalls zu einer Figur verschmolzen sind Antonio und Bassanio: Der Prinz von Zypern agiert sowohl als Brautwerber wie auch als Kreditnehmer. Eine Ausweitung erfährt hingegen der imaginierte Raum: Das Stück spielt zwar hauptsächlich in Venedig, doch beginnt es mit einer Staatsszene am zypriotischen Hof.18 Der Jude von Venetien stellt mithin eine Haupt- und Staatsaktion mit dominanter Liebeshandlung dar.19 Die Streichung bzw. Zusammenziehung von Figuren gegenüber der Shakespeareschen Vorlage hat laut Fulda zumindest zwei unmittelbare Folgen:20 Zum einen wird die Handlung vereinfacht und gestrafft, sodass nun die Liebeshandlung um den Prinzen und Ancilletta im Vordergrund steht, und zum zweiten stehen sich sechs Hauptfiguren gegenüber, die zwei Dreiergruppen bilden: erstens jene, die aus Zypern kommen (Prinz, Pickelhäring und Jude), zweitens die Venezianer (Ancilletta, Franciscina und Florello). Die Figuren dieser Gruppen sind einander über die erotische Anziehungskraft zugeordnet – Prinz und Ancilletta und in komischer Spiegelung Pickelhäring und Franciscina – sowie durch die Bedrohung durch einen ‚Außenstehenden‘: So bedroht der Jude den Prinzen mit dem Tod und Florello Ancilletta mit dem Kloster. Die Hauptfiguren des Stückes sind damit nach einem symmetrischen Prinzip organisiert: Das Liebespaar,
17 Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 108f. 18 Vgl. zur Raumkonzeption Daniel Fulda: „Breter, die die Welt bedeuten.“ Bespielter und gespielter Raum, dessen Verhältnis zur sozialen Um-Welt sowie Geltungsräume des populären Theaters im 17. und 18. Jahrhundert. In: Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv. Hg. von Jörg Dünne, Sabine Friedrich, Kirsten Kramer. Würzburg 2009, S. 71–86, hier S. 78–80. 19 So Daniel Fulda: Komik des Sichtbarmachens. Zu Körper und Verkleidung als Medien des Wanderschauspiels, mit einer Wendung von der Medialität des Komischen zur Komik als Medium. In: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Hg. von Stefanie Arend u.a. Amsterdam, New York 2008 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 71–103, hier S. 88. 20 Die folgenden Ausführungen zum symmetrischen Strukturprinzip paraphrasieren Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 108–110.
5.1 Christoph Blümels Der Jude von Venetien
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das von Dienerfiguren, die sich ebenfalls verbinden, begleitet wird, wird von zwei Seiten – venezianischer (Florello) und zypriotischer (Barrabas) Seite – bedroht. Zugleich steuert dieses Prinzip auch den Handlungsverlauf: Prinz und Ancilletta und ihre Diener treten jeweils aus ihren gleichgeschlechtlichen Paaren heraus und streben einander zu.21 Ein weiteres Paar bilden die Freier Ancillettas, Grimaldi und Santinelli, die stets gemeinsam auftreten. Da sie jedoch bereits ein Paar bilden, kann keiner Ancilletta für sich gewinnen. Dementsprechend argumentiert sie, dass sie nicht einen dem anderen vorziehen könne und keinen der beiden zurückstoßen dürfe.22 Außen vor bleiben bei dieser Paarbildung die ‚Feinde‘ Barrabas und Florello, die handlungslogisch jedoch kein Paar bilden können, da sie sonst dem glücklichen Schluss entgegenstehen würden. Beide sind (und bleiben) ausgeschlossen, da sie sich durch ihre jeweilige Bedrohung des Paares disqualifiziert haben. Die Ausgrenzung des Juden hat jedoch eine andere Qualität als die Florellos, der schließlich mit der töchterlichen Gattenwahl einverstanden ist,23 taucht der Jude doch nicht einmal mehr im Schlusstableau auf. Hier wird zudem über das Strukturprinzip der „Paarbildung unter Ausschluß von Dritten“24 der politische Rahmen mit der Liebeshandlung verbunden: Das edle Cyper=land will sich mit uns verbinden. Der Printz mus seine Braut hier in Venedig finden. Die Eintracht wohnt bey uns, die Feinde fürchten sich. Der Himmel lacht uns zu, geh Türck und hüte dich.25
Dass dem Juden am Schluss des Stückes kein Platz mehr zugestanden und er damit auch aus der Gesellschaft ausgegrenzt wird, bedingt sich nicht nur durch die Struktur und Figurenkonstellation, sondern vor allem auch durch den Dramentext selbst, in dem sich eine deutlich antijüdische Stoßrichtung manifestiert.
21 Besonders anschaulich wird dies in der Szene des ersten Zusammentreffens (S. 229–235, III,2) vorgeführt: Zunächst stehen sich die Figuren in einiger Entfernung gegenüber, treten dann aber aufeinander zu. Die Diener kommen sich körperlich sehr nahe („sie umbhälsen und trucken einander“), werden jedoch von ihrer Herrschaft zur Ordnung gerufen. Die Veränderung der Figurenposition macht so anschaulich, dass auch das Verhältnis der Figuren zueinander sich gewandelt hat. Zugleich unterstützt die Dialogführung die Bewegung, die konsequent die Rede zwischen Herr und Dienerin sowie Herrin und Diener vermeidet. Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 109; Fulda: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 89 und Baesecke (wie Anm. 8), S. 141f., die darin jedoch kein Strukturprinzip erkennt. 22 Vgl. Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 215 (II,1). 23 Vgl. ebd., S. 274 (V, 9). 24 Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 110. 25 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 276 (V,9).
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Bereits die erste Szene, die den politischen Rahmen des Stückes vorgibt, macht dem Zuschauer eindrucksvoll deutlich, was von den Juden zu halten sei und wie man mit ihnen umzugehen habe. Der Prinz tritt vor den König und bittet diesen um Stellungnahme: E.M. wissen sehr wol, mit was vor grosser Demuth und schmeicheln sich die verächtliche Nation der Juden vor diesem in dieses Landt eingeschleiffet, wie sie sich anfänglich so gehorsam undt still gehalten, wie fleissig sie ihren tribut abgelegt, nun mehr muß ich durch tägliches Klagen unserer armen Underthanen vernehmen, daß sie ungeachtet, wie enge man ihnen ihren Handel undt wandel gebunden, dennoch so weit umb sich gegriffen, daß sie nicht allein die güter vieler Edlen und unedlen durch wucher an sich gebracht, sondern auch in den Königlichen Regalien, Zöllen undt Einkommen deß Landes Cypern ihre Hände mit eingemischet, weil nun dieses beydes haupt undt unthertanen nicht allein schädlich sondern auch verderblich ist, alß halte ich davor daß solches in die länge nicht zu gestatten seye, habe deswegen meines Gnädigsten herren undt vatters meinung undt willen dar über vernehmen wollen.26
Der Prinz problematisiert hier nur vordergründig ökonomische Normen, geht es ihm doch nicht darum, wie viel Zins rechtens sei. „Handel und wandel“ der Juden wird mit Wucher gleichgesetzt, der damit nicht als Wirtschaftsweise, sondern vielmehr als Disposition der Juden erscheint.27 Diese stellen somit durch ihr Handeln, „ihre rauberische Schacherey“, sowohl eine Gefahr für den Besitz als auch für die herrschaftliche Ordnung dar. Insofern erscheint die spätere Vertreibung durchaus gerechtfertigt. Zunächst wird jedoch durch die Anhörung der Räte eine wohlüberlegte Entscheidungsfindung suggeriert, obgleich der Text durch die Verwendung von Epitheta wie „verächtlich“, „schädlich“ oder „verderblich“ diese Strategie unterläuft. Die Juden werden als ‚Verderben‘ der Gesellschaft charakterisiert und so kann der erste Rat mit seinem ‚gemäßigten‘ Vorschlag – er will die Zahl der Juden auf die ursprüngliche begrenzen und ihnen ‚nur‘ die Hälfte ihres Besitzes nehmen – auch nicht durchdringen. Der zweite Rat argumentiert ähnlich wie der Prinz, doch sehr viel schärfer. Unter Verweis darauf, dass denjenigen, welche durch die Juden ihren Besitz verloren hätten, so nicht geholfen werde, spricht er sich für die Vertreibung aus: [I]ch halte darvor es wäre viel besser gethan, weil sie ihre vorgeschriebene Terminos überschritten, verbottenen kauffhandel getrieben, auff häuser undt liegente gründe gelt geliehen, daß sie gäntzlich auß gerottet undt nackhent undt bloß, wie sie herein kommen, aus dem lande verbannet würden, ihre güter sollen zu königlichen Händen kommen, hier von sollen alle die ienigen, welche gründlich darthun können, umb wie viel sie von ihnen
26 Ebd., S. 205 (I,1). 27 Ähnlich Fulda: Schauspiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 110.
5.1 Christoph Blümels Der Jude von Venetien
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betrogen worden, das ihrige wider erlangen, das ubrige soll in dem Königlichen Fisco verbleiben, hier durch wirdt nicht allein diese Königliche Insel von solchem ungeziefer gereiniget, und die underthanen werden sich nicht so sehr mehr auff das leyhen und borgen als auff ihre handarbeit und fleiß verlassen.28
Hier werden die wahren Beweggründe für die Vertreibung ausgesprochen: Die Juden sollen nur vordergründig aus wirtschaftlichen Motiven vertrieben werden, vielmehr geht es darum, die Insel vom ‚Ungeziefer‘, das sich unkontrolliert ausgebreitet hat, zu ‚reinigen‘. Die hier verwendete Bildlichkeit grenzt die Juden nicht nur aus der christlichen Gesellschaft aus, sie erkennt ihnen das Menschsein ab und degradiert sie zu Objekten, denen alles Negative angelastet werden kann. Juden werden zu schädlichem Ungeziefer, wobei durch die verwendeten Metaphern zugleich eine organologische Staatsauffassung deutlich wird, die denselben als Körper begreift, den es durch Ausrottung des ‚Ungeziefers‘ zu heilen gilt, stellt dieses doch nicht zuletzt durch seine Vermehrung und schädliche Wirkung, den Wucher, eine existentielle Störung der festgefügten Ordnung dar. Die hier verwendete Metaphorik ist insofern handlungsleitend: Es gilt das „ungeziefer“ auszutreiben, welches seinem Wesen nach schädlich ist, sodass es nicht einmal mehr eines Beweises bedarf: „[…] ohne weiteres Examinieren, dan Jhre Schelmerey ist genugsam klar und offenbahr, lasset auch das Urtheil hernach also bald an ihnen exequirt werden.“29 An dieser Entscheidung können auch Eingaben der Juden nichts mehr ändern, ist ihr „geschrey“ doch des Königs „ohren verdrüsslich“.30 Aus diesem Grund wird nur ein Jude, der Vornehmste unter ihnen, vorgelassen. Aber auch dieser ist in den Augen der Christen ‚minderwertig‘ und so wird er bereits beim Eintritt von Pickelhäring beschimpft und erniedrigt: „Der Schelm wartet schon draussen auff, hörest du mauschel speckfresser, du solst zum Könige kommen auf eine gute wurst und saurkraut“.31 Pickelhäring nutzt im gesamten Drama die jüdischen Speisevorschriften, um den Juden zu erniedrigen und betont so neben dessen gesellschaftlicher Außenseiterstellung auch dessen religiöse Andersartigkeit. In der folgenden Szene wird deutlich, dass Pickelhäring die Funktion ausübt, den Juden von den hohen Personen fernzuhalten, und so mischt er sich beständig in die Unterhaltung zwischen Prinz und Jude ein. Auffällig ist zudem, dass der Jude immer wieder betont, wie arm er und die Seinigen seien, doch bietet
28 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 206 (I,1). 29 Ebd. 30 Ebd. Diese Sentenz stellt zudem eine Verbindung zur Darstellung sogenannter „Judenschulen“ auf der Bühne her. Vgl. dazu oben, S. 57, Anm. 55. 31 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 207 (I,2).
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er Pickelhäring „einen schönen Ducaten“,32 wenn dieser sich für die Juden einsetzt. Durch diesen Bestechungsversuch aber ist seine Schuld unzweifelhaft und das Stereotyp vom ‚verlogenen Juden‘ findet Bestätigung. Auch der angebliche ‚Gestank‘ der Juden wird von Pickelhäring angesprochen und so werden in den ersten Szenen alle gängigen antijüdischen Stereotype bedient. Gerade dadurch aber ist – so Fulda – der historische Gehalt der Figur des Juden des Wanderbühnenstückes sehr viel höher als der Shylocks, werden doch hier zeitgenössische antijüdische Stereotype reproduziert und affirmiert:33 So warf man den Juden, die sich als Trödler und Pfandleiher verdingten, vor, Besitztümer unrechtmäßig zu erwerben. Insbesondere in der Rede des zweiten Rates kommt zudem der nicht zuletzt von Luther erhobene Vorwurf zum Tragen, dass Juden sich von der Arbeit der Christen nähren würden.34 Darüber hinaus wird durch die Klage, dass die Juden „auch in den Königlichen Regalien, Zöllen undt Einkommen deß Landes Cypern ihre Hände mit eingemischet“35 hätten, auf einen weiteren Aspekt des Finanzwesens des siebzehnten Jahrhunderts angespielt, auch wenn Barrabas im Stück nur als Trödler und Pfandleiher agiert: Die jüdischen Hoffaktoren, die mitunter unverzichtbar für den Staatshaushalt waren, gleichwohl aber stets mit größter Skepsis betrachtet wurden.36
32 Ebd., S. 208 (I,3). 33 Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 111. 34 Vgl. Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen (1543), zitiert nach der Ausgabe D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 53. Weimar 1920, S. 521. 35 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 206 (I,1). 36 So Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 111. Die Hofjuden oder Hoffaktoren hatten einen entscheidenden Anteil an der Finanzierung der Ausbildung des merkantilistischen Fürstenstaats. Vor allem durch ihre weitverzweigten familiären und geschäftlichen Verbindungen konnten sie wirtschaftlich erfolgreich tätig sein. Vgl. dazu weiter Rainer Gömmel: Hofjuden und Wirtschaft im Merkantilismus. In: Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert. Hg. von Rotraud Ries, J. Friedrich Battenberg (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden XXV). Hamburg 2002, S. 59–62. Zudem nahmen sie weiterhin aktiv am Gemeindeleben teil und bemühten sich um die Vereitelung von Austreibungen, Befreiung Gefangener, Verhinderung von Gewalttaten und Unterbindung der Verbreitung judenfeindlicher Schriften. Vgl. Friedrich Battenberg: Das europäische Zeitalter der Juden. Von den Anfängen bis 1650. Darmstadt 1990, S. 7; Mordechai Breuer: Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit. Hg. von Mordechai Breuer, Michael Graetz, Bd. I: Tradition und Aufklärung 1600–1780. München 1996, S. 106–125; Friedrich Battenberg: Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. München 2001 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), S. 41–45, 107–112; Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn 2005, S. 106– 109 sowie Barbara Staudinger: „Gelangt an eur kayserliche Majestät mein allerunderthenigistes Bitten“. Handlungsstrategien der jüdischen Elite am Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert. In:
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Die Figur des Barrabas, der im Spiel als einziger Jude auftritt, wodurch nicht nur seine Außenseiterposition verstärkt wird, sondern er auch eine Exempelfunktion erhält, da er als Einzelner für eine ganze Gemeinschaft steht, vereinigt diese beiden Sphären in sich: So ist er „Vornemste[r]“37 der Juden und agiert gleichzeitig ausschließlich als Trödler und Pfandleiher. Hier ist Fulda zuzustimmen, wenn er feststellt, dass so die Figur in sich unwahrscheinlich wird, sie zugleich durch das Vorbringen dieser in der lebensweltlichen Realität der Zuschauer angesiedelten Vorbehalte gegenüber den Juden, die auch immer wieder im Zusammenhang mit Vertreibungen vorgebracht wurden, ihre historische Prägnanz als antijüdisches Zerrbild erhält und damit in ihrer Negativität wahrscheinlicher wird.38 Seine Exempelfunktion wird auch von Pickelhäring angesprochen: „[…] du bist wol die quint essentz von allen hebreerren [sic]“.39 Insofern macht er auch keinen Unterschied zwischen den Juden, Barrabas gilt ihm so viel wie ein anderer Jude: „[…] es gilt uns hernach gleich, wer es hergiebt, ob der Nathanael, Abraham oder Löbel, Marx, Jsrael oder Gerstel“.40 Darüber hinaus wird die Exempelhaftigkeit Barrabas auch über den Paratext der Handschrift betont, wird er doch ausschließlich als „Jude“ aufgeführt. Durch das wiederholte Aufrufen historischer Vorwürfe können somit auch – sogar im fiktionalen, außerhalb der lebensweltlichen Erfahrung der Zuschauer liegenden Spiel41 – aus der Rede des Prinzen durchaus konkrete Handlungsanleitungen herausgelesen bzw. gehört werden: Dieses verfahren mit den Juden gnädigster Herr und Vatter wird vielleicht andern benachbarten völckern anlaß geben solcher leüthe gewöhnliche betriegereyen besser in acht zu nehmen, und ich halte davor, daß durch ihre abschaffung eine grosse last von unsern schultern hinweg genommen sey […].42
Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Hödl, Peter Rauscher, Barbara Staudinger. Berlin, Wien 2004, S. 143–184. 37 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 206 (I,2). 38 So Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 112, der darauf hinweist, dass die Anspielung auf die Hoffaktorenfunktion wohl noch nicht in den ersten Spielen zu finden war, da Blümels Barrabas nur als Trödler und Pfandleiher agiere und damit dieses Motiv dramaturgisch ungenutzt bleibt. 39 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 262 (V,3). 40 Ebd., S. 263 (V,4). 41 Deutlicher Hinweis für die heterotopische Qualität des Stückes ist neben der Ausweitung des Raumes auf Zypern und Venedig auch der historische Umstand, dass im siebzehnten Jahrhundert die Türken, gegen die ein Bündnis am Ende geschlossen wird, Zypern längst erobert hatten. So Fulda: „Breter, die die Welt bedeuten.“ (wie Anm. 18), S. 79f. 42 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 208 (I,3).
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Dieser Hinweis an den Zuschauer – denn niemand anders kann gemeint sein, sind doch auf der Bühne nur Zyprioten versammelt – wird zugleich mit den ‚Vorteilen‘ einer solchen Vertreibung argumentativ untermauert, fällt doch der gesamte Besitz der Juden an die Staatskasse.43 Scheinen nun die ‚inneren Feinde‘ – die Juden – besiegt zu sein, widmet man sich äußeren Gefahren: den Türken. Der Prinz nimmt die drohende Gefahr einer Eroberung zum Anlass, nach Venedig zu reisen, um ein Bündnis gegen die Türken, die „bluthund“,44 zu schließen. Doch auch von ‚innen‘ droht weiterhin Gefahr: Barrabas verkleidet sich und heuert auf dem Schiff des Prinzen an, um mit ihm nach Venedig zu reisen. Schon hier bestätigt sich mithin, was den Juden von Prinz und Räten vorgeworfen wird: Sie, bzw. Barrabas als ihr Stellvertreter, verhalten sich ‚heuchlerisch‘ und ‚schaden‘ den Christen. Dass dies Ziel und Zweck der Verkleidung ist, wird dem Zuschauer am Ende des ersten Aktes offenbart, wenn Barrabas in einem Monolog seine Beweggründe, an der Reise teilzunehmen, erläutert: Du und dein H. sollet alle beyder erfahren was ich für ein Kerl bin, wie wol ist mir mein anschlag gelungen? der Printz hat in dieser verkleidung den iuden nicht erkönnen können. welchen er allererst unangesehen seines demüthigen fußfals mit seinem gantzen geschlechte aus dem lande verbannet hat. ich bin in aller eyl nach meiner behausung gelauffen, frembde kleider angelegt, und so viel von gold und kleinodien als ich verbergen können zu mir gesteckt, und nun mus mich der Printz zu seinem aygenen unglückh mit über nach Venedig nehmen, meinem weib und kindern aber hab ich orthe ertheilet nach zu folgen. Gieb dich zufrieden du Tyrannischer Christ, hastu mir schon meine güter genommen, so habe ich doch noch so viel bey mir, Banditen damit zu kauffen, dir dein leben zubenehmen, wofern ich auff keine andere weise an dich gerathen kan. Vermeinestu das Jüdische geschlechte gantz auszutilgen? nein, es kan nicht seyn, wenn man uns an einem orthe vertreibet, so kommen wir an einem andern desto haüffiger hervor. ich werde schon wider zu meinen gütern gelangen, du aber wirst den tod aus meiner hand empfangen.45
Wurde Barrabas bisher kaum Raum zugestanden, sich zu äußern – nicht zuletzt durch die Unterbrechungen Pickelhärings – klärt der Monolog des Juden zunächst den Zuschauer über seine Absichten auf und evoziert ein Bedrohungsszenario (für den Prinzen), baut mithin Spannung auf. Zugleich bestätigt Barrabas aber auch in entlarvender Wortwahl die ihm – und den Juden insgesamt – gemachten Vorwürfe, sodass diese Beweiskraft erhalten und die Vertreibung im
43 Vgl. ebd., S. 208 (I,3). Insofern gewinnt auch die These Ochs, das Stück Blümels im Kontext der Wiener Judenvertreibung von 1669/70 zu verorten, zusätzlich an Gewicht. Vgl. Och (wie Anm. 7), S. 183f. 44 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 209 (I,3). 45 Ebd., S. 213 (I,4).
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Nachhinein rechtfertigen: So hatte er vor den Räten seine Armut betont, doch besitzt er „gold und kleinodien“. Bestätigt wird somit der Vorwurf der Habgier und Heuchelei, zudem wird angedeutet, dass er die Herrschaft des Königs bzw. Prinzen nicht anerkennt: Weder gibt er dem Staat wie angeordnet sein Vermögen, er ‚betrügt‘ – gemäß der judenfeindlichen Stoßrichtung des Stückes – auch noch die Herrschaft um das ihr Zustehende. Damit korrespondiert der Hinweis auf seinen „demüthigen fußfal[l]“, wird so doch angedeutet, dass es sich bei diesem um eine Ausnahme handele. Auffällig ist zudem die Bezeichnung des Prinzen als „Tyrannischer Christ“: Barrabas stellt damit die Differenz zwischen ihm und seinem „geschlechte“ und den dem Prinzen zugeordneten Figuren über die religiöse Zugehörigkeit her und evoziert das Bild des ‚christenhassenden Juden‘. Indem er zugleich die ihm vorgeworfenen, vor allem ökonomischen Anschuldigungen bestätigt, spiegelt er die Auffassung von Prinz, König und Räten, die das Judentum über Religion und Wirtschaftsweise vom Christentum abgegrenzt haben. Des Weiteren perpetuiert Barrabas in seiner Rede das Bild vom jüdischen Volk als ‚Unkraut‘, denn so wie dieses würden sich die Juden ausbreiten und sich nicht vernichten lassen. Dies gewinnt umso mehr an Überzeugungskraft, da er stets allein auftritt, aber immer um die Unterstützung seines „geschlechte[s]“ weiß.46 Barrabas Zwang zur Selbstoffenbarung affirmiert hier die dem Judentum zugewiesenen Stereotype und rechtfertigt damit die Vertreibung. Zugleich räumt er jeden Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser aus, bestätigt er doch die schädliche Wirkung der Juden auf Staat und Gesellschaft, sodass für mögliches Mitleid mit den Juden kein Platz ist. Barrabas erscheint als grausamer und betrügerischer Verfolger des Prinzen und der Christen überhaupt. Der zweite Akt ist bestimmt von der Ankunft des Prinzen und seines Gefolges in Venedig und der Liebesgeschichte zwischen Prinz und Ancilletta sowie zwischen Pickelhäring und Franciscina, die erstere auf niederer Ebene spiegelt.47 Gleichwohl wird auch hier die Gelegenheit nicht ausgelassen, die Verwerflichkeit des Juden vorzuführen: Er denunziert in einem lazzo Pickelhärings ungebührliches Verhalten auf dem Schiff. Hier steht jedoch die von Pickelhäring provozierte Komik im Vordergrund, die Figur des Juden dient allein als Stichwortgeber und rückt in den Hintergrund. Dennoch wird auch hier gegen Barrabas polemisiert, zeigt sich doch, dass letzterer ein Verräter ist. Dass er mit seinem Vorhaben, Pickelhäring durch seinen Verrat zu schaden, nicht erfolgreich sein kann, liegt in 46 Vgl. ebd., S. 235 (III,3). 47 Zu den Verkleidungsszenen, an denen der Prinz, Anciletta und Pickelhäring beteiligt sind, vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 113–120; Ders.: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 97–101.
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der Logik der Figurengestaltung begründet, und so vergibt der Prinz Pickelhäring. Barrabas tritt von der Szenerie ab und taucht erst wieder im dritten Akt auf, jetzt nicht mehr als alter Soldat, sondern „in seiner herrligkeit“48 als ansässiger Jude zu Venedig. Die Verkleidungen des Juden verweisen darauf, dass im Juden von Venedig die Differenz von Schein und Sein, Betrug und Redlichkeit thematisiert wird. Besonders einsichtig wird dies, wenn man das Mittel der Verkleidung, das von allen Figuren außer Florello und den Freiern genutzt wird49 und fest in der Wanderbühnentradition verhaftet ist, näher betrachtet. So spielen – wie Fulda festgestellt hat – der Prinz und Ancilletta jeweils zwei Rollen, wobei sie sich in einer Rolle ohne ausdrückliche Verkleidungsanweisung als etwas anderes ausgeben, als sie sind.50 Im Falle des Prinzen ist dies zunächst die Rolle als Edelmann, die er spielt, um die Bündnisverhandlungen zwischen Zypern und Venedig nicht zu stören. Verkleidet tritt er in der Rolle des Arztes auf, um Zugang zu Ancilletta zu erhalten und sie von ihren Liebesschmerzen zu heilen. Ancilletta wiederum ist als Kranke dem Prinzen zugeordnet, ihre eigentliche Verkleidung aber ist die des Juristen. Sowohl bei dem Prinzen wie auch Ancilletta zeigt sich, dass die Verkleidungen stets Mittel zum Zweck sind, ihre Hochzeit durchzusetzen. Sie sind mithin legitime Listen, da sie dem komödienkonventionell lobenswerten Ziel dienen.51 Dieses Schema der zwei Rollen sieht Fulda auch bei der jüdischen Figur, doch sind hier Bedenken anzumelden. So erkennt Fulda die eigentliche Verkleidung als die des „armen soldaten“ auf dem Schiff, die zweite, die die Bestimmung der Figur enthüllt, als Barrabas sich dem Prinzen als ansässiger Jude vorstellt.52 Doch spielt Barrabas noch eine weitere Rolle: die des armen Juden in Zypern.53 Dies hat mehrere Auswirkungen: Zunächst wird anhand seiner Verkleidungen der Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Täuschung deutlich, denn während Ancilletta und der Prinz sich Verkleidungen bedienen, um ein gutes Ziel zu erreichen, und diese Verkleidungen das repräsentieren, was sie sind,54 nutzt
48 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 235 (III,3). 49 Die beiden Dienerfiguren haben jeweils nur eine Verkleidungsszene, die für die weitere Handlung jedoch unerheblich ist. 50 Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 113. 51 Ebd., S. 114f. 52 Ebd., S. 115. 53 Dies erkennt auch Fulda und verweist darauf, dass Betrug die ständige Rolle der jüdischen Figur sei. Dennoch ordnet er auch Barrabas’ Verkleidungen dem Schema der zwei Rollen zu. 54 So will der Prinz die vor Liebe „kranke“ Ancilletta als „Arzt“ von ihren Liebesschmerzen heilen und Ancilletta spielt die ihr vom Vater zugewiesene Rolle als Richter konsequent weiter,
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Barrabas seine stets, um zu schaden. Deutlicher wird dieses noch, wenn man die Aufdeckung der Rollen einbezieht: Der Prinz und Ancilletta enthüllen ihre taktischen Verkleidungen, sobald der Zweck erreicht ist, die des Juden bleiben unaufgedeckt. Damit werden zugleich aber auch Aussagen über sein Wesen getroffen: Nicht nur ist er ganz auf den Betrug festgelegt, sein ‚Wesen‘ ist die verbrecherische Täuschung, sodass ihm, wie sich im Spiel erweist, nicht zu trauen ist. Darüber hinaus wird er über das Verkleidungsmotiv aber auch von den anderen Figuren ab- und damit ausgegrenzt, denn während sich die anderen Figuren der taktischen, legitimen Täuschung bedienen und so höfische Verhaltensweisen komödiantisch auf die Wanderbühne bringen,55 verhält sich Barrabas mit seiner arglistigen Täuschung normwidrig, sodass ihm in der vorgestellten Gesellschaft auch kein Platz zugestanden werden kann. Sein ‚wahres Wesen‘ ist aufgrund der ständigen Verkleidung nicht erkennbar, allein seine Festlegung auf Betrug ist sicher.56 Die Unbestimmbarkeit der Figur und die Festlegung auf (absolute) Täuschung bedingen einander: Ohne Wissen um das ‚wahre Wesen‘, das ‚Sein‘ des Juden, besteht nie Sicherheit darüber, wann er täuscht, mithin der falsche Schein dominiert. Dramaturgisch hat dies zur Folge, dass Barrabas sich vor dem Zuschauer immer wieder offenbaren muss, sodass kein Zweifel an seinem verbrecherischen Verhalten bleibt: Jud in seiner herrligkeit. Wolan, ietz darff sich der arme Jud wiederumb sehen lassen, welchen nicht so sehr der König, als der neidige, misgünstige Printz aus Cypern vertrieben hat, meine brüder und mein aygener fleiß haben mir schon widerumb auff die beine geholffen, daß ich mich anietzo reicher schätze, als ich vormahls gewesen bin. Jetz bin ich ein eingesessener zu Venedig, der Printz aber nur ein frembdling, ich darff mich kühnlich vor einen Juden ausgeben, er aber mus sein geschlecht verschweigen, und sich nur einen von adel nennen. Er hat seine vorige herberg verändert, oder ist gar von hinnen gereiset. Doch nein, er kan diese statt nicht so bald verlasen haben, er wird sich nur anders wo befinden; ach daß ich solches erforschen könte, damit ich mittel und wege suchte, mich der gethanen verfolgung halben an ihm zurächen: was gedencket ihr doch, ihr närrischen Christen, daß ihr meinet, die iuden zu vertilgen? oder bildet ihr eüch ein, wan ihr uns aus einem lande vertreibet, daß wir in dem andern verdorben seind? ach, weit gefehlet, als den beginnet öffters unser glück
wenn sie zwischen den werbenden Männern entscheidet. Vgl. Fulda: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 99f. 55 Vgl. zur Thematisierung höfischer Verstellungen im Stück Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 114–117; Ders.: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 101–103 und grundlegend dazu die Angaben oben, S. 216, Anm. 225. 56 Dies gegen Fulda, der davon ausgeht, dass die Verkleidungen der Figuren generell deren Sein enthüllt. Vgl. Fulda: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 97f.
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erst recht zu grünen. Wir sind gleich einer dürren ochsenhaut, welchen wan man an einem ende drauff tritt, an dem andern in die höhe steiget. Auß dem lande Cypern ward ich veriaget, ietzt gehet mirs auff dem wasser wol, auff der reise hatte ich nur ein auge, ietzt habe ich zwey, genau nach meinem vortheil zu schauen; ich muste mich [mit] einem zerrissenen Rocke behelffen, ietzt habe ich kleider, nicht allein zur nothurfft, sondern auch zur Pracht und herrligkeit: zuvor hieß ich Barrabas, ietz habe ich den nahmen Joseph an mich genommen. Siehe dich nur fleißig vor, Printz, Joseph suchet deinen undergang; ich bin zwar nicht Joseph von Arimathia, aber kriege ich dich nur in meine klauen, so will ich doch der Joseph seyn, welcher dir zu deinem grabe verhelffen wird.57
Bereits der erste Satz erläutert die von Barrabas gewählte Verkleidung: Sie ist nichts als Betrug, sie dient nicht einer List, um ein legitimes Ziel zu erreichen, sondern der Täuschung in verbrecherischer Absicht. Barrabas entdeckt dem Publikum seine Verkleidung, er darf sich „sehen lassen“ und „kühnlich vor einen Juden ausgeben“ – sein Kostüm enthüllt so seine wahre Bestimmung gegenüber dem Zuschauer. Er kann nun als Jude – und damit der Logik des Stückes entsprechend als Wucherer – auftreten und sich in „Pracht und herrligkeit“ zeigen. Zugleich wird deutlich, dass Maske und Kostüm im Wanderbühnentheater höchst ambivalente Zeichen sind. Die Verkleidung dient hier zunächst als Markierung der Figur als reicher Jude und hat damit am Handlungsgang teil. Damit wird jedoch die referentielle Funktion der Zeichen aufgelöst, tritt doch der Jude stets verkleidet auf, sein Wesen ist den anderen Figuren undurchschaubar. Es handelt sich so um eine doppelte Verkleidung und das Kostüm des Juden verweist mithin gerade nicht mehr auf das Wesen der Figur. Nicht mehr die Verkleidung, sondern das Verkleiden selbst referiert damit auf die Scheinhaftigkeit der vorgestellten Rollen, sodass anhand der Rolle des verkleideten Juden deutlich wird, dass äußere Zeichen stets unzuverlässig sind. Insofern wird das theatralische Zeichen hier selbstreferentiell und verweist nicht mehr auf die Welt, sondern auf sich, auf das Theater. Darüber hinaus lassen sich anhand des Monologs aber noch weitere Feststellungen machen. Der Verweis auf seine „brüder“ berührt die ökonomische Sphäre. Indem alle Juden als „brüder“ der anderen dargestellt werden, wird eine Art Verschwörung assoziiert. Hintergrund dieses Verdachts war die bei den Hoffaktoren vorherrschende „enge Bindung von geschäftlicher Aktivität an Familienwerte wie -verbindungen“, die den Juden wiederholt negativ ausgelegt wurden.58 Die von Barrabas gestellte Frage – „Was gedencket ihr doch, ihr närrischen Christen […]?“ – muss auch als direkte Ansprache des Publikums gewertet werden, die bei diesem Abwehrreaktionen erzeugt. Eine solche kann auch durchaus
57 Vgl. Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 235 (III,3). 58 Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 112, Anm. 23.
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in der Vertreibung der Juden bestehen, denn dass diese gerechtfertigt ist, exemplifiziert Barrabas im Folgenden. So greift er das Bild vom nicht auszutilgenden Unkraut ebenso wieder auf, wie den Vergleich mit den Tieren. Eben diese Widerständigkeit gegen alle Versuche von Seiten der Christen, ihn ‚auzutilgen‘, beweist sich an ihm selbst: Nach der Vertreibung aus Zypern ist er in Venedig zu „Pracht und herrligkeit“ gelangt. Nun ist er – durch Betrug – in einer solchen Position, dass er dem Prinzen drohen kann. Dem Publikum wird so – wenig subtil – veranschaulicht, wie bösartig und heimtückisch dieser und damit die Juden insgesamt seien. Die Betonung liegt hier auf dem ‚Jude sein‘, welches mittels der Unkrautmetapher nicht nur als dem Christentum nicht gleichwertig, sondern vielmehr als nicht menschlich aufgefasst wird. Dementsprechend vergleicht Barrabas die Juden mit einer „dürren ochsenhaut“ und Unkraut, seine Hände werden zu „klauen“. Schließlich sei noch kurz auf Barrabas Umbenennung eingegangen. Er nennt sich Joseph, macht jedoch gleich deutlich, dass er nicht in Joseph von Arimathäas Nachfolge handeln werde. Auch er ist jetzt ein reicher Jude, doch wird er sich nicht zum Christentum bekehren und Jesus anerkennen. Er bleibt Barrabas, ein Verbrecher.59 Über diesen Umstand wird der Zuschauer auch nie im Unklaren gelassen. Besonders deutlich wird dies in der Szene, in der Pickelhäring auf Geheiß des Prinzen zu Barrabas kommt, um Kleider zu leihen. Hier wird die Durchtriebenheit des Juden offenbar, indem er sich wiederholt des Beiseitesprechens bedient. So erkennt er Pickelhäring und stellt fest: „[…] ich kenne ihn wol, derowegen mus ich mich nicht feindseelig gegen ihn erzeigen, vielleicht bringt er mir einzige gelegenheit, meine rache fortzusetzen.“60 Doch nicht nur diese Art des Sprechens zeigt seine Heuchelei, sie wird auch im Dialog mit Pickelhäring deutlich: Rühmte sich Barrabas doch zuvor noch seiner Pracht und Herrlichkeit, zeigt er sich jetzt demütig, sodass er nicht einmal auf die ärgsten Beschimpfungen Pickelhärings reagiert, der ihn als „westphalischer schincken“, „würffelkramer“, „speckseite“, „mauskopff“, „hurensohn“ und „mauschel“ tituliert.61 Zugleich offenbart er aber auch den ihm innewohnenden Geschäftssinn, verlangt er doch ein Pfand. Nachdem er nochmals seine mörderischen Absichten bekundet hat, spielt er wieder eine Rolle.
59 Im Folgenden wird zur leichteren Verständlichkeit trotz der Umbenennung weiterhin von „Barrabas“ die Rede sein. 60 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 237 (III,5). Darüber hinaus dienen Einlassungen ebenso wie die Monologe dazu, dem Zuschauer einen Wissensvorsprung zu verschaffen. 61 Ebd., S. 237–239 (III,5).
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Jude: Pickelh.: Jude: Pickelh.: Jude: Pickelh.:
Man nennet mich den frommen Juden Josephus. Den frommen Juden Sauffaus. Josephus versteh mich recht. Ja sauffaus, ich habs verstanden. Aber bistu dan ein frommer Jude? Also heist man mich, und also bin ich auch. o miraculum in auditum! bistu ein frommer Jud? So bistu ein feuer ohne hitz, ein wasser ohne nässe, ein dornstrauch ohne stachel, ein schlang ohne gifft, ein bauren dreck ohne gestanck, ein ehrlicher Schelm, ein frommer Dieb, ein auffrichtiger galgenvogel?62
Dieser Dialog enthüllt hinter der vordergründigen, durch Missverständnisse hervorgerufenen Komik, die Scheinhaftigkeit der verschiedenen Rollen. So ist Barrabas eben kein frommer Jude und wird es auch nicht durch die bloße Änderung seines Namens. In eben dieser zeigt sich aber wieder das dramaturgische Prinzip des Stückes, gründet es doch auf den verschiedenen Verkleidungen und täuschenden Benennungen der Figuren. Die Replik Pickelhärings kann deshalb nicht als ein Durchschauen dieser Scheinhaftigkeit gedeutet werden, vielmehr stellt sie eine Schmähung der jüdischen Religion und der Juden an sich dar, wird doch bestritten, dass sie fromm sein könnten. Dies entspricht ganz der christlichen Auffassung jener Zeit vom alleinigen Wahrheitsanspruch. Im vierten Akt kommt es schließlich zur Schuldverschreibung. Pickelhäring wird von dem Prinzen zum Juden geschickt, um die geliehenen Kleider zurückzugeben und 2000 Dukaten zu leihen. Er kommt somit als Bittsteller zu Barrabas, doch spielt auch er wiederum nur eine Rolle, wie es die Ironie in der Begrüßung Pickelhärings veranschaulicht, die Barrabas jedoch nicht durchschaut. Jude: Pickelh.: Jude:
Wer ist da? oho Pickelh. bringstu mir die kleider wider. ja mein frommer redlicher auffrichtiger excellenter mauschell. du aller ehrlichster under den kindern Israel. So Pickelh. ietzunder titulirstu mich besser, als das nächste mahl.63
Zudem wird der Wucher in der Szene thematisiert. Barrabas erweist sich als geldgierig und als Wucherer durch und durch,64 der sich zugleich um gesellschaftlichen Aufstieg bemüht, möchte er doch lieber ein angesehener Kreditgeber
62 Ebd., S. 238 (III,5). 63 Ebd., S. 251 (IV,6). 64 „Jude: Was machstu Pickelh., daß du mir die kleider so auff der erden herumb wirffst, meinstu nit das sie das gelt gnug kosten? wo hastu das trinckgelt davor?“ Ebd., S. 251 (IV,6).
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als Trödler sein.65 Dass dieses Dritte aber konzeptionell ausgeschlossen ist, wurde bereits dargelegt. Das folgende Gespräch um die Höhe des Geldes dient noch einmal der Komik – es spiegelt das vorhergegangene Gespräch zwischen Prinz und Pickelhäring. Da letzterer jedoch nicht in der Lage ist, das Kreditgeschäft für den Prinzen abzuschließen – dies würde der Handlungslogik widersprechen – holt er seinen Herrn. Dieser weist dem Juden bereits in seiner Begrüßung dessen untergeordnete Stellung zu und fasst es als selbstverständlich auf, dass Barrabas bereit ist ihm Geld zu leihen: Jude, ich habe von meinem diener verstanden, daß du ehrbietig bist, mir gegen einer handschrifft zwey tausend ducaten vor zu schiessen, wan du so viel vertrauen zu mir hast, so sey versichert, daß ich dirs innerhalb 8 tagen wider zustellen will.66
Damit weist er auf die Standesunterschiede hin und macht seine herausragende Position deutlich. Dementsprechend fühlt er sich von der Klausel der Handschrift, die Barrabas im Falle der Nichtrückzahlung ein Pfund Fleisch aus seinem Körper verspricht, auch nicht bedroht. Dennoch zeigt er sich zunächst argwöhnisch und Barrabas sucht durch Beschwichtigungen, vorgespiegeltes Desinteresse am Fleisch und seine angebliche Frömmigkeit die Zweifel zu zerstreuen. Auffällig ist hier, dass der Jude in direkte Interaktion mit dem Prinzen tritt, kommunizierte er vorher doch fast ausschließlich mit Pickelhäring. Dadurch wird die Bedeutung der Schuldverschreibung unterstrichen. Der Prinz wird schließlich überzeugt, als sich Barrabas auf seine Frömmigkeit beruft und einen Eid leistet. Damit wird wiederum ein antijüdisches Stereotyp aufgegriffen: Aufgrund der beständigen Täuschung durch Barrabas ist für den Zuschauer ersichtlich, dass er seinen Eid nicht nur nicht halten werde, sondern vielmehr den von ihm angedeuteten Betrug vollziehen will, sodass der Vorwurf, dass Eide von Juden wertlos seien, Bestätigung findet. Ich schwöre bey dem Gott meiner Vätter, daß nur der blose nahme des fleisches in der handschrifft stehet, warumb sollte ich suchen frembdlinge zubetriegen? ich bin auch frembd und arm in diese statt kommen, aber nun, durch göttlichen seegen von solchen mittlen, daß ich eüch und andern mit helffen kan.67
65 „Jude: […] ich will viel lieber gelt ausleihen als kleider.“ Ebd., S. 251 (IV,6). 66 Ebd., S. 253 (IV,8). 67 Ebd., S. 254 (IV,8).
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Barrabas gibt sich demütig und fromm und schlüpft damit in eine Rolle, die von Prinz und Pickelhäring jedoch als solche nicht erkannt wird. Dem Publikum wird das heuchlerische Wesen des Barrabas durch ihn selbst nochmals ausdrücklich bestätigt. Und mein hertz trägt verlangen nach dem blut deines herren, fahre nur immer hin, du schlechtes gut von zwey tausend ducaten, ich will dich gern verliehren, wofern ich dadurch zu meiner gewünschten rache gelangen kan. Er hat mir diesen zetul unterzeichnet, und Venedig ist eine statt, da man frembde leüth wol anhalten und ihrer schuldigkeit erinnern kan. Ich weis auch durch glaubwürdige schreiben eines reichen kauffmans von Famagusta, welcher zwar ein Christ, aber in seiner handlung ein ärger Jude ist, als ich, daß länger dan kein schiff aus Cypern hierher gelangen wird, kan ich gleich hernach kein pfund fleisch von ihm haben, so will ich ihm doch mit einem vergiffteten messer einen solchen schnitt geben, daß er kein mehr bedörfften wird; diese verschreibung soll mich vor allem gewalt der richter beschirmen.68
In diesem Monolog werden nicht nur die antijüdischen Stereotype vom ‚Blutdurst‘ und der ‚Verlogenheit‘ der Juden aufgerufen, sondern auch die Sphäre der Ökonomie und des Rechtes angesprochen. Im kaufmännischen Bereich äußern sich Täuschung und Verstellung als Betrug. Die Kritik richtet sich jedoch nicht allein gegen die Juden, sondern auch gegen ‚räuberische‘ Wirtschaftspraktiken im Allgemeinen, also auch die von Christen.69 Durch den Verweis, dass dieser Christ aber ein „ärger Jude“ als er selbst sei, wird sogleich die Verbindung von Judentum und Handel hergestellt, der Handel steht im Stück somit stets im Verdacht des Betrugs.70 Die zweite angesprochene Sphäre ist die des Rechtes. Barrabas glaubt sich von diesem beschützt, ist schließlich auch der Prinz ein Fremder und die Handschrift ein Dokument zu Barrabas Gunsten. Seine Motivation ist Vergeltung, wodurch er zum „Inbegriff eines Racheethos [wird], das zugleich ein Rechtsgefühl alttestamentarischer Herkunft einschließt“.71 Auch das Objekt seiner Rache, das Pfund Fleisch, gründet sich auf überkommenes Recht: Die Geschichte vom Schuldschein, der als Sicherheit dem Gläubiger ein Stück vom Fleisch des Schuldners zuspricht, war – wie schon erwähnt – in Mittelalter und Früher Neuzeit weit verbreitet.72 Als recht-
68 Ebd., S. 255 (IV,8). 69 Hier zeigt sich somit auch auf inhaltlicher Ebene das dramaturgische Prinzip der Paarbildung unter Ausschluss Dritter. So Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 117. 70 Vgl. zu den im Stück vertretenen Wirtschaftsmodellen Fulda, ebd., S. 117f. 71 So Sehrt mit Blick auf Shakespeares Shylock. Ernst Theodor Sehrt: Vergebung und Gnade bei Shakespeare. Stuttgart 1952, S. 89f. 72 Vgl. zu Herkunft und Verbreitung des Motivs vgl. oben, S. 74, Anm. 123.
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liche Grundlage wurden die altrömischen Zwölftafelgesetze herangezogen, nach denen die Gläubiger den Körper des Schuldners unter sich aufteilen konnten.73 Jenseits der rechtlichen Fundierung verweist das Motiv des Fleischpfandes jedoch auch auf das Tabu des Menschenopfers, welches Juden immer wieder in Form des Ritualmordvorwurfes zu Last gelegt wurde. Entsprechend der Vorhersage von Barrabas kann der Prinz seine Schuld nicht begleichen und schickt Pickelhäring, um nochmals Geld zu leihen. Barrabas offenbart jedoch allmählich seine wahren Intentionen auch gegenüber den anderen Figuren, freilich ohne dass diese sie richtig zu deuten wissen. So tritt er Pickelhäring nicht mehr demütig gegenüber, sondern unterstreicht mittels der Antithese die Differenz zwischen ihnen: „Hier ist der Jud, was will der Christ.“74 Barrabas stellt diese über die religiöse Zugehörigkeit her, Pickelhäring hingegen betont gegenüber dem Zuschauer auch die gesellschaftlich untergeordnete Stellung, die sich wiederum aus der religiösen Zugehörigkeit herleitet: „ich mus dem schelmen geschmierte worte geben, es reimt sich doch nicht wol zusahmen: Herr Jude.“75 Dem Juden wird somit eine Außenseiterposition zugewiesen, die ihren Ursprung in der eigenen Differenzmarkierung hat und von Pickelhäring auf die gesamte gesellschaftliche Sphäre übertragen wird. Insofern wird hier nochmals aufgegriffen, was insbesondere in den Monologen von Barrabas und in der Vertreibungsszene schon zum Tragen kam: Die Juden, so die Deutung, diskreditieren sich selbst, sodass die ihnen von den Christen zugewiesene Stellung innerhalb der Gesellschaft lediglich Reaktion ist. Barrabas schließlich beharrt auf der Rückzahlung der Schulden und lässt sich nicht mehr auf die Schmeicheleien Pickelhärings ein. Noch gibt er sich aber versöhnlich und verspricht seinerseits Geld bei seinen Nachbarn zu leihen, um „dem guten Herren“76 helfen zu können. Er besteht aber darauf, dass der Prinz selbst zu ihm komme. Dieser folgt auch der Aufforderung und nun kann Barrabas seinen Plan in die Tat umsetzen. Da er sich siegesgewiss glaubt, tritt er nun dem Prinzen gegenüber anders auf: „Bringt ihr gelt iungman, oder wolt ihr gelt haben.“77 Durch die Titulierung des Prinzen als „iungman“ – die im Übrigen später der Herzog von Venedig auch gebraucht – kehrt er die sozialen Unterschiede zwischen ihnen um: Nun ist Barrabas derjenige, von dem der Prinz abhängig
73 Vgl. dazu Uwe Diederichsen: Das Fleischpfand. In: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. im Auftrag der Akademie der Wissenschaften von Ulrich Mölk. Göttingen 1996, S. 138–149. 74 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 261 (V,3). 75 Ebd., S. 262 (V,3). 76 Ebd., S. 261 (V,3). 77 Ebd., S. 263 (V,5).
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ist, und er ist es, der über Leben oder Tod entscheidet. So kann Barrabas diesen – auf eigene Verantwortung – festnehmen lassen. Pickelhäring versucht, dieses zu verhindern, indem er auf die Vertreibung und damit die Macht des Prinzen verweist, doch hat dieses den gegenteiligen Effekt, gibt Barrabas doch zur Antwort: „So will ich ihn davor bezahlen“.78 Dass dieses durchaus auch auf ihn selbst zu beziehen ist, durchschauen weder Prinz noch Pickelhäring, und so bleibt die angedeutete Enthüllung seiner Rolle ohne Konsequenz. Pickelhäring fällt ihn schließlich mit einem Messer an, worauf sich, trotz seiner Siegesgewissheit, die Feigheit Barrabas offenbart, wenn er um Beistand fleht. Die folgenden drei Szenen stellen die Gerichtsverhandlung dar. Sie bilden mit ihrem breiten Figurenspektrum und der dichten Handlung den Höhepunkt des Stückes und zugleich dessen Ende.79 Zunächst ist die Szenerie bestimmt von Streitigkeiten zwischen Pickelhäring und dem Juden, bevor Barrabas sein Gesuch darlegen kann. Die Angriffe Pickelhärings mit einem Messer sind dabei durchaus doppelsinnig zu verstehen, versucht der Diener doch nicht nur die Bedrohung des Prinzen aufzulösen, sondern kehrt vielmehr den Blutdurst des Juden gegen diesen selbst, hat er es doch – als treuer Untertan – auf das Blut des Juden abgesehen, so wie dieser das Blut des Prinzen will. Darüber hinaus wird Barrabas beständig von Pickelhäring unterbrochen, der wiederum Funktion hat, seinen Herrn zu beschützen und den Widersacher von ihm fernzuhalten. Diese Unterbrechungen erweisen sich – so Scheit – als umso fataler, wenn bewusst wird, dass so der Dialog zwischen Christ und Jude reduziert wird und Barrabas so keine Möglichkeit hat, im Angesicht des christlichen Gegenübers seine Interessen darzulegen und sein Rachebedürfnis zu erläutern. Vielmehr sieht er sich stets mit dem unverhohlen judenfeindlich argumentierenden Pickelhäring konfrontiert, mit dem sich kein Dialog führen lässt.80 Zunächst wird jedoch noch, trotz der Verwunderung ob des eigenartigen Pfandes von Seiten Florellos und des Herzogs von Venedig, suggeriert, dass es sich um einen fairen Prozess handelt. Dieser Eindruck wird aber sogleich wieder dekonstruiert, da der Herzog implizit antijüdische Stereotype aufruft – namentlich das des ‚jüdischen Blutdurstes‘ und den damit verbundenen ‚Ritualmord‘: Mich wundert nicht so sehr, daß es der Jude begert, als daß der närrische mensch underschrieben hat; Jude laß den gefangenen vor uns kommen, wir müsen ihn auch anhören und vernemmen ob er die handschrifft gesteht oder nicht.81
78 Ebd., S. 264 (V,5). 79 Zum komischen Bewegungsprinzip der Szenen vgl. Fulda: Komik des Sichtbarmachens (wie Anm. 19), S. 90–94. 80 Scheit (wie Anm. 14), S. 129. 81 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 266 (V,6).
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Der Prinz wird hereingeführt und der Herzog sowie Florello machen jeweils Bemerkungen, die auf den Ausgang des Prozesses hindeuten: Hertzog: Florello:
Nun bey meinem leben, ein schöne grade und adeliche Persohn, es wäre schade, wan er in unglück kommen sollte. ich empfinde ein heimliches mitleiden gegen ihn in meinem herzten.82
Der Jude wird aufgefordert die Schuldverschreibung zu verlesen, wird dabei jedoch immer wieder von Pickelhäring unterbrochen, der durch seine derben Repliken das Publikum erheitert und die antijüdische Interpretation des Stückes unterstützt. Der Herzog befragt den Prinzen, warum er eine solche Vereinbarung eingegangen sei. Dieser thematisiert in seiner Antwort jedoch nicht die eigene Leichtsinnigkeit, sondern beschuldigt den Juden ihn überredet zu haben. Da er aber unterschrieben hat, sieht der Herzog keinen anderen Ausweg den Prinzen zu retten, als die Bitte um Milde und bietet Barrabas an, die Schulden zu übernehmen. Barrabas weist jedoch jeden Gedanken daran von sich, einmal unter Hinweis auf seine Frömmigkeit, einmal mit dem Hinweis, dass er den Herren schuldig sei, „tribut und gelt zugeben, und nicht von ihnen zuempfangen“.83 Insbesondere hier wird deutlich, dass er stets seiner Rolle verhaftet bleibt, beruhen seine Rachegelüste doch auch auf der Konfiszierung seines Vermögens durch die zypriotische Herrschaft. Dementsprechend verweist er nicht auf das ihm zugefügte Leid, welches vom Prinzen ausgegangen ist: Betrug und Täuschung ist ihm Wesensmerkmal. Er beruft sich in seiner Unnachgiebigkeit auf seine Frömmigkeit, doch verweigert er ein „mitleiden gegen diesen praven Jüngling“.84 Der Logik des Stückes entsprechend ist es auch abwegig, dieses von ihm zu verlangen, da man ihn doch stets nur als Juden wahrgenommen hat, der anders als die Christen sei, und so kann er kein christliches Mitleid empfinden. Ich bin aber nicht damit zufrieden, ich will beweissen, daß ich der fromme Jud Josephus bin, in dem ich so genau nach der gerechtigkeit lebe, und kein haar breit darvon abweichen will; die zeit ist verflossen, er hat mich nicht bezahlt, derwegen begehr ich nichts als meine Servitur.85
Hier kommt wieder Barrabas überkommene Rechtsvorstellung zum Tragen, mit der er begründet, dass er das gebotene Geld nicht nimmt. Es geht ihm um Gerechtigkeit 82 83 84 85
Ebd., S. 266 (V,7). Ebd., S. 267 (V,7). Ebd. Ebd.
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nach dem alttestamentarischen Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex. 21,22–24), nicht um Vergebung, wie sie von den Christen eingefordert wird. Damit werden aber im Wanderbühnenstück auch Judentum und Christentum zueinander in Bezug gesetzt: Das Judentum erscheint als Religion des überkommenen Rechts, der Rache, das Christentum als Religion der Gnade und Vergebung.86 Denn während der Herzog bereit ist, ein Opfer zu leisten und an Mitleid und Gnade appelliert, beharrt Barrabas auf der der Anwendung des Gesetzes. Dass er durch diese schließlich selbst ins Unrecht gerät, macht deutlich, nicht nur welcher Religion der Vorzug zu geben sei, sondern vielmehr welche die ‚rechte‘ sei. Doch noch wissen der Herzog und Florello keinen Ausweg, ist Barrabas doch durch die Handschrift im Recht und so bleibt es Anciletta überlassen, ihn zu retten.87 Sie lässt sich die Handschrift vortragen und gibt dem Juden recht: Er soll sich sein Pfund Fleisch nehmen. Barrabas wähnt sich nun am Ziel seiner Rache und vergleicht Ancilletta mit der alttestamentarischen Gestalt des Daniel, der neben Hiob und Noah als vorbildlicher Gerechter genannt wird (Hes. 14, 14–20). Jude: Pickelh.: Printz: Pickelh.: Jud:
Pickelh.: Jude:
Sacra Justitia, Sancta Justitia, ein anderer Daniel, ein anderer Daniel. Ein schelmischer Jud, ein diebischer Hundsfutt, Herr gebt eüch zuerkennen, daß ihr ein Printz seyt; vielleicht werden sie eüch hernach gehen lassen. Ich will lieber sterben als meines Vatters befehl zu widerstreben. (kniet.) So sagt dan ihr seyt ein sau, dan solch fleisch essen die Juden nicht. Wart Christ, ietz will ich die eine alte Schuld bezahlen, welche du vielleicht schon vergessen hast. (er will in die seitten schneiden und Pickelh. ihm in arsch.) Willstu meinen Herren die seitten verderben, so will ich noch ein grösser stücke aus deinem podex kriegen. Was machstu Pickelh.? laß mich zufrieden.88
Pickelhäring zieht die Forderungen des Juden und sein absurdes Vorhaben ins Lächerliche. Zudem erspart er den hohen Figuren durch seine beständige Einmischung den direkten Kontakt mit der jüdischen Figur.89 Des Weiteren zeigen
86 Ähnlich auch Dietrich Schwanitz: Das Shylock-Syndrom oder Die Dramaturgie der Barbarei. Frankfurt a.M. 1998, S. 145. 87 Eine pragmatische Begründung für ihren plötzlichen Auftritt bei Gericht gibt es nicht, es erscheint als göttliche Fügung und Ancilettas Rolle als Richter bezieht ihre Logik aus der Liebeshandlung: Es ist von Anfang an ihre Aufgabe, ein Urteil über ihre Freier zu sprechen. Die Abwehr des Anspruches, den Barrabas auf des Prinzen Fleisch und damit Leben erhebt, ist dementsprechend ergänzt durch eine Szene, in der Anciletta sich von ihrem Vater der Fürsorge des Prinzen übergeben lässt. So Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 118f. 88 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 269 (V,8). 89 Vgl. dazu auch Scheit (wie Anm. 14), S. 129–131.
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sich in dieser Szene nochmals die unterschiedlichen Auffassungen von Gerechtigkeit: Barrabas erscheint als Vertreter einer archaischen Rechtsauffassung und Ancilletta in der Rolle des Juristen als Repräsentant eines „fortgeschrittenen Juristenrechts, in dem das Recht durch das Recht eingeschränkt wird“.90 Durch ihre wörtliche Auslegung des Schuldscheins spricht sie im Sinne der venezianischen Gesetze und so wenden sich diese, von Barrabas geforderten, gegen ihn: Er darf kein Gramm mehr oder weniger Fleisch als genau ein Pfund herausschneiden und dabei keinen Tropfen Blut vergießen. Damit wird es ihm unmöglich, seine Rache zu vollziehen und er versucht nun, wenigstens die 2000 Dukaten wiederzuerlangen. Barrabas hat die Summe jedoch wiederholt abgelehnt, er wollte das Fleisch, sonst nichts. Deshalb muss er nun sein Pfand, und zwar unter der genannten unmöglichen Bedingung, nehmen: Du hast kurtz zuvor nicht anders, als dein pfund fleisch haben wollen; weil du es aber nicht gerade treffen kanst, so solltu ietzund weder gelt noch fleisch bekommen.91
Barrabas beharrt zwar auf seinem Geld, jedoch erfolglos. Das von ihm geforderte und angewandte Recht richtet sich gegen ihn, sodass es nun Pickelhäring ist, der ausruft: „Sacra iustitia, Sancta iustitia, ein ander Daniel, ein ander Daniel.“92 Barrabas bleibt nur noch, auf die Ungerechtigkeit der Christen zu verweisen, doch bleibt dieser Appell ohne Folgen, da er es schließlich war, der den Prinzen vor Gericht gezogen hat. Er wird vom Herzog der Bühne verwiesen und unter Schmähungen und Prügeln vertrieben. Im Stück wird somit das vollzogen, was sich schon auf struktureller Ebene angedeutet hat: Der Jude wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Dies erhält umso mehr Berechtigung, wenn nicht nur sein konkretes Verhalten – Betrug und Täuschung, Wucher und Rachegelüste –, sondern auch die im Stück vertretene Bewertung des Judentums insgesamt berücksichtigt wird: Juden sind nichts als „ungeziefer“, sie schaden Staat und Gesellschaft, Wucher, Betrug und Täuschung sind ihnen Wesensmerkmale. Überzeugungskraft erhält eine solche Auffassung des Judentums dabei nicht nur durch die im Stück vorgebrachten Beschimpfungen und Selbstdenunziationen, sondern auch und vor allem durch die Wiederholung des bereits Gesagten, aus dem Zitat, aus der Wiederkehr des Stereotyps. Die Identität des Judentums konstituiert sich im Stück anhand bekannter und gängiger zeitgenössischer Vorwürfe und Anschuldigungen (Blut90 So Schwanitz in Bezug auf Shakespeares „Merchant of Venice”. Gleiches gilt auch für den Rechtsstreit im „Juden von Venetien“. Schwanitz (wie Anm. 86), S. 145. 91 Comoedia/ Genandt/ Der Jude von Venetien (wie Anm. 6), S. 270 (V,8). 92 Ebd., S. 269f. (V,8).
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durst, Wucher, Heuchelei oder Christenhass), sodass die Juden als das schlechthin Böse erscheinen.
5.2 „die juden solt man alle henckhen“: Das Endinger Judenspiel In den bisher beleuchteten Texten tauchte schon wiederholt der Vorwurf auf, dass sich Juden des ‚Ritualmordes‘ insbesondere an christlichen Kindern schuldig machen würden. Diese irrationalen Anschuldigungen – laut Frey „ein allgemein akzeptiertes Kulturmuster des christlichen Europa“93 – gegenüber Juden haben über Jahrhunderte hinweg zu Folterungen, Prozessen, Vertreibungen und Gewaltexzessen geführt. Angesichts der weiten Verbreitung und großen Konsistenz der Beschuldigung verwundert es nicht, dass diese auch immer wieder in der Literatur aufgegriffen wurde. Ausgangspunkt der Wahnidee vom ‚jüdischen Ritualmord‘, mit ihren ganz realen Auswirkungen, war in den meisten Fällen der Fund von Leichen. So auch bei den „unschuldigen Kindern von Endingen“.94 Dort fand man 1470 vier Leichen christlicher Landfahrer – Mann, Frau und zwei Kinder –, die acht Jahre zuvor ermordet worden waren. Man beschuldigte die in Endingen ansässigen Juden, sie hätten das Blut der Ermordeten zu rituellen Zwecken genutzt. Die Juden wurden vor Gericht gezogen, am 4. April 1470 aufgrund von durch Folter erzwungenen Geständnissen verurteilt, durch die Stadt geschleift und verbrannt. Die nicht vor Gericht gestellten Juden wurden vertrieben und ihr Vermögen fiel an den zuständigen Gerichtsherren.95
93 Rainer Erb: Zur Erforschung der europäischen Ritualmordbeschuldigung. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 9–16, hier S. 9. 94 Karl Kurrus: Die unschuldigen Kinder von Endingen. In: Endingen am Kaiserstuhl. Die Geschichte der Stadt. Hg. von Bernhard Oeschger. Endingen 1988, S. 599–608. 95 Vgl. zum Endinger Ritualmordprozess die grundlegenden Studien von Ronnie Po-Chia Hsia: The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven, London 1988; Heinz Schreckenberg: Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld. 3 Bde. Frankfurt a.M. u.a. 1994–1999, S. 658; Winfried Frey: Das Endinger Judenspiel. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 201–221; Karl Joseph Baum: Das Endinger Judenspiel als Ausdruck mittelalterlicher Judenfeindschaft. In: Judentum im Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch. Hg. von Paul Wilpert. Berlin 1966 (Miscellana Mediaevallia 4), S. 337–349; Stephanie Olgemann: Der juden grewlich missethat. Die Legende vom jüdischen Ritualmord am Beispiel des Endinger Ritualmordvorwurfs von 1470. In: Judentum und Antijudais-
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Soweit die gesicherten Fakten. Diese wurden über ein Jahrhundert später dramatisch verarbeitet und 1616 in Endingen eine „Comedia“ aufgeführt: Zuo Endingen ist ein statliche Comedia gehalten worden von etlichen unschuldigen Kinderlein, so daselbsten von innewohnenten Juden vor Zeiten haimlich umbgebracht, darüber sie eingezogen, bekennt, und in dasz Fewr geworffen und verbrennt worden. Deren Kinderlein cadavera noch vorhanden und zuo zeigen sein. Eben zuo dieser Comedi seindt von allen umbligenden Städten und Flecken Gesandten begert und erfordert, darbey auch stattliche instrumentalis und vocalis musica gehalten worden. Sonsten von umbligenden Orthen vil tausent Menschen herzuo gezogen, solcher Comedi zuozuschawen und abzuowarten.96
Inwieweit es sich bei dieser „Comedia“ um den Spieltext des sogenannten Endinger Judenspiels handelt, dessen älteste erhaltene Abschrift aus dem Jahr 1810 ist, muss offenbleiben.97 Frey vermutet, dass sich der von Amira herausgegebene Spieltext „ziemlich eng“98 an das sogenannte „Verhörprotokoll“ anlehnt.99 Es ist mithin aus quellenkritischer Perspektive durchaus fragwürdig, eine solch unsichere Fassung zum Gegenstand der Analyse zu machen.100 Dennoch soll es in dieser Form berücksichtigt werden, ist das Stück doch nicht zuletzt ein Beleg über das forcierte Fortleben der Erinnerung an die Tat und die Persistenz judenfeindlicher Anschuldigungen.101 Das Endinger Judenspiel muss im Kontext von unterschiedlichsten Versuchen, das Anders- und Fremdsein der jüdischen Minderheit festzuschreiben, verstanden werden. Der Begriff der ‚Festschreibung‘ bezeichnet nach von Glasenapp jedoch nicht nur die Zuweisung vermeintlicher Eigenschaften oder Charakterzüge, sondern erscheint zugleich geeignet,
mus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch. Hg. von Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj. Berlin 2002, S. 85–119 sowie Georg Wolfram: Prozessakten eines angeblich durch Juden verübten Christenmords zu Endingen. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 2 (1887), S. 313–321. Siehe auch Isidor Kracauer: L’affaire des Juifs d’Endingen de 1470. In: Revue des études juives (16) 1888, S. 236–245. 96 Das Endinger Judenspiel. Zum ersten Mal herausgegeben von Karl von Amira. Halle 1883 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 41), S. 3. 97 Vgl. zur Edition ebd., S. 3–16. 98 Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 203. 99 Vgl. zur problematischen Überlieferungsgeschichte von Spieltext und Protokoll Frey, ebd., S. 201–207. 100 Auf diese Problematik verweist auch Frey, ebd., S. 201–207. 101 So befand sich bis 1967 auf dem Seitenaltar der Peterskirche in Endingen ein Glasschrein mit mumifizierten Kinderleichen. Vgl. Kurrus (wie Anm. 94), S. 605. Ähnlich argumentiert auch Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 207–213.
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das aktive Element eines Prozesses hervorzuheben, der von der christlichen Mehrheitsgesellschaft initiiert wurde, um auf diese Weise die Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem noch stärker zu akzentuieren und die in dessen Folge auftretenden Ausgrenzungsund Gewaltmaßnahmen zu legitimieren.102
Solche Festschreibungen gipfelten seit dem Mittelalter in Beschuldigungen wie ‚Ausbeutung der Christen‘, ‚Brunnenvergiftung‘ oder ‚Ritualmord‘, wobei hervorgehoben werden muss, dass es sich bei diesen Zuschreibungen immer um solche handelte, die der christlichen Mehrheitsgesellschaft schweren Schaden zufügten.103 Sie dienten neben der Diffamierung der anderen Religionsgemeinschaft auch immer der Sicherung der eigenen Identität und Gemeinschaftsstiftung. Dieses lässt sich exemplarisch am Endinger Judenspiel zeigen. Die Form des Spiels verweist mit seinen acht- und neunsilbigen Paarreimversen auf die traditionelle Spielform des sechzehnten Jahrhunderts104 und ist eingeteilt in Prolog, Argument, acht Akte und Epilog. Betrachtet man die Anlage des Stückes, wird ersichtlich, dass schon diese den Juden die Rolle als ‚schadende‘ Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft zuschreibt: Von den 46 im Personenverzeichnis aufgeführten Figuren sind nur zehn Juden.105 Die Dominanz der Christen zeigt sich aber auch im Aufbau. So gibt es zwei Haupthandlungsstränge, der Plan des jüdischen ‚Ritualmordes‘ und seine Durchführung sowie die Gerichtsverhandlung und Hinrichtung der Juden, wobei jene Szenen, die von Christen bestimmt sind, am umfangreichsten sind. Von den acht Akten bestimmen die Juden nur zwei, so dass die Juden durch das strukturelle Übergewicht der Christen als fast schon ‚parasitäre‘ Minderheit innerhalb der christlichen Mehrheitsgesellschaft erscheinen.106
102 Gabriele von Glasenapp: „…wie eine schaurige Sage der Vorzeit“ – Die Ritualmordbeschuldigung in der jüdischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Hg. von Mark H. Gelber, Jakob Hessing, Robert Jütte. Tübingen 2009, S. 193–205, Zitat S. 193. 103 Darauf verweist von Glasenapp, ebd., S. 193. 104 Vgl. Olgemann (wie Anm. 95), S. 99f. Vgl. weiter zur gattungsgeschichtlichen Entwicklung von ‚Judenspielen‘ einführend Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant”. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen. München 1992 (Forschungen zur Geschichte der Älteren deutschen Literatur 14); Thomas Bartoldus: „We dennen menschen die schuldig sind“. Zum Antijudaismus im geistlichen Spiel des späten Mittelalters. In: Judentum und Antijudaismus in der deutschen Literatur im Mittelalter und an der Wende zur Neuzeit. Ein Studienbuch. Hg. von Arne Domrös, Thomas Bartoldus, Julian Voloj. Berlin 2002, S. 121–146. 105 Im Personenverzeichnis fehlt die Figur des Juden Abraham. 106 Ähnlich auch Baum (wie Anm. 95), S. 342f. und Olgemann (wie Anm. 95), S. 100.
5.2 „die juden solt man alle henckhen“: Das Endinger Judenspiel
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Im ersten Teil des Spiels wird vor allem das Motiv der jüdischen Bedrohung und Verschwörung verhandelt. Bereits der Prolog gibt dieses Leitmotiv vor: Zunächst wird eine Evangelienpassage (Mt. 23, 34f.) paraphrasiert und damit mittels einer – vermeintlichen – Weissagung Jesu die Deutung des Folgenden vorgegeben. Der autoritative Text wird aus seinem Kontext gerissen, handelt es sich bei dieser Rede doch weniger um eine direkte Anklage als vielmehr um eine Aufforderung zur Umkehr107 und dient so dazu, den Juden neben einem ganzen Katalog topischer Verbrechen – ‚Blutgier‘, ‚Brunnenvergiftung‘, ‚Verschwörung‘ gegen die Christen und allgemein „schelmen stuck“ und „manchen duckh“108 – auch Propheten- und damit ‚Gottesmord‘ vorzuwerfen.109 Belegt werden diese Anschuldigungen nicht nur mit Verweis auf die Bibel, sondern auch auf „d’history“ und „chronickh“,110 sodass der postulierte Christenhass der Juden und die Gefahr, die von ihnen ausgehe, als unzweifelhaft gelten können. In diesem Begründungszusammenhang erwähnt der Prolog hier jedoch den ‚Ritualmord‘ nur indirekt – „will euch sagen von den dingen“111 – und macht abschließend die Intention des Spieles deutlich: erstlich zue g’fallen meinem rath, gedächtnuss diser mörderthat, der grossen unschuld auch zue ehren, wie man sie thut dan recht verehren, und täglichen noch woll zue sehen, dass noch so grosse wunder geschehen.112
Die „mörderthat“ dient hier folglich als Exempel für den generellen Hass der Juden auf die Christen, aber noch ein zweites klingt an: Der Prolog will die Verehrung der „grossen unschuldt“ fördern, mithin Endingens Attraktivität steigern und die Wallfahrt propagieren. Es werden hier also durchaus auch ökonomische Ziele verfolgt. Geht der Prolog noch nicht gesondert auf den hier vorgestellten Fall ein, so berichtet der folgende „Argumentator“ was sich 1462 zugetragen habe. Zum „lauberfest“ seien viele Juden in der Stadt zusammengekommen und hätten vereinbart, Christen zu töten. Eine Bettlerfamilie, die im Haus des Rabbiners Elias übernachtete, wurde schließlich ermordet. Ein Nachbar habe zwar ihr Geschrei gehört, den
107 108 109 110 111 112
So Olgemann (wie Anm. 95), S. 101. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 20 (V. 41f.). Vgl. auch Olgemann (wie Anm. 95), S. 101. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 20 (V. 44). Ebd., S. 20 (V. 49). Ebd., S. 20 (VV. 51–56).
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Juden befragt und den Bürgermeister darauf aufmerksam gemacht, doch habe dieser nichts davon wissen wollen. Erst nach acht Jahren sei man beim Abbruch des „Gerner“, des Beinhauses, auf die Leichen gestoßen und habe die Juden dazu befragt. Diese hätten die Tat „ohn alle marter und ohn pein“113 gestanden und wurden daraufhin verbrannt. Auffällig bei dieser Zusammenfassung der Geschehnisse ist zunächst, dass wiederum die Glaubwürdigkeit – durch die Zeitangabe und die Schlussbemerkung114 – betont wird. Mit der genauen Zeitangabe sind jedoch noch weitere Anspielungen verbunden. So steht hinter der Angabe des Laubhüttenfestes die Annahme, dass Juden an religiösen Festen besonders blutgierig seien, und es wird der rituelle Aspekt des Christenmordes hervorgehoben. Mit dem Hinweis auf „vil gest“,115 die sich zu diesem Fest versammelt hatten, wird nicht nur die Angst vor der Gefahr, die von der Versammlung vieler Juden ausgehe, geschürt, sondern der Vorwurf der ‚Blutgier‘ in Zusammenhang mit der Vorstellung von einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ gebracht.116 Darüber hinaus wird im Argument auch eine Deutung der Opfer vorgenommen: Die Familie wird zur heiligen Familie stilisiert, die auf der Suche nach einer Herberge immer wieder abgewiesen wird und schließlich – mangels Alternativen – bei dem Rabbiner Elias in einer Scheune übernachten muss. Zudem wird darauf verwiesen, dass sie Gott und Maria loben. So wird ihre ‚Rechtgläubigkeit‘ – im Gegensatz zur ‚Falschgläubigkeit‘ der Juden – hervorgehoben. Dementsprechend wird zweimal betont, dass dank Gottes Gerechtigkeit die Leichen schließlich entdeckt und die Täter bestraft wurden.117 Insbesondere die Bestrafung der Juden war wohl in der Inszenierung als großes Spektakel angelegt: Noch dem seindt sie worden gericht hin mit dem feurr, dass fehlet nicht, wie ihr in disem spil werdt sehen, ist gewisslich wahr und ist geschehen.118
113 Ebd., S. 23 (V. 127). 114 So sei das hier Dargestellte „gwißlich wahr und ist geschehen“. Ebd., S. 23 (V. 132). 115 Ebd., S. 21 (V. 64). 116 So auch Baum (wie Anm. 95), S. 342. Vgl. zum Vorwurf der jüdischen Weltverschwörung Johannes Heil: „Gottesfeinde“ – Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert). Essen 2006 (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen 3). Zur „Jüdischen Versammlung“ vgl. besonders S. 409–427. 117 Vgl. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 22f. (V. 119, 124). 118 Ebd., S. 23 (VV. 129–134).
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Die Bestrafung „mit dem feurr“ verweist jedoch nicht nur auf die konkrete Strafe der Juden im Diesseits, sondern auch auf das, was den Juden im Jenseits zugedacht war. Im ersten Akt wird die Planung und Vorbereitung der Mordtat abgehandelt – betont wird hier durchgehend der ‚Christenhass‘ der Juden und ihre ‚Gier nach Christenblut‘. Das Spiel beginnt mit einem Monolog des Rabbiners Elias, der in einer ungenauen Paraphrase des Achtzehngebetes Gott anfleht,119 die Christen auf der ganzen Welt zu stürzen.120 So wird der Eindruck erweckt, dass der Christenhass der jüdischen Liturgie inhärent sei. Auch der vom Argumentator vorgebrachte Vorwurf, dass von jüdischen Versammlungen eine Gefahr ausgehe, wird nun von Elias selbst bestätigt, der angesichts des Festes den Christen „mit list ein duckh beweisen“121 will. Als Motivation gerade jetzt einen Mord an Christen zu verüben, wird die Anwesenheit des „zue böss judt Abraham“122 angegeben. Dieser und seine „geschmitzte gesellen“123 seien „g’übt“124 im Morden von Christen und würden „nur nach christen bluet thun stellen“.125 Im Rahmen dieser Selbstdenunziation des Rabbiners werden die in Prolog und Argument aufgeworfenen Beschuldigungen affirmiert und erhalten somit Überzeugungskraft, sie werden – bezieht man die Proklamationen, dass es sich hier um tatsächliche Ereignisse handele – gleichsam ‚wahr‘. Auch die den Juden beigegebenen Epitheta – sie bezeichnen sich selbst als „böß“, „voll duckh, voll arger list“ und „verschlagen“126 – erhöhen die ‚Authentizität‘ der vorgebrachten Anschuldigungen. Bezüglich der Planung des Mordes ist zunächst auffällig, dass die Notwendigkeit der Verschwiegenheit ausführlich diskutiert wird.127 So wird immer wieder auf die den Juden zugeschriebene Redseligkeit und Unzuverlässigkeit angespielt und der weitere Verlauf des Spieles zeigt dann auch, dass die Mahnung zur Verschwiegenheit durchaus angebracht ist, gestehen die beschuldigten Juden später doch sehr schnell und legen ihre Taten offen. Auch die Selbstbezeichnung
119 Darauf hat Frey verwiesen. Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 215. 120 Vgl. zu vermeintlich gegen Christen gerichteten Formeln in der jüdischen Liturgie: Israel Jacob Yuval: Zwei Völker in deinem Leib. Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter. Göttingen 2007 (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 4), S. 125– 145. 121 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 24 (VV. 159f.). 122 Ebd., S. 24 (V. 165). 123 Ebd., S. 24 (V. 167). 124 Ebd., S. 24 (V. 170). 125 Ebd., S. 24 (V. 168). 126 Ebd., S. 24f. (VV. 165f., 188). 127 Vgl. ebd., S. 24f (VV. 177f., 187f., 193f., 199f.), S. 28 (VV. 267–272).
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der Juden als „dapffer, küene man“128 wird durch die Geständnisse und den Umstand, dass sie ihre Tat im Dunkel der Nacht – ein Mittel der Verschleierung – verüben, konterkariert. Die Juden offenbaren in der Gesamtschau also ihr ‚wahres Wesen‘ durch ihre Taten, ihre Reden müssen dem Zuschauer als unglaubhaft, ja lügnerisch erscheinen. Als Grund ein „bluet bad über alle massen“129 an den Christen zu vollziehen, werden unterschiedliche Motive angegeben: So will Elias Rache für erlittenes Unrecht üben,130 „zue dem so ist der christen bluet/ zu vil sachen gar nutz und guet“.131 Gerade dieser unspezifische Hinweis auf den Nutzen des Blutes macht jedoch die Willkür der Blutbeschuldigung offensichtlich – hier steht die Mordlust im Vordergrund, die zugeschriebene rituelle Bedeutung des Blutes wird marginalisiert und so tritt neben die rituelle Blutverwendung eine konkurrierende Begründung, die den Mord an den Christen rational begründet: Rache.132 Als ein weiteres Motiv wird angeführt, dass die Juden wiederholt Morde an Christen verübt hätten.133 So wird die Gefahr, die von Juden ausgehe, nochmals betont und deutlich gemacht, dass es sich bei dem hier vorgestellten Ereignis keinesfalls um einen Einzelfall handele. Mehr noch – durch die Beratung mit dem jungen und unerfahrenen Mathia erscheint der Christenmord als Tradition der jüdischen Gemeinde: Die Jungen werden unterwiesen „die eltern und dess gsetzes regel, dasselb mit eyffer auch [zu] verfechten, desselben feindt auch gantz durch[zu]echten“.134 Christenhass erscheint so dem Judentum als ‚eingeschrieben‘, der Mord an Christen als tradierte Verhaltensweise. Im zweiten Akt wird der Mord an der christlichen Bettlerfamilie verübt und wartet im Vergleich mit anderen Ritualmorddarstellungen mit einer Besonderheit auf. Während – wie noch zu sehen sein wird – der Mord an dem christlichen Kind häufig als Präfiguration der Passion Christi gestaltet wird, wird diese Parallele hier sowohl auf Figuren- wie auch motivlich-thematischer Ebene gemieden.135 So wird hier nicht ein Kind gequält und ermordet, sondern eine ganze Familie. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der Argumentator diese in die Nähe der
128 Ebd., S. 39 (V. 586). 129 Ebd., S. 25 (V. 206). 130 Ebd., S. 26 (V. 208f.). 131 Ebd., S. 26 (V. 211f.). 132 So auch Bruno Quast: Anthropologie des Opfers. Beobachtungen zur Konstitution frühneuzeitlicher „Verfolgungstexte“ am Beispiel des „Endinger Judenspiels“. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 8 (1988), S. 349–360, hier S. 355. Vgl. auch Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 28f. (VV. 293f., 315f.). 133 Vgl. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 26 (V. 221–224). 134 Ebd., S. 30 (V. 340–343). 135 So Quast (wie Anm. 132), S. 356.
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heiligen Familie rückt. Dies wird nun im zweiten Akt in Szene gesetzt: Die Familie betritt die Bühne und lobt als erstes Gott, dass sie Endingen erreicht haben. Mit der Lobpreisung Gottes und der Bekundung ihres Gottvertrauens136 wird die Familie als gottesfürchtig und unschuldig vorgestellt, sodass der Mord an ihnen durch die „verschlagen[en]“137 Juden umso schrecklicher erscheinen muss. Die positive Deutung der Familie wird noch bestärkt, wenn die Mutter die Sorge um die Kinder über das eigene Leid stellt138 – dieses wird später durch Sara, die Frau des Elias, ins Gegenteil verkehrt. Gerade diese Sorge und Verzweiflung ist es aber auch, die dazu führt, dass sich die Familie zu den Juden begibt, obwohl Irus, der Vater, schon weiß, dass sie sich in Gefahr begeben. Muoss ietz die christen fahren lassen, unchristlich juden, die unss hassen, umb herberg biten, umb ein leger. Gar todt sein, wer unss weger. O weh, wie ist die lieb erlest! So gar thuet niemandt mehr dass best den armen leuten auff der welt, die got ihme hat auserwelt.139
Als Motivation, sich zu den Juden zu begeben, wird die große Verzweiflung der Familie angeführt, selbst der Tod erscheint als Alternative – eine Vorausdeutung auf Kommendes. Die Tat wird allein den Juden zur Last gelegt, mögliche gegenläufige Deutungen – schließlich sind es die Bürger Endingens, die der Familie das rettende Obdach verwehren – werden durch die Antwort eines Bürgers auf das Gesuch der Familie ausgeschlossen: Ihr lieben leut, ich sag fürwahr, ich hab für euch khein herberg gar, darzue khein stall für ewer ross, ich hab alleinen eben bloss für mich und auch für mein gesindt. Drumb wartendt, so gehe ich geschwindt, bring euch dafür ein guet stückh brodt, dass hilfft gar woll auss hungers noth,
136 137 138 139
Vgl. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 33 (V. 422). Ebd., S. 25 (V. 188). Ebd., S. 34f. (VV. 445–448). Ebd., S. 35 (VV. 457–464).
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und sprecht etwan ein andern ahn, der euch vil bass behalten khan.140
Insbesondere die Gabe hebt den christlichen Bürger von den Juden ab, denn er gibt aus Mitleid und ohne Hintersinn – anders als Sara, die Frau des Rabbiners. Die Familie klopft an die Tür des Elias und dessen Frau spricht als erstes deutlich die gegenseitige Wahrnehmung aus – „Ihr goim seindt der juden feindt“.141 Doch Sara unterläuft scheinbar die gegenseitige Frontstellung: „Die besser will ich sein“.142 Quast deutet diese Äußerung dahingehend, dass Sara „meint, mit ihrer Einladung den Gewaltnexus zu unterbinden, was ihr freilich nicht gelingen wird“.143 Damit unterlaufe sie die „dominierende Verfolgungsfunktion des Textes“,144 der Text dekonstruiere sich gleichsam selbst. Hier ist jedoch einzuwenden, dass Sara im Spiel zur Erfüllungsgehilfin des Mordes wird – dies erkennt auch Quast –, doch ist sie gerade nicht barmherzig. Die Milchgabe für die Kinder ist eine falsche, geht sie doch sofort zu ihrem Mann und informiert ihn über die Opfer. Sie weiß um den Plan der anderen Juden und so weist sie darauf hin, dass es „gantz arme leut [sind], ohn wehr und waffen“.145 Auch der Vorwurf der ‚Geldgier‘ wird an ihr exemplifiziert: So spielt bei ihrer Beschreibung der Familie der Wert des mitgeführten Pferdes die größte Rolle. Sara kann insofern keineswegs als ‚gütige Jüdin‘ gelten, sie erscheint vielmehr als Helferin der Mörder, die durch ihre scheinbar selbstlose Gabe die Barmherzigkeit des Bürgers in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mord schließlich findet nicht auf der Bühne statt, sondern wird zunächst in den Reden der Juden vollzogen, die eigentliche Tat wird nur durch die Reaktion der Opfer dargestellt: Irus. O mordio, der grossen noth, müssen mir leiden hie den todt! Die fraw. O wey, o wey, o lieber gott, hilff unss alhie auss dieser nott.146
140 141 142 143 144 145 146
Ebd., S. 34 (VV. 433–442). Ebd., S. 36 (V. 483). Ebd., S. 36 (V. 485). Quast (wie Anm. 132), S. 359. Ebd., S. 359. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 37 (V. 512). Ebd., S. 42 (VV. 671–674).
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Die Klagen der Opfer stellen, wie Quast gezeigt hat, ihr Menschsein in den Mittelpunkt und setzten sich somit vom Passionsspiel ab, in der der Gefolterte die Leiden sprachlos erträgt und so seine Göttlichkeit bekundet.147 Die Folterungen der Familie selbst werden im Rahmen der Handlungsanweisungen des Rabbiners offenbar. Wurde vorher der rituelle Aspekt des Mordes kaum betont, gewinnt er in der Mordbeschreibung umso größere Bedeutung: erstlich dieselben mit ein stich hinferckh, hinricht gleich wie das vich, hernach die gurgell woll abschneiden, so werden sies nit lang mehr treiben. Vor allen dingen solt ihr bhalten, dass ihr hinfertigen die alten, die kinder erst in disem schlaff ermördet, metzget wie die schaff. Dass blut derselben bhaltet flissig, die häupter auch gantz unverdrissig, zue grossen sachen, die mir wissen, zue brauchen künstlich und zue gniessen.148
Die deutlichen Allusionen auf das rituelle Schächten sind gewiss nicht zufällig, die Familie soll – unter Anspielung auf Jes. 53,7149 – wie Schafe abgeschlachtet werden. Selbst ihre Liturgie, so wird wiederum angedeutet, dient der Vertuschung ihrer Verbrechen, weist Elias doch die anderen Juden an, bei möglichem Geschrei der Opfer selbst im Haus zu „tumultieren, schreyen überauss und unser gwonlich bet anheben mit grossem gmirmel hebraisch reden“.150 Damit dient ihr „hebraisch reden“ nicht mehr wie noch im Passionsspiel der Kennzeichnung und Distinktion der christus- und christenfeindlichen Juden, sondern führt vielmehr ihre Heimtücke vor, ihre Sprache wird zum Symbol ihres Verschwörertums.151
147 Vgl. Quast (wie Anm. 132), S. 357. Vgl. weiter auch Winfried Frey: Gottesmörder und Menschenfeinde. Zum Judenbild in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 35–51, hier S. 37 148 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 39 (VV. 587–598). 149 So Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 216. 150 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 40 (VV. 602–604). So auch Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 217. 151 So Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 216f. Vgl. weiter: Winfried Frey: Pater noster Pyrenbitz. Zur sprachlichen Gestaltung jüdischer Figuren im deutschen Theater des Mittelalters. In: Aschkenas 2 (1992), S. 49–72. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass sich die Sprache der jüdischen Figuren im Spieltext nicht von jener der christlichen unterscheidet. Die Sprache dient folglich hier nicht als Mittel der Ab- und Ausgrenzung. Aufgrund der
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Auch die Verstümmelung der Körper wird nicht näher beschriebenen jüdischen Riten zugeordnet, auffällig ist jedoch, dass das Blut der Kinder entnommen werden soll und Elias es später austeilen will.152 Hier wird der Vorwurf der ‚Verschwörung‘ nochmals aufgenommen. Die schon mehrfach angeklungene ‚Hinterhältigkeit‘ und ‚Falschheit‘ der Juden wird bei der Planung des Mordes insbesondere an der Figur des Rabbiners vorgestellt. So will er die Leichen im „gerner“ begraben lassen, sodass, falls man sie entdecken sollte, die Tat den Christen zugeschrieben wird153 – ein Umstand der im Übrigen später strafverstärkend wirken wird.154 Zudem nutzt er sein Rabbinat, um sich von der von ihm erdachten Tat fernzuhalten. Dennoch gibt es später keinen Zweifel an der kollektiven Schuld der Juden – Elias fungiert als Exempelfigur für all jene Vorwürfe, die ihnen angelastet werden. Nachdem der Rabbiner diese genauen Anweisungen gegeben hat, wiederholen die beteiligten Juden ihre Aufgaben: Diese Wiederholung dient nicht nur der Darstellung der unbändigen Mordlust der Juden, sondern führt zugleich auch ein mnemotechnisches Programm vor: Durch die beständige Wiederholung wird die Legende dem Zuschauer eingeprägt und so nicht nur „das gedächtnuss dieser mörderthat“155 gefördert, sondern vor allem der Hass auf die Juden. Dass der Mord jedoch keineswegs unbemerkt geblieben ist, wird im folgenden Akt anhand der Figur Jacob Metzgers, dem Nachbarn Elias, gezeigt. Dieser hat, ebenso wie sein Nachbar Cünlin Binder, die Juden in der Nacht gehört. Obwohl sie beide nichts gesehen haben, sind sie sich sicher, dass diese etwas Unrechtes getan haben. Dementsprechend glaubt Jacob Elias auch nicht, als dieser sich zu rechtfertigen sucht, und zeigt das Geschehen beim Bürgermeister an. Dieser dritte Akt hat zunächst die Funktion, im Stück den Zeitsprung von acht Jahren plausibel zu machen. Wichtiger aber noch ist, dass an der Figur des Jacob Metzgers, der vom Bürgermeister als „weisser man“156 bezeichnet wird, das „Vor-
unsicheren Überlieferungssituation können hierzu jedoch keine verlässlichen Aussagen getroffen werden. Darüber hinaus finden sich auch keine Angaben zur Ausstattung der Juden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Juden sich in ihrer Kleidung nicht zuletzt durch äußere Zeichen wie Ring oder Hut deutlich von den christlichen Figuren unterscheiden. Vgl. dazu neben Frey (Pater noster Pyrenbitz, S. 54–56) auch die von Neumann zusammengestellten Belege: Bernd Neumann: Geistliches Spiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet. 2 Bde. München, Zürich 1987 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84). 152 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 40 (VV. 609–614). 153 Ebd., S. 40 (VV. 615–624). 154 Vgl. ebd., S. 85 (VV. 1722–1735). 155 Ebd., S. 20 (V. 52). 156 Ebd., S. 45 (V. 755).
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Urteil“157 – hier im wörtlichen Sinne – vorgeführt wird. Für Metzger, der den Juden von vornherein feindlich gesinnt ist – „die juden solt man alle henckhen“158 – ist sogleich klar, dass die Juden ein Verbrechen begangen hätten, andere Möglichkeiten kommen ihm gar nicht in den Sinn. Dieser Zusammenhang von Vorurteil und Urteil prägt nicht nur den gesamten zweiten Teil des Spiels, der, wie Hsia richtig bemerkt hat, der Darstellung des Triumphs des Christentums gegenüber dem Judentum dient,159 sondern findet sich zudem auch im Aufbau. So setzen Prolog und Argument den Mord als tatsächlich Geschehenes – jeder Zweifel ist ausgeschlossen. Das Spiel schließlich bietet dieses Geschehen noch einmal ausführlich dar und bestärkt und verstärkt so die Validität des ‚VorUrteils‘.160 Nach der Entdeckung der Leichen und dem ersten Wunder161 werden nach der Befragung Jacob Metzgers sogleich die Juden vorgeladen – andere Täter kommen entsprechend der Vor-Urteils-Logik nicht in Frage. Zunächst wird Elias vorgeladen, der sich wiederum als besonders hinterhältig erweist: So beschuldigt er sogleich die anderen Juden namentlich und betont seine eigene Unschuld.162 Auch Eberlin leugnet eine direkte Beteiligung an der Tat, doch wie Elias kann ihn dieses nicht vor der Verhaftung schützen. Einzig der Jude Merckhlin, der erst von Bürgern eingefangen werden musste, gesteht umfassend und kehrt damit das Verschwörungsmotiv um: Die vorher verabredete Verschwiegenheit wird von keinem der Juden befolgt, sie teilen dem Gericht umfassend mit, was sich zugetragen hat. In den Geständnissen wird zudem nochmals der Ritualmordvorwurf von den Juden selbst bestätigt, gibt Merckhlin doch unumwunden zu, dass man das Blut für „malazey“163 und „crisam“164 gebrauche. An diesem Punkt des Spiels wäre es durchaus folgerichtig, die Juden sofort zu verurteilen, doch ist das Spiel bestrebt, den Eindruck einer ungerechten Vor-Verurteilung nicht aufkommen zu lassen und so begegnet man den Juden vordergründig mit einer alle Rechtsformen wahrenden Justiz.165 Dieser Eindruck wird jedoch wiederum dekonstruiert durch die gelegentlichen Einwürfe von Repräsentanten des Volkes: des Stadt-
157 Baum (wie Anm. 95), S. 345. 158 Ebd., S. 43 (V. 702). 159 Vgl. Hsia: The Myth of Ritual Murder (wie Anm. 95), S. 38–40. 160 So auch Baum (wie Anm. 95), S. 345. 161 Vgl. Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 49f. (VV. 839–848). 162 Vgl. ebd., S. 58 (VV. 1039–1048). 163 Ebd., S. 65 (V. 1211). 164 Ebd., S. 66 (V. 1227). 165 So wird nach Anhörung durch die Amtmänner vom Bürgermeister ein „unpartheysch Gericht“ (ebd., S. 71, V. 1356) aus zehn adligen Räten einberufen, welches nach „kayserlich recht“ (ebd., S. 88, V. 1822) urteilt.
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knechtes,166 verschiedener Bürger167 und der Knaben.168 Auch wird den Juden kein Verteidiger zur Seite gestellt, ihre Klagen über die ihnen durch die Christen zugefügten Qualen verhallen ungehört. Sowohl die Taten der Juden wie auch der Christen werden mithin als gegenseitiger Racheakt ausgewiesen. So belegen insbesondere die Äußerungen des Stadtknechtes den Hass der Bevölkerung für die als wirtschaftliche Konkurrenten gefürchteten Juden.169 Erhärtet wird diese Annahme durch Äußerungen der Juden selbst, besonders durch die des Elias, der betont, dass die Christen „unser volckh mit höchster schanden, durch echten, schandlich schmehen, schenden in aller welt, an allen enden“.170 Erklärtes Ziel der Juden sei es, den Christen durch ihre Tat „mit list ein duckh“171 zu beweisen. Somit handelt es sich bei Tat und Urteil um gegenseitige Racheakte für erlittenes Unheil, die der Amtmann auf die Formel bringt: „zan um zan, aug um aug, […] handt umb handt, leib umb leib“.172 Dass das Recht jedoch eindeutig auf christlicher Seite ist, wird von höchster Warte aus bestätigt: So findet man die Leichen unverwest und sowohl der Pfarrherr wie auch zwei Bürger erfahren die Wundertätigkeit der Leichname.173 Die vom Gericht gegen die Juden verhängte Strafe legitimiert sich folglich „als notwendig in Ausübung seiner Funktion als irdischer Arm der göttlichen Gerechtigkeit“.174 Wan ihr solches thuon, so felt ihr nicht, wie dan auch der allmechtig gott uns fürschreibt in seinem gebott: wer menschen bluot vergeisst auf erden, dess bluot soll auch vergossen werden. Diss gib ich euch ietz zue verstohn und will dass recht ietz walten lohn.
166 Ebd., S. 59f. (VV. 1071–1074), 61 (VV. 1118–1123). 167 Ebd., S. 43 (V. 702), 62 (1146f.). 168 Ebd., S. 89f. (VV. 1846–1871). Im Gegensatz zu den Bürgern ist die Obrigkeit zwar nicht so voreilig, von vornherein die Hinrichtung der Juden zu fordern, doch auch sie diffamieren die Juden. Vgl. ebd., S. 82 (V. 1648), S. 86 (VV. 1710f., 1768f.). Vgl. dazu auch Baum (wie Anm. 95), S. 347. 169 So lassen die Äußerungen des Stadtknechtes bei der Verhaftung Elias darauf schließen, dass dieser bei dem Rabbiner stark verschuldet ist. Vgl. Das Endinger Judenspiel, S. 59f. (VV. 1071– 1074). Dies gegen Olgemann, die feststellt, dass „kommerzielle Interessen oder Ungleichheiten jeder Art verschwiegen werden“. Olgemann (wie Anm. 95), S. 101. 170 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 23 (VV. 148–150). 171 Ebd., S. 24 (V. 159f.). Baum deutet „duckh“ als Demütigung, niederbeugender Schlag oder Racheakt. Vgl. Baum (wie Anm. 95), S. 345. 172 Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 80 (VV. 1578–1580). 173 Ebd., S. 49f. (VV. 839–848). 174 Frey: Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 95), S. 217.
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Wan ihr ietz thuon, wie ihr bericht, und sy vom leben zum todt gericht, so geschieht, wie kayserlich recht inhalt, und geschieht den juden gar khein gwalt.175
Auch der Epilog betont nochmals, dass die vom Gericht verhängte Strafe durch den Menschen ausgeführtes göttliches Recht sei: Obschon lang verdeckht diese excessen, got hots darumb noch nit vergessen. Kein faden würdt so rein gesponnen, der kompt zue letzt auch ahn die sonnen. Darumb merckh, o lieber fromer christ, wie d’sündt vor got so grawsam ist. Er losst dass böss nicht ungerochen, darumb ist der gerner verbrochen, dardurch dan ahn tag ist khomen der mordt, wie ihr ietz habt vernommen.176
Die Taten der Juden haben die göttliche Gerechtigkeit herausgefordert und insofern erscheint es auch gerechtfertigt, sich auf jede mögliche Weise gegen sie zu wehren, haben sie doch wiederholt erwiesen, dass sie sich wie antichristliche „ungeheur“177 verhalten, ja es seien. Dieser Logik entsprechend wird auch keinerlei Kritik an dem sadistischen Verhalten der beiden Jungen gegenüber den Verurteilten geübt,178 ja nicht einmal gegenüber den Hingerichteten wird Erbarmen gezeigt.179 Gerade in dieser letzten Szene und dem Epilog bricht sich ein Hass auf die Juden Bahn, der durch nichts gemildert wird: Selbst die letzte physische Existenz der „ungeheur“ wird ausgelöscht. Mit dem Endinger Judenspiel liegt somit in ein Zeugnis ungehemmter Judenfeindschaft vor, das dem Zuschauer mittels expliziter – Prologus, Argumentator und Epilogus sprechen diesen direkt an – und impliziter180 Anweisungen, das ‚rechte‘ Verhalten gegenüber Juden nahelegt: Angesichts ihres Christenhasses, der in diesem Spiel erwiesen wurde, müssen sie verfolgt und vernichtet werden.
175 176 177 178 179 180
Das Endinger Judenspiel (wie Anm. 96), S. 80 (VV. 1587–1597). Ebd., S. 91 (VV. 1892–1901). Ebd., S. 91 (V. 1884). Vgl. ebd., S. 89f. (VV. 1846–1871). Vgl. ebd., S. 91 (V. 1887). Vgl. ebd., S. 43 (V. 702).
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5.3 Rabbiner und Pfandleiher: Andreas Gryphius Horribilicribrifax Teutsch In dem um 1648181 entstandenen Scherzspiel Horribilicribrifax Teutsch182 – neben Peter Squentz eine der heute bekanntesten Komödien des Andreas Gryphius – lässt sich die einzige jüdische Figur im gesamten Werk des Autors finden.183 Doch wurde dieser Umstand von der Forschung kaum beachtet. Dies mag vor allem in der noch immer überschaubaren literaturwissenschaftlichen Forschung zu Gryphius Lustspielen begründet sein, wird doch die Figur des jüdischen Pfandleihers Isaschar meist nur am Rande gestreift.184
181 Zur unklaren Entstehungszeit – im Allgemeinen wird das Jahr 1648 angenommen, Hinweise darauf sind der Heiraths-Contract und der Brief des Daradiridatumtarides – vgl. Daniela Toscan: Form und Funktion des Komischen in den Komödien von Andreas Gryphius. Bern u.a. 2000 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 33), S. 121f. 182 Zitiert nach der Ausgabe: Andreas Gryphius. Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 3), S. 621–720. 183 Diese Feststellung bezieht sich auf das zeitgenössische Judentum. So gibt es im Werk eine große Anzahl weiterer jüdischer Figuren, die jedoch immer in Zusammenhang mit dem Alten bzw. Neuen Testament stehen und insofern von dieser Analyse ausgeschlossen sind. 184 Andreas Gryphius wurde lange Zeit vor allem als Lyriker und Trauerspiel-Dichter rezipiert, im zwanzigsten Jahrhundert rückten aber allmählich auch seine Lustspiele in den Blick der Forschung. Dennoch ist im Vergleich zu den anderen Werken besonders die Forschungsliteratur zum Lustspiel Horribilicribrifax überschaubar. Vgl. Bernhard Asmuth: Edle Liebe und arge Komik. Gryphius’ Scherz-Spiel „Horribilicribrifax Teutsch“. In: Deutsche Komödien. Vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von Winfried Freund. München 1988, S. 16–31; Walter Hinck: Gryphius und die italienische Komödie. Untersuchung zum „Horribilicribrifax“. In: GRM N.F. 13 (1963), S. 120–146; Toscan (wie Anm. 181); Eberhard Mannack: Andreas Gryphius’ Lustspiele – ihre Herkunft, ihre Motive und ihre Entwicklung. In: Euphorion 58 (1964), S.1–40; Daniel Fulda: Falsches Kleid und bare Münze. Tausch und Täuschung als Konstituenten der Komödie, mit zwei Beispielen aus dem Barock. In: IASL 25 (2000), S. 22–47; Ders.: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), Désirée Bourger: Schwert und Zunge: Über die zweifache Prahlerei in Andreas Gryphius’ Horribilicribrifax. In: Daphnis 28 (1999), S. 117–136; Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998; Klaus Haberkamm: Scherz-Spiel als Sprech-Spiel. Andreas Gryphius’ Liebes-Spiel „Horribilicribrifax“. In: Komödien-Sprache. Beiträge zum deutschen Lustspiel zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert. Mit einem Anhang zur Literaturdidaktik der Komödie. Hg. von Helmut Arntzen. Münster 1988 (Literatur als Sprache 5), S. 1–21; Dirk Niefanger: Sprach- und Verständnisprobleme in Horrribilicribrifax Teutsch von Andreas Gryphius. In: Juvilejnyj zbirnyk na pošanu profesora Bohdana Vasyl‘ovyča Maksymčuka. Ed. Alla J. Paslavska. Lviv 2011, S. 191–199; Ingrid Schiewek: Ein altes Scherzspiel im Kontext des 17. Jahrhunderts. Überlegungen zum „Horribilicribrifax“ des Andreas Gryphius. In: Weimarer Beiträge 5 (1980), S. 77–105; Armin Schlienger: Das Komische in den Komödien des Andreas Gryphius. Ein Beitrag zu Ernst und Scherz im Barocktheater. Bern 1970 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Deutsche Literatur und Germanistik 28); Jolanda Lötscher: Andreae Gryphii Horribilicribrifax Teutsch. Formanalyse und Interpretation eines deut-
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Im Folgenden soll nun der These nachgegangen werden, dass sich aber gerade über die Figur ein tieferes Verständnis für die Komödie eröffnet, hat Isaschar doch Einfluss auf oder zumindest Kontakt zu den meisten der im Stück verhandelten Themenbereiche. Zugespitzt formuliert: Die jüdische Figur hat über ihre Profession und ihr Außenseitertum einen bestimmenden Anteil am Stück, sodass er es ist, der die wichtigsten Sätze im Stück spricht. Wie der Doppeltitel Horribilicribrifax Teutsch und Wehlende Liebhaber andeutet, dies wurde wiederholt bemerkt,185 verhandelt das Scherzspiel vordergründig zwei Themen: die Welt der Liebe und die Welt des Krieges. Kaminski hat darauf verwiesen, dass diese Themen – die auch Opitz in seiner Charakteristik der Komödie nennt186 – jedoch nicht auf „zeitlos-indifferentem Komödienterrain“ verhandelt werden, „sondern auf einem historisch situierten Nachkriegsschauplatz am Ende des Dreißigjährigen Krieges“.187 Vorgeführt wird eine Reihe von Figuren, die sich in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sehen. So treten einem zwei „weiland reformirete Hauptleute“ entgegen, die als Mitverursacher der Verwüstungen jetzt selber Not leiden, und zwei „verarmte Jungfrau[en]“ samt deren Müttern. Doch nicht nur diese, ihre Not explizit thematisierenden Figuren sind an Handel, Tausch und Täuschung beteiligt. Auch die Kupplerin Cyrilla ist immer an einem vorteilhaften Handel interessiert und selbst die ranghöheren Figuren wie Palladius, Cleander und Coelestina sind auf den Handel mit Geld und Waren angewiesen.188 Dementsprechend können die „wehlenden Liebhaber“ auch nicht mehr frei wählen, vielmehr ist die Liebeswahl – wie insbesondere an Selene und
schen Lustspiels des 17. Jahrhunderts im soziokulturellen und dichtungstheoretischen Kontext. Bern u.a. 1994 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 18); Gerhard Kaiser: Horribilicribrifax Teutsch. Wehlende liebhaber. In: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen. Hg. von Gerhard Kaiser. Stuttgart 1968, S. 226–255; Florent Gabaude: Les comédies dAndreas Gryphius (1616–1664) et la notion de grotesque. Bern 2004. 185 Vgl. beispielhaft neben Kaminski: Andreas Gryphius (wie Anm. 184), S. 182 auch Judith P. Aikin: The Comedies of Andreas Gryphius and the Two Traditions of European Comedy. In: The Germanic Review 63 (1988), S. 114–120, hier S. 116. 186 Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 1970, S. 30. So bestehe die Komödie nach Opitz „in schlechtem wesen vnnd personen: redet von hochzeiten/ gastgeboten/ spielen/ betrug vnd schalckheit der knechte/ ruhmrätigen Landtsknechten/ buhlersachen/ leichtfertigkeit der jugend/ geitze des alters/ kupplerey vnd solchen sachen/ die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen.“ 187 Kaminski: Andreas Gryphius (wie Anm. 184), S. 182. Kaminski hat überzeugend dargelegt, dass sich das Stück trotz dieser vermeintlich genauen historischen Situierung auf utopischem Boden bewege. Vgl. ebd., S. 198–201. 188 Gryphius (wie Anm. 182), S. 652–656, 679f.
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Daradiri deutlich wird – der Not geschuldet.189 Handel und Geldwesen in der Nachkriegswirklichkeit bestimmen damit wesentlich nicht nur die Liebeswelt, sondern das gesamte Stück. Gerade aber über diese historische Situierung – darauf hat Fulda hingewiesen – und die motivisch-thematische sowie strukturelle Nähe von Ökonomie und Komödie erhält der jüdische Händler im Stück seine Daseinsberechtigung.190 Sind fast alle Figuren getrieben von ökonomischen Zwängen, kommt der Jude Isaschar – ‚Experte‘ in diesen Belangen – darüber mit allen Ständen in Berührung. Über die Unterscheidung von wahren und falschen Gütern ist er somit nicht nur auf das vordergründige Pfandleihgeschäft festgelegt, sondern spielt auch eine wichtige Rolle auf dem Heiratsmarkt und gibt Impulse für die weitere Handlung. Dieses zeigt sich am deutlichsten bei dem Paar Selene und Daradiri: Beide hoffen darauf, dass eine Heirat sie aus ihrer finanziellen Not befreit. Zugleich ist ihnen jedoch bewusst, dass sie selbst als vermögend erscheinen müssen, um für den anderen attraktiv zu sein. Dementsprechend stattet sich Selene mit geliehenen „Kleidern/ Perlen und Geschmeide“ aus und Daradiri nutzt – geliehenes – Gold und Silber, um Reichtum vorzutäuschen:191 Selen. Nechst/ als er uns in den Garten tractiret/ war ja der gantze Tisch mit Gold und Silber besetzet. Er streuete Ducaten aus/ als wärens Stroh-Thaler: Die Diamantene Hutschnur und das Gehencke sind allein ein zehen oder zwölfftausend Reichsthaler werth.192
Sie täuschen einander und so kann auch der tatsächliche Tausch von Kette und Diamant nur Betrug sein. Ring und Kette, Zeichen von Verbundenheit, können jedoch nicht auf eben jene tiefere Bedeutung verweisen, denn sie sind falsch bzw.
189 So auch Kaminski: Andreas Gryphius (wie Anm. 184), S. 184 (in Bezug auf Horribili und Daradiri) und S. 186. 190 Fulda hat auf die Bedeutung des Geldes – und damit auch des Handels – für die Gattung der Komödie hingewiesen. So falle nicht nur auf motivisch-thematischer Ebene eine besondere Nähe beider auf – Thematisierung der von materiellen Interessen geprägten Lebenswelt – sondern vielmehr auch eine strukturelle Nähe der Gattung zum Geldwesen. Diese lasse sich festmachen an der Tendenz zu schnellen Glückswechseln, Umverteilung von Gütern und Ausgleich von Interessen – mithin verlaufe die Komödienhandlung in ähnlichen Bahnen wie das Geld. Darüber hinaus würden die raschen Wechsel, die das Geld ermöglicht, sowie der Kontrast zwischen Haben und Sein großes komisches Potential bergen. Fulda: Falsches Kleid und bare Münze (wie Anm. 184), S. 28f. 191 Zu der jeweiligen Inszenierung Selenes und Daradiris vgl. Fulda: Falsches Kleid und bare Münze (wie Anm. 184), S. 31 und nochmals ders.: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 141f. 192 Gryphius (wie Anm. 182), S. 636.
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geliehen.193 Es wird deutlich, so Fulda, dass die Komödie hier nicht eine prinzipielle Unlesbarkeit von Zeichen zum Problem macht, sondern vielmehr macht die Komik dieser Szenen auf die Verblendung der Figuren aufmerksam, entsteht diese doch nur dort, wo der Zuschauer über die Verblendung aufgeklärt ist,194 und so wird schon früh deutlich, dass nicht nur Selene, sondern auch Daradiri keineswegs vermögend ist.195 Während das Kontrastpaar Sophia und Cleander sich allmählich aus diesem Kreis von Tausch und Täuschung zu befreien vermögen,196 verharren Selene und Daradiri in ihrer Verblendung, sodass es eines Außenstehenden bedarf, um wahre von falschen Gütern zu differenzieren.197 Isaschar – genauer Kenner des Marktes – ist es folglich, der Antonia in der siebten Szene des dritten Aufzuges nicht nur darüber aufklärt, dass die Kette aus Glasperlen und Messing besteht, sondern auch über das wahre Wesen des Hauptmannes: [E]s ist der gröste maschgeh, Bescheisser und Betrüger in der Welt! […] Jch wolte es ihm in die Augen sagen/ zu heteln, falsche Siegel nachzumachen/ Handschrifften zu verfälschen/ Brieffe zu erdichten/ ist seines gleichen nicht! Er ist mir achthundert Kronen schuldig/ und schier so viel neschech, und schweret alle tage/ daß ihn der Schet holen möchte. Aber ich sehe weder Zahaff noch Silber/ noch Zinse. Das beste wird seyn/ daß ich ihn lasse Thapsen/ und in das Esur stecken. […] Er ist mir nicht allein schuldig; es ist kein Kenaani, kein Kramer/ kein Schneider/ kein Schuster/ kein Hutmacher/ der ihn nicht auf seinem megillha oder Buche habe.198
193 So Fulda: Falsches Kleid und bare Münze (wie Anm. 184), S. 35f. Zum Verweisungszusammenhang der Zeichen vgl. auch Schiewek (wie Anm. 184), S. 95f. 194 So Fulda: Falsches Kleid und bare Münze (wie Anm. 184), S. 35f. 195 So Don Diego, Diener des Daradiri: „Bey uns ist so viel Schuld/ daß ich nicht weiß/ die Wäscherin vor ein Hemde zu saubern/ zubezahlen. Wird die Braut ein grosses Heyraths Gut mit sich bringen/ so wird es hoch von nöthen seyn: wo nicht/ so werden wir sämtlich Elend aus Essig essen/ mit Mangel betreuffen/ und in bittern Wermut arme Ritter backen.“ Gryphius (wie Anm. 182), S. 664. 196 So weist Cleander Sophias Haar, dessen Wert offenbar ist, zurück, da es ihm auf dem Markt, dem er mit Misstrauen entgegentritt, angeboten wird. Vgl. weiter zu Sophia und Cleander Fulda: Bares Geld und falsche Münze (wie Anm. 184), S. 32 und Kaiser (wie Anm. 184), S. 236–239. 197 Dies kann bezeichnenderweise nicht Antonia leisten, auf deren mehrmalige Warnungen Selene nicht hört. Antonia ist als Mutter Selene zugeordnet und übernimmt, mangels Vermögens Dienerinnen beschäftigen zu können, die Funktion einer solchen. Sie übernimmt damit eine Kommentar- und Kritikfunktion, die für die Bestimmung des Stellenwerts der Hauptperson, hier Selene, aufschlussreich ist. So verharrt Selene trotz Antonias Warnungen in ihrer Verblendung, erst der Einschätzung eines ‚Fachmannes‘ schenkt sie Aufmerksamkeit. 198 Gryphius (wie Anm. 182), S. 679.
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An diesem Punkt wird die von Fulda postulierte Nähe der Komödie zum Geldwesen deutlich: Indem Isaschar aufgrund seiner Kenntnisse des Marktes den wahren Wert der Kette und das Wesen Daradiris offenbart, wechselt das vermeintliche Glück Selenes und damit auch das Daradiris, wird sie doch gewahr, welcher Täuschung sie unterlag. Isaschar durchschaut aus seiner Händlerposition aber nicht nur Daradiri, sondern hat umfassenden Einblick in die gesamte Handelssphäre des Stückes. So nutzt neben Daradiri, der Isaschar dringend bedarf, um seine Scheinexistenz aufrecht zu erhalten, auch Cleander den Pfandleiher, sodass es mitunter zu grotesken Tauschpraktiken kommt:199 Schaut dieses hat mir auch ein Cavalier, der den Fürsten heute eingeladen/ zu Pfande gegeben/ gleich als sich die Gäste gewaschen/ damit ich ihm Keseph zu Brodt liehe. Wenn sie werden Taffel gehalten haben/ hat er mir versprochen das Saltzfaß mit den Tellern und Schüsseln dargegen zuschicken/ damit ich ihm das Becken wieder folgen lasse/ daß sie sich nach der Mahlzeit wider Thaharn können.200
Wie als Antwort gesteht Cleander in der folgenden Szene: Jch bitte die Herren verschonen meiner mit derogleichen Wortgepränge; Sintemal ich sie nach Würden vor diesesmal nicht habe bewirthen können: Doch verhoffe ich mein guter Wille werde die Taffel/ stat der Speisen besetzet haben.201
Mithin ist der größte Teil des Personals – auszuschließen wäre hier lediglich die stumm bleibende Eudoxia – direkt oder indirekt in die Sphäre des Handels eingebunden. Diese ist von Verstellungen geprägt, individuelle Tugend und Moral werden nicht geachtet,202 und die Prinzipien des Marktes, darauf hat Fulda verwiesen, beherrschen das gesamte Stück – auch die Welt der Liebe.203 Dass dieses aber durchaus kritikwürdig ist, offenbart sich, wenn Coelestinas Knechte Cyrilla hart zusetzten, als sie versucht, das Geschäft mit der Liebe in den Bereich jener hinüberzutragen, denen es unangemessen ist.204 Während in Bezug auf den Liebeshandel also durchaus zwischen den Figuren differenziert wird, wird der Widerspruch zwischen Schein und Sein, moralischem Wert und Warenwert, stän-
199 Darauf verweist auch Schiewek (wie Anm. 184), S. 94. 200 Gryphius (wie Anm. 182), S. 679. 201 Ebd., S. 680. 202 So Fulda: Falsches Geld und bare Münze (wie Anm. 184), S. 33. 203 So werden auch die wechselseitigen Heiratsversprechen mit einer Geste des Marktgeschäftes gegeben. Vgl. dazu Fulda, ebd., S. 31. 204 Darauf verweist Kaiser (wie Anm. 184), S. 235. Vgl. Gryphius (wie Anm. 182), S. 655f.
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deübergreifend diskutiert – allein Sophia vermag sich diesem zu entziehen205 –, sind doch fast alle Figuren auf Repräsentation, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, angewiesen. Und so ist es allein Isaschar, der gesellschaftliche Außenseiter, der zuverlässig Schein von Sein zu trennen vermag. Freilich wird er damit nicht zu einer positiven Figur im Sinne etwa Sophias oder Cleanders, stützt er doch durch seine Geschäfte auch das System von Täuschungen. Dass die Rolle des Händlers Isaschar auf den Leib geschrieben ist, wird schon bei seinem Auftritt deutlich: So erscheint er auf der Bühne mit eben jenen silbernen Gegenständen, die er später Cleander für sein Festmahl leiht. Er ist Händler und tritt dementsprechend auf, er verhält sich mithin seiner Rolle angemessen und reiht sich zugleich in eine Tradition von jüdischen Figuren in erudita und commedia dell’arte ein.206 Diese treten meist in der Funktion von Händlern und Pfandleihern auf und werden – hier unterscheidet sich Gryphius von seinen Vorgängern – dem Verlachen preisgegeben: So werden sie Opfer gewalttätiger Späße oder provozieren durch ein unverständliches Gemisch aus Hebräisch und Italienisch das Lachen des Zuschauers. Diese Figuren sind damit ausschließlich Träger von Komik, weitere Funktionen haben sie in der Regel nicht.207 Insofern ist es zu kurz gegriffen, wenn man wie Schlienger die Figur lediglich mit Verweis auf „Tradition und […] Poetik“ dem Rollenfach des ‚lustigen jüdischen Händlers‘ zuordnet.208 So tritt Isaschar zwar auf wie ein Händler, doch – und das ist das innovative Element des Figurenentwurfs – erschöpft sich seine Funktion nicht darin. Vielmehr übernimmt Gryphius hier lediglich den Rollenentwurf des jüdischen, aufgrund seiner Sprache verlachbaren Händlers und füllt ihn neu: Als Außenseiter qua religio, der über seine Profession das System von
205 Vgl. dazu Fulda: Falsches Kleid und bare Münze (wie Anm. 184), S. 33f. 206 Auf diesen Umstand weist Hinck, jedoch ohne nähere Erläuterungen, hin. Vgl. Hinck (wie Anm. 184), S. 136, Anm. 45. 207 Überprüft wurden Personenregister und Fabeln von über 675 Szenarien der Commedia dell’arte nach Vito Pandolfi: La commedia dell’arte. Storia e testo. Bd. 5. Firenze 1959 (Nouvi testi e rari 8), S. 213–380. Vgl. beispielhaft die Madrigaloper „L’Amfiparnaso“ von Oratio Vecchi (Textabdruck in: Pandolfi: La commedia dell’arte. Storia e testo, Bd. 2, S. 263–280.), in der Juden, die ein Gemisch aus Hebräisch und Italienisch sprechen, als Pfandleiher auftreten. Auch in „Le Novantanove disgrazie di Pulcinelle“ von Gregorio Mancinelli (in: Pandolfi: La commedia dell’arte. Storia e testo, Bd. 3, S. 302–324) zeichnen sich die jüdischen Figuren durch ein unverständliches Sprachgemisch aus und werden zum Opfer des gewalttätigen Pulcinella. Vgl. weiter auch Philip Freund: Dramatis personae. The rise of medieval and renaissance theatre. London 2006 (Stage by stage 3), S. 153; Kathleen Maguerite Lea: Italian Popular Comedy. A Study in the Commedia dell’arte, 1560–1620 with special Reference to the English Stage. Bd. 1. New York 1962, S. 122 und 188 und zur Orientierung Gryphius’ an der italienischen Komödie Hinck (wie Anm. 184). 208 Schlienger (wie Anm. 184), S. 277.
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Tausch und Täuschung durchschaut und stützt, steht er außerhalb der vorgeführten Gesellschaft und kann sie von dieser Position aus durchschauen. Insofern kann ihn auch ihre leere Repräsentation nicht beeindrucken, weiß er doch genau, was sich hinter der scheinbar so ehrbaren Gesellschaft verbirgt. So berichtet er gleich beim Eintreten Antonia, dass er etwas – was, bleibt unklar – erfahren hätte, was sich angesichts ihrer Reaktion – „So were ich die elendeste Frau auff dem gantzen Erdboden“209 – negativ auf Antonias bzw. Selenes Situation auswirken würde. Denkbar wäre, dass Isaschar von Cleander, mit dem er vorher Geschäfte gemacht hat, erfahren hat, dass weder er noch Palladius oder Bonosus mehr an Selene (auf Grund ihres Hochzeitsversprechens mit Daradiri) interessiert sind.210 So würde sich für Selene und damit auch für Antonia jede Hoffnung auf Besserung ihrer wirtschaftlichen Situation zerschlagen und insofern wäre Antonias Verzweiflung verständlich. Die Tatsache, dass der Gegenstand des Gesprächs, bevor der Wert der Kette verhandelt wird, jedoch nicht ausgesprochen wird, verweist auf die besondere Stellung Isaschars im Stück. So hat er über seine Profession nicht nur Einblick in die wirtschaftliche Situation der anderen Figuren, sondern erfährt im Zuge der geschäftlichen Verhandlungen auch von – nicht öffentlich ausgesprochenen – anderen Dingen und es ist auffällig, wie unverstellt Antonia mit ihm kommuniziert, sodass anzunehmen ist, dass dieses auch für andere Personen gilt. Isaschar erscheint aufgrund seiner Außenseiterposition als vertrauenswürdig, auch wenn er durch Handlungen und Äußeres auf die gerade als nicht vertrauenswürdige Sphäre des (Geld-)Handels festgelegt ist. Doch indem der Gegenstand des Gesprächs nicht benannt wird, ‚Leerstelle‘ bleibt, unterstützt dies die besondere Vertrauensstellung Isaschars. Zugleich könnte man diese ‚Leerstelle‘ jedoch auch gegen Isaschar wenden: Der Zuschauer bleibt im Dunkeln über den Gesprächsgegenstand und somit wird der Anschein von Geheimniskrämerei erweckt. Bedenkt man weiter, dass Isaschar an fast allen Geschäften beteiligt ist und bei seiner „Madda“ (Wissenschaft, Vernunft) schwört, nichts als die Wahrheit zu sprechen, könnte diese Textstelle auch als Aufrufen antijüdischer Stereotype gedeutet werden.211 Eine positive Deutung der Figur ist jedoch im Hinblick auf die Kommunikation mit Antonia, auf die noch zu kommen sein wird, und den generellen Verzicht auf antijüdische Vorwürfe im Stück – so wird der
209 Gryphius (wie Anm. 182), S. 677. 210 Vgl. ebd., S. 664f. 211 Vgl. Gryphius (wie Anm. 182), S. 677. So mögen Schwur und die wiederholten Beteuerungen, nichts als die Wahrheit zu sprechen, auch auf den von christlicher Seite vorgebrachten Vorwurf der Unglaubwürdigkeit von Juden verweisen. Vgl. zum Judeneid die Angaben auf S. 181, Anm. 64.
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Vorwurf des Wuchers einem Christen angelastet212 – als wahrscheinlich anzunehmen.213 Isaschars Position im Stück geht somit über die eines einfachen jüdischen Händlers hinaus und so wird er auch im gesamten Paratext der Komödie als „Rabbi“ bezeichnet. Er ist Schriftgelehrter und flicht folglich in seine Rede Zitate aus dem Alten Testament ein.214 Als Pfandleiher und Rabbiner, der immer wieder beteuert, dass er die Wahrheit spreche – dies mag ein ironischer Reflex gegen die den Juden vorgeworfene ‚Lügenhaftigkeit‘ sein – ist es Isaschar nicht nur möglich, die Verbindung von Reichtum und Repräsentation zu erkennen, sondern auch die Diskrepanz zwischen Schein und Sein auszusprechen.215 „Col hefel hefalim!“ – Diese Sentenz von der Eitelkeit der Eitelkeiten fasst Isaschar als Quintessenz seiner Einsichten zusammen und beschreibt damit nicht nur das Paar Selene und Daradiri, die beide in ihrer Verblendung mehr auf Repräsentation denn auf wahre Werte fokussiert sind, sondern auch höherstehende Personen, die „lieber sechs Pfund Blut [verlieren]/ als eine scrupel reputation“.216 Die Formel von der vanitas vanitatum wird hier zudem nicht zufällig hebräisch wiedergegeben und damit auf den ‚Urtext‘ (Prediger Salomo 1,2) verwiesen. So spricht hier der jüdische Schriftgelehrte aus, was nicht nur für das Stück gilt, sondern topoihaft die Literatur des siebzehnten Jahrhunderts durchzieht und durchaus – gerade in Bezug auf die Nachkriegsgegenwart – als aktueller Zeitkommentar gelesen werden kann. Damit spricht aber einen der wichtigsten Sätze ein Außenseiter aus, dessen Einsichten – so Fulda – insofern auch nicht als allgemeingültig anerkannt werden können. So habe Isaschars Befund nur begrenzte Gültigkeit, da ihm als Jude die Einsicht in die letztlich maßgeblichen Wahrheiten des Neuen Testaments und damit christlichen Glaubens verstellt blieben.217 Doch ist einzuwenden, dass durch die Rückführung
212 Gryphius (wie Anm. 182), S. 635. 213 Insofern würde man es sich zu leicht machen, wenn man diese Textstelle in Zusammenhang mit anderen – vermeintlichen – Inkonsistenzen des Textes bringt, um das Spiel als „raw, unrevised version“ verwirft. So Blake Lee Spahr: Andreas Gryphius. A Modern Perspective. Columbia 1993, S. 121. Spahr führt mehrere Inkonsistenzen an, die seine Behauptung belegen sollen (z.B. den Sprachenwechsel von Daradiri und Horribili oder die Datumsangabe unter dem Brief des Daradiri). Dass diese vermeintlichen Ungenauigkeiten jedoch keinesfalls zufällig sind, hat z.B. Kaminski überzeugend herausgearbeitet. Vgl. Kaminski: Andreas Gryphius (wie Anm. 184), S. 199f. 214 Zur Herkunft der hebräischen Wendungen vgl. Aaron Schaffer: The Hebrew Words in Gryphius’ Horribilicribrifax. In: The Journal of English and Germanic Philology 18 (1919), S. 92–96. 215 Die Herstellung einer Verbindung von Reichtum und Repräsentation erfolgt auch explizit durch Palladius, der feststellt: „Der Stadthalter läst an Magnificentz nichts gebrechen/ und verleuret lieber sechs Pfund Blut/ als eine scrupel reputation“. Gryphius (wie Anm. 182), S. 680. 216 Ebd., S. 680. 217 Vgl. Fulda: Schau-Spiele des Geldes (wie Anm. 7), S. 151.
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der Sentenz auf ihren Ursprung, das Alte Testament und die hebräische Sprache als Ursprache, die Gültigkeit dieser Aussage nicht etwa eingeschränkt wird, sondern vielmehr universellen Anspruch besitzt.218 Man würde jedoch zu weit gehen, wenn man Isaschar wie Gabaude als „porte-parole de l’auteur“ bezeichnet,219 doch ist er im Stück – gerade aus seiner Außenseiterrolle heraus – die einzige Figur, die fähig ist, eine solche Einsicht zu formulieren. Es sind eben nicht die ehrbaren Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die es vermögen, Schein von Sein zu differenzieren und die letztlich das Stück wesentlich konstituierende Auffassung auszusprechen, dass auch die Liebe im Spiel um Schein und Sein zur Ware wird. Auch die zweite Einsicht Isaschars – „der Tod und Heirath entdecken alle Ding“220 – zielt nicht nur auf Selene und Daradiri ab, sondern kann als allgemeingültige Aussage verstanden werden. So erhält am Schluss jeder den Partner, der ihm zusteht – die Hochzeiten fungieren insofern als Straf- und Tugendgericht. Auch formal wird die Sentenz durch die flankierenden Paratexte, das nicht gedruckte Testament des Sempronius sowie den Heiratskontrakt, aufgenommen und somit die Auffassung, dass hier von Isaschar eine nicht nur auf Daradiri und Selene zu beziehende, sondern eine Aussage mit universellem Anspruch formuliert wird, gestützt. Dementsprechend erhalten dann auch Isaschars Beteuerungen, dass er nichts als die Wahrheit spreche und klüger als andere sei, ihre Berechtigung, auch wenn man einen gewissen ironischen Hintersinn sicher nicht abstreiten kann. Dennoch kann er nicht wie Sempronius als lustige Figur gelten, dessen Komik ja gerade aus dem Widerspruch zwischen Anspruch und tatsächlichem Sein resultiert.221 Aber nicht nur dieser Anspruch auf Gelehrsamkeit wird in Verbindung mit der Figur des Dorfschulmeisters gebracht.222 So sprechen zwar beide in Zitaten, doch ist
218 Zur Auffassung des Hebräischen als Ursprache vgl. Richard Nate: Natursprachtheorien des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Sprachtheorien der Neuzeit I. Der epistemologische Kontext neuzeitlicher Sprach- und Grammatiktheorien. Hg. von Peter Schmitter. Tübingen 1996 (Geschichte der Sprachtheorie 4), S. 93–115, hier S. 103. Die Auffassung vom Hebräischen als Ursprache vertraten beispielsweise Christian Knorr von Rosenroth und Franz Mercurius van Helmont am Hof des Sulzbacher Fürsten Herzog Christian August von Pfalz-Sulzbach. Vgl. dazu knapp Klaus Jaitner: Der Sulzbacher Intellektuellen-Zirkel und die konfessionellen Unionsbestrebungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Morgen-Glantz 3 (1993), S. 98–103, insb. S. 100f. 219 Gabaude (wie Anm. 184), S. 389. 220 Gryphius (wie Anm. 182), S. 677. 221 Dies gegen Schlienger, der Isaschars Anspruch auf Gelehrsamkeit mit Sempronius Feststellung, dass er ein „wunder […] inter eruditos hujus seculi“ sei, in Verbindung bringt. Vgl. Schlienger (wie Anm. 184), S. 216, Anm. 227. 222 Neben Schlienger (wie Anm. 184) auch Lötscher (wie Anm. 184), S. 282.
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hier die Kommunikation zwischen Antonia und Isaschar erfolgreich, wohingegen es gerade aufgrund von Sempronius Fremdsprachengebrauch zwischen ihm und Cyrilla fortwährend zu Missverständnissen kommt. Während Sempronius beständig gegen rhetorische Prinzipien des decorum, aptum und perspicuitas verstößt, stellt der Fremdsprachengebrauch von Isaschar zwischen ihm und Antonia kein Hindernis dar. Dementsprechend ist Kaiser – wenn auch mit anderen Konsequenzen – zuzustimmen, wenn er feststellt, dass das Hebräisch eine andere Funktion habe als der Fremdsprachengebrauch der Hauptleute und des Schulmeisters: […] es ist ja eine dem Sprechenden eigentümliche, keine angenommene Sprache. Infolgedessen ist nicht das Verhältnis des Sprechenden und seiner Sprache problematisch, vielmehr das Verhältnis des Sprechenden und seiner Sprache gleichermaßen zu seiner sozialen Umwelt. Der Jude ist ein Fremder in ihr, der nur gebraucht wird, mit dem aber keine wirkliche Kommunikation stattfindet.223
Die Verwendung des Hebräischen markiert über lexikalische Zeichen Differenz und macht das Außenseitertum Isaschars hörbar, doch ohne das vorhandene „antijüdische Angriffspotential“, das „der Verwendung spezifisch jüdischer Spracheigentümlichkeiten“224 innewohnt, auszunutzen. Dementsprechend geht auch Kaiser meines Erachtens fehl, wenn er postuliert, dass keine Kommunikation mit Isaschar stattfindet. So kann Antonia Isaschar trotz seiner hebräischen Einlassungen verstehen, denn selbst wenn sie des Hebräischen nicht mächtig ist – wovon wohl auszugehen ist –, wird der Aussagegehalt der Äußerungen des Juden trotzdem deutlich. Es ist sicher korrekt, dass der Jude „gebraucht“ wird, doch beschränkt sich seine Funktion nicht auf diese reine Objekthaftigkeit.225 Zudem ist darauf zu verweisen, dass der Dialog zwischen beiden durchaus ausgeglichen ist und weder der eine noch der andere explizit oder strukturell benachteiligt wird.226 Dies ist jedoch nicht auf eine wie auch immer geartete Egalisierung der Gesprächspartner zurückzuführen, sondern vielmehr auf das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis. Antonia bleibt eine, wenn auch verarmte Adlige und
223 Kaiser (wie Anm. 184), S. 255. 224 Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750–1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen 1995, S. 9. 225 Abschließend bleibt darauf hinzuweisen, dass auch das „Ey“ hier nicht im Sinne einer komischen Kennzeichnung des Juden gebraucht wird, verwendet neben Isaschar auch Antonia, Horribilicribrifax, Sempronius, Cyrilla oder auch Coelestina „ey“. Vgl. Gryphius (wie Anm. 182), S. 641, 646, 654, 679 usw. 226 Festzumachen ist dies zum einen an der relativ gleichwertig verteilten Redeanteilen, zum anderen an den respektvollen Anredeformen füreinander. Vgl. hierzu, insbesondere zum verwendeten „Ihr“: Theo Vennemann, Hans Wagner: Die Anredeformen in den Dramen Andreas Gryphius. München 1970, S. 14.
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Isaschar als Jude Außenseiter der Gesellschaft. Beide sind aber – Antonia zur zumindest kurzfristigen Überwindung ihrer wirtschaftlichen Krise und Isaschar zum Bestreiten seines Lebensunterhaltes – aufeinander angewiesen. Zusammenfassend lässt sich folgender Befund festhalten. Im Horribilicribrifax wird mit dem Pfandleiher und Rabbiner Isaschar eine jüdische Figur vorgestellt, die, aus der commedia dell’arte herkommend, sich wesentlich von ihren Vorgängern abhebt: Sie dient hier nicht allein der Komik, wird nicht dem Verlachen preisgegeben und dient nicht als Anlass für antijüdische Polemik. Zwar ist und bleibt Isaschar Außenseiter, doch gerade aus dieser Position heraus kann er das Stück wesentlich mitbestimmen. So ist er es, der die das Stück leitenden Prinzipien von Tausch und Täuschung aufrechterhält und durch seine Dienste verbürgt.227 Als Garant des Repräsentationswillens der anderen Figuren vermag er dadurch auch zu erkennen, was sich hinter diesem verbirgt, und kann wahre und falsche Werte benennen – sowohl materielle wie auch moralische. Er erscheint mithin als – mehr oder weniger – verborgener Lenker und Gewährsmann der im Stück vorgestellten Marktgesellschaft, der über seine genaue Kenntnis des Marktes auch Einblick in die Welt der Ständegesellschaft hat, und so ist er es, der die Vanitas-Formeln als wichtigste Erkenntnisse des Stückes ausspricht. Dennoch kann Isaschar trotz dieser wichtigen Funktion im Stück und dem im Horizont seiner Vorgänger auffälligen Fehlen antijüdischer Ausfälle, nicht als positive Figur im Sinne Sophias oder Coelestinas gelten. Denn während sich die anderen tugendhaften Figuren aus der Tausch- und Täuschungssphäre befreien können, bleibt Isaschar dem kritisierten Markt zugeordnet und auf ihn festgelegt. Insofern werden die Gattungsvorgaben ernst genommen – Juden werden auf Handel und Markt festgelegt228 – zugleich aber auch hinterfragt und aufgebrochen: Die Figur dient hier nicht mehr allein der Komik und ihre Funktion geht wesentlich über das bloße Ermöglichen von z.B. Verkleidungsspielen hinaus. Des Weiteren ist auffällig, dass sich die tugendhaften Figuren nicht durch den Kontakt mit Isaschar disqualifizieren, wie dieses etwa bei Cyrilla der Fall ist.229 Das Stück bewegt sich also mithin in vorgegebenen Bahnen (Juden als Pfandleiher) und lotet dabei zugleich durch Verzicht einerseits (auf Komik und antijüdische Ausfälle) und durch Hinzufügung neuer Zuschreibungen andererseits (Erkennen und Aufdecken leerer Repräsentation) Freiräume in Bezug auf mögliche Konstruktionen des Jü-
227 Auf seine ‚dienstbare‘ Funktion verweist auch die Namenswahl, ist Isaschar, ein Sohn Jakobs, doch der „knochige Esel“, der „fronende Knecht“ (Gen. 49, 14–15). 228 Im „Horribilicribrifax“ findet noch eine weitere jüdische Figur zumindest Erwähnung: Cyrilla leiht sich bei einer Jüdin. Vgl. Gryphius (wie Anm. 182), S. 703. 229 Dementsprechend wird sie von den Knechten auch hart gestraft, als sie versucht, sich einer ihr nicht angemessenen Sphäre zu nähern. Vgl. ebd., S. 655f.
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dischen aus. Die Distanz zum Anderen, zum Juden, wird noch markiert, doch indem alle anderen Figuren unverstellt und frei von antijüdischen Vorbehalten mit Isaschar kommunizieren, gerät die im utopischen Raum sich ereignende Komödie230 zu einem Testfeld eines vorurteilsfreieren, da pragmatischeren Umgangs mit dem Judentum.
5.4 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne der Societas Jesu Das Ordensstück, insbesondere jenes der Jesuiten, ist im siebzehnten Jahrhundert die wichtigste katholische Theaterform und setzte wichtige Akzente in der Theatergeschichte, nicht zuletzt wegen seiner weiten Verbreitung. Im Rahmen der immensen und in sich sehr divergenten Produktion der Jesuitendramatiker verwundert es nicht, dass auch gelegentlich Judenfiguren auf die Bühne gebracht werden. So verzeichnet Valentin zwölf Periochen zu Spielen,231 in denen jüdische Figuren auftreten, bei Müller sind es acht232 und in Szarotas Periochen-Edition finden sich unter dem Register-Stichwort „Juden“ immerhin noch vier Periochen.233 Diese Zahlen zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Juden und Judentum nur ein randständiges Phänomen in der Gesamtproduktion der Jesuiten ausmacht. Dennoch sollen an dieser Stelle ausgewählte Periochen näher beleuchtet werden, da sich – trotz wesentlicher Unterschiede in Themenwahl und Zielsetzung – an ihnen nicht nur die Bereitschaft des Jesuitentheaters zeigt, sich alter Vorurteilsmuster und antijüdischer Anschuldigungen, wie beispielsweise dem Vorwurf des ‚Ritualmordes‘, zu bedienen, wenn davon nur die entsprechende Wirkung erhofft wurde,234 sondern auch die Tendenz, aktuelle Fälle innerhalb kürzester Zeit dramatisch zu verarbeiten.
230 Zur hier im Anschluss an Kaminski vertretenen Auffassung, dass die Komödie trotz ihrer historischen Situierung im utopischen Raum ihren Ort hat, vgl. oben, S. 309. 231 Vgl. Jean-Marie Valentin: Le théâtre des Jésuites dans les pays de langue allemande. Répertoire chronologique des pièces représentées et des documents conservés (1555–1773). 2 Bde. Stuttgart 1983/1984, Nr. 539, 643, 819, 862, 870, 1062, 1131, 1720, 1875, 3144, 3201, 6402. Nicht einbezogen wurden Spiele, die Stoffe des Alten Testamentes oder die Passion Christi verhandeln. 232 Vgl. Johannes Müller: Das Jesuitendrama in den Ländern deutscher Zunge. Vom Anfang (1555) bis zum Hochbarock (1665). Bd. 2. Augsburg 1930, S. 115. 233 Vgl. Elida Maria Szarota: Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet: eine PeriochenEdition: Texte und Kommentare. 3 Tle. in 6 Bde. München 1979–1984, Band II/1, S. 319–346, 443– 458, 1663–1670; Band III/2, S. 835–842. 234 So auch Stefan Tilg: Die Popularisierung einer Ritualmordlegende im Anderl-von-RinnDrama der Haller Jesuiten (1621). In: Daphnis 33 (2004), S. 623–640, hier S. 629.
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Im Zentrum dieser Untersuchung stehen fünf ausgewählte Periochen, in welchen das Judentum auf unterschiedliche Weise zur Darstellung kommt. Dies bedingt sich zum einen durch die Stoffwahl: Wird in der Action von einem Judischen Knäblein ein Marienmirakel dramatisiert, welches sich bis ins sechste Jahrhundert nachweisen lässt, wird in Nobilis Fidei Victima Propio Sanguine Purpurata ein aktueller Fall eines Mordes an einem konversionswilligen Juden auf die Bühne gebracht. Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea wiederum bringt einen angeblichen ‚jüdischen Ritualmord‘ zur Anschauung und reiht sich damit in eine Tradition von Simon-von-Trient-Spielen ein. In Miles in Toga Sive S. Uldalricus Episcopus Augustanus Urbis et orbis Patrii Olim Servator wird die Schlacht um Augsburg dramatisiert – hier verraten Juden die Stadt an die Belagerer – und in der Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno schänden Juden Bildnisse Mariens.235 Neben diesen hier zur Diskussion stehenden Periochen gibt es noch eine Vielzahl weiterer Spiele, in denen jüdische Figuren zur Darstellung kommen, zu nennen wären etwa die Simon-von-Trient-Spiele oder auch Dramatisierungen des angeblichen ‚Ritualmordes‘ an Werner von Oberwesel.236 Darüber hinaus dienen jüdische Figuren in Intermedien als Träger von Komik.237 Auf diese soll im Folgenden jedoch nicht gesondert eingegangen werden, da sich dort vergleichbare Konstruktionsmechanismen des Jüdischen ausmachen lassen, die auch in den vorliegenden Periochen feststellbar sind, welche hier insofern als exemplarisch aufgefasst werden. Bevor jedoch die Periochen im Einzelnen beleuchtet werden, sei kurz auf die Perioche als Medium eingegangen. Die Perioche ist kein Dramentext im herkömmlichen Sinne, sondern ein Theaterzettel, der es vor allem dem lateinunkundigen Publikum ermöglichte, der Handlung zu folgen. Die Hefte umfassen in der Regel das Titelblatt, eine knappe Inhaltsangabe, Inhaltsbeschreibungen der Szenen jedes Aktes und meist ein Darstellerverzeichnis. Insofern lassen sich bei der Analyse der Periochen keine Aussagen zu Sprache, Stil, genauerer Figurenkonstruktion etc. treffen. Darüber hinaus ist aber zu bedenken, dass das
235 Die Spieltexte der entsprechenden Stücke waren nicht auffindbar, sodass selbstverständlich keine Aussagen etwa über Sprachgestaltung, genaue Figurenkonstellationen und -charakteristiken usw. getroffen werden können. Im Folgenden wird zur leichteren Verständlichkeit der deutsche Periochentext zitiert. 236 Vgl. Müller: Das Jesuitendrama (wie Anm. 232), Bd. 2, S. 115. 237 Vgl. beispielhaft die Stücke „Germania. Barbara, culta, Delicat. Comica eodem” und „Balthasar. Ultimus Babyloniorum Rex, Sui obliviosus, Dei Contemptor, Vindictae Divinae exemplum. Comico eodem”. In: [Roman Sedelmayer:] Historia almae et archi-episcopalis universitatis Salisburgensis sub cura PP. Benedictinorum […]. Frankfurt, Leipzig 1728, S. 115, 118. Vgl. dazu weiter Heiner Boberski: Das Theater der Benediktiner an der alten Universität Salzburg (1617–1778). Wien 1978 (Theatergeschichte Österreichs 6: Salzburg).
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Ordensstück, insbesondere jenes der Jesuiten, nur als Gesamtereignis zu verstehen ist und somit der Aspekt der Multimedialität zu berücksichtigen ist.238 So resultierte die Wirkung der Stücke aus dem Gesamteindruck der Inszenierung, die stets unter dem Primat des „Wirken-Wollens“239 stand, verfolgte man mit dem Theater doch theologische bzw. missionarische und seelsorgerische Absichten. Angesprochen wurden alle Sinne, sollte man sich doch ganz auf die Glaubenswahrheiten einlassen und diese so nicht nur wahrnehmen, sondern erleben. Auf der Bühne wurde dies nicht nur durch Deklamationen erreicht, sondern auch durch Gebärden, Musik und Tanz, Bilder, Massenszenen usw.240 Doch nicht nur die Handlungen auf der Bühne gehören zum multimedialen Kunstwerk des Ordensstückes, sondern auch die Periochen: Sie sind Teil des Kunstwerkes, die eine eigene Bedeutungsebene konstituieren. Diese Bedingungen sind bei der Analyse zu berücksichtigen: Insofern bilden vor dem Hintergrund, dass der Periochentext für das lateinunkundige Publikum der einzige Zugang zum Dramentext war, ausgehend von den Periochen antizipierte Aufführungen den Analysegegenstand.
5.4.1 Action von einem Judischen Knäblein Die Erzählung vom ‚Judenknaben‘, der am Abendmahl teilnimmt und deswegen in einen Ofen geworfen wird, darin aber nicht verbrennt, sondern durch Maria vor dem Tod gerettet wird, gehört zu den beliebtesten geistlichen Erzählungen im europäischen Mittelalter. Davon zeugen zahlreiche Texte zwischen dem sechsten und achtzehnten Jahrhundert, die von dem Marienmirakel241 in über
238 Vgl. dazu die einschlägige Studie von Barbara Bauer: Multimediales Theater. Ansätze zu einer Poetik der Synästhesie bei den Jesuiten. In: Renaissance-Poetik. Hg. von Heinrich F. Plett. Berlin, New York 1994, S. 197–238. 239 Manuela Oberst: Exercitium, Propaganda und Repräsentation. Die Dramen-, Periochen- und Librettosammlung der Prämonstratenserreichsabtei Marchtal (1657 bis 1778). Stuttgart 2010 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B 179), S. 56. 240 So Oberst, ebd., S. 55–59. 241 Vgl. zum Unterschied zwischen Marienlegende und Marienmirakel: Cordula Henning von Lange: „daz ez zu rucke trete von der ubeltete und Marien vervluchte“. „Das Jüdel“ – Judenfiguren in christlichen Legenden. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 135–162, hier. S. 137. Vgl. weiter auch Heike A. Burmeister: Der „Judenknabe“. Studien und Texte zu einem mittelalterlichen Marienmirakel in deutscher Überlieferung. Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 654), S. 11–19.
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dreißig verschiedenen Versionen und mindestens sieben Sprachen berichten.242 Ein Zeugnis für diese Faszination, die von dem Stoff ausging, ist das Jesuitendrama Action von einem Judischen Knäblein.243 Da sich das Marienmirakel vom ‚Judenknaben‘ in vielen bedeutenden mittelalterlichen Mirakelsammlungen findet,244 sollen im Folgenden – im Anschluss an Burmeister245 – die wesentlichen Motive angeführt werden, um im Anschluss die Konzeption des Jesuitendramas besser fassen zu können. Vorlage für das Marienmirakel bildet die biblische Erzählung der „Drei Männer im Feuerofen“ (Dan. 3), in der das wesentliche Motiv, das unwirksame Feuer, bereits vorkommt. Der Judenknabe tritt an die Stelle der drei Männer und wird nun von Maria, die an die Stelle der göttlichen Kraft tritt, gerettet, wodurch die Erzählung zu einem Marienmirakel wird. Ein weiteres konstitutives Element der Erzählung ist die Teilnahme des Jungen an der freiwilligen – wenn auch heimlichen – Kommunion. Sie ist notwendige Voraussetzung für die Annäherung an das Christentum und damit für die Rettung.246 Neben dem Judenknaben selbst sind der Vater, der nicht zwangsläufig die Funktion des Gegenspielers übernehmen muss, Maria und eine Gruppe von Christen wesentliche Handlungsträger. Auch die Mutter als Entdeckerin des Kindes spielt nicht immer eine Rolle. Das
242 Auf die komplexe Filiation der verschiedenen Fassungen kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. zur Stoff- und Überlieferungsgeschichte vor allem die ausführliche Darstellung von Burmeister (wie Anm. 241) und weiter auch Wernfried Hofmeister: Das Jüdel im Kontext mittelhochdeutscher literarischer Kindesdarstellungen. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 91–103, insb. S. 92. Zur frühesten altdeutschen Version des „Jüdels“ vgl. neben Hofmeister auch: E[dward] S[chröder]: Zur Überlieferung des Jüdels. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 75 (1938), S. 24; E[lias] Steinmeyer: Ist Konrad von Heimesfurt der Verfasser des Jüdel?. In: Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Litteratur 27 (1883), S. 83–88; Theodor Pelizaeus: Beiträge zur Geschichte der Legende vom Judenknaben. Diss. Halle 1914 sowie Der Judenknabe. 5 Griechische, 14 Lateinische und 8 Französische Texte. Hg. von Eugen Wolter. Halle 1879 (Bibliotheca Normannica 2). Alle angeführten Untersuchungen gehen zwar auf die verschiedensten Variationen der Legende ein, die vorliegende Perioche wird jedoch in keiner Untersuchung erwähnt. 243 Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein/ welches under anderen Christlichen Knaben seinen Schulgesellen/ nach brauch der alten Kirchen/ die von der heyligen Communion obergeblibne Hostias genossen/ und darumb von seinem Vatter auß unmässigem Zorn in einen fewrigen Glaßoffen geworffen […]. Gehalten zu Costantz in dem Gymnasio der Societet Jesu den 2. Octobris, Anno 1634. Konstanz 1634. Das Spiel ist nur als Perioche erhalten und besteht aus drei Teilen, der Choragus ist unbekannt. 244 Vgl. die Auflistung bei Burmeister (wie Anm. 241), S. 33–36. 245 Vgl. zu den folgenden Ausführungen zum Marienmirakel Burmeister, ebd., S. 39–42. 246 Je nach Entstehungszeit und Gebrauchszusammenhang wird der Kommunion zusätzlich ein Hostienwunder integriert. Zudem gewinnt die Teilnahme am Abendmahl und dabei vorkommende Wundererscheinungen immer größere Bedeutung.
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Wunder schließlich führt auch nicht notwendig zur Hinrichtung des Vaters, in einigen Fällen vielmehr zu seiner Bekehrung. Unerlässliche Elemente sind hingegen das Gespräch des Knaben mit dem Vater über die Teilnahme an der Kommunion, das den Mordversuch auslöst, die Rettung durch die Gottesmutter bzw. die Schilderung des Wunders durch den Knaben und der abschließende Triumph der Christen.247 In dem hier zur Diskussion stehenden Jesuitendrama werden diese angeführten Elemente aufgenommen und bilden den Kern des Dramas: So nimmt der Knabe an der Kommunion teil und wird anschließend von Maria in dem Glaserofen vor dem Feuer gerettet. Diese Rettung erfährt jedoch keine genauere Motivierung, beispielsweise durch ein Hostienwunder oder das Reinigen der Statue der Gottesmutter. Der Vater wird schließlich „zum Tode billich verdambt“248 und Mutter und Knabe lassen sich taufen, womit sie eine Konversionswelle unter den Juden auslösen. Erweiterungen betreffen vor allem die jüdische Gemeinde und die Motivierung zur Teilnahme an der Kommunion. So wird die Figur des Rabbiners eingeführt, der zu seinen Schülern derart grausam ist, dass diese schließlich von einem christlichen Lehrer unterrichtet werden. Auffällig ist, dass zahlreiche Elemente hinzugefügt werden, die in keinem Zusammenhang zu dem Marienmirakel stehen. So werden vor allem an der Figur des Rabbiners249 judenfeindliche Stereotype und Vorwürfe aufgerufen: ‚Ritualmord‘, Wucher, Christenhass, Glaube an Magie, Unbarmherzigkeit und Grausamkeit. Neben dem Rabbiner gibt es aber auch andere jüdischen Figuren, die allein die Funktion haben, judenfeindliche Vorurteile zu bestätigen. Das Stück lässt sich damit in einen Zusammenhang einordnen, der von der Forschung für andere Versionen bereits herausgearbeitet wurde,250 die Verschränkung von Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft.251 Zugleich muss man
247 Die näheren Umstände, insbesondere Datierung und Lokalisierung, weichen zum Teil erheblich voneinander ab. 248 Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein (wie Anm. 243), 1v. 249 Die Figur eines Rabbiners findet sich weder in den explizit angegebenen Quellen, noch in anderen Versionen. Vgl. Nicephorus Callistus Xanthopvlius: Ecclesiasticae Historiae. Libri XVII […]. Frankfurt 1618, cap. XXV, Sp. 1077–1078 und Gregor von Tours: De puro Judaeo valde memorandum miraculum, zitiert nach: Les livres des miracles et autres opuscules de Georges Florent Grégoire évêque de Tours. Ed. par Henri Leonard Bordier. Paris 1875 [Neudruck New York 1965] 1, S. 30–34 sowie die von Burmeister editierten Versionen, vgl. Burmeister (wie Anm. 241), S. 250–334. 250 Vgl. Burmeister (wie Anm. 241), S. 11–28 und Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. München, Wien 1994, S. 440–442. 251 Vgl. zu diesem Komplex vor allem die Beiträge des Sammelbandes: Maria – Tochter Sion? Mariologie, Marienfrömmigkeit und Judenfeindschaft. Hg. von Johannes Heil, Rainer Kampling. Paderborn u.a. 2001; Klaus Schreiner: Antijudaismus in Bildern des späten Mittelalters. In: Das
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jedoch feststellen, dass hier kaum theologische Fragen diskutiert werden, das Marienmirakel wird vielmehr zur Ausgrenzung der Juden funktionalisiert252 und an konkreten – vermeintlich in der Lebenswelt der Zuschauer angesiedelten – Beispielen die Notwendigkeit der Ab- und Ausgrenzung vorgeführt. Dies vollzieht sich vor allem durch die Kontrastierung von Juden und Christen, worauf schon der Prolog verweist, in dem ein jüdischer und ein christlicher Knabe um den rechten Glauben streiten. Die Juden erscheinen in dem Stück als böse und unbarmherzig, die Christen hingegen als mitleidig und barmherzig. Als Exempel für die Unvereinbarkeit des christlichen und des jüdischen Glaubens figuriert insbesondere der Rabbiner: Er nimmt die Position eines Antagonisten ein, an ihm wird gezielt ein ganzer Katalog antijüdischer Verurteilungen und Stereotype vorgeführt. So vollzieht er einen ‚Ritualmord‘ an einem christlichen Kind, das er von einem ‚bösen‘ Christen als Entschädigung für eine ausstehende Geldschuld erhalten hat, und lässt sich für diesen von seinen „Mitconsorten“253 feiern. Die Einfügung dieses ,Ritualmordes‘ lässt sich im Hinblick auf die Wirkungsabsicht des Mediums Jesuitentheater erläutern, bietet doch die szenische Darstellung eines Mordes die Möglichkeit, dem Zuschauer drastisch vor Augen zu
Medium Bild in historischen Ausstellungen. Beiträge zur Sektion 6 des 41. Deutschen Historikertags in München 1996. Augsburg 1998 (Materialien zur Bayerischen Geschichte und Kultur 5/98), S. 9–34 (S. 20–22 zum ‚Judenknaben‘); Ders.: Maria. Leben, Legenden, Symbole. München 2003, S. 77–86 und Hedwig Röckelein: Marienverehrung und Judenfeindlichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit. In: Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte. 10.– 18. Jahrhundert. Hg. von Claudia Opitz u.a. Zürich 1993, S. 279–307. 252 So wird – zumindest in der Perioche – auch nicht die Eucharistie diskutiert. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Abendmahl, zentraler Bestandteil der vorreformatorischen Messfeier, selbst auch Inklusions- und Exklusionsmechanismen beinhaltet. So ermöglicht und garantiert es Teilhabe am corpus mysticum der Kirche, grenzt aber zugleich auch Andersgläubige aus, indem es ihnen den Zugang zum Heil verweigert. Vgl. Michael Stolz: Kommunion und Kommunikation. Eucharistische Verhandlungen in der Literatur des Mittelalters. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hg. von Peter Strohschneider. Berlin, New York 2009, S. 453–505, hier S. 453f. Vgl. weiter auch Burckhard Neunheuser: Eucharistie in Mittelalter und Neuzeit. Freiburg i.Br. u.a. 1963 (Handbuch der Dogmengeschichte IV. 4b); Miri Rubin: Corpus Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture. Cambridge 1991; Arnold Angenendt, Thomas Kaufmann: Abendmahl. II. Kirchengeschichtlich. 2. Mittelalter. 3. Reformation. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 1. Tübingen 1998, Sp. 21–28 sowie Erwin Iserloh: Abendmahl. III/2. Mittelalter. III/3. Reformationszeit. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 1. Berlin, New York 1993, S. 89–131. Vgl. zur Bedeutung der Eucharistie im Jesuitendrama Jean Marie Valentin: Das Jesuitendrama im Dienste der religiösen und moralischen Erziehung. In: Theatrum Catholicum. Les jésuites et la scène en Allemagne au XVIe et au XVIIe siècles. Die Jesuiten und die Bühne im Deutschland des 16.-17. Jahrhunderts. Nancy 1990, S. 77–91, hier S. 81f. 253 Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein (wie Anm. 243), 3r.
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führen, welche Grausamkeiten die Juden begehen, und ihn so von der Wahrheit der christlichen Botschaft zu überzeugen. Auch galten – ganz im Sinne antiker und frühneuzeitlicher Mnemoniktheorien – affektgeladene, sinnlich affizierende Vorstellungen als günstig für die Einprägung.254 Eine weitere mögliche Begründung für die Einfügung des ‚Ritualmordes‘ mögen auch die im sechzehnten Jahrhundert wieder auflebenden Ritualmordbeschuldigungen in der Bodenseeregion sein. In diesem Zusammenhang sei auf den Fall des Salmon von Bräunlingen verwiesen, der 1548 gefangen genommen wurde. Dieser wollte einem Urban Keller einen Knaben abkaufen, was aber dessen Hausfrau verhindert habe. Keller hatte mangels eines Pfandes Salmon seinen Sohn als Pfand für 7½ Gulden angeboten. Zwar lässt sich dieser Vertrag nicht unmittelbar mit einem ‚Ritualmord‘ in Verbindung bringen, es ist aber bezeichnend, dass der Jude in den Verdacht geriet, am Tod eines nahe Schaffhausen gefunden Kindes beteiligt gewesen zu sein.255 Eine direkte Abhängigkeit ist allerdings nicht nachzuweisen, es kann aber vermutet werden, dass dieser Fall durchaus bekannt war, sodass der Choragus hier zumindest eine Anregung für die Modellierung der Umstände des ‚Ritualmordes‘ erhalten hat. Doch nicht nur dieses Vergehens macht sich der Rabbiner schuldig: So wird angedeutet, dass er ein Wucherer sei,256 sich magischer Praktiken bediene und die Christen hasse.257 Nicht nur gegenüber seinen Schülern zeigt er sich unnachgiebig und hart, auch Mutter und Vater des ‚Jüdel‘ werden von ihm scharf zurechtgewiesen: So wird die Mutter „drutzig abgefertiget“258 und dem Vater erteilt er einen „starken verwiß“.259 Der Rabbiner hat somit in seiner Gemeinde eine herausgehobene Position. Damit korrespondiert seine Funktion im Stück: Er figuriert als das absolut Böse und Verworfene und als Antagonist zu den positiv konnotierten Figuren. Hier ist besonders der christliche Lehrer zu erwähnen, der als positives Gegenbild zum Rabbiner konstruiert ist: Während der jüdische Lehrer seine Schüler misshandelt, unterrichtet der christliche Lehrer seine begierigen Schüler und gibt ihnen „gutwillig“ Zeit für „kurtzweil vnd spil“.260 Der
254 Vgl. dazu Jörg Jochen Berns: Das enzyklopädische Gedächtnis der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie- und Lexikonartikel zur Mnemonik. Hg. von Jörg Jochen Berns, Wolfgang Neuber. Tübingen 1998 (Documenta Mnemonica. Text- und Bildzeugnisse zu Gedächtnislehren und Gedächtniskünsten von der Antike bis zum Ende der Frühen Neuzeit 2). 255 Vgl. zu diesem Fall Karl Heinz Burmeister: Medinat Bodase. Bd. 3: Zur Geschichte der Juden am Bodensee 1450–1618. Konstanz 2001, S. 215–218. 256 So muss der „böse Christ“ ihm das Kind aufgrund einer Geldschuld überlassen. Vgl. Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein (wie Anm. 243), 2v. 257 Vgl. ebd., 2v. 258 Ebd., 2v. 259 Ebd., 3v. 260 Ebd., 3v.
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Rabbiner erscheint als Gefahr für alle Christen und sogar einzelne Juden, namentlich das ‚Jüdel‘ und seine Mutter. Durch die Einführung dieser Figur wird ein Bedrohungsszenario aufgebaut, das dem Zuschauer anschaulich vor Augen führt, welche Gefahr von dieser Figur und damit vom Judentum insgesamt ausgeht, denn auch wenn der Rabbiner eine herausgehobene Position einnimmt, wird anhand der vorgebrachten antijüdischen Stereotype das gesamte Judentum als christenfeindlich bewertet. So werden neben dem Rabbiner weitere jüdische Figuren auf die Bühne gebracht, die aus nicht näher begründetem Christenhass verwerfliche Taten begehen.261 Diese vom Judentum vermeintlich ausgehenden Gefahren müssen jedoch korrigiert werden, will man die Überlegenheit der christlichen Kirche erweisen. Dementsprechend werden die Taten der Juden bereits im Stück einer Korrektur unterzogen: So ist der Rabbiner nicht nur gefährlicher Christenhasser,262 sondern wird zugleich dem Verlachen preisgegeben, als einer seiner Schüler ihm „specklamperlem angehenckt“ hat.263 Doch nicht nur der Rabbiner wird disqualifiziert, auch die Taten anderer Juden werden noch im Stück von christlicher Seite korrigiert: Die Christen rächen sich für einen jüdischen Betrug264 und den Gotteslästerern wird von christlichen Studenten „zu lohn die Schrifft“265 ausgelegt. Im Stück wird somit vollzogen, was im Prolog angekündigt wurde, sollte doch erwiesen werden, „daß die vorhabende Histori das Judenthumb klärlich widerlege/ vnd vnser Religion verfechte“.266 Anhand des Vorbringens religiös begründeter und profaner Verurteilungen des Judentums, wofür insbesondere der Rabbiner als Exempel figuriert, werden die Juden abgewertet und ausgeschlossen, für ihre Taten erhalten sie bereits im Diesseits die entsprechende Strafe.267 Das Verhältnis der beiden Religionen wird am Beispiel des Josephulus, des Judenknaben, thematisiert und damit der Sieg des christlichen über den jüdischen Glauben. Nachdem das Kind voll Freude dem Vater von der Kommunion berichtet hat, vollzieht dieser, was er vorher gegenüber dem Rabbiner angekündigt hatte: Er will sein Kind hinrichten, er will zum Richter und Rächer der
261 Ebd., 2v. 262 So vollzieht er den Ritualmord „den Christen zu drutz“. Ebd., 2v. 263 Ebd. 264 Ebd. 265 Ebd., 3r. 266 Ebd., 2r. 267 Auffällig ist jedoch, dass in der vorliegenden Perioche nichts über das weitere Schicksal des Rabbis zu erfahren ist. Es ist aber anzunehmen, dass er als Strafe für seine Taten einen ähnlichen Tod wie der Vater des Jungen findet.
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dignitas der jüdischen Gesetze werden, die er durch seinen Sohn verletzt sieht.268 Damit wird jedoch die Familie entzweit, denn während der Vater seinem Sohn gegenüber keine Barmherzigkeit walten lässt, stellt die herbeieilende Mutter ihre Liebe über ihre religiöse Zugehörigkeit. Mit dieser Grenzziehung innerhalb der Familie wird auch das Verhältnis der beiden Religionen beschrieben.269 Während das Judentum als starr und unbarmherzig vorgestellt wird,270 wird das Christentum hier über die misericordia definiert. Dieses vollzieht sich sowohl typologisch über die Rettung des Knaben durch Maria, als auch auf Figurenebene durch die christliche Tugend der Mutter. Gerade durch ihre misericordia – anschaulich dargestellt durch ihr Klagen – wird sie nicht nur würdiges Mitglied der Kirche, sondern auch vermittelnde Instanz zwischen beiden Glaubensgemeinschaften.271 Unterstützt wird diese Deutung durch die Tatsache, dass sie es ist, die ihr Kind zu einem christlichen Lehrer gibt, die Hinwendung zur christlichen Kirche ist also von vornherein angelegt. Auch ist es die Mutter, die das Wunder an die Öffentlichkeit trägt und durch die Taufe des Sohnes und ihren eigenen Übertritt zum Christentum eine Konversionswelle unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde auslöst. Zusammenfassend wird in dem vorliegenden Jesuitendrama also nicht nur die Überlegenheit der christlichen Kirche gegenüber dem Judentum vorgeführt, sondern in hohem Maße gegen das Judentum polemisiert. Es wird ein ganzer Katalog antijüdischer Vorwürfe und Stereotype aufgerufen, die erweisen sollen, wie sehr die Juden Christus und die Christen hassen würden – drastisches Beispiel ist hier der Mord an einem christlichen Kind. Durch die Betonung, dass dieser von einem Rabbiner durchgeführt wird, wird der Ritualcharakter des Mordes betont und suggeriert, dass es sich hier keinesfalls um einen Einzelfall
268 Hier löst im Übrigen der Choragus des vorliegenden Stückes einen Widerspruch auf, der sich bei Gregor von Tours findet: So ist es hier der Vater, der seinen Sohn in die christliche Schule schickt und ihn später gerade wegen der von ihm initiierten Hinwendung zum Christentum töten will. 269 Der Gegensatz zwischen einer reumütigen bzw. bekehrungswilligen jüdischen Frau und ihrem ‚verstockten‘, hasserfüllten Mann bzw. Vater lässt sich auch in anderen Legenden finden. Vgl. Nico Oudejans: De Jood in de middelnederlandse Literatuur. Een onderzoek naar de Jood als type in de letterkunde tot 1600, met nadruk op de exempelen. Amsterdam 1984 (Korenbloemen 2), S. 33–37 und die bei Cluse angeführten Beispiele. Vgl. Christoph Cluse: „Fabula ineptissima“. Die Ritualmordlegende um Adam von Bristol nach der Handschrift London, British Library, Harley 957. In: Aschkenas 5 (1995), S. 293–330, insb. S. 296f. 270 Dementsprechend wird der Vater hingerichtet – ihm bleibt jene misericordia versagt, die er selbst nicht hatte. 271 So auch Henning von Lange in Bezug auf die Version von Gregor von Tours. Vgl. Henning von Lange (wie Anm. 241), S. 142–144.
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handele. Zugleich wird durch die deutliche Gegenüberstellung ‚christlicher‘ Tugenden und ‚jüdischer‘ Laster der didaktische Impetus des Stückes deutlich, soll es doch nicht nur die Marienverehrung fördern, sondern auch eindringlich vor jeglichem Kontakt mit Juden warnen. Besonders einsichtig wird dies am Beispiel des „bösen Christen“, der aufgrund einer Geldschuld ein christliches Kind dem Rabbiner überlassen muss.272 Über sein weiteres Schicksal erfährt man in der Perioche zwar nichts, doch wird so dem Zuschauer vor Augen geführt, welche Folgen Geschäfte mit den Juden haben können. Das auf christlicher Seite begangene Unrecht tritt damit zugleich in den Hintergrund: So wird der Christ zwar ausdrücklich als „böse“ bezeichnet, doch die Taten der Juden wiegen schwerer, verüben sie diese doch aus Christenhass, der ‚böse Christ‘ hingegen – wie Urban Keller, der seinen Sohn für 7½ Gulden verpfändet – aus Not. Gegenüber den genannten Vorlagen ist die antijüdische Tendenz des Stückes folglich enorm ausgeweitet und die Überlegenheit des christlichen Glaubens wird, wie im Prolog vom christlichen Knaben angekündigt, durch das Auftreten von jüdischen Handlungsträgern, die bekehrt, bekämpft oder getötet werden, verstärkt. Die Abgrenzung zur konkurrierenden Religion wird durch eine Dämonisierung der jüdischen Figuren vollzogen, die so als Personifikation des Antichristen, als Gehilfen des Teufels erscheinen. Gegen Dämonen pflegte die christliche Kirche ein wirksames Mittel einzusetzen: die Austreibung, den Exorzismus. Ausweisung und Zwangstaufe waren die spezifischen Formen des Exorzismus, die man an den Juden zur Anwendung brachte.273
So auch in Konstanz: Hier waren die Juden zwar schon 1448 aus der freien Reichsstadt ausgewiesen worden, doch siedelten sie weiter im zerfallenden „medinat bodase“.274 Vertreibungen und Ausweisungen waren jedoch im gesamten Gebiet weiterhin eine häufige Erscheinung.275 Das 1634 gegebene Stück mag insofern auch als öffentlichkeitswirksame nachträgliche Rechtfertigung und Bestätigung für die Notwendigkeit von Vertreibungen dienen.
272 Vgl. Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein (wie Anm. 243), 2v. 273 Röckelein (wie Anm. 251), S. 296. 274 Vgl. Hortense Hörburger: Judenvertreibungen im Spätmittelalter. Am Beispiel Esslingen und Konstanz. Frankfurt, New York 1981 (Campus Forschung 237). 275 Vgl. Burmeister: Medinat Bodase (wie Anm. 255).
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5.4.2 Nobilis Fidei Victima Proprio Sanguine Purpurata Ebenfalls um das prekäre Verhältnis von Christentum und Judentum, vorgeführt wiederum an einem Vater und seinem Sohn, geht es in dem Jesuitenstück Nobilis Fidei Victima Proprio Sanguine Purpurata.276 Dieses Stück dramatisiert den Fall des Simeon Abele aus Prag, der sich – so die Sicht der Jesuiten – zum Christentum hingezogen gefühlt habe und Kontakt mit den Jesuiten aufgenommen hatte. Daraufhin wurde er von seinem Vater Lazarus und dessen Helfer Kurtzhandel ermordet.277 Nachdem man die Leiche unversehrt gefunden hatte, wurde der
276 Nobilis Fidei Victima Proprio Sanguine Purpurata. Simeon Tredeccenis Hebraeus Adolescens Adhuc Catechumenus. In odium Fidei à suis crudeliter interemptus Pragae Anno 1694. 28. Feb. A Studiosa Juventute Episcopalis & Academici Gymnasij Eystadiani in Theatrum productus Anno 1695. Das ist: Simeon Ein dreyzehenjähriger Jüdischer=Knab/ Und Angehender=Christ Von seinem Vatter und andern Juden auß Haß deß Catholischen Glaubens gewaltthätig umb das Leben gebracht. Auf der Schaubühne vorgestellet von dem Hochfl. Academischen Gymnasio der Societet Jesu zu Aychstätt/ den 2. und 5. September. Eichstätt 1695. Das als Perioche erhaltene Stück besteht aus drei Partes, die jeweils durch Choreinlagen voneinander getrennt sind. Vorangestellt ist eine Zusammenfassung des Inhalts und ein Syllabus Actorum ist angehängt. Der Choragus bleibt ungenannt. 277 Vgl. auch die Schilderung im vierzehnten Band des „Theatrum Europaeum“: Jm Monat Sept. des verwichenen Jahres 1693. zu Abends zwischen 7. und 8. Uhren hatte sich ein Jüdischer Knabe/ genannt Simon Abele, bey dem Jesuiter-Collegio zu Prag angegeben/ mit Bitte/ ihn in der Christlichen Religion zu unterweisen/ und die Heil. Tauffe wiederfahren zu lassen/ die ihn dann angenommen/ und mittlerweile einem andern Neubekehrten aus dem Judenthum anvertrauet; aus dessen Hause er aber/ indem jener Morgens seiner Devotion abzuwarten/ zur Kirchen gegangen/ ungeacht der Knabe sehr gebeten/ ihn nicht alleine zu lassen/ oder doch mit zur Kirche zu nehmen/ von einer bösen Christin den Juden verrathen/ und folgends von dem Vater Lazarus Abele weggenommen worden. Ob nun wohl der Knabe hin= und wieder fleissig gesuchet ward/ so war doch alles vergebens; Es hatte indessen der erboste Vater dem Knaben mit Peitschen Hunger/ Kälte und anderm Ungemach vielfältig zugesetzet/ und weil er sein Christliches Vorhaben auff keinerley Weise verändern wollen/ ihn endlich den 21. Febr. gewaltsamlich ermordet/ und darauff heimlich in der Erde verscharret. Diese Mordthat aber kam durch etliche Juden=Kinder auß/ welche einander auff der Strasse erzehlten/ was massen der Abele nunmehr von seinem Vater/ weil er ein Christe werden wollen/ wäre getödtet worden; Dieses hörte unter andern ein Jude/ so eine Zeither schon den Christlichen Glauben anzunehmen/ geneiget gewesen; dieser hinterbrachte es einem vornehmen Bürger/ welcher es weiter den P.P. Jesuiten/ und diese dem Königl. Burggrafen hinterbrachten; worauff des Knaben Veter/ Stief=Mutter/ die Köchin des Hauses und andere verdächtige Personen/ auch der Juden Todten=Gräber in Hafft genommen/ und nachdem dieser das Grab gezeiget/ der Cörper wieder auffgegraben/ und am Kopffe sehr verwundet/ auch sonsten am Leibe übel zugerichtet/ sonsten aber wie man vorgibt/ noch unverwesen befunden worden; Ob nun wohl der Vater sich darwider auff allerley Weise zu beschönen
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Vater und Kurtzhandel verhaftet: Ersterer erhängte sich in Haft, Kurtzhandel wurde am Galgen hingerichtet. Der Junge wurde schließlich als Märtyrer in der
suchte/ so wards ihm doch von einem Juden=Mägdlein/ das vor wenigen Zeiten getaufft worden/ und dazumahl noch in des Lazar Abels Hause aus= und eingangen/ wie der Knabe zu Anfange von ihm so übel tractiret/ und auff 6. Wochen mit Wasser und Brod gespeiset worden/ in die Augen gesaget; Worauff man ihn an Händen und Füssen schliessen lassen/ des Vorhabens/ ihn fernen mit den andern verdächtigen zu confrontiren/ und so dann ihm sein Recht zu thun; Es war aber von einigen Königl. Commissarien gut befunden worden/ ihm die Hände wieder frey zu lassen/ deren er sich dann dermassen zu gebrauchen gewust/ daß er sich an den Riemen/ womit die Juden ihre Tephillin an der Stirne und Aermen binden/ selbst erhenckt/ darauff ist der Cörper auff einer Schleiffen nach der Gerichts=Stelle geschlept/ geviertheilet/ das Hertz herauß gerissen/ und umbs Maul geschlagen/ und folgends alles verbrannt worden. Die Stieff=Mutter und Köchin gestunden hierauff alles/ und erzehleten ordentlich/ wie es nach einander wäre hergegangen; imgleichen noch ein Jude Kurtzhändel/ der von den Lazansckischen Gütern mittlerweile war dazu gebracht worden; welchen gleichfalls ihr Recht widerfahren. Des entleibten Knaben Cörper aber ist in der Dum=Kirche [sic!] zu Prag/ mit einer ansehnlichen und sehr prächtigen Procession, wie ein heiliger Martyrer/ mit aller Reverentz und Kostbarkeit begraben worden. (Theatrum Europaeum, Oder/ Außführliche und Warhafftige Beschreibung aller und jeder denckwürdiger Geschichten/ so sich hin und wieder in der Welt/ fürnemblich aber in Europa, und Teutschlanden/ so wol im Religion- als ProphanWesen/ vom Jahr Christi 1617. biß auff das Jahr […] sich zugetragen haben/ […]. Bd. 14. Frankfurt 1702, S. 730) Wesentlich nüchterner sehen Bondy und Putík jedoch den Fall: So habe Lazarus seinen Sohn am 21. Februar 1694 Hering kaufen geschickt, den dieser jedoch ohne Milch brachte und sich zudem noch weigerte, von dem Hering zu essen. Daraufhin habe Löbl Kurtzhandel, ein Verwandter, der bei der Familie wohnte und auch die Kinder erzog, Simon so sehr geschlagen, dass diesem das Genick brach. Lazarus und Löbl behaupteten, dass Simon an einem plötzlichen Krampf verstorben wäre und brachten ihn schnell zur Beerdigung. Doch es stellte sich heraus, dass Simon im Juli 1693 im Jesuitenkloster den Wunsch geäußert hatte, Christ zu werden. Der Konvertit Franz Kawka versteckte ihn bei sich, doch im Herbst fand Lazarus seinen Sohn und brachte in nach Hause. Lazarus und Löbl wurden verhaftet und Lazarus, um der Folterung zu entgehen, erhängte sich am 16. März 1694. Kurtzhandel wurde schließlich zum Tode verurteilt, ließ sich jedoch am letzten Tag taufen, sodass er unter dem Namen Jeronimus in der nahen Peterskirche begraben wurde. Vgl. Ruth Bondy: Luftwurzeln. Die Tausendjährige Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren in den Namen der Deportierten. In: Theresienstädter Studien und Dokumente 8 (2001), S. 11–48, hier S. 12f. und Alexander Putík: The Jewish Community in the Late 17th and early 18th Centuries. In: Judaica Bohemiae 35 (1999), S. 4–140, hier S. 55–60. Vgl. auch Egon Erwin Kisch: Geschichten aus sieben Ghettos. Berlin 1992, S. 39–49. Vgl. weiter auch die aufgrund stark psychologisierender Passagen äußerst problematische Studie von Marie Vachenauer: Der Fall Simon Abeles. Eine kritische Anfrage an die zugänglichen Quellen. Berlin 2011 (Aus Religion und Recht 17). Vachenauer nennt im Übrigen die vorliegende Perioche nicht, sondern verweist – ohne weitere Belege – nur unbestimmt darauf, dass der Fall als „derb abgefasste Jahrmarktsensation, als warnendes Theaterstückchen oder in Form von sentimental wirkenden Liedern“ (S. 225) weiter verbreitet wurde.
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Teynkirche beigesetzt. Es handelt sich hier um einen realen Fall, den die Prager Jesuiten aufnahmen und in ihrem Sinne auf die Bühne brachten. Vom Bemühen, den Fall bekannt zu machen und so als Exempel für die Anziehungskraft der katholischen Kirche zu nutzen, zeugen auch die Schriften des Jesuiten Johann Eder, der bereits kurz nach Bekanntwerden einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse sowie das illustrierte Flugblatt Warhafftige Abbildung einer erschröcklichen Mordthat veröffentlichte.278 Das Stück wurde 1695 in Eichstätt aufgeführt und ist als Perioche erhalten. Den Szenenparaphrasen vorangestellt ist eine Inhaltszusammenfassung des Stückes, in der das Stück einer Deutung unterzogen wird. Simeon wird als Märtyrer, als „Blut=Zeug Christi“,279 vorgestellt, der sich trotz Folterung durch seinen
278 Johann Eder: Virilis Constantia Simonis Abelis, Pueri duodennis in odium fidei a parente Judaeo Lazaro Abeles Pragae crudeliter occisi, Die Februarii Anno 1694 […]. Würzburg 1698; Ders.: Mannhaffte Beständigkeit Des zwölffjärigen Knabens Simons Abeles/ welche er/ um den Glauben zu behaupten/ an Tag gegeben/ da Jhn/ Lazarus Abeles sein Jüdisch Vatter/ aus Haß des Glaubens/ zu Prag/ 21. Hornung im Jahr 1694. grausam ermordet […]. Prag 1698. Auf dem illustrierten Einblattdruck Warhafftige Abbildung einer erschröcklichen Mordthat/ so sich zugetragen hat in der Königl: Alten Stadt Prag/ den 21. Monaths=Tag Februarii, dieses 1694sten Jahrs/ am Sonntag Quinquagesimae, da ein Juden=Knab sich tauffen/ und zum Christlichen Glauben bekehren wolte/ nach dessen Verständnus aber derselbe jämmerlich in seines Vatters Hause ermordet worden. Prag 1694 sind auf neun Bildern die verschiedenen Stationen der Hinwendung Simeons, seiner Ermordung, des Urteils an seinem Vater sowie die Verehrung Simeons als Märtyrer abgebildet und mit erklärenden Legende versehen. Auf den Umstand, dass auch dieser Druck die Verehrung Simeons als Märtyrer befördern sollte, verweist, dass in der Bildmitte die Verehrung durch Bischof und Adlige abgebildet ist. Vgl. weiter auch die Flugschrift: [Johann Jacob Weingarten:] Processus Inquisitorius, Welcher in der Königl. Böhm. Residenz=Stadt Prag/ von den Hochlöbl. Königl. Appellations-Tribunal, als einem/ im Erb=Königreich Böheimb/ Erb=Herzogthum Schlesien/ und Erb=Marggrafthum Mähren ausgesetzten Königl. Ober=Gericht/ im Jahr 1694 wider beyde Prager=Juden Lazar Abeles und Löbl Kurtzhandl/ Wegen des ex odio Christianae Fidei, von ihnen Juden/ ermordeten zwölffjährigen Jüdischen Knabens/ Simon Abeles/ als leiblichen Sohn des erstern verführet/ und zu mehrern Erhöhung des Christlichen Glaubens/ auch zur fruchtbaren Auferbauung Jedesmänniglichen/ samt denen dienlichen Haubt=Inquisitions-Acten/ und anderwärtigen darbey unterloffenen sehr wunderseltzamen Begebenheiten/ in offenen Druck gestellet worden. Prag 1696. Vgl. zu dieser Schrift weiter auch Johann Christoph Wagenseil: Belehrung der Jüdisch-Teutschen Redund Schreibart […]. Königsberg 1699, Fürtrag [B3–D3], der den Nürnberger Druck (1696, weitgehend identisch mit dem Pager Druck) vollständig zitiert und sodann dahingehend diskutiert (D3–F3), dass die Stilisierung des Vorfalls zu einem Martyrium Simon Abeles auf Unkenntnis sowohl der jüdischen Riten sowie des Hebräischen beruhe. Insbesondere letzterem möchte Wagenseil mit seiner eigenen Schrift entgegenwirken. Vgl. zu Wagenseils Außeinandersetzung weiter Philipp Theisohn, Georg Braungart: Philosemitismus als literarischer Diskurs. In: MorgenGlantz 22 (2012), S. 9–17, hier S. 12–14. 279 Nobilis Fidei Victima (wie Anm. 276), 2r.
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Vater als beständig erwiesen habe. An dieser noch recht allgemeinen Feststellung lässt sich jedoch bereits die Stoßrichtung des Stückes ablesen: Es ist ein Spiel einer individuellen Bekehrung, wobei die endzeitliche Erwartung, dass die Juden sich zu Christus bekehren, immer mitgedacht wird. Dieses wird besonders anschaulich im Prolog: „Die wahre Kirchen/ und Synagog streitten umb die Schaubühne/ und kleinen Simeon. Christus höbet den Streit auf/ und übergibt beyde der Kirchen.“280 Durch den Verweis, dass nicht nur Simeon in die Kirche aufgenommen wird, sondern auch „Synagog“ wird der generelle Bekehrungsanspruch deutlich. Dass unter „Schaubühne“ nicht nur die konkrete Theaterbühne, sondern im Sinne der theatrum-mundi-Metapher durchaus die Welt verstanden wurde, das Stück mithin auch von dem Versuch bestimmt ist, es in der lebensweltlichen Realität der Zuschauer anzusiedeln, darauf verweisen auch die für Simeons Hinwendung zur christlichen Kirche angegebenen Motive und die Reaktion der Jesuiten. So will sich Simeon in der ersten Szene zu anderen, christlichen, Jugendlichen gesellen, wird jedoch aufgrund seines Judentums abgewiesen. Als er sich aber als Christ „außgibt“,281 wird er aufgenommen. Simeons Konversionswunsch speist sich somit zunächst aus opportunistischen Motiven. Es ist jedoch zweifelhaft, dass dieses so intendiert war, vielmehr sollte diese Szene wohl dazu dienen, die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft anschaulich vor Augen zu führen.282 Dementsprechend wird im Argumentum auch kein Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Simeons Taufwunsch gelassen. Durch den Verweis, dass er Sohn eines „vermöglichen“ Juden ist,283 wird zunächst der Verdacht entkräftet, dass er nur um der finanziellen Unterstützung willen konvertieren will. Dieser häufig artikulierte Vorwurf findet sich vor allem in Berichten von Taufen von Juden sowie in zahlreichen Erzählungen und auch in diesem Stück sind die Jesuiten durchaus skeptisch: So sind die Absichten „den Patribus anfangs billich verdächtig/ biß gleichwohl die Beständigkeit den Knaben bewehret/ daß er von keinem Floder=Geist getriben werde“.284 Simeon kommt nun zur katechistischen Unterweisung in das Haus eines Christen – auch 280 Ebd. 281 Ebd. 282 Zu Konversionen im Jesuitendrama vgl. einführend, jedoch ohne Bezug auf Konversionen von Juden, Elida Maria Szarota: Konversionen auf der Jesuitenbühne. Versuch einer Typologie. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack u.a. Tübingen 1981, S. 63–82 sowie Kai Bremer: Konversion und Konvertiten auf der Bühne der Frühen Neuzeit. In: Konversionen in der Frühen Neuzeit. Hg. von Ute Lotz-Heumann, Friedrich Mißfelder, Matthias Pohlig. Gütersloh 2007 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 205), S. 431–446. 283 Nobilis Fidei Victima (wie Anm. 276), 1v. 284 Ebd., 1v.
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dieses ein durchaus übliches Vorgehen – und das Stück wendet sich seinem Vater und der jüdischen Gemeinde zu. Lazarus, Simeons Vater, figuriert in dem Stück als Antagonist zu den Christen, doch wird an der Überlegenheit dieser kein Zweifel gelassen. So werden die von Lazarus ausgesandten Diener, die Simeon suchen sollen, von „Catholischen“ Bürgern „schimpflich tractiret“.285 Eine solch gewaltvolle ‚Zurechtweisung‘ ist bereits aus dem vorhergehenden Stück bekannt, auch hier ist anzunehmen, dass die Szene nicht nur der Komik dient, sondern auch der – aus christlicher Sicht legitimen – Affektentladung. Darüber hinaus wird eine körperliche Überlegenheit der Christen gegenüber den Juden dargestellt. Eine ähnliche Szene findet sich auch im zweiten Teil des Spieles: Ein Jude wird, nachdem er „ab [sic] der Gefangenschafft Simeonis sehr frohlocket“ hat, von Studenten in eine Disputation verwickelt und schließlich „schimpflich gehalten“.286 Neben den schon angeführten Funktionen (Komik, Affektentladung) konnte hier in der Disputation die eloquentia der Schüler gezeigt werden. In der vierten Szene des ersten Teils „stellen [die Juden; Anm. V.G.] ein eyffriges Gebett an für den verlohrnen Simeon in der Synagog“.287 Diese – wie auch die Schlussszene des ersten Teiles, in der Lazarus „mit seiner Freundschafft“ ein „Freuden=Fest“ gibt288 – gemahnt an jene ‚Judenszenen‘ und ‚Judenschullieder‘ in mittelalterlichen und älteren volkstümlichen Spielen sowie insbesondere der italienischen Oper, die vornehmlich der Verspottung der Juden dienten.289 Doch dient diese Szene nicht ausschließlich dem Verlachen der Juden: Durch die Verwendung einer unverständlichen Sprache wird die Differenz zwischen Juden und Christen markiert.290 Dass diese kaum überwunden werden kann, wird an einem Konvertiten exemplifiziert: Dieser erkennt Simeon, als er aus dem Kolleg kommt, nimmt ihn gefangen und bringt ihn seinem Vater. An dieser Szene wird deutlich, dass die schon angeführte Skepsis der Jesuiten gegenüber konversionswilligen Juden durchaus berechtigt ist: Der ‚getaufte Jude‘ ist eben kein Christ, er bleibt Jude und damit grundsätzlich ‚verworfen‘, ‚verräterisch‘ usw. Der Vorwurf der ‚Scheinbe-
285 Ebd., 2r. 286 Ebd., 3r. 287 Ebd., 2r. 288 Ebd. 289 Vgl. oben, S. 57, Anm. 55. 290 In der Perioche wird zwar nicht erwähnt, dass sich die jüdischen Figuren hier einer anderen Sprache bedienen, doch ist vor dem Hintergrund der erwähnten tradierten Darstellungsmuster anzunehmen, dass entweder Hebräisch oder Mischung aus Hebräisch und Jiddisch gesprochen wurde. In jedem Fall aber war dieses für den Zuschauer unverständlich.
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kehrung‘ wird damit wiederholt im Stück vorgebracht; inwieweit dieses auf realhistorische Umstände rekurrieren mag, kann hier nicht verfolgt werden, doch die Mahnung, Vorsicht bei konversionswilligen Juden walten zu lassen, wird damit umso deutlicher. Im Rekurs auf den Prolog erscheint das Stück folglich nicht als Bekehrungsstück in dem Sinne, dass es zur Mission aufruft, sondern vielmehr als Darstellung einer einzelnen, herausragenden Bekehrung und nimmt insofern unter Bezug auf aktuellste Ereignisse eines der Grund- und Hauptthemen des Jesuitentheaters auf. Die deutlich antijüdische Stoßrichtung wird in der ersten Choreinlage nochmals verstärkt: Christus wird seines Schäfleins beraubt, welches von Synagoge und Tyrannei „grausamb gemetzget“291 wird. Diese Gegenüberstellung von ‚wahrem Glauben‘ und ‚grausamen Judentum‘ wird in den ersten Szenen des zweiten Teiles dann veranschaulicht: So versucht Lazarus „mit allerhand Schmaichel=Worten seinen Sohn Simeonem zu dem Abfall zuziehen“, doch als dieser „beständig in dem wahren Glauben“ bleibt,292 verlegt sich der Vater auf Drohungen und Gewalt. Simeons Beständigkeit zum „wahren Glauben“ wird nochmals in einer eigenen Szene (II,3) dargestellt und sein späteres Märtyrertum angelegt: „Simeon in dem Kerker hitzig=seufftzend/ wird den Tod für den Glauben außzustehen gestärcket“.293 Zweifel an dem ‚wahren‘ Glaubens Simeons werden so endgültig ausgeräumt und dem Zuschauer eine Einübung in Beständigkeit vorgeführt. Diese beweist Simeon auch nochmals in der folgenden Szene: Der Vater „versuchet“ ihn abermals, doch Simeon beharrt auf seinem Glauben, sodass Lazarus ihn schlägt und fast erwürgt. Schließlich erschlägt ihn „ein anderer Jud“.294 Dass der Mord nicht von dem Vater ausgeführt wird – dieses würde seine Position als Antagonist stärken – ist auf die realen Umstände des Falles zurückzuführen: So wurde Simeon von Löbl Kurtzhandel, einem Verwandten, erschlagen. Auffällig ist, dass aus der Perioche nichts über das Auffinden von Simons Leiche hervorgeht, vielmehr ist der Mord sofort bekannt, sodass die Prager Jugend „jhren verlohrnen Mit=Gespahn“ sogleich beweinen kann.295 Die Zugehörigkeit Simeons zur katholischen Kirche ist damit auch nicht mehr zu bezweifeln, obwohl er noch nicht die Taufe empfangen hat. Dieses ‚Manko‘ wird im folgenden und letzten Teil des Stückes verhandelt und aufgehoben. Die noch nicht empfangene Taufe wird in der zweiten Choreinlage thematisiert und allegorisch vollzogen, indem „[d]as vergossene Blut […] von Christo als 291 292 293 294 295
Nobilis Fidei Victima (wie Anm. 276), 3r. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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ein wahrer Tauff der Christen erkennt“ wird.296 Durch seinen Märtyrertod hat Simeon das Bekenntnis schlechthin abgelegt und dass Gott dieses belohnt, wird durch den Verweis auf die „Göttliche Gerechtigkeit“, der man sich nicht entziehen kann, deutlich. Folgerichtig wird Lazarus auch zu Beginn des dritten Teiles von einem Gespenst, sichtbares Zeichen für seine ‚Gottlosigkeit‘, geplagt „mit Vorhaltung dieser Wort: Warumb hast du umgebracht?“.297 Nachdem seine Bediensteten verhaftet wurden, sind es schließlich auch sein Gewissen und die Furcht vor Strafe, die ihn dazu bringen, sich selbst zu töten – sein Ende mag in Form eines Höllensturzes auf die Bühne gebracht worden sein.298 Nicht nur anhand dessen lässt sich in diesen Szenen nochmals der antijüdische Impetus des Stückes aufzeigen: So erscheint Lazarus nicht nur als brutaler, ‚blinder‘ Verfechter des ‚falschen‘ Glaubens, sondern auch als von Angst Getriebener: Der ‚wahre‘ Glauben hat seine Wirkmächtigkeit gezeigt, der ‚verstockte‘ Jude muss folgerichtig in die Hölle fahren. Darauf, dass der Konflikt zwischen Lazarus und Simeon nicht als reine VaterSohn-Kontroverse verstanden werden kann, verweisen die Zeugenaussagen der anderen Juden. So habe Lazarus seinen Sohn „auß Haß deß Catholischen Glaubens“299 ermordet. Neben dem Vorbringen bekannter antijüdischer Stereotype wird somit der Konflikt auf eine übergeordnete Ebene gehoben und der Gegensatz zwischen Judentum und Christentum noch einmal evident. Simeons Status als Märtyrer wird in den letzten Szenen des Stückes bestätigt. Nach der Exhumierung besichtigen Ärzte den Leichnam und finden ihn unversehrt – durch die Visitation durch die Mediziner wird das Martyrium mithin von wissenschaftlicher Warte aus beglaubigt –, sodass ihm nun, als „Blutzeuge Christi“, ein christliches Begräbnis zuteilwerden kann. Der corpus incorruptum – ‚Beweis‘ bzw. Voraussetzung für das ‚wahre‘ Martyrium – erscheint somit als sichtbares Zeichen für den Triumph der ‚wahren‘, der katholischen Kirche. Im Prolog schließlich wird das Geschehen allegorisch reflektiert – auffällig ist hier das Auftreten der Gerechtigkeit und der Vorsicht, die „den Underschid [sic] zwischen der wahren und falschen Marter Simeonis und Lazari“300 deutlich machen und so werden Lazarus und damit auch das Judentum verworfen. Insgesamt kommt hier ein Stück auf die Bühne, das unter Rückgriff auf einen aktuellen Fall eines Kindsmordes, ganz dem Ziel der propaganda fides verpflichtet ist. Den – katholischen – Bürgern Prags wird ein neuer Märtyrer anempfohlen, 296 297 298 299 300
Ebd., 3v. Ebd., 3v. Ebd. Ebd. Ebd., 3r.
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der die Zuschauer in ihrem Glauben und ihrem Festhalten an diesem stärken soll. Von diesem Bestreben zeugt auch das schon kurz erwähnte Flugblatt Warhaffte Abbildung einer erschröcklichen Mordthat, in dessen Bildzentrum die aufgebahrte Leiche Simeons zu sehen ist, die von den Bürgern der Stadt als Märtyrer verehrt wird.301 Zugleich werden in dem Spiel aber auch durchaus konkrete, lebensweltliche Probleme aufgegriffen, wenn wiederholt vor ‚falschen‘ Konversionen gewarnt wird. Bei der Darstellung des Judentums schließlich bedient man sich bekannter Zuschreibungsmuster: Sie erscheinen als ‚Christenhasser‘, die brutal und verstockt ihrem falschen Glauben anhängen – die rechte Strafe dafür kann aus Sicht des Choragus dann auch nur die Hölle sein.
5.4.3 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea Wurde im vorangehenden Stück ein tatsächlicher Fall dramatisch verarbeitet, verhält es sich bei dem folgenden Stück ungleich komplizierter: 1621 wurde in Hall in Tirol das Stück Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea302 in Anwesenheit des Innsbrucker Hofes sowie zahlreicher Bewohner von Hall, Rinn und Amras aufgeführt,303 welches den angeblichen ‚Ritualmord‘ an Andreas Oxner im Jahre 1462 auf die Bühne brachte. Dieses Drama sowie das spätere Volksschauspiel,304 standen am Anfang einer bis heute andauernden Verehrungsgeschichte. Es kann hier nicht im einzelnen auf diese eingegangen werden, es sei jedoch darauf verwiesen, dass der Haller Stiftsarzt und Schriftsteller Hippolytus Guarinonius den ‚Ritual301 Vgl. Warhafftige Abbildung einer erschröcklichen Mordthat (wie Anm. 278). 302 Summarischer Innhalt der Action. Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea/ welches zu Rinn nit weit von Hall im Ynthal gelegen/ von den Juden gantz listig entführt/ und Anno Christi 1462. im Monat Julio grausam gemartert worden. Gehalten von dem Gymnasio Societatis Iesv zu Hall Anno 1621. Cum facultate Superiorum. Insbruck 1462. Abdruck der Perioche in: Tilg (wie Anm. 234), S. 633–640. 303 Vgl. Anton Dörrer: Guarinoni als Volksschriftsteller. In: Hippolytus Guarinonius (1571–1654). Zur 300. Wiederkehr seines Todestages. Zusammengestellt von Anton Dörrer u.a. Innsbruck 1954 (Schlern-Schriften 126), S. 137–185, hier S. 161. 304 Die Handschrift war mir leider nicht zugänglich. Vgl. zum seit 1648 aufgeführten Spiel Ellen Hastaba: Vom Lied zum Spiel. Das Anderl-von-Rinn-Lied des Hippolyt Guarinoni als Vorlage für Anderl-von-Rinn-Spiele. In: Literatur und Sprachkultur in Tirol. Hg. von Johann Holzner, Oskar Putzer, Max Siller. Innsbruck 1997 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 55), S. 273–288; Dies.: Komische Szenen in geistlichen Tiroler Spielen des 17. Jahrhunderts, aufgezeigt am Beispiel der „Comedia Barbara“, Fließ 1644. In: Fastnachtspiel – Commedia dell’arte. Gemeinsamkeiten – Gegensätze. Hg. von Max Siller. Innsbruck 1992 (Schlern-Schriften 290), S. 75–101; Ekkehard Schönwiese: Das Volksschauspiel im nördlichen Tirol. Renaissance und Barock. Wien 1975 (Theatergeschichte Österreichs, Band II: Tirol, Heft 3) sowie Dörrer (wie Anm. 303).
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mord‘ an Andreas schlicht erfand305 und mittels mehrerer Schriften306 – inwieweit Guarinonius einen direkten Einfluss auf das Stück hatte, ist heute nicht mehr zu klären, es ist jedoch von einem solchen auszugehen307 – einen religiösen Kult um „Anderl“ implementierte, der derart erfolgreich war, dass der ‚Mord‘ an Andreas bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Tatsache galt.308 Wesentlicher Baustein innerhalb der ‚Erfolgsgeschichte‘ des Anderl-Kultes ist das vorliegende Jesuitendrama, welches in „bewusster Analogie“309 zu Simon von Trient310 und ganz im Sinne Guarinonius einen Märtyrer und Lokalheiligen Tirols vorstellen und etablieren sollte. Es war das erste öffentlichkeitswirksame Zeugnis einer Legende, die sich bis in die neueste Zeit hartnäckig halten sollte.311 Das Ziel, den Zuschauern neben Simon Andreas als Lokalheiligen anzuempfehlen, zeigt sich bereits deutlich im Prolog, wenn zwei Schutzengel sich wünschen, „daß von ihrem Kindlein diese Tragoedi gehalten werde. Wirdt aber Andreas/ als welcher noch unbekandter/ vorgezogen/ und darumb erzehlen sie kürtzlich mit einandern den Verlauff seiner heiligen Marter“.312 Durch das Auftreten Andreas
305 Vgl. Georg R. Schroubek: Zur Frage der Historizität des Andreas von Rinn. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 19 (1985), S. 3766–3774 sowie Ders.: Zur Verehrungsgeschichte des Anderl von Rinn. In: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 20 (1986), S. 3845–3855. 306 Hippolytus Guarinonius: Triumph Cron Marter Vnd Grabschrifft deß Heilig= Unschuldigen Kindts, Andreae Von Rinn […]. Innsbruck 1642 sowie Ders.: Begrü[n]dte Historj/ der Marter, Deß Haillig=/ Unschuldigen Khindtß/ Andree von Rinn,/ So durch die Juden, Jm .1462. Jahr/ Den .12. tag Julj, Dem Christe[n]thumb/ zu hoon Vndt Spott/ Ermördt […]. 1620, 1621, 1623 und endgültig 1651, zitiert nach: Winfried Frey: Hippolytus Guarinonius und die Tradition der Ritualmordbeschuldigungen. In: Hippolytus Guarinonius. Akten des 5. Symposiums der Sterzinger Osterspiele (5.–7.4.2004). „Die Greuel der Verwüstung menschlichen Geschlechts.“ Zur 350. Wiederkehr des Todesjahres von Hippolytus Guarinonius (1571–1654). Hg. von Klaus Amann, Max Siller. Innsbruck 2008 (Schlern-Schriften 340), S. 61–76, hier S. 63. 307 So Tilg (wie Anm. 234), S. 626–628, der von einer engen Kooperation zwischen den Jesuiten und Guarinonius ausgeht. Dörrer geht von einer Verfasserschaft Guarinonius unter Mitarbeit von Johannes Gretser und Matthäus Rader aus. Vgl. Dörrer (wie Anm. 303), S. 161. 308 Zur Verehrungsgeschichte um ‚Anderl von Rinn‘ vgl. oben, S. 2, Anm. 10. 309 Tilg (wie Anm. 234), S. 623. 310 Vgl. Valentin: Le théâtre des Jésuites (wie Anm. 231), Nr. 539, 643, 819, 6402. Vgl. zu Simon von Trient, dem wohl berühmtesten Fall eines angeblichen jüdischen Ritualmords in der Frühen Neuzeit einführend Ronnie Po-chia Hsia: Trent 1475. Stories of a ritual murder trial. New Haven 1992; Wolfgang Treue: Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588). Hannover 1996 (Forschungen zur Geschichte der Juden, Reihe A 4). 311 Vgl. dazu Bettina Brühl: Andreas von Rinn. Zur Tradierung einer Ritualmord-Legende in Bayerisch-Schwaben. In: Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben III: Zwischen Nähe, Distanz und Fremdheit. Hg. von Peter Fassl. Augsburg 2007, S. 69–93, insb. S. 89–93. 312 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 303), 1v. Darauf verweist auch Tilg in seiner Einführung zur Perioche. Tilg (wie Anm. 234), S. 631.
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in Gesellschaft eines anderen Heiligen, Simons in Gestalt seines Schutzengels, wird er diesem gleichgesetzt.313 Die Parallelisierung von Andreas und Simon wird jedoch auch über weniger offensichtliche Setzungen vorgenommen. So sind als Namen der Eltern Simon und Maria genannt – die Eltern des Simon von Trient hießen Andreas und Maria.314 Auffällig ist, dass am Ende des Arguments nicht – wie zu erwarten wäre – der Zuschauer angesprochen wird, sondern der „günstige Leser“, der „weiteren Bericht [in] künfftiger Zeit zuerwarten hat“.315 Mit Tilg ist wohl davon auszugehen, dass hier auf geplante Veröffentlichungen Guarinonius angespielt wird316 – das Jesuitenstück ordnet sich mithin in eine Reihe von Versuchen ein, die Legende um Andreas durch verschiedene Medien möglichst bekannt zu machen. Dementsprechend weisen auch die Engel in der letzten Szene darauf hin, „wie wunderthätig dises Kind in künfftig seyn werd. Zeigen beynebens seine mit Bluet besprengte Klaidlein/ und ermahnen menigklich/ daß dises klaine Knäblein/ hinfüran in grosser Ehr und Reverentz solle gehalten werden“.317 Der Verweis auf „künfftig[e]“ Wunder spielt jedoch auf ein ‚Problem‘ an: Es musste nachgewiesen werden, dass Andreas das Opfer eines ‚jüdischen Ritualmords‘ wurde und nicht etwa Opfer eines Christen oder eines Unfalls, da er sonst nicht als Märtyrer gelten konnte.318 Während in Trient der ‚Nachweis‘ über den Prozess erbracht worden war, waren die Juden im Rinner Fall nach der angeblichen Tat straffrei verschwunden und umso mehr musste das Martyrium über Wunder beglaubigt werden.319 Vor diesem Hintergrund wird auch die genaue Angabe des Tatortes und der Hinweis, dass er „noch heutigs tags der Juden Stain genennt wird“,320 erklärlich, er ist „topographischer Beweis der Wahrheit der 313 Diese Parallelsetzung von Andreas und anderen Heiligen findet sich auch in anderen Schriften und insbesondere auf Titelblättern und beigegebenen Kupferbildern. Vgl. zu den Illustrationen in Guarinonis „Triumph Cron/ Marter Und Grabschrifft“ Hastaba (wie Anm. 304), S. 275, 277f. 314 Darauf verweist Klaus Brandstätter: Antijüdische Ritualmordvorwürfe in Trient und Tirol. Neuere Forschungen zu Simon von Trient und Andreas von Rinn. In: Historisches Jahrbuch 125 (2005), S. 495–536, hier, S. 521. 315 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 2v. 316 Vgl. Tilg (wie Anm. 234), S. 627. 317 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 6v [Hervorhebung V.G.]. 318 Zur Frage, inwieweit Kinder als Märtyrer gelten können und die Diskussion darum vgl. Friedrich Lotter: Innocens virgo et martyr. Thomas von Monmouth und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 25–72, insb. S. 31f., 70–72. 319 Ähnlich auch Frey: Hippolytus Guarinonius und die Tradition der Ritualmordbeschuldigungen (wie Anm. 306), S. 72. 320 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 2r.
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Legende“.321 Zweifel daran, dass der ‚Mord‘ aus religiösen Gründen verübt wurde, werden im Stück ebenfalls nicht zugelassen, erscheinen die durchreisenden Juden322 doch als ‚Christenhasser‘, als „deß Gelts und Christlichen Bluets sehr durstige Juden“.323 Diese beiden den Juden zugeschriebenen Eigenschaften durchziehen das gesamte Stück. Zunächst zur ‚Geldgier‘: In der dritten Szene des ersten Aktes werden die „fuornemme[n] Jude[n]“324 charakterisierend eingeführt. So erfrewen [sie] sich under einanderen ab irer [sic] Glückseligkeit und uberfluß des Gelts. Berüehmen sich auch wegen ihrer sonderbaren Kunst die Leüt im verkauffen zubetriegen/ und hinder das Liecht zu führen.325
Durch den Hinweis auf ihre „Kunst“ wird deutlich, dass sie ihr Geld keineswegs ehrlich erworben haben, sondern sich vielmehr – entsprechend gängiger antijüdischer Vorurteile –‚ von den Christen ‚nähren‘. Doch es bleibt nicht bei dieser einen Szene: Nachdem sie mit dem Paten über den Verkauf von Andreas übereingekommen sind, reisen sie nach Bozen ab. Die nun folgenden Szenen (I, 11–15) illustrieren dem Zuschauer anschaulich, wie sie ihrer „Kunst“ nachgehen. Es handelt sich hier um eine Form des Zwischenspiels (in der Perioche nicht gekennzeichnet), stehen die fünf Szenen doch in keinem Zusammenhang mit der AndreasHandlung: Zunächst streiten sich Abisag und Gersom, „welcher die Kunst besser künde“,326 woraufhin Abaduc auf der Messe Drusus und Manfredus, „zwen langsame Bueben“,327 betrügt. Diese entdecken den Betrug jedoch, sodass Drusus „einen grösseren Gewin darvon bekommen/ als zuvor verlohren“, und Manfredus Abaduc „tractiert […]/ daß endtlich der arme Gesell vor jederman zu spott und
321 Utz Jeggle: Tatorte. Zur imaginären Topographie von Ritualmordlegenden. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Hg. von Rainer Erb. Berlin 1993 (Dokumente, Texte, Materialien 6), S. 239–252. 322 Schroubek weist auf einen zeitgeschichtlichen Umstand hin, der Guarinonius dazu angeregt haben könnte, die ‚jüdischen Mörder‘ als nach Bozen reisende Kaufleute zu konkretisieren: So wurde den Juden 1614 die Erlaubnis erteilt, das Judenzeichen abzulegen, wenn sie zur Bozener Messe reisten. Vgl. Georg R. Schroubek: Zur Frage der Historizität des Andreas von Rinn. In: Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte. Hg. von Susanna Buttaroni, Stanisław Musiał. Wien 2003, S. 173–196, hier S. 189. 323 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 1v. 324 Ebd., 4r. 325 Ebd. 326 Ebd., 4v. 327 Ebd., 5r.
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schandt wirdt.“328 Es ist offensichtlich, dass hier das Publikum mittels eines betrogenen Betrügers erheitert und die ‚Betrügerei‘ und ‚Lügenhaftigkeit‘ der Juden anschaulich gemacht werden sollten. Darauf verweist die Charakterisierung von Drusus und Manfredus als „langsame Bueben“, die letztlich jedoch – in fast schwanktypischer Verkehrung der Verhältnisse – den Juden durch ihre Schläue überlegen sind.329 Doch nicht allein um der Erheiterung willen wurden diese Szenen eingefügt, sie bestätigen vielmehr auf niederer Ebene die ‚Verwerflichkeit‘ der Juden und warnen vor allzu leichtfertigem Umgang mit ihnen. Die Auflösung des Betrugs und die Bestrafung Abaducs ist in diesem Sinne nur folgerichtig, kann doch ein solches Verhalten gegenüber Christen keinesfalls ungesühnt bleiben. Die Bestrafung der Sünden – hier bereits im Diesseits – mag den Zuschauer auch in der Gewissheit bestärkt haben, dass die Juden, die sich an Andreas vergehen, letztlich nicht ungestraft ausgehen, auch wenn es zu keiner unmittelbaren Vergeltung im Stück kommt. Zuletzt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass mit diesen Szenen dramaturgisch die Zeit zwischen dem Handel mit dem Paten der Wiederkehr der Juden überbrückt wurde. Die zweite und in diesem Zusammenhang bedeutendere den Juden zugewiesene Eigenschaft, ihr „Durst nach christlichem Blut“, wird bereits in den ersten Szenen des ersten Aktes offenbar. So erblicken sie das Kind und entschließen sich sofort, alles Notwendige zu tun, um dieses zu erlangen. Da sie jedoch vom Wirt erfahren, dass es „bey der Muetter schwer zuegehen“330 werde, wenden sie sich an Radulphus, den Paten des Kindes, und versuchen ihn mit allen Mitteln zur Herausgabe des Kindes zu überreden. In diesen Verhandlungen wird wiederum ihre ‚Verschlagenheit‘ offenbar: So versuchen sie den Paten zunächst betrunken zu machen und geben ihm „etliche lustige Fragen auff“.331 Als dieses jedoch nichts fruchtet, bieten sie ihm eine „grosse Summa Gelts“,332 „demnach das Gelt/ wie man sagt/ regiert die Welt“.333 Dementsprechend verkauft er schließlich auch das ihm anvertraute Kind, jedoch nicht ohne zuvor von seinem Schutzengel ermahnt worden zu sein.334
328 Ebd. 329 Vgl. dazu Elfriede Moser-Rath: Lustige Gesellschaft. Schwank und Witz des 17. und 18. Jahrhunderts in kultur- und sozialgeschichtlichem Kontext. Stuttgart 1984, S. 240f. 330 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 4v. 331 Ebd., 4v. 332 Ebd. 333 Ebd. 334 Vgl. zur Rolle der Christen in Ritualmordbeschuldigungen weiter Wolfgang Treue: Schlechte und gute Christen. Zur Rolle von Christen in antijüdischen Ritualmord- und Hostienschändungslegenden. In: Aschkenas 2 (1992), S. 95–116.
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Im zweiten Teil kommt es schließlich zur Übergabe und Marter des Kindes. Nachdem die Juden wieder nach Rinn gekommen sind – hier wird nochmals der Vorwurf des Betrugs aufgegriffen335 – erinnern sie Radulphus seines Versprechens, der Andreas am folgenden Tag, wenn die Mutter als Schnitterin auf dem Feld arbeiten soll, den Juden übergeben will. Diese, dem Mord vorangehenden Szenen dienen vor allem der Spannungssteigerung und Affekterregung: So tritt in der dritten Szene die „Crudelitas oder Tyranney“ auf und kündigt an, dass dem „unschuldigen Kindlein ein gantz grausamer und erbärmlicher Todt/ von den Juden solle angethan werden“.336 Diese Personifikation befördert und ermöglicht die intendierte affektive Reaktion, das Erschrecken durch das Erkennen des Zusammenhangs von Handlung – Bestellung der Mutter als Schnitterin – und Folge – Gelegenheit der Juden, den Mord zu vollziehen. Die Folge ist, dass der Zuschauer aufgestört wird und sein Erschrecken zu einer tieferen Abneigung gegenüber dem dargestellten Verhalten bzw. der Gruppe der Juden führt. Denn das „Crudelitas oder Tyranney“ eindeutig dem Judentum zuzuordnen ist, darauf verweist das Verzeichnis der Figuren: „Crudelitas Iudaicae immanitatis auctor. Tyranney/ ein Anfängerin der Jüdischen Mörderey“.337 Dementsprechend auch die Reaktion nach der vollbrachten Tat: Crudelitas oder Tyranney/ als hett sie den Sieg und Victori erhalten/ jubiliert und frolocket. Zaiget auch aller Frewden voll in ihrer Hand einen Becher mit deß unschuldigen Andreae Bluet eingefüllt/ darmit sich zu erquicken und zu belustigen.338
Spannungssteigerung und Affekterregung sollen aber auch auf der Handlungsebene erreicht werden und so „kombt ein ungewöhnliche Forcht und Schröcken“339 über Maria, bevor sie sich aufs Feld begibt – eine Vorausdeutung auf das kommende Unheil. Betont wird zudem die mütterliche Fürsorge: Sie gibt dem Paten Mehl, um dem Kind seinen Brei kochen zu können. Damit wird dem Zuschauer nochmals der deutliche Gegensatz zwischen mütterlicher – christlicher – Fürsorge und dem treulosen Verhalten des Paten offenbar, der sich seinen Hut von den Juden mit Geld anfüllen lässt.
335 So „triumphiren [sie] erstlich wegen deß grossen Gewins unnd gespickten Seckels/ welchen sie auch wider Billigkeit ab dem Marckt darvon getragen.“ Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 5r. 336 Ebd., 5r-v. 337 Ebd., 3r. 338 Ebd., 5v. 339 Ebd.
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In der sechsten Szene des zweiten Teiles vollziehen die Juden schließlich den Mord: In dem kommen sie abwegs zu dem Judenstain/ rüsten sich zu der Marter. Entblössen darauff das heilige Knäblein/ und nach dem sie ihm alle äderlein unnd Gurgel abgeschnitten/ und also jämmerlich zerfleischet unnd umbgebracht/ hencken sie es an einen Pirckbaum. Entlich frolocken die Gottlose Juden/ sagen Gott danck/ und nach dem sie mit ihrem gewohnlichen Gebett auß dem dritten Buech Thalmud alle Christen vermaledeyet/ machen sie sich mit deß heiligen Marterleins Blut auß dem Staub.340
In dieser Szene werden in nuce die Kernelemente der Ritualmordbeschuldigung szenisch vorgeführt: Den Juden warf man vor, Christenkinder, vor allem Knaben, zu rauben oder zu kaufen, sie langwierigen Martern auszusetzen, sie schließlich zu ermorden und mit dem doppelten Ziel, die Passion Jesu wiederholend zu verhöhnen und das Blut aus den kindlichen Opfern zu gewinnen. Dieses Blut, so wurde behauptet, verwendeten die Juden zur Begehung ihrer religiösen Zeremonien. Ferner benötigten sie Christenblut für magische und medizinische Zwecke.341
Auffällig ist in dieser Szenenzusammenfassung zunächst die Betonung des Ritualcharakters durch den Verweis auf die Mordmethode, die auf das Schächten anspielt, und der Verweis auf das Gebet. Es ist davon auszugehen, dass hier auf das Achtzehngebet und die darin enthaltene „Ketzer-Bitte“ angespielt wird, die von Seiten der Christen als Beleg für den Hass der Juden rezipiert wurde.342 Das Verbrechen wird als kollektive Tat dargestellt,343 sodass im Mordgeschehen keine individuellen Judenfiguren auftreten. Somit ist die Tat nicht nur einzelnen, sondern allen Juden anzulasten. Der Mord wird in Bezug zur Passion Christi gesetzt: Das für einen „Judaslohn“ verkaufte Kind344 wird an einer Birke wie Christus am Kreuz aufgehängt. Andreas, das ‚heilige‘ Kind, wird zum gemarterten Christuskind. Auch die Entnahme des Blutes, das in einem Becher aufgefangen wird, verweist auf die Kreuzigung (Joh. 19,34). Durch die Bezeichnung des Kindes als
340 Ebd. 341 Erb (wie Anm. 93), S. 9. 342 Vgl. dazu Yuval (wie Anm. 120), S. 104–145. 343 Diese Argumentation findet sich auch in späteren Texten zu Andreas von Rinn. Vgl. dazu Franz M. Eybl: Das Anderle von Rinn in barocken Predigten. In: Die Juden in ihrer mittelalterlichen Umwelt. Hg. von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal. Wien u.a. 1991, S. 27–34, hier S. 29. 344 Vgl. dazu Georg R. Schroubek: Kriminalgeschichte der Blutbeschuldigung. ‚Ritualmord‘Opfer und Justizmordopfer. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 65, 1 (1982), S. 2–7, hier S. 5.
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„heilig“ wird noch ein zweites vollzogen: Erscheint der Märtyrerstatus von Andreas345 schon zweifelsfrei, wird jetzt auch sein Heiligenstatus durch die Bezeichnung proklamiert und damit vorweggenommen, was sich später durch Volkskanonisation vollzieht: Andreas wird zum Lokalheiligen. Die Szene dient somit zwei Zielen: Die Hervorhebung der Kollektivität im Vollzug des ‚Ritualmordes‘ verteufelt die Juden im Gewand des Heiligenlobs als gottloses Volk.346 Zweites Argumentationsziel ist die Identifikation des Märtyrerknabens mit Christus, deren Anwendung in der Ritualmordlegende die Schuld der Juden, die „alle Christen vermaledeye[n]“, erneut unter Beweis stellt und somit den Hass der Christen rechtfertigt.347 Die detaillierte Schilderung der Einzelheiten des Mordes und des Verhaltens der Juden dient der Erregung von Affekten, sodass ihre Tat dauerhaft im Bewusstsein des Zuschauers verankert wird. Vor dem Hintergrund der Ansprache der Leser zukünftiger Schriften und dem Versuch, die Legende mittels verschiedener Medien bekannt zu machen – ist die Perioche doch selbst ein Teil dieser plurimedialen Verbreitungsstrategie –, bewirkt schon die Szenenzusammenfassung durch die Schilderung der Einzelheiten beim Lesen ein Vergegenwärtigen des Mordes. Nach dem ‚Ritualmord‘ an Andreas und der Flucht der Juden tritt nochmals die Crudelitas auf und erfreut sich an dem Mord und dem Blut des Kindes. Ein Triumph des Bösen ist jedoch nicht hinzunehmen, beruhte doch das Trostangebot der Kirche auf der Erreichbarkeit des Heils im Jenseits.348 Dementsprechend wird auch der Crudelitas von Engeln der Becher entrissen und sie in die Hölle geschickt, sie wird von der Bühne verwiesen. Andreas hingegen wird von den „heiligen Marterer[n]“349 in ihren Kreis aufgenommen, womit – im Spiel – sein Status auch von höchster Warte aus bestätigt wird. Im dritten Teil wird die Leiche entdeckt und der noch fassbare Sünder, der Pate Radulphus, gestraft: Das Geld im Hut verwandelt sich in Laub und er wird mittels göttlicher Gerechtigkeit wahnsinnig. Wie diese Bestrafung zu verstehen ist, wird in der Szenenzusammenfassung deutlich ausgesprochen: „zum Exempel darbey man künde abnemmen wie Gott die Sünd niemahls ungestrafft lasse“.350 Dieser Hinweis mag zudem auch den Zuschauer versichert haben, dass gleichfalls
345 Andreas Status als Märtyrer wird auch sprachlich gekennzeichnet, wird er doch in der gesamten Perioche als „Kind“ bezeichnet und somit seine Unschuld betont. 346 So Eybl: Das Anderle von Rinn in barocken Predigten (wie Anm. 343), S. 30 in Bezug auf eine Predigt. 347 Ebd., S. 30. 348 Ebd., S. 28. 349 Von dem H. dreyjärigen Kindlein Andrea (wie Anm. 302), 5v. 350 Ebd., 6r.
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die Juden letztlich nicht ungestraft entkommen. Die beiden letzten Szenen stellen schließlich dem Publikum den neuen Märtyrer vor und empfehlen ihn der Verehrung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Stück vornehmlich von dem Bestreben, die noch unbekannte Legende um Andreas von Rinn zu verbreiten, getragen ist. Unverhohlen zeigen insbesondere Anfang und Schluss des Dramas, dass hier ein „Äquivalent zum in religiöser wie ökonomischer Hinsicht so erfolgreichen Kult des Simon von Trient“351 geschaffen werden sollte. Dass dieses Ansinnen durchaus erfolgreich war, ist nicht zuletzt auf das Medium Jesuitentheater zurückzuführen, war es doch eines der effizientesten Propagandainstrumente, das zur Verbreitung gegenreformatorischer Themen zur Verfügung stand.352 Darauf deutet die Tatsache hin, dass nicht nur die Verehrung von Andreas in Rinn und Umgebung deutlich befördert bzw. erfolgreich implementiert wurde, sondern auch, dass andere Autoren den Fall ihrerseits verarbeiteten. So hat Grewe gezeigt, dass sich Jacob Balde beim Verfassen seiner Epode 14 wohl an der Anderl-Legende orientierte.353 Bezüglich der Konstruktion der jüdischen Figuren ist anzuführen, dass der Judenhass einen wesentlichen Bestandteil der Begründung der Verehrung des Andreas spielt, sie wäre ohne die Juden in der Rolle des absolut Bösen und Gottlosen gar nicht denkbar gewesen. Durch das immer wieder artikulierte Ansinnen, mit Andreas einen Lokalheiligen zu implementieren – der Lokalpatriotismus erscheint hier als eine geschickte Form der captatio benevolentiae –, wird zugleich Identität durch Abgrenzung und somit Zusammengehörigkeit auf Kosten des Anderen gestiftet. Im Spiel, wie auch in den Schriften von Guarinonius, verbindet sich die theologische, mit Frey kirchenpolitische, Notwendigkeit, dass es nur mit einem Feind Christi und der Christen auch einen Märtyrer geben kann, mit dem
351 Frey: Hippolytus Guarinonius und die Tradition der Ritualmordbeschuldigungen (wie Anm. 306), S. 62. 352 Vgl. Elida Maria Szarota: Das Jesuitentheater als Vorläufer der modernen Massenmedien. In: Daphnis 4 (1975), S. 129–143. 353 Auf Baldes Ritualmorddarstellung soll hier nicht gesondert eingegangen werden. Vgl. dazu die aufschlussreiche Studie von Stefanie Grewe: Dirae in Judaeos. Antike und zeitgenössische Vorbilder für Baldes Ritualmordschilderung in Epode 14. In: Balde und Horaz. Hg. von Eckard Lefèvre. Tübingen 2002 (NeoLatina 3), S. 253–276, insbesondere S. 269–273. Vgl. weiter auch Karlheinz Töchterle: Zur Hölle in Schwaz, gen Himmel in Hall: Jacob Balde und Tirol. In: Literatur und Sprachkultur in Tirol. Hg. von Johann Holzner, Oskar Putzer, Max Siller. Innsbruck 1997 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe 55), S. 303–338, insb. S. 310f. sowie Georg Westermayer: Jacobus Balde (1604–1668), sein Leben und seine Werke. München 1868. Hg. von Hans Pörnbacher, Wilfried Stroh. Amsterdam, Maarssen 1998 (Geistliche Literatur der Barockzeit. Texte und Untersuchungen, Sonderband 3), S. 237.
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alten und immer wieder erneut aufgerufenen Judenhass, der den Juden als Gruppe alles zutraut.354 Im Drama selbst wird dieses anschaulich durch die Verbindung religiöser (Ritualmord) und sozialer (Betrug und Geldgier) Vorwürfe, die den Zuschauer nicht nur über den Christenhass der Juden aufklären, sondern zugleich vor allzu engem geschäftlichen Umgang warnen. Für das Drama gilt mithin, was Schroubek psychologisierend für Guarinonius Schriften festgestellt hat: Der naturwissenschaftlich Geschulte und humanistisch Gebildete ist insoweit ‚aufgeklärt‘, als er den ‚heidnischen‘ Glauben der Unterschichten an Dämonenwesen ablehnt; zugleich projiziert er das so freigesetzte Potential an Angstvorstellungen – scheinbar rational – auf die konkrete Fremdgruppe der Juden, denen er Absicht und Fähigkeit, Schadenzauber zu üben, zutraut.355
Abschließend sei noch auf zwei Jesuitendramen verwiesen, in denen jüdische Figuren auftreten. Da die Periochen jedoch nur sehr knappe Szenenerläuterungen beinhalten, können im Folgenden nur allgemeine Deutungshinweise gegeben werden.
5.4.4 Der heilige Udalricus In dem 1707 aufgeführten Stück Der heilige Udalricus356 wird die Schlacht um Augsburg 955 dramatisiert. Das als Perioche erhaltene Stück besteht aus drei Teilen, die durch Choreinlagen voneinander abgegrenzt sind.357 Die titelgebende Figur des Bischofs Ulrich erscheint als Miles Christianus, der seine Gemeinde beim Nahen der Ungarn beruhigt, deren Angriffe auf die Stadt abwehrt und seine Truppen mit denen des Kaisers zusammenführt und so den Sieg über die Angreifer herbeiführt. Szarota hat darauf hingewiesen, dass die militärischen Verdienste
354 Vgl. Frey: Hippolytus Guarinonius und die Tradition der Ritualmordbeschuldigungen (wie Anm. 306), S. 70. 355 Schroubek: Historizität des Andreas von Rinn (wie Anm. 322), S. 179. 356 Miles in Toga Sive S. Udalricus Episcopus Augustanus Urbis et Orbis Patrii Olim Servator. Das ist: Der heilige Udalricus Augspurgischer Bischoff Diser Stadt/ und gantzen Vatter=Lands Erretter. Auf offentlicher Schau=Bühne von der Catholisch=studierenden Jugend in dem Gymnasio der Societät Jesu zu Augspurg bey St. Salvator vorgestelt. Den 2. und 6. Herbstmonat/ 1707. Allda gedruckt/ bey Joh. Michael Labhart/ Hoch=Fürstl: Bischöffl: Buchdrucker. Abdruck der Perioche in: Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 319–326. 357 Die drei Teile selbst sind in der Perioche folgendermaßen überschrieben: „Pars I. Augusta obsessa. Augspurg wird vom Feind berennet“, „Pars II. Augusta ad extremum deducta. Die belägerte Stadt Augspurg begunt in die Zügen zu greiffen“, „Pars III. Augusta liberata. Augspurg wird vom Feind völlig befreyet“.
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des Bischofs damit in einer Weise glorifiziert und amplifiziert wurden, die sich nicht durch die Quellen belegen lässt, gaben diese doch keine Materie zu einem „abendfüllenden Programm“358 her. Doch neben der Glorifizierung des Bischofs bedurfte es noch der Einführung eines spannungsvollen Moments: Zwei jüdische Verräter in der Stadt, die den Feinden Augsburgs die Tore der Stadt öffnen, sodass der Kaiser gerade noch rechtzeitig – mit Gottes Hilfe – erscheint, um die Zerstörung der Stadt zu verhindern. Auffällig ist, dass die beiden „Gwissenlose[n] Juden“359 strukturell in die Nähe des Bischofs gerückt werden und so als – wenn auch nicht ebenbürtige – Antagonisten Ulrichs erscheinen. Dieses lässt sich insbesondere im ersten und zweiten Teil des Stückes zeigen: Im ersten Teil folgt auf den Auftritt Ulrichs, in dem er den Belagerten Mut zuspricht, eine Szene, in der die Juden eine „Verrätherey“ ersinnen. Das Eintreten des Bischofs für die Stadt und der Verrat an ihr werden so in direkte Beziehung gesetzt, ein Mittel, das zuvörderst der Spannungssteigerung dient, und zunächst scheint es auch so, als wären die Verräter durchaus erfolgreich: Der äußere Stadtring wird erobert und die Stadt zur Aufgabe aufgefordert. Die Öffnung der Tore durch die Juden findet sich in der Perioche zwar nicht, aber es ist anzunehmen, dass dieses auf der Bühne zur Anschauung gebracht wurde, da so nicht nur die „Gwissenlos[igkeit]“ der Juden unterstrichen, sondern auch die militärische Überlegenheit Augsburgs deutlich gemacht wurde. Auffällig ist, dass kein Motiv für den Verrat angegeben wird. Dies mag nun dem Medium Perioche geschuldet sein, ist doch davon auszugehen, dass dieser im Stück selbst eine nähere Begründung erfährt. Denkbar wäre vor dem Hintergrund der bisher analysierten Stücke ein allgemeiner ‚Christenhass‘, aber auch die von christlicher Seite erhobene Anschuldigung, dass Juden generell ‚Verräter‘ seien. Dies würde erklären, warum gerade Juden die Rolle der Verräter ausfüllen, kamen diese doch laut Szarota vorher meist aus der Hölle.360 Zudem wurden im Zuge der Ausweisung der Wiener Juden immer wieder Vorwürfe erhoben, dass diese bei der Belagerung Stadt mit den Türken paktiert hätten.361 Ein konkreter Verweis auf diese Zusammenhänge fehlt zwar in der Perioche, doch sollen diese
358 Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 2207. 359 Miles in Toga (wie Anm. 356), A2r. 360 Vgl. Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 2207. 361 Vgl. beispielsweise [Wolffgang Jacob Geiger:] Irenico-Polemographiae Continuation III. Das ist: Der Historisch-fortgeführten Friedens= und Kriegs=Beschreibung Vierdter/ Oder deß Theatri Europaei Zehender Theil/ Von den denckwürdigsten Geschichten […]. Frankfurt a.M. 1677, S. 260. Vgl. auch Peter Rauscher: „Auf der Schipp“. Ursachen und Folgen der Ausweisung der Wiener Juden 1670. In: Aschkenas 16 (2006), S. 421–438, hier S. 424, 436.
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Hinweise deutlich machen, dass sich der Choragus mit der Einführung jüdischer Verräterfiguren nicht auf Neuland begab. Im zweiten Teil wird zunächst das enge Bündnis zwischen den Ungarn und Juden zur Darstellung gebracht: So trösten letztere, nach ihrer Flucht aus der belagerten Stadt, den ungarischen Abgesandten, als dieser erfolglos die Stadt von der Aufgabe überzeugen will.362 Die Notwendigkeit einer Tröstung verweist aber zugleich darauf, dass sich das Blatt nun zugunsten der Stadt wendet. Dies wird in einer Interkalarszene besonders anschaulich gemacht: „Dem heiligen Bischoff Ulrich wird in Verzuckung der künftige Stand seiner Augspurgerischen Kirchen geoffenbaret.“363 Dieser Szene folgt unmittelbar eine Schreckensvision der Juden: „Denen Stadts-Verrätheren fangt an zu grausen und zu schwindlen/ auß Beysorg/ es möchte ihr Schelmen=stuck an tag kommen/ im Fall die Stadt vom Käyser solte entsetzt werden.“364 Durch diese Parallelsetzung wird wiederum die Antagonistenfunktion der Juden betont. Durch die Vorschau auf die Ankunft des Kaisers und die zu erwartende Entdeckung des Verrats wird zugleich die Spannung gemindert und dem Zuschauer deutlich vor Augen geführt, dass Gott auf der Seite des ‚rechten Glaubens‘, des Bischofs und der Stadt, ist. Dementsprechend trifft auch in der letzten Szene des zweiten Teiles die Nachricht ein, dass der Kaiser naht, sodass die Belagerung unterbrochen wird. Im dritten Teil schließlich wird der Sieg über die Ungarn und die Bestrafung der beiden Juden dargestellt. Letztere nimmt relativ breiten Raum ein: In drei Szenen werden zunächst „die verrätherische Anschläg“ aufgedeckt, sie werden „ohne Verschub“ vor Gericht gebracht und erhalten schließlich „ihr[en] verdienten Lohn am Galgen“.365 Auffällig ist hier zunächst, dass die Juden durch Aussagen gefangener Ungarn verraten werden, sie werden selbst zum Opfer von Verrat. Zudem wird durch diesen Verweis auch eine Spitze gegen die Ungarn vorgebracht, wird ihnen doch mangelnde Bündnistreue unterstellt. Durch den Hinweis, dass die Juden sich vor Gericht verantworten müssen – ein Pogrom der aufgebrachten Einwohner wäre durchaus vorstellbar, man denke nur an die Ereignisse um Ferdinand Franz Engelberger –, wird nochmals die Rechtschaffenheit der Augsburger evident. In Bezug auf die konkrete Strafe ist aus der Perioche nicht herauszulesen, wie diese auf die Bühne gebracht wurde, erwähnt ist nur das Hängen am Galgen. Denkbar wäre jedoch, dass hier die sogenannte ‚Judenstrafe‘, die verkehrte Hängung, angewandt wurde, zu der beispielsweise auch der Jude Anstedt verurteilt wurde.366
362 363 364 365 366
Miles in Toga (wie Anm. 356), A2v. Ebd., A2r. Ebd., A2r. Ebd., A3r. Vgl. oben, S. 176.
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Diese galt zwar seit dem siebzehnten Jahrhundert als verpönt,367 doch kam sie dem Jesuitentheater aufgrund ihrer Drastik durchaus entgegen. Letztlich lassen sich jedoch, wie schon erwähnt, aufgrund der nur knappen Szenenzusammenfassungen nur allgemeine Deutungshinweise formulieren. Gleiches gilt für das Jesuitenstück Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno.368
5.4.5 Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno In dem 1627 in Amberg gegebenen Stück finden sich zwei jüdische Figuren, jedoch in gänzlich anderer Funktion als in den vorhergehenden. Thema der Tragico-Comoedia ist der Kampf der Bilderstürmer gegen die Verehrer der Heiligenbilder, der mit dem Sieg der letzteren endet. Um diesen hatte der letzte Kirchenvater Johannes Damascenus große Verdienste, der im Zentrum dieses Stückes steht. Da die Szenen, in denen die jüdischen Figuren Gimel und Moses auftreten, in keinem direkten Handlungszusammenhang mit dem Hauptthema des Dramas stehen, soll an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen werden. Es ist lediglich darauf zu verweisen, dass der Choragus, der sich recht genau an die Vorlage von Baronius gehalten hat,369 nach Szarota um eine „Entpathetisierung des ganzen Falls“ bemüht war.370 Aus diesem Grund wurde auch eine ganze Reihe komischer und halb-komischer Szenen eingeschaltet, in welchen auch Juden auftreten.371 Ihnen kommt also im Stück – neben anderen – die Rolle der komischen Figur zu. Daneben erscheinen sie jedoch auch als Feinde des Christentums, die – wie die Verfolger der Bilderverehrer – von Gott gestraft werden. Sie nehmen im Stück folglich eine Doppelfunktion ein, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Darüber hinaus spielt das Judentum noch insofern eine
367 Vgl. Christoph Kühn: Jüdische Delinquenten in der Frühen Neuzeit. Lebensumstände delinquenter Juden in Aschkenas und die Reaktionen der jüdischen Gemeinden sowie der christlichen Obrigkeit. Potsdam 2008 (Pri ha-Pardes 3), S. 77f. 368 Cultus Imaginum vindicatus & Miraculo confirmatus, Das ist: Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno, welchem wegen Beschützung der Bilder/ sein rechte Hand/ durch Käyser Leonis Isaurici deß Bildstürmers List/ abgehawen/ durch ein sonders Wunderzeichen aber/ von der vbergebendeyten Jungfrawen Maria, wider angehefft vnd geheilet worden. Fürgestellt Von dem Churfürstlichen Gymnasio Societatis Jesu zu Amberg/ den 14. Octob. Anno 1627. Gedruckt zu Amberg durch Johann Ruffen. Abdruck der Perioche in: Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1, S. 443–458. 369 Vgl. Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 2232. 370 Ebd., S. 2233. 371 Auf die komischen Szenen ohne Beteiligung der jüdischen Figuren soll im Folgenden nicht eingegangen werden. Vgl. Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno (wie Anm. 368), S. 454.
5.4 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne der Societas Jesu
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Rolle, als dass der Ursprung der Bilderstürmerei in der Zauberei und dem Judentum gesehen wird. Dies ist wahrscheinlich auf das jüdische Verbot, sich Bilder von Gott zu machen, zurückzuführen.372 Die erste Szene, in der eine jüdische Figur auftritt, ist die dritte Szene des dritten Aktes, in der sich der Jude Moses rühmt, bei Leo erreicht zu haben, dass die Bilder gestürmt werden, und darüber mit einem Schmied in Streit gerät.373 Da jedoch – zumindest in der Perioche – vorher kein Hinweis auf einen wie auch immer gearteten Einfluss des Moses auf Leo zu finden ist, ist dieser Verweis auf das Hauptthema dem Bemühen geschuldet, die folgende komische Szene in den Gesamtzusammenhang des Stückes zu integrieren. Zudem wird die vermutete Verbindung zwischen Ursprung der Bilderstürmerei und Judentum nochmals aufgegriffen, wenn Moses den Schmied „getröst/ daß wiewol sie mehrer heyligen haben/ doch keines Bild auff den Altar setzen“.374 Ausgehend von dieser Behauptung entwickelt sich nun eine Wette um die Zahl der Heiligen, in deren Folge der Schmied Moses den Bart ausreißt. Hier wird jenes schwankhafte Motiv auf die Bühne gebracht, welches schon im Zusammenhang mit der schwankhaften Literatur erwähnt wurde, wobei nicht so sehr die Einfügung dieses Motivs beachtenswert ist, sondern vielmehr die gelungene Integration in das Stück.375 Mithin dient die Szene vornehmlich der Komik und Auflockerung des theologische Streitfragen dramatisierenden Stückes – wollte der Choragus doch „geradezu Circenses für das Volk“376 schaffen –, wobei zugleich die Überlegenheit des Christentums behauptet wird. In der fünften Szene des dritten Aktes treten noch einmal jüdische Figuren auf. Moses und Gimel tractiren erbärmlich ein vnser lieben Frawen Bildt/ durchstechen dasselb mit Dolchen/ Beten dieses schimpflich an/ zerräderens [sic] grausamlich/ dahero das Bild anfängt zu Bluten/ sie aber werden mit der Läme vnnd blindheit gestrafft.377
Dramatisch verarbeitet wird der immer wieder vorgebrachte Vorwurf der Schändung von Marienbildnissen,378 der in enger Beziehung zum Vorwurf der ‚Hostien-
372 Vgl. ebd., S. 447 und Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 2233. 373 Vgl. Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno (wie Anm. 368), S. 451. 374 Vgl. ebd., S. 451. 375 Vgl. oben, S. 62, Anm. 74. 376 Szarota: Das Jesuitendrama, Bd. II/1 (wie Anm. 233), S. 2233. 377 Vgl. Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno (wie Anm. 368), S. 452. 378 Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass nicht nur Juden des Bildfrevels beschuldigt wurden, auch wenn seit dem frühen Mittelalter verstärkt Juden angeklagt wurden. Vgl. dazu Schreiner: Antijudaismus in Marienbildern (wie Anm. 251), S. 26–28 und weiter Schreiner: Maria
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
schändung‘ steht: Den Juden wird vorgeworfen, nicht nur ‚verstockt‘ gegenüber der christlichen Botschaft zu sein, sondern auch durch die Wiederholung des biblischen Geschehens den Gottesmord zu perpetuieren und zu aktualisieren. Dementsprechend können sie im Zuge der göttlichen Gerechtigkeit auch nur hart und grausam bestraft werden. Interessanter ist jedoch, dass über das Medium Bild wiederum ein Zusammenhang zum Hauptthema hergestellt wird: Die Juden werden so der gegnerischen Fraktion der Bilderstürmer zugerechnet, wodurch letztere disqualifiziert werden. Diese Parallelsetzung wird auch in weiteren Szenen vollzogen: So wird ein Bilderstürmer durch Splitter eines Marienbildnisses geblendet, welches er vorher geschändet hatte,379 und einer vergeht sich an einem Kruzifix380 – ein Vorwurf der häufig den Juden gemacht wurde. Sowohl Bilderstürmer wie auch die Juden erscheinen somit als Gegner der katholischen Kirche, hängen doch beide dem ‚falschen Glauben‘ an, vergehen sich an der ‚wahren Kirche‘ und werden daher auch hart bestraft.
5.4.6 Ergebnisse Es ist deutlich geworden, dass sich die jüdischen Figuren in den vorliegenden Periochen durch ein relativ statisches Profil auszeichnen: So erscheinen sie stets als Antagonisten, denen es einzig darum zu tun ist, der christlichen Kirche Schaden zuzufügen. Dabei bedienen sie sich unterschiedlichster Mittel – zu nennen sind neben dem ‚Ritualmord‘, Wucher, Verrat und Verschwörung auch magische Praktiken –, wodurch der Zuschauer in seinen antijüdischen Vorurteilen Bestätigung findet. Anders formuliert: Die Choragi konzipieren die jüdischen Figuren allein auf Grundlage profan wie religiös begründeter antijüdischer Stereotype und funktionalisieren diese, um den Gegensatz zwischen ‚rechtem‘ und ‚falschem‘ Glauben umso eindrücklicher vor Augen zu führen. Insofern sind die hochpolemischen, antijüdischen Stücke immer im Kontext der propaganda fides zu bewerten, sollte der Glaube der Zuschauer doch verteidigt, bestätigt und gefördert werden. Dabei griff man sowohl auf Heiligen- und Märtyrerlegenden wie auch auf aktuelles Zeitgeschehen zurück, um Identität durch Abgrenzung des dämonisierten Anderen zu stiften. Insbesondere im Falle der Verarbeitung aktueller Stoffe stand jedoch weniger die Bekräftigung des christlichen Glaubens im Vordergrund, als vielmehr die Diffamierung und Diskreditierung des Judentums,
(wie Anm. 250), S. 287–289 zum Bildfrevel und Bildverletzungen und S. 284–287 zu Bilderstürmern. 379 Vgl. Tragico-Comoedia Von S. Joanne Damasceno (wie Anm. 368), S. 449. 380 Vgl. ebd., S. 454.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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das weniger als konkurrierende Religion – wie etwa die konfessionellen Gegner –, sondern mehr als Bedrohung der Unversehrtheit der Christen – man denke an den Vorwurf des ‚Ritualmordes‘ – wahrgenommen wurde. Dass mit der antijüdischen Polemik jedoch durchaus auch ökonomische Interessen verbunden waren, konnte am Beispiel Andreas von Rinn und Simeons von Prag gezeigt werden. Insgesamt ist somit für die Konstruktion des Jüdischen auf der Jesuitenbühne – auf Grundlage der hier untersuchten Periochen – von einem deutlichen Antijudaismus auszugehen, der – auch wenn es sich um ein marginales Phänomen handelt – in seiner weiteren Wirkung nicht zu unterschätzen ist, wurden doch durch die rhetorisch-affektive Ansprache des Rezipienten sowie große Verbreitung die antijüdischen Stereotype und Vorstellungen verbreitet und tradiert.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper Wurde bisher bei der Betrachtung des Theaters des siebzehnten Jahrhunderts vor allem das Sprechtheater untersucht, soll im Folgenden die Kunstform der Oper näher betrachtet werden, bildet sie und die ihr verwandten Gattungen doch zwischen 1680 und 1740 die, so Jahn, wichtigste und vielschichtigste Theaterform vor allem in Nord- und Mitteldeutschland. So werden um 1680 so gut wie alle Gattungen barocker Dramatik aufgegriffen – Jahn nennt unter anderem Schäferspiele, Komödien, Märtyrerdramen oder allegorische Spiele – und ins Musiktheater transformiert und Opern französischer, italienischer sowie Wiener Prägung rezipiert. Diese Mannigfaltigkeit blieb bis in die 1730er Jahre bestehen – zugleich unterlagen die Formen einem ständigen Wandel.381 Eine besondere Stellung innerhalb der Opernlandschaft nahm dabei die Hamburger Oper am Gänsemarkt ein, das erste privat finanzierte Opernhaus in Deutschland, welches vorwiegend deutsche Opern,382 d.h. deutschsprachige Libretti, auf die Bühne brachte,383 und
381 Vgl. Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680–1740). Tübingen 2005 (Theatron 45), S. 3. Zum Begriff „Oper“ im siebzehnten Jahrhundert vgl. Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Wiesbaden 1981 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft 4), S. 70f. und Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten 1964, S. 3–8. 382 Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Barockoper in Hamburg (1678–1738). 2. Bde. Wolfenbüttel 1957, S. 9 sowie der Katalog der Textbücher von Hans Joachim Marx, Dorothea Schröder: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Katalog der Textbücher 1678–1748). Laaber 1995. 383 Damit soll jedoch keineswegs suggeriert werden, dass es sich bei der Hamburger Oper um eine ‚Bürgeroper‘ handelt. Stand die sozialgeschichtlich orientierte Forschung bis in die 1970er
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
in theater- und musikgeschichtlicher Hinsicht eine kaum zu überschätzende Rolle spielt. So kann die Hamburger Oper nicht nur aufgrund ihres Repertoires von etwa 300 Opern während ihres Bestehens mit Meyer zu Recht als „die kontinuierlichste und umfangreichste kulturelle Institution des 17. und 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum“ bezeichnet werden,384 es eröffnet sich auch für die literatur-, theater- sowie musikwissenschaftliche Forschung ein breites Untersuchungsfeld, sind doch – im Gegensatz zu den nur in geringer Zahl überlieferten Partituren – die Textbücher nahezu vollständig überliefert und stellen den „umfangreichsten und vollständigsten Corpus dramatischer Texte dar, der im 17. und 18. Jahrhundert für ein Theater geschrieben, gedruckt und erhalten wurde“.385 Bevor jedoch drei Lokalsingspiele der Hamburger Oper näher beleuchtet werden, ist es notwendig, sich über den Untersuchungsgegenstand, das Libretto, klar zu werden, galt es doch lange Zeit als ‚minderwertig‘. So gesteht beispielsweise Abert dem Libretto keine Literarizität zu: Ein Libretto ist mithin zwar ein Gebilde aus Worten, aber keine Dichtung im landläufigen Sinne, es erweckt den Eindruck einer literarischen Gattung, ist aber mit literarischen Maßstäben nicht zu messen, obwohl es sich literarischer Formen und Praktiken bedient, denn sein Ziel liegt außerhalb seiner selbst.386
Jahre noch unter dem unausgesprochenen Ziel beweisen zu müssen, die Hamburger Oper als volkstümlich-bürgerlich darzustellen – so die immer noch umfassendste Arbeit zur Hamburger Oper (Wolff: Die Barockoper in Hamburg [wie Anm. 382]) –, hat die neuere Forschung nachgewiesen, dass die Institution Oper in Hamburg durchaus auch ökonomischen Interessen sowie der Repräsentation und Vermittlung politischer Botschaften diente. Vgl. Dorothea Schröder: Zeitgeschichte auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik und Diplomatie (1690–1745). Göttingen 1998 (Abhandlungen zur Musikgeschichte 2); Reinhart Meyer: Einführung. In: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. Hg. von Reinhart Meyer. Bd. IV. Millwood 1984, S. 11–137, insb. S. 51–64; HansDieter Loose: Kaufleute, Mäzene und Diplomaten. Finanzierung und Organisationsstruktur der alten Hamburger Oper am Gänsemarkt. In: Aspekte der Musik des Barock. Aufführungspraxis und Stil. Bericht über die Symposien der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe. 2001 bis 2004. Hg. von Siegfried Schmalzriedt. Laaber 2006 (Veröffentlichungen der Internationalen HändelAkademie Karlsruhe 8), S. 321–330; Joachim R.M. Wendt: Materialien zur Geschichte der frühen Hamburger Oper. I: Eigentümer und Pächter. Aurich 2002 sowie Eberhard Haufe: Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678–1738. Hg. von Hendrik Birus, Wolfgang Harms. Frankfurt a.M. u.a. 1994 (Mikrokosmos 37). 384 Meyer: Einführung (wie Anm. 383), S. 11. 385 Ebd. 386 Anna Amalie Abert: Libretto. In: MGG. Bd. VIII. Kassel u.a. 1960, Sp. 708–727, hier Sp. 710f.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
353
Diese Auffassung ist aus der hier verfolgten Perspektive abzulehnen, liegt ihr doch ein problematisches normatives Literaturverständnis zu Grunde: Damit ein Kunstwerk als ein solches betrachtet werden kann, muss es ‚wertvoll‘ sein. Dieser Wert ist vorhanden, wenn das Werk keine anderen als nur ästhetische Ziele verfolgt. Insofern gelten Texte, die auf die Vertonung hin angelegt sind, als ‚minderwertig‘.387 Nicht zuletzt in Ausweitung dieses engen Literaturbegriffes entstand erst in den letzten Jahrzehnten eine literaturwissenschaftliche Librettoforschung.388 Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang die Forschungsgeschichte nachzuzeichnen, verwiesen sei beispielhaft auf die Neuauflage der MGG von 1996, in der Borchmeyer dem Libretto durchaus ästhetische Qualitäten zubilligt und auf den prekären wissenschaftssystematischen Ort des Librettos aufmerksam macht:
387 So auch Albert Gier: Perspektiven der Librettoforschung: die Gattung und ihre Theorie. Vortrag Bochum (Musikwissenschaftliches Institut der Universität), 25. Juni 1998. In: Universitätsbibliothek Bamberg. Opus – Hochschulschriftenserver. http://www.opus-bayern.de/uni-bamberg/volltexte/2005/9/pdf/gierpe2.pdf. Stand: 02. Oktober 2010, S. 2. Vgl. zu einer mit Abert vergleichbaren Sichtweise auch Pfister, der die Oper zwar zu den dramatischen Gattungen rechnet, ihr aber ein „literarische[s] Textsubstrat“ abspricht. Pfister (wie Anm. 3), S. 33. 388 Vgl. beispielhaft die wichtigen Studien von Patrick John Smith: The Tenth Muse. A historical Study of the Opera Libretto. New York 1975; Klaus-Dieter Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos: Studien zur italienischen Oper von 1850 bis 1920. Bonn 1975 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 173); Klaus Günther Just: Das deutsche Opernlibretto. In: Poetica 7 (1975), S. 203–220; Jahn (wie Anm. 381); Schröder (wie Anm. 383); Haufe (wie Anm. 383); Mara R. Wade: The German baroque pastoral „Singspiel“. Bern u.a. 1990; Bodo Plachta: Ein „Tyrann der Schaubühne“? Stationen und Positionen einer literatur- und kulturkritischen Debatte über Oper und Operntext im 18. Jahrhundert. Berlin 2003; Ders.: Libretti: eine von den Editoren vergessene Gattung? Überlegungen zur kommentierenden Herausgabe von Operntextbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Hg. von Gunter Martens. Tübingen 1993, S. 25–37, insb. S. 25–28; Jens Malte Fischer (Hg.): Oper und Operntext. Heidelberg 1985 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft 60), hier insbesondere der Aufsatz von Harald Fricke: Schiller und Verdi. Das Libretto als Textgattung zwischen Schauspiel und Literaturoper, S. 95–115 und Esbjörn Nyström: Libretto im Progress: Brechts und Weills ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘ aus textgeschichtlicher Sicht. Bern 2005 (Arbeiten zur Editionswissenschaft 6) sowie von musikwissenschaftlicher Seite Albert Gier: Das Libretto. Theorie und Geschichte einer musikoliterarischen Gattung. Darmstadt 1998; Ders.: Schreibweise – Typus – Gattung. Zum gattungssystematischen Ort des Librettos (und der Oper). In: Musiktheater als Herausforderung. Interdisziplinäre Facetten von Theater- und Musikwissenschaft. Hg. von Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 1999 (Theatron 29), S. 40–54; Ders.: Perspektiven der Librettoforschung (wie Anm. 386) sowie Albert Gier (Hg.): Oper als Text. Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung. Heidelberg 1986 (Studia Romanica 63).
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Das Libretto ist die Textvorlage einer Oper, eines Oratoriums und überhaupt eines größeren Vokalwerks in Dialogform. […] Das Libretto sitzt aufgrund seiner Funktionsgebundenheit an die Musik, aber eben als nicht-musikalisches Genre gewissermaßen zwischen den Stühlen der Musik und der Literatur sowie der auf sie bezogenen Wissenschaften. Lange fühlten sich weder Musikologie noch Philologie für sie zuständig. Sie genießt bis heute den Ruf einer subliterarischen Zweckgattung. Literatur- und Theaterwissenschaft haben erst in jüngster Zeit das Libretto, die ‚unbekannte literarische Größe‘ […] und überhaupt die Dramaturgie der Oper als einen ihrer Gegenstände entdeckt.389
Erkennt man, worüber inzwischen kaum noch Dissens besteht, das Libretto als literarische Gattung an, impliziert dies verschiedene Folgerungen. So gehört es zu den dramatischen Texten und unterscheidet sich von anderen dramatischen Gattungen durch das Merkmal der Vertonbarkeit.390 Text und Musik bedingen einander,391 ist doch die Musik, die dem Librettisten dramatisch-poetische Strukturgesetze vorschreibt,392 selbst durch die Textbasis mehr oder weniger determiniert. Des Weiteren werden im Libretto zugleich auch Aussagen zur szenischen Realisation getroffen393 und es ist nicht zuletzt auch als ‚Textbuch‘ ernst zu
389 Dieter Borchmeyer: Libretto. In: MGG. Sachteil Bd. 5. Kassel u.a. 1996, Sp. 1116–1259, hier Sp. 1116f. 390 Vgl. Albert Gier: Libretto. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5. Hg. von Gert Ueding. Tübingen 2001, Sp. 250–253, hier Sp. 250. 391 Dies gilt auch, wenn man berücksichtigt, dass die Verhältnisbestimmung von Musik und Text in der Geschichte der Oper immer eine andere gewesen ist. Vgl. Irmgard Scheitler: Libretto. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit Fachwissenschaftlern von Friedrich Jaeger. Stuttgart, Weimar 2005ff., Sp. 880–884, hier Sp. 882f. und Haufe (wie Anm. 383), S. 18–25. Vgl. für den hier zur Debatte stehenden Kontext beispielhaft die Äußerungen Hunolds und Feinds: Vor dismahl wende ich mich dem Haupt=Werk Theatralischer Gedichte/ als den Opern, welche/ wenn man sie in allen ihren Vortrefflichkeiten betrachtet/ einer ohne diß schönen Poesie ein unvergleichlicher Zierrath heissen können. ([Christian Friedrich Hunold:] Galante und Geistliche Gedichte/ Von Menantes. Hamburg 1722, S. 87) Denn eine Opera ist ein aus vielen Unterredungen bestehendes Gedicht/ so in die Music gesetzet/ als welche der Verse wegen allhier gebraucht wird/ nicht aber uemgekehrt/ weil der Poet den Musicum zu allerhand Inventionen veranlasset/ und der Musicus dem Poeten folgen muß. (Barthold Feind: Lt. Deutsche Gedichte/ Bestehend in Musicalischen Schau=Spielen/ Lob=Glückwünschungs=Verliebten und Moralischen Gedichten/ Ernst= und schertzhafften Sinn= und Grabschrifften/ Satyren/ Cantaten und allerhand Gattungen. Sammt einer Vorrede von dem temperament und Gemüths=Beschaffenheit eines Poeten/ und Gedancken von der Opera. Erster Theil. Mit Kupffern und einem vollständigen Register. Stade 1708, S. 80) 392 Vgl. Borchmeyer (wie Anm. 389), Sp. 1119. 393 So trifft der Librettist unter anderem durch die formale Anlage des Textes kompositorische Vorgaben, etwa durch die Einteilung in singbare Abschnitte. Zudem kann er dem Komponisten
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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nehmen, enthält es doch im hier untersuchten Zeitraum neben dem Personenverzeichnis den vollständigen Text sowie gewöhnlich Widmung und Vorrede, in der sich der Librettist zu opernästhetischen Vorstellungen äußert. Das Libretto konstituiert damit innerhalb der plurimedialen Kunstform Oper eine eigene Bedeutungsebene,394 ist jedoch selbst nicht plurimedial, wovon beispielsweise Gier ausgeht,395 ihm ist vielmehr als Dramentext eine mit sprachlichen Mitteln (Hinweise zur Aufführung und Vertonung) „implizierte Plurimedialität“396 eigen. Insofern ist es Aufgabe der Literaturwissenschaft die Bedeutungsebene des literarischen Textes der Oper, des Librettos, mit den ihr eigenen Methoden zu analysieren. Dass dabei neben dem Dramentext als schriftlich fixierter Text mit seinen jeweiligen Paratexten, auch musikdramatische Eigenschaften und Vorgaben zur Inszenierung zu berücksichtigen sind397 und insofern der implizierten Plurimedialität und damit auch antizipierten Bühnenrealisation Rechnung getragen wird, versteht sich von selbst. Dass dies im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht geleistet werden kann, bedingt sich durch den Verlust sämtlicher hier zur Debatte stehenden Partituren. Insofern stützt sich die Untersuchung vornehmlich auf den Operntext und die zugehörigen Paratexte, um eine möglichst umfassende Analyse leisten zu können.
durch Affektdarstellung die Möglichkeit zur musikalischen Illustration geben. In Bezug auf Inszenierungsvorgaben sind zuvörderst die Szenenanweisungen zu nennen. Zugleich muss sich der Librettist jedoch auch an kompositorischen Vorgaben orientieren, insbesondere Metrik und die genaue formale Gestaltung (z.B. Strophen- oder Da capo-Arie) betreffend. 394 So Gier: Libretto (wie Anm. 390), hier Sp. 250. 395 Vgl. Gier: Das Libretto (wie Anm. 388), S. 15: „Der dramatische Text (das Libretto) ist plurimedial, da er einerseits Regieanweisungen zur Gestaltung der Bühne, zum Spiel der Darsteller etc. enthält (nicht anders als ein Schauspieltext) und da andererseits, z.B. durch die Unterscheidung von Rezitativ bzw. gesprochenem Dialog und Arien oder Ensembles, Raum für Musik geschaffen wird.“ Gier übernimmt hier seine Begrifflichkeit von Pfister, verkennt jedoch, dass dieser bei seiner Definition des Dramentextes als „synästhetisch[…]“ und „plurimedial[…]“ von der Bühnenrealisation ausgeht. Vgl. Pfister (wie Anm. 3), S. 24. Vgl. zur Kritik an Giers Begrifflichkeit auch Nyström (wie Anm. 388), S. 118f. 396 Nyström (wie Anm. 388), S. 116. 397 Darauf verweist Gier: Perspektiven der Librettoforschung (wie Anm. 387), S. 4.
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
5.5.1 Die komische Figur in der Hamburger Barockoper In fast allen Hamburger Opern398 tritt eine komische Person auf und verweist damit auf den starken Einfluss der Wanderbühnen,399 auch wenn sie hier nie in der Maske des Pickelhäring oder Hanswurst auftritt, sondern als thematisch gebundene Figur (Soldat, Bote, Diener oder Teufel). Mehrere Hamburger Opern zeigen, dass aber auch die Figur des Juden die komische Rolle besetzen konnte. Zugleich bot der meist biblische Stoff jedoch wenig Raum zur Profilierung der Rolle, sodass sprachliche Eigenheiten kaum akzentuiert wurden.400 Erst mit den so genannten Lokalsingspielen kam es zu einer Konkretisierung der Schauplätze und Personen – mithin auch der Figur des Juden, die im Folgenden näher beleuchtet werden soll. Zunächst soll jedoch kurz im Rückgriff auf Meyer auf die komischen Rollen in der Hamburger Barockoper eingegangen werden, um die Rolle des ‚komischen Juden‘, die als eine fest umrissene Figur mit nur leicht variierenden Zügen erscheint, besser einordnen zu können.401 Die komische Figur trat – wie schon angeführt – in der Hamburger Barockoper stets als thematisch gebundene Figur auf, d.h. sie trat in unterschiedlichsten Kostümen und mit variierenden Funktionen auf. Trotz dieser Heterogenität lassen sich einige charakteristische Eigenschaften festhalten: Die komische Figur nimmt stets den niedrigsten sozialen Rang ein (Diener, Tambour, Sklave, Bauer, einfacher Soldat, Hofnarr oder Jude) und ist meist von einem Herrn abhängig, ohne diesem besonders treu zu sein. Dabei dient sie jedoch keiner gesellschaftlichen Gruppe oder einem Stand als Repräsentant, sie ist vielmehr völlig auf sich selbst gestellt, verstößt sie doch gegen alle Normen. Diese Autonomie verleiht ihr zugleich auch eine privilegierte Stellung: So ist sie weder Instrument des Himmels
398 Im Folgenden soll nur die jüdische komische Figur beleuchtet werden. So gehört das Personal in den Opern, die alttestamentarische Stoffe auf die Bühne bringen, zwar auch dem Judentum an, doch wird das Alte Testament auf Christus hin und von Christus her interpretiert. Insofern ist das Alte Testament stets typologisch und allegorisch zu lesen und so wird beispielsweise Esther, die Retterin der Unschuldigen, zu Maria. 399 Zu Vorbildern und Einflüssen der Hamburger Barockoper vgl. Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 22–132. Auf die herausragende Stellung der komischen Figur in der Hamburger Oper verweist auch die Tatsache, dass in übernommene Opern, die keine komische Figur hatten, diese neu eingefügt wurde. Vgl. ebd., S. 132f. 400 So auch Och (wie Anm. 7), S. 57f. 401 Die folgenden Ausführungen zur komischen Figur beziehen sich wesentlich auf Reinhart Meyer: Hanswurst und Harlekin oder: Der Narr als Gattungsschöpfer. Versuch einer Analyse des komischen Spiels in den Staatsaktionen des Musik- und Sprechtheaters im 17. und 18. Jahrhundert. In: Théâtre, Nation & Société en Allemagne au XVIIe Siècle. Ed. par Roland Krebs, Jean-Marie Valentin. Nancy 1990, S. 13–39, insb. S. 16–20.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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noch der Hölle, sie kann aus der ernsten Handlung heraustreten und hat eigene Szenen. Diese mangelnde Integration verleiht ihr aber zugleich die Fähigkeit zur Kritik, die jedoch, da sie von außen kommt, im Stück ungehört und ohne Einfluss auf die Handlung bleibt, auch wenn sie nicht falsch ist.402 Am stärksten ausgeprägt ist die materielle Fixierung der komischen Figur. Sie ist auf sinnliche Genüsse fokussiert, ihre liebste Belohnung sind Werte wie Geld, Essen und Trinken, sie ist bequem und schimpft über Mühe und Arbeit. Ihre Gier zeigt sich aber auch auf sexuellem Gebiet. Mit dieser recht stabilen Rollenidentität korrespondiert auch, dass sie – trotz ihrer vielfältigen Verkleidungen – unfähig zu List und Verstellung ist. Zudem ist sie aufschneiderisch und feige, sie versucht körperliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, auch wenn sie des Öfteren geprügelt wird.403 Dieses Profil der komischen Figur zeigt sich ebenfalls bei den jüdischen Figuren der Hamburger Barockoper.404 Beliebtes Charakterisierungsmittel war hier vor allem die Fixierung der Figuren auf Essen und Trinken, wobei insbesondere die jüdischen Speisevorschriften verspottet wurden. So giert beispielsweise der vom Glauben abgefallene Sohn Javan in Die Macchabaeische Mutter Mit Ihren Sieben Söhnen405 in der gesamten Oper nach Essen und stellt das Verlangen danach über alles andere. Dieses, das ihn der fleischlichen Welt der Bacchus-Anhänger in Opposition zur geistlichen Welt der rechtgläubigen Juden zuordnet, ist es, das ihn dazu verleitet, dem jüdischen Glauben abzusagen.406 Er entsagt ihm so auch nicht
402 Während Meyer (Hanswurst und Harlekin [wie Anm. 401], S. 15) der Ansicht ist, dass die komische Figur nie in die Handlung eingreift und diese ändert, verweist Wolff anhand zweier Beispiele darauf, dass dieses durchaus der Fall sein kann. Er führt dies darauf zurück, dass auch der Hoffnarr unmittelbares Vorbild der komischen Figur war. Vgl. Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 135f. 403 Vgl. Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 16–20. 404 Die Auswahl der hier angeführten Beispiele beruht im Wesentlichen auf der bei Jenzsch gegebenen Übersicht. Vgl. Helmut Jenzsch: Jüdische Figuren in deutschen Bühnentexten des 18. Jahrhunderts. Eine systematische Darstellung auf dem Hintergrund der Bestrebungen zur bürgerlichen Gleichstellung der Juden, nebst einer Bibliographie nachgewiesener Bühnentexte mit Judenfiguren der Aufklärung. Hamburg 1974, S. 75–81. 405 [Heinrich Elmenhorst:] Die Macchabaeische Mutter Mit Ihren Sieben Söhnen. In einem Singe-Spiel vorgestellet. Hamburg 1679. [Komp. Johann Wolfgang Franck]. In: Wolfenbütteler Digitale Bibliothek. http://diglib.hab.de/drucke/textb-sbd-7–7/start.htm. Stand: 03. Februar 2007. Jenzsch weist daraufhin, dass Javan Dialekt spreche, doch war dies im vorliegenden Libretto nicht nachweisbar. Auch führt Jenzsch an, dass Javan mit einem Schweinebraten auf der Bühne erscheine, was ebenfalls nicht belegbar war. Vgl. Jenzsch (wie Anm. 404), S. 77. 406 Ich hab schon lang gedacht/ Warumb man sich so viel Gewissens macht/ Wenn man sol Saufleisch essen/
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aus religiösen Gründen, sondern vielmehr aufgrund des Verbotes von Schweinefleisch. Die Aufforderung, dem Beispiel seiner Mutter und seiner Brüder nachzueifern und lieber in den Tod zu gehen als die jüdischen Speisevorschriften zu verletzten, lehnt er mit den Worten ab: „Die Schincken stehn mir doch viel besser an“.407 Als offensichtlich ist, dass seine Familie dem Bacchus geopfert werden soll, denkt er an nichts anderes als an Essen und Trinken: Sa! Lustig gefressen und tapffer gesoffen/ So lange die schleckische Gurgel steht offen/ Bey niedlichen Wuersten Da kommet das Duersten/ Bey koestlichem Schincken Da schmecket das Trincken/ Erfreut Euch ihr Brueder wir haben getroffen. Sa! Lustig gefressen und tapffer gesoffen!408
Neben der dargestellten Sauf- und Fresslust sind noch weitere Funktionen und Eigenschaften der komischen Person anhand der jüdischen Figur nachweisbar. Als Beispiel seien Der Fall Des grossen Richters in Israel/ Simson, Oder: die abgekühlte Liebes-Rache der Debora409 von Barthold Feind und Die über die Liebe Triumphirende Weißheit/ Oder Salomon410 von Hunold angeführt. In beiden Opern agiert ausschließlich jüdisches Personal, das zu einem großen Teil alttestamentarischen Stoffen entstammt, zum Teil jedoch frei erfunden ist.411 In der Oper Simson nimmt der Jude Hadar verschiedene Funktionen wahr. Er tritt zunächst als Diener des Simson auf, gibt sich jedoch gleichzeitig als geldgieriger jüdischer Händler zu erkennen.412 Seine Geldgier ist es auch, die ihn dazu
Ha! Kommet nur ich will tapffer fressen/ Daß man mich wohl mit Zehen guldnen Krohnen Hinfuero soll belohnen. (Elmenhorst [wie Anm. 405], I,7) 407 Elmenhorst (wie Anm. 405), III, 1. Vgl. dazu auch Jahn (wie Anm. 381), S. 242. 408 Elmenhorst (wie Anm. 405), IV, 9 409 [Barthold Feind:] Der Fall Des grossen Richters in Israel/ Simson, Oder: die abgekühlte Liebes-Rache der Debora […]. Hamburg 1709 [Komp. Christoph Graupner]. In: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. Hg. von Reinhart Meyer, Band 2. München 1980, S. 255–333. 410 [Menantes [d.i. Christian Friedrich Hunold]:] Die über die Liebe Triumphirende Weißheit/ Oder: Salomon, In einem Singe=Spiel Auff dem grossen Hamburgischen Schau=Platze vorgestellet. Hamburg 1703. 411 Jenzsch (wie Anm. 404), S. 78. 412 So zieht er wie ein Trödler durch die Straßen: Kauft Honig/ kauft Honig/ lauft zu/ ihr Leute/
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verleitet, selbst an dem Rätsel, welches Simson den Philistern stellt, teilzunehmen, da er die richtige Antwort zu wissen glaubt. Er kann es aufgrund seiner Dummheit jedoch nicht lösen.413 Des Weiteren übt er Kritik, die jedoch ohne Einfluss auf die Handlung bleibt. Geld/ Geld/ Geld/ Ruft heut die gantze Welt. Man liebt ein Pferd um guter Art, Den Hund/ weil er das Hauß bewahrt, Den Esel/ weil er tragen kann, Nur bloß den Menschen schaetzet man Nach seinem Geld und Gut/ Druem ruft die gantze Welt: Geld/ Geld/ Geld.414
Weitere Funktionen Hadars sind die des Kupplers, des lüsternen Voyeurs und geldgierigen Intriganten. Eine ähnliche Figur findet sich in Hunolds Oper Salomon. Hier vereint Hesed, Diener des Salomon, verschiedene Funktionen in sich: der in Liebesdingen benachteiligte Außenseiter, der Intrigant, der Kuppler, der Tölpel, der ängstliche Jude und Kritiker des Hofes.415 Die
Lauft/ lauft/ kauft Honig/ lauft/ lauft/ Kauft Honigseim/ wohl feil/ kauft/ kauft! (Das war noch eine gute Jaeger Beute.) kauft Honig/ kauft Honig/ ihr Leute! ([Feind:] Der Fall Des grossen Richters in Israel/ Simson [wie Anm. 409], II, 4) Auch fordert er von Simson – dieser will ihm den Honig und sein Schweigen darüber abkaufen, da Simson den Philistern ein Rätsel stellen will – ohne Umschweife nur „Geld! Geld!“. Ebd. 413 So wird er beispielsweise als Bote zu Simson geschickt, kann sich jedoch nicht mehr an die Nachricht erinnern. Er hebt immer wieder zu dem gleichen Spruch an, ohne ihn beenden zu können. 414 [Feind:] Der Fall Des grossen Richters in Israel/ Simson (wie Anm. 409), III, 5. Geld ist in fast allen Hamburger Opern negativ konnotiert. Vgl. Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 18. 415 Wer hoch am Hofe denckt zu steigen/ Der stelle sich politisch an. Die Wahrheit immer bloß zu zeigen/ Heist nicht nach Hofmanier gethan. Man muß den andern Gruben graben/ Der Fuchs-Schwantz bringt auch etwas ein/ So will ich bald die Ehre haben/ Raht hesed titulirt zu seyn. ([Menantes:] Die über die Liebe Triumphirende Weißheit/ Oder: Salomon [wie Anm. 410], I,4)
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Vielfältigkeit der Figur wird insbesondere auch durch Verkleidungsszenen deutlich.416 In beiden Opern finden sich zudem die beliebten Judenchöre und -ballette, die auch Eingang in die noch zu diskutierenden Lokalsingspiele finden. Von der Beliebtheit solch komischer Judenrollen zeugt auch das komische Paar Jethur und Mara in der Oper Die liebliche/ Durch Tugend und Schönheit Erhöhete Esther von Johann Martin Köhler.417 Die Oper geht auf das Wanderbühnenstück Comoedia, Von der Königin Esther und Hoffertigen Haman418 zurück. Köhler übernimmt weitgehend den Handlungsverlauf der Komödie, ersetzt jedoch die Figur des Hans Knapkäse und dessen Frau durch das jüdische Paar. Die komischen Figuren spiegeln die Liebeshandlung zwischen dem Königspaar Esther und Ahasver auf niederer Ebene. Dies geschieht vornehmlich in Duetten, in denen sich das Paar heftig streitet.419 Zudem gibt es eine Fressszene mit Jethur und dem Hofnarren Tallas – er ist die eigentlich komische Figur des Stückes –, in der der Jude sich brüstet: „Ich sauff auch/ wenn ich gleich nicht dürft“420 und sich damit als lächerliche Figur preisgibt. Vor dem Hintergrund dieser Übersicht wird deutlich, dass die jüdischen Figuren grundsätzlich dieselben Eigenschaften und Charakteristika aufweisen wie andere komische Figuren: Sie sind stets auf Befriedigung ihrer Begierden bedacht, erweisen sich häufig als feige, untreu und vor allem als geldgierig. Darüber hinaus nehmen sie in den Opern verschiedenste Funktionen wahr, was nicht zuletzt durch häufige Verkleidungsszenen deutlich wird. Zudem bieten insbesondere die jüdischen Speisevorschriften Gelegenheit zur Verspottung.
416 Hesed wird durch das Los bestimmt, dem Moloch als Menschenopfer dargebracht und verbrannt zu werden. Er überredet in seiner Angst einen Schneidergesellen, mit ihm die Kleidung zu tauschen und verbindet diesem unter dem Vorwand, dass sie auf einen Maskenball gehen würden, die Augen. Hesed führt den Schneider jedoch zum Moloch-Tempel, wo er verbrannt wird (Vgl. [Menantes:] Die über die Liebe Triumphirende Weißheit/ Oder: Salomon [wie Anm. 410], II, 21, 22). Die Szene stellt eine Parodie der Opfer- und Tempelszenen dar, wie sie in der französischen Oper besonders beliebt waren. Vgl. Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 157f. 417 [Johann Martin Köhler:] Die liebliche/ Durch Tugend und Schönheit Erhöhete Esther, In einem Singe-Spiel vorgestellt. Hamburg 1680 [Komp. Nicolaus Adam Strungk]. In: Wolfenbütteler Digitale Bibliothek. http://diglib.hab.de/drucke/textb-sbd-10-2/start.htm [Gesamtes Dokument]. Stand: 03. Februar 2007. 418 Comoedia. Von der Königin Esther und Hoffertigen Haman. In: Spieltexte der Wanderbühne. Hg. von Manfred Braunek. Erster Band: Englische Comedien und Tragedien. Berlin 1970, S. 3–77. 419 Das jüdische Paar kommt jedoch ohne die Prügelszenen aus, die in der Vorlage zwischen Hans Knapkäse und seiner Frau dominieren. 420 Köhler (wie Anm. 417), V, 10.
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Im Gegensatz zu den heroischen Opern ist das hier zur Debatte stehende Lokalsingspiel nicht auf eine dominierende komische Rolle angelegt.421 Insofern figurieren die Juden auch nicht allein in der Rolle der komischen Figuren, sie bleiben aber auf diese festgelegt. Damit korrespondiert ihre typenhafte Darstellung, treten sie doch in den hier zu analysierenden Libretti stets als ‚betrügerische Schacherjuden‘ auf, die nur darauf bedacht sind, ein möglichst gutes Geschäft zu machen. Dass ihnen dieses jedoch stets zum Nachteil gereicht, ist in der Anlage der komischen Figuren begründet.
5.5.2 Komische Judenfiguren in den Hamburger Lokalsingspielen Mit der 1707 aufgeführten komischen Oper Der angenehme Betrug, Oder der Carneval von Venedig kam in Hamburg ein ‚Kassenschlager‘ auf die Bühne,422 kam sie doch dem Geschmack breiter Bevölkerungsschichten entgegen, indem sie zum großen Teil das höfisch-feudale Niveau der bis dahin gespielten Opern verließ. Aus diesem Grund erweckte sie den Argwohn von Obrigkeit und Patriziat, sodass sich Barthold Feind vehement gegen solch „abgeschmackte[…] Fratzen“ wandte: Jn Hamburg ist die üble Gewohnheit eingerissen/ daß man ohne Arlechin keine Opera auf dem Schauplatz führet/ welches warlich die grösseste bassesse eines mauvait gôut und schlechten Esprit des Auditorii an den Tag leget. Was bey der gantzen politen Welt für abgeschmackt und ridicul passiret/ findet daselbst die grösseste Approbation: Wie man denn erst neuliche im verwichenen Jahr/ eine Opera/ le Carneval de Venise benahmt/ praesentiret/ von so absurden Zeug und abgeschmackten Fratzen/ daß sie fast eine Peter=Squentz=Opera kan genannt werden. Dennoch hat das Sujet eine so allgemeine Approbation und Zulauff gehabt/ daß es fast unglaublich. Die Brauer=Knechte selber mussten ihr Geld dahin tragen/ darüm kan man wol gedencken/ daß dieses Venedische Carnevall nicht le Carneval de Venise sey/ so in Frankreich praesentiret worden.423
Deutlich wird hier der Wunsch nach einer Gegenbewegung zur Öffnung der Oper für ein Publikum aus sozial niederen Schichten, die, so Meyer, die adlig-patrizische Ausrichtung der Oper zu wahren suchte, entfremdete man sie doch aus
421 So Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 15. 422 [Mauritz Cuno:] Der Angenehme Betrug/ Oder: Der Carneval von Venedig, Jn einem Sing=Spiel auf den [sic!] grossen Hamburgischen Schau=Platze vorgestellet. Hamburg 1707. Nach Marx/ Schröder wurde die Oper in Hamburg 22–mal gespielt. Vgl. Marx, Schröder (wie Anm. 382), S. 469–507. 423 Feind: Deutsche Gedichte (wie Anm. 391), S. 103f.
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Sicht der Träger, ihrer repräsentativen Funktionen.424 Daraus resultierte ein Spannungsverhältnis, denn während der Der angenehme Betrug der Lokaloper zum Durchbruch verhalf und beim Publikum sehr erfolgreich war, isolierte er die Hamburger Oper zugleich gegenüber anderen Residenzbühnen: „[S]ie drohte in einer Weise ‚bürgerlich‘ zu werden, die den Intentionen der Gründer wie der herrschaftlichen Träger nicht mehr entsprach“.425 Die Ursache für die Ablehnung lag nicht nur in der Verwendung von Mundart in den Arien, sondern vor allem im „satirischen Realismus der Stücke, der vor keiner Torheit, keine Novität oder Ungereimtheit der Gegenwart Halt machte“.426 Ort der Handlung waren nun Plätze und Straßen sowie die Häuser der Bürger; die Kritik richtete sich nicht nur gegen städtische Missstände, sondern vor allem auch gegen den – so Wolff – „Materialismus des Hamburger Bürgertums“427 sowie das unersättliche Schau- und Unterhaltungsbedürfnis des Publikums. Das Spannungsverhältnis – angestrebte Volkstümlichkeit und adlig-patrizische Intentionen – zeigt sich auch anhand der Sprachbehandlung: Während die Librettisten in den Texten weitgehend auf literarische Anspielungen, allegorische, topologische oder emblematische Versatzstücke verzichteten, richteten sich die Vorreden an das höfische Opern gewöhnte Publikum und suchten die neue Gattung zu legitimieren.428 Es sind einige Jahr her viel schöne Opern so wol von vortrefflicher Poesi [sic], als auch fast unverbesserlicher Music […] gemacht/ und alhie auf unsern grossen Hamburgischen Schauplatz aufgeführet worden; allein ich weiß nicht/ aus was für Ursachen man anfängt einen kleinen Ekel unter denen Liebhabern zu spühren/ und wann man hierüber genaue Nachfrage hält/ ist die Antwort: die Materien wären theils/ und vornehmlich im Winter/ gar zu lang/ theils gar zu traurig/ denn wenn nach vieler des Tages gehabten Mühe das Gemüthe laß [sic] und müde würde/ besuchet man die Opera sich in etwas zu ergetzen/ wann aber die Materien noch zu mehrer Melancholy Anlaß geben/ suchte man lieber andere Zeitvertreibung. Es ist derohalben vor einem Jahr versuchet worden ob lustige Sachen denen Herrn Zuschauern besser gefallen würden; da man denn erfahren/ daß ein vermischtes Wesen/ wie das Stück der Carneval de Venise ist/ so viel Zuschauer allemahl hierein gezogen/ daß offt der ziemlich grosse Raum zu enge geworden.429
424 So Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 14. 425 Ebd. 426 Ebd., S. 14f. 427 Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 90. 428 So Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 15. 429 [Mauritz Cuno:] Die lustige Hochzeit/ Und darbey angestellte Bauren=Masquerade. [Hamburg] 1708 [Komp. Christoph Graupner, Reinhard Keiser], 2v.
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Wandte sich die „satirische Oper“430 jedoch höheren Ständen zu, wurde sie verboten, so im Falle der 1725 einmalig aufgeführten Hamburger SchlachtZeit,431 in der das Hamburger Großbürgertum verspottet wurde. Drei dieser Lokalsingspiele432 sind Gegenstand dieser Untersuchung: Le Bon Vivant oder Die Leipziger Messe, Der Hamburger Jahr-Marckt und Die Hamburger SchlachtZeit.
5.5.2.1 Le Bon Vivant, Oder die Leipziger Messe An den Erfolg der äußerst populären französischen Divertissement-Opern wie L’Europe galante oder Le Carneval de Venise versuchte man in Hamburg mit eigenen Produktionen wie dem Carneval von Venedig oder auch mit Le Bon Vivant, Oder die Leipziger Messe433 anzuknüpfen, wobei in diesem Zusammenhang besonders letztere von Interesse ist, treten in ihr doch zwei jüdische Figuren auf. Die Hauptpersonen des Singspiels sind die zwei Leipziger Studenten Rinaldo und Cleander, die in zwei junge Leipzigerinnen, Louyse und Amalia, verliebt sind. Trotz aller Versuche von Seiten der Mädchen, die Studenten in Leipzig zu halten, reisen diese schließlich ab. Eingebettet in diese einfache Handlung sind zahlreiche Milieuszenen, die die Geselligkeit in den Mittelpunkt stellen. Begründet wird diese Hinwendung zum „gemeinen Leben“ in der Vorrede: Es ist ja itzo der allgemeine Jrrthum/ daß man meynet/ es könne kein Stück/ so auf dem Theatro soll vorgestellet werden/ ohne einer/ entweder aus der Fabel, -Historie/ oder dergleichen Brunnen geschöpften Materie dem Zuschauer angenehm seyn/ da doch diejenige Erfindungen/ welche denen Begebenheiten/ so in dem gemeinen Leben vorfallen/ am nechsten kommen/ allemahl am meisten Beyfall zu verdienen/ ich der gäntzlichen Meynung
430 Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 15. 431 [Johann Philipp Prätorius:] Die Hamburger Schlacht=Zeit/ Oder Der Mißlungene Betrug/ In einem Singe=Spiel/ Auf dem Hamburgischen Schau=Platze Aufgeführet. Hamburg 1725 [Komp. Reinhard Keiser]. Nachdruck in: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. Hg. von Reinhart Meyer. Bd. 3. München 1980, S. 153–187. 432 Vgl. zu den Vorbildern der Lokalsingspiele vgl. Jenzsch (wie Anm. 404), S. 83; Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 75–132, insbesondere S. 99–108. Zum Théâtré de la Foire vgl. weiter Isabelle Martin: Le Théâtré de la Foire. Des tréteaux aux boulevards. Oxford 2002. 433 [Christian Heinrich Weidemann:] Le Bon Vivant, Oder die Leipziger Messe […]. [Komp. Reinhard Keiser]. Hamburg 1710. In: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. Hg. von Reinhart Meyer, Band 2. München 1980, S. 335– 388. Die angegebenen Seitenzahlen der hier diskutierten Opern „Die Hamburger Schlacht=Zeit“, „Der Hamburger Jahr=Marckt“ und „Le Bon Vivant Oder Die Leipziger Messe“ beziehen sich auf Meyers Seitenzählung.
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bin; Deßfalls habe ich dieselbe auch aus der Natur und wahren Beschaffenheit des Sujects genommen.434
Die Oper soll mithin unterhalten435 und diesem Zweck dienen auch die Juden, die in elf der 26 Szenen auftreten. Zu Beginn des Stückes kommen die Juden Isaac und Moses in ein Kaffeehaus: Sie treten jedoch nicht einfach ein, vielmehr ‚schleichen‘ sie sich einer nach dem anderen ein und sprechen mit einem Diener in einer „schleichenden Art“.436 Sie werden bereits hier durch sprachliche und außersprachliche Zeichen von den übrigen Figuren ab- und damit ausgegrenzt und als betrügerische Händler, denen durch ihre ‚schleichende‘ Art nicht zu trauen sei, eingeführt. Als sie beim „CafféeJungen“ eine Tasse Schokolade bestellen wollen, werden sie sogleich von den Studenten wüst beschimpft.437 Sie werden so über den verwehrten Genuss von der Gemeinschaft ausgegrenzt,438 sodass die Differenz insbesondere zu den Studenten doppelt markiert wird. Diese wird im gesamten Stück aufrechterhalten und verselbstständigt sich in antijüdischen Ausfällen. Dennoch geben die Juden sich unterwürfig – die Studenten werden von ihnen mit „Jhre Gnad’n“ angesprochen – und versuchen Cleander und Rinaldo zu einem Handel zu bewegen. Auffällig ist, dass es für Moses und Isaak keine Rolle spielt, womit sie handeln,439 sie sind mithin gänzlich auf die Sphäre des Handels festgelegt, das ‚Schachern‘ erscheint als ein ihnen unveränderliches ‚Wesensmerkmal‘. Am Schluss der Szene betonen sie selbst, dass sie sich stets unlauterer Methoden bedienen: Wir Juden sind zwar sehr veracht/ Wir hab’n auch manchen in Schad’n gebracht/
434 Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 341f. Der „Materie“ aus dem „gemeinen Leben“ ist auch die Verwendung der Mundart geschuldet (Vgl. ebd., S. 343). Da diese aus dem Textbuch jedoch nicht hervorgeht, ist mit Wolff anzunehmen, dass die Darsteller den Text in einer sächsischen Färbung vortrugen. Insofern sei es möglich, dass die Dialoge nicht rezitativ-artig gesungen, sondern gesprochen wurden. Vgl. Hellmuth Christian Wolff: Die Leipziger Messe als Singspiel. In: Beiträge zur Verkehrswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Wolff. Hg. von Helmut Schulz. Halle 1941, S. 86–96, hier S. 88. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass auch die jüdischen Figuren sprachlich gekennzeichnet wurden, etwa – wie in der „Hamburger Schlacht-Zeit“ oder dem „Hamburger Jahr-Marckt“ – durch die Verwendung von Jiddismen. 435 Vgl. auch Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 342. 436 Ebd., S. 349. 437 Die Schimpfworte korrespondieren dabei mit gängigen antijüdischen Stereotypen: „Mauschel“, „Speck-Dieb“, „schelmisches Juden=Schwein“, „ausgeklaubter Oster=Fladen“. Vgl. ebd., S. 349f. 438 So Jahn (wie Anm. 381), S. 243. 439 Vgl. Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 350.
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Verdienen wir gleich nirgend Gunst/ So handeln wir auch mit Lueg’n und Dunst. Drum mueß’n wir uns so schmiegen/ Da koennen wir besser betriegen/ Und das ist aller rechten Juden Kunst.440
Vor diesem Hintergrund erscheint nicht der Handel, sondern vielmehr der Betrug als die die Juden dominierende Disposition. Durch die Selbstbezichtigung als Betrüger, die mit „Lueg’n und Dunst“ Schaden anrichten (wollen), wird ein Bedrohungsszenario evoziert, das durch den Hinweis, dass dies nicht nur für diese zwei, sondern für alle Juden gelte, ja Handlungsmaxime sei, umso mehr Überzeugungskraft erhält, sodass die harsche Behandlung durch die Studenten wiederum gerechtfertigt erscheint. Zugleich wird so die von den Juden ausgehende Gefahr relativiert, die Bedrohungskulisse aufgehoben, indem sie sich von den Studenten alles gefallen lassen (müssen): Sie reagieren auf die Beschimpfungen unterwürfig und müssen, als sie von Cleander dazu aufgefordert werden, ein Ballet tanzen. Wolff weist daraufhin, dass die Tänze, die in fast keiner der Hamburger Opern fehlten, meist nur lose mit der Handlung in Beziehung gesetzt wurden und einen heiteren Kontrast zur vorhergehenden Handlung bilden sollten.441 Insofern könnte dieses Ballett der Juden ihre durchaus bedrohlich wirkenden Äußerungen relativiert und sie als lächerliche Figuren vorgestellt haben, galten doch Judenchöre und -ballette als beliebtes Mittel, die Juden zu diffamieren. Vorbild bildete vor allem die Verspottung der synagogalen Musik und ihre Rezeption als Kakophonie in italienischen Opern, beispielsweise Oratio Vecchis Madrigaloper L’Amfiparnaso (1597) und Andriano Banchieris La Barca di Venezia a Padua (1605),442 im deutschen mehrstimmigen Lied sowie in den Jahrmarktsszenen bei Caspar Horn. Im fünften Auftritt wird die „Kunst“ der Juden vorgeführt: Sie werden dargestellt, wie sie im Messegeschehen ‚schachern‘ und vor allem stehlen. So berichtet Isaak Moses, dass er eine silberne Dose gestohlen hat mit dem Hinweis, dass „s’uns doch für Dieb’ ausschelten“.443 Dass mit „sie“ nur Christen gemeint sein können wird offensichtlich, wenn Isaak und Moses die Differenz über den
440 Ebd., S. 351. 441 Vgl. Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 345. 442 Vgl. weiter dazu Cecil Roth: The Jews in the Renaissance. Philadelphia 1959, S. 294f. und weiter zu Caspar Horn und der Tradition der Judenverspottung Hans Joachim Moser: Corydon. Geschichte des mehrstimmigen Generalbassliedes und des Quodlibets im deutschen Barock. Bd. I. 2. Erg. u. verb. Aufl. Hildesheim 1966, S. 38, 50–54. 443 Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 355.
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Terminus ‚Jude‘ herstellen. Der Diebstahl erscheint insofern gerechtfertigt, vollziehen beide doch „als prave[..] Jud[en]“444 nur das Interpretament der Christen. Diebstahl erscheint als zweckmäßiges und einziges Mittel zur Steigerung ihres Geldvermögens,445 ohne ihn ist Handel mit Gewinn nicht möglich. Dass dies jedoch durchaus auch äußeren Umständen geschuldet ist, wird in der anschließenden Arie deutlich herausgestellt: Mein glaub mirs eim ehrlichen Juden wird’s sauer/ Den Handel profitlich zu treiben. Die Welt ist zu klug/ Und voller Betrug/ Daß/ wenn wir vom Adel/ vom Bürger/ vom Bauer. Nicht stehlen/ so kann unser Handel nicht bleiben/ Mein/ glaub etc.446
Die „ehrlichen Juden“ sehen sich mithin gezwungen zu stehlen, die Vorwürfe der Christen erscheinen berechtigt und bestätigt. Der Verweis auf die von Betrug durchdrungene Welt entlastet sie jedoch nicht, sind sie doch erst „prave[..] Jud[en]“, wenn sie ihren Handel unehrlich betreiben. Die von außen aufgezwungene und zugeschriebene Disposition zum Diebstahl und dem damit komplementären Verlangen nach Geld wird zum Bestandteil ihrer Selbstwahrnehmung und damit zum Teil der ‚jüdischen Identität‘.447
444 Ebd. 445 So ist für Moses der „Verlust“ von Schokolade als Zahlungsmittel eher von untergeordneter Bedeutung: Jch kan geruhig und versichert seyn/ Es koste mich der Kauff nur Chocolade, Und daß ich hab wie ein praver Jud gethan; Weill ich schon für das baare Geld So viel gestohlenes gestecket ein/ Daß mir davon kein Schade Auf meinen Seckel fällt. (Ebd., S. 355) 446 Ebd., S. 356. Die ‚Unehrlichkeit der Welt‘ aus Sicht der jüdischen Figuren wird auch durch Moses Bericht eines Zahnarztbesuches bestätigt: Er sprach: sperr auf/ daß ich den Zahn recht seh/ Es thut nicht weh: Ey ja/ ich thats/ da war es doch erlogen. (Ebd., S. 356) 447 Doch nicht nur unehrliches, betrügerisches Verhalten kennzeichnet die Juden, auch ihr verschwörerisch anmutendes Gebaren wird immer wieder aufgegriffen: Betraten sie in der ersten Szene das Kaffeehaus in einer „schleichenden Art“ sprechen sie nun „heimlich“ miteinander, sodass immer wieder über Gestik und Mimik der Vorwurf des ‚unehrlichen Schacherjuden‘, dem nicht zu trauen sei, vorgebracht wird.
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Dies zeigt sich auch in ihrem beständigen Bestreben, mit den anderen Figuren zu handeln. Dass sie dabei durchaus dreist zu Werke gehen, zeigt der folgende Auftritt, wenn Isaak Catharina, ein Dienstmädchen, auffordert, etwas von ihm zu kaufen, und sogar ein Kuss von ihr erlangen will. Auffällig ist jedoch, dass nicht nur Isaak Catharina körperlich bedrängt, sondern auch ein Italiener. Körperkontakt erscheint mithin als ein durchaus übliches, wenn auch nicht legitimes Mittel, Aufmerksamkeit zu erregen. Isaak geht jedoch weiter, wenn er Catharina küssen will, sodass sie ihn deutlich zurechtweist: Du Reckel/ je was bildstu dir wol ein? (Sie stößt ihn von sich/ und steht still.) Es müste mich gelüsten! Auf der Gassen? Hans Dumm von Rippach! Nein/ es müssen Wohl hübscher Bubgen seyn. Je/ denckt mir doch den schelmschen Juden an!448
Auf die jüdischen Figuren werden somit Eigenschaften – insbesondere sexuelles Verlangen und Feigheit – der komischen Figur der heroischen Oper und StaatsAktion übertragen und sie so als verlachbar gekennzeichnet.449 Bestimmende Eigenschaft aber ist die Disposition zum Handel und Betrug. Selbst wenn Isaak und Moses beschimpft werden, geben sie sich unterwürfig, und versuchen sogar sich gegenseitig ein Geschäft streitig zu machen, sodass schließlich kein Handel zustande kommt.450 Doch nicht nur hier, sondern im gesamten Stück sind die Bemühungen der Juden kaum von Erfolg gekrönt: So ist entweder kein oder nur „[e]in klein Profitele zu machen“451 bzw. es kommt gar nicht erst zu einem Handel.452 Allein unlautere Geschäftspraktiken sind von Erfolg gekrönt, womit sich im Stück bestätigt, was von ihnen selbst in zwei Arien deutlich angesprochen wird: „So handeln wir auch mit Lüg’n und Dunst […] das ist aller rechten Juden Kunst“.453
448 Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 358. Das Motiv des sexuellen Begehrens wird nochmals am Schluss der Oper aufgegriffen, wenn Isaak wiederum versucht, Catharina näher zu kommen. Vgl. ebd., S. 387. 449 Vgl. Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401). 450 Vgl. Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 362. 451 Ebd., S. 379. 452 Vgl. ebd., S. 362, 350. 453 Ebd., S. 351.
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5.5.2.2 Der Hamburger Jahr-Marckt Während im Carneval von Venedig und in Le Bon Vivant oder Die Leipziger Messe heitere Lokalschilderungen und die Geselligkeit im Mittelpunkt standen, kann man die Opern Der Hamburger Jahr-Marckt454 und die Die Hamburger SchlachtZeit mit Meyer und Wolff als „satirische Lokalposse[n]“455 oder „satirische[..] Sittenbilder[..]“456 bezeichnen, in denen das Hamburger Klein- bzw. Großbürgertum verspottet wurde.457 Im Gegensatz zur Hamburger Schlacht-Zeit, der nur eine Aufführung vergönnt war, knüpfte man mit dem Hamburger Jahr-Marckt an den Erfolg des Carneval von Venedig an, wurde die Oper zwischen 1725 und 1735 doch immerhin dreizehnmal gegeben.458 Die Hauptpersonen sind fast ausschließlich Hamburger Bürger, weshalb sich der Librettist Prätorius in der Vorrede zu Der Hamburger Jahr-Marckt genötigt sah, deutlich zu machen, dass eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Personen zufällig seien: Gegenwärtige Opera Comique ist nichts anders als ein blosses Gedichte […]. Sollte aber/ wieder Vermuthen sich jemand getroffen befinden/ dem giebet der Verfasser die aufrichtige Versicherung/ daß er niemand zu nahe zu treten gesinnet sey, und vielleicht gleiches Schicksahl mit denen Mahlern gehabt/ die bey der Entwerffung einer Geschichte nicht selten ein/ diesem oder jenem gleichendes Angesichte auf die Tafel bilden, ohngeachtet sie entweder nicht darauf gedacht/ oder auch wohl gar die Persohnen/ so abgeschildert zu seyn vermeinen/ nicht einmahl gekennet haben. Das gantze Werk gründet sich auf einen erlaubten Schertz/ der soch allemahl die Laster, durch Vorstellung ihrer Heßlichkeit/ stillschweigend bestrafet.459
Hintergrund bilden in beiden Stücken Hamburger Volksfeste, im Hamburger JahrMarckt steht ein bekannter Gasthof, der „Kaiser-Hoff“ mit seinen Bewohnern und Gästen, im Mittelpunkt der Handlung: der Gastwirt Gleichviel und seine Frau Marille, deren Liebhaber Piccolo, die Töchter Capricciosa, Rosalinda und Laurette, der Hausknecht Lukas und der Diener Nickel, dessen Frau Ursel, das Zimmermädchen Gesche, mehrere Gäste und der Jude Schmuel. Es erübrigt sich für die
454 [Johann Phillip Prätorius:] Der Hamburger Jahr-Marckt Oder der Glückliche Betrug […] [Komp. Reinhard Keiser]. Hamburg 1725. In: Die Hamburger Oper. Eine Sammlung von Texten der Hamburger Oper aus der Zeit 1678–1730. Hg. von Reinhart Meyer, Band 3. München 1980, S. 127–183. 455 Meyer: Hanswurst und Harlekin (wie Anm. 401), S. 15. 456 Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 87. 457 Zu möglichen Vorbildern der beiden Opern vgl. Wolff, ebd., S. 90. 458 Vgl. Marx, Schröder (wie Anm. 382), S. 469–507. 459 [Prätorius:] Der Hamburger Jahr-Marckt (wie Anm. 454), S. 131f.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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folgenden Ausführungen eine vollständige Inhaltsübersicht zu geben. Die wichtigsten Handlungsstationen sind folgende: Bravo, ein Falschspieler, soll aus dem Gasthof geworfen werden, da er seine Rechnung nicht bezahlen kann, Capricciosa setzt jedoch durch, dass er bleiben kann. Der zweite Gast, Gerne-Groß, kommt gerade an und lässt sein Gepäck von Nickel tragen, der eine unverschämt hohe Summe dafür verlangt. Als der Knecht Lucas bemerkt, dass Gerne-Groß vermögend ist, will er ihn mit seiner Geliebten Gesche verkuppeln, um daraus Kapital zu schlagen. Diese erklärt sich einverstanden und ringt Gerne-Groß in Verkleidung einer Baronesse ein Eheversprechen ab. Während Capricciosa und Bravo sich sehr deutlich ihr gegenseitiges Verlangen bezeugen, wagen es Rosalinda und Reinhold nicht, sich ihre Liebe zu gestehen. Marille, die von dieser Liebe nichts ahnt, will Capricciosa mit Reinhold verkuppeln. Bravo ist mit diesem Plan einverstanden, da er dann Rosalinda heiraten will. Die beauftragte Kupplerin stellt sich jedoch so dumm an, dass Reinhold Rosalinda seine Liebe gestehen kann und es zu einem glücklichen Schluss kommt. Jede dieser Personen, mit Ausnahme Rosalindas und Reinholds, sind stets bestrebt, auf verschiedenen Wegen einen materiellen Vorteil zu erlangen. Dies gilt auch für den Juden Schmuel, der im letzten Teil des zweiten Aktes460 als Händler und Betrüger eingeführt wird. So hat er einen Ring von Bravo gekauft, jedoch zu einem viel zu niedrigen Preis. Dies versucht er zu rechtfertigen, indem er behauptet, dass die Steine unecht seien. Bravo, selbst ein Betrüger, durchschaut jedoch den anderen und fordert seinen Ring zurück. Auffällig ist, dass Schmuel den Betrug nicht leugnet, gegenüber dem Zuschauer durch BeiseiteSprechen sogar zugibt.461 Beide erkennen mithin ineinander den Betrüger, sodass Bravo Schmuel auffordert, bei einem Falschspiel den Gast Gerne-Groß zu erleichtern, denn „[d]er Galgenvogel ist ein Rabbi im Betriegen“.462 Schmuel geht auf das Angebot ein, weil der Gewinn geteilt werden soll, betont jedoch in einer Arie, dass nicht er allein des Betrugs schuldig sei: Schachereyen Kuppeleyen/ Weiß der Mauschel nicht allein/ Jeder will sein Bruder seyn. Ganffen/ falsche Waare fuehren/
460 Die eigentliche Handlung beginnt erst mit dem zweiten Aufzug. In dem ersten streitet je ein Vertreter der Oper, der Komödie und des Marionettentheaters, welche Theaterform die beste sei, sowie Tadelgerne und Unpartheyisch um den Wert der Oper. 461 [Prätorius:] Der Hamburger Jahr-Marckt (wie Anm. 454), S. 152. 462 Ebd., S. 152.
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Beutelschneiden/ filoutiren/ Sind bey Goyims auch gemein.463
Auffallend ist hier zunächst die parodistische Imitation des Jiddischen, die zum einen der Kennzeichnung der Figur als Jude dient, zum anderen aber auch komisch wirken soll. Es muss jedoch zugleich festgehalten werden, dass die jüdische Figur dadurch sprachlich nicht isoliert wird, bedienen sich doch auch die anderen Figuren eines Idioms. Die Verwendung der Dialekte dient hier, wie auch in der Hamburger Schlacht-Zeit, zunächst der Charakterisierung: Dienerfiguren sprechen niederdeutschen Dialekt, französische Einsprengsel markieren das affektierte Verhalten von Bürgern, die um gesellschaftlichen Aufstieg bemüht sind, und die Verwendung von Jiddismen markiert Schmuel als Juden.464 In seiner Arie nimmt Schmuel hier nicht nur den immer wieder erhobenen Vorwurf auf, dass Juden ‚schachern‘ und ‚kuppeln‘ würden, und bestätigt ihn so, sondern er übt auch Kritik an den allgemeinen Zuständen, wo jeder nur auf seinen eigenen materiellen Vorteil bedacht sei. Er spiegelt kritisch die Wahrnehmung der Christen, die den Juden zum Vorbild beim „Ganffen“ und „Beutelschneiden“ erklären („Jeder will sein Bruder seyn“). Dieses weist Schmuel, nicht zuletzt mit Blick auf den Falschspieler Bravo, jedoch von sich: Zwar betrügt er, doch die „Goyim“ ebenfalls, sodass ihm nicht mehr als den anderen ein Vorwurf zu machen sei. Das Falschspiel glückt schließlich und Bravo und Schmuel plündern GerneGroß aus. Bravo erweist sich hier jedoch als der letztlich erfolgreichere Betrüger, droht er doch Schmuel Prügel an, sodass dieser ohne seinen Gewinnanteil davon läuft. Auffällig ist, dass Bravo Schmuel bei der Androhung von Gewalt zunächst am Bart, nach außen sichtbares Zeichen für einen jüdischen Mann, zieht, sodass sich Schmuel sogleich geschlagen gibt: Schm. O Weih! O Weih! Bravo. Jch will dich Schelm zu tode schlagen; (Zieht ihn an den [sic] Bart.)
463 Ebd., S. 152f. 464 Zu möglichen Quellen von Prätorius Jiddisch-Kenntnissen vgl. Jeanne Swack: anti-Semitism at the Opera: The Portrayal of Jews in the Singspiels of Reinhard Keiser. In: The Musical Quarterly 84 (2000), S. 389–416, hier S. 402f., die auch eine Übersicht über die jiddischen und hebräischen Wörter in den Opern von Prätorius bietet. Ebd., S. 406–410. Zur Verwendung des Jiddischen als Charakterisierungsmittel vgl. weiter auch, wenn auch ohne Bezug zur Literatur des siebzehnten Jahrhunderts, Richter (wie Anm. 224).
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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Schm. O Weih! O Weih! Schont nur den Barth, und schlagt den Kopff entzwey, (krie übr [sic] a Goy geschnitten,) O! mein hört auf, ich habe gnug erlitten. (Läufft davon.)465
Somit wird Schmuel von Bravo gleich zweimal betrogen, er wird geschlagen und der Lächerlichkeit preisgegeben und dennoch kehrt er noch einmal zurück: Die Goyims sind schon fort! das Spielche gieng noch an; Herr Bravo ist ein schöner Mann, Jch will ihm Scholim sagen, ob er mich gleich ein wenig hart geschlagen! Jhr Freunde kommt, last uns ein Täntzchen wagen!466
Im Gegensatz zu Isaak und Moses aus Le Bon Vivant oder Die Leipziger Messe geht von Schmuel mithin keinerlei Gefahr aus: Er wird als Betrüger selbst betrogen und unterstreicht durch seinen Tanz seine Lächerlichkeit.467 Auch wenn das „Schachern“ und „Betriegen“ von ihm selbst als Profession des „Mauschel[s]“468 verstanden wird, erweist er sich auch auf diesem Gebiet als unzureichend und damit lächerlich, gelingt ihm doch nur ein Betrug, wenn sein Opfer wehrlos ist. So will er Gerne-Groß, als dieser betrunken ist, ‚behilflich‘ sein: Ich will der Hueter seyn; Damit ein anderer ihm nicht die Sachen nimmt, Die ich mir selbst bestimmt. Er schläft, hier ist sein Uhr, hier sind die Thaler, (Gerne=Groß schnarchet.) Nun schlafe wohl, versoffner Prahler!469
Schmuel, der als komische Figur auch (folgenlose) Kritik an den Christen üben kann, taucht in der Hamburger Barockoper noch ein zweites Mal auf. In dem
465 [Prätorius:] Der Hamburger Jahr-Marckt (wie Anm. 454), S. 163. Zum Motiv des Bartausreissens vgl. oben, S. 62, Anm. 74. 466 [Prätorius:] Der Hamburger Jahr-Marckt (wie Anm. 454), S. 164. 467 Diese wird auch durch die Selbstbezeichnungen Schmuels unterstrichen, nennt er sich doch selbst „Mauschel“. Vgl. ebd., S. 164. 468 Ebd., S. 164. 469 Ebd., S. 171.
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Zwischenspiel Buchhöfer/ Der Stumme Printz Atis,470 einer Parodie auf die populäre Oper Der Hochmüthige/ Gestürtzte/ und wieder erhabene Croesus, entpuppt sich der Diener des Atis, Nerillo, als Schmuel, Elmire, eine Prinzessin, als Gesche und der Tänzer Buchhöfer spielt sich selbst in Verkleidung des stummen Prinzen Atis. Nerillo, der in der ersten Szene „in Verkleidung“ eines Juden „mit einem langen Barte“471 auftritt, wirbt in dieser Parodie im Auftrag des Atis um Elmire, indem er dessen Gesten deutet und ‚übersetzt‘. Damit unterscheidet sich Nerillo/Schmuel in seiner Funktion grundsätzlich nicht von der Dienerfigur der Croesus-Oper. Schmuels Identität offenbart sich dem Zuschauer zunächst über äußere Zeichen, wie z.B. dem Bart. Dem Rezipienten wird so zunächst angedeutet, wer in der Rolle des Nerillo auftritt, dass die „Verkleidung“ als Jude mithin gar keine ist, macht doch erst sie durchschaubar, um wen es sich bei Nerillo handelt. Zudem wurde Nerillo/Schmuel laut Personenverzeichnis ebenso wie Schmuel aus dem Hamburger Jahr-Marckt und Abraham aus der Hamburger Schlacht-Zeit von Christian Wilhelm Riemschneider Jr. dargestellt. Insofern war – zumindest für den regelmäßigen Opernbesucher – schon anhand der Besetzung eine Zuordnung der Figur möglich. Ein weiterer Hinweis darauf ist auch die Sprache der Figur, verwendet sie doch ein Gemisch aus Jiddismen, Latein, Hochdeutsch und norddeutschem Dialekt. Neben der Kenntlichmachung der Figur dient dieses vornehmlich aber zur Provokation von Gelächter, resultiert der Großteil der Komik doch daraus, dass Nerillo/Schmuel die Gesten des stummen Atis übersetzen soll, dabei selbst aufgrund seiner seltsamen Sprache unverständlich ist, sodass Elmire/Gesche feststellt: „Das kauderwelsche Zeug ist übel zu verstehn“.472 Laut Jenzsch zeuge dieses Intermezzo von der Beliebtheit von Verkleidungsszenen,473 es lassen sich jedoch noch weitergehende Feststellungen machen. So macht diese Parodie deutlich, dass die jüdische Figur inzwischen mehr oder weniger zum festen Bestandteil komischer Opern geworden war, denn gerade die Tatsache, dass Schmuel – und nicht eine andere komische Figur – in dem Intermezzo auftrat, belegt die Beliebtheit dieser. Dass zudem das Hauptgewicht der Komik auf der Sprache lastet, zeigt, wie sehr Prätorius auf die komische
470 [Johann Philipp Prätorius:] Buchhöfer/ Der Stumme Printz Atis. Jn einem Intermezzo Auf dem Hamburger Schau=Platze Vorgestellet […]. Jm Jahr 1726 [Komp. Reinhard Keiser]. Abdruck in: Reinhard Keiser: Der Hochmütige, gestürzte und wieder erhabene Croesus 1730 (1710). Erlesene Sätze aus L’Inganno Fedele 1714. Hg. von Max Schneider. In Neuauflage hrsg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. Wiesbaden, Graz 1958 (Denkmäler deutscher Tonkunst, 1. Folge 37, 38), S. XIIV–XVI. 471 Ebd., S. XII. 472 Ebd., S. XIV. 473 Jenzsch (wie Anm. 404), S. 76.
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Wirkung der parodierten Sprache der Juden setzte, die Sprache der jüdischen Figur wird selbst zum Scherz.
5.5.2.3 Die Hamburger Schlacht-Zeit Am 22. Oktober 1725 wurde in der Oper am Gänsemarkt Die Hamburger SchlachtZeit gegeben. Anlass für diese Oper sei laut Vorbericht die günstige Aufnahme des Hamburger Jahr-Marcktes gewesen, sodass der Librettist erneut eine „Comique Piece“ versuche.474 Doch im Gegensatz zum erfolgreichen Hamburger Jahrmarkt war der Hamburger Schlacht-Zeit nur eine Aufführung beschieden. Schon am 20. Oktober, noch vor der Aufführung, wurde im Senat folgendes Protokoll unterzeichnet: „Dno Praetori, bey 100 Rthr zu inhibiren, daß die opera, die Hamburgische Schlachtzeit genandt, als gegen allen Wohlstand und Ehrbarkeit laufend, auf hiesiges Theatrum nicht aufgeführet werde.“475 Verspottete Prätorius im Hamburger Jahr-Marckt noch das Bürgertum und verwerfliche Treiben während des Volksfestes, wandte er sich nun dem Hamburger Patriziat zu, sodass auch alle Beteuerungen des Librettisten, er habe wie Molière nicht einzelne bestimmte Personen, sondern die Laster als solche geißeln wollen,476 das Verbot der Oper nicht verhindern konnte. Die Orientierung am Hamburger Jahr-Marckt wird bereits bei einer flüchtigen Übersicht deutlich: So treten im Prolog die Künste Opera, Poesie, Musik, Malerei und Ballett auf und beklagen sich über den geringen Besuch der Oper. Sie geben sich zunächst gegenseitig die Schuld daran, kommen schließlich aber zu dem Schluss, dass die eigentliche Ursache die Unbeständigkeit des Publikums und dessen Begierde nach Neuem sei. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Hamburger Kaufmannsfamilie, die Liebe und Ehe ebenfalls ausschließlich unter materiellen Gesichtspunkten beurteilt. Doch nicht nur am Hamburger Jahr-Marckt und an der Oper Le Jouvanceau Charmant Seigneur Schelmuffsky von Christian Reuter477 orientiert sich Prätorius, auch Elemente aus Gryphius Horribilicribrifax
474 Vgl. [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht=Zeit (wie Anm. 431), S. 189. 475 Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburgische Opers respectu auswärtiger Herrschaften. 1716–1736. Signatur Cl. VII Lit F1No 2, Vol. 3, zitiert nach: Klaus Zelm: Die Opern Reinhard Keisers. Studien zur Chronologie, Überlieferung und Stilentwicklung. München, Salzburg 1975, S. 77. 476 Vgl. [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit (wie Anm. 431), S. 189f. 477 Christian Reuter: Le Jouvanceau Charmant Seigneur Schelmuffsky, Et L’ Honnéte Femme Schlampampe, representée par une Opera sur le Theatre à Hambourg. Oder Der anmuthige Jüngling Schelmuffsky/ und Die ehrliche Frau Schlampampe/ In einer Opera auf den Hamburgischen Theatro vorgestellet. Hamburg [1696]. Vgl. dazu Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie
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Teutsch finden sich wieder. Dies wird insbesondere an der Figur des Juden Abraham deutlich. Dieser wird zunächst, ebenso wie Schmuel, als Betrüger eingeführt, der sich jedoch selbst vor den „Oerlen“, den Christen, in Acht nehmen muss. Er soll auf Geheiß seiner Frau auf dem Markt einen Ochsen kaufen und thematisiert bei dieser Gelegenheit sein Verhältnis zu den Christen: Mein Jisch hoot mir gesogd, ich soll zu Marckte lauffen, um einen toffen Schort zu kauffen, Wenn er nicht Kauscher ist, So taugt er doch dazu, daß ihn a Oerle frisst. Das Mooß ist bey der Hand, Der Schochet hoot Verstand Von den Behemen, Wir lernen, durch Romoas, uns wol in acht zu nehmen. Aria. Die Goygims zu fangen, koon ich wol schicken, Doch, wenn sie den listigen Aubram berücken Au weih! doos schmertzt mich gor zu sehr! Man hoot mir, im Schachern vor diesen So offte Maramne gewiesen, Drum trau ich den diebischen Oerlen nicht mehr.
Frau guten Ochsen essbaar Christ Geld Schlächter Ochsen Betrug Christen Abraham
betrogen Christen478
Dieses auf schlechten Erfahrungen basierende Misstrauen gegenüber den Christen wird sich im Stück als gerechtfertigt erweisen, wichtiger ist in diesem Zusammenhang jedoch die deutliche Kennzeichnung Abrahams als Jude. Diese wird zunächst über die Sprache hergestellt: Abraham parodiert hier wie Schmuel im Hamburger Jahr-Marckt – wenn auch deutlich ausgeprägter,479 wird doch selbst den hochdeutschen Wörtern ein ‚jiddischer‘ Klang verliehen480 – die vorgebliche Sprache der Juden, die auf der einen Seite auf Komik und Kuriosität abhebt, auf der anderen Seite dient sie – ebenso wie die Verwendung des niederdeutschen Dialektes von anderen Figuren – zur Herstellung von Authentizität. Zugleich kennzeichnet die
Anm. 382), S. 98f. Als weitere Vorbilder, auch für den „Hamburger Jahr-Marckt“, nennt Wolff die niederländischen Klucht-Spiele und das französische Théâtré de la Foire. Vgl. ebd. S. 98–104. 478 [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit (wie Anm. 431), S. 202f. 479 Swack mutmaßt vor dem Hintergrund der deutlichen Ausweitung von jiddischen und hebräischen Wörtern: „It would appear that in some sense the Yiddish in the earlier piece was an experiment in which the librettist and composer sounded out the audience to see how they would react to a Jew singing recitative and da capo arias in German laced with Yiddish words.“ Swack (wie Anm. 464), S. 398. 480 Vgl. z.B. „hoot mir gesogd“ statt „hat mir gesagt“.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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Verwendung von Jiddismen deutlich die Differenz zu den Christen.481 Diese deutliche Markierung bedingt sich vor allem durch die thematische Ausrichtung der Oper, kann doch der Unterschied zwischen Juden und Christen nicht mehr über die Fokussierung auf Geld und Handel hergestellt werden, wenn alle Figuren des Stückes versuchen, materielle Vorteile zu erlangen. Dementsprechend wird auch nicht mehr der Betrug als allein ‚jüdische‘ Verhaltensweise ausgewiesen, vielmehr betrügen, wie die Oper anschaulich vorführt, sowohl Christen wie Juden. Wenn aber über das Konstrukt des ‚geldgierigen Juden‘ die Differenz nicht mehr hergestellt werden kann, bedarf es anderer Mechanismen: Hier sind neben der Sprache vor allem die jüdischen Speisevorschriften zu nennen, auf die Abraham in seiner Rede anspielt. Juden und Christen unterscheiden sich mithin aus dessen Sicht nicht durch ihr Marktverhalten, sondern vielmehr durch ihre religiösen Vorschriften. Zugleich erweist er sich doch selbst darin als heuchlerisch, wenn er unkoscheren Wein statt Bier trinken will.482 Dass Abrahams ökonomisches Verhalten jedoch keineswegs angemessen ist, zeigt sich in seinem nächsten Auftritt. Er stiehlt einem Händler seine Börse und leugnet hartnäckig den Diebstahl. Als Ehrenhold und Marten das Diebesgut bei ihm entdecken, wollen sie ihn mit dem Verweis „[d]as Stehlen reisset ein“483 mit Prügeln bestrafen, doch Pomponius schreitet ein. Er widerspricht Ehrenhold, der der Ansicht ist, dass die „Juden […] stets Betrieger“ seien, und will differenzieren. Pomponius, der im gesamten Stück als Mahner und Ankläger verderbter Sitten
481 Die Übersetzung der Jiddismen im Textbuch verweist zudem auf die Praxis des Mit- oder Nachlesens während der Opernaufführungen, ist der Text ohne Übersetzungen doch kaum verständlich. 482 Es hat mich der Marquis hieher beschieden; Er schassget Jaesen hier, trincket Wein. Gäb er mir ein Quartier Jch wär es wol zufrieden. Wenn er nicht kauscher ist, woß ist doron gelegen? Der Schecher ist mir gantz entgegen Bier. Und Gainsorff schmeckt mir auch nicht wol; Brantewein. Der Oerle soll Christ. Jn diesem Cheder seyn. Stube. Jch gehe zu ihm rein; Vielleicht ist heut bei ihnen Ein Tholer zu verdienen. ([Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit [wie Anm. 431], S. 227) 483 Ebd., S. 210.
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auftritt,484 plädiert damit gegen verallgemeinernde Verurteilungen, doch zeitigt seine Kritik im Stück keine weiterreichende Wirkung. So wird Abraham zwar freigelassen, doch entgegen der von Pomponius intendierten Wirkung, erweist er sich weiterhin als verwerflich, sodass er die in ihn gesetzte Hoffnung enttäuscht. Wird durch Pomponius also eine ausgewogenere Haltung gegenüber den Juden artikuliert, widerlegt die weitere Handlung diese, versucht Abraham doch später auch den liebestrunkenen Simplicio zu bestehlen.485 Auch der Vorwurf des Betrugs wird von Abraham in einer Arie noch einmal aufgegriffen und das Thema des betrogenen Betrügers im Stil barocker Scherzgedichte mit fremden Einsprengseln variiert: Der Mauschel wird täglich betrogen Das Kesseff lauffet sparsam ein. Doch wenn er die Goygems bezogen, So muß er gleich ein Maschegh seyen.
Silber Betrieger486
Neben diesem Vorwurf, der neben den Juden eben auch den Christen gemacht wird, wird auch das Stereotyp des lüsternen Juden aufgerufen. Gretje, ein Dienstmädchen, beklagt sich über ihren geringen Lohn und will zu Geld und schönen Kleidern kommen, um einen Mann „mit Ehren“487 zu finden. Abraham fühlt sich aufgrund ihrer Schönheit zu ihr hingezogen und will ihr Stoff und zwei Dukaten geben, wenn sie zu ihm nach Hause kommt. Als er sie jedoch küssen will, kommt ihr Bräutigam Marten, woraufhin Abraham verprügelt wird. Es wurde schon kurz darauf verwiesen, dass in der Hamburger Schlacht-Zeit Elemente aus Gryphius Horribilicribrifax Teutsch aufgegriffen werden.488 Inwieweit von einer direkten Abhängigkeit auszugehen ist, kann hier nicht entschieden werden und bedarf weiterer Untersuchungen, doch es ist auffällig, dass nicht nur das Motiv des falschen Ringes bzw. der falschen Kette aufgegriffen wird, sondern auch die Figurenkonstellation ähnlich ist. So erinnert der Marquis de Carrabas an Daradiridatumtarides, wenn er sich mit Fedele streitet und
484 So in II, 6, wenn er davor warnt, Kinder allzu früh durch Französisch- und Tanzunterricht auf die Laster hinzuweisen, anstatt sie in den Wissenschaften und guten Sitten zu unterrichten. Vgl. ebd., S. 221. 485 Eine ganz ähnliche Konstellation findet sich später in dem Singspiel „Der Jahrmarkt. Eine komische Oper in zwey Aufzügen“ (in: Friedrich Wilhelm Gotter, Singspiele. Bd. 1. Leipzig 1779, S. 51–57) von Friedrich Wilhelm Gotter (uraufgeführt 1775). Vgl. Och (wie Anm. 7), S. 96f. 486 [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit (wie Anm. 431), S. 227. 487 Ebd., S. 222. 488 Darauf verweist auch Jenzsch (wie Anm. 404), S. 85.
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diesem großsprecherisch droht, als dieser jedoch den Degen zieht, kleinlaut versucht zu fliehen. Er ist ein Prahler, der seine Rede mit französischen Einsprengseln spickt, womit nicht nur die galante Lebensführung kritisiert wird, sondern auch auf die Capitano-Gestalt von Gryphius Bezug genommen wird. Jucunda, sein weiblicher Gegenpart, ist wie Carrabas nur an einer möglichst vorteilhaften Heirat interessiert, sodass sich beide als vermögend ausgeben. Sie versprechen sich mit gegenseitigen Geschenken die Ehe – bezeichnenderweise wiederum Ring und Kette. Carrabas gibt dabei an, dass er die Kette von einem Mogul erhalten habe, Jucunda gibt ihm als Zeichen ihrer Treue einen vermeintlich diamantenen Ring.489 Doch die Zeichen der Verbundenheit sind wiederum falsch und wiederum ist es der „Fachmann“ in diesen Belangen, der den wahren Wert der Zeichen aufdeckt: „Mein Eyd! ich wette, Daß alle Zwei betrogen sind.“490 Der Verweis auf Horribilicribrifax Teutsch wird jedoch besonders evident, als Jucunda die Kette bei Abraham beleihen will: Er antwortet ihr mit teilweise wörtlichen Übernahmen, sodass bei aller Vorsicht wohl zumindest davon ausgegangen werden kann, dass der Librettist Gryphius Stück kannte und dieses ihm als unmittelbare Vorlage für die Handlung zwischen Jucunda und Carrabas diente. Im Gegensatz zu Isaschar, der sich im Stück keines Vergehens oder fragwürdigen Verhaltens schuldig macht, wird in der Schlacht-Zeit die jüdische Figur jedoch ins Negative gewendet. So will Abraham Jucunda helfen, wenn sie sich ihm gefügig zeigt, er erscheint wiederum als Lüstling, der sich mit Geld Zuneigung erkaufen will.491 Gier ist das herausragende Merkmal der hier vorgestellten Figur und richtet sich sowohl auf materielle Güter wie auf Frauen, jedoch bleiben – der Konstruktion der komischen Figur entsprechend – seine Begierden stets unerfüllt. So auch, als er von Simplicio einen unrechtmäßig erlangten Wechsel zurückhaben will: Anstatt zu Geld zu kommen, muss er Carrabas die Schulden erlassen. Er bleibt also der erfolglose Betrüger, doch sinnt er vor seinem Abgang schon wieder über neue Betrugsmethoden und bestätigt nochmals die ihm vorgeworfenen Anschuldigungen:
489 Vgl. [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit (wie Anm. 431), S. 234. 490 Ebd., S. 233. Ebenso wie bei Gryphius müssen beide schließlich heiraten, sodass jeder das ihm Zustehende erfährt. 491 So gibt Abraham Jucunda den ‚Rat‘: Wenn eine Goafe freundlich ist Mädchen Und dann und wann die Mauschel küsst, So bringt ihrs Goaf und Keseph ein Gold. Silber. Wir acheln gerne fremde Speisen, Die eigner Wehrt und Schönheit preisen, Denn die Veränderung pflegt immer toff zu seyn.“ ([Prätorius:] Die Hamburger SchlachtZeit [wie Anm. 431], S. 238)
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5 Konstruktionen des Jüdischen auf der Bühne
Au weih!, Ach, der Romoas fällt mir zu schwer! Doch nur Gedult, muß ich ihn jetzo leiden, So will ich künfftig hin die Goyims anders kriegen; Durch falsch Gewicht und Geld beschneiden, Kann ich sie insgesammt betriegen.492
Betrug
5.5.3 Ergebnisse Die komischen Judenfiguren der Hamburger Lokalsingspiele knüpfen an jene an, die in den heroischen Opern auf die Bühne kommen, doch erweisen sie sich ungleich differenzierter, auch wenn sie einen äußerst homogen gestalteten äußeren Habitus aufweisen, der wiederum eine deutliche Orientierung an Vorbildern des italienischen Theaters und der Oper erkennen lässt.493 Hier wie dort sind sie Opfer von Misshandlungen, werden am Bart gezogen und senden körpersprachliche Signale, die das Zerrbild des betrügerischen und profitgierigen ‚jüdischen Schacherers‘ evozieren (z. B. Schleichen oder Zupfen am Arm). Damit korrespondieren stereotype Charaktereigenschaften wie Feigheit und Geilheit, am stärksten aber sind Profitgier und betrügerisches Handeln ausgestaltet. So verfolgen die Figuren mit unterschiedlichen Praktiken – Falschspiel, Schacher, „falsch Gewicht und Geld beschneiden“494 – stets das Ziel, die Christen, zu betrügen. Dass die jüdischen Figuren illegitime Ziele verfolgen, bleibt stets unzweifelhaft. Auch dort, wo die Amoralität der jüdischen Figuren – etwa durch Verweis auf die schlechte und ungerechte Behandlung durch die Christen – in Frage gestellt werden könnte, werden durch kommentierende Einlagen Zweifel an der verwerflichen Haltung der jüdischen Figuren sogleich zerstreut.495 Zugleich wird insbesondere in den Gesangseinlagen die Tendenz zur Verallgemeinerung deutlich („das ist aller rechten Juden Kunst“496), sodass die hier vorgeführten jüdischen Figuren als Exempel für das Verhalten aller Juden vorgestellt werden, auch wenn angemerkt werden muss, dass auch andere Figuren zum Gegenstand des satirischen Spotts werden.497
492 Ebd., S. 250. 493 Vgl. zur Tradition jüdischer Figuren im italienischen Theater der Renaissance Roth: The Jews in the Renaissance (wie Anm. 442), S. 243–295 und weiter die auf S. 313, Anm. 207 genannten Angaben zu Szenarien der commedia dell’arte. 494 [Prätorius:] Die Hamburger Schlacht-Zeit (wie Anm. 431), S. 250. 495 So Gerhard Lauer: Die Rückseite der Haskala. Geschichte einer kleinen Aufklärung. Göttingen 2008, S. 150. 496 Le Bon Vivant (wie Anm. 433), S. 351. 497 Zu denselben Schlüssen kommt auch Och (wie Anm. 7), S. 57–62.
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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(Betrügerischer) Handel und Judentum werden in den diskutierten Singspielen somit stets zusammengedacht. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Oper Mistevojus verwiesen, die im mittelalterlichen Hamburg spielt.498 Am Ende des dritten Aktes wechselt der Schauplatz jedoch ins zeitgenössische Hamburg und zeigt Rathaus und Börse. Asteria, Pallas und Mercurius preisen Hamburg für seine Weisheit und Kaufmannschaft, woraufhin eine Gruppe von Juden und Jüdinnen ein Ballett tanzt: Die Verbindung von Handel und Judentum könnte kaum deutlicher sein.499 Zugleich dient die in den Opern deutlich akzentuierte Nähe von Judentum und (unehrlichem) Handel, um aktuelle Missstände und Fehlentwicklungen anzuprangern. Die Kritik wird in den vorgestellten Stücken vornehmlich von den jüdischen Figuren selbst vorgetragen, die darauf verweisen, dass nicht nur sie sich eines unredlichen Marktverhaltens schuldig machen würden. Gerade diese Form der Kritik bedingt jedoch, dass sie, der Poetik der komischen Figur entsprechend, im Stück folgenlos bleibt. Vielmehr bot sich so die Möglichkeit, in unverbindlicher und – berücksichtigt man das Verbot der Hamburger Schlacht-Zeit – ungefährlicher Weise zu äußern. Dennoch ist gerade diese Kritikfunktion ein wesentliches Element der jüdischen Figur auf der Bühne der Hamburger Barockoper. Darauf verweist auch eine Szene in der Oper Das Ende der Babylonischen Monarchie, oder Belsazer, in der ein stumm vorbeiziehender Jude dem Diener Nabal Gelegenheit gibt, unredliches und betrügerisches Verhalten „alle[r] Stände“ anzuprangern: Man vexiret gern die Juden/ Daß sie arge Schinder seyn; Doch man geh in unsre Buden/ Da trifft dieses gleichfalls ein. O wie schiert man da die Leute! O wie schabt und schindet man! Und so grob/ daß ich es heute Alles nicht erzählen kann.500
Ein weiteres Charakteristikum jüdischer Figuren in den Lokalsingspielen ist die zum Teil ausufernde Verwendung von jiddischen und hebräischen Wörtern, wodurch zugleich wieder ein Bezug zum Stereotyp des ‚unehrlichen Schacherjuden‘
498 [Johann Samuel Müller:] Mistevojus, Jn einem Sing=Spiele Auf dem Hamburgischen Schau=Platze vorgestellet. Hamburg 1726 [Komp. Reinhard Keiser]. 499 So Swack (wie Anm. 464), S. 402. 500 [Joachim Beccau:] Das Ende der Babylonischen Monarchie, oder Belsazer, in einem Singe=Spiele auf dem Hamburgischen Schau=Platze aufgeführet. Hamburg 1723 [Komp. Georg Philipp Telemann], I, 6.
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hergestellt wird, galt doch das Jiddische als Sprache der Diebe, als Werkzeug der Juden die christliche Autorität zu untergraben.501 Das (Pseudo)Jiddische erhält die Funktion eines Symbols für das jüdische Verschwörertum und die christenfeindlichen Aktivitäten der Juden, die durch ihre Sprechweise zugleich lächerlich gemacht werden sollen. Das Jiddische wird somit in den vorgestellten Opern – und nicht nur in diesen – zur Signalsprache, sodass auch mehrfach komische Diener die Sprache der jüdischen Figuren nachahmen.502 Die komische Judenfigur war in der Hamburger Oper folglich keine seltene Erscheinung, was umso mehr verwundert, wenn man sich die Absenz jüdischer Figuren in Opern der meisten anderen Zentren der Barockoper vor Augen hält. Wie kam es, dass gerade in Hamburg jüdische Figuren in relativ großer Zahl auf die Bühne kamen? Auffällig ist zunächst, dass die hier diskutierten Lokalsingspiele von Reinhard Keiser stammen, der auch in heroischen Opern immer wieder auf antijüdische Stereotype zurückgriff. Es kann hier nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Einfügung der jüdischen Figuren von Keiser selbst oder seinen Librettisten ausgegangen ist,503 hinzuweisen ist jedoch auf die Tendenz, zeitgenössische Sujets zur Darstellung zu bringen, wodurch – wenn auch nicht zwangsläufig – auch jüdische Figuren z.B. im Messegeschehen zur Darstellung kommen konnten.504 Zu berücksichtigen ist weiterhin das Klima, in welchem die Hamburger Opern auf die Bühne kamen.505 So war das Verhältnis von Juden und Christen seit der ersten Aufnahme von Juden zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts stets konfliktreich.506 Denn während insbesondere der Rat wirtschaftliche Grün-
501 Vgl. Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt a.M. 1993, S. 67. 502 Als Beispiel sei der Soldat Ersillus in Postels „Verstöhrung Jerusalems“ genannt, der sich als Händler übt und die Juden betrügen will, um selbst an Geld zu kommen. Dazu lernt er die hebräische Sprache und konjugiert das Verbum „Pakath, pakadah, pakadtha“. Vgl. Wolff: Die Barockoper in Hamburg (wie Anm. 382), S. 174f., der noch zwei weitere Beispiele nennt. Vgl. auch Nabal in „Das Ende der Babylonischen Monarchie, oder Belsazer“, Anm. 1517. 503 Zu Reinhard Keiser vgl. Zelm (wie Anm. 475) und Klaus-Peter Koch: Reinhard Keiser (1674– 1739). Leben und Werk. 2. vollständig veränderte Fassung. Hg. vom Förderkreis „Reinhard-KeiserGedenkstätte“ e. V. Teuchern. Zeitz 1999. 504 Vgl. dazu Gisela Jaacks: Hamburg zu Lust und Nutz. Bürgerliches Musikverständnis zwischen Barock und Aufklärung (1660–1760). Hamburg 1997; Schröder (wie Anm. 383). 505 Auch Swack vermutet einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der jüdischen Figuren und den historischen Umständen. Vgl. Swack (wie Anm. 464), S. 392. 506 Der folgende Absatz zur Stellung der Juden in Hamburg paraphrasiert Jutta Braden: Hamburger Judenpolitik im Zeitalter lutherischer Orthodoxie 1590–1710. Hamburg 2001 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden 23), S. 357–390. Vgl. weiter auch Jürgen Ellermeyer: Schranken der freien Reichsstadt. Gegen Grundeigentum und Wohnungswahl der Hamburger Juden bis ins
5.5 Jüdische Figuren auf der Bühne der Hamburger Oper
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de für die Aufnahme und Duldung von Juden geltend machte, polemisierte vor allem die lutherisch-orthodoxe Geistlichkeit vehement gegen diese. Obrigkeitlicher Utilitarismus einerseits und religiös motivierte Vorurteile und Verurteilungen andererseits waren somit die zwei wesentlichen Faktoren, die das wirtschaftliche, politische und soziale Leben der Juden in Hamburg bestimmten. Während die Judenpolitik des Rates grundsätzlich, vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, von einer gewissen Liberalität und pragmatisch vertretenen ökonomischen Interessen geleitet war, versuchte die lutherisch-orthodoxe Geistlichkeit immer wieder, den Zuzug bzw. die Duldung von Juden zu verhindern. Durch den gezielten Einsatz judenfeindlicher Polemik von der Kanzel herab kam es bisweilen auch zu gewalttätigen Übergriffen auf Juden. Die Lage der Juden in Hamburg war somit stets prekär – vor allem die Aschkenasen sahen sich aufgrund ihrer Erwerbsbereiche als Händler und Geldleiher und -wechsler oft noch in stärkerem Maße als die Sepharden mit antijüdischen Ressentiments konfrontiert, insbesondere von Seiten des mittleren Bürgertums. Auch wenn die Quellen nur spärlich Auskunft über Einstellung und Verhalten der mehrheitlich lutherischen Bevölkerung gegenüber den Juden geben, ist davon auszugehen, dass die judenfeindliche Agitation der Geistlichkeit ein wesentlicher Orientierungsrahmen für die Bevölkerung war. Vor allem gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts und zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts kam es, nicht zuletzt aufgrund der Intensivierung antijüdischer Agitation, wiederholt zu Übergriffen auf Juden – zugleich nahmen die in ökonomischer Konkurrenzfurcht des Bürgertums wurzelnden Spannungen zu, sodass insbesondere die an ihrem äußeren Erscheinungsbild leicht als Juden identifizierbaren Aschkenasen judenfeindlichen Vorurteilen ausgesetzt waren. Sowohl die Lokalsingspiele als auch die heroischen Opern – hier jedoch in abgeschwächter Form – bringen mithin Vorstellungen auf die Opernbühne, die wohl von einem Großteil der (christlichen) Bevölkerung geteilt wurden: das Zerrbild des Juden als ‚betrügerischer Schacherer‘. Insofern können die jüdischen Figuren der Hamburger Barockoper durchaus als Zeichen eines gewissen Zeit-
Zeitalter der Aufklärung. In: Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase (1780–1870). Hg. von Peter Freimark, Arno Herzig. Hamburg 1989 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 15), S. 175–213, insbesondere S. 175–182; Günter Böhm: Die Sephardim in Hamburg. In: Die Juden in Hamburg. 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“. Hg. von Arno Herzig in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde. Hamburg 1991, S. 21–40 sowie Günter Marwedel: Die aschkenasischen Juden im Hamburger Raum (bis 1780). In: Die Juden in Hamburg. 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung „Vierhundert Jahre Juden in Hamburg“. Hg. von Arno Herzig in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde. Hamburg 1991, S. 41–60.
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geistes verstanden werden, kommen in den Singspielen doch vor allem jene Vorwürfe zum Tragen, die den Juden von seiten der Theologen entgegengebracht wurden – die Bühne wird hier mithin zur Kanzel. Für diese These spricht auch, dass – so Och und Jenzsch – die Judenfiguren der Hamburger Barockoper keine direkte Wirkung auf das deutsche Sprechtheater gehabt haben. Mittelbarer Einfluss ergab sich jedoch über die dänische Bühne. So entlehnte Ludvig Holberg, der das Repertoire aus Gastspielen des Ensembles in Kopenhagen kannte, die Figur des komischen Juden für seine Stücke, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in weit verbreiteten und häufig gespielten Übersetzungen vorlagen.507
507 Och (wie Anm. 7) S. 62 und Jenzsch (wie Anm. 404), S. 87–92.
6 Zusammenfassung Juden und Judentum sind mit Blick auf die gesamte Literaturproduktion des siebzehnten Jahrhunderts ein eher randständiges Phänomen. Gleichwohl zeigt die Analyse von Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des Barock, dass in dieser Zeit – trotz mehrheitlich antijüdisch argumentierender Texte – wichtige und nicht zu unterschätzende Wandlungsprozesse, d.h. eine weitgehend vorbehaltlose Hinwendung zum Judentum – man denke etwa an Happels Figur des Aben Moyses, Chèvremonts Octrini oder Gryphius Isaschar –, statthaben, die letztlich auch dem deutsch-jüdischen Dialog der Aufklärung den Boden bereiteten und ihm zugleich Grenzen setzten, wenn die Aufklärer auch weiterhin jenen alten Ressentiments und Vorurteilen gegenüber den Juden verhaftet blieben, die im siebzehnten Jahrhundert entworfen und reproduziert wurden.1 Insofern soll diese Studie nicht nur eine Lücke in der literaturwissenschaftlichen Barockforschung füllen, sondern versteht sich auch als wichtiger Baustein innerhalb der Erforschung der deutsch-jüdischen Geschichte, können sich doch gerade durch die Analyse von literarischen Zeugnissen des Barock jenseits der Erforschung des deutsch-jüdischen Verhältnisses im siebzehnten Jahrhundert auch neue Perspektiven auf die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts eröffnen. Grundsätzlich konnte festgestellt werden, dass es in ganz unterschiedlichen Kontexten zur Verhandlung von Juden und Judentum kommt, sodass keineswegs von einem einheitlichen ‚Judenbild‘ des siebzehnten Jahrhunderts ausgegangen werden kann. Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der Analysen kurz referiert werden, um im Anschluss einige übergreifende Aspekte, die die Konstruktion des Jüdischen bestimmen, festzuhalten. Ausgehend von einem umfangreichen Quellenkorpus, das Texte vom fünfzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert umfasst, konnte festgestellt werden, dass in der schwankhaften Literatur von einem relativ statischen Typus ‚des Juden‘ auszugehen ist, der sich vor allem durch die den Juden zugeschriebene ‚Verstockung‘ auszeichnet. Darüber hinaus treten die Figuren häufig als ‚Wucherer‘ auf. Bestimmend ist jedoch stets die religiöse Differenz, aus der sich die Inferiorität der jüdischen Figuren erklärt. Aufgrund des christlichen Wahrheitsanspruches können die Juden mithin nie zu Überlegenden werden: Ihre aus christlicher Sicht ‚minderwertige‘ Religion bedingt, dass sie stets verspottet und diffamiert werden. Jedoch dient die Einfügung jüdischer Figuren nicht ausschließlich der Diskreditierung des Judentums – die Figuren werden vielmehr auch eingesetzt, um andere
1 Vgl. dazu einführend Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung. Köln u.a. 2000.
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Botschaften zu vermitteln und so dienen sie beispielsweise bei Kirchhof als Vehikel innerhalb der konfessionellen Auseinandersetzung: Die Figur des Juden wird hier zum Dritten, an dem sich die Wahrheit der eigenen Überzeugung erweist. Jenseits der Verspottung und Diffamierung des Judentums innerhalb der schwankhaften Literatur, wird ‚das Jüdische‘ in der kompilatorischen Literatur vornehmlich in Form von Historien verhandelt, d.h. historisch Bezeugtes wird zum Anlass genommen, um antijüdische Stereotypen und Vorurteile am konkreten Beispiel zu ‚beweisen‘. Über diese exemplarische Funktion, die insbesondere im Falle des Apostaten Engelberger aufgezeigt werden konnte, werden die einzelnen Materien aber auch funktional eingesetzt, um anderen Zielen, etwa der Befriedigung der curiositas des Rezipienten und der Wissensvermittlung, dem Herrscherlob und der nachträglichen Rechtfertigung von obrigkeitlichen Entscheidungen, der Illustration bestimmter Thesen, der Bestätigung des eigenen Glaubens durch Abgrenzung oder der Anprangerung christlicher Laster zu dienen. Auch wenn hier – wie in der schwankhaften Literatur – an der Inferiorität der jüdischen gegenüber der christlichen Religion niemals gezweifelt wird und häufig auf bekannte antijüdische Stereotype zurückgegriffen wird, ermöglicht die Methode der Kompilation – insbesondere bei jenen Sammlungen, die auf Wissensentgrenzung und -komplexion hin angelegt sind – doch zugleich, dass Juden ‚nur‘ als ‚Kuriosum‘ dargestellt werden und es durch den Wegfall religiös-theologischer Bezugsrahmen möglich wird, dass auch Texte der jüdischen Literatur ohne weitergehende Kommentierung aufgenommen werden können, wie etwa in Händels Viridarium Historicum. Es ist mithin kontextabhängig – dies schließt sowohl die Sammlung selbst hinsichtlich Anlage, Form und Zielsetzung sowie außerliterarische Kontexte ein –, wie Juden und Judentum jeweils dargestellt werden. Auch wenn von einer Dominanz bestimmter Denkfiguren ausgegangen werden muss – ‚der Jude als Wucherer‘, ‚Juden als leicht- und abergläubisch‘ –, konnte doch aufgezeigt werden, dass diese aufgrund der funktionalen Offenheit der kleinen Erzählformen keineswegs statisch sind und gerade durch die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten zuweilen antijüdische Stereotype nicht nur perpetuieren, sondern auch unterlaufen können. Eine Zwitterstellung zwischen Kompilationsliteratur und Roman nehmen die Geschicht-Romane Happels ein, dessen Schreibprogramm, Wissensgegenstände unterhaltsam aufzubereiten, auch in Bezug auf die Darstellung des Jüdischen beobachtet werden konnte. So wird über Sabbatai Sevi berichtet oder es werden der ‚Ritualmord‘ und die ‚Zauberei‘ der Juden erörtert, wobei eine deutlich antijüdische Stoßrichtung festzustellen ist. Zugleich ist auch anzumerken, dass sich das eben proklamierte Potential des Kompilierens, scheinbar feste Bezugsgrößen zu unterlaufen, hier in sein Gegenteil verkehrt, wenn die Aneinanderreihung von antijüdischen Stereotypen bedingt, dass sich das subversive Potential einzelner Erzählungen nicht entfalten kann. In Bezug auf die in den Romanen auftretenden
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Figuren zeigte sich, dass es neben einfachen, stereotypen Zeichnungen der Juden als betrügerische Pfandleiher, auch zu durchaus vorbehaltlosen Figurationen des Jüdischen kommt, etwa im Falle Aben Moyses oder wenn die Wirkung judenfeindlicher Stereotype satirisch entlarvt wird. Das durch die Methode der Kompilation bedingte Dialogisierungspotential bei Happel, erwies sich sodann bei Bucholtz‘ Romanen schon durch die Anlage dieser als ausgeschlossen. Auf Grundlage einer strikten Gegenüberstellung von heldenhaften Christen und lasterhaften, ‚verworfenen‘ Juden werden mögliche gegenläufige Tendenzen verunmöglicht. Der Glaube erscheint hier als determinierendes Moment, das eine differenzierte Darstellung jüdischer Figuren hindert und die Juden zum absolut Bösen, zum radikal Anderen werden lässt, sodass die Abgrenzung mitunter in Eliminierungsphantasien kulminiert. Allein die Aufgabe des eigenen Glaubens und die Annahme des Christentums lässt die Juden zu Mitgliedern der Gemeinschaft werden. Die Konversion zum ‚wahren‘ Glauben steht sodann im Zentrum des Josebeth-Romans, wobei jedoch festgestellt wurde, dass es sich nicht, wie häufig proklamiert, um einen „Konversionsroman“ handelt, findet sich doch keine dezidierte Auseinandersetzung mit dem christlichen und jüdischen Glauben. Ähnlich wie bei Bucholtz werden hier Christen (und die spätere Konvertitin) als positive Exempelgestalten den jüdischen Figuren gegenübergestellt. Das Christentum erscheint als allein seligmachender Glauben, das Judentum wird unter Rückgriff auf tradierte antijüdische Stereotype und Versatzstücke – wie etwa das Motiv vom falschen Messias – sowie der Kontrastierung der Paare Villeneuve/Josebeth und Wanberger/Abigail diskreditiert und diffamiert, wenn sich die gängigen antijüdischen Stereotype am konkreten Beispiel bestätigen. Wesentlich komplexer gestalten sich die Figurationen des Jüdischen im Werk Grimmelshausens. Hier konnte in Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur gezeigt werden, dass Grimmelshausen nicht als Vorbote des Toleranzdenkens des achtzehnten Jahrhunderts missverstanden werden darf. So werden antijüdische Vorwürfe und Stereotype aufgegriffen und affirmiert und auch die den Juden immer wieder zugeschriebene ‚Geldgier‘ bleibt unwidersprochen. Zugleich wird insbesondere dieser Vorwurf jedoch produktiv genutzt, d.h. er wird zum Anlass genommen, um über Geiz und Gier auch von Seiten der Christen zu sprechen. Jüdische Figuren erscheinen insofern im Rahmen der Satire als Mittel, die Verkehrungen der Welt zu entlarven. Dennoch muss man feststellen, dass sich die simplicianischen Schriften einfachen Wertungen entziehen: Beispielhaft kann hier die Esther-Episode angeführt werden, wo zwar auf eindeutig antijüdische Versatzstücke zurückgegriffen wird, zugleich aber der Erzähler unzuverlässig ist und der Leser allein auf dessen fragwürdige Einlassungen angewiesen ist. Die simplicianischen Schriften verharren folglich in Bezug auf das Jüdische im Unentschiede-
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nen: Neben der Affirmation antijüdischer Vorwürfe lässt sich ein subversives Potential identifizieren, dass gerade über die satirische Schreibart alternative Lesarten ermöglicht. Ebenfalls durch Geldgier und Besitzstreben zeichnen sich die jüdischen Figuren in dem Roman Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes […] Liebes=Geschichte aus, der jedoch nicht wegen dieser antijüdischen Stereotype als interessant erscheint, sondern vor allem durch den Umstand, dass der Jude Octrini die Mutter der Heldin heiratet. Diese Aufwertung der jüdischen Figur wird vor allem durch zwei Umstände ermöglicht: Zum einen werden die religiösen Unterschiede eingeebnet, Octrini ist mehr ‚Christ‘ als ‚Jude‘, zum anderen wird das Geschehen an einen exotischen Ort verlegt, in dem christliche Verhaltensvorschriften und -ideale außer Kraft gesetzt sind. Dies ermöglichte auch schon bei Happel die Vorstellung einer weitgehend ‚positiven Judenfigur‘. Die Analyse der Dramentexte, Periochen und Opernlibretti machte wiederum die Variationsbreite nicht nur der Konstruktionen des Jüdischen deutlich, sondern auch die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der jüdischen Figuren. Während Barrabas im Wanderbühnenstück der Jude von Venetien unter Rückgriff auf das Motiv vom Fleischpfand als Bedrohung nicht nur des Prinzen, sondern aufgrund der ihm zugeschriebenen Exemplarität als Gefährder des gesamten Christentums erscheint, dient das Endinger Judenspiel vornehmlich der Propagierung eines neuen Wallfahrtsortes. In beiden Spielen finden sich jedoch vergleichbare Argumentationsstrategien, wenn die Juden als ‚Ungeziefer‘ vorgestellt werden, das es ‚auszutilgen‘ gilt. Ebenfalls auf die Denkfigur des ‚jüdischen Händlers‘ rekurriert Gryphius bei der Gestaltung des Rabbiners und Pfandleihers Isaschar. Dieses wird jedoch nicht zur antijüdischen Polemik, sondern vielmehr produktiv genutzt: So übernimmt Gryphius aus der erudita und der commedia dell’arte die verlachte Judenfigur, nimmt ihr jedoch das komische Potential und lässt sie zum Aufdecker von Betrug und Täuschung werden. Durch seine Stellung außerhalb der Gesellschaft, die ihn zugleich mit Vertretern aller Stände zusammenbringt, ist Isaschar sodann befähigt, die wohl wichtigsten Sätze im Stück zu sprechen. Dazu bedarf es jedoch der Ansiedelung der Komödie am utopischen Ort. Ebenso wie im Falle des Endinger Judenspiels dienen die Jesuitendramen über den angeblichen Ritualmord an Andreas Oxner und den Tod Simeon Abeles der Implementierung und Propagierung eines neuen Märtyrers. Darüber hinaus müssen die hier untersuchten Periochen stets im Kontext der propaganda fides gesehen werden: So soll insbesondere durch den Rückgriff auf Heiligen- und Märtyrerlegenden sowie auf aktuelles Zeitgeschehen der christliche, katholische, Glaube verteidigt, bestätigt und gefördert werden. Die Juden erscheinen hier als das absolut Böse, dem alle Untaten angelastet werden können. Das Beispiel des angeblichen
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Mordes an Andreas Oxner belegt zudem die enorme Wirkmächtigkeit des multimedialen Spektakels Jesuitentheater, das antijüdische Vorwürfe und Stereotype höchst effektvoll affirmierte und so zur andauernden Judenfeindschaft beitrug. Nicht als bedrohlich, sondern als verlachbar werden die jüdischen Figuren hingegen auf der Bühne der Hamburger Barockoper vorgestellt. Aufgrund der relativ feststehenden Eigenschaften kann man hier von einer ‚komischen Judenrolle‘ sprechen. Dies wurde insbesondere mit Blick auf die Lokalsingspiele deutlich, in denen sich die jüdischen Figuren stets durch dieselben Merkmale (Geldgier, betrügerischer Handel, Feigheit, Gier) auszeichnen. Besonders auffällig ist hier neben der Verspottung der jüdischen Figuren die zum Teil ausufernde Verwendung jiddischer oder pseudo-jiddischer Redewendungen, sodass das Jiddische in der Hamburger Oper zur Signalsprache wird. Anhand dieses resümierenden Überblicks ist deutlich geworden, dass für die Literatur des Barock – trotz der meist antijüdischen Stoßrichtung der Texte – von einer großen Vielfalt der Konstruktionen des Jüdischen ausgegangen werden muss. Dennoch lassen sich einige übergreifende Aspekte benennen, die generell die Konstruktion des Jüdischen in der Literatur des siebzehnten Jahrhunderts bestimmen. Juden erscheinen in den hier untersuchten Texten stets als das Andere, an das man sich zwar annähern kann, eine Aufgabe der Differenzzuschreibungen findet jedoch nicht statt. Dies ist in der stark religiös geprägten Frühen Neuzeit aber auch nicht möglich, ist das zugrundeliegende Begründungsverfahren für die Herstellung von Differenz doch stets das religiöse: Die Juden erscheinen aufgrund ihrer religiösen Andersartigkeit nicht nur als fremd, sondern vor dem Hintergrund des nie in Frage gestellten Suprematieanspruches der christlichen Kirche als inferior. Der Glaube wird mithin zum determinierenden Moment, der eine gleichberechtigte Inklusion in die Gesellschaft verhindert, würde doch so der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens fragwürdig. ‚Der Jude‘ erscheint darüber hinaus aber nicht als feststehende Figur mit unveränderlichen Charaktereigenschaften, sondern vielmehr als Signifikant, das mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt werden kann: ‚Der Jude‘ kann Reichtum, Wucher, Armut für Christen, Geldgier oder auch Aberglauben repräsentieren. Er ist dabei jedoch stets als spezifische Figuration innerhalb ästhetischer, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse zu verstehen und so bestehen zwischen dem diskursiv hervorgebrachten ‚Judenbild‘ und jeweils den herrschenden politischen, rechtlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen enge kausale und reziproke Verbindungen, sodass die Analyse diese immer berücksichtigen muss. Dieses konnte insbesondere bei Abeles „KlageLiedern“ zur Ausweisung der Wiener Juden und des angeblichen Mordes an Andreas Oxner aufgezeigt werden.
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Zugleich muss man jedoch feststellen, dass jüdische Figuren zwar ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und eben nicht zwangsläufig der Diffamierung des Judentums dienen, die meisten der hier untersuchten Texte jedoch eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung verfolgen. Besonders dominant sind dabei die Denkfiguren vom Juden als ‚Wucherer‘, als ‚Gotteslästerer‘, vom ‚geldgierigen und betrügerischen Juden‘ sowie vom ‚Christenhasser‘. Durch die Reihung, die Wiederkehr des Immergleichen werden so antijüdische Stereotype und Vorurteile perpetuiert und konserviert. In diesen Texten sind die Juden aufgrund ihrer religiösen Inferiorität stets unterlegen und erscheinen häufig als das radikal Andere, sodass die Abgrenzung, wie etwa bei Bucholtz, im Endinger Judenspiel oder im Juden von Venetien, in eliminatorischen Vorstellungen gipfeln kann. Die Affirmation judenfeindlicher Stereotype vollzieht sich hier häufig durch eine Tendenz zur Pauschalisierung – einzelne Juden werden zum Exempel für die Juden insgesamt –, durch Selbstbezichtigung der jüdischen Figuren, Polarisierung sowie durch den Rückgriff auf autoritäre Texte. Hier sind bei protestantischen Autoren insbesondere Luthers antijüdische Schriften zu nennen. Auch Konvertiten wie Gerson, Margaritha oder Schmidt gelten als ‚Experten‘ für das Judentum, deren polemische Abgrenzungsstrategien auch in die jeweiligen literarischen Texte übernommen werden. Des Weiteren wird die andersartige Sprache der Juden insbesondere auf der Bühne genutzt, um diese verächtlich zu machen. Durch die häufige Verwendung des Begriffs ‚Jude‘ in eindeutig diskriminierenden Kontexten wird schließlich der Begriff selbst negativ aufgeladen. Jenseits dieser diffamierenden und diskreditierenden Texte erlaubt das Medium Literatur zugleich jedoch auch, dass vermeintlich feste Bezugsgrößen, wie etwa der Jude als ‚Betrüger‘, durch poetische Verfahren unterminiert werden: So können sich durch das kompilatorische Verfahren, durch das Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Texte, Dialogisierungsstrategien eröffnen und antijüdische Vorwürfe auf ihren Wahrheitsgehalt hin diskutiert werden. Im Zuge der Transformationsprozesse innerhalb des kompilatorischen Schrifttums wird das Judentum darüber hinaus zum interessanten Wissensgegenstand, dem man sich im Horizont des Strebens nach umfassender Weltkenntnis weitgehend vorbehaltlos nähern kann. Vor dem Hintergrund, dass es besonders dort zu differenzierten, auf Vorurteile und Diffamierung der Juden verzichtenden Darstellungen kommt, wo das Geschehen in weiter Ferne bzw. am utopischen Ort angesiedelt ist, kann folgende Schlussfolgerung festgehalten werden: Je weiter sich der Autor von seinem Text durch Fiktionalisierungsstrategien entfernt, desto unproblematischer scheint es zu sein, Figurationen des Jüdischen vorzustellen, die späteren positiv gezeichneten Figuren des achtzehnten Jahrhunderts ähneln. Der exotische bzw. utopische Ort bildet mithin die Voraussetzung für die Erprobung alternativer Entwürfe ‚des Juden‘.
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Abschließend bleibt festzuhalten, dass, auch wenn die Beschäftigung mit Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts ein alles in allem wohl eher begrenztes Phänomen ist, man die Wirkung dessen doch nicht unterschätzen darf: Ältere Vorstellungen und Urteile werden reproduziert und tradiert, bisweilen verworfen, vermeintlich feste Bezugsgrößen und Stereotypen in Frage gestellt und neue Entwürfe ‚des Juden‘ erprobt. Das siebzehnte Jahrhundert gerät mithin zu einem Experimentierfeld, in dem neue Möglichkeiten der Darstellung des Jüdischen ausgelotet werden, auch wenn man gleichzeitig feststellen muss, dass der überwiegende Teil der hier diskutierten Literatur antijüdische Zerrbilder produziert, affirmiert und tradiert, die bisweilen bis in die neueste Zeit wirken. Insofern gilt es nach wie vor, die eigene Vergangenheit zu sezieren und der „Macht des geschriebenen Wortes“2 nachzuspüren. Denn, so hat Manès Sperber festgestellt: „Im übrigen ist der hartnäckige Kampf gegen den Anti-Semitismus Euere Angelegenheit. Denn wenn dieser Haß auch manchmal eine tödliche Gefahr für uns darstellt, so ist er doch Euere Krankheit, er ist das Übel, das Euch verfolgt.“3
2 Günther B. Ginzel: Über Antisemiten und Antisemitismus in Deutschland oder: Trotz und alledem – es ist eine Lust, Jude zu sein. In: Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute. Hg. von Günther B. Ginzel. Köln 1991, S. 16. Diese „Macht des geschriebenen [und gesprochenen] Wortes“ wurde natürlich auch schon im siebzehnten Jahrhundert betont. Vgl. dazu beispielhaft den Reyen der Höfflinge in Andreas Gryphius „Leo Armenius“: Zusatz Lernt/ die ihr lebt/ den Zaum in eure Lippen legen! Jn welchen Heil und Schaden wohnet; Vnd was verdammt/ und was belohnet. Wer Nutz durch Wortte such’t/ sol jedes wort erwegen. Die Zung ist dieses Schwerdt So schützet und verletzt. Die Flamme so verzehrt Vnd eben wol ergetzt. Ein Hammer welcher bawt und bricht/ Ein Rosenzweig/ der reucht und sticht/ Ein Strom der träncket und erträncket: Die Artzney welch‘ erquickt und kräncket. Die Bahn: auf der es offt gefehlet vnd gelungen. Dein Leben/ Mensch/ und todt hält stäts auf deiner zungen. (Andreas Gryphius: Leo Armenius, Oder Fürsten-Mord. In: Andreas Gryphius. Dramen. Hg. von Eberhard Mannack. Frankfurt a.M. 1991 [Bibliothek der Frühen Neuzeit 3], S. 9–116, Zitat S. 36) 3 Manès Sperber: Auszug aus einem Brief an einen christlichen Kollegen. In: Freiburger Rundbrief 57/60 (1964), S. 76.
Literaturverzeichnis Quellen Matthias Abele von und zu Lilienberg: Vivat oder so genannte künstliche Unordnung: Das ist: Wunder=Seltsame, niemals in offentlichen Druck gekommene Gerichts= und ausser Gerichts= doch warhaffte Begebenheiten/ Meistentheils aus eigner Erfahrnus/ Zusammengetragen und ebner massen/ mit gantz neu erfundenen lustigen und kurtzweiligen Anmerckungen/ doch zwischen Schimpff und Ernst gezieret und vermehret. 4 Bde. Nürnberg 1670–1675. Das Endinger Judenspiel. Zum ersten Mal herausgegeben von Karl von Amira. Halle 1883 (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 41). Jacob Andreä: Warhafftige Geschicht von einem Juden/ so zu Weyssenstein in Schwaben gericht […] worden. [o.O.] 1560. [Anonym:] Ein gar suptil rechnung Ruprecht kolpergers von dem gsuch der iudn. [Nürnberg] 1491. In: Münchener Digitalisierungszentrum. Digitale Bibliothek. http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0002/bsb00027505/images/index.html?id=00027505&fip=eay ayztsewqeayaxssdasyztsqrseayaxs&no=15&seite=4. Stand: 14. April 2011. [Anonym:] Kurtze Beschreibung vnd Erzehlung von einem Juden/ mit Namen Ahaßverus/ Welcher bey der Creutzigung Christi selbst persönlich gewesen/ auch das Crucifige über Christum hab helffen schreyen […]. Bautzen 1602. [Anonym:] Liebeskampff Oder Ander Theil der Englischen Comoedien vnd Tragoedien […]. [Leipzig 1630]. [Anonym:] Summarischer Inhalt der Action von einem Judischen Knäblein/ welches under anderen Christlichen Knaben seinen Schulgesellen/ nach brauch der alten Kirchen/ die von der heyligen Communion obergeblibne Hostias genossen/ und darumb von seinem Vatter auß unmässigem Zorn in einen fewrigen Glaßoffen geworffen […]. Gehalten zu Costantz in dem Gymnasio der Societet Jesu den 2. Octobris, Anno 1634. Konstanz 1634. [Anonym:] Warhaffter Bericht So sich zu Wien in Oesterreich mit dreyen Juden zugetragen: darunter einer/ so von diesem ein vornehmer Rabbi gewesen/ unnd sich vor etlichen Jahren zu Rackawitz in Poln tauffen lassen/ aber […] die Christenheit verleugnet […]. So geschehen in Wien den 16/26. Augusti 1642. [Wien 1642]. [Anonym:] Warhaffte vnd erschröckliche Zeitung/ So geschehen diß 1642. jar/ den 26. Augusti/ in der Kays. Hauptstatt Wien in Österreich/ von drey Gottlosen Juden/ so vmb ihrer Dieberey willen […] vmb das Leben kommen […] in ein Gesang verfaßt […]. [Augsburg 1642]. [Anonym:] Eine sehr denckwürdige Historie/ Von einem getaufften/ doch wider vom Christenthumb abgefallenen Juden/ welcher wegen Diebstal sampt zweyen andern Juden in Wien ergriffen/ und justificiert worden. [Wien 1642]. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graphische Sammlung, Inventar-Nr. HB 212, Kapsel-Nr. 1279. [Anonym:] Der Geist von Jan Tambour, Oder Außerlesene Materi für die Kurtzweil liebhabende Jugend. Dritter Theil. Aus dem Holländischen ins Teutsche vertiret. [o.O.] 1662. [Anonym:] Gepflückte Fincken/ Oder: Studenten=Confect: Auffgetragen in Zwoen Trachten/ Jede von 100. Gerichten. Das ist: Zwey hundert außerlesene/ kurtzweilige/ mehrentheils neu=gebackene Historien und Possen/ welche auf seiner langwirigen anderthalb=jährigen Reise/ in unterschiedlichen Gesellschafften gesammlet […]/ Und Seinen Herren Lands=Leuten und andern Studenten/ wie auch sonst allerhand reisenden und maulhenckolischen Personen/
Quellen
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sie gehen/ reiten oder fahren/ zu Lande oder zu Wasser/ oder sitzen hinter dem Ofen/ und braten Aepffel/ zur Recreation, Belustigung des Gemüths/ und Verkürtzung der Zeit/ in Druck gegeben hat. Franckenau 1667. [Anonym:] Pars Secunda, oder Die Erste Fortsetzung deß Politischen und Historischen Schimpffs und Ernsts/ Mit gleichem fleiß/ den Histori=begierigen Leser zu sonderbahren gefallen und auff beliebige Nachfrag zusammen getragen. Von einem auffrichtigen Liebhaber merckwürdiger Geschichten. Nürnberg 1669. [Anonym:] Warhaffte und merckwürdige Geschichts=Erzehlung Von Tafilette/ Dem grossen Bestreiter und Käyser Der Barbarey. Aus der Englischen in die Frantzösische/ und aus solcher in die Teutsche Sprach übersetzet. Nürnberg 1670. [Anonym:] Schau=Platz der Betrieger: Entworffen in vielen List= und Lustigen Welt=Händeln: Als: In behender Dieberey: Kartenspiel: Liebes=Räncken: Rechts=Sachen: Discursen: Todtschlägen: Rauben: Heurathen: Kauffmanschafften/ und andern unzählichen vielen Begebenheiten […]. Hamburg, Frankfurt 1687. [Anonym:] Der Bäyerische Max, Oder so genannter Europaeischer Geschicht=Roman, Auf Das 1691. Jahr; In welchem in einer Liebes= und Helden=Geschichte die denckwürdigste Wunder=Begebnüsse/ Kriegs= und Politische Staats=Sachen/ Glück= und Unglücks= auch hohe Todes-Fälle/ Hoch-Fürstl. Beylager/ Schlachten/ Belager= und Eroberungen/ ingleichem was sonsten in diesem Jahr in Europa Notabels sich zugetragen/ neben mehr andern sehr Curiosen und Leß=würdigen Materien/ nach Weise der bißherigen Geschicht-Romanen beschrieben werden. 4 Bde. Ulm 1691. [Anonym:] Warhafftige Abbildung einer erschröcklichen Mordthat/ so sich zugetragen hat in der Königl: Alten Stadt Prag/ den 21. Monaths=Tag Februarii, dieses 1694sten Jahrs/ am Sonntag Quinquagesimae, da ein Juden=Knab sich tauffen/ und zum Christlichen Glauben bekehren wolte/ nach dessen Verständnus aber derselbe jämmerlich in seines Vatters Hause ermordet worden. Prag 1694. [Anonym:] Nobilis Fidei Victima Proprio Sanguine Purpurata. Simeon Tredeccenis Hebraeus Adolescens Adhuc Catechumenus. In odium Fidei à suis crudeliter interemptus Pragae Anno 1694. 28. Feb. A Studiosa Juventute Episcopalis & Academici Gymnasij Eystadiani in Theatrum productus Anno 1695. Das ist: Simeon Ein dreyzehenjähriger Jüdischer=Knab/ Und Angehender=Christ Von seinem Vatter und andern Juden auß Haß deß Catholischen Glaubens gewaltthätig umb das Leben gebracht. Auf der Schaubühne vorgestellet von dem Hochfl. Academischen Gymnasio der Societet Jesu zu Aychstätt/ den 2. und 5. September. Eichstätt 1695. [Anonym:] Der Sächsische Witekind/ Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman, Auf Das 1692. Jahr/ Jn welchem/ Nach Ahrt deß Jtaliänischen Spinelli, Spanischen Quintana […] in einer Liebes= und Helden=Geschichte/ die Denck=würdigsten Begebnüssen/ Kriegs= und Politische Staats=Sachen/ Glück= und Unglücks= auch hohe Todes=Fälle […] dieses Jahrs/ unpartheyisch beschrieben werden. 4 Bde. Ulm 1696. [Anonym:] Der Georgianischen Kemiski und ihres Gemahls Cherif Alekes seltsame Liebes=Geschichte/ so ihnen so wohl in Georgien als anderen unterschiedenen Ländern Asiens und Europae begegnet; nebst kurzen Beschreibungen sothaner Länder/ und der Gewonheiten derselben Einwohner/ zu besserem Verständniß der Geschichte hin und wider mit eingemischet. Aus dem Frantzösischen übersetzt. Leipzig 1698. [Anonym:] Das Ausgefegte Caffee-Haus zu Venedig/ Welches von des Authoris, der die Mißbräuche und Eitelkeiten der Welt zu reformiren/ und viel Staats- auch andere Merckwürdigkeiten zu beschreiben sich unterfangen hat/ Mucken/ Irrthumen und Schwachheiten gesäubert/ und dem Neubegierigen Leser zum Nutzen ist mitgetheilt worden […]. Freystadt [1699].
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Literaturverzeichnis
chen/ Glücks= und Unglücks=Fällen/ und was sonsten merckwürdiges in Europa und angräntzenden Ländern in diesem 1685. Jahr passiret […]. 2. Bde. Ulm 1685. Ders.: Der ungarische Kriegs=Roman, Oder Außführliche Beschreibung/ Deß jüngsten Türcken=Kriegs/ Wobey Aller darinnen verwickelter Hoher Potentaten Länder/ Macht/ und Herrschafft/ absonderlich aber eine curieuse Beschreibung von Ungarn/ Persien/ und Türckey/ zusamt denen denckwürdigsten Belagerungen und blutigsten Feld-Schlachten so die Türcken Zeit ihrer Herrschafft […] vorgenommen und erhalten haben / Unter einer anmuthigen Liebes- und Helden-Geschichte […] verfasset. 6 Bde. Ulm 1685–1697. Ders.: Der Frantzösische Cormantin, Oder so genannter Europäischer Geschicht=Roman, Auf Das 1687. Jahr. Worinnen Man nächst denen Angelegenheiten deß Königreichs Frankreich/ die fürnehmste Schlachten/ Belagerungen/ Wunder/ Kriegs= und Estats=Fälle/ und was sonsten Merckliches in allerhand Materien passiret/ nach seiner richtigen ordnung ganz ohnpartheyisch/ samt ander eingefallen curieusen Discursen zu vernehmen hat/ in einer wol=erfundenen Liebes= und Helden=Geschichte leß=würdig fürgestellet. 4 Bde. Ulm 1687–1688. Ders.: Der Ottomanische Bajazet, Oder so genannter Europaeischer Geschicht=Roman, Auf Das 1688. Jahr. Darinn abgehandelt werden Alle Denck=würdige Geschichte/ welche dieses Jahr über fürgefallen sind in Kriegen/ Estats=Sachen/ Wundern/ Unglücks= und Sterb=Fällen/ und was sichh sonsten Merck=würdiges begeben in und ausser Europa, zu Wasser und Land […]. 4 Bde. Ulm 1688–1689. Ders.: Der Academische Roman, Worinnen das Studenten=Leben fürgebildet wird; Zusamt allem/ was auf den Universitäten passiret/ wie diese bestellet werden/ wie die Professiones und Facultäten eingetheilet sind/ […] und was man von dem Academischen Leben zu wissen verlangen mag. Das Gute zur Lehre/ das Böse aber zur Warnung der Ehr=liebenden Jugend/ in einer schönen Liebes=Geschichte fürgestellet. Ulm 1690. Ders.: Historia Moderna Europae, Oder eine Historische Beschreibung Deß heutigen Europae; welche zum Anfang und Fundament hat den Münsterischen Frieden=Schluß/ und von dar an fortfähret/ Unpartheyisch zu beschreiben/ dieses letztere Semi-seculum Mirabile […]. Ulm 1692. [Georg Philipp Harsdörffer:] Der Grosse SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte. Fünffter und sechster Theil. Mit vielen merkwürdigen Erzehlungen/ neuüblichen Gedichten/ lehrreichen Sprüchen/ scharffsinnigen Hofreden/ artigen Schertzfragen und darauf wolgefügten Antworten etc. außgezieret […]. Hamburg 1649. Ders.: Der Grosse Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte. Beigebunden ist: Neue Zugabe, Bestehend in C. Sinnbildern. Hildesheim, New York 1978 [Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1659]. Ders.: Der Grosse Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte. 2 Bände in 1 Band. Hildesheim, New York 1978 [Nachdruck der Ausgaben Frankfurt und Hamburg 1664]. Johann Ludwig Hartmann: Unzeitige Neue=Zeitungs=Sucht/ und Vorwitziger Kriegs=Discoursen Flucht […]. Rothenburg 1679. Caesarius von Heisterbach: Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder. Erster Teilband, eingeleitet von Horst Schneider, übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. Turnhout 2009 (Fontes Christiani 86, 1). Christoph Helwig: Jüdische Historien/ Oder/ Thalmudische/ Rabbinische/ wunderbarliche Legenden/ so von den Jüden als warhafftige und heylige Geschicht/ an ihren Sabbathen und Feyertagen gelesen werden. Darauß dieses verstockten Volcks Aberglauben und Fabelwerck zu ersehen […]. Gießen 1611.
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Ders.: Erster vnd Ander Theil Jüdischer Historien. Oder Thalmudischer/ Rabbinischer/ wunderbarlicher Legenden/ so von den Jüden als warhafftige und heylige Geschicht/ an ihren Sabbathen und Feyertagen/ gelesen werden. Darauß dieses verstockten Volcks Aberglauben und Fabelwerck zu ersehen […]. Gießen 1617. Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz/ Nebst einigen VorbereitungsMitteln zu der Juden Bekehrung/ Auf Veranlassung der erschröcklichen Gottes-Lästerung/ welche der Jude Jonas Meyer von Wunstorff/ als er vor der Fürstl. Residentz=Stadt Zelle/ nebst andern hochberüchtigten Dieben den 21. Martii An. 1699. abgethan […]. Zelle 1699. [Christian Friedrich Hunold:] Theatralische/ Galante und Geistliche Gedichte/ Von Menantes. Hamburg 1722. Ders.: Die über die Liebe Triumphirende Weißheit/ Oder: Salomon, In einem Singe=Spiel Auff dem grossen Hamburgischen Schau=Platze vorgestellet. Hamburg 1703. Reinhard Keiser: Der Hochmütige, gestürzte und wieder erhabene Croesus 1730 (1710). Erlesene Sätze aus L’Inganno Fedele 1714. Hg. von Max Schneider. In Neuauflage hrsg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser. Wiesbaden, Graz 1958 (Denkmäler deutscher Tonkunst, 1. Folge 37, 38). [Balthasar Kindermann:] Kurandors Schoristen=Teuffel. Das Erste Gesicht. Jena 1661. Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. Hg. von Hermann Österley. 5 Bde. Tübingen 1869. Egon Erwin Kisch: Geschichten aus sieben Ghettos. Berlin 1992. [Johann Martin Köhler:] Die liebliche/ Durch Tugend und Schönheit Erhöhete Esther, In einem Singe-Spiel vorgestellt. Hamburg 1680. In: Wolfenbütteler Digitale Bibliothek. http://diglib. hab.de/drucke/textb-sbd-10-2/start.htm [Gesamtes Dokument]. Stand: 03. Februar 2007. [Christoph Kormart:] Die zum Christenthum neubekehrte Jüdin/ Oder Verliebte und abgefallene Josebeth/ Jn einer Wunder=würdigen schönen Liebes=Geschichte Mit vielen Vor diesem unbekannten/ doch nachdencklichen Jüdischen Ceremonien der Curiosen Welt zu geziemender Ergötzung und nothwendiger Wissenschafft an Tag gestellet. [o.O.] 1712. In: Münchener Digitalisierungszentrum. Digitale Bibliothek. http://www.bsb-muenchen-digital.de/ ~web/web1011/bsb10112052/images/index.html?digID=bsb10112052&pimage =00001&v=100&nav =0&l=de. Stand: 19. August 2009. Johannes Lassenius: Adeliche Tisch=Reden/ in sich begreiffende zwölff Lehrreiche/ nützliche und anmuthige Gespräch/ Darinn bey Anführung mancherley Geschichten/ Gleichnüssen/ und lehrreichen Sprüchen/ allerhand erbauliche Unterredungen/ von unterschiedlichen/ Absonderlich aber/ Deren heutiges Tages in der Welt gänglichen Sachen/ vorgestellet […]. Nürnberg 1661. Ders.: Bürgerliche Reiss= und Tischreden/ Jn zwölff nützliche und anmutige Gespräch/ abgetheilet. Darinnen nebenst denen zur Kauffmannschafft gehörigen Sachen und Eigenschafften/ derer ein Kauff= und Handelsmann/ so wol in seinem Handel/ als bürgerlichem Leben/ nicht wohl entrathen kann; Auch allerhand andere nutzlichte/ erbauliche und anmuthige Unterredungen geführet werden […]. Nürnberg 1662. Peter Lauremberg: Neue und vermehrte Acerra Philologica. Das ist: Sechs Hundert und Funffzig Außerlesene/ nützliche/ lustige und denckwürdige Historien/ und Discursen auß den berühmtesten Griechischen und Lateinischen Scribenten zusammen getragen. […] Allen Liebhabern der Historien zur Ergetzung: Jnsonderheit der studirenden Jugend zu mercklichen Ubung/ und nothwendigem Unterricht/ in allen Stücken zu gelehrter Wissenschafft beförderlich. Auffs neue mit Fleiß übersehen/ verbessert und mit einem Anhange von fünffzig nützlich=und lieblichen Historien vermehret […]. Frankfurt und Leipzig 1684.
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Literaturverzeichnis
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Zur Textgestaltung Bei der Wiedergabe von Zitaten werden grundsätzlich der Wortlaut, die Schreibweise und die Zeichensetzung der Quelle geboten. Weiterhin gelten folgende Regeln: – Irreguläre Groß- und Kleinschreibung wurde normalisiert. – Abbreviaturen, Geminationsstriche und Ligaturen wurden im Text stillschweigend vollständig aufgelöst. – Die Umlautzeichen a, oͤ und uͤ wurden zu ä, ö und ü normalisiert. – ů wurde zu uo normalisiert. – æ und œ wurden aufgelöst. – Der Punkt nach arabischer Kardinalzahl wurde beibehalten. – Die Virgel wurde ausnahmslos ohne Abstand zum vorigen Wort zitiert. – Der Fraktursatz des Originals erscheint als antiqua recte. – Fremdworte, die im Original antiqua recte gesetzt sind, erscheinen als antiqua recte. – Fehlende Bogenzählung wurde stillschweigend ergänzt.
Namensregister a Sancta Clara, Abraham 45, 49 Abele von und zu Lilienberg, Matthias 42, 122–128, 387 Abele, Simeon 329, 331–336, 351, 386 Albrecht, Dieterich 79 Andreä, Jacob 176 Anstedt, Jude 176, 347 Banchieri, Andriano 365 Baronius, Ceasar 348 Baudaert, Willem 117, 144, 146 Beauval, Jaques Basnage de 115 Bebel, Heinrich 44, 49, 53, 55, 59, 62–63 Beccau, Joachim 379 Beer, Johann 183 Bessel, Christian Georg 75 Blümel, Christoph 74, 271, 273–274, 279–280 Boccaccio, Giovanni 49, 251 Bohse, August 146 Bonatti, Guido 90 Boulenger, Jules César 144 Bracciolini, Poggio 55 Brant, Sebastian 55, 58, 60, 67 Bucholtz, Andreas Heinrich 21, 166, 187–191, 193–194, 196–198, 200, 202–204, 206– 207, 266, 385, 388 Bütner, Wolfgang 74–75, 77 Buxtorf, Johannes 40, 87, 137, 147–148, 155– 156, 163 Cassius Dio 202 Charron, Jaques de 144 Chèvremont, Jean-Baptiste de 259, 261, 383 Chmel’nyc’kyj, Bohdan 260 Coenen, Thomas 133, 135 Cuno, Mauritz 361–362 Eder, Johann 331 Eisenmenger, Johann Andreas 155 Eitzen, Paulus von 89, 91–92, 95 Elmenhorst, Heinrich 357–358 Engelberger, Ferdinand Franz 99–106, 110, 112–113, 115–117, 119–121, 347, 384 Evelyn, John 133, 135
Feind, Barthold 354, 358–359, 361 Fischart, Johann 48 Flavius Josephus 221, 232 Folz, Hans 20, 44, 48–51, 56–57, 69–71, 220, 251, 253–254 Francisci, Erasmus 86–88, 115, 117–118, 141– 149, 156, 163–165, 191 Frey, Jacob 42, 50, 58, 61 Geiger, Wolffgang Jacob 346 Gellert, Christian Fürchtegott 38, 184 Gerlach, Samuel 59, 74 Gerson, Christian 160, 176, 185, 388 Giovanni Boccaccio, Giovanni 44 Goethe, Johann Wolfgang 187 Gotter, Friedrich Wilhelm 376 Gregor von Tours 323, 327 Grimm, Jacob und Wilhelm 79, 156 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 4, 18, 20–22, 39, 45, 49, 138, 166, 212, 225–226, 228–236, 238–242, 244– 259, 385 Grundemann von Falkenberg, Adam Anthonio 126 Gryphius, Andreas 20, 308–318, 373, 376– 377, 383, 386, 389 Guarinonius, Hippolytus 1, 336–339, 344– 345 Hammer, Matthäus 191 Händel, Gottfried 156, 164, 384 Happel, Eberhard Werner 21, 42, 47, 62, 86– 88, 129–131, 133, 135–140, 166–170, 172–182, 184–187, 266, 383–386 Harsdörffer, Georg Philipp 47, 59, 100, 105– 113, 115–122, 141, 150, 235–236 Hartmann, Johann Ludwig 145 Heisterbach, Caesarius von 44, 49, 51 Helduaderus, Nicolaus 144 Helwig, Christoph 87, 147, 155–165 Heß, Ernst Ferdinand 160 Hocher, Johann Paul 126 Hondorff, Andreas 77 Horn, Caspar 365
Namensregister
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Hosmann, Sigismund 40, 104–106, 115, 175, 191 Huet, Pierre-Daniel 168 Hunald, Christian Friedrich 359 Hunold, Christian Friedrich 354, 358–360
Paullini, Kristian Franz 106, 141, 191 Pfitzer, Johann Nikolaus 75, 77–78 Prätorius, Johann Philipp 363, 368–378 Prätorius, Johannes 42, 48, 53, 61, 64, 72– 73, 232–233
Keiser, Reinhard 362–363, 368, 372, 379–380 Keller, Urban 325 Kindermann, Balthasar 67 Kirchhof, Hans Wilhelm 42, 44, 49, 51–54, 57–61, 64, 66–67, 84, 384 Kisch, Egon Erwin 330 Koch, Johann Georg 126 Köhler, Johann Martin 360 Kollonitsch, Leopold 126 Kormart, Christoph 45, 207–211, 214, 216–223
Quirsfeld, Johann 163, 165, 252
La Fayette, Marie-Madeleine de 208 Lassenius, Johannes 150, 152 Lauremberg, Peter 42, 103, 110, 119, 163 Lebenwaldt, Adam A. 137 Lehmann, Christoph 54–55, 59, 74 Leopold I 126 Lessing, Gotthold Ephraim 38, 184, 272 Limnäus, Johannes 144 Lindener, Michael 62 Luther, Martin 6, 11, 55, 69, 77, 104, 111–112, 194, 204–205, 278, 388 Mancinelli, Gregorio 313 Mantua, Franciscus von 98, 172, 178 Margaritha, Antonius 40, 87, 388 Marlowe, Christoph 273 Menius, Friedrich 272 Montanus, Martin 77 Morhof, Daniel 145 Moschos, Johannes 90 Mouřenín, Tobiáš 79 Müller, Johann Samuel 379 Müller, Philipp 126 Opitz, Martin 309 Oxner, Andreas [Anderl von Rinn] 1–3, 336– 344, 386–387 Parisiensis, Matthäus 90, 94 Pauli, Johannes 57–58, 62, 66–67
Reuter, Christian 373 Riemer, Johannes 62 Rosefeldt, Jacob 74, 273 Rosenplüt, Hans 63 Ross, Alexander 146–147 Roßhirt, Christoph 76–77 Sacchetti, Franco 55 Sachs, Hans 62 Salmon von Bräunlingen 325 Schiebel, Johann Georg 174 Schmidt, Johann 172, 191, 388 Schmidt, Sebastian 147 Schudt, Johann Jacob 105, 155 Schupp, Johann Balthasar 244 Sedelmayer, Roman 320 Sevi, Sabbatai 47, 89, 131–134, 170, 177, 252, 384 Shakespeare, William 74, 273–274, 288, 293 Simon von Trient 1, 320, 337–338, 344 Sinold, Philipp Balthasar, gen. von Schütz 152–153 Talitz von Liechtensee, Johann 60, 64, 80 Templin, Prokop von 83 Thomasius, Christian 186–187 Trautson, Paul Sixt 126 Vecchi, Oratio 313, 365 W., C.A.M. von 44, 50, 54, 58–62, 64, 67, 69, 72, 74, 84 Wagenseil, Johann Christoph 99, 104–105, 155, 173, 331 Wassermann, Jakob 45, 49 Weidemann, Christian Heinrich 363 Weidner, Johann Leonard 53, 59–60, 72, 84 Weingarten, Johann Jacob 331
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Namensregister
Wendower, Roger de 90, 94 Werner von Oberwesel 320 Westphalus, Chrysostomus Dudulaeus 94–95, 97–98, 144 Wickram, Georg 66 Widmann, Georg Rudolf 75, 77 Wolf, Johann Christoph 99 Wolgemuth, Ernst 54, 58, 74, 85
Xanthopvlius, Nicephorus Callistus 323 Zeiller, Martin 86, 144, 167 Zeisseler, Christoph 164 Zincgref, Julius Wilhelm 53, 55, 58–60, 72, 74, 84