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German Pages 319 Year 2009
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 208
„Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts Eine vergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung des römischen, französischen, türkischen und deutschen Rechts
Von
Erol Rudolf Pohlreich
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
EROL RUDOLF POHLREICH
„Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (y) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 208
„Ehrenmorde“ im Wandel des Strafrechts Eine vergleichende Untersuchung unter Berücksichtigung des römischen, französischen, türkischen und deutschen Rechts
Von
Erol Rudolf Pohlreich
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Martin Heger, Berlin Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2009 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-13165-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern Nebahat und Rudolf Pohlreich
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Die Untersuchung einer so facettenreichen aber auch kontroversen Thematik wie derjenigen dieser Untersuchung bedarf besonderen Rückhalts, den ich von vielen Seiten erfahren habe. Es ist mir unmöglich, alle aufzuzählen, denen für Anregungen und Zuspruch zu danken wäre. Schlechterdings unverzichtbar waren und sind dabei aber Freundinnen und Freunde sowie meine Eltern Nebahat und Rudolf Pohlreich, die meinen Werdegang stets liebevoll begleitet und unterstützt haben und denen ich hierfür mit meiner Widmung meinen tiefen Dank aussprechen möchte; Lars Lawenstein hat mich bei meiner Untersuchung bis zum Schluss stets moralisch unterstützt und begleitet. In herzlicher Dankbarkeit verbunden bin ich auch meinem Doktorvater Prof. Dr. Martin Heger, der mich bei meinen Forschungen unermüdlich ermutigt hat. Bedanken möchte ich mich zudem bei Herrn Prof. Dr. Klaus Marxen für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich-Christian Schroeder für die freundliche Aufnahme in diese Schriftenreihe und der Studienstiftung des deutschen Volkes für das Stipendium, das mir Zeit und Raum für meine Untersuchung verschafft hat. Besonders danken möchte ich auch Herrn Priv.-Doz. Rag p Bar s¸ Erman von der juristischen Fakultät der Istanbul Üniversitesi sowie Frau Dr. Demet Is¸ k aus Ankara für die Hilfe bei den Recherchen zur Bestrafung von „Ehrenmorden“ nach geltendem Recht. Julia Pohl hat durch ihre kritischen Hinweise ihren Beitrag dazu geleistet, dass diese Arbeit – wie ich jedenfalls hoffe – lesbar geblieben ist. Bezogen auf den dritten Teil der Arbeit erfuhr ich bei der Umsetzung dieses Anliegens tatkräftige Unterstützung von Julia Brons sowie Dr. Roman Hamel. Berlin, im Mai 2009
Erol Pohlreich
Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
A. Hintergründe und Verbreitung von „Ehrenmorden“ am Beispiel der türkischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I. Der „Ehrenmord“ im türkischen Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
II. Versuch einer Erklärung für die Hintergründe von „Ehrenmorden“ . . . . . . . . . . . . .
40
III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome in mediterranen Strafrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im römischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
II. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im französischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . .
72
III. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ im türkischen Recht . . . . . . . . . . 132 C. Die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach deutschem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 I. Deutsche Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. „Ehrenmorde“ als Tötungen aus niedrigem Beweggrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Namens- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
A. Hintergründe und Verbreitung von „Ehrenmorden“ am Beispiel der türkischen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
I. Der „Ehrenmord“ im türkischen Wertesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1. Der türkische Ehrbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
a) „Namus“ (Ehre), „sayg “ (Achtung) und „s¸eref“ (Würde) . . . . . . . . . . . . . . .
27
b) Aus dem Ehrbegriff abgeleitete Verhaltenserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
aa) Verhaltenserwartungen an Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
bb) Verhaltenserwartungen an Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der „Ehrenmord“ als Mittel zur Wiederherstellung der Ehre . . . (2) Das Spektrum der möglichen Reaktionen auf weibliches Fehlverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Rolle des Familienrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 32 33 35
2. Wandel des Ehrbegriffs und der Verhaltenserwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
II. Versuch einer Erklärung für die Hintergründe von „Ehrenmorden“ . . . . . . . . . . . . .
40
1. Die Hintergründe aus religiöser und islamischrechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . .
41
2. Tötungen im Namen der Ehre in der Türkei in den Jahren 2000 bis 2005 . . .
47
3. Folgen der statistischen Befunde für die Bestimmung der Ursachen . . . . . . . . .
50
III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome in mediterranen Strafrechtsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im römischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
1. Autonomie der familiären Reaktion auf weibliches Sexualverhalten im vorkaiserlichen Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
a) Exklusives Tötungsrecht des Ehemannes und des Vaters . . . . . . . . . . . . . . . .
60
b) Disziplinierung der weiblichen Sexualität durch das iudicium domesticum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
2. Weibliches Sexualverhalten als Gegenstand strafrechtlichen Interesses in der Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
a) Konzentration des umfassenden Tötungsrechts in der Hand des Vaters . .
65
12
Inhaltsverzeichnis b) Gesetzliche Restriktion des Tötungsrechts für den Ehemann . . . . . . . . . . . .
68
c) Anerkennung des Tötungsrechts von Ehemännern unter Iustinian I. . . . . .
70
3. Fazit und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
II. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im französischen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . .
72
1. Das „Crime passionnel“ bis zur Scheidungsrechtsreform von 1975 . . . . . . . . .
79
a) Reichweite des Tötungsprivilegs nach dem Code pénal von 1810 . . . . . . . .
82
aa) Beschränkung der Täterprivilegierung auf Ehemänner . . . . . . . . . . . . .
86
bb) Anforderungen an die Tatsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strafbarer Ehebruch der Ehefrau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Betreffen auf handhafter Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Extensives Verständnis durch Rückgriff auf allgemeine Lebenserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Ausschluss des Mordes aus dem Anwendungsbereich . . . . . . (3) Am ehelichen Wohnsitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88 88 90
b) Privilegierung von „Crimes passionnels“ jenseits des materiellrechtlichen Rahmens und die legislativen Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92 93 95 96
aa) Strafprozessrechtlicher Hintergrund für die strafrichterliche Milde . . 96 (1) Historische Entwicklung des Geschworenensystems . . . . . . . . . . . 100 (2) Umfassende Freiheit der Geschworenen bei der Überzeugungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (3) Legislative Maßnahmen zur Lösung des Problems . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Scheidungsrechtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Gesetzgeberische Reformen zur Stärkung egalitärer Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 a) Gesetzliche Behandlung des „Crime passionnel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Möglichkeiten einer Strafmilderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 bb) Möglichkeiten einer Strafschärfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Zweifel an der richterlichen Gleichbehandlung der Täter eines „Crime passionnel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 aa) Fehlende Neutralität der Berichterstattung über „Crimes passionnels“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 bb) Beispiele aus der Rechtsprechung nach der Scheidungsrechtsreform 123 (1) Berufsrichterliche Behandlung von „Crimes passionnels“ . . . . . 123 (2) Schwurgerichtliche Milde gegenüber „Crimes passionnels“ . . . . 124 cc) Legislativer Handlungsbedarf zur strafrechtlichen Absicherung sexueller Gleichstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Folgen für die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ . . . . . . . . . . . . . 130 III. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ im türkischen Recht . . . . . . . . . . 132 1. Strafrechtliche Milde gegenüber „Ehrenmördern“ von frühosmanischer Zeit bis in die jüngste Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Inhaltsverzeichnis
13
a) Osmanisches Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Rechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ unter Sultan Süleyman I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 bb) Einflüsse französischen Strafrechts auf die Tanzimat-Politik . . . . . . . 143 (1) Die Behandlung von „Ehrenmorden“ nach dem CKH . . . . . . . . . . 144 (2) Akzeptanz und Durchsetzbarkeit des neuen Rechts . . . . . . . . . . . . 148 b) Reichweite der rechtlichen Privilegierung von „Ehrenmorden“ in der Republik Türkei bis zum Jahr 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Besonderer Strafmilderungsgrund der Provokation in Art. 462 exTCK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Personeller Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anforderungen an die Tatsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ehebruch oder unehelicher Geschlechtsverkehr . . . . . . . . . . . . (b) Zeitliche Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158 161 163 164 167
bb) Allgemeiner Strafmilderungsgrund der Provokation nach Art. 51 exTCK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (1) Erweiterung des Unrechtmäßigkeitsmaßstabs auf sittliche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (2) Abgrenzung zwischen einfacher und schwerer Provokation . . . . 174 cc) Reformentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ nach derzeit geltendem türkischem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Allgemeiner Strafmilderungsgrund der Provokation in Art. 29 TCK . . . . . 180 b) Strafschärfungsgrund für Tötungen aus Gründen der Tradition in Art. 82 TCK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 C. Die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach deutschem Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 I. Deutsche Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Historischer Überblick bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs . . . 197 2. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach Inkrafttreten des RStGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 II. „Ehrenmorde“ als Tötungen aus niedrigem Beweggrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen im Rahmen der Gesamtwürdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 a) Voraussetzungen für die Berücksichtigungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 b) Ausufernde Berücksichtigung in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
14
Inhaltsverzeichnis 2. Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen auf subjektiver Seite (Vorsatzlösung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Objektiver Maßstab für die Niedrigkeitsfeststellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b) Subjektive Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Möglichkeit mittelbarer Strafzumessung durch individualisierenden Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 bb) Die subjektiven Anforderungen bei Ausländern im Spiegel der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Auswirkung von Druckmomenten aus dem kulturellen Umfeld (2) Auswirkung der Integriertheit des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Auswirkungen des Heimatstrafrechts des Täters . . . . . . . . . . . . . . .
236 238 241 244
cc) Eingrenzungsansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (1) Eingrenzung durch Rückgriff auf das Heimatstrafrecht . . . . . . . . 245 (2) Eingrenzung durch Rückgriff auf den deutschen ordre public . . 248 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 3. Alternative Lösungswege zur strafrechtlichen Einordnung von „Ehrenmorden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 a) Angloamerikanische Diskussion um die Einführung einer „Cultural Defense“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 aa) Bewältigung kultureller Spannungen durch den Täter . . . . . . . . . . . . . . 253 (1) Ermittlung der Kultur des Täters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 (2) Verhaftetsein des Täters in der Heimatkultur: „inability thesis“ 258 bb) Verhältnis der heimatlichen zur hiesigen Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (1) Fiktion des Täters als in einer statischen und uniformen Kultur Gefangener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 (2) Diametrales Abweichen der fremdkulturellen von den hiesigen Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Diskriminierungsfreie Bestrafung von „Ehrenmorden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 aa) Berücksichtigung abweichenden Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . 276 (1) Fehlen des Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 (2) Unvermeidbarkeit des fehlenden Unrechtsbewusstseins . . . . . . . . 279 bb) Berücksichtigung verminderten Motivationsbeherrschungspotentials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Namens- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
abl.
ablehnend
AD
Adalet Dergisi
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am Ende
ähnl.
ähnlich
ai
Amnesty International
Ann.
Tacitus, Annales
Art.
Artikel
AT
Allgemeiner Teil
Aufl.
Auflage
AYM
Anayasa Mahkemesi (türk. Verfassungsgerichtshof)
Az.
Aktenzeichen
Bay
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BayObLGSt
Sammlung von Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen
Bd.
Band
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHR StGB
BGH-Rechtsprechung in Strafsachen, herausgegeben von den Richtern des Bundesgerichtshofs
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
Bgsch-Dr.
Drucksachen der Bremischen Bürgerschaft
BKA
Bundeskriminalamt
BT
Besonderer Teil
BT-Drucks.
Drucksache des Bundestages
Bull.
Bulletin criminel de la Cour de cassation
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
CA
Cour d’appel
Cass.
Cour de cassation, Chambre criminelle
CCC
Constitutio Criminalis Carolina
CD
Yarg tay Ceza Dairesi (Strafkammer des Yarg tay)
16
Abku¨rzungsverzeichnis
CGK
Yarg tay Ceza Genel Kurulu
Coll.
Collatio legum Mosaicarum et Romanorum, zit. nach FIRA II, 541 ff.
CSSEH
Comparative studies in social and economic history
CPI
Code pénal impérial français
C. Th.
Codex Theodosianus
CUH
Ceza Umumî Heyeti
D.
Digesta Iustiniani
ders.
derselbe
dies.
dieselbe
Dr. pénal
Droit pénal
EGM
Emniyet Genel Müdürlügü (Generaldirektion der Polizeibehörden in der Türkei)
EMC / CV
Echos du monde classique / Classical Views
ENSAE
Ecole nationale de la statistique et de l’administration économique
E/Ö
Erman / Özek
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
exTCK
türkisches Strafgesetzbuch von 1926
FamRZ
Ehe und Familie im privaten und öffentlichen Recht
FAZ
Franfurter Allgemeine Zeitung
FF
Francs français
FIRA
Fontes Ivris Anteivstiani
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GA
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht
Gaz. Pal.
Gazette du Palais
Gell.
Aulus Gellius, Noctes Atticae
HFR
Humboldt Forum Recht
H. M.
His Majesty
Hrsg.
HerausgeberIn
IBD
Istanbul Barosu Dergisi
JA
Juristische Arbeitsblätter für Ausbildung und Examen
JCP
Juris-classeur périodique (Semaine juridique)
JGK
Jandarma Genel Komutanl g (Generaldirektion der Gendarmeriebehörden in der Türkei)
JK
Jura-Rechtsprechungskartei, Beilage der Zeitschrift Juristische Ausbildung
JO
Journal Officiel
Abku¨rzungsverzeichnis
17
JR
Juristische Rundschau
Jura
Juristische Ausbildung
JW
Juristische Wochenschrift
JZ
Juristenzeitung
krit.
kritisch
KSSGM
Kad n n Statüsü ve Sorunlar Genel Mürdürlügü
Liv.
Titus Livius
LK
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch
LM
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs im Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs von Lindenmaier-Möhring
M.
Monsieur
m. Anm.
mit Anmerkung
MDR
Monatsschrift für deutsches Recht
MHD
Mukayeseli Hukuk Aras¸t rmalar Dergisi
MüKo
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NCP
Nouveau Code pénal
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NJW-RR
NJW-Rechtsprechungs-Report
NK
Nomos Kommentar
NKP
Neue Kriminalpolitik
NordÖR
Zeitschrift für Öffentliches Recht in Norddeutschland
Nov.
Novellae Iustiniani
Nr.
Nummer
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NStZ-RR
NStZ-Rechtsprechungs-Report
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NVwZ-RR
NVwZ-Rechtsprechungs-Report
NWVBl
Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen
OLG
Oberlandesgerichts
OVG
Oberverwaltungsgericht
PACS
Pacte civil de solidarité
PKK
Partiya Karkerên Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans)
P. S.
Paulus sententiae, zit. Nach FIRA II, 317 ff.
Rapp.
Rapport
Rev. pénit.
Revue pénitentiaire et de droit pénal
RG
Reichsgericht
18
Abku¨rzungsverzeichnis
RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
Rn.
Randnummer
RS crim.
Revue de science criminelle et de droit pénal comparé
Rspr.
Rechtsprechung
S.
Seite
S. A. S.
Son Altesse Sérénissime
Sem. Jurid.
Semaine juridique
Sir.
Recueil Sirey
SK
Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch
StraFO
Strafverteidigerforum
St. Rspr.
Ständige Rechtsprechung
StV
Strafverteidiger
SZ
Süddeutsche Zeitung
TBBD
Türkiye Barolar Birligi Dergisi
TBMM
Türkische Nationalversammlung (Türkiye Büyük Millet Meclisi)
TCK
Türk Ceza Kanunu
TKarDer
Temyiz Kararlar Dergisi
Trib. corr.
Tribunal correctionnel
UN
Vereinte Nationen (United Nations)
UNDP
Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Programme)
Unesco
United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
UNFPA
Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (United Nations Fund for Population Activities)
v.
von
VG
Verwaltungsgericht
vgl.
vergleiche
Vorbem.
Vorbemerkung
YD
Yarg tay Dergisi
YKD
Yarg tay Kararlar Dergisi
ZDF
Zweites Deutsches Fernsehen
ZGB
Zivilgesetzbuch
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
zust.
zustimmend
Einleitung Als Hatun Aynur Sürücü am 7. Februar 2005 von ihrem Bruder an einer Bushaltestelle in Berlin getötet wurde, war der Begriff „Ehrenmord“1 in Deutschland wohl den Wenigsten geläufig. Mittlerweile dürfte der Begriff aber fast zur Alltagssprache gehören; er hat sogar Eingang in den Duden gefunden. Ursächlich hierfür ist wahrscheinlich, dass „Ehrenmorde“ zu einem zentralen Schlagwort der deutschen Integrationsdebatte, aber auch zu einem Politikum in der Debatte um den möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union geworden sind. Was genau unter dem Begriff „Ehrenmord“ zu verstehen ist, bleibt aber trotz seiner häufigen Verwendung oft unklar. Bisweilen wird der Begriff auch unkorrekt verwendet, indem er mit vorsätzlichen Tötungen in Zusammenhang gebracht wird, die von Tätern mit Migrationshintergrund aus Gründen der Ehre begangen werden.2 Ungeachtet aller Unterschiede im Einzelnen stimmen die bereits unternommenen Definitionsversuche3 insoweit überein, dass nicht jede Tötung aus Gründen der Ehre schon allein deshalb als „Ehrenmord“ zu bezeichnen ist. Vielmehr ist unter dem Begriff die vorsätzliche Tötung eines meist weiblichen Mitglieds4 der Familie des Täters zur Abwendung einer ihm oder seiner Familie drohenden oder bereits zugefügten (vermeintlichen) gesellschaftlichen Herabsetzung durch Verletzung sexueller Verhaltensregeln zu verstehen. Ab wann eine solche Ehrverletzung anzunehmen ist, entzieht sich einer auf eine Formel verkürzten Darlegung. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass dem Begriff des „Ehrenmordes“ eine soziale Zuschreibung aus dem Umfeld des Täters immanent ist. Nicht der Täter kann bestimmen, ob seine Tat als „Ehrenmord“ gilt, sondern nur die gesellschaftliche Billigung der Tat und des in ihr ausgedrückten sexuellen Ehrverständnisses. 1 Der Begriff „Ehrenmord“ ist nichtjuristischen Ursprungs und höchst unglücklich, da er die unzutreffende Annahme nahe legt, es handele sich hierbei um aus ehrenhaften Motiven begangene Morde. Der frühere UN-Generalsekretär Annan bevorzugte daher den Begriff „shame killing“, der auch in einem Antrag der Bundestagsfraktion der CDU / CSU vom 13. November 2001 übersetzt mit „Schande-Morden“ verwendet wurde, BT-Drucks. 14 / 7457. Da diese Formulierung sich nicht durchzusetzen vermochte, wird in dieser Arbeit der Begriff „Ehrenmord“ verwendet, wobei dieser jedoch wegen der aufgezeigten Gründe stets in Anführungszeichen gesetzt wird. 2 Vgl. etwa BGH NStZ 2006, 284. 3 Vgl. etwa Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, BT-Drucks. 15 / 5826, S. 300; BKA, Presseinformation „Ehrenmorde in Deutschland“, S. 3; Dietz, NJW 2006, 1385. 4 Auch ein Mann kann Opfer eines „Ehrenmordes“ sein, etwa wenn er eine Beziehung mit einer verheirateten Frau aufnimmt oder wenn seine homosexuellen Neigungen öffentlich bekannt geworden sind, Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 18 ff.
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Einleitung
Auch die Blutrache ist von Ehrmotiven geleitet. Bei ihr steht jedoch der Gedanke der Vergeltung einer als Ehrverletzung empfundenen vorherigen Tötung einer Person aus dem persönlichen Umfeld des Blutracheübenden im Vordergrund.5 Zudem liegt Blutrachetötungen kein sexuelles Ehrverständnis zugrunde, weswegen sie nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind. Im ersten Teil dieser Arbeit werden die Hintergründe und die Verbreitung von „Ehrenmorden“ am Beispiel der türkischen Kultur zu untersuchen sein. Die strafrechtliche Einordnung von „Ehrenmorden“ setzt eine fundierte Kenntnis der kulturellen Hintergründe voraus, weswegen die soziokulturellen Hintergründe zu erarbeiten sein werden. Ebenso soll der Frage nachgegangen werden, welche Zusammenhänge zwischen „Ehrenmorden“ und dem sunnitischen Islam bestehen. Bislang zu den soziokulturellen Hintergründen vertretene Ansichten in der Literatur stützen sich regelmäßig auf qualitative Empiriestudien. Die Ergebnisse dieser Studien leisten einen Beitrag zur Bestimmung des Inhalts sexualitätsbezogener Verhaltensnormen in der türkischen Gesellschaft und der jeweils drohenden Sanktionen im Falle eines Zuwiderhandelns. Der erste Teil dieser Arbeit beschränkt sich jedoch nicht auf die bloße Darstellung der Ergebnisse veröffentlichter qualitativer Empiriestudien, sondern gleicht diese mit jüngerem statistischem Material zur Prävalenz von „Ehrenmorden“ in der Türkei ab, das in dem Bericht einer Untersuchungskommission des türkischen Parlaments zu „Ehrenmorden“ veröffentlicht wurde. Im Übrigen wird zu erörtern sein, welche Hintergründe es begünstigen, dass eine Familie möglicherweise sogar in einem Familienrat die Tötung eines Mitglieds beschließen kann und hierfür vielfach auf breites Verständnis stößt. Der zweite Abschnitt setzt sich mit der strafrechtlichen Behandlung von „Ehrenmorden“ in mediterranen Strafrechtsordnungen am Beispiel des römischen, des französischen und des türkischen Strafrechts auseinander. Ausgelöst durch die Forschungsarbeiten der Anthropologen Pitt-Rivers und Peristiany verbreitete sich seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Theorie vom „Honour-Shame-Syndrome“, wonach ein patriarchalisches, sexualitätsbezogenes Ehrkonzept den gesamten Mittelmeerraum verbinden soll. Der Frage nach der Richtigkeit dieser Theorie soll hier anhand der genannten mediterranen Strafrechtsordnungen nachgegangen werden. Die Untersuchung wird über eine Betrachtung der Rechtslage nach positivem Recht hinaus auch die Rechtspraxis mit einbeziehen, die vom positiven Recht in Einzelfällen abweichen kann. Dabei wird das Strafrecht in dieser Arbeit nicht als statisches Recht begriffen, also nur die Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt untersucht. Vielmehr analysiert diese Arbeit die Behandlung von „Ehrenmorden“ im Wandel des Strafrechts, das heißt die bisherige geschichtliche Entwicklung, die gegenwärtige Strafrechtslage und -praxis sowie Möglichkeiten einer künftigen Bestrafung de lege lata beziehungsweise de lege ferenda. Da die hierbei zu untersuchenden ausländischen und historischen Rechtsquellen oftmals schwer zugänglich sind, werden sie jeweils wörtlich zitiert und mit einer Übersetzung des Verfas5
Kudlich / Tepe, GA 2008, 92 (94).
Einleitung
21
sers versehen. Nicht vom Verfasser dieser Arbeit stammende Übersetzungen werden unter Nennung des jeweiligen Übersetzers zitiert. Das römische Strafrecht – beginnend mit der Republik hin zur späten Prinzipatszeit – ist nicht nur aufgrund seiner Eigenschaft als Beeinflussungsfaktor für europäische Rechtsordnungen von Interesse. Als mediterrane Rechtsordnung aus vorislamischer Zeit lässt sich hieran verifizieren, ob auch in vorislamischer Zeit Rechtsordnungen eine milde Bestrafung von „Ehrenmorden“ vorsahen; in diesem Fall können die Ursachen für die Strafmilde gegenüber „Ehrenmorden“ in den Rechtsordnungen einiger islamischer Staaten wohl auf Wirkungsfaktoren außerhalb des Islam zurückzuführen sein. Das französische Strafrecht ist aufgrund seiner Eigenschaft als westeuropäische Strafrechtsordnung von Interesse, welche das türkische Strafrecht in spätosmanischer Zeit maßgeblich beeinflusst hat. Zudem existiert in Frankreich ein „Ehrenmorden“ ähnliches Phänomen namens „Crime passionnel“, bei dem der Täter infolge eines Leidenschaftsausbruchs eine Tat begeht und regelmäßig gesellschaftliches Verständnis erwarten kann. Oftmals spielen auch hier sexualitätsbezogene Ehrvorstellungen eine Rolle. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im französischen Strafrecht ist bislang nicht untersucht worden. Das Gleiche gilt für die Bestrafung von „Crimes passionnels“ nach geltendem Recht. Erschwert wird die Untersuchung der geltenden Rechtslage insbesondere dadurch, dass es keine veröffentlichten Gerichtsentscheidungen in diesem Zusammenhang gibt. Soweit veröffentlichte Gerichtsentscheidungen fehlen, werden unveröffentlichte Entscheidungen französischer Schwurgerichte samt der auf den jeweiligen Prozess bezogenen Berichterstattung der französischen Tageszeitung „Le Monde“ ausgewertet, um die aktuelle Rechtspraxis im Umgang mit „Ehrenmorden“ und „Crimes passionnels“ zu bestimmen. Schließlich wird die Bestrafung von „Ehrenmorden“ im türkischen Strafrecht beginnend mit der osmanischen Periode unter der Regentschaft von Sultan Süleyman I. (1520 – 1566) zu untersuchen sein. Inwieweit das formelle osmanische Strafrecht mit der Rechtswirklichkeit übereinstimmte, lässt sich aus heutiger Sicht schwer beurteilen. Daher werden die jeweiligen kaiserlichen Rechtsnormen mit den aus der Praxis stammenden Fetvas (islamischrechtliche Gutachten) abgeglichen und in den Gesamtkontext der jeweils zeitgenössischen osmanischen Strafrechtspflege gestellt, die durch zeitgenössische westliche Beobachter und jüngere Erkenntnisse der türkischen Rechtsgeschichte sowie der Orientalistik dokumentiert ist. Dabei bildet die Untersuchung auch die Entwicklung des osmanischen Strafrechtswesens ab, die in dieser Form noch nirgends dargestellt wird. Von der Auseinandersetzung mit dem osmanischen Strafrecht sind Erkenntnisse für das Verständnis des aktuellen Rechtsrahmens, insbesondere für Besonderheiten von „Ehrenmorden“ wie etwa dem Familienrat zu erwarten. Der rechtliche Rahmen seit Einführung eines rein säkularen Strafrechts durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1926 ist recht gut untersucht, aber hierzulande kaum bekannt. Noch weniger unter-
22
Einleitung
sucht ist dagegen der rechtliche Rahmen seit Inkrafttreten des neuen türkischen Strafgesetzbuchs im Jahr 2005. Gegenstand des dritten Teils der Arbeit ist die Bestrafung von „Ehrenmorden“ nach deutschem Recht einschließlich der entsprechenden rechtshistorischen Betrachtung. Bei der rechtshistorischen Betrachtung steht die Frage im Mittelpunkt, ob die Vorstellung von Ehre und Scham sich nicht auch in der deutschen Rechtsgeschichte nachweisen lässt. Sollte dies der Fall sein, wäre die Theorie des typisch mediterranen Charakters vom Honour-Shame-Syndrome zumindest erschüttert. Die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach geltendem deutschen Strafrecht ist derzeit kaum erforscht, aber vonnöten, da „Ehrenmorde“ ungeachtet ihrer Bezeichnung nicht zwingend als Mord im Sinne von § 211 StGB bestraft werden; nicht selten werden diese Taten von deutschen Gerichten „nur“ als Totschlag geahndet. Stark verkürzt dargestellt besteht das Abgrenzungsproblem hier im Konflikt zwischen Strafgerechtigkeit und der generalpräventiven Funktion des Strafrechts durch Normbestätigung. Die Strafgerechtigkeit scheint den Täter da zu entlasten und gegen eine Verurteilung wegen Mordes zu sprechen, wo hinter der Tat eine Prägung durch seine Heimatkultur steht. Andererseits scheint die generalpräventive Funktion des Strafrechts eher für eine Verurteilung auch fremdkulturell geprägter Täter wegen Mordes zu sprechen, orientiert sich das Strafrecht doch an den Normen der Gesellschaft, deren Rechtsgüter es schützen soll. In Deutschland sind dies klassischerweise die Normen der deutschen Rechts- und Sozialgemeinschaft. Durch die zuwanderungsbedingte kulturelle Vielfalt in der Bundesrepublik stellt sich jedoch die Frage, ob dieses klassische Verständnis aufrechtzuerhalten ist oder sich die kulturelle Vielfalt sich künftig stärker auch im Strafrecht niederschlagen sollte oder gar muss. In der deutschen Strafrechtsliteratur finden sich allerdings Aufsätze, Urteilsanmerkungen oder kurze Passagen in Lehrbüchern und Kommentaren, die zwar in aller Regel Blutrachetötungen betreffen, sich gleichwohl weitgehend auf die hier zu untersuchende Problematik übertragen lassen. Dabei besteht derzeit ein allgemeiner Konsens in Rechtsprechung und Schrifttum dahingehend, dass die fremdkulturelle Motivation einer Tötung bei ihrer strafrechtlichen Einordnung nicht unberücksichtigt bleiben dürfe. Die Selbstverständlichkeit dieser Berücksichtigung soll unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus den ersten beiden Teilen der Arbeit kritisch und ergebnisoffen hinterfragt werden. Möglicherweise ist de lege lata eine unterschiedslose strafrechtliche Beurteilung von Tötungsdelikten jenseits einer Berücksichtigung fremdkultureller Tatmotive durchaus ein gangbarer Weg oder sogar geboten.
A. Hintergründe und Verbreitung von „Ehrenmorden“ am Beispiel der türkischen Kultur „Ehrenmorde“ sind ein weit verbreitetes Phänomen. Schätzungen des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 zufolge fallen jährlich weltweit etwa 5000 Frauen und Mädchen einem Ehrenmord zum Opfer.1 Die UN-Sonderberichterstatterin Asma Jahangir nannte im selben Jahr als betroffene Staaten Bangladesch, Brasilien, Ecuador, Indien, Israel, Jordanien, Italien, Marokko, Pakistan, Schweden, die Türkei, Uganda sowie das Vereinigte Königreich.2 Das Vorkommen von Ehrenmorden beschränkt sich infolgedessen nicht ausschließlich auf das Verbreitungsgebiet des Islam. Umgekehrt kann festgestellt werden, dass sich Ehrenmorde nicht in jedem islamischen Staat ereignen, dort aber freilich verbreiteter sind als in der restlichen Welt. „Ehrenmorde“ werden typischerweise eher in Staaten begangen, in deren Gesellschaft patriarchalische Werte dominieren. Selbst in mehrheitlich islamischen Staaten werden sie auch von den dort ansässigen christlichen Minderheiten verübt. Migrationsbedingt sind derweil aber auch andere Staaten wie Deutschland betroffen. In der deutschen Kriminalstatistik werden „Ehrenmorde“ nicht gesondert erfasst, so dass es hierzulande kaum fundierte Zahlen über ihre Verbreitung gibt. Das Bundeskriminalamt führte zur Ermittlung der Häufigkeit von „Ehrenmorden“ in Deutschland eine Bund-Länderabfrage durch und bezifferte die hierzulande im Zeitraum von 1996 und 2005 begangenen „Ehrenmorde“ auf 55 Fälle.3 Die Aussagekraft dieser Zahl ist jedoch begrenzt, denn zu dem allgemeinen Problem der Kriminalitätsaufklärungsrate und dem Fehlen einer allgemein anerkannten Begriffsdefinition tritt noch hinzu, dass „Ehrenmorde“ oft schwer als solche zu erkennen sind und deutsche Polizeibeamte daher über Kenntnisse der entsprechenden 1 UNFPA, Weltbevölkerungsbericht 2000, http: // www.unfpa.org / swp / 2000 / english / ch03.html (abgerufen am 5. 5. 2009). Die genaue Bezifferung der jährlichen „Ehrenmordfälle“ ist indes unmöglich. Grund hierfür sind die Eigenheiten der nationalen Ermittlungs- und Strafverfahren. Ferner ist die Beweisführung schwierig, weil „Ehrenmorde“ regelmäßig im familiären Umfeld begangen werden. Als Zeugen stehen häufig nur Verwandte zur Verfügung, denen ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. Aus eigener Todesangst oder der Befürchtung, durch eine Aussage der Familienehre noch mehr Schande zuzufügen, äußern sich Verwandte oft nicht zum Sachverhalt. Die Dunkelziffer dürfte zudem um ein Vielfaches höher liegen, da zum einen diese Verbrechen in einigen Ländern auf soziale Akzeptanz stoßen und zum anderen viele Fälle aus unterschiedlichen Gründen gar nicht erst vor Gericht verhandelt werden. 2 UN doc. E / CN.4 / 2000 / 3, (Report 2000), Paragraph 78. 3 BKA, Presseinformation „Ehrenmorde in Deutschland“, S. 9.
24
A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
kulturellen Hintergründe verfügen müssen, um eine Tat als „Ehrenmord“ einzuordnen. Nicht selten werden die Opfer von der ganzen Familie wochenlang ohne Nahrung in ein Zimmer mit einem Stuhl und einem Strick eingesperrt und zum Selbstmord genötigt, um ihren Tod als Unglücksfall erscheinen zu lassen.4 Außerdem sind in insbesondere ländlichen Regionen einiger Staaten Mädchen und Frauen nicht zwingend im Geburtenregister verzeichnet, weswegen ihr „Verschwinden“ nicht unbedingt auffällt.5 Bezifferungen von „Ehrenmorden“ können daher meist nur Vermutungen oder Tendenzen ausdrücken. Aussagekräftig sind bestenfalls Zahlen aus Staaten, in denen „Ehrenmorde“ in den offiziellen Kriminalstatistiken separat aufgeführt sind. Freilich betreffen diese gesondert aufgeführten Zahlen naturgemäß auch dort nur das Hellfeld der „Ehrenmordkriminalität“. Darüber hinaus können die Zahlen auch deshalb trügen, weil auf den ersten Blick als „Ehrenmord“ erscheinende Tötungen in Wirklichkeit aus wirtschaftlichen Gründen begangen werden, etwa aufgrund der Verweigerung eines Erbteils oder aufgrund der Weigerung eines weiblichen Familienmitglieds, auf ihr Erbe zu verzichten.6 Bezüglich der Türkei wird berichtet, dass zur Zeit der Geltung einer Privilegierungsnorm für „Ehrenmorde“ einige Ehemänner einen Mann dazu bestimmten, sich in das eheliche Schlafzimmer zu begeben, um die scheidungsunwillige Ehefrau unter dem Vorwand des Ehebruchs erschießen zu können.7 Derlei Tötungen werden als „fake honour killings“ bezeichnet, also als „falscher Ehrenmord“.8 Die Art und Weise der Begehung eines „Ehrenmordes“ variiert von Staat zu Staat. Es wird zum Beispiel darüber berichtet, dass bei „Ehrenmorden“ in Indien nicht selten die Frau mit Kerosin übergossen und im Anschluss verbrannt wird. Die anschließende Ausrede, die Frau sei bei einem „Unfall in der Küche gestorben“, ist dort weit verbreitet.9 Aber auch wie die betroffenen Staaten mit „Ehrenmorden“ umgehen, ist höchst unterschiedlich. Die staatlichen Reaktionen reichen von fehlender10 oder extrem milder Bestrafung der Täter bis hin zu teilweise verzweifelten wie erschreckenden Maßnahmen. So werden in Jordanien, Marokko und Syrien bedrohte Frauen jahrelang in Gefängnissen untergebracht, um sie vor „Eh4 Böhmecke, Studie: Ehrenmord, S. 3; Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 5. Im Durchschnitt begehen Männer in der Türkei doppelt so oft Selbstmord wie Frauen. In von Ehrenmorden besonders betroffenen Regionen wie Diyarbakir ist die Selbstmordrate bei Frauen demgegenüber doppelt so hoch wie bei Männern, Hakeri, Kasten Öldürme, S. 253 m. w. N. 5 Grundhöfer, Honour Crimes in Jordanien, S. 3 ff. 6 Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 9 m. w. N. 7 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 110. 8 Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 9. 9 TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 144. 10 Nach pakistanischem Recht kann von Strafe abgesehen werden, wenn die Hinterbliebenen des Opfers dem Täter verzeihen, ai-Jahresbericht 2005, Pakistan. Auch nach Art. 340 des jordanischen StGB kann der Täter eines Ehrenmordes völlig straffrei ausgehen, Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Verbrechen im Namen der Ehre. Konferenzbericht, 2005, Bonn, S. 5.
I. Der „Ehrenmord“ im tu¨rkischen Wertesystem
25
renmorden“ zu bewahren.11 Weil es dort keine Frauenhäuser gibt, suchen Berichten von Nichtregierungsorganisationen zufolge in Jordanien jährlich über 40 Frauen in Gefängnissen Zuflucht. Einige verbringen dort viele Jahre in „Schutzhaft“, ohne frei über das Verlassen des Gefängnisses selbst entscheiden zu dürfen. Ihre „Schutzhaft“ dauert an, bis sie von einem männlichen Verwandten abgeholt werden, was jedoch für sie häufig den sicheren Tod bedeutet.12 Erfreulich ist demgegenüber, dass immer mehr Menschen in vielen von „Ehrenmorden“ betroffenen Ländern in den vergangenen Jahren zunehmend bewusst wird, dass „Ehrenmorde“ ein zu bekämpfendes soziales Problem darstellen. Dies ist vor allem der Verdienst internationaler und nationaler Menschenrechtsorganisationen, deren Arbeit in diesem Bereich nicht hoch genug einzuschätzt werden kann. Denn ihre Arbeit förderte als Hauptursache das wachsende Bewusstsein der Öffentlichkeit für das Ausmaß und den Inhalt des „Ehrenmordproblems“ und ist hilfreich bei der Suche nach den Ursachen für die Begehung von „Ehrenmorden“. Hinzu kommt ein wachsendes wissenschaftliches Engagement in der Materie. Aus praktischen Gründen ist es angesichts der Vielzahl der betroffenen Staaten in dieser Untersuchung nicht möglich, die Erscheinungsformen von „Ehrenmorden“ samt ihren Ursachen und den entsprechenden Umgang der Gesellschaften mit „Ehrenmorden“ vollumfänglich zu berücksichtigen. Um der Gefahr einer zu oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des „Ehrenmordes“ zu entgehen, beschränkt sich die Untersuchung der soziokulturellen Hintergründe auf die türkische Gesellschaft. Die „Tradition“ des „Ehrenmordes“ soll in diesem Abschnitt der Untersuchung am Beispiel der Türkei in den kulturellen Kontext eingebettet werden. Denn Türkinnen und Türken stellen mit rund 1,8 Millionen Bürgern die größte Gruppe der in Deutschland lebenden rund 7 Millionen Bürger mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Damit bilden Türkinnen und Türken zugleich die größte Gruppe der in Deutschland lebenden Ausländer, in deren Kultur sich „Ehrenmorde“ ereignen.
I. Der „Ehrenmord“ im türkischen Wertesystem Dass selbst in der westlich orientierten und nach einer Aufnahme in den Kreis der Mitgliedstaaten der Europäischen Union strebenden Türkei archaische Verhaltensmuster wie „Ehrenmorde“ noch immer lebendig sind, ist ein bedrückender Befund. In der Türkei werden diese Verbrechen meist synonym als „namus cinayeti“ (Ehrenmord) und als „töre cinayeti“ (Sittenmord) bezeichnet. In diesem Abschnitt der Untersuchung werden wir uns den sakulär-kulturellen sowie den religiösen Hintergründen zuwenden. Denn für ein Verständnis des „Ehrenmordphänomens“ ist es geboten, die von unserem Verständnis abweichende türkische Vorstellung 11 12
TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 145. Böhmecke, Studie: Ehrenmord, S. 8 m. w. N.
26
A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
von Ehre zu beleuchten. Das türkische Ehrverständnis unterscheidet sich von dem deutschen etwa darin, dass aus ihm konkrete Verhaltenserwartungen an das Individuum erwachsen. Die im Folgenden näher zu untersuchenden Verhaltenserwartungen sind von einer streng patriarchalischen Mentalität geprägt. Diese Mentalität stößt zunehmend – sowohl was die Türken in der Türkei als auch türkischstämmige Bürger der Bundesrepublik angeht – auf eine mehr oder weniger egalitaristische und fortschrittliche Leistungsgesellschaft. Die hiermit verbundenen Vorstellungen sind mit patriarchalischen Wertvorstellungen, die letztlich hinter dem „Ehrenmord“ stehen, nicht vereinbar. Daher fragt sich, welche Folgen das Aufeinanderstoßen dieser komplementären Anschauungen für den Stellenwert und den Inhalt des Werts der Ehre sowie der damit verbundenen Verhaltenserwartungen hat. Vor der Betrachtung des türkischen Ehrverständnisses sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Verallgemeinerungen im Hinblick auf Wertvorstellungen stets problematisch sind. Die Darstellung des hinter „Ehrenmorden“ stehenden kulturellen Weltbildes erfordert wie die Darstellung jeden Weltbildes mehr oder weniger erhebliche Komplexitätsreduktionen. Dies betrifft vor allem die Frage, ob und mit welcher Schärfe eine Familie auf Normverstöße durch ihre weiblichen Mitglieder reagiert. Hier bestehen teilweise erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Beurteilung, ob ein solcher Normverstoß erheblich, das heißt tötungswürdig ist. Nichtsdestoweniger berufen sich alle Befürworter von „Ehrenmorden“ – hierzulande wie auch in der Türkei – auf ein Weltbild, das demjenigen anderer Befürworter stark ähnelt. Auch ist zu betonen, dass die nachfolgenden Ausführungen nur den Teil der türkischen Gesellschaft dort wie hierzulande betreffen, der sich streng patriarchalischen Anschauungen verbunden fühlt. Keineswegs sollte der Eindruck entstehen, die Mehrheit der türkischen Bevölkerung würde alle Vorstellungen, die in den nachfolgenden Abschnitten dargestellt werden, teilen. Die Erläuterungen zum traditionellen, streng patriarchalischen Ehrbegriff und den damit verbundenen Verhaltenserwartungen betreffen den Teil der türkischen Gesellschaft, bei dem „Ehrenmorde“ nicht unwahrscheinlich sind. Zudem handelt es sich um diejenigen Wertvorstellungen, auf die sich die Täter oft berufen und mit denen sie ihr Handeln zu erklären versuchen.
1. Der türkische Ehrbegriff Der Begriff der Ehre nimmt in der türkischen Kultur einen zentralen Platz ein. Er bestimmt nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland das Zusammenleben vieler türkischer Familien. Dieser Ehrbegriff unterscheidet sich grundlegend von dem Ehrbegriff in der westlichen Kultur und damit auch dem des deutschen Strafrechts. In der westlichen Kultur bezieht sich die Ehre im Allgemeinen auf ein Individuum.13 Entsprechend versteht auch das deutsche Recht unter Ehre ein personales Rechtsgut, das untrennbar mit dem sozialen Achtungsanspruch und der
I. Der „Ehrenmord“ im tu¨rkischen Wertesystem
27
persönlichen Würde des individuellen Menschen verbunden ist, solange dieser Achtungsanspruch nicht vom Ehrträger selbst gemindert wurde.14 Verletzt werden können Einzelne, aber auch Angehörige einer Personenmehrheit unter einer Kollektivbezeichnung.15 Die Beleidigungsfähigkeit von Personenmehrheiten wird dabei aus ihrem Recht aus § 194 Abs. 3 S. 2 und 3 StGB, einen Strafantrag zu stellen, gefolgert.16 Dabei soll die Beleidigungsfähigkeit sich nicht auf die dort erwähnten Personenmehrheiten beschränken. Eine Kollektivehre haben vielmehr alle zahlenmäßig bestimmbaren Personenmehrheiten mit einheitlicher Willensbildung und sozialer Zweckrichtung.17 Da es aber hier an einer einheitlichen Willensbildung fehlt, ist die Familienehre als solche durch die §§ 185 ff. StGB nicht geschützt.18 Auf das engste mit dem hiervon unterschiedlichen türkischen Ehrbegriff („namus“) verknüpft sind die Begriffe „sayg “ (Achtung) und „s¸eref“ (Würde), die in dieser Untersuchung Berücksichtigung finden müssen. Diesen drei zentralen Begriffen der türkischen Kultur ist gemeinsam, dass sie nicht nur Rechtsgüter des jeweiligen Trägers, sondern auch den Beurteilungsmaßstab für Personen und ihr Handeln darstellen. Das Zusammenspiel dieser drei Konzepte ist der Schlüssel für das gesellschaftliche Ansehen einer türkischen Familie.
a) „Namus“ (Ehre), „sayg “ (Achtung) und „s¸eref“ (Würde) Im patriarchalischen Wertesystem kommt nur dem Mann und zwar schon aufgrund seines Geschlechts ein hoher Geltungsanspruch zu; diese Ehre („namus“) kann also nicht erworben, sondern nur verteidigt oder verloren werden. Zugleich hängt die Ehre des Mannes jedoch nicht zuletzt auch vom in sexueller Hinsicht normgerechten Verhalten seiner weiblichen Familienmitglieder ab.19 Denn in einer Gesellschaft, in der sich eine Person durch ihre Mitgliedschaft in ihrer Familie definiert, wird ihr Verhalten stets in Bezug auf die Familie bewertet.20 Verstoßen 13 Die bekannteste anthropologische Definition von Ehre in der westlichen Kultur liefert uns Pitt-Rivers, Honour and Social Status, 22: „Honour ist the value of a person in his own eyes, but also in the eyes of his society. It is his estimation of his own worth, his claim to pride, but it is also the acknowledgement of that claim, his excellence recognised by society, his right to pride.“ 14 Vgl. BGHSt 11, 70 f.; LK-Herdegen, vor § 185 Rn. 4 ff. 15 St. Rspr. seit RGSt 70, 140. 16 Fischer, JZ 1990, 68 ff.; Wessels / Hettinger, BT I, Rn. 468; BVerfG NJW 1995, 3303 (3304); abl. NK-Zaczyk, vor § 185 Rn. 12. 17 Rengier, BT II, § 28 Rn. 9. 18 RGSt 70, 248; BGH NJW 1961, 531; BayObLGSt 1986, 92; Lackner / Kühl, Vor § 185 Rn. 5; S / S-Lencker, Vorbem. §§ 185 ff. Rn. 4; SK-Rudolphi, Vor § 185 Rn. 37; NK-Zaczyk, Vor §§ 185 ff. Rn. 13; Fischer, Vor § 185 Rn. 11a; Geppert, Jura 2005, 244 (245); a.A. Mezger, JZ 1951, 522; Welzel, MDR 1951, 500 (502). 19 Ilkkaracan, Islam and Women’s Sexuality: A Research Report from Turkey, S. 9. 20 Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 16.
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
weibliche Familienmitglieder gegen die sie betreffenden Verhaltensnormen, ist die Ehre der männlichen Haushaltsmitglieder und folglich die der ganzen Familie verletzt. Als Familienoberhaupt ist der Mann, notfalls mit Gewalt, zur Wiederherstellung der Familienehre verpflichtet.21 Die betroffene Frau jedoch verliert durch ihr Fehlverhalten ihre Ehre für immer ohne jede Möglichkeit, diese wiederzugewinnen, und hat mithin einen schlechten Ruf in ihrem sozialen Umfeld.22 Die Achtung („sayg “) bestimmt das Verhältnis zwischen Älteren und Jüngeren, wobei sie den erstgenannten berechtigt und den letztgenannten verpflichtet. Sie äußert sich in verschiedenen formalisierten Verhaltensweisen. So beinhaltet sie das Verbot für den Jüngeren, gegenüber dem Älteren zu rauchen oder ihm zu widersprechen. Auch hat sich der Jüngere zu erheben, wenn eine ältere Person den Raum betritt. In der Einhaltung dieser formellen Regeln äußern die Jüngeren den Älteren gegenüber ihren Respekt. Verstoßen die Jüngeren gegen diese Regeln, liegt für den außenstehenden Beobachter der Verdacht fehlender Autorität des Älteren nahe. Daher obliegt es vor allem dem Vater als Vorstand des Haushaltes, seine Autorität dadurch zu wahren, dass er das normgerechte Verhalten der jüngeren Familienmitglieder durch Kontrolle und notfalls mit Strafe abverlangt.23 Mit der Würde („s¸eref“) ist der gesellschaftliche Achtungsanspruch des Einzelnen oder der Familie gemeint.24 Auch die vom Würdebegriff ausgehenden Verhaltenserwartungen orientieren sich am Geschlecht der jeweiligen Person. Demnach verhält sich ein Mann wie ein würdevoller Mann, wenn er auf die sexuelle Zurückhaltung seiner weiblichen Familienmitglieder wert legt. Auf diese Weise schützt der Mann sowohl die eigene als auch die Familienehre und sichert so einen Zuwachs der gesellschaftlichen Achtung für die Familie.25 Anders als vereinzelt behauptet,26 wirkt sich der Verlust der individuellen Würde zwangsläufig negativ auf die übrigen Familienmitglieder aus.27
b) Aus dem Ehrbegriff abgeleitete Verhaltenserwartungen In einer pluralistischen Kultur wie der westlichen koexistieren zeitgleich verschiedenste Wertanschauungen mit den unterschiedlichsten Hintergründen. In diesem Raum können soziale Werte und die daraus erwachsenden Normen immer wieder in Frage gestellt werden. Wegen der hieraus folgenden Freiheit jedes Einzelnen, Werte für sich zu definieren, werden dem Begriff „Ehre“ vielfältige Bedeu21 22 23 24 25 26 27
Böhmecke, Tatmotiv Ehre, S. 11. Pfluger-Schindlbeck, „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren“, S. 37. Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 23. Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 10. Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 11. Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 24. Ergil, Türkiye’de Terör ve S¸iddet, S. 197; Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 11.
I. Der „Ehrenmord“ im tu¨rkischen Wertesystem
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tungen zugeschrieben, so dass hieraus nur bedingt konkrete und allgemein verbindliche Verhaltenserwartungen abgeleitet werden können. Einer Person wird Ehre zugeschrieben, wenn sie ihr Verhalten an bestimmten moralischen Tugenden orientiert. Die in einer pluralistischen Gesellschaft naturgemäß auftretenden Unterschiede, was als tugendhaft angesehen wird, führen dazu, dass hiermit korrespondierend auch die Frage nach dem Inhalt des Ehrbegriffs unterschiedlich beantwortet wird. Wer die Teilnahme an einem Krieg als tugendhaft ansieht, wird den im Krieg erlittenen Tod eines für seine Seite kämpfenden Soldaten als „ehrenhaft“ bezeichnen. Die Bezeichnung dieses Todes als „ehrenhaft“ würde indessen demjenigen fern liegen, der diesen Krieg oder Kriege im Allgemeinen ablehnt. Das Worte „Ehre“ im Kontext mit Kriegen zu verwenden drückt zugleich eine positive Haltung der jeweiligen Person zum Krieg aus, sie verleiht damit implizit dem Krieg und der Teilnahme an diesem das Attribut der Tugendhaftigkeit. Das Vorhandensein und das Ausmaß der Ehre eines Einzelnen sind wegen dieser Abhängigkeit von subjektiven moralischen Verhaltensbeurteilungen in der westlichen Welt jedenfalls objektiv nicht messbar. Demgegenüber determiniert der traditionelle türkische Ehrbegriff sehr konkrete, und zwar geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen an Mann und Frau.28 Anders als in der modernen westlichen Kultur sind dort dem Einzelnen seine sozialen und ökonomischen Aufgaben durch sein Geschlecht und seine Hierarchie in der Familie vorgegeben, ohne im Einzelfall hinterfragt zu werden.29 Die Verhaltenserwartungen lassen sich am besten an der Trennung zwischen einem familiären „inneren“ und dem öffentlichen „äußeren“ Lebensbereich illustrieren.30 Dabei kann dem inneren Bereich die Frau und dem äußeren Bereich der Mann zugeordnet werden. aa) Verhaltenserwartungen an Frauen Die Frau hat sich nach den traditionellen Ehrvorstellungen um den privaten Bereich zu kümmern. Eine wissenschaftliche Umfrage mit 336 Männern und 94 Frauen aus Südostanatolien im Auftrag der türkischen Frauenrechtsorganisation KAMER31 sollte ermitteln, welche Verhaltenserwartungen im Einzelnen mit dem Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 10. Kelek, Fremde Braut, S. 153. 30 Diese Trennung ist nicht nur abstrakt, sondern im Gegenteil beispielsweise in der osmanischen Architektur sehr konkret. So bestehen etwa die Paläste osmanischer Sultane stets aus dem für alle grundsätzlich zugänglichen („äußeren“) Selaml k und dem für andere Männer als dem Sultan verschlossenen („inneren“) Harem. 31 Vgl. TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 145 f. Die Studie ist zwar nicht repräsentativ und daher in ihrer Aussagekraft begrenzt. Zudem wird die Umfrage insofern in ihrer Aussagekraft eingeschränkt, als weitaus mehr Männer als Frauen befragt wurden und sie daher kein umfassendes Bild hinichtlich der Haltung der gesamten ostanatolischen Bevölkerung 28 29
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
Ehrbegriff (Namus) verbunden sind. Auf die Frage wurden folgende Antworten gegeben: Frauen haben sich tugendhaft zu verhalten, ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe zu bewahren, Höflichkeitsformen zu beachten, die Würde des Mannes zu achten und ihm gegenüber ergeben zu sein sowie religiöse Gebote zu befolgen. Als unehrenhaft gilt der Verlust der Jungfräulichkeit vor der Ehe, das Ansprechen von Männern, das Fortbewegen ohne Begleitung, verliebt zu sein, einen von der Familie unerwünschten Mann heiraten zu wollen, ohne Erlaubnis das Haus zu verlassen, ein Seitensprung, durch sein Verhalten Anlass zu Gerüchten zu geben sowie verbale Frechheiten. Als Mädchen soll sie vor allem ihre Jungfräulichkeit vor der Ehe wahren, als Frau soll sie keine außerehelichen Beziehungen unterhalten. Die Verhaltenserwartungen gehen dabei so weit, dass Frauen – etwa durch Bekleidung oder ihr Verhalten in der Öffentlichkeit – nicht auch nur den kleinsten Zweifel an ihrem normgemäßen und damit ehrenhaften Verhalten aufkommen lassen dürfen. Die Schwelle zum Normbruch ist für Frauen also sehr niedrig; eine Frau kann nach diesen streng patriarchalisch geprägten Vorstellungen einen Normbruch begehen, indem sie das Eingehen einer Zwangsehe ablehnt, aus welchem Grund auch immer die Scheidung verlangt oder Ehebruch begeht. Ob der Ehebruch oder der Verlust der Jungfräulichkeit auf der freien Entscheidung der betroffenen Frau beruht, ist irrelevant. Es reicht auch schon, Opfer eines Sexualdelikts zu sein, da für die Ehrverteidigung belanglos ist, ob die Ehrverletzung an dem oder durch das Familienmitglied verübt wurde.32 Es wird von Tötungen von Frauen und Mädchen berichtet, mit denen die Täter eine Vergewaltigung oder Inzest vertuschen wollen. Da die Eigenschaft eines weiblichen Familienmitgliedes als Opfer einer Vergewaltigung oder eines Inzests der Familienehre oder der Ehre des jeweiligen Mannes Schaden zufügen könnte, soll mit der Tötung verhindert werden, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Oftmals wird nicht der Vergewaltiger für die Vergewaltigung oder den Inzest verantwortlich gemacht, sondern das Opfer, welches den Täter angeblich hierzu „provoziert“ hat.33 Ein Normbruch wird auch angenommen, wenn eine geschiedene Frau eine neue Beziehung eingeht.34 Jüngst wurde eine Frau getötet, weil sie sich im Radio ein Liebeslied gewünscht hatte; auch das Tragen von Hosen oder ein Kinobesuch können inzwischen einen Normbruch darstellen.35 Es ist daher zu bezum ehrenhaften Verhalten von Frauen bietet. Jedoch soll sie hier nicht verschwiegen werden, weil in ihr zumindest Tendenzen in dieser Frage zum Ausdruck kommen. 32 Anfang März 2004 ermordeten zwei Brüder ihre Schwester im Krankenhaus, wo sie nach einer Vergewaltigung ein Kind zur Welt gebracht hatte, vgl. Schlötzer, Eine Kugel für die Ehre, SZ v. 2. März 2004. 33 Böhmecke, Studie: Ehrenmord, S. 6. 34 Hintergrund ist möglicherweise, dass sich nach dem Koran nur ein Mann von seiner Frau scheiden lassen kann; die Frau kann sich nur mit dem Einverständnis des Ehemannes von ihm loskaufen, vgl. Sure 2, Vers 38. 35 UNDP / UNFPA, The Dynamics of Honor Killings in Turkey, S. 17, abrufbar unter http: / / www.unfpa.org.tr / turkey / HonorKillingsReport.pdf (abgerufen am 5. 5. 2009).
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obachten, dass Frauen immer öfter wegen selbst nach traditionellen türkischen Anschauungen absurder Vorwürfe getötet werden, die sich mit dem Ehrkonzept eigentlich nicht mehr vereinbaren lassen. Die dargestellten Verhaltenserwartungen beschränken sich nicht auf bildungsferne Bevölkerungsschichten. Eine im Jahr 2000 an der Universität Konya durchgeführte Studie ergab, dass 50% der Studenten eine nichtjungfräuliche zukünftige Braut ablehnen würden.36 Einer Befragung von Studenten in Ankara zufolge denken 40 bis 50 Prozent der männlichen sowie 18 bis 36 Prozent der weiblichen Studenten, dass eine Frau zum Zeitpunkt der Eheschließung noch Jungfrau sein sollte.37 Sicher findet die Vorstellung der Jungfräulichkeit vor der Eheschließung auch in westlichen Gesellschaften wieder wachsenden Widerhall, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Dort betrifft diese Erwartung in den einschlägigen gesellschaftlichen Kreisen jedoch gleichermaßen Männer wie Frauen, wohingegen sich die Erwartung vorehelicher Keuschheit in traditionellen türkischen Kreisen verstärkt an Frauen richtet. Es wird deutlich, dass die aus dem klassischen Ehrverständnis abgeleitete Verhaltenserwartungen an Frauen ungemein repressiv sind. bb) Verhaltenserwartungen an Männer Von Männern wird nach dem patriarchalischen Ehrverständnis nicht die Bewahrung sexueller Reinheit verlangt, so dass die Untreue des Mannes regelmäßig keine Auswirkungen auf die Familienehre oder gar die Ehre der Frau hat.38 Aufgabe des Mannes ist es dagegen, die Mitglieder seines Haushaltes zu versorgen und als Vertreter der Familie nach Außen ihr normgerechtes Verhalten zu garantieren. Er hat den inneren Bereich vor Verletzungen durch einen Außenstehenden zu schützen. Der mögliche Ehrverlust erfolgt dann jedoch nicht etwa durch den Angriff seitens des Außenstehenden an sich, sondern durch die versäumte Verteidigung. Dabei muss die Reaktion unmittelbar auf die Ehrverletzung folgen. Ehrkonflikte zeichnen sich nicht durch lang andauernde Streitigkeiten oder jahrelange Misshandlungen aus;39 vielmehr erweist sich ein Mann nur durch besonders schnelles, verantwortungsvolles, verteidigungsbereites Reagieren als ehrenwert.40
36 Amnesty International, Turkey: women confronting family violence, S. 15; diesbezüglich ist indes anzumerken, dass Konya in der Türkei als Hochburg des traditionellen Islam gilt. 37 Die Untersuchung wurde vom Fachbereich für Sozialanthropologie der Universität Ankara durchgeführt, vgl. Amnesty International: women confronting family violence, S. 15. 38 BKA, Presseinformation „Ehrenmorde in Deutschland“, S. 5; Pfluger-Schindlbeck, „Achte die Älteren, liebe die Jüngeren“, S. 43. 39 Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 61. 40 Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 18.
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(1) Der „Ehrenmord“ als Mittel zur Wiederherstellung der Ehre In ihrem Bericht über Tötungsdelikte im Namen der Ehre veröffentlichte die am 11. Oktober 2005 von der türkischen Nationalversammlung eingesetzte Untersuchungskommission erstmals statistisches Datenmaterial über Tötungen im Namen der Ehre, wobei allerdings leider nicht zwischen „namus cinayeti“ und „töre cinayeti“ unterschieden wurde. Gleichwohl ist das von der Generaldirektion der Polizeibehörden (EGM)41 sowie der Generaldirektion der Gendarmeriebehörden (JGK)42 bezogen auf den Zeitraum zwischen den Jahren 2000 und 2005 ermittelte Datenmaterial aufschlussreich für die Untersuchung von „Ehrenmorden“, zumal zuvor die Angaben über die Häufigkeit von Tötungen im Namen der Ehre in der Türkei eher spekulativ oder unvollständig waren.43 Insgesamt stellte die EGM bezogen auf den Untersuchungszeitraum 1091 Tötungen im Namen der Ehre fest. Dabei stehen 1413 männlichen Tatverdächtigen gerade einmal 180 weibliche Tatverdächtige gegenüber, was belegt, dass die Begehung einer Tötung im Namen der Ehre typischerweise eine Männerangelegenheit ist. Das Opfer hingegen ist dabei nicht notwendigerweise eine Frau. Zwar wurde oben der „Ehrenmord“ grundsätzlich als Tötung einer Frau verstanden. Besteht aber etwa die Normverletzung darin, dass ein weibliches Familienmitglied eine Beziehung zu einem Mann unterhält, ohne mit ihm verheiratet zu sein oder das entsprechende Einverständnis seitens der eigenen Familie zu haben, kommt auch eine Tötung des Mannes oder gar beider in Frage. Ist dies nicht möglich, zum Beispiel weil das Paar spurlos verschwunden ist, wird teilweise auf ein anderes männliches Familienmitglied des Mannes, etwa den Bruder, zurückgegriffen.44 Die Tötung des „technisch gesehen“ unbeteiligten Bruders ist nur zu verstehen, wenn man das oben bereits dargestellte Familienverständnis in der streng patriarchalischen Wertewelt begreift. Da das Fehlverhalten des Einzelnen Auswirkungen auf die gesamte Familie hat, wird selbst der formal betrachtet unbeteiligte Bruder als Beteiligter am Normverstoß angesehen. Es ist anzunehmen, dass ein „Ehrenmord“ mit dem streng patriarchalischen türkischen Ehrkonzept nur dann vereinbar ist, wenn er in direktem zeitlichen Zusammenhang mit der Kenntnisnahme von dem weiblichen Fehlverhalten steht. Hierfür spricht insbesondere die diesem Ehrkonzept Rechnung tragende Vorschrift Emniyet Genel Müdürlügü. Jandarma Genel Komutanl g . 43 In der ZDF-Sendung „Mona-Lisa“ vom 23. September 2004 war von etwa 200 Ehrenmordopfern pro Jahr die Rede, wobei von einer drei- bis vierfach höheren Dunkelziffer auszugehen sei. Die türkische Frauenrechtsorganisation KAMER bezifferte die Zahl der Selbstmorde in der Stadt Batman in den Jahren 2002 bis 2004, hinter denen ein Ehrenmord zu vermuten sei, auf 82 Fälle. Dem Auswärtigen Amt war eine statistische Erfassung der Ehrenmordkriminalität nie gelungen. Zu den entsprechenden Nachweisen siehe Thalheimer, Einzelentscheider Brief 6 / 05. 44 UNDP / UNFPA, The Dynamics of Honor Killings in Turkey, S. 31. 41 42
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des Art. 462 Abs. 1 des türkischen Straftgesetzbuches a.F., der inzwischen außer Kraft gesetzt wurde. Nach dieser Vorschrift wurde der Täter eines „Ehrenmordes“ erheblich privilegiert, wenn er seine Tat in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Normverstoß eines weiblichen Familienmitglieds begangen hat. Ein „Ehrenmord“ ist damit selbst nach traditionellem Verständnis kein Mittel zur Lösung von Langzeitkonflikten. Er richtet sich nicht lediglich an das vermeintlich schandebringende Familienmitglied; im Sinne einer negativ präventiven Wirkung stellt er zugleich eine Botschaft an alle dar, die sich überlegen, die patriarchalischen Strukturen zu überwinden.45 Er ist also letztlich ein Druckmittel zur Durchsetzung einer patriarchalisch orientierten Sexualmoral. (2) Das Spektrum der möglichen Reaktionen auf weibliches Fehlverhalten In den deutschen Medien wird vereinzelt der Eindruck erweckt, „Ehrenmorde“ seien die einzig denkbare Reaktion auf weibliche Normverstöße. Auch wird mit Berichten von sozialem Druck der türkischen Gesellschaft, der auf männliche Verwandte einer sich „unehrenhaft“ verhaltenden Frau lasten soll, suggeriert, diesen Männern böte sich keine Alternative zum „Ehrenmord“. Dies betrifft die Darstellung des sozialen Drucks hierzulande wie in der Türkei. So wird beispielsweise ein ehemaliger Streetworker aus Kreuzberg mit folgenden Worten zitiert: „Männer, die wegen einer ungehorsamen Tochter oder Schwester in den Augen der anderen ihre Ehre verloren haben, werden in Teestuben nur widerwillig bedient. Man winkt ab, wenn sie etwas sagen. Sie sind Dreck.“46 In der Tat gaben in der oben genannten von KAMER beauftragten Umfrage47 83,7% der Befragten an, das sexuelle Fehlverhalten einer Frau müsse bestraft werden. Hiervon wiederum gaben 37,4% an, die angemessene Strafe für sexuelles Fehlverhalten einer Frau bestehe darin, sie zu töten.48 Tatsächlich aber gibt es auch nach Ansicht der Anhänger der streng patriarchalisch organisierten Familienordnung Handlungsalternativen zur Tötung des weiblichen Familienmitglieds. Freilich sind viele Alternativen grausam und selbstverständlich nicht billigenswert. Dass es aber anerkannte Alternativen zur Tötung als Reaktion auf eine (befürchtete) EhrTer-Nedden, Verbrechen im Namen der Ehre – auch ein Thema in Deutschland, 11 (12). Zitiert bei Dassler „Im Namen der Ehre“, Tagesspiegel vom 18. 04. 2006. Dort wird auch Karl Mollenhauer, der Chefpsychologe der Berliner Polizei, zitiert: „Wenn sie in einem entsprechend geprägtem Umfeld leben, werden sie geächtet, verlacht oder ignoriert.“ Für die entsprechende Situation in der Türkei vgl. UNDP / UNFPA, The Dynamics of Honor Killings in Turkey, S. 35. 47 Siehe A. I. 1. b) (1). 48 Diesbezüglich sei aber erneut darauf hingewiesen, dass bei der Umfrage vor allem Männer befragt wurden, was das Meinungsbild verzerrt haben dürfte. Zudem war die Umfrage nicht repräsentativ und gibt somit nur Tendenzen wieder. 45 46
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
einbuße gibt, widerspricht der allgemeinen Vorstellung von dem Täter eines „Ehrenmordes“ als einem gleichsam zu seiner Tat Gezwungenen. Alle Alternativen haben miteinander gemeinsam, dass sie auf die Erniedrigung des weiblichen Familienmitgliedes hinauslaufen. Hierzu gehört insbesondere das Zufügen körperlicher Gewalt, angefangen bei Schlägen bis hin zum Abtrennen der Ohren oder der Nase, um das Opfer lebenslang in der Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen.49 Nicht unüblich ist es darüber hinaus, Frauen zuhause einzusperren. Hat eine Frau – freiwillig oder nicht – eine sexuelle oder nichtsexuelle Beziehung zu einem Mann oder wird sie einer solchen Beziehung verdächtigt, wird nicht selten diese Frau mit dem Mann verheiratet, ohne dass das in streng traditionellen Kreisen immer noch verbreitete Brautgeld gezahlt wird.50 Teilweise halten selbst Personen mit einem hohen Bildungsgrad eine Hochzeit zwischen einer Frau und ihrem Vergewaltiger für die beste Lösung.51 Doch es gibt auch Maßnahmen, die (vergleichsweise) harmlos sind. Eine solche stellt die Vertreibung des Mannes dar, mit dem die Frau – gewollt oder ungewollt – Kontakt hatte. Auch nimmt die Scheidung eine fortschreitend wichtige Rolle bei der Konfliktbewältigung zwischen Ehepartnern ein.52 Eine weitere Maßnahme ist, sofern und solange dies möglich ist, das Verschweigen des Normbruchs, denn ein der Öffentlichkeit unbekannter Normbruch kann keine negativen Folgen für die Familienehre beziehungsweise die Ehre männlicher Familienmitglieder haben.53 Sollte ein Verheimlichen jedoch nicht möglich sein, wird nicht selten statt einer Tötung jeglicher Kontakt mit der Frau abgebrochen.54 Auch wenn diese Alternative bitter für die Frau sein mag, ist sie doch weit milder als ihre Tötung. TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 148. Diese Praxis wird „berdel“ genannt und erniedrigt die Frau aus zwei Gesichtspunkten: zum einen wird sie zu einer Ehe gezwungen, die sie meist nicht eingehen will, zum anderen wird durch die fehlende Brautpreiszahlung der vermeintliche Minderwert der Frau unterstrichen. 51 Der türkische Strafrechtsprofessor Dogan Soyaslan äußerte sich gegenüber einer großen türkischen Tageszeitung über vergewaltigte Frauen folgendermaßen: „Niemand heiratet eine Frau, die keine Jungfrau mehr ist. Wenn so etwas einer Familie passiert, würden sie sich eine Heirat mit dem Vergewaltiger wünschen. Etwas anderes zu behaupten wäre scheinheilig. Viele Männer denken: ,Wenn einer meine Schwester entführt und sie nicht heiratet, würde ich ihn umbringen!‘ ( . . . ) Wenn ich eine vergewaltigte Frau wäre, würde ich meinen Vergewaltiger heiraten. Menschen können sich mit der Zeit hieran gewöhnen.“, Radikal v. 23. Oktober 2003. 52 Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 133 Fn. 57. 53 Vgl. Schiffauer, Die Migranten aus Subay, S. 247: „In Subay ist es zum Beispiel gebräuchlich, dass die jungen Männer und Frauen sich vor der Eheschließung heimlich treffen. Jeder weiß davon, und zahlreiche Bauern billigen es, weil es ihnen vorteilhaft für die Stabilität der Ehe zu sein scheint – allgemein gesprochen. Es gäbe nämlich einen unglaublichen Skandal, wenn ein tatsächliches Treffen dieser Art öffentlich würde. Die Ehre der jungen Frau wäre dann zerstört, ihr Vater würde sie verprügeln, der junge Mann würde von ihren Brüdern bedroht werden.“ 54 Ein prominentes Beispiel hierfür ist der unglückselige Fall von Sibel Kekilli. Im Wege einer Hetzkampagne deutscher wie türkischer Medien wurde bekannt, dass die türkischstäm49 50
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Die Beispiele für Alternativen zum „Ehrenmord“ zeigen, dass die Möglichkeiten einer Reaktion auf eine Ehrverletzung vielfältig sind. Selbst nach streng patriarchalischen Vorstellungen sind relativ mildere Mittel meist genauso effektiv, um die Ehre zu wahren. Diese Feststellung soll die in diesem Abschnitt dargestellten Mittel keineswegs verharmlosen. Sie alle bedeuten für das betroffene Opfer eine Härte. Es soll lediglich unterstrichen werden, dass die Tötung des Opfers nicht das einzige Mittel ist, das sich nach den beschriebenen Wertvorstellungen zur Wahrung der Ehre eignet. Vielmehr stehen zur Konfliktlösung auch relativ mildere bis friedliche Mittel bereit. (3) Die Rolle des Familienrates Einige Stimmen in der Literatur gehen von der Annahme aus, „Ehrenmorde“ seien mit einer Entscheidung eines sogenannten Familienrates, bei dem auch weibliche Familienangehörige Mitspracherechte haben, verbunden.55 Nach dieser Ansicht werden alle „Ehrenmorde“ wohlbedacht, geplant und bewusst begangen. Dabei soll der Familienrat hauptsächlich der Bestimmung des den „Ehrenmord“ ausführenden männlichen Familienmitglieds dienen. Aus praktischen Erwägungen falle dabei die Entscheidung sehr oft auf das jüngste männliche Familienmitglied, weil diesem oft eine vergleichsweise milde Strafe droht und weil hier der Verlust der Arbeitskraft infolge einer Haftstrafe nicht so stark ins Gewicht fällt wie bei einem Hauptverdiener.56 Diese Entscheidung wird in einer offenen Diskussion getroffen, wobei der Familienrat allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Das heißt ein Außenstehender hat keinen Zugang zum Familienrat. An ihm nehmen ausschließlich Mitglieder der Familie teil. Weil der Familienrat und der damit verbundene familiäre Zwang auf den ernannten Ehrenmörder für dessen Tat hauptursächlich sind, wurde in der Türkei die Einführung einer Vorschrift zur Bestrafung von Familienratsmitgliedern vorgeschlagen.57 Die Annahme, jeder „Ehrenmord“ sei auf einen Beschluss des Familienrates zurückzuführen und genau geplant, ist aus verschiedenen Gründen bedenklich. Sie stützt sich ausschließlich auf qualitative empirische Untersuchungen und ist empirisch noch nicht quantitativ belegt worden. Aus den Befunden in Einzelfällen auf eine allgemeine Regel zu schließen, geht daher wohl zu weit. Zwar lässt sich nicht von der Hand weisen, dass ein Familienrat bei vielen „Ehrenmorden“ eine zentrale mige Schauspielerin ehemals als Pornodarstellerin tätig war. Eine größere Schande ist nach den hier dargestellten traditionellen Vorstellungen kaum denkbar, handelt es sich doch nicht nur um einen schweren und zudem erwiesenen Normbruch, sondern zudem um einen Normbruch, der nahezu jedermann hierzulande wie in der Türkei bekannt war. Dennoch wurde von der Familie ein Kontaktabbruch als Konfliktlösung gewählt. 55 Eingehend Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 19 ff. 56 Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 15. 57 Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 20.
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Rolle spielt. Jedoch schließt die These, jedem „Ehrenmord“ liege ein entsprechender Beschluss zugrunde, die Möglichkeit von „Ehrenmorden“ als Folge einer Affekthandlung aus, also eines weithin situativen, kaum kontrollierbaren Verhaltens.58 Dass es die Möglichkeit von „Ehrenmorden“ als Folge solcher Affekthandlungen gibt, wird von den Vertretern der These des Familienrates nicht überzeugend widerlegt. Vielmehr ist – im Gegenteil – davon auszugehen, dass das Klischee, es werde oft das jüngste männliche Familienmitglied zur Tötung bestimmt, statistisch widerlegbar ist. Nach der Altersverteilung Tötung im Namen der Ehre durch männliche Tatverdächtige in der Türkei im Zeitraum von 2000 bis 2005 sind 9 % der Täter weniger als 18 Jahre alt. 22% der Täter befanden sich zur Tatzeit im Alter von 19 bis 25 Jahren und stellten damit den höchsten Anteil der Täter dar. Hieraus kann angesichts des unten dargestellten statistischen Materials indes keine absolute Grundregel abgeleitet werden. Das Gleiche gilt für weibliche Tatverdächtige, bei denen die Altersverteilung in den jüngeren Altersstufen vergleichbar ausfällt. Es ist daher davon auszugehen, dass der Familienrat häufig die Tötung des „Ehrenmordopfers“ im Vorfeld beschlossen und einen Tatausführenden bestimmt hat;59 es handelt sich hierbei aber nicht um eine allgemeine Regel, die auf alle „Ehrenmorde“ anwendbar ist, auch wenn ein Familienratsbeschluss oft wahrscheinlich ist.
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Anteil in %
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15
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0 0 bis 18 Jahre
19 bis 25 Jahre
26 bis 30 Jahre
31 bis 35 Jahre
36 bis 40 Jahre
41 bis 45 Jahre
46 Jahre und darüber
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 156
Altersverteilung bei männlichen Tatverdächtigen eines Ehrenmordes
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Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 68. In diesem Sinne auch BKA, Presseinformation „Ehrenmorde in Deutschland“, S. 5.
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31 bis 35 Jahre
36 bis 40 Jahre
41 bis 45 Jahre
46 Jahre und darüber
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 156
Altersverteilung bei weiblichen Tatverdächtigen eines Ehrenmordes
2. Wandel des Ehrbegriffs und der Verhaltenserwartungen In den letzten Jahrzehnten hat in der Türkei ein gesellschaftlicher Wandel stattgefunden, der auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau verändert hat. Die türkische Gesellschaft wandelte sich innerhalb weniger Jahrzehnte in einem noch nicht abgeschlossenen Prozess von einer traditionellen, landwirtschaftlichen, ländlichen und patriarchalischen Gesellschaft zu einer zunehmend städtischen, industriellen, modernen und egalitären Gesellschaft. Ausgelöst durch ein starkes Wirtschaftswachstum und das wachsende Bedürfnis der Landbevölkerung nach Teilhabe an wirtschaftlichem Wohlstand, aber vor allem durch die Zwangsumsiedlungen nach dem Militärputsch von 1980 erfuhr die Türkei eine noch immer andauernde Binnenmigration. Immer mehr Menschen verlagerten ihren Lebensmittelpunkt in großstädtische Ballungszentren wie Istanbul, Ankara oder Izmir. Die Überforderung war und ist auf beiden Seiten groß. Die Großstädte müssen noch immer mit starker Zuwanderung zurechtkommen. Im Gegenzug veränderte sich das Umfeld der Zuwanderer grundlegend. Sie stießen in den Großstädten auf Menschen, deren Anschauungen sich längst jenen der westlichen Wertegemeinschaft angeschlossen haben. In türkischen Großstädten wird von der einheimischen Bevölkerung der Ehrbegriff immer weniger im oben dargestellten traditionellen Sinn verstanden. Vielmehr wurde das Verständnis des Ehrbegriffs den Erfordernissen einer den Individualismus betonenden modernen Leistungsgesellschaft angepasst.60 Diese an den Anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft ausgerichteten Anschauungen in den Ballungszentren unterscheiden sich fundamental 60
Vgl. UNDP / UNFPA, The Dynamics of Honor Killings in Turkey.
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von den Anschauungen der Landbevölkerung. Sie sind mit den streng patriarchalischen Wertvorstellungen der Landbevölkerung nicht vereinbar. Im Gegensatz zu patriarchalischen Wertvorstellungen, in denen die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv eine zentrale Bedeutung einnimmt, betont die moderne Leistungsgesellschaft die Gleichberechtigung aller Leistungsträger und deren Individualität. Hier kommt dem Mann nicht schon aufgrund seines Geschlechts ein hoher sozialer Status zu. Vielmehr wird jeder Einzelne erst aufgrund seiner Leistung beurteilt, wobei zunehmend auch Frauen die gleichen Chancen auf den Erwerb eines hohen sozialen Status eingeräumt werden. In türkischen Großstädten ist es durchaus üblich, dass Frauen einer Arbeit nachgehen. Durch die dargestellte Binnenmigration hin zu den urbanen Ballungszentren in der Türkei wurden mithin viele Aspekte der traditionellen Kultur infrage gestellt; auch fehlte ein mit den dörflichen Verhältnissen vergleichbares Maß an sozialer Kontrolle, was die Verstöße gegen ländliche Normen erleichterte und zugleich zu Verhaltensunsicherheiten bei beiden Geschlechtern führte.61 Bei den Männern dürfte der Unabhängigkeitszuwachs ihrer Frauen und sonstigen weiblichen Familienangehörigen ein Gefühl des Machtverlustes in der Familie ausgelöst haben. Auch in Deutschland müssen insbesondere junge Menschen aus traditionellen Einwandererfamilien den Spagat zwischen zwei sich zueinander komplementär verhaltenden Wertesystemen meistern. Einerseits verlangt ihre Familie den Respekt vor dem patriarchalischen Wertesystem. Andererseits ist die Erwartungshaltung der modernen Leistungsgesellschaft in Deutschland mit einem oft nicht unerheblichen Druck verbunden, der mit der Familienehre nicht vereinbar ist. Nicht selten ist von jungen Schülerinnen aus streng traditionellen Familienstrukturen zu hören, denen die erfolgreiche Teilnahme am Schwimm- und / oder Sportunterricht seitens der Eltern versagt ist. Ein von der Familie gefordertes Tragen des Kopftuchs wird nicht selten zu sozialer Ausgrenzung junger Frauen führen. Umgekehrt passen sich junge Familienmitglieder mehr und mehr den Erwartungen unserer modernen Leistungsgesellschaft an und lassen sich repressives Verhalten seitens ihrer männlichen Verwandten nicht mehr gefallen, was auch auch konservative Teile der Gesellschaft betrifft.62 Dies führt nicht selten zu Konflikten innerhalb des Familienverbandes, der die neue Lebensweise nicht akzeptieren will.63 61 Özgür / Sunar, Social Psychological Patterns of Homicide in Turkey: A Comparison of Male and Female Convicted Murderers, 350 (376). 62 In der Türkei erlangte der Fall von Esma Ürün Prominenz, die ihren Ehemann und Abgeordneten der Regierungspartei AKP zur Rede stellte, als sie auf seinem Mobiltelefon den Namen seiner heimlichen Geliebten sah. Statt mit Reue zu reagieren, schleuderte er ihr seinen Aktenkoffer auf den Kopf und schlug zornig auf sie ein. Hierauf zeigte ihn Frau Ürün bei der Polizei an. Der Fall war insbesondere deshalb aufsehenerregend, weil ihr Mann im Parlament Konya vertrat, also die Hochburg des konservativen Islam der Türkei. Vgl. Hermann, „In die Öffentlichkeit gezerrte Gewalt“, FAZ v. 18. Mai 2006. 63 BKA, Presseinformation „Ehrenmorde in Deutschland“, S. 4.
I. Der „Ehrenmord“ im tu¨rkischen Wertesystem
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Darüber hinaus unterscheidet sich das Leben in türkischen Großstädten in einem anderen Punkt grundlegend von dem auf dem Lande. Das weitgehend anonyme Leben in der Großstadt und die Erfahrung von Fremdheit müssen Folgen für die Wertanschauungen der Zuwanderer gehabt haben. In einem anonymen und fremden Umfeld spielt der Ruf, den man genießt, eine andere Rolle als in einem ländlichen Kontext, in dem das soziale Umfeld überschaubar ist. Die Beobachtung durch das soziale Umfeld und der damit einhergehende Druck auf die Individuen weichen einem anonymen Kontext, in dem es zwar unangenehm sein mag, wenn man Gegenstand des Geredes der Nachbarschaft wird; eine makellose Ehre und die damit verknüpfte allzeitige Befolgung rigider Verhaltensregeln sind indes nicht mehr überlebensnotwendig. Ähnliche Beobachtungen sind auch mit türkischen Zuwanderern in Deutschland zu machen.64 Auch hier leben die Zuwanderer oft in einem vergleichsweise anonymen gesellschaftlichen Kontext, der es ihnen erlaubt, bestimmte Verhaltensnormen in Frage zu stellen und eventuell aufzugeben, ohne den Wert der Ehre an sich in Frage zu stellen. Hier ist es möglich und oftmals Realität, dass die komplementären Verhaltenserwartungen an Männer und Frauen zunehmend universellen Charakter haben, also Gleiches von Männern und Frauen gefordert wird. Auch spielen Subjektivierungen traditioneller Anschauungen insofern eine zunehmende Rolle, als Zuwanderer sich in den unterschiedlichen sich ihnen stellenden Fragen zwischen ihren heimatlichen und den hiesigen Anschauungen entscheiden können. Diese Form der Subjektivierung kann positive wie negative Auswirkungen auf das Miteinander der Menschen in der Gesellschaft haben. Sie dürfte sich positiv auswirken, wenn Zuwanderer hierdurch einen Zugewinn an Freiheit und Selbstentfaltung erleben. Gerade in letzter Zeit sind aber auch negative Auswirkungen der Normsubjektivierung zu beobachten. Migranten, die zu einer Anpassung an die Leistungsgesellschaft außerstande sind, neigen teilweise zwecks Verteidigung eigener Interessen zum Missbrauch traditioneller Normen. Dies lässt sich am Beispiel von Grundschülerinnen in Deutschland veranschaulichen, die von ihren Eltern zum Tragen des Kopftuchs gezwungen werden. Zwar mag es strenge Strömungen des Islam geben, die eine Kopftuchpflicht aus dem Koran ableiten.65 Doch wären selbst nach dieser Lesart islamischer Primärquellen nur Frauen mit weiblichen Reizen zum Tragen des Kopftuchs verpflichtet. Einer Grundschülerin solche sexuellen Reize zuzusprechen, dürfte schwer begründbar sein. Entsprechend lässt sich die Kopftuchpflicht für junge Grundschülerinnen, die die Pubertät nicht erreicht haben, nicht einmal Eingehend Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 56 ff. Zur Begründung wird in der Regel Sure 24, Vers 31 herangezogen: „Und sprich zu den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke niederschlagen und ihre Scham hüten und dass sie nicht ihre Reize zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist, und dass sie ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten zeigen oder ihren Vätern oder den Vätern ihrer Ehegatten oder ihren Söhnen oder den Söhnen ihrer Ehegatten oder ihren Brüdern oder den Söhnen ihrer Brüder ( . . . ).“ 64 65
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
auf das traditionellste vertretbare Islamverständnis stützen. Es erscheint daher abwegig, von einer Neunjährigen beim Schwimmunterricht das Tragen eines Ganzkörperschwimmanzugs zu verlangen, auch wenn das Oberverwaltungsgericht Hamburg dies in einem Beschluss billigte.66 Ein anderes Beispiel für einen Normmissbrauch sind diejenigen türkischen Eltern, die nunmehr auch ihre Söhne nicht am koedukativen Schwimmunterricht teilnehmen lassen.67 Es liegt nahe, in diesen Fällen ein Beispiel für subjektive Normanpassung durch die freiheitsbeschränkenden Familienmitglieder zu erblicken. Solche Fälle subjektivierter Normanpassungen sind auch in „Ehrenmordfällen“ präsent, wie die bei vereinzelten Südostanatoliern immer strenger werdenden Verhaltenserwartungen an Frauen belegen. Es stellt sich damit die Frage, welche Rolle der Ehrbegriff dann für „Ehrenmorde“ spielen kann. Im folgenden Abschnitt soll untersucht werden, welche Einflüsse der dargestellte soziale Wandel auf das Phänomen der „Ehrenmorde“ hatte. Angesichts des oben Gesagten liegt die Vermutung nahe, dass „Ehrenmorde“ immer weniger mit dem streng patriarchalischen Ehrkonzept erklärt werden können. Denn das Ausmaß der Verbreitung des patriarchalischen Konzepts nimmt in der türkischen Gesellschaft zunehmend ab. Auch hierzulande bedarf es zusätzlicher oder anderer Faktoren, um die Hintergründe von „Ehrenmorden“ zu erklären.
II. Versuch einer Erklärung für die Hintergründe von „Ehrenmorden“ „Je spektakulärer die Tat, desto eindringlicher fragen wir nach dem Warum: Was sind die Ursachen dafür, dass ein Mensch einen anderen ( . . . ) umbringt?“68 Von der Suche nach den Ursachen für Gewalt und Aggression erhoffen wir uns den Gewinn von Kontrollmöglichkeiten, das heißt Mittel zur Verhinderung der gefährlichen Verhaltensweisen. Auch um das „Ehrenmordphänomen“ zu verstehen, wie es sich heute in der Gesellschaft in der Türkei wie auch in der türkischstämmigen 66 In seinem Beschluss vom 14. 4. 2005 (Az. 11 E 1044 / 05) wies das VG Hamburg die Anträge eines 9jährigen Mädchens pakistanischer Herkunft sowie seiner Eltern ab, die eine Befreiung des Mädchens vom Schwimmunterricht anstrebten. Das Gericht betonte die Rolle des Schwimmunterrichts wie auch des Sportunterrichts bei der Vermittlung liberaler Werte wie Gleichberechtigung von Mann und Frau und verneinte ausdrücklich eine aus den islamischen Quellen ableitbare Pflicht für muslimische Kinder zur Beachtung strenger Bekleidungsvorschriften. Diese Entscheidung ist in NVwZ-RR 2006, 121 ff. abgedruckt. Auf die Beschwerde der Antragsteller hin einigten sich die Beteiligten vor dem OVG Hamburg dahingehend, dass das 9jährige Mädchen in einem Ganzkörperschwimmanzug für Muslimas am Schwimmunterricht teilnimmt. Mit Beschluss vom 15. 6. 2005 (Az. 1 BS 135 / 05) erklärte OVG Hamburg den Beschluss des VG Hamburg für wirkungslos und stellte das Verfahren ein. 67 Kelek, Die fremde Braut, S. 130. 68 Mummendey, zitiert bei Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 69.
II. Versuch einer Erkla¨rung fu¨r die Hintergru¨nde von „Ehrenmorden“
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Gesellschaft hierzulande darstellt, soll nun der Versuch unternommen werden, es zu erklären. Wie bereits dargestellt, können Kulturkonzepte angesichts der zunehmenden Subjektivierung von Wertvorstellungen und von gesellschaftlichen Normen das „Ehrenmordphänomen“ nicht mehr vollumfänglich erklären. Der Versuch einer Beantwortung der Frage nach den tatsächlichen Ursachen für „Ehrenmordkriminalität“ beginnt mit einer Darstellung und Auswertung empirischer Daten aus der Türkei, die für eine Erklärung des „Ehrenmordphänomens“ hilfreich sein werden.
1. Die Hintergründe aus religiöser und islamischrechtlicher Sicht In der medialen Debatte über „Ehrenmorde“ wird dieses primär in der muslimischen Welt verortete Problem tendenziell mit dem Islam in Verbindung gebracht.69 Umso dringlicher erscheint eine Klärung des Verhältnises zwischen „Ehrenmorden“ und dem Islam. Zunächst sind nicht alle muslimischen Staaten von der „Ehrenmordproblematik“ betroffen. Dass etwa das muslimische Malaysia laut dem bereits genannten UNSonderbericht nicht zu den von „Ehrenmorden“ betroffenen Staaten zählt, legt den Verdacht nahe, dass kein Zusammenhang zwischen dem Islam und der Begehung von „Ehrenmorden“ besteht. Diese pauschalisierende Behauptung würde allerdings eine realiter inexistente Homogenität islamischen Denkens in allen muslimischen Staaten unterstellen. So wie das Christentum kennt auch der Islam zahlreiche, voneinander höchst unterschiedliche Strömungen, wobei die Gruppen der Schiiten und der Sunniten die wohl prominentesten sein dürften. Und selbst innerhalb dieser Glaubensgemeinschaften ist zwischen verschiedenartigen Gruppierungen zu differenzieren. Angesichts des Befundes, dass eine unterschiedliche Beurteilung der sexuellen Freiheit von Frauen in diesen Strömungen naheliegt, erscheint eine umfassende Würdigung der hier und da behaupteten Beziehung zwischen „Ehrenmorden“ und dem Islam unter Berücksichtigung aller islamischen Konfessionen in einer juristischen Arbeit wie dieser als kaum realisierbar. Deswegen können die folgenden Ausführungen die Haltung des Islam zu weiblicher Sexualität und ihrer Disziplinierung nicht in voller Bandbreite wiedergeben, so dass sie sich auf die sunnitische Haltung zu „Ehrenmorden“ beschränken, weil die Sunniten in der Türkei nahezu zwei Drittel der Bevölkerung ausmachen. 69 „Hinter jedem getöteten Mädchen steht die Fatwa eines lokalen Religionsgelehrten“, so die türkische Frauenrechtlerin Jülide Aral in der FAZ vom 18. Mai 2006, S. 3; indes widersprach die türkische Frauenrechtlerin Dr. Demet Is¸ k in einem persönlichen Gespräch vom 22. Mai 2006 in Bielefeld der Einschätzung von Frau Aral. Frau Dr. Is¸ k hält es allenfalls für denkbar, dass bei bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen einem Ehrenmörder und einem Religionsgelehrten letzterer seinen „Segen“ in Form einer Fetva erteilt. Dass es eine solche Legitimierung eines „Ehrenmordes“ geben darf, hält sie dagegen für ausgeschlossen.
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
Die Erkenntnisquellen des Islam beschränken sich nicht auf die Formulierung sozialethischer Prinzipien, sie beinhalten darüber hinaus eine Vielzahl an rechtlichen Vorschriften, die – im Laufe der Zeit um ungeschriebene Rechtsnormen und Kommentierungen ergänzt – eine eigene Rechtsordnung darstellen: die Scharia. Diese theonome Rechtsordnung ist untrennbar mit dem Islam selbst verbunden70 und gründet sich im Wesentlichen auf den Koran,71 die Sunna,72 Icma (Konsens) und K yas (Analogieschluss). Ob und in welchem Maße K yas beziehungsweise weitere Quellen rechtsverbindlich sind, ist umstritten, zumal der Scharia ein numerus clausus der Rechtsquellen fremd ist.73 Innerhalb dieser Rechtsordnung ist zwischen zwei Deliktsarten zu unterscheiden: solchen Delikten mit einer nach der Scharia klar definierten Strafandrohung, den Hudud-Delikten,74 und solchen ohne konkrete Strafandrohung. Von einer nach der Scharia klar festgelegten Strafe kann an sich kein islamisches Gericht beziehungsweise keine Person abweichen. Im Übrigen lässt das Fehlen einer präzise festgelegten Strafandrohung der Rechtsanwendung großen Freiraum. Die koranischen Bestimmungen zur menschlichen Sexualität sind widersprüchlich und lassen klare Aussagen über seine Haltung zu „Ehrenmorden“ vermissen. Denn einerseits erkennt der Koran sexuelle Triebe sowohl der Männer als auch der Frauen an und bekräftigt das Recht beider Geschlechter zur sexuellen Selbstentfaltung75. Andererseits sind nach islamischer Lehre Männer und Frauen unterschiedlich geschaffen: Während Männer vernunftbegabt und zur Selbstdisziplin fähig sind, gelten Frauen als emotional und kaum diszipliniert. Wird die mangelnde Selbstkontrolle der Frau über ihre Sexualität nicht überwunden, führt dies zu gesellschaftlichem Chaos. Eine geordnete Gesellschaft bedarf also der Kontrolle des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität durch Männer. Im Koran finden sich deutliche Ausführungen, die oft zur Legitimierung weitgehender Missachtung der Rechte der Frau herangezogen werden:76 El-Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, S. 23. Nach islamischer Vorstellung ist allein die arabische Fassung des Koran authentisch. Seine Übertragung in eine andere Sprache beraubt ihm demnach seines Status und darf – aus religiöser Sicht – einer theologischen Diskussion nicht als Grundlage dienen, vgl. Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, S. 91 ff. m. w. N. Dessen ungeachtet ist hier schon allein aus praktischen Gründen der Rückgriff auf aktuelle Koranübersetzungen unverzichtbar. 72 Die Sunna umfasst die Gesamtheit der Hadithe, also der Überlieferungen der Aussagen des Propheten Mohammed, seiner Taten, seiner stillschweigenden Billigungen oder Ablehnungen von Handlungen. 73 Zu den Rechtsquellen der Scharia und ihrem Verhältnis zueinander siehe Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam. 74 Um im Folgenden Irritationen zu vermeiden, wird darauf hingewiesen, dass „Hudud“ der Plural des Wortes „Hadd“ ist. 75 Ilkkaracan, Islam and Women’s Sexuality: A Research Report from Turkey, S. 1. 76 Al-Khayyat, Honour and Shame – Women in Modern Iraq, S. 11 f. 70 71
II. Versuch einer Erkla¨rung fu¨r die Hintergru¨nde von „Ehrenmorden“
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„Die Männer stehen den Frauen vor, weil Gott die einen vor den anderen ausgezeichnet hat und weil sie von ihrem Vermögen ausgegeben haben. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und wahren das Verborgene, da Gott es wahrt. Die, deren Widerwille ihr fürchtet, die ermahnt, meidet in den Betten und schlagt! Wenn sie euch dann gehorchen, dann geht nicht weiter gegen sie vor!“77
Die Reichweite dieses männlichen Kontrollmonopols unterscheidet sich hingegen, je nach Region, Zeit, gesellschaftlichem Rang und Herkunft. Zudem spielen wirtschaftliche und politische Faktoren bei der Bestimmung der Reichweite des Monopols eine Rolle. Der Koran verbietet ausdrücklich Unzucht („Zina“), ohne diesen Begriff inhaltlich zu definieren.78 Es besteht aber allgemeiner Konsens, dass Zina „den freiwilligen, im Bewusstsein des Verbotenseins geübten Geschlechtsverkehr von zurechnungsfähigen, dem islamischen Gesetz unterworfenen Personen außerhalb von Ehe und Konkubinat meint.“79 Beachtenswerterweise droht gemäß dem Koran sowohl für Männer als auch für Frauen die gleiche drakonische Maßnahme im Falle einer Zuwiderhandlung.80 Jedoch sieht diese eindeutige, also hinsichtlich ihrer Rechtsfolge keiner Interpretation zugängliche Hadd-Vorschrift81 nicht die Tötung der Frau vor, und schon gar nicht durch Familienangehörige. Zudem bedarf die Verhängung dieser Strafe der Bestätigung der Unzucht durch vier Zeugen,82 was darauf hindeutet, dass selbst im patriarchalisch orientierten islamischen Rechtssystem dem Kontrollmonopol der Männer strenge Grenzen gesetzt sind. Scheitert der Nachweis der Unzucht an dem Erfordernis von vier Zeugen, so droht jedem eine schwere Strafe, der die betroffene Frau der Unzucht bezichtigt hatte.83 Die in der 77 Sure 4, Vers 34 in der Übersetzung von Hans Zirker; vgl. aber die Übersetzung von Laleh Bakhtiar, The Sublime Quran, 1. Aufl. 2007, Chicago: „Men are supporters of wives because God has given some of them an advantage over others and because they spend of their wealth. So the ones (f) who are in accord with morality are the ones (f) who are morally obligated, the ones (f) who guard the unseen of what God kept safe. But those (f) whose resistance you fear, then admonish them (f) and abandon them (f) in their sleeping place then go away from them (f); and if they (f) obey you, surely look not for any way against them (f); truly God is Lofty, Great.“ 78 17. Sure, Vers 32. 79 Ausgeschlossen von der Begriffsdefinition sind verbotene Formen des Geschlechtsverkehrs innerhalb der Ehe, z. B. während der Menstruation, während des Fastenmonats Ramadan, während der Pilgerfahrt. Als Geschlechtsverkehr gilt das Eindringen der Eichel des männlichen Glieds in die Vagina, ohne dass es zum Samenerguss gekommen sein muss. Vgl. Gräf, Bustan 1 / 1965, 9 (10). 80 „Wenn eine Frau und ein Mann Unzucht begangen haben, dann gebt jedem von ihnen hundert Schläge! Keine Milde für sie soll euch ergreifen in Gottes Religion, falls ihr an Gott und an den Jüngsten Tag glaubt. Bei ihrer Bestrafung soll eine Gruppe der Gläubigen als Zeuge anwesend sein.“, 24. Sure, Vers 2 in der Übersetzung von Hans Zirker. 81 Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, S. 110. 82 24. Sure, Vers 4. 83 Ebenda.
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westlichen Nachrichtenberichterstattung über orthodox-islamische Staaten oft genannte Steinigung als Strafe für Unzucht, ist dem Koran nicht zu entnehmen. Der zweite Kalif Ömer ibn el-Chattab (634 – 644 n. Chr.) glaubte fest, sich an einen Koranvers zu erinnern, in dem verheirateten oder ehemals verheirateten Tätern von Zina Steinigung angedroht wurde. Um nicht in den Verdacht der Fälschung des Korans zu geraten, sah Ömer ibn el-Chattab davon ab, auf eine Einfügung des Steinigungsverses im Rahmen der schriftlichen Fixierung des Korans zu dringen, so dass er in dem rezipierten Text fehlt. Für orthodoxe Muslime ist trotz der Aufhebung der Rezitation dieses Verses sein Inhalt in Kraft belassen.84 Damit scheinen „Ehrenmorde“ im Widerspruch zum Islam zu stehen, was auch erklären könnte, warum „Ehrenmorde“ nicht im gesamten Ausbreitungsgebiet des Islams sozial oder gar rechtlich gebilligt werden. Vielmehr liegt der Verdacht nahe, dass Aussagen des Korans über die weibliche Sexualität durch missbräuchliche Auslegung als Rechtfertigung herangezogen werden. Tatsächlich aber fand die islamische Rechtswissenschaft Wege, die Vereinbarkeit von „Ehrenmorden“ mit rechtmäßigem Verhalten im Sinne der Scharia zu begründen. Zunächst einmal ist nicht nur der oben zitierte Koranvers der Unzucht gewidmet. An anderer Stelle findet sich ein Vers, der allein der von Frauen begangenen Unzucht gewidmet ist: „Gegen die von euren Frauen, die eine Schandtat begehen, lasst vier unter euch bezeugen! Wenn die dann bezeugen, dann haltet sie in den Häusern fest, bis der Tod sie abruft oder Gott ihnen einen Ausweg schafft!“85
Zudem sind Tötungsdelikte keine Hudud-Delikte, weil hier kein Rechtgut Gottes, sondern das eines Menschen verletzt wird, so dass der Koran trotz des Tötungsverbotes keine klar festgelegte Strafe androht.86 Somit ist es nicht ausgeschlossen, für die vorsätzliche Tötung eine milde Strafe zu verhängen oder ganz von einer Strafe abzusehen. Anknüpfungspunkt für eine milde Strafe kann aber aus islamischrechtlicher Sicht keineswegs das Motiv des Täters sein. Tatmotive wirken sich im islamischen Strafrecht weder strafschärfend, noch strafmildernd aus.87 Wie aus mehreren Koranversen hervorgeht, droht dem Täter einer vorsätzlichen Tötung die Talionsstrafe durch die Erben des Opfers (K sas), welche von diesen aber auch 84 Eingehend zur Steinigungsstrafe und ihrer juristischen Rechtfertigung siehe Gräf, Bustan Heft 1 / 1965, 9 f., der mit überzeugender Argumentation davon ausgeht, dass es sich bei dem Vorgang um einen „bedenklichen Versuch handelte, für die Steinigung einen koranischen Beleg zu schaffen.“ 85 4. Sure, Vers 15 in der Übersetzung von Hans Zirker; Bakhtiar: „Those among your wives who approach indecency, four of you must testify against them (f); then if they bear witness, hold them (f) back in their houses until death gathers them (f) to itself, or God makes a way for them.“ 86 Zu der strafrechtlichen Beurteilung von Tötungsdelikten in der Scharia siehe Hakeri, Tötungsdelikte im islamischen Strafrecht. 87 S ¸ afak, Mezhepteraras Mukayeseli Islam Hukuku, S. 73; Udeh, Mukayeseli Islâm Hukuku ve Bes¸eri Hukuk, Bd. III, S. 80.
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erlassen werden kann. Alternativ können die Erben des Opfers vom Täter die Zahlung von „Blutgeld“ (Diyet) verlangen.88 Damit die Tötung eines Menschen rechtswidrig ist, muss das Opfer „immun“ sein,89 das heißt unter einem besonderen göttlichen Schutz stehen.90 Dieser Lebensschutz beruht entweder auf der islamischen Religion oder auf dem einem Andersgläubigen vom islamischen Staat gewährten Schutzvertrag, der befristet oder dauerhaft sein kann.91 Den Immunitätsschutz kann das Opfer unter verschiedenen Umständen verlieren, beispielsweise durch Apostasie,92 aber auch durch Provokation. Nach allen vier islamischen Rechtsschulen93 verliert das Opfer seine Immunität, wenn es den Täter durch sein eigenes Verhalten zum Zorn reizt und dadurch die eigene Tötung verursacht. Eine solche Provokation liegt zum Beispiel dann vor, wenn die eigene Ehefrau oder Schwester des Täters von ihm beim Geschlechtsverkehr mit einem Dritten überrascht wird. In diesem Fall verlieren beide an der Unzucht Beteiligten ihre Immunität, so dass sowohl die Tötung eines Beteiligten wie auch die gemeinsame Tötung beider gerechtfertigt sind.94 Diese Argumentation ermöglicht es geistlichen Würdenträgern in islamischen Gemeinwesen, „Ehrenmorde“ als strafloses oder wenig strafwürdiges Verhalten zu definieren.95 „Ehrenmorde“ können nach islamischem Strafrecht jedoch auch jenseits dieser Voraussetzung für den Täter folgenlos sein. Denn das islamische Strafrecht kennt keine öffentliche Klage. Gerade im Bereich der K sas-Delikte hängt damit die wirksame Bestrafung der Täter davon ab, ob der Geschädigte diese anzeigt. Bei Tötungsdelikten steht aber den Angehörigen eines Toten das Recht zu, dem Täter zu verzeihen, da es sich um ein K sas-Delikt handelt und das Rechtsgut zu ihrer Disposition steht.96 Wenn nun die Angehörigen des Opfers dessen Tötung, etwa im 2. Sure, Vers 178; 5. Sure, Vers 45; 17. Sure, Vers 33. Bilmen, Hukuki Islamiyye ve Ist lahat F khiyye Kamusu, Bd. III, S. 65; Sachau, Muhammedanisches Recht, 771; Gräf, Bustan Heft 4 / 1962, 8 (17). 90 Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 104. 91 El-Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, S. 133 f. 92 Hakeri, Tötungsdelikte im islamischen Strafrecht, S. 29 m. w. N. 93 Die Sunniten erkennen vier gleichberechtigte, nach ihren Begründern benannte Rechtsschulen an: die hanafitische, die malikitische, die schafiitische und die hanbalitische Schule, El-Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, S. 74 f.; vgl. zu den Eigenheiten dieser Rechtsschulen Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, S. 62 ff. 94 Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 104; Bilmen, Hukuki Islamiyye ve Ist lahat F khiyye Kamusu, Bd. III, S. 125. In diesem Fall sind vier Zeugen nötig. Über die Einzelheiten, s. Gräf, Bustan 4 / 1962; 1 / 1965, 9 (22); Cin / Akylmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 219; Hakeri, Tötungsdelikte im islamischen Strafrecht, S. 34; Zuhayli, Islam F kh Ansiklopedisi, Bd. VIII, S. 16; a. A. Pas¸a, Islam Hukuku Nazariyat Hakk nda Bir Etüd, Bd. I, S. 202, demzufolge die Provokation nichts an der Rechtswidrigkeit ändert, sondern allein strafmildernd zu berücksichtigen sei. 95 Dies wird an späterer Stelle anhand der Lage im Osmanischen Reich veranschaulicht. 96 Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 219; Udeh, Mukayeseli Islâm Hukuku ve Bes ¸eri Hukuk, Bd. I, S. 320 ff.; Ayd n, Türk Hukuk Tarihi, S. 194 f. 88 89
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Familienrat, beschlossen und den Täter ausgewählt haben, liegt es fern, dass die Angehörigen den Täter hierfür strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen werden. Möglicherweise ist dies der Grund, warum in islamischen Ländern meist nur weibliche Ehebrecher getötet werden, die zur eigenen Familie gehören, nicht aber der am Ehebruch oder sonst unzüchtigem Verhalten beteiligte Dritte. Bisher wird dies meist mit wirtschaftlichen Gründen erklärt. Der Verlust einer Frau könne rein wirtschaftlich am ehesten verkraftet werden, wohingegen bei der Tötung eines Mannes, etwa eines Vergewaltigers, ein Verdiener oder Verteidiger einer Familie wegfiele. Im Übrigen könnte die Tötung eines Mannes unter Umständen eine lange währende Blutracheserie nach sich ziehen, wohingegen die Tötung einer Frau als Reaktion keine Blutrachetötung erfordere.97 Die Tötung weiblicher Familienangehörigen mag näher liegen, weil die Familien hier aufgrund strafprozessualer Lücken in der Scharia darüber entscheiden können, ob ein Verfahren eingeleitet wird oder nicht. Töten sie den Dritten, setzten sie sich der Gefahr aus, dass dessen Angehörige sie anklagen oder gar Blutrache fordern. Dementsprechend lassen sich „Ehrenmorde“ in Einklang mit der islamischen Religion bringen, auch wenn zu betonen ist, dass der Islam sie nicht ausdrücklich fordert. Dass die kulturellen Wurzeln von „Ehrenmorden“ im Islam zu verorten sind, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Immerhin befinden sich auch in der Bibel Aussagen, welche die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Anschauungen legitimieren. Als Beispiel für diesen vorislamischen Beleg seien hier nur zwei von vielen Fundstellen genannt, in denen das Honour-Shame-Syndrome zutage tritt: „Ists aber die Wahrheit, dass das Mädchen nicht mehr Jungfrau war, so soll man sie heraus vor die Tür ihres Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen, weil sie eine Schandtat in Israel begangen und in ihres Vaters Hause Hurerei getrieben hat; so sollst du das Böse aus deiner Mitte wegtun.“98 „Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben, Ehebrecher und Ehebrecherin, weil er mit der Frau seines Nächsten die Ehe gebrochen hat. Wenn jemand mit der Frau seines Vaters Umgang pflegt und damit seinen Vater schändet, so sollen beide des Todes sterben; ihre Blutschuld komme über sie. Wenn jemand mit seiner Schwiegertochter Umgang pflegt, so sollen sie beide des Todes sterben, denn sie haben einen schändlichen Frevel begangen; ihr Blut lastet auf ihnen. Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Greuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen [ . . . ]“99
Der Islam und seine Rechtsordnung haben mithin bereits zuvor bestehende regionale Gewohnheiten (Örf) aufgegriffen und anerkannt.100 Die Annahme liegt nahe, dass „Ehrenmorde“ in den islamischen Staaten, in denen sie relativ häufig Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 15. 5. Buch Mose 22, 20 f. in der Übersetzung von Martin Luther. 99 Levitikus 20, 10 ff. in der Übersetzung von Marin Luther. 100 Eingehend zum Begriff „Urf“ (auf Türkisch: Örf) siehe Krawietz, Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, S. 291 ff. 97 98
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praktiziert werden, von jeher zu den dortigen Gewohnheiten gehörten. Gleichwohl kann festgehalten werden, dass die islamischen Quellen „Ehrenmorde“ auch nicht explizit verurteilen und eine gesellschaftliche Abkehr von ihnen fordern.
2. Tötungen im Namen der Ehre in der Türkei in den Jahren 2000 bis 2005 Wie oben dargestellt, hielt mit der Zuwanderung der türkischen Landbevölkerung aus Ost- und Südostanatolien in den Großstädten auch deren patriarchalische Anschauung Einzug. Wie sich dies auf die „Ehrenmordkriminalität“ in der Türkei auswirkte, stellt sich in der von der oben genannten türkischen parlamentarischen Untersuchungskommission beauftragten Untersuchung durch türkische oberste Polizeibehörden dar. Die EGM ging bei der Datenerhebung unter anderem der Frage nach, wie die „Ehrenmordkriminalität“ in den Regionen der Türkei verteilt ist. Dabei wurde festgestellt, dass jeweils 19% der Tötungen im Namen der Ehre in der MarmaraRegion101 sowie an der Ägäis102 und 18% in Zentralanatolien 103 begangen werden. Betrachtet man ferner die prozentuale Verteilung der Taten nach Städten, so ist der Befund recht erstaunlich. Entgegen der nicht nur hierzulande weit verbreiteten Ansicht, Verbrechen im Namen der Ehre würden vor allem in Süd- sowie Südostanatolien begangen, sind türkische Großstädte wie Ankara (10 %), Istanbul und Izmir (je 9 %) weit überrepräsentiert.104 Aus der Erhebung durch die EGM geht indes weiter hervor, dass insgesamt 45% der Tatverdächtigen in Ost- sowie Südostanatolien geboren wurden und auch dort registriert sind. Mit nur 8 % wurden in der Marmara-Region die wenigsten Täter geboren. Damit stammt der überwiegende Anteil der Tatverdächtigen aus Zentral-, Ost- und Südostanatolien. Unterrepräsentiert sind Tatverdächtige, die aus den anderen Regionen der Türkei stammen. Der Anteil der in den Regionen Ost- sowie Südostanatoliens geborenen und gemeldeten Opfer ist mit 45% vergleichsweise hoch, wohingegen der Anteil der in der Marmara-Region geborenen und gemeldeten Opfer mit gerade 8% den geringsten Anteil ausmacht.
101 102 103 104
Zur Marmara-Region gehört auch die Stadt Istanbul. In der Ägäis-Region liegt unter anderem Izmir. Die bekannteste und größte Stadt Zentralanatoliens ist Ankara. TBMM, Töre ve namus cinayetleri, S. 152.
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Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, Seite 151
Regionale Verteilung von Ehrenmorden im Zeitraum von 2000 bis 2005
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Marmara
Mittelmeer
Ostanatolien
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Südostanatolien
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, Seite 153
Geburtsorte der Tatverdächtigen eines Ehrenmordes nach Regionen
Zentralanatolien
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Anteil in %
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Marmara
Mittelmeer
Ostanatolien
Schwarzmeer
Südostanatolien
Zentralanatolien
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, Seite 153
Ort der behördlichen Meldung der Tatverdächtigen eines Ehrenmordes nach Regionen
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Marmara
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Südostanatolien
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, Seite 154
Geburtsorte der Ehrenmordopfer nach Regionen
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Südostanatolien
Zentralanatolien
Quelle: TBMM, Töre ve namus cinayetleri, Seite 155
Ort der behördlichen Meldung der Ehrenmordopfer nach Regionen
Damit kann festgehalten werden, dass die türkischen Regionen mit den großen Ballungszentren bei Tötungsdelikten im Namen der Ehre weit überrepräsentiert sind. Demgegenüber sind die Regionen, die für gewöhnlich mit „Ehrenmorden“ in Verbindung gebracht werden, namentlich Ost- und Südostanatolien weniger betroffen, als anzunehmen wäre. Ein Blick auf die Herkunft der Täter und der Opfer verdeutlicht, dass beide überwiegend aus Ost- oder Südostanatolien stammen. Dieser Befund befremdet, weil Ost- und Südostanatolier in ihrer Heimatregion seltener zur Begehung eines „Ehrenmordes“ neigen als diejenigen Ost- und Südostanatolier, die in einer eher westlich orientierte Region behördlich gemeldet sind. Die Kultur kann demnach für sich betrachtet nicht erklären, warum „Ehrenmorde“ begangen werden. Denn dann müssten „Ehrenmorde“ ja besonders dort häufig vorkommen, wo das soziale Umfeld des Täters die dahinter stehenden Anschauungen teilt. Genau dies ist aber nicht der Fall. Es fragt sich daher, welche Ursachen dazu führen, dass „Ehrenmorde“ eben nicht, wie zumeist angenommen wird, mehrheitlich in Ost- und Südostanatolien begangen werden.
3. Folgen der statistischen Befunde für die Bestimmung der Ursachen Die Erklärung von „Ehrenmorden“ mit der Kultur der Täter legt den Schluss nahe, dass diese im übergeordneten Sinne für die Tat kaum verantwortlich sind, sondern deren kulturelles Umfeld. Dabei wird übersehen, dass häusliche Gewalt sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge oftmals einem unversellen Muster folgt, die auch im Zusammenhang mit „Ehrenmorden“ eine Rolle spielen können,
II. Versuch einer Erkla¨rung fu¨r die Hintergru¨nde von „Ehrenmorden“
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wenn das Opfer der Tat eine im Haushalt des Täters lebende Person ist. Denn „Ehrenmorde“ stellen in diesem Fall häusliche Gewalt dar mit der Besonderheit, dass sich der Täter zur sozialen Legitimierung seiner Gewalt auf kulturelle Normen berufen kann oder dies zumindest versucht. Gewalttätige Männer leugnen regelmäßig ihre Gewalttätigkeit, suchen die Schuld bei den Opfern und empfinden das Bedürfnis, ihr eigenes Handeln damit zu legitimieren.105 In Wirklichkeit verhalten sie sich aber deshalb gewalttätig, um Macht und Kontrolle über ihre Frau auszuüben.106 In psychodynamischer Hinsicht stellt die ausgeübte Gewalt eine Reaktion auf eine empfundene Gefährdung der eigenen Machtposition oder ein Gefühl der Ohnmacht dar.107 Damit diese Empfindungen zur Ausübung von Gewalt führen, bedarf es gleichwohl eines ausreichenden Machtpotenzials sowie der relativen Gewissheit, kaum negative soziale Konsequenzen befürchten zu müssen.108 So gesehen erzwingt das kulturelle Umfeld von den Tätern eines „Ehrenmordes“ die Tatbegehung nicht, sondern erleichtert sie vielmehr. Es liegt daher fern, den oben dargestellten Hintergrund bei jedem „Ehrenmord“ als Tatmotiv zu sehen. Vielmehr begünstigt ein entsprechendes kulturelles Umfeld die Begehung von „Ehrenmorden“; geht es aber um die Tötung einer mit dem Täter in einem Haushalt lebenden Person, dürften die Hauptursachen regelmäßig kulturübergreifenden Prinzipien folgen. Die Ursachen von „Ehrenmorden“ werden sich oftmals kaum von den Ursachen schwerster Formen häuslicher Gewalt hierzulande unterscheiden. Der Umstand, dass der Großteil der Tatverdächtigen aus den Regionen Ostsowie Südostanatoliens stammt und zugleich der Großteil der „Ehrenmorde“ in Regionen mit großen Ballungszentren wie Istanbul, Ankara oder Izmir begangen wird, deutet auf einen Zusammenhang mit der türkischen Binnenmigration der letzten Jahrzehnte hin. Er widerlegt zudem die These, dass die räumliche Entfernung staatlicher Gewalt in ländlichen Gegenden ursächlich dafür ist, dass Familien ihre Ehrkonflikte eigenmächtig regulieren.109 Wie bereits dargestellt, gerieten in den westlich orientierten türkischen Großstädten die dortigen egalitären Anschauungen in Konflikt mit den patriarchalischen Konzepten der Landbevölkerung Ost- und Südostanatoliens. Beide Leitvorstellungen, also das Ideal des Patriarchats sowie das des partnerschaftlichen Egalitarismus, existieren dort gleichzeitig nebeneinander. Diese Erosion patriarchaler Werte führt zu Rollenkonflikten sowie Verhaltensunsicherheiten und erhöht mithin die Wahrscheinlichkeit von Gewalt.110 Nach einhelliger Ansicht in den Sozialwissenschaften nimmt die Wahrscheinlichkeit von Gewaltanwendungen durch Männer in 105 106 107 108 109 110
Godenzi, Kofra 15 (1983 / 84), 18 ff. Brückner, Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 2000, 3 (8 f.). Goldner / Penn / Sheinberg / Walker, Familiendynamik 17 (1992), 109 (113). Hauch, Ausgrenzung ist keine Lösung. Ausländerbeauftragte, Die Ehre in der türkischen Kultur, S. 52. Kaselitz / Lercher, Gewalt in der Familie, S. 64.
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
Gesellschaften zu, in denen eine Parallelität von Patriarchat und Egalitarismus vorherrscht.111 Denn der Mann erhält hier nicht allein durch seine „natürliche“ Autorität eine Dominanzstellung im Familienverbund, hegt andererseits immer noch patriarchalisch geprägte Verhaltenserwartungen an seine weiblichen Familienangehörigen. Außerdem ist denkbar, dass er aufgrund von Arbeitslosigkeit112 oder schlecht bezahlter Arbeit seiner ihm in seiner Vorstellung zugedachten Funktion als Ernährer der Familie nicht mehr gerecht werden kann.113 Die damit verbundene „Angst vor sozialer Abwärtsmobilität macht aggressiv. Die Aggression dient der Abwehr von Bedrohungen des Selbstwerts und des sozialen Status.“114 Zur Sicherung ihrer Dominanzstellung neigen die betroffenen frustrierten Männer also nicht selten zu Gewalt gegen Frauen.115 Ein Mann mit geringer Schulbildung, einer Stelle mit geringem Ansehen und Einkommen und unzureichenden zwischenmenschlichen Fähigkeiten greift zur Aufrechterhaltung seiner Dominanzrolle eher auf physisch wirkende gewalttätige Mittel zurück.116 Letztlich werden also der normative Konflikt sowie die hieraus resultierenden frustrierten Verhaltenserwartungen kausal für das überproportionale Vorkommen von „Ehrenmorden“ in türkischen Großstädten sein. Doch führt freilich nicht jede Frustration zu Aggression. Einhellig wird in den Sozialwissenschaften davon ausgegangen, dass Gewalterfahrungen in der Kindheit die Neigung zur eigenen Gewaltanwendung im Erwachsenenalter begünstigen. Dabei ist die Familie der zentrale Ort, an dem man mit Konflikten und Frustrationen umzugehen lernt. Oftmals werden hier erste Erfahrungen mit Gewalt gemacht und Gewalt als Möglichkeit zur Konfliktlösung beziehungsweise Frustrationsbewältigung erfahren.117 Dabei wird jedoch nicht nur die Gewaltanwendung selbst erfahren, sondern auch deren Rechtfertigung.118 Ebenso sind die Reaktionen auf Gewalt innerhalb und / oder außerhalb des Familienverbundes bei der Entwicklung von Gewalt bedeutsam. Wenn Gewalt erfolgreich zum erwünschten Ziel führt und eine positive Rückkoppelung erfährt, ruft dies weitere Gewaltakte hervor.119 Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 83. Appelt / Höllriegl / Logar, Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder, 377 (429). 113 Die Bedeutung dieses Aspekts für die Erklärung häuslicher Gewalt betont O’Brien, Journal of Marriage and the Family 33 (1971), 692 ff. 114 Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 79; Baumeister / Bushman, Emotionen und Aggressivität, 598 (605 f.). 115 Godenzi, Gewalt im sozialen Nahraum. 116 Gelles, Gewalt in der Familie, 1043 (1068 f.). 117 Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 75. 118 Gelles, Gewalt in der Familie, 1043 (1068): „Aussprüche wie ,Das tut mir mehr weh als Dir‘ oder ,Du warst böse, also hast du Prügel verdient‘ tragen zu der Art und Weise bei, wie Kinder gewalttätiges Verhalten rechtfertigen lernen.“ Ebenso Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 89. 119 Gelles / Straus, Intimate violence. 111 112
III. Fazit
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Berücksichtigt man hingegen die jüngere Geschichte der Türkei, erklärt sich auch die niedrige Hemmschwelle zur Anwendung schärfster Formen von Gewalt. Viele Türken haben am eigenen Leib Gewalt seitens des Staates erlebt120 oder wurden geprägt durch die gegenwärtige kollektive Verdrängung von historischen Gewaltanwendungen. Die im Rahmen des Kurdenkonflikts verübten Menschenrechtsverletzungen dürften in der hiervon betroffenen Region eine stark traumatisierte Bevölkerung zurückgelassen und zum Entstehen einer Gewaltkultur geführt haben. Diese Erfahrungen bieten sich daher vielen als Modell für eine Neutralisierung des eigenen Verhaltens an. Durch das Berufen auf höhere Werte, die Verleugnung des eigenen Tuns oder dessen Schädlichkeit und die Annahme einer Mitverantwortlichkeit des Opfers lassen die Täter im Wege eines Neutralisationsprozesses das eigene Verhalten in einem besseren Licht erscheinen.121 Hierdurch wird insbesondere das eigene schlechte Gewissen des Täters beruhigt und das eigene Verhalten entschuldigt.122 Auch andere Stimmen nehmen ähnliche kognitive Strategien für einen Prozess der Rationalisierung von Verstößen gegen Gewaltverbotsnormen an.123 Damit lassen „Ehrenmorde“ sich auch als Verteidigung eines männlichen Herrschaftsanspruchs deuten, derer sich Männer zur Verteidigung ihrer starken Position im Machtsystem bedienen.124
III. Fazit „Ehrenmorde“ sind die schwerste Form häuslicher Gewalt und werden vom hiesigen Gemeinwesen und zunehmend auch weltweit zu recht als intolerabel angesehen. Die Täter sind meist Männer, bei den Opfern handelt es sich zumeist um Frauen, denen ein Verstoß gegen streng patriarchalische Verhaltensnormen vorgeworfen wird. Dabei reicht zuweilen die bloße Vermutung eines Verstoßes gegen diese Verhaltensnormen, ohne dass es tatsächlich zu einem Normbruch gekommen sein muss. Die Täter rechtfertigen ihr Handeln mit kulturellen Traditionen, die sie als absolut bindend erachten und über das Leben ihrer Opfer stellen. Aufgrund der starken gesellschaftlichen Veränderungen der türkischen Gesellschaft sowie der 120 Diese Einschätzung wird auch in einem Bericht von Amnesty International geteilt: Turkey: women confronting family violence, S. 13. In den Jahren nach dem Militärputsch von 1980 wurde etwa eine Million Türken inhaftiert und in den Gefängnissen Opfer von Gewalt. Hinzu kommen kollektive Gewalterfahrungen der Opfer des Bürgerkriegs in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, wo mehrere Millionen Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden sind. Diese Beispiele veranschaulichen, dass der Staat zur Konfliktlösung auf Gewalt zurückgreift. FAZ v. 18. Mai 2006, S. 3. 121 Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 61. 122 Lamnek / Ottermann, Tatort Familie, S. 62 f. 123 Eifler, Kriminalsoziologie, S. 43. 124 Röper, ZRP 2006, 187 unter Hinweis auf Akgün, Die Zeit v. 12. 4. 2006, S. 4.
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A. Hintergru¨nde und Verbreitung am Beispiel der tu¨rkischen Kultur
türkischstämmigen Gesellschaft hierzulande verliert diese Bindung an patriarchalische Normen immer mehr an Bedeutung und kann „Ehrenmorde“ nicht mehr vollumfänglich erklären. Näher liegt es, den gesellschaftlichen Wandel bei der Erklärung der Ursachen des „Ehrenmordphänomens“ in unserer Zeit zu berücksichtigen. Dieser Wandel besteht in einer wachsenden Tendenz vom Patriarchat zum egalitären Partnerschaftsmodell einer Leistungsgesellschaft, in welcher der Individualismus der Gesellschaftsmitglieder betont wird. Dieser Wandel ist weder in Deutschland noch in der Türkei abgeschlossen, so dass diese komplementären Wertanschauungen gleichzeitig in der Gesellschaft der Türkei wie derjenigen Deutschlands präsent sind. Dies führt zu Verhaltensunsicherheiten und innerfamiliären Konflikten, die ihren Ursprung nicht selten in enttäuschten Verhaltenserwartungen und dem Gefühl von Machtverlust seitens der männlichen Familienangehörigen haben. „Ehrenmorde“ stellen vor diesem Hintergrund für die Täter ein geeignetes Mittel zur Machtsicherung und zur Verhinderung egalitärer Tendenzen dar, denn sie richten sich nicht bloß an das Opfer; sie sind zugleich auch allen Frauen eine Warnung davor, es dem Opfer gleich zu tun und mehr Freiheit zu wagen. Dass dies die tatsächlich wohl häufigste Ursache für „Ehrenmorde“ darstellt, belegen auch die immer häufiger werdenden „Ehrenmorde“, die sich mit dem patriarchalischen Ehrkonzept nicht decken beziehungsweise die patriarchalischen Verhaltenserwartungen an Frauen ad absurdum führen. Inzwischen reicht nämlich schon das Wünschen eines Liebeslieds im Radio oder das Tragen von Hosen für einige Täter als Anlass für einen Ehrenmord aus. Zudem mag (vermuteter) sozialer Druck von außen für den Täter bei seinem Tatentschluss eine Rolle spielen. Doch erscheint gerade in Großstädten wie Berlin oder Istanbul ein „Ehrenmord“, der mit einem solchen Druck erklärt wird, vielmehr als Ausdruck vorauseilenden Gehorsams. Denn gerade in diesem Kontext ist dieser Druck weniger fühlbar und leichter umgehbar als in einem überschaubaren dörflichen Kontext.
B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome in mediterranen Strafrechtsordnungen Ungeachtet regionaler Besonderheiten sind die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertvorstellungen nicht allein auf bestimmte Regionen in der Türkei beschränkt, sondern sie lassen sich im gesamten Mittelmeerraum nachweisen. Beginnend mit den Forschungsarbeiten der Anthropologen Pitt-Rivers und Peristiany im vergangenen Jahrhundert setzte eine rege wissenschaftliche Auseinandersetzung bezüglich der Frage ein, ob das patriarchalische Konzept von Ehre nicht sogar ein kulturelles Konzept darstellt, das den gesamten Mittelmeerraum einschließlich der christlichen Gebiete verbindet. Dieses als „Honour-Shame-Syndrome“ bezeichnete Konzept wird von vielen Autoren, auch außerhalb der Anthropologie, anerkannt.1 Die Anhänger der Theorie vom Honour-Shame-Syndrome gehen davon aus, dass im gesamten Mittelmeerraum Frauen als unbeherrschte Wesen mit starkem Drang zur Sexualität angesehen werden, die deswegen strenger Überwachung bedürfen, um ihre Ehre und die ihrer Männer zu bewahren.2 In praktisch allen untersuchten Teilen des Mittelmeerraums hängt die Ehre des Mannes sowie der gesamten Familie von der sexuellen Reinheit der ihnen angehörenden Frauen ab. Daher wird die sexuelle Reinheit der Frauen von den Männern oft streng beschützt, wobei ein starker Zusammenhang zwischen materiellen Gütern der Familie und der sexuellen Reinheit der Frau festzustellen sei.3 Um die Reinheit der Frau zu schützen, schützen Männer ihr Haus vor Eindringlingen, seien es Diebe, Plünderer oder Liebhaber. Versagt der Mann beim Schutz seines Hauses vor Eindringlingen, droht ihm ein Ehrverlust, da von der Gemeinschaft angenommen wird, er könne 1 Peristiany / Pitt-Rivers (Hrsg.), Honor and Grace in Anthropology; Gilmore, introduction: The Shame of Dishonor, S. 16; Fisher, Hybris – A Study of Honour and Shame in Ancient Greece; Safilios-Rothschild, British Journal of Sociology 20 (1969), 205 ff.; McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 10 f.; Chehhar, Sexualités marocaines – l’enquête dans la ville de Khourigba; Omar, Sexualität im Islam und in der türkischen Kultur; al-Khayyat, Honour and Shame – Women in Modern Iraq; Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, S. 322; Schneider, Ethnology 10 (1971), 1 (18 ff.); kritisch, wenn auch im Ergebnis ähnlich Wikan, Man, New Series 19 (1984), S. 635 ff. 2 Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, S. 322; Campbell, Honour, Family and Patronage, 169 f. sowie 199 ff.; du Boulay, Portrait of a Greek Mountain Village, 111 ff., 123 f.; Peristiany, Honour and Shame in a Cypriot Highland Village, in: Peristiany (Hrsg.), Honour and Shame: The Values of Mediterranean Society, 173 (182 f.); Pitt-Rivers, The People of the Sierra, S. 114 ff. 3 Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, S. 323.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
ebensowenig die Reinheit seiner Frau, Tochter oder Schwester bewahren. Zusammenfassend lässt sich das Honour-Shame-Syndrom daher auf folgende Punkte reduzieren: „(1) Honor and shame form a value system rooted in gender distinctions in Mediterranean culture. Preservation of male honor requires a vigorous defense of the shame (modesty, virginity, seclusion) of women of the family or lineage. (2) Honor, most closely associated with males, refers to one’s claimed social status and also to public recognition of it. Shame, most closely linked with females, refers to sensitivity towards one’s reputation, or in the negative sense to the loss of honor. (3) Mediterranean societies are agonistic, or competitive. Challenges to one’s status claims (honor) are frequent and must be met with the appropriate ripostes. The ensuing public verdict determines the outcome, and whether honor is won or lost.“4
Natürlich sind Gesellschaften auch andernorts nicht selten patriarchalisch organisiert, und natürlich nehmen Ehrkonzepte nicht nur im Mittelmeerraum einen hohen Stellenwert ein. In vielen Gesellschaften hängt die Ehre einer Person von der öffentlichen Meinung ab. Gleichfalls ist zu betonen, dass die Annahme eines den gesamten Mittelmeerraum verbindenden Ehrverständnisses nicht auch bedeutet, dass dort „Ehrenmorde“ eine alltägliche Erscheinung sind. Dennoch hat die anthropologische Forschung herausgearbeitet, dass das Verständnis von Ehre im Mittelmeerraum einem gemeinsamen Muster folgt, das – im Gegensatz zu den meisten anderen Gesellschaften – einen starken Bezug zur weiblichen Sexualität hat.5 So berichtet Safilios-Rothschild, dass insbesondere in ländlichen Gegenden Griechenlands auch nach dem Zweiten Weltkrieg „Ehrenmorde“ verbreitet waren, wobei die Täter nicht immer der Ehemann, sondern auch entferntere männliche Verwandte wie ein Onkel oder ein Cousin waren. Diese wurden von Gerichten im Einklang mit den Anschauungen der Allgemeinheit vergleichsweise milde bestraft. Zuweilen wurden die Angeklagten sogar trotz erwiesener Schuld freigesprochen.6 SafiliosRothschild beobachtete aber auch, dass infolge der fortschreitenden Urbanisierung Griechenlands die Kleinfamilie zu Lasten des Familienclans aufgewertet wurde, weswegen „Ehrenmorde“ in den Städten kaum von entfernten Verwandten, sondern zumeist von Ehe- oder Beziehungspartnern verübt wurden und insofern in einem individualisierten Kontext standen.7 Die Theorie vom mediterranen Honour-Shame-Syndrome ist indes nicht unbestritten. Teilweise wird argumentiert, das Syndrom sei islamischen Ursprungs und lasse sich im vorislamischen Mittelmeerraum nicht nachweisen.8 Hierfür spricht Chance, Semeia 68 (1994), 139 (142). Warum das Honour-Shame-Syndrome entstanden sein soll, konnte bislang nicht abschließend geklärt werden. Eine Zusammenstellung verschiedener Erklärungsversuche findet sich bei Chance, Semeia 68 (1994), 139 (140 f.). 6 Safilios-Rothschild, The British Journal of Sociology 20 (1969), 205 ff., insbesondere 215. 7 Safilios-Rothschild, The British Journal of Sociology 20 (1969), 205 (211). 4 5
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im ro¨mischen Strafrecht
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insbesondere, dass viele nichtislamische Mittelmeerländer in ihrer Geschichte unter muslimischer Herrschaft standen. Unter muslimischer Herrschaft könnte das Syndrom auch in diese Regionen vorgedrungen sein und bis heute fortwirken.9 Außerdem wird vorgebracht, gerade in Südeuropa müsse man berücksichtigen, dass soziale Veränderungen langsamer voranschritten als in urbanen Regionen. Daher sei es vernünftiger, andalusische oder sizilianische Dorfbewohner aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mit englischen oder deutschen Dorfbewohnern aus der Zeit vor zweihundert Jahren zu vergleichen und nicht mit ihren Zeitgenossen aus England oder Deutschland.10 Aus diesem Grund wird im Folgenden zu untersuchen sein, ob sich das HonourShame-Syndrome auch im vorislamischen Mittelmeerraum nachweisen lässt, was den islamischen Ursprung wiederlegen würde. Sollte dieser Nachweis des Syndroms gelingen, spräche dies dafür, dass der Islam in seiner Entstehungszeit bereits bestehende Anschauungen aufgegriffen hat. Als zu untersuchendes vorislamisches Recht bietet sich das Recht des Alten Rom an, weil dieses vergleichsweise umfassend überliefert ist. Des Weiteren wird der Umgang des französischen Strafrechts mit „Ehrenmorden“ von Interesse sein, wobei der Schwerpunkt in der Entwicklung der vergangenen zwei Jahrhunderte liegen wird.
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im römischen Strafrecht Das Strafrecht des alten Roms belegt, dass das Honour-Shame-Syndrome bereits in vorislamischer Zeit jedenfalls in den von Rom beherrschten Mittelmeerregionen verbreitet war. Dies betrifft sowohl das Strafrecht vorkaiserlicher Zeit als auch das Strafrecht der Prinzipatszeit. Wie „Ehrenmorde“ im Rom des Altertums strafrechtlich behandelt wurden, wird anhand überlieferter literarischer Quellen dargestellt. Hierzu gehören in erster Linie die entsprechenden Ausführungen in den Digesten, aber auch Schilderungen von zeitgenössischen Nichtjuristen, welche Aufschluss über die sittlichen und rechtlichen Bewertungen in der römischen Gesellschaft geben. Gleichwohl ist auf die Schwierigkeiten einer Untersuchung der rechtlichen Behandlung des „Ehrenmordes“ und der Verankerung der dahinter stehenden sitt8 Treggiari, Roman Marriage, S. 311 ff.; vgl. auch Golden, EMC / CV 36 (1992), 309 ff.; vgl. auch Herzfeld, „As in Your Own House“: Hospitality, Ethnography, and the Stereotype of Mediterranean Society, S. 75 ff. 9 Unter muslimischer Herrschaft standen etwa Portugal, Zypern, Spanien, Griechenland, Sizilien, Frankreich oder der Balkan. Die maurischen Herrscher wurden in Spanien erst im 15. Jahrhundert besiegt; Teile des Balkans erst in den vergangenen beiden Jahrhunderten von muslimischer Herrschaft unabhängig. 10 Stewart, Honor, S. 75 ff.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
lichen Anschauungen gerade anhand der antiken römischen Gesellschaft hinzuweisen. Bei der Quellenauswertung ist dementsprechend Skepsis gebotenen, zumal weibliches Sexualverhalten und hiermit verknüpfte innerfamiliäre Tötungsdelikte gesellschaftlich tabuisiert gewesen sein können. Die hier interessierenden Literaturquellen stammen allesamt aus der Hand männlicher Autoren, so dass zeitgenössische Auseinandersetzungen mit der Problematik von Frauen fehlen. Von den Quellen ist mithin eine tendenzielle Einseitigkeit der Schilderungen zu erwarten, wie in ihrer Gesellschaft familiäre Konflikte gelöst wurden oder zu lösen waren.11 Zudem fehlen wichtige Primärquellen. Wo Rechtsquellen zur Lösung von Familienkonflikten wegen normverletzenden weiblichen Sexualverhaltens existierten, sind diese nicht in ihrer ursprünglichen Form überliefert, sondern durch die einschlägigen Kommentierungen in den Digesten. Zwar finden sich dort teilweise wörtliche Zitate von Gesetzestexten, dies ist aber eher die Ausnahme. Hinzukommt das Problem, dass die Überlieferungen teilweise an entscheidenden Stellen lückenhaft sind. So ist vergleichsweise wenig über die relevanten Rechtsverhältnisse im vorkaiserlichen Rom bekannt. Nichtsdestoweniger sind die Quellen von unschätzbarem Wert, belegen sie doch zur Zeit des Alten Roms die Existenz des Honour-Shame-Syndromes und die Verbreitung von Tötungen, die heute als „Ehrenmord“ bezeichnet werden können. Hinsichtlich der diesbezüglichen Wertvorstellungen sowie der inhaltlichen Ausgestaltung der uns überlieferten sozialen und rechtlichen Normen ist zwischen der vorkaiserlichen Zeit und der Kaiserzeit zu unterscheiden.
1. Autonomie der familiären Reaktion auf weibliches Sexualverhalten im vorkaiserlichen Rom Im vorkaiserlichen Rom überließ es der Staat weitestgehend den betroffenen Familien, ob und wie sie sexuelles Fehlverhaltens ihrer weiblichen Mitglieder verfolgten und bestraften.12 Vor allem ihre sexuelle Sittsamkeit befand sich im Fokus der sozialen Anschauungen. Etwaiges sittliches Fehlverhalten, vor allem solches mit sexuellem Bezug, hatte schon im vorkaiserlichen Rom negative Auswirkungen auf die Familienehre, als deren Träger der Vater der jeweiligen Frau und an letzter Stelle die übrigen Familienmitglieder betrachtet wurden.13 In erster Linie war der männliche Familienvorstehende als Hauptträger der Familienehre für deren VerteiMcGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 9. Ein vager Hinweis bei Paulus Coll. 4.2.2 ist der einzige Hinweis auf diesbezügliche gesetzgeberische Tätigkeit im vorkaiserlichen Rom. Aufgrund seiner geringen Aussagekraft wird also von einer weitestgehenden Freiheit der Familien bei der Disziplinierung weiblichen Sexualverhaltens auszugehen sein, McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 142. 13 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 4. 11 12
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digung verantwortlich.14 Ehre und die Verteidigung von Ehre waren damit zunächst den männlichen Familienmitgliedern vorbehalten. Demgegenüber blieben Verstöße des Ehemannes gegen die eheliche Treue für ihn meist folgenlos. Bestenfalls wurde sein Verhalten gerügt,15 so dass ihn keine nennenswerte eheliche Treuepflicht traf. Eine eheliche Treuepflicht traf vor allem Frauen, so dass die Vorstellungen von Scham damals eher mit Frauen assoziiert wurden. Insbesondere von ihrem sexuell sittlichen Verhalten hing das gesellschaftliche Ansehen von Frauen ab.16 Strafrechtliche Sanktionen sah das uns überlieferte damalige römische Recht für Ehebrüche und ähnliche Enttäuschungen an sexuelle Verhaltenserwartungen nicht vor. Das weibliche Sexualverhalten war also zu jener Zeit eine Privatangelegenheit, der gegenüber sich die öffentliche Gewalt neutral verhielt. In dieser Beschränkung rechtlicher Eingriffe in das Familienleben auf ein Minimum manifestiert sich ein Respekt vor der Familie als „in sich abgeschlossene, selbständige Welt: weder überschreitet irgendeine Streitigkeit im Innern des Hauses dessen Schwelle, noch ist der Rechtsordnung der Gesamtheit der Eintritt ins Haus erlaubt.“17 Diese staatliche Neutralität erscheint insbesondere im Hinblick auf die schon damals eher patriarchalischen Strukturen der römischen Gesellschaft erstaunlich. Der römische Staat war schon damals ein auf staatlicher wie auf familiärer Ebene von Männern dominiertes, an der Tradition festhaltendes, autoritäres Gemeinwesen.18 Angesichts dieser streng patriarchalischen Strukturen wäre an sich eine staatliche Kontrolle weiblichen Sexualverhaltens zu erwarten gewesen. Es fragt sich daher, warum sich die öffentliche Gewalt im vorkaiserlichen Rom so neutral verhielt. Einige Autoren führen das Fehlen strafrechtlicher Sanktionen auf die angeblich damalige Reinheit und Unverdorbenheit der Römer zurück, die Ehebrüche zu einer Seltenheit gemacht haben soll.19 Diese Seltenheit wiederum soll eine Kriminalisierung weiblichen Sexualverhaltens unnötig gemacht haben. Abgesehen davon, dass diese Ansicht offensichtlich ein verklärtes Bild der vorkaiserlichen römischen Gesellschaft wiedergibt, verkennt sie, dass die damaligen Rechtsverhältnisse die Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 4 f. Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 22. 16 McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 9; Dementsprechend groß waren die Bemühungen, die Folgen sexuellen Fehlverhaltens aus der Welt zu schaffen; Praktiken wie Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung von Kindern waren schon damals verbreitet. Hierzu eingehend Hopkins, CSSEH 7, 1964 / 65, 124 ff.; siehe auch Brunt, Italian Manpower, S. 146 f. 17 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 6. 18 Krüger, Die Ehegesetze des Kaisers Augustus, S. 7 f. 19 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 2; von Wächter, Über Ehescheidungen bei den Römern, S. 119 ff.; demgegenüber weist Bernhöft zu Recht darauf hin, dass die wenigen Berichte über das sittliche Leben der Römer in vorkaiserlicher Zeit sich ausschließlich auf die römischen Oberschicht beziehen, so dass Rückschlüsse auf die gesamte Bevölkerung Roms zu kurz gegriffen sind, vgl. Bernhöft, ZVR 8 (1889), 161 (200). 14 15
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Gefahr in sich bargen, dass der Ehebruch einer Frau nie in die Öffentlichkeit gelangte. In einer Gesellschaft, die Tugenden wie sexuelle Reinheit und Unverdorbenheit beschwört, liegt es nahe, dass Familien sexuelles Fehlverhalten ihrer weiblichen Mitglieder möglichst nicht nach Außen dringen lassen. Dass Ehebrüche damals tatsächlich eine Seltenheit waren, kann daher nicht als wahr unterstellt werden. Es erscheint wahrscheinlicher, dass das Fehlen strafrechtlicher Normen in dieser Beziehung und die parallele Duldung der Sanktionierung von Ehebrüchen durch die Familie gerade dafür sprechen, dass die damalige römische Gesellschaft streng patriarchalisch war. Denn wo für die Beurteilung weiblichen Sexualverhaltens ein eindeutiger positivrechtlicher Rahmen fehlt, ist die einzelne Frau der Willkür ihrer Familienmitglieder ausgeliefert.
a) Exklusives Tötungsrecht des Ehemannes und des Vaters In vorkaiserlicher Zeit durfte der Ehemann seine Frau straflos töten und damit die Familienehre wiederherstellen, 20 wenn er seine Frau beim Ehebruch ergriffen hatte:21 „In adulterio uxorem tuam si prehendisses, sine iudicio inpune necares; illa te, si adulterares sive tu adulterarere, digito non auderet contingere, neque ius est.“
Vereinzelt wird behauptet, auch der Vater der Frau hätte das Recht zur Tötung seiner Tochter gehabt, wenn er diese auf handhafter Tat ertappt hatte.22 Die fehlende Erwähnung dieses Rechts des Vaters in vorkaiserlicher Zeit sei, für sich genommen, noch kein Beleg für das Fehlen eines väterlichen Tötungsrechts. Aus der ausdrücklichen Anerkennung eines väterlichen Tötungsrechts in der frühen Prinzipatszeit wird die Existenz eines solchen Rechts auch in vorkaiserlicher Zeit abgeleitet. Bei der positivrechtlichen Regelung dieses Tötungsrechts sei es dem Gesetzgeber allein um die Normierung der Voraussetzungen seiner Ausübung gegangen.23 Im Übrigen durfte der Vater nach einem frührömischen, uns von Dionys überlieferten Gesetz im Rahmen seiner „Patria Potestas“24 seinen Sohn töten,25 McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 204. Aulus Gellius 10, 23, 5. 22 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 4. 23 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 4. 24 Als „Patria Potestas“ bezeichnet man die Vollgewalt des Familienoberhauptes, welche auch dessen Recht einschließt, über Leben und Tod ihm hierarchisch untergeordneter Familienangehöriger zu entscheiden (ius vitae necisque). Sie ist nur ausnahmsweise in ihrer ganzen Schärfe hervorgetreten und darf somit als ein im Hintergrund drohendes Disziplinierungsmittel für die Familienangehörigen betrachtet werden, das die gesamte Gesellschaft in ihrem Verhalten beeinflusste. Über die neuere Forschung zur „Patria Potestas“ und Milderung ihrer Strenge auch unter demographischen Gesichtspunkten siehe Garnsey / Saller, Das römische Kaiserreich – Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, S. 193 ff. 20 21
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also wohl erst recht auch seine Tochter. Die oben genannte Vorschrift stand also nicht im Widerspruch zum Recht des Vaters, seine Kinder zu töten, sondern erweiterte dessen Position um das Recht zur Tötung der ehebrechenden Frau. Die Anerkennung dieser Tötungsbefugnisse des Familienoberhauptes wich schrittweise dem wachsenden Interesse des Staates an einer staatlichen Ehebruchsrepression. Einen ersten Schritt in diese Richtung könnte der Staat im 5. Jahrhundert vor Christus mit der Einführung des Amtes der Censoren realisiert haben, welche straflose aber dennoch unsittliche Handlungen ahnden sollten.26 Zwar durften sie keine körperlichen oder Vermögensstrafen verhängen, hatten aber das Instrument der „Nota Censoria“, mit dem sie dem Einzelnen seinen Achtungsanspruch nehmen konnten, mit der Folge etwa des Ausschlusses von bestimmten Staatsämtern.27 Im Rahmen dieser Funktion sollen die Censoren auch für Ehebrüche zuständig gewesen sein.28 Sicher belegt ist eine Intervention von Censoren in Ehebruchkonflikte indes nicht.29
b) Disziplinierung der weiblichen Sexualität durch das „iudicium domesticum“ Beging eine Frau einen Ehebruch, so durfte der Hausherr30 über sie im „iudicium domesticum“, also dem Hausgericht, richten, wovon Dionys von Halikarnassos berichtet.31 Dieses konnte nur vom Hausherrn einberufen werden, so dass die Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens vor dem „iudicium domesticum“ allein in seinen Händen lag.32 Machte er hiervon keinen Gebrauch, konnte das Hausgericht die Frau nicht bestrafen. Die vom Hausgericht beschlossenen Strafen konnten drakonisch sein. Aufgrund der fehlenden staatlichen Einflussnahme und Kontrolle war es dem Hausgericht sogar möglich, die Frau zum Tode verurteilen. Ob diese Strafe die Regel darstellt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Einige Autoren äußern die Vermutung, dass ein solches Todesurteil eher die Ausnahme darstellte.33 Zu beachten ist jedoch, dass eine verschwindend geringe 25 Bruns, Fontes iuris Romani antiqui, Bd. I, S. 7; ein väterliches Tötungsrecht im vorkaiserlichen Rom abl. Thomas, Lex Julia de Adulteriis Coercendis, S. 637 ff. 26 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 9. 27 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 10. 28 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 5. 29 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 10, was den Autor dennoch nicht davon abhält, ein Tätigwerden der Censoren in Ehebruchkonflikten anzunehmen, da die Ehe ja „das Barometer der Sittlichkeit eines Volkes“ darstelle, die „den Hoch- oder Tiefstand der sittlichen Auffassungen einer Nation“ anzeige (ebenda). 30 Dies konnte der Vater oder der Ehemann sein, je nachdem, wer Gewalt über sie hatte, Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 11. 31 Dionys Archäologie 2, 25, 5 ff. 32 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 6.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Anzahl von Überlieferungen nicht den Rückschluss auf eine geringe Relevanz dieser Tötungsbefugnis in der damaligen römischen Gesellschaft erlaubt. Man darf nicht vergessen, dass die Tötungsbefugnis des „iudicium domesticum“ als eine Privatangelegenheit der betroffenen Familie aufgefasst und wegen des Sexualbezugs als Gegenstand auch weithin tabuisiert gewesen sein dürfte, so dass das Schweigen der Autoren über konkrete Fälle nicht zwingend auf die Seltenheit von Todesurteilen hindeutet. Die Möglichkeit der Verurteilung einer Frau zum Tod durch ihre Familie wird gewiss nicht deshalb als erlaubt überliefert, weil eine solche Form der Bestrafung die absolute Ausnahme darstellte. Schließlich wird selbst in den türkischen Familien, in denen die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertvorstellungen gelebt werden, nicht jeder Normverstoß einer Frau mit ihrer Tötung beantwortet. Dennoch stellen diese Tötungen in den betroffenen Teilen der türkischen Gesellschaft ein zu Recht ernstzunehmendes Problem dar. Daher ist es ebenso richtig, die grenzenlose Bestrafungsbefugnis der Frau durch das „iudicium domesticum“ ernst zu nehmen und nicht als seltene Abweichung von der Norm abzutun. Vielmehr bewegten sich die den Tod der Frau beschließenden Familien gerade aufgrund der Rechtmäßigkeit ihres Tuns innerhalb der Norm. Die Patria Potestas war jedoch auch hier noch alleinbestimmend, was die Wahl der konkret zu verhängenden Strafe anging. Überdies bewirkte das Fehlen von Rechtsvorschriften zur Regelung des Verfahrens im „iudicium domesticum“ auch eine Autonomie des Hausherrn zur Prozessregelgestaltung. Es kann daher angenommen werden, dass er gegebenenfalls auch Indizien für eine Disziplinierung der ehebrecherischen Frau genügen ließ.34 Zur Vermeidung von Gewaltmissbrauch hörte der Hausherr vor der Verkündung seiner Entscheidung üblicherweise die Angehörigen, die Cognaten (Blutsverwandte) und Freunde an.35 Diese sollten ihn unter Umständen auch darauf hinweisen, wenn er sich der ehebrecherischen Frau gegenüber zu milde verhalte, da auch dies als Missbrauch der Manus oder der Patria Potestas galt.36 Gebunden war er an eine abweichende Meinung dieser Personen jedoch nicht, da diese Verwandten nur als Rat tätig wurden. Daher wurde das „iudicium domesticum“ auch als „consilium domesticum“ bezeichnet,37 also frei übersetzt als Familienrat. Ungeachtet der fehlenden Bindungswirkung der individuellen Entscheidung der Mitglieder des Rates ist nicht anzunehmen, dass die Willkürgefahr durch dieses Gremium wesentlich vermindert wurde. Selbst im Rahmen dieses pluralistisch zusammengesetzten Gremiums bestand für das Familienoberhaupt die Möglichkeit, durch geschicktes Ausnutzen wirtschaftlicher und sozialer Abhängigkeiten seiner Mitglieder die Entscheidung in seinem Sinne zu beeinflussen. 33 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 4; von Wächter, Über Ehescheidungen bei den Römern, S. 62. 34 Augustus verbannte seine Tochter Iulia wegen Ehebruchs; für die Verurteilung ließ er genügen, dass diese auf einem Fest an einer Trinkrunde teilnahm. 35 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 3. 36 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 12. 37 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 7.
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im ro¨mischen Strafrecht
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2. Weibliches Sexualverhalten als Gegenstand strafrechtlichen Interesses in der Kaiserzeit Mit dem Inkrafttreten der Lex Iulia de adulteriis coercendis im Jahr 18 vor Chr. wurde die weibliche Sexualität zum ersten Mal nachweislich38 ein Gegenstand des römischen Strafrechts. Das Gesetz markiert damit einen Wandel des Ehebruchs von der reinen Privatangelegenheit hin zu einer öffentlichen Interessen zuwiderlaufenden Straftat. Der Grund hierfür war sicher nicht die Vorstellung von einer Ehe als einem nicht zu verletzenden „heiligen Stand“. Die Vorstellung von der Heiligkeit des Ehebundes erreichte Rom erst mit der Verbreitung des Christentums. Ursächlich für das neu entstandene strafrechtliche Interesse war vielmehr die damalige Auffassung, dass die Aufweichung traditioneller Werte, der mores, wie eheliche Treue, dem Aufbau eines machtvollen und stabilen römischen Imperiums zuwiderlaufe.39 „Die mores waren kein überflüssiger ideologischer Ballast, antiquiert und überlebt, sondern Ausformungen kollektiver Lebensweisen einer aristokratischen Führungsschicht, deren soziale Homogenität einst Grundlage ihrer Herrschaftsform gewesen war, einer Führungsschicht, die als politischer Entscheidungsträger zwar entmachtet war, die aber dennoch weiterhin für die politische Verwaltung der Herrschaft gebraucht wurde.“40 Der Schutz ebendieser „mores“ wurde indessen nicht durch eine positivrechtliche Normierung nur traditioneller Sitten gesichert, sondern durch Hinzuziehung innovativer Elemente, die bewusst mit der Tradition brechen. Positivrechtlich normiert wurde erstmals die traditionell seit je bestehende Erwartung sexueller Reinheit von Frauen. Innovativ war allerdings die nunmehr staatliche Sanktionierung von Verstößen gegen diese Verhaltensregeln sowie eine Rollenverschiebung, was das Recht zur Tötung der Ehebrecherin angeht. Die Strafbarkeit des Ehebruchs bezog sich grundsätzlich nur auf Frauen; ein Mann machte sich nur dann wegen Adulterium strafbar, wenn er durch Geschlechtsverkehr mit einer verheirateten Frau hohen Standes in eine fremde Ehe eindrang.41 Daneben sah das Gesetz auch die Strafbarkeit des Stuprum (Unzucht) vor, das Jungfrauen und Witwen umfasst, also die Personen, welche sich nicht wegen Ehebruchs strafbar machen konnten.42 Mit der Einbeziehung des Stuprum in den Anwendungsbereich des Gesetzes gewährleistete die Lex Iulia de adulteriis coercendis eine umfassende Disziplinierung weiblichen Sexualverhaltens, welche durch strenge Strafen gewährleistet werden sollte. Die der Ehebrecherin drohenden 38 Zu den Unsicherheiten über die Existenz früherer positivrechtlicher Regelungen ausführlich Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 91 ff. 39 Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 10 ff. m. w. N. 40 Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 23. 41 Dem Ehebrecher drohte die Verbannung auf eine Insel sowie der Verlust der Hälfte seines Vermögens, P. S. 2, 26, 14. 42 Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 40.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Strafen waren schwere Vermögensstrafen, die Relegatio in Insulam43 (Verbannung auf eine Insel) sowie das Verbot, vor Gericht als Zeugin auszusagen und zu testieren.44 Sie durfte außerdem keine neue Ehe eingehen.45 Nachfolgende Kaiser führten für Ehebrüche die Todesstrafe ein.46 Stuprum wurde dagegen allein mit Vermögensstrafen und dem Verlust des Testierrechts bestraft.47 Jenseits der strafrechtlichen Sanktionen drohte der Täterin des „Stuprum“ eine Zwangsehe, wenn der Liebhaber nicht gerade niederen Standes war.48 Sogar dem Ehemann drohte eine Bestrafung, und zwar wegen Lenocinium (Kuppelei), wenn er seine beim Ehebruch ergriffene Frau nicht von sich wies und den Ehebrecher entkommen ließ, wenn er Unwissenheit vortäuschte, wenn er materielle Vorteile aus der Tat zog oder wenn er eine wegen Ehebruchs verurteilte Frau ehelichte.49 Hierdurch wird eine Pflicht des Ehemannes belegt, über das sittliche Verhalten seiner Frau zu wachen und sie bei Zuwiderhandlungen gegen die an sie adressierten Verhaltenserwartungen zu verstoßen. Das Wachen über das sittliche Verhalten der Familienmitglieder war also auch in der Kaiserzeit ausschließlich den Männern vorbehalten, wie es für das Honour-Shame-Syndrome typisch ist. Für das Vorfeld des Anklageverfahrens sah die Lex Iulia ein „ius occidendi iure patris vel mariti“ vor, das uns im Folgenden allein auf die ehebrecherische Frau bezogen interessieren soll, auch wenn dieses Tötungsrecht zugleich die Tötung des Ehebrechers durch den Vater oder den Ehemann umfasste. Durch eine Einschränkung des Tötungsrechts insbesondere des Ehemannes wollte die Lex „den hitzigen, ungestümen, im Feuer sinnlicher, eifersüchtiger Leidenschaft entbrannten Ehemann, welcher mit seinem Entschlusse rasch bei der Hand ist, von der Racheübung möglichst fernhalten, daher stellte sie ihn in Bezug auf die Tötungsbefugnis schlechter als den Vater, während bei den anderen Befugnissen dem maritus [Ehemann] als dem mehr Verletzten anstandslos der Vortritt gelassen wurde, z. B. wenn beide gleichzeitig die Anklage erhoben.“50 Inwieweit die Lex Iulia in ihrer vollen Strenge sich in der Rechtswirklichkeit der Prinzipatszeit Roms widerspiegelte, lässt sich heute nicht mit Sicherheit sagen. P. S. 2, 26, 14. D. 22, 5, 18. 45 D. 48, 5, 29 (Ulpian, libro quarto de adulteriis). 46 Constantius, Constans C. Th. 11, 36, 4 (a. 339). 47 Coll. 5, 2, 2. 48 McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 206. Zwangsehen waren übrigens in vorkaiserlicher Zeit nicht unüblich. Väter bestimmten, wen ihre Kinder heiraten sollten, berieten sich dabei regelmäßig aber mit der Ehefrau, Livius 38, 57, 7; Aulus Gellius 2, 7, 18. In den oberen Gesellschaftsschichten wird dies sehr häufig vorgekommen sein, da die Familienverbindungen in erster Linie nach politischen Gesichtspunkten geschlossen wurden. In der späten Republik haben sich Frauen ihre Ehemänner aber häufig selbst ausgesucht, Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 206. 49 D. 48, 5, 29 (Ulpian, libro quarto de aduleriis). 50 Triebs, Studien zur Lex Dei, S. 67. 43 44
I. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im ro¨mischen Strafrecht
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Auskunft hierüber geben uns allein die damaligen literarischen Quellen, welche aber teilweise entscheidende Informationen über die dort geschilderten Rechtsfälle vermissen lassen.51
a) Konzentration des umfassenden Tötungsrechts in der Hand des Vaters „Patri, si in filia sua, quam in potestate habet, aut in ea, quae eo auctore, cum in potestate esset, viro in manum convenerit, adulterum domi suae generive sui deprehenderit isve in eam rem socerum adhibuerit, ut is pater eum adulterum sine fraude occidat, ita ut filiam in continenti occidat.“52
Nach diesem Zitat von Paulus durfte nur der Vater mit Patria Potestas, also väterlicher Gewalt, einen Ehebrecher jedweden Standes straflos töten, doch dies nur dann, wenn er ihn gemeinsam mit seiner Tochter in seinem eigenen Haus oder dem ihres Ehemannes53 überraschte und sie gemeinsam mit eigener Hand tötete.54 Das Tötungsrecht, das übrigens auch dem Adoptivvater zustand, bezog sich sogar auf die in Manusehe lebende Tochter,55 also auch auf die nicht mehr zu ihrer Herkunftsfamilie sondern in die Familie des Ehemannes gehörende Tochter. In späterer Zeit wurde das Tötungsrecht des Vaters sogar auf Frauen sui iuris ausgedehnt,56 d. h. rechtlich nicht dem Vater unterstehende Frauen. Bei der Konzentration dieses umfassenden Tötungsrechts in den Händen des Vaters ging der Gesetzgeber davon aus, dass der Familienvater bei der Wahrnehmung des Normverstoßes seiner Tochter in nachvollziehbarer Weise provoziert sein darf.57 Mit „domus“ war „domicilium“ gemeint58, also nicht nur das sich im Besitz des Vaters befindende Haus, sondern dasjenige, das er zum Mittelpunkt seines Lebens und Wohnens gewählt hat.59 Der Vater musste seine Tochter gemeinsam mit dem Ehebrecher getötet haben beziehungsweise getötet haben wollen; andernfalls war er eines Mordes schuldig.60 Hatte er trotz nachweisbarer Absicht seine Tochter nicht zugleich getötet, weil 51 Eine Auswertung der literarischen Quellen findet sich bei Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 91 ff. 52 Coll. 4, 2, 3 (Paulus). Vermutlich ist nach ,adulterum‘ „cuiuscumque dignitatis“ zu ergänzen, so P. S. 2, 26, 1; vgl. Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 35 Fn. 15. 53 D. 48, 5, 23 § 2 (Papian, libro primo de adulteriis). 54 P. S. 2, 26, 1. 55 Coll. 4, 2, 3 (Paulus). 56 Coll. 4, 2, 4. 57 D. 48, 5, 23 § 4 (Papinian, libro primo de adulteriis). 58 D. 48, 5, 22 § 2 (Papinian, libro primo de adulteriis). 59 D. 48, 5, 24 § 3 (Ulpian libro primo de adulteriis). 60 Coll. 4, 2, 6 (Paulus); Coll. 4, 9, 1 (Papian).
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
diese beispielsweise durch einen Zufall gerettet wurde, wurde der Vater wegen der Tötung des Ehebrechers nicht in Anspruch genommen. Hatte der Vater das Entkommen seiner Tochter begünstigt, war die Tötung des Ehebrechers als Mord zu bestrafen.61 Der Vater musste also „prope uno ictu et uno impetu“ getötet haben,62 wobei die Reihenfolge der Tötungen irrelevant war.63 Eine deutliche zeitliche Zäsur zwischen der Tötung der Tochter und derjenigen des Ehebrechers machte damit letztere rechtswidrig. Das Erfordernis der Gleichzeitigkeit wurde jedoch wohl noch dann gewahrt, wenn nur wenige Stunden vergangen waren, solange der Gemütszustand des Vaters seit Erblicken der Ehebrecher sich nicht verändert hatte.64 Die Literatur sieht in den strengen Voraussetzungen an eine straflose Tötung des Vaters eine Abneigung des damaligen römischen Gesetzgebers dem ehemals gewohnheitsrechtlich anerkannten Tötungsrecht des Ehemannes gegenüber sowie seine Absichten, diesem deutliche Schranken entgegenzusetzen. So verstanden, beabsichtigte die Lex Iulia gerade nicht die gewaltsame Regelung von Familienkonflikten durch den Familienvater.65 Vielmehr hätte die Vorschrift an die väterliche Liebe appelliert, damit der Vater seine Entscheidung über das Leben seiner Tochter nie übereilt, sondern stets wohlüberlegt und eher zugunsten seiner Tochter fällen sollte.66 Durch die tatbestandlichen Anforderungen an eine straflose Tötung der Ehebrecherin durch ihren Vater wurden auf pragmatische Weise traditionelle Rollenbilder im Familienverbund berücksichtigt und zugleich eingeschränkt. Dies wird auch durch das Hauptanliegen der Lex Iulia, der primär staatlichen Ehebruchsrepression, belegt. Die Vorstellung von dem augustinischen Appell an die Vaterliebe begegnet indes erheblichen Bedenken. Ebensogut könnte es Augustus darauf angekommen sein, eine missbräuchliche Berufung auf die Vorschrift zu verhindern, wenn es dem Vater primär aus sachfremden Gründen darauf ankam, den Dritten zu töten. Mit dem Erfordernis der zeitnahen Tötung der Tochter stellte er sicher, dass der Vater die Tötung allein aus Gründen des Ehebruchs vollzog. Die oben geschilderte, in der Literatur vertretene Ansicht gründet sich auf der als selbstverständlich unterstellten Annahme, dass Väter schon im Alten Rom eine ebenso liebevolle Beziehung zu ihren Kindern hatten, wie wir sie heute von jedem Vater erwarten. Jedoch schulden alle Autoren, die in der Lex Iulia einen geschickten Versuch der Bekämpfung der Familienrache sehen, den Nachweis, dass auch im Alten Rom der Durchschnittsvater seine Tochter so sehr liebte, dass ihm mehr D. 48, 5, 24 § 4 (Ulpian, libro primo de adulteriis). D. 48, 5, 24 § 4 (Ulpian, libro primo de adulteriis). 63 D. 48, 5, 33 (Macer, libro primo de publicis iudicis). 64 Coll. 4, 2, 7 (Paulus); vgl. auch D. 48, 5, 24 § 4 (Ulpian, libro primo de adulteriis). 65 Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 62 f.; Heidenreich, Der Weg der Strafvorschrift über den Ehebruch, S. 29; Thomas, Lex Iulia de Adulteriis Coercendis, 637 (640); Andréev, Studii Classce 5 (1963), 165 ff. 66 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 163. 61 62
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an ihrem Leben lag als an dem Ansehen seiner Familie, für das nur er allein als Oberhaupt Verantwortung trug. Sie interpretieren die Vorschrift damit unzulässigerweise im Licht der hiesigen Wertvorstellungen. Aber gerade die für unsere Gesellschaft schwer begreifbaren „Ehrenmorde“ illustrieren, dass eine liebevolle väterliche Bindung zu Töchtern sich eben nicht von selbst versteht. Denn zumeist werden sie vom Vater des Opfers gebilligt, wenn nicht sogar von ihm selbst begangen. Bezüglich fremder Kulturen, insbesondere streng patriarchalischer Gesellschaften wie dem Antiken Rom, verbietet es sich daher, von der Vaterschaft automatisch auf väterliche Liebe zu schließen. Die Vermutung, hinter der Norm stünde ein geschickter Versuch des Kaisers Augustus, das Tötungsrecht durch einen Appell an väterliche Liebe leer laufen zu lassen, soll daher väterliche Liebe beim durchschnittlichen Vater im Alten Rom belegen. Um die Tötungen ehebrecherischer Frauen wirksam zu bekämpfen, hätte daher ein umfassendes Tötungsverbot näher gelegen. Unklar ist, ob der Vater sein Tötungsrecht an eine andere Person, etwa einen Sohn, delegieren konnte, wie dies bei nicht wenigen „Ehrenmorden“ heutzutage der Fall ist. Teilweise wird eine solche Delegierungsbefugnis des Vaters angenommen mit der Folge einer straflosen Tötung der Tochter durch die vom Vater hierzu eigens bestimmte Person.67 Andererseits betonte Paulus, dass der Vater sein Opfer eigenhändig töten musste.68 Dass der Vater also sein Tötungsrecht an eine andere, hierdurch straflos tötende Person delegieren durfte, erscheint vor diesem Hintergrund unwahrscheinlich. Zudem stellt sich die Frage, ob das väterliche Tötungsrecht auch das Tötungsrecht durch das „iudicium domesticum“ ersetzen und damit abschaffen sollte. Teilweise wird vertreten, die Lex Iulia habe das „iudicium domesticum“ als Institution zur Lösung von Familienkonflikten abgeschafft.69 Es ist aber keine Vorschrift der Lex überliefert, die diese Form familieninterner Konfliktlösung ausdrücklich verbot. Im Gegenteil, einige zeitgenössische Autoren belegen, dass die Lex Iulia de adulteriis das „iudicium domesticum“ wegen seiner tiefen Verankerung in der römischen Kultur nicht verdrängen konnte.70 So ließ Kaiser Augustus bei eigenen Familienangehörigen eine außergewöhnliche Strenge walten und verurteilte sie im Rahmen des „iudicium domesticum“ als Familienvater. Seine Tochter Iulia verbannte er auf die Insel Pandetaria.71 Als Grund für ihr Fehlverhalten reichte, dass sie auf einer Feier an einer Trinkrunde teilnahm.72 Während des Prozesses soll Sieye, Traité sur l’adultère, S. 171 unter Verweis auf eine Aussage von Seneca. Coll. 4, 12, 1 (Paulus). 69 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 168. 70 Sueton Tib. 35; Tacitus Ann. 13, 32, allerdings bezogen auf eine des ausländischen Aberglaubens beschuldigte Frau. 71 Dio 55, 10, 9 ff.; Tacitus Ann. 1, 53, 1; Vellius Paterculus 2, 100, 3 ff.; Seneca, De beneficiis 6, 32, 1. 67 68
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Augustus vor seiner Tochter das Verhalten der jungen Phoebe als vorbildlich gelobt haben, die noch vor ihrer Bestrafung wegen eines Sittenverbrechens Selbstmord begangen hatte.73 Auch seine Enkelin Iulia bestrafte Augustus wegen Ehebruchs mit Verbannung.74 Doch wie bei vielen „Ehrenmorden“ ist auch hier anzunehmen, dass unter Berufung auf vermeintliches Fehlverhalten weiblicher Familienmitglieder in Wirklichkeit ein anderes Interesse verfolgt wurde. Es wird vermutet, dass Augustus seine Tochter und Enkeltochter nebst ihrer vorgeblichen Liebhaber eher deshalb mit äußerster Härte bestrafte, weil er sie der politischen Verschwörung gegen sich verdächtigte und mithin aus dem Weg räumen wollte.75
b) Gesetzliche Restriktion des Tötungsrechts für den Ehemann Die Versagung des Tötungsrechts gegenüber der ehebrecherischen Frau ist ein zentraler Bruch der Lex Iulia mit dem republikanischen Familienrecht. Der Ehemann konnte seine Ehefrau nicht straflos töten, selbst wenn er diese auf handhafter Tat beim Ehebruch im eigenen Haus ertappt hatte: „Nulla parte legis marito uxorem occidere conceditur.“76 Für die Tötung seiner Frau wurde er als Mörder mit dem Tod bestraft. In späterer Zeit milderten die Kaiser Marc Aurel und sein Sohn Commodus die Strafe für den auf der Stelle seine Ehefrau tötenden Ehemann, so dass die Restriktion des Tötungsrechts des Ehemannes bezüglich seiner Frau aus der Zeit des Kaisers Augustus ins Leere lief. Die Tötung des Liebhabers der Frau durch den Mann wurde als Fall gerechten Zorns („iustus dolor“) anerkannt, wiewohl dem Mann eine Bestrafung drohte; war der Ehemann niederen Ranges, drohte ihm lebenslange Zwangsarbeit, einem Hochrangigen drohte die Relegatio in Insulam.77 Allerdings erlaubte ihm schon die Lex Iulia de adulteriis coercendis ausdrücklich, den im eigenen Haus beim Ehebruch entdeckten Ehebrecher78 unter bestimmten Voraussetzungen straflos zu töten. Um nicht bestraft zu werden, war der Mann verpflichtet, innerhalb von drei Tagen beim örtlich zuständigen Gericht anzuzei72 Die Tradition untersagte der Frau, ganz im Gegensatz zum Mann, strengstens den Genuß von berauschenden Getränken; Verstöße waren bisweilen ein Grund für Totschlag oder Scheidung durch den Ehemann, Valerius Maximus 9, 3, 6; nach Aulus Gellius 10, 23 war es üblich, dass die männlichen Blutsverwandten Frauen auf den Mund küssten, um festzustellen, ob sie Alkohol getrunken hatten. 73 Dio 55, 10, 16. 74 Tacitus Ann. 3, 24, 2 f.; 4, 71, 4. 75 Meise, Untersuchungen zur Geschichte der Iulisch-Claudischen Dynastie, S. 48; MetteDittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 96 ff.; a.A. Ferrill, Augustus and his Daughter: A Modern Ryth, 332 ff. 76 Coll. 4, 10, 1 (Papinian); vgl auch Coll. 4, 6, 3 (Paulus). 77 D. 48, 5, 39 § 8 (Papinian, libro 36 quaestionum). 78 D. 48, 5, 25 (Macer, libro primo publicorum).
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gen, mit wem und wo er seine Frau im Ehebruch angetroffen hatte,79 und seine Frau umgehend zu verlassen.80 Auch musste er, anders als der Vater, der jeden Ehebrecher straflos töten durfte,81 den Stand des Ehebrechers beachten. Ihm war nur die Tötung bestimmter Personen niedrigen Standes erlaubt, also die eines Zuhälters, eines Schauspielers, eines Gladiatoren, eines Verurteilten, des eigenen Sklaven oder eines Freigelassenen.82 Andernfalls drohte ihm eine Verurteilung wegen Mordes. Ratio der Straflosigkeit der Tötung eines Ehebrechers aus gerade diesen Personengruppen war vermutlich, dass der Ehemann nach damaligen Anschauungen umso mehr in Rage sein durfte, als seine Frau nicht nur die an sie gestellte Erwartung ehelicher Treue verletzte, sondern dies obendrein auch noch mit einem unangesehenen Mann tat.83 Angesichts der örtlichen Beschränkung des Tötungsrechts und der bei einer solchen Affekttötung recht problematischen sozialen Einordnung des Opfers wird teilweise angenommen, dass Augustus einen vollständigen Entzug dieses Selbsthilferechts des Ehemannes beabsichtigte.84 Andererseits konnte der Ehemann seinen eigenen Sklaven erkennen.85 Fraglich ist indes, wie er auf der Stelle den sozialen Status einer ihm unbekannten Person beurteilen sollte. Möglicherweise waren die genannten Personengruppen an ihrer äußeren Erscheinung, etwa durch ihre Kleidung, zu erkennen. Das Tötungsrecht des Ehemannes war daher keine symbolische Geste des Gesetzgebers, sondern ein Recht, von dem Ehemänner durchaus Gebrauch machen durften86 und wegen des gesetzgeberischen Ziels des effektiven Schutzes der römischen Sexualmoral wohl auch machen sollten. Denn schon die Gefahr, der Ehemann könne von seinem Tötungsrecht Gebrauch machen, konnte Menschen vom Vollzug des Ehebruchs abhalten. Und in der Tat werden die EheColl. 4, 12, 5 (Paulus); Coll. 4, 3, 5 (ders.). Coll. 4, 12, 5 ff. (Paulus); Coll. 4.3.5 (ders.). 81 D. 48, 5, 23 § 4 (Ulpian, libro primo de adulteriis). 82 D. 48, 5, 24 (Macer, libro primo publicorum); Coll. 4, 12, 3 (Paulus); vgl. auch Coll. 4, 3, 4 (Paulus). Iulius Paulus versteht hierunter „infames“, also männliche Prostituierte, Sklaven und Freigelassene, P. S. 2, 26, 4. 83 McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 206. 84 So Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 62; vgl. auch Thomas, Lex Julia de Adulteriis Coercendis, 637 (639) unter Hinweis auf Corbett, Roman Law of Marriage, S. 137: „the liberty to kill certain adulteri . . . would operate as a statutory defence against a charge of murder; but its availability would usually be, from the husband’s point of view, a matter of luck.“ 85 Auch wenn man annehmen könnte, dass eine römische Dame sich wegen der Statusdifferenzen nie mit einem Sklaven eingelassen haben dürfte, wird angenommen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Frauen und ihrem Sklaven keine Seltenheit waren. Was die Frauen angeht, werden sexuelle Bedürfnisse als Grund genannt; was die Sklaven angeht, dürfte oft der Wunsch eine Rolle gespielt haben, die eigenen Verhältnisse zu verbessern. Vgl. Morabito, Droit romain et réalités sociales de la sexualité servile, 3 (7). 86 McGinn, Prostitution, Sexuality and the Law in Ancient Rome, S. 206. 79 80
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männer trotz drohender Todesstrafe im Fall einer fehlerhaften sozialen Bewertung des Opfers das ihnen zustehende Tötungsrecht auch genutzt haben. Immerhin engagierten sich spätere Juristen für eine mildere strafrechtliche Beurteilung der Gatten,87 was sich nur durch eine nennenswerte Relevanz ehemännlicher Tötungen erklären lässt.
c) Anerkennung des Tötungsrechts von Ehemännern unter Iustinian I. In nicht unbedeutendem Maße erweiterte Iustinian I. (ca. 482 – 565) die Tötungsbefugnisse des Ehemannes. Er gestand dem Ehemann neben dem Recht der Tötung des Mitschuldigen bei dessen Ertappen auf handhafter Tat ein zweites, weitergehendes Tötungsrecht zu. Verdächtigte ein Ehemann seine Frau des Ehebruchs, konnte er dem mutmaßlichen Geliebten drei von drei Zeugen unterschriebene Warnungsschreiben zuschicken. Traf er hiernach seine Ehefrau mit dem so Gewarnten, konnte er ihn ohne weiteres töten, ohne Rücksicht auf dessen Stand nehmen und einen vollendeten Ehebruch nachweisen zu müssen. Die Zusammenkunft musste allerdings im eigenen Haus, in dem seiner Frau, in dem des Ehebrechers, in einer Garküche oder in der Vorstadt stattgefunden haben.88 Fand er die mutmaßlichen Ehebrecher an einem anderen Ort gemeinsam vor, blieb dem Ehemann allein das Recht zur strafrechtlichen Anzeige wegen Ehebruchs. Auch musste der Mann die Tötung eigenhändig ausgeführt haben. Den Hintergrund für diese Strenge bildete eine neue Bewertung des Eheinstituts durch die römische Gesellschaft. Im Zuge der Christianisierung Roms war die Ehe nicht bloß eine soziale Einheit, auf welcher der Staat fußte, sondern zudem eine göttliche und somit untrennbare Verbindung zweier Menschen. Die Vorstellung von der Heiligkeit dieser Verbindung motivierte eine strengere Bewertung der Verletzung dieses Bundes als zuvor, so dass die Strafen erheblich verschärft wurden. Daher drohte männlichen Ehebrechern unter Iustinian die Todesstrafe.89 Für Ehebrecherinnen führte Iustinian daher die Authentika-Strafe ein, welche die Relegation ersetzen sollte. Nunmehr wurden sie für zwei Jahre in ein Kloster eingesperrt und konnten erst danach vom Mann wieder aufgenommen werden, ohne dass dieser eine Strafe wegen Kuppelei zu befürchten hatte. Ebensogut konnte der Mann aber auf eine Fortsetzung seiner Ehe verzichten, wodurch die Frau zu lebenslänglichem Klosterleben gezwungen war. Während unter der Lex Iulia die Bestrafung der Frau – abgesehen von dem väterlichen Tötungsrecht – von einer staatlichen Entscheidung abhing, ging die Entscheidung über die Schwere der BeP. S. 2, 26, 5. Nov. 117, 15. 89 Nov. 134, 10, wo auf die von Kaiser Konstantin eingeführte Todesstrafe durch das Schwert für des Ehebruchs mitschuldige Männer Bezug genommen wird. 87 88
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strafung unter Iustinian auf den Ehemann über, der nach freiem Ermessen über die Freiheit seiner Frau entscheiden konnte.90
3. Fazit und Zusammenfassung Die Vorstellungen von Ehre und Scham lassen sich bereits im Mittelmeerraum vorislamischer Zeit nachweisen. Schon im Antiken Rom waren Rollen innerhalb eines Familienverbundes geschlechtsspezifisch verteilt, wobei besonders weibliche Familienmitglieder zu sexueller Reinheit, also Shame, verpflichtet waren. Die Verteidigung dieser Scham fiel in die Zuständigkeit derjenigen Männer, die sehr weitgehend über das Leben der Frau bestimmen konnten, also des Vaters und des Ehemannes. Der Stellenwert der Vorstellungen von Ehre und Scham sowie der hieraus erwachsenden Normen war dabei offenbar so hoch, dass das Honour-Shame-Syndrome zu Beginn der Kaiserzeit über die Lex Iulia de adulteriis Eingang in das Recht gefunden hatte. Ob das Gesetz auch den gerichtlichen Alltag prägte oder ihm nur Symbolwirkung zugesprochen werden kann, lässt sich nicht mit abschließender Gewissheit beantworten. Wahrscheinlich wurde das Gesetz aber sehr wohl in gerichtlichen Verfahren durchgesetzt, was in der Literatur durch eine Analyse von Quintilians Institutiones Oratoriae belegt wird. Der römische Jurist Quintilian illustrierte in diesem umfangreichen Werk, das sich auch als Fundament der Juristenausbildung verstand, seine Hinweise nicht selten mit Beispielprozessen, in denen die Lex Iulia de adulteriis maßgeblich war. Diese Ehebruchsfälle stammen ihm zufolge mitten aus dem Gerichtsleben.91 In den Ausführungen wird stellenweise die allgemeine Sympathie für den vom Tötungsrecht Gebrauch machenden Täter deutlich,92 so dass innerfamiliäre Gewalt als Konfliktlösungsstrategie bei Ehrkonflikten durchaus als Teil der damaligen sozialen Realität verstanden werden kann. Wenn aber diese teilweise in Tötungen gipfelnde Form von Gewalt durch erhöhte Anforderungen an ihre Straflosigkeit bekämpft werden sollte, so dürfte dieses Anliegen angesichts der im Werk Quintilians betonten Häufigkeit von Tötungsprozessen, in denen sich der Täter auf die Lex Iulia de adulteriis coercendis berief, als gescheitert angesehen werden. Dies gilt umso mehr angesichts berechtigter Zweifel, ob auch die Adeligen Roms die Vorstellung von Ehre und Scham teilten. Evans Grubbs macht darauf aufmerksam, dass sie meist auf Personen ländlicher Herkunft begrenzt war. Die römische Prominenz, deren überlieferte Texte die hinter Ehre und Scham stehenden Anschauungen ausdrücken und verteidigen, war ländlich sozialisiert. Cicero Nov. 134, 10 und Nov. 117, 8. Quintilian, Institutiones Oratoriae, 2, 4, 22. 92 Zur Auswertung der bei Quintilian einschlägigen Stellen Mette-Dittmann, Die Ehegesetze des Augustus, S. 117 ff. 90 91
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und Iuvenal stammten aus kleineren italienischen Städten, Seneca der Ältere sowie sein Sohn Seneca stammten aus der Provinz. Auch Cato entstammte dem plebejischen Landadel und wuchs in einer Landstadt auf. Gleiches gilt schließlich für Kaiser Augustus. Demgegenüber neigten die meisten Ehemänner und Väter in der späten Republik und der frühen Prinzipatszeit anscheinend dazu, über sexuelles Fehlverhalten ihrer Frauen hinwegzusehen; ernstere Reaktionen als die Scheidung von einer untreuen Frau waren wohl die Ausnahme.93 Für die Theorie von Evans Grubbs spricht auch, dass unter der Lex Iulia zahlreiche römische Kaiser Ehemänner begnadigten, die ihre Frauen wegen ihrer ehelichen Untreue töteten und an sich als Mörder zu bestrafen gewesen wären. Diese Ehemänner wurden dann meist mit milderen Strafen belegt.94 Ob das augustinische Ehebruchsgesetz das „iudicium domesticum“ verbot, ist unklar.95 Doch selbst ein Verbot schließt nicht aus, dass Hausgerichte in der Praxis weiterhin bestanden. In ländlichen Gegenden fern der Stadt Rom dürften Hausgerichte für viele Familien eine praktische Möglichkeit gewesen sein, die Sexualität ihrer weiblichen Familienmitglieder zu disziplinieren, zumal die staatliche Justiz nur schwer erreichbar war. Dies muss nicht heißen, dass Verfahren im Hausgericht unter den gleichen Bedingungen wie zur Zeit der Republik abliefen. Aber Evans Grubbs hält es für wahrscheinlich, dass die Sexualität von Frauen unter vergleichbaren Bedingungen familienintern diszipliniert wurde. Das Fehlen von zeitgenössischen Berichten über Hausgerichte in der Prinzipatszeit bedeutet für sich genommen noch nicht deren Verschwinden und lässt sich ebensosehr mit der privaten Natur dieser Verfahrensart erklären.96
II. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im französischen Strafrecht Im Jahr 2006 wurde in Frankreich alle drei Tage eine Frau durch ihren Partner getötet. Demgegenüber starb alle dreizehn Tage ein Mann durch seine Partnerin.97 Gewalt in Partnerschaften stellt damit auch in Frankreich ein ernstzunehmendes Problem dar, wobei auch dort kulturelle Konzepte existieren, mit denen sich die Täter moralisch rechtfertigen und dabei mitunter auch erfolgreich sind. Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, S. 212. Fournel, Traité de l’adultère considéré dans l’ordre judiciaire, S. 263 f. 95 Corbett, Roman Law of Marriage, S. 134 f., bezweifelt ein explizites Verbot der Hausgerichte durch die lex Iulia. Laut Marshall, Phoenix 44 (1990), 46 (53 f.) wurden Hausgerichte mit der frühen Prinzipatszeit unüblich. 96 Grubbs, Law and Family in Late Antiquity, S. 213 ff. 97 Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des französischen Innenministeriums aus dem Jahr 2006: „Etude nationale des décès au sein du couple“, abrufbar unter http: // www.sedire.fr. 93 94
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Obwohl „Ehrenmorde“ in der oben dargestellten Form der französischen Kultur fremd sind, lässt sich nicht leugnen, dass in Frankreich kulturelle Konzepte von der geringen Strafwürdigkeit solcher Tötungen existieren, die durch das Sexualverhalten des Opfers motiviert sind. Das französische Strafrecht privilegiert seit Langem das so genannte „Crime passionnel“. Dabei ist diese Bezeichnung irreführend und meint keineswegs Verbrechen, bei denen die Leidenschaft des Täters sein Motiv darstellt. Dem Begriff liegt vielmehr die nicht nur in Frankreich98 weit verbreitete Vorstellung zugrunde, dass die Leidenschaft des Täters ihn seiner freien Steuerungsfähigkeit berauben kann und dass er – seiner Leidenschaft erlegen – als „zwanghafte“ Reaktion sogar zur Tötung eines Menschen in der Lage ist. Zwar beschränkt sich das „Crime passionnel“ terminologisch nicht auf bestimmte Deliktsarten, regelmäßig sind jedoch nur Straftaten gegen Leib und Leben infolge eines Leidenschaftsausbruchs gemeint. Ursache eines derartigen Leidenschaftsausbruchs sind meist enttäuschte Besitzansprüche des Täters in Bezug auf das Opfer.99 Der Täter tötet sein Opfer, weil es ihn verlässt, dies beabsichtigt oder ihm untreu ist. Untreu ist das Opfer aus der Tätersicht nicht selten auch dann, wenn es sich nach einer Trennung oder Scheidung einen anderen Partner sucht, sofern der Täter nach wie vor Besitzansprüche in Bezug auf das Opfer erhebt, deren Enttäuschung bei ihm dann Eifersucht und Wut hervorruft.100 Bei alldem muss das Opfer nicht notwendigerweise der „geliebte“ Mensch sein. Mit dem Begriff „Crime passionnel“ wird ebenso die alleinige oder gleichzeitige Tötung des Rivalen bezeichnet. Erstaunlich ist, dass der Täter ungeachtet seiner überzogen narzisstischen Einstellung in der gesellschaftlichen Meinung meist als „normaler Mensch“ und somit als ungefährlich angesehen wird.101 Es wird behauptet, „Ehrenmord“ und „Crime passionnel“ seien völlig unterschiedliche Verbrechen.102 Dem ist jedoch nur bedingt zuzustimmen. Dem „Crime passionnel“ liegt nicht primär die Vorstellung zugrunde, dass der Täter wegen der von ihm verteidigten Familienehre milde zu bestrafen sei, auch wenn diese oftmals 98 Auch der angloamerikanischen Rechtskultur ist dieses Denken nicht fremd: „The revelation of wifely infidelity is a provocation so extreme that a ,reasonable man‘ is apt to respond with lethal violence. This impulse is so strong and so natural that the homicidal cuckold cannot be held fully responsible for his dreadful deed. So says the common law. Other spousal misbehavior – snoring or burning supper or mismanaging the family finances – cannot be invoked as provocation. Reasonable men do not react violently to their wives’ profligacy or stupidity or sloth or insults. In fact, the only provocation other than a wife’s adultery that are invested with the same power to mitigate a killer’s criminal responsibility are physical assaults upon himself or a relative.“, Wilson / Daly, Till Death us do Part, 83. 99 Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 20. 100 Proal, Le crime et le suicide passionnels, S. 263. 101 „Si pathologique qu’il apparaisse quand on l’examine sous l’angle de la psychologie clinique, le crime passionnel, dans l’acception populaire du terme, est par excellence le crime de l’homme normal.“, Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 15. 102 Sleiman, Le crime passionnel, S. 253.
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durch seine Tat verteidigt wird. Grund für die milde Behandlung des „Crime passionnel“ ist die Vorstellung von der geringen Strafwürdigkeit eines Täters, der seine Tat in einem seelischen Ausnahmezustand begeht. Die soziale und teilweise auch rechtliche Akzeptanz von „Ehrenmorden“ in einigen Gesellschaften findet ihre Ursache dagegen weniger im Leidenschaftsausbruch des Täters zur Tatzeit als vielmehr in der Verteidigung kollektiver Interessen. Außerdem werden „Ehrenmorde“ manchmal in einem institutionalisierten Rahmen begangen, wenn andere Mitglieder des Personenkollektivs etwa im Familienrat die Tötung des Opfers beschließen. Ein solcher Rahmen ist dem „Crime passionnel“ fremd, da dieses qua definitionem eine Spontaneität voraussetzt, welche für die Annahme eines „Ehrenmordes“ nicht zwingend ist. Außerdem begeht im Fall des „Crime passionnel“ der Partner oder der verschmähte Liebhaber die Tat, wohingegen bei einem „Ehrenmord“ der Täterkreis sich auf alle – zumeist männlichen – Familienangehörigen des Opfers erstreckt, da in diesem Fall auch die verletzte Familienehre und eben nicht bloß die verletzte Ehre eines Einzelnen wiederhergestellt werden soll. So unangebracht dementsprechend eine uneingeschränkte Gleichsetzung von „Ehrenmorden“ und „Crimes passionnels“ auch sein mag, ist eine Untersuchung der Entwicklung der strafrechtlichen Repression von „Crimes passionnels“ in Frankreich nicht nur angesichts der Gemeinsamkeiten beider Verbrechensformen lohnend. Denn schon äußerlich fallen erstaunliche Gemeinsamkeiten auf. Im 19. Jahrhundert überschütteten vor allem zurückgewiesene Verehrer die begehrte Frau mit Vitriol, um ihr Gesicht zu entstellen. Auch zurückgewiesene Frauen nahmen auf diese Weise Rache.103 Ähnliches wird auch über einige Verbrechen im Namen der Ehre in Bangladesh und Pakistan berichtet, bei denen die Täter – meist verschmähte Verehrer – auf Frauen ein „Säureattentat“ verüben, weil sie sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen. Um sich an den zurückweisenden Frauen zu rächen, gießen sie ihnen Säure über Kopf und Körper. Überlebt die Frau diesen Angriff, ist sie für ihr ganzes Leben gebranntmarkt.104 Abgesehen davon, dass in beiden Fällen die milde strafrechtliche Reaktion auf fragwürdige Erklärungskonstrukte zurückgreift, sind in beiden Fällen die Täter vorwiegend Männer,105 die dem Opfer die alleinige Schuld am Leidenschaftsausbruch und damit an der Tat zuweisen.106 Das Verhalten, die Persönlichkeit und die Lebensgewohnheiten des Opfers sind auch hier grundlegend für die gesellschaftliche und auch die rechtliche Beurteilung des Täterverhaltens. Die rechtliche und / oder soziale Verwerflichkeit des Opferverhaltens kommt dem Täter zugute. Wie bei „Ehrenmorden“ reicht auch hier schon die Vermutung, das Opfer habe sich schlecht verhalten.107 Damit bezeugen die Täter 103 Rabinowicz, Le crime passionnel, S. 156; Vanneau, L’amour aux assises, S. 35 ff.; angeblich war in Frankreich die Verwendung von Vitriol zu damaliger Zeit durch den Roman „La Pénélope normande“ von Alphonse Karr in Mode gekommen. 104 Böhmecke, Studie: Ehrenmord, S. 6; Schirrmacher, Mord im Namen der „Ehre“, S. 12. 105 Nach Sleiman ist das Verhältnis der weiblichen Täter eines „Crime passionnel“ zu den männlichen 1:7, Le crime passionnel, S. 244. 106 Guillais, RS crim. 1985, 549 (556 ff.).
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beider Verbrechen ihre Unfähigkeit zur friedlichen und gewaltfreien Lösung zwischenmenschlicher Konflikte und stoßen hierbei auf breites gesellschaftliches Verständnis. Wie beim „Ehrenmord“ beschreibt der Begriff „Crime passionnel“ nicht nur ein bestimmtes Kriminalitätsverhalten, sondern gibt zugleich Aufschluss über die entsprechende gesellschaftliche Reaktion. Der Begriff „Crime passionnel“ verdeutlicht eine Zurückhaltung der französischen Kultur, die Schwere privater Aggressionen in Beziehungen zwischen Männern und Frauen anzuerkennen.108 Überdies besteht bei „Crimes passionnels“ ein Zusammenhang mit den Werten Liebe und Leidenschaft – aber auch mit der Ehre. Die Täter eines „Crime passionnel“ handeln oftmals wegen ihrer Befürchtung, von der Gesellschaft verlacht zu werden.109 Dass sexuelles Fehlverhalten der eigenen Frau für den Ehemann den schwersten Angriff auf seine Ehre darstellt, wird aber nicht nur von der Rechtsliteratur betont. Stellvertretend für die Dichtung, die sich oft des Sujets annahm, sei hier Shakespeares Othello zitiert. Dieser antwortet auf Lodovicos Frage, was man von ihm angesichts der von ihm begangenen Tötung seiner Frau Desdemona sagen solle: „Wenn ihr wollt: Dass ich ein ehrenvoller Mörder sei. Denn nichts tat ich aus Haß, für Ehre alles.“110 Eine nähere Betrachtung der strafrechtlichen Behandlung von „Crimes passionnels“ ist nicht allein deshalb aufschlussreich, weil die rechtliche Reaktion auf häusliche Gewaltverbrechen, bei denen das Opfer meist eine Frau ist, in einem Staat der Europäischen Union hinterfragt werden kann. Sie ist auch deshalb von besonderem Nutzen, weil „Ehrenmorde“ in der französischen Rechtsliteratur derzeit praktisch gar keine Rolle spielen und auch einschlägige Gerichtsentscheidungen nicht veröffentlicht wurden. Aufgrund der dargestellten Parallelen können uns die Rechtsliteratur und die französische Rechtsprechung über „Crimes passionnels“ Anhaltspunkte dafür geben, wie „Ehrenmorde“ strafrechtlich behandelt werden beziehungsweise zu behandeln sind. In einem ersten Schritt ist daher die strafrechtliche Beurteilung von „Crimes passionnels“ zu diskutieren, um sich im Anschluss der Beurteilung von „Ehrenmorden“ nach französischem Strafrecht anzunähern. Der Begriff des „Crime passionnel“ ist zwar in der juristischen Literatur geläufig und wird auch von der Rechtsprechung verwendet; in der französischen Rechtsgeschichte bediente sich aber das positive Recht seiner nie. Eine Legaldefinition fehlt dementsprechend. Ebenso gewährleistete seit je keine Norm eine umfassende Privilegierung des „Crime passionnel“ in der dargestellten Form. Im Gegenteil, der Code pénal impérial français von 1810 (CPI) unterschied nicht zwischen den aufVgl. für das „Crime passionnel“: Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 Rn. 34. Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S 43. 109 Guillais, RS crim. 1985, 549 (551); vgl. auch Donnedieu de Vabres, Précis de droit criminel, Rn. 775; Proal, Le Crime et le suicide passionnels, S. 176, 257; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 14; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 352; Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 216. 110 Othello, 5. Akt, 2. Szene in der Übersetzung von Erich Fried. 107 108
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grund eines Leidenschaftsausbruchs begangenen und den gemeinen Delikten, weswegen er in der öffentlichen Meinung hinsichtlich dieser Frage auf Widerstand stieß. In diesem zeitlichen Kontext fand das Konzept vom „Crime passionnel“ als Ausdruck der Unzufriedenheit der Allgemeinheit mit der Strenge des napoleonischen Strafgesetzes bald seine Bezeichnung.111 Mit dem Aufkommen des Begriffs stellte sich auch binnen kurzem die Frage, auf welchem Weg die allgemein angenommene niedrige Sozialschädlichkeit dieser Kriminalität trotz fehlender ausdrücklicher Privilegierungsvorschriften auch im Strafrecht ihren Widerhall finden könne. Denkbar war damals zunächst ein Abstellen auf die allgemein angenommene moralische Zwangswirkung des Leidenschaftsausbruchs auf den Täter. Schon Art. 64 CPI normierte die Tatbestandslosigkeit einer Handlung, wenn der Täter zur Tatzeit wahnsinnig war oder wenn er von einer unwiderstehlichen Kraft gezwungen wurde: „Il n’y a ni crime ni délit, lorsque le prévenu était en état de démence au temps de l’action, ou lorsqu’il a été contraint par une force à laquelle il n’a pu résister.“
Auch wenn der Wortlaut moralischen Zwang nicht explizit ausschloss, nahm die Rechtsprechung den Zwang nur dann an, wenn er nahezu den Grad des Wahnsinns angenommen hat. Eine Anwendung der Vorschrift wurde mithin auch dem Täter verwehrt, dessen Leidenschaft nach eigener Auskunft zwanghaft und sogar unwiderstehlich war.112 Die Literatur begrüßte die richterliche Zurückhaltung mit der Begründung, der Einzelne müsse seine Leidenschaften zügeln; genau dies sei schließlich auch Sinn und Zweck des Strafrechts: „Le droit pénal est précisément édicté pour ceux qui ne savent pas résister à leur passion criminelle.“ 113 Eine Berücksichtigung des Konzepts vom „Crime passionnel“ über Art. 64 CPI war demnach rechtlich unzulässig. Ein großer Ausschnitt des Konzepts fand jedoch in Art. 324 Abs. 2 CPI positivrechtlichen Ausdruck. Nach dem ersten Absatz der Vorschrift konnte die vorsätzliche Tötung des Ehepartners grundsätzlich nicht milde bestraft werden: „Le meurtre commis par l’époux sur l’épouse, ou par celle-ci sur son époux, n’est pas excusable si la vie de l’époux ou de l’épouse qui a commis le meurtre n’a pas été mise en péril dans le moment même où le meurtre a eu lieu.“114 Guillais, RS crim. 1985, 549 (550). Cass. 11. April 1908, Sirey 1909, 1, 473; DP 1908, 1, 201 (m. Anm. Mercier); Cass. 27. November 1926, Sem. Jurid. 1927, 76. 113 „Das Strafrecht ist genau für diejenigen erlassen, die nicht ihrer kriminellen Leidenschaft zu widerstehen wissen.“, Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Bd. 1, S. 519; zust. Garçon, Code pénal annoté, Bd. 1, Art. 64 § 32; Bouzat, Traité théorique et pratique du droit pénal, S. 260. Eine vergleichbare Haltung findet sich bei Donnedieu de Vabres, Précis de droit criminel, S. 168. 114 „Der Totschlag des Ehepartners kann nicht milde bestraft werden, es sei denn das Leben des tötenden Ehepartners schwebte zur Tatzeit in Gefahr.“ 111 112
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Hiervon macht der zweite Absatz aber eine gewichtige Ausnahme: „Néanmoins, dans le cas d’adultère, prévu à l’article 336, le meurtre commis par l’époux sur son épouse, ainsi que sur le complice, à l’instant où il les surprend en flagrant délit dans la maison conjugale, est excusable.“115
Der Begriff „excusable“ ist nicht wie „entschuldbar“ im Sinne des deutschen Strafrechts zu verstehen, so dass die Vorschrift keinen Freispruch des Täters erlaubte. Gemeint ist dagegen die Abschwächung des Schuldvorwurfs mit der Folge einer Strafmilderung nach Maßgabe von Art. 326 CPI:116 „Dans le sens ordinaire du mot, on appelle excuse, une circonstance qui diminue, sans la faire disparaître, la criminalité d’une action ou la culpabilité de son auteur.“117 Die Norm sah also nicht die Straflosigkeit des Täters vor und gab dem Mann mithin kein Recht, seine untreue Frau zu töten.118 Vielmehr war die Strafe des Ehemanns zu mildern, der seine Frau beim Ehebruch am ehelichen Wohnsitz ertappte und sie und / oder ihren „complice“ tötete. Art. 326 Abs. 1 CPI milderte die ansonsten für vorsätzliche Tötungsdelikte, also Mord und Totschlag, vorgesehene Todesstrafe beziehungsweise lebenslange Zwangsarbeit zu einer einfachen Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren. Selbst für die Tötung beider, der Ehefrau wie des Mitschuldigen, drohte dem Täter eine Höchststrafe von 5 Jahren.119 Da das Verhalten im Sinne von Art. 324 Abs. 2 CPI jedoch nach wie vor rechtswidrig war, blieb den schuldigen Ehebrechern das Notwehrrecht unbenommen.120 Weil aber der Anwendungsbereich von Art. 324 Abs. 2 CPI das Konzept vom „Crime passionnel“ nicht vollumfänglich wiedergab, entstand ein Spannungsverhältnis zwischen der allgemein angenommenen geringen Sozialschädlichkeit von „Crimes passionnels“ auf der einen Seite und der nur eingeschränkten Milde des positiven Strafrechts gegenüber dieser Kriminalitätsform auf der anderen Seite. Die Vorschrift privilegierte nur männliche Täter, obgleich auch bei weiblichen Tätern von einem „Crime passionnel“ gesprochen werden darf. Zudem knüpfte die Norm nur an den Ehebruch der Ehepartnerin an und schloss damit andere Formen der Enttäuschung von Gefühlen und Besitzansprüchen des Täters in Bezug auf das Opfer aus. Das Flirten mit einem Dritten, das bloße Verlassen des Partners oder ein 115 „Nichtsdestoweniger kann der Totschlag des Ehemannes an seiner Ehefrau und ihres Komplizen im Falle eines Ehebruchs nach Art. 336 milde bestraft werden, wenn der Totschlag im Augenblick begangen wurde, in dem er sie bei handhafter Tat im ehelichen Wohnsitz überrascht.“ 116 Rousselet / Patin, Précis de droit pénal spécial, Rn. 409. 117 „Für gewöhnlich bezeichnet man als excuse einen Umstand, der die Strafwürdigkeit einer Handlung oder die Schuldfähigkeit ihres Urhebers mindert, ohne sie völlig aufzuheben.“, Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Bd. 2, Rn. 815; vgl. auch Le Sellyer, Traité de la criminalité, de la pénalité et de la responsabilité soit pénale, soit civile, en matière de contraventions, de délits et de crimes, Bd. 1, S. 425 ff. 118 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 441. 119 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 736. 120 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 149.
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anderes Opferverhalten ließ Art. 324 Abs. 2 CPI für eine Strafmilderung nicht genügen. Erst recht galt dies für enttäuschte Verhaltenserwartungen in nichtehelichen Beziehungen oder solchen, die nicht bestehen, weil das Opfer die Liebe des Täters zurückwies. Außerdem privilegierte die Norm nur die Tötung des Opfers am ehelichen Wohnsitz, obgleich „Crimes passionnels“ – ebenso wie „Ehrenmorde“ – auch andernorts begangen und nichtsdestotrotz als solche bezeichnet werden können. Der Rechtsprechung wie auch der Rechtslehre stellte sich damit die Aufgabe, wie dieses Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Milde und strafgesetzlicher Strenge am Besten zu lösen sei. Die Rechtsprechung trug der gesellschaftlichen Akzeptanz von „Crimes passionnels“ Rechnung, indem sie Täter milde bestrafte oder sogar entgegen dem Wortlaut von Artt. 324 Abs. 2, 326 CPI freisprach. Hierfür erntete sie von der Literatur Kritik. Der Umgang der Rechtsprechung mit Art. 324 Abs. 2 CPI illustriert, wie unmissverständliche Wertungen des Gesetzgebers durch im Nachfolgenden näher darzustellende strafprozessrechtliche Regelungen umgangen werden können. Außerdem belegt er die Schwierigkeiten der gesetzgeberischen Einflussnahme auf kulturelle Vorstellungen. Denn letztlich handelt es sich bei dem Begriff des „Crime passionnel“ um eine kulturelle Vorstellung, deren Richtigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung seit je ohne kritisches Hinterfragen als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Annahme der geringen Sozialschädlichkeit von Tätern eines „Crime passionnel“ in der öffentlichen Meinung fußt nicht auf empirischen Belegen, sondern auf einem kulturellen Konzept von Leidenschaft und menschlicher Schwäche. Diese Vorstellung läuft aber einer gesellschaftlichen Entwicklung der Stellung von Mann und Frau in Beziehungen oder in der Ehe zuwider. Die progressive Gleichberechtigung von Männern und Frauen auch im Privatleben stößt auf Hindernisse, wenn die – verglichen mit Frauen – eher gewaltgeneigten Männer121 enttäuschte Besitzansprüche bezüglich einer Frau mit ihrer Tötung sanktionieren, deswegen auf soziales Verständnis stoßen und zuletzt auch noch milde bestraft werden. Zur Gewährleistung der Gleichberechtigung von Mann und Frau darf der Staat Besitzdenken und dessen Durchsetzung mit schwerer Gewalt nicht privilegieren. Entsprechend setzte der Gesetzgeber Art. 324 Abs. 2 CPI im Zuge einer Scheidungsrechtsreform im Jahr 1975 außer Kraft. Ob und inwieweit sich dieser Schritt auf die strafrechtliche Beurteilung von „Crimes passionnels“ und „Ehrenmorden“ auswirkte, soll im Folgenden untersucht werden.
121 Laut Angaben der Zeitung Le Monde aus dem Jahr 2002 werden 80 % der „Crimes passionnels“ von Männern begangen, Le Monde vom 06. 06. 2002.
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1. Das „Crime passionnel“ bis zur Scheidungsrechtsreform von 1975 In der französischen Strafrechtsgeschichte ist eine kontinuierliche Senkung der Strafen für eheliche Untreue zu beobachten. Paradoxerweise blieb die abnehmende strafrechtliche Strenge in dieser Frage jedoch praktisch folgenlos für die strafrechtliche Beurteilung der Tötung einer untreuen Frau und / oder des Dritten durch den Ehemann. Im Frankreich des Mittelalters beschränkte sich die strafrechtliche Repression von Ehebrüchen im Wesentlichen auf den Süden des Landes und selbst dort meist nur auf Frauen. Im Norden war der Ehebruch regelmäßig straflos oder nur mit einer äußerst geringen Geldstrafe bedroht, wohingegen im Süden teilweise drastische Strafen für Ehebrüche verhängt wurden. Dabei waren über lange Zeit vergewaltigte Frauen Ehebrecherinnen gleichgestellt. 122 Die im Süden vorgesehenen Strafen zielten vornehmlich auf Erniedringung von Ehebrechern ab. So wurden vielenorts die beim Ehebruch Ertappten mit der Course bestraft, das heißt man ließ sie unbekleidet durch die Stadt gehen und geißelte sie währenddessen.123 Das Ancien Régime führte schließlich die justinianische Authentika-Strafe wieder ein, wobei Frauen mit der Zeit aber immer milder behandelt wurden.124 Erst mit der Französischen Revolution führte der Gesetzgeber erstmals in der französischen Geschichte die Straflosigkeit des Ehebruchs ein. Dieser Zustand war indes nur vorübergehend. Schon mit Inkrafttreten des Code civil im Jahr 1804 wurde erneut die Strafbarkeit des Ehebruchs eingeführt. Art. 298 des Code civil sah in seiner damaligen Fassung vor, dass eine Ehebrecherin mit dem zivilrechtlichen Scheidungsurteil zugleich auch strafrechtlich zu einer Haftstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren zu verurteilen war. Gleiches galt gemäß Art. 308 a.F. Code civil für die richterliche Anordnung einer Trennung von Tisch und Bett. Hier konnte der Ehemann allerdings die Strafvollstreckung gemäß Art. 309 a.F. Code civil sogar nach der Verkündung des richterlichen Urteils verhindern, indem er seine Frau wieder zu sich aufnahm.125 Eine entsprechende Vorschrift für Männer fehlte. Diese waren also im Falle ehelicher Untreue nach wie vor straflos. Die zunehmende strafrechtliche Milde gegenüber Ehebrechern wirkte sich aber nicht auf das Tötungsrecht des jeweiligen männlichen Familienoberhaupts einer Carbasse, Histoire du droit pénal et de la justice criminelle, Rn. 179. Sieye, Traité sur l’adultère, S. 290 m. w. N.; die Course wird zuletzt in einer Entscheidung des Parlement de Toulouse aus dem Jahr 1628 erwähnt, in der dem Seigneur d’Avensac untersagt wird, diese Strafe zu verhängen, und in der sie ausdrücklich abgeschafft wird, Carbasse, Histoire du droit pénal et de la justice criminelle, Rn. 201. Eingehend hierzu Carbasse, Currant nudi – la répression de l’adultère dans le Midi médiéval, 83 ff. 124 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 343. 125 Desquiron de Saint-Agnan, La puissance paternelle en France, S. 194; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 336 Rn. 4. Die Artt. 298, 308 und 309 C. civ. waren auch nach Inkrafttreten des Code pénal im Jahr 1810 anwendbar und wurden auch angewandt; sie traten erst mit dem Gesetz über die Scheidung vom 27. Juli 1884 außer Kraft. 122 123
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ehebrecherischen Frau aus. Ungeachtet der dargestellten Entwicklung der Ehebruchsstrafbarkeit blieben Ehemänner, die ihre beim Ehebruch ertappten Frauen töteten, straflos oder konnten mit milden Strafen rechnen. Schon über die Gallier und die Franken wird berichtet, dass diese unbestraft ihre beim Ehebruch ertappten Frauen töten durften.126 Im späten Mittelalter waren Väter, Ehemänner und teilweise sogar die Brüder einer Frau straflos, wenn sie diese oder den Dritten im Zeitpunkt des Ehebruchs töteten.127 Gemäß der Coutume de Cahors aus dem 13. Jahrhundert hatte der betrogene Ehemann das Recht, den Dritten frei nach seinem Belieben zu töten oder von ihm die Zahlung von Lösegeld zu erzwingen. Weitere Gewohnheitsrechte griffen den Gedanken Iustinians auf, indem sie die Straflosigkeit der Tötung davon abhängig machten, dass der Ehemann zuvor öffentlich seiner Frau und ihrem Geliebten verboten hatte, sich zu treffen; wurden beide später „gemeinsam liegend“ überrascht, konnte der Ehemann sie straflos töten.128 In der Zeit des Ancien Régime konnten Väter und Ehemänner zunehmend damit rechnen, dass sie für die Tötung einer Ehebrecherin nicht bestraft würden. Zwar war jede Tötung durch den Ehemann, und damit erst Recht die durch den Vater, als Reaktion auf einen Ehebruch dem Grunde nach verboten, selbst wenn die Ehebrecher auf handhafter Tat ertappt wurden.129 Es galt damals nämlich von Rechts weSieye, Traité sur l’adultère, S. 281 ff. Carbasse, Histoire du droit pénal et de la justice criminelle, Rn. 127. 128 De Beaumanoir, Coutumes de Beauvaisis, § 933: „Comment que nous soions en doute du cas dessus dit pour ce qu’il n’est pas avenus en nostre tans, nous sommes certains d’autres cas qui sont avenu en no tans pour teus mesfès. Car il est clere chose que se uns hons defent a un autre par devant justice ou par devant bonnes gens qu’il ne voist plus entour sa fame ne en son ostel pour li pourchacier tel honte, et il, après la defense, la trueve en fet present gisant a sa fame, s’il ocist l’homme et la fame, ou l’un par soi, il n’en pert ne cors ne avoir. Et en tel cas nous les avons veus delivrer par jugement III fois en l’ostel le roi avant que nous feissions cest livre.“ Beaumanoir § 934: „Pour ce que c’est mout fors chose de trouver gisans charnelment deus persones ensemble après la défense dessus dite, pour ce puet estre qu’il s’enferment en tel lieu que l’en ne puet venir a aus sans fere noise pour les uis qu’il convient brisier ou pour autre reson, par quoi il s’aperçoivent qu’il sont guetié, dont il se traient l’uns en sus de l’autre, ce ne les excuse pas quant il sont trouvé seul a seul en lieu privé, si comme s’il sont trouvé vestant ou chauçant du lit ou il estoient couchié. Mes nepourquant puis qu’il ne sont trouvé en fet present, il convient que les presompcions soient mout apertes, ou cil seroit trainés et prendus qui les metroit a mort. Et aussi comme nous avons dit que cil ne perdent ne cors ne avoir qui truevent le fet dite, ainsi l’entendons nous de ceus qui vont en autrui meson seur la defense du seigneur pour sa fille ou pour sa suer ou pour sa niece, fors en tant que, s’il ocioit ou sa fille ou sa suer ou sa niece, aveque l’homme, tout la trouvast il en fet present, il n’en seroit pas excusés aussi comme de sa fame, ainçois seroit pendus et trainés; car la fille qui fet fornication contre la défense de son père, ou sa suer ou sa niece n’a pas mort deservie, mes ce a bien fame mariee quant ses maris en veut prendre venjance en la maniere dessus dite. Mes bien se gart li maris qui tel venjance veut prendre de sa fame qu’il ne lesse passer le fet present, car s’il l’ocioit, et l’offrist a prouver qu’il avroient esté trouvé ensemble puis sa défense, ce ne li vauroit riens qu’il ne fust trainés et pendus puis qu’il avroit lessié passer le fet present.“ 129 Fournel, Traité de l’adultère considéré dans l’ordre judiciaire, S. 261, 264; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 324; Carbasse, Histoire du droit pénal et de la justice criminelle, Rn. 127. 126 127
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gen als angemessene Reaktion zur Wiederherstellung der eigenen Ehre, wenn der Ehemann seine Frau wegen Ehebruchs anklagen und bestrafen ließ.130 Ehemänner und Väter konnten jedoch nach einer Verurteilung mit der Gnade des Königs rechnen, wenn sie die Ehefrau oder Tochter beim Ehebruch ertappt und sie mit ihrem Liebhaber oder einen von beiden getötet hatten.131 Regelmäßig wurde dem Täter sogar vom Gericht angeordnet, sich an den König zu wenden, wenn er sich noch keinen Gnadenbrief besorgt hatte.132 Erteilte Gnadenbriefe wurden aber zunehmend nur dann vom Richter gebilligt, wenn der Täter als Zeichen von Reue eine geringe Geldbuße zahlte. Erfolgte die Tötung der Ehefrau und / oder des Rivalen, ohne diese auf frischer Tat ertappt zu haben, wurde der Täter mit der Todesstrafe bestraft. Gleiches gilt für die Tötung der Frau und / oder des Rivalen, die mit Vorbedacht oder durch Locken in einen Hinterhalt durchgeführt wurde, auch wenn der Ehebruch auf frischer Tat vom Ehemann festgestellt wurde. Was aber die Frau angeht, die ihren Mann auf frischer Tat beim Ehebruch ertappte, so konnte sie nicht um Vergebung bitten und wurde jedenfalls auch für die Tötung im Affekt mit dem Tod bestraft.133 Offenbar wollte sich der Staat möglichst wenig in private Ehekonflikte einmischen und die Konfliktlösung unter Inkaufnahme schwerster Folgen den unmittelbar beteiligten Akteuren überlassen. Eine Sensibilität für häusliche Gewalt war der damaligen französischen Gesellschaft fremd. Die Toleranz gegenüber innerfamiliärer Konfliktlösung ging dabei so weit, dass trotz kontinuierlicher Milderung der Strafen für Ehebrüche die Tötung der Ehebrecherin durch ihren Mann als wenig strafwürdig eingestuft wurde. Ein weiteres Beispiel für die staatliche Neutralität gegenüber häuslicher Gewalt bietet das Gesetz vom 24. August 1790. Nach Art. 15 in Titel 10 dieses Gesetzes konnte ein Vater oder eine Mutter bei schwerer, nicht unterdrückbarer Enttäuschung wegen des Verhaltens eines Kindes den Konflikt im Rahmen eines Verfahrens vor dem „Hausgericht“ der Familie lösen.134 Dieses an das römische „iudicium domesticum“ erinnernde „Gericht“ setzte sich aus mindestens sechs der engsten Verwandten zusammen. Konnten nicht so viele Verwandte erreicht werden, war ein Rückgriff auf Nachbarn oder Freunde zulässig. Weil das Gesetz kein konkretes Fehlverhalten nannte, betraf die Norm auch sexuelles Fehlverhalten, obwohl dieses seinerzeit an sich straflos war. War das Kind weniger als 21 Jahre alt, konnte das Hausgericht nach Art. 16 des Gesetzes in schweren Fällen eine Einsperrung desselben für die Dauer von maximal einem Jahr beschließen. Anders als beim römi130 Fournel, S. 274: „Si l’inconduite de la femme a acquis une publicité qui compromet la réputation du mari, c’est alors le cas de s’adresser aux Tribunaux pour obtenir la satisfaction légale, usitée en pareille matière.“ 131 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 324; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 12. 132 Fournel, S. 265; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 324. 133 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 324. 134 Vgl. Desquiron de Saint-Agnan, La puissance paternelle en France, S. 68 f.
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schen „iudicium domesticum“ durfte die Tötung des jeweiligen Kindes freilich nicht beschlossen werden. Die Vollstreckung der Entscheidung des Hausgerichts war gemäß Art. 17 dem Präsidenten des örtlich zuständigen Gerichts vorzulegen, der die Entscheidung nach Prüfung ihrer inhaltlichen Begründung – unter Ausschluss einer rechtlichen Überprüfung der Motive der Familienentscheidung – mildern konnte. Die vermeintliche gerichtliche Kontrolle war also de facto inexistent. Während das vorrevolutionäre französische Strafrecht das Tötungsrecht des Ehemannes weitgehend billigte, ließ die Rechtslage ab 1810 die Tötung der untreuen Ehefrau durch ihren Mann nur ausnahmsweise zu. Wegen des Grundsatzes in Art. 324 Abs. 1 CPI, dass die Tötung des Ehepartners grundsätzlich nicht milde bestraft werden kann, stellte der zweite Absatz hierzu eine Ausnahmevorschrift dar. Als solche war die Vorschrift mit ihren ohnehin hohen Voraussetzungen restriktiv auszulegen. Wie aber bereits angedeutet, stand diese gesetzgeberische Strenge im Widerspruch zur öffentlichen Meinung. Unter anderem aus diesem Grund wurde die begrenzende Funktion der Ausnahmevorschrift in der Rechtswirklichkeit missachtet und die legislative Begrenzung so überwunden.
a) Reichweite des Tötungsprivilegs nach dem Code pénal von 1810 Der Code pénal von 1810 bestrafte allein Tötungen von Frauen durch den Ehemann milde. Doch nicht nur der entsprechende Strafmilderungsgrund in Art. 324 Abs. 2 CPI, sondern auch die strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften der Artt. 337 ff. CPI privilegierten und perpetuierten männliches Besitzdenken im Hinblick auf die Ehefrau. Dies liegt zum einen an den unterschiedlich hohen Strafbarkeitsvoraussetzungen für Ehemänner und Ehefrauen. Zwar schuldeten sich die Eheleute gemäß Art. 212 Code civil gegenseitig unterschiedslos Treue: „Les époux se doivent mutuellement fidélité secours, assistance“,135 jedoch maß der Gesetzgeber bei den strafrechtlichen Folgen für eheliche Untreue mit zweierlei Maß. Während sich eine Ehefrau schon beim einfachen und einmaligen Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann wegen Ehebruchs strafbar machte, erforderte eine Bestrafung des Ehemannes wegen Ehebruchs eine über den einmaligen Geschlechtsakt hinausgehende Dauerhaftigkeit der außerehelichen Beziehung.136 Diese war nur dann strafwürdig, wenn er sich eine Geliebte am ehelichen Wohnsitz hielt. Diese musste aber nicht als solche dort eingebracht worden sein, sondern es konnte sich auch beispielsweise um eine Verwandte, eine Freundin oder um ein Dienstmädchen handeln, das mit dem Ehemann eine Liebesbeziehung unterhielt.137 Trotz der in diesem Punkt 135 „Die Eheleute schulden einander Treue, Schutz und Hilfe.“ Es sei darauf hingewiesen, dass die eheliche Treuepflicht an erster Stelle genannt wird. 136 Cass. 4. Juli 1963, RS Crim. 1964, 40; Cass. 20. Oktober 1964, JCP 1965, 2, 13998. 137 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 741.
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weiten Auslegung schränkten das Erfordernis der Dauerhaftigkeit sowie die örtliche Voraussetzung die Strafbarkeit des Ehemannes wegen außerehelicher Verhältnisse ein. Ein verheirateter Mann konnte außerhalb des ehelichen Wohnsitzes Geschlechtsverkehr mit unverheirateten Frauen haben, ohne sich hierfür strafrechtlich verantworten zu müssen. Auch die Strafen unterschieden sich merklich: Dem Ehemann drohte ungeachtet der hohen Voraussetzungen für seine Ehebruchsstrafbarkeit eine Geldstrafe von 100 FF bis zu 2000 FF,138 wohingegen die Ehefrau eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren erwartete.139 Neben diesen inhaltlichen Aspekten fallen formelle Unterschiede auf. Die einzige den Ehebruch des Ehemannes betreffende Vorschrift beinhaltet den Begriff „Adultère“ (Ehebruch) gar nicht. Die tatbeteiligte Dritte wird zudem als Geliebte bezeichnet. Demgegenüber sind dem Ehebruch der Frau gleich drei Vorschriften gewidmet, in denen der Begriff „Adultère“ verwendet und der tatbeteiligte Dritte als „Complice“ (Gehilfe) bezeichnet wird. Hiermit betonte der Gesetzgeber, dass die Ehefrau die eigentliche Täterin war, da allein sie ihren ehelichen Treueeid brach und dem Geliebten die Täterqualität fehlte.140 Der Begriff „Complice“ drückte also einen besonderen Vorwurf gegenüber dem Verhalten der Ehefrau aus. Anders als beim complice, dem mit Art. 338 CPI eine eigene Strafnorm gewidmet war, fehlte eine eigenständige Norm mit expliziter Strafandrohung für die Geliebte, woraus auf den ersten Blick ihre Straflosigkeit geschlossen werden mag;141 aus dem Fehlen einer speziellen Strafandrohung folgt aber richtigerweise eine Anwendung der allgemeinen Vorschriften der Artt. 59 f. CPI, so dass der Geliebten die gleiche Strafe drohte wie dem Ehemann als Haupttäter.142 Dennoch war diese Rechtsfolge relativ milde, erwartete doch den Gehilfen gemäß Art. 338 CPI neben der Freiheitsstrafe des gleichen Strafmaßes wie für die Ehebrecherin noch eine Geldstrafe. Diese Geldstrafe war mit der dem Ehemann in Art. 339 CPI angedrohten Geldstrafe identisch. Der Gehilfe wurde also besonders hart bestraft. Deutlicher wird die unterschiedliche Beurteilung des Ehebruchs bei dem besonderen Recht des Ehemannes nach Art. 337 Abs. 2 CPI. Dieser konnte seiner Ehefrau selbst nach erfolgter Verurteilung die Ehebruchsstrafe nachlassen, indem er sie wieder zu sich nahm und sie auf diese Weise „begnadigte“. Ein entsprechendes 138 Art. 339 CPI: „Le mari qui aura entretenu une concubine dans la maison conjugale, et qui aura été convaincu sur la plainte de la femme, sera puni d’une amende de cent francs à deux mille francs.“ 139 Art. 337 CPI: „La femme convaincue d’adultère subira la peine de l’emprisonnement pendant trois mois au moins et deux ans au plus. Le mari restera le maître d’arrêter l’effet de cette condamnation en consentant à reprendre sa femme.“ 140 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 Rn. 3. 141 Duncker, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe, S. 708. 142 Cass. 16. November 1855, Sirey 1856, 1, 184; Cass. 28. Februar 1868, Sirey 1868, 1, 421; Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 750.
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Recht verwehrte der Gesetzgeber der Frau bezogen auf ihren wegen Ehebruchs verurteilten Mann. Das Wiederaufnahmerecht wurzelt in der spätrömischen Authentikastrafe, bei welcher der Ehemann durch sein Verzeihen in Form der Wiederaufnahme in den ehelichen Haushalt seine Frau nach zweijährigem Zwangsaufenthalt im Kloster vor lebenslangem Klosterleben bewahrte. Auch der Code pénal von 1810 beließ die letzte Entscheidung über die Bestrafung der Ehefrau wegen Ehebruchs bei ihrem Mann. Die Ungeheuerlichkeit dieses Umstandes bringt der französische Strafrechtswissenschaftler Lambert am Treffendsten auf den Punkt: „Il est vrai que le mari – autre particularité qui n’est pas mince – possède le droit, après condamnation devenue définitive de sa femme, d’arrêter l’effet de cette condamnation en consentant à la reprendre (Art. 337, § 2). Ce droit de pardon, ce droit de ,tirer de prison‘, ce ,droit de grâce‘ qui fait en la matière du mari un véritable chef d’Etat, n’appartient qu’au mari. Noble attitude ainsi permise à l’époux par la loi. L’épouse qui aurait fait poursuivre son mari et qui l’aurait fait condamner n’aurait pas la ressource, elle, d’ainsi le ,grâcier‘. Elle se trouve donc frustrée par le législateur des bénéfices possibles d’un geste aussi généreux: mais que ferait-elle de ce droit, si elle le possédait, ne pouvant tirer de prison un époux qui n’encourait qu’une seule amende?“143
Diese legislative Diskriminierung wurde auch von anderen zeitgenössischen Autoren kritisch bewertet, die dem männlichen Gesetzgeber gar eine egoistische Interessenverfolgung unterstellten.144 Diese Kritik war indes nicht die Regel. Andere Autoren wehrten sich gegen die These, die Ehebruchsvorschriften diskriminierten Frauen. Nicht Männer würden grundsätzlich besser behandelt als die Ehefrauen, sondern nur die Ehemänner; denn der Gehilfe werde sogar härter bestraft als die Ehefrau selbst.145 Die Ungleichbehandlung von Ehemännern und Ehefrauen bei der Strafbarkeit wegen Ehebruchs liege somit an den unterschiedlichen Folgen der Tat: bei Frauen bestünde die Gefahr der Empfängnis eines Kindes von einem anderen Mann, der Ehemann 143 „Es ist wahr, dass der Ehemann – und dies ist nicht gerade eine unbedeutende Besonderheit – das Recht hat, die Folgen der rechtskräftigen Verurteilung seiner Ehefrau zu hemmen, indem er sie wiederaufnimmt (Art. 337 Abs. 2 CPI). Dieses Recht zur Vergebung, dieses Recht, ,[sie] aus dem Gefängnis zu holen‘, dieses ,Begnadigungsrecht‘, das aus dem Mann einen wahrhaften Staatschef macht, steht nur dem Mann zu. Noble Haltung, die das Gesetz dem Mann auf diese Weise gestattet. Die ihren Ehemann anzeigende und eine Verurteilung erwirkende Ehefrau hätte ihrerseits nicht die Möglichkeit, ihn so zu ,begnadigen‘. Sie wird also vom Gesetzgeber um die möglichen Vorteile einer so generösen Geste gebracht: aber was würde sie schon mit diesem Recht anfangen, wenn sie es hätte, zumal sie einen Ehemann nicht aus dem Gefängnis holen kann, der nur mit einer Geldstrafe rechnen muss?“, Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 737. 144 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 17; Proal, Le crime et le suicide passionnels, S. 265 ff. 145 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 738. Zusätzlich zur Freiheitsstrafe war zwingend eine Geldstrafe zwischen 100 FF und 2000 FF zu verhängen (im Jahr 1974 waren es 360 FF bis 7200 FF), Art. 338 Abs. 1 CPI: „Le complice de la femme adultère sera puni de l’emprisonnement pendant le même espace de temps, et, en outre, d’une amende de cent francs à deux mille francs.“
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dagegen verletze allein seinen Eheschwur. Bei ihm handele es sich um einen vorübergehenden und gelegentlichen Fehler, also mehr um einen moralischen Angriff.146 Dem muss entgegengehalten werden, dass auch alters- oder krankheitsbedingt unfruchtbare Frauen wegen Ehebruchs verurteilt wurden.147 Zudem kann das Argument der Strafbarkeit auch des Gehilfen nicht recht überzeugen, waren doch an seine Strafbarkeit erhöhte Anforderungen gestellt als an die der Ehefrau: Er musste nach Art. 338 CPI „en flagrant délit“ ertappt worden sein, das heißt auf handhafter Tat, oder seine Tat musste durch schriftliche Dokumente belegbar sein. Das damalige Strafgesetzbuch ließ es also zu, dass die Ehefrau wegen Ehebruchs verurteilt wurde, während ihr Geliebter aus Mangeln an Beweisen nicht verurteilt werden konnte.148 Hintergrund der erhöhten Anforderungen an die Strafbarkeit des Gehilfen war, dass der Gesetzgeber von 1810 die Ehre von Männern besonders schützen wollte. Der Erzkanzler des Reichs Jean-Jacques-Régis de Cambacérès drückte als Vertreter des kriegsbedingt abwesenden Kaiser Napoléon im Beratungsprozess seine Sorge aus, unschuldige Männer könnten leicht ihrer Ehre beraubt werden, wenn man an ihre Strafbarkeit nicht erhöhte Voraussetzungen stellte. Gleiches gelte auch für den Ehemann. Andernfalls ließen sich leicht einige Zeugen finden, die Lügen über unschuldige Männer verbreiteten und durch den Ehebruchsvorwurf deren Ehre verletzten.149 Dass auch unschuldige Frauen durch Falschaussagen nur allzu leicht wegen Ehebruchs bestraft und auf diese Weise ihrer Ehre beraubt werden könnten, kam dem Erzkanzler nicht in den Sinn. Nichtsdestotrotz hat sich der französische Strafgesetzgeber nicht für ein Tötungsrecht des Ehemannes im eigentlichen Sinne entschieden, also für eine Straflosigkeit desselben im Fall der Tötung seiner Frau und / oder des Dritten. Er entschied sich für eine an enge Voraussetzungen geknüpfte Strafmilderung als Sonderfall der Provokation. Diese Strafmilderung erhielt erhebliche Einschränkungen im Hinblick auf den privilegierten Täterkreis und die Tatsituation. 146 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 738; vgl. auch Sieye, Traité sur l’adultère, S. 6, der die geringere Strafwürdigkeit des Ehemannes damit erklärt, dass dieser „nur“ die Gefühle der Frau verletze und den Kindern ein schlechtes Beispiel gebe. 147 Cass. 13. Juli 1955, Bull. 348. 148 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 Rn. 32 unter Hinweis auf: Cass. 5. Januar 1906, Dalloz 1908, 1, 49; Cass. 18. Januar 1950, Gaz. pal. 1950, 1, 104; Cass. 12. April 1938, Gaz. pal. 1938, 2, 199. 149 „S. A. S. Le Prince Archichancelier de l’Empire dit qu’il est juste de punir sévèrement l’adultère; mais qu’il y aurait l’inconvénient à étendre la peine au complice et la femme, si l’on ne déterminait avec soin le genre des preuves qui seront admises pour opérer la conviction du coupable; et que la même difficulté existe relativement à la connivence du mari. Sans cette précaution, on donnerait lieu aux vexations, et l’on ferait naître des procès aussi injustes que dangereux. Il suffirait, en effet, de gagner quelques témoins pour compromettre l’homme le plus honnête, et souvent pour lui faire acheter, à prix d’argent, sa tranquillité. Ceci mérite d’autant plus d’attention, que, dans cette matière, les faits ne sont jamais bien certains que lorsque les coupables ont été surpris en flagrant délit.“, Locré, Bd. 30, S. 394.
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aa) Beschränkung der Täterprivilegierung auf Ehemänner Im Gegensatz zum römischen Recht bestrafte der Code pénal von 1810 ausschließlich Tötungen von Frauen durch den Ehemann milde. Anderen Männern – etwa dem Vater oder Bruder – kam die Strafmilderung nicht zugute – auch nicht beim Ertappen auf frischer Tat des Ehebruchs.150 Damit wären „Ehrenmorde“, die nicht vom Ehemann begangen wurden, aus dem Anwendungsbereich von Art. 324 Abs. 2 CPI ausgeschlossen gewesen. Die Beschränkung der privilegierten Täter auf Ehemänner wurde mit der Eigenschaft des Ehebruchs als Privatdelikt erklärt, welche sich in der exklusiven Befugnis des Ehemannes, Strafanzeige zu erstatten, ausdrücke; es sei widersinnig, dem Vater einerseits das Recht zur Tötung der eigenen Tochter wegen Ehebruchs zu geben, ihm aber andererseits das Recht zu versagen, sie wegen Ehebruchs anzuzeigen.151 Vereinzelt wurde geäußert, Art. 324 Abs. 2 CPI gehe nicht weit genug, da der Ehemann hier nur entschuldigt werde.152 Als Ehemann – und erst recht als Familienvater – sei es geradezu seine Pflicht und damit sein Recht, seine Ehre durch die Tötung unsittlicher weiblicher Familienmitglieder wiederherzustellen. Nur so könne der soziale Frieden und der Respekt der Kinder gegenüber ihren Eltern wiederhergestellt werden. Ein Mann, der sich entsprechend dieser Anschauung verhalte, sei nicht anzuklagen, sondern mitfühlend zu beklagen. Diese extreme Position ist zwar die absolute Ausnahme, es finden sich aber auch weniger extreme Stimmen in der Literatur, die eine Ungleichbehandlung unter Hinweis auf die französischen Anschauungen und Sitten billigten.153 Schon zur Zeit des Ancien Régime sei die Ehefrau stärker ihrem Mann gegenüber zur Liebe verpflichtet gewesen als umgekehrt.154 Diese Auffassung gab einigen Stimmen in der Literatur schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Anlass zu Kritik.155 Es wurde vorgebracht, dass es sich bei der Diskriminierung um ein legislatives Versehen handelte, für das es keine hinreichende Erklärung gebe.156 Vielmehr seien Frauen emotionaler und neigten eher zu unkontrollierbaren Leidenschaftsausbrüchen, weswegen gerade sie einer Privilegierung wie in Art. 324 Abs. 2 CPI bedürften.157 Da es sich um ein legislati150 Jousse, Traité de la justice crimininelle en France, Bd. 3, S. 491; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 15 ff. 151 Fournel, Traité de l’adultère, S. 261. 152 Desquiron de Saint-Agnan, La Puissance paternelle en France, S. 66 f. 153 Dalloz, zitiert bei Sieye, Traité sur l’adultère, S. 443. 154 Henrys, Œvres, Bd. 4, § 762, zitiert in: Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 60. 155 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 59 f.; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 443 f. Es ist erwähnenswert, dass der Autor ehebrecherische Frauen moralisch nicht verurteilt, sondern als geradezu zu freier Sexualität schicksalhaft gezwungen darstellt. 156 Chauveau und Hélie, zitiert bei Sieye, Traité sur l’adultère, S. 443.
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ves Versehen handele und Frauen mindestens ebenso schutzwürdig seien wie Ehemänner, stünde der Weg zu der auch in Frankreich generell zulässigen täterbegünstigenden Analogie offen.158 Diese Meinung verkannte indes die fehlende Analogiefähigkeit einer Ausnahmevorschrift wie Art. 324 Abs. 2 CPI. Zudem liegt es fern, in der Beschränkung der Strafmilderung auf Ehemänner ein Versehen des Gesetzgebers zu sehen. Nie zuvor war es Frauen erlaubt, ihren Ehemann in einem Zustand schwerster Kränkung und damit einhergehender Erregtheit zu töten. Wenn der Gesetzgeber auch im Jahr 1810 den Frauen eine milde Strafe für solche Tötungen versagte, war dies kein Versehen, sondern die Fortsetzung einer langen Rechtstradition. Die kritischen Stimmen belegen allerdings ein wachsendes Bewusstsein in der Strafrechtslehre dafür, dass eine strafrechtlich sanktionierte Sexualmoral diskriminierungsfrei sein müsse. Es wurde sogar vorgebracht, die Frau könne von dieser Ungerechtigkeit sogar profitieren, indem sie sich einen guten Verteidiger suche, der vor dem Schwurgericht auf ebendiese gesetzliche Ungerechtigkeit hinweisen und somit gar den Freispruch seiner Mandantin erwirken könne.159 Dass aber die Vorschrift angesichts des Wandels der Sitten durch zunehmende Erkenntnis von der Gleichberechtigung der Geschlechter absolut unhaltbar war, liegt auf der Hand. Ob Art. 324 Abs. 2 CPI auch bei Hinzuziehen eines Dritten – einer auch bei „Ehrenmorden“ nicht unüblichen Praxis – angewendet werden könne, war umstritten. Teilweise wurde eine Anwendung bei Hinzuziehung eines Dritten zur Tötung bejaht, wenn der Ehemann zur eigenhändigen Tatausführung unfähig war. Dies sei freilich nur möglich, solange die Voraussetzungen der Vorschrift im Übrigen erfüllt seien.160 Der Einsatz eines Dritten ändere nichts an der Natur der Handlung, solange der Einsatz spontan und ohne Vorbedacht erfolge. Der Ehemann handele dann unter dem gleichen Eindruck einer Provokation, bediene sich des Dritten wie einer Waffe und gleiche letztlich nur seine Unterlegenheit aus. Der Dritte aber sei nach den allgemeinen Vorschriften zu bestrafen, so dass eine Strafmilderung für ihn grundsätzlich ausgeschlossen sei. Hier sei aber zu prüfen, ob er Mitglied der Familie des Ehemannes war und von ihm gelenkt wurde. Dann wäre sein Handeln nicht ganz frei von moralischem Zwang, so dass nach Chauveau-Hélie die Strafe für den Dritten zu mildern wäre.161
157 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 443; vgl. auch Donnedieu de Vabres, Précis de droit criminel, Rn. 775. 158 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 443; Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Bd. 2, Rn. 828. 159 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 149. 160 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 55 ff. und Dalloz, zitiert bei Sieye, Traité sur l’adultère, S. 442. 161 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 57.
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Diese Mindermeinung stieß bei den meisten Autoren unter Hinweis auf den Normtelos auf Ablehnung.162 Selbst im römischen Recht war nicht der Rückgriff auf jedweden Dritten, sondern nur auf den eigenen Sohn möglich.163 Grund hierfür war der innere Konflikt des Vaters zwischen der Pflicht zur Verteidigung der Familienehre und der erhöhten Tötungshemmschwelle aufgrund der natürlichen Verbundenheit mit der eigenen Tochter. Dieser Konflikt wurde durch die Möglichkeit der Bestimmung des Sohnes zur Tatausführung gelöst. Ein solcher Konflikt bestand indes bei dem verletzten Ehemann nicht, und eine Privilegierung scheint bei einer Bestimmung des Sohnes zur Tat umso weniger angebracht. Art. 324 Abs. 2 CPI soll der durch die schwere Verletzung der Gefühle bedingten Erregtheit des Ehemannes beim Anblick seiner untreuen Ehefrau Rechnung tragen; da diese Verletzung beim tatbeteiligten Dritten fehlt, ist die Vorschrift auf ihn unanwendbar.164 Zudem bediente sich der Ehemann anders als bei eigenhändiger Tötung fremden Unrechts. Weil nämlich der Dritte nicht zu dem in Art. 324 Abs. 2 CPI geschützten Täterkreis gehörte, war er wegen Totschlags oder Mordes zu bestrafen. Schließlich war Art. 324 Abs. 2 CPI als Ausnahmevorschrift restriktiv auszulegen, weswegen auch der Ehemann bei Hinzuziehen eines Dritten zur Tatausführung ohne Strafmilderung bestraft werden musste. bb) Anforderungen an die Tatsituation Der französische Gesetzgeber setzte für die Privilegierung voraus, dass der Täter die Ehebrecher „en flagrant délit“ betraf, und zwar „dans la maison conjugale“. Für die Wendung „en flagrant délit“ gibt es in der zeitgenössischen deutschen Rechtssprache keinen Ausdruck. Insbesondere ist dieses Tatbestandsmerkmal nicht mit dem „Betreffen auf frischer Tat“ im Sinne von § 127 StPO zu verwechseln, auch wenn Gemeinsamkeiten bestehen. Die „frische Tat“ im deutschen Prozessrecht betont vor allem eine zeitliche Voraussetzung, während das „flagrant délit“ begrifflich darüber hinaus den Grad an Sicherheit betont, dass ein Delikt soeben begangen wurde. Am treffendsten lässt sich „surprendre en flagrant délit“ wohl mit „auf handhafter Tat betreffen“ übersetzen, wiewohl darauf hingewiesen sei, dass diese Übersetzung nicht mit der entsprechenden Wendung in älteren deutschen Rechtstexten inhaltlich gleichgesetzt werden soll. (1) Strafbarer Ehebruch der Ehefrau Die Strafbarkeit des Ehebruchs durch die Ehefrau war in Artt. 336 f. CPI geregelt, ohne dass die Vorschriften den Ehebruchsbegriff definierten: 162 Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Bd. 2, Rn. 828; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 §§ 18 – 20; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 442. 163 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 442. 164 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 19.
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Art. 336 CPI: „L’adultère de la femme ne pourra être dénoncé que par le mari: cette faculté même cessera, s’il est dans le cas prévu par l’art. 339.“165 Art. 337 CPI: „La femme convaincue d’adultère subira la peine de l’emprisonnement pendant trois mois au moins et deux ans au plus. Le mari restera le maître d’arrêter l’effet de cette condamnation, en consentant à reprendre sa femme.“166
In der Literatur wird der Ehebruch als intime Beziehung einer verheirateten Person mit einer anderen Person als dem Ehepartner definiert.167 Das ist keineswegs selbstverständlich, predigten doch Würdenträger der katholischen Kirche noch im Mittelalter, jede Form der Unzucht sei Ehebruch. Von Ehebruch war sogar dann die Rede, wenn Verheiratete sich wollüstig und maßlos liebten.168 Dieses weite Ehebruchsverständnis griff der Code pénal von 1810 indes nicht auf. Der Täter musste zur Tatzeit also verheiratet gewesen sein, weswegen eine zur Tatzeit rechtskräftige Scheidung169 oder Eheannullierung170 einem strafbaren Ehebruch entgegenstanden. Bei einer Trennung von Tisch und Bett war demgegenüber eine Strafbarkeit wegen Ehebruchs weiterhin möglich, da die bloße Trennung sich nicht auf den Fortbestand der Ehe auswirkte. Zwar beseitigte die Trennung von Tisch und Bett die eheliche Verpflichtung zu einem gemeinsamen Leben, so dass es keinen ehelichen Haushalt mehr gab. Die ehelichen Treuepflichten blieben jedoch weiter bestehen. In diesem Fall machte sich aber nur eine untreue Ehefrau wegen Ehebruchs strafbar,171 ohne dass sie dem Ehemann sein untreues Verhalten entgegenhalten konnte.172 Der selbst wegen Ehebruchs strafbare Ehemann verlor gemäß Art. 336 a.E. CPI das Recht, den Ehebruch seiner Frau anzuzeigen.173 Eine 165 „Die Frau kann wegen Ehebruchs nur von ihrem Ehemann angezeigt werden; er verliert dieses Recht im Fall von Art. 339.“ 166 „Die wegen Ehebruchs verurteilte Frau wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft. Dem Ehemann ist es belassen, die Folge dieser Verurteilung durch die Wiederaufnahme seiner Frau zu verhindern.“ 167 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 739. 168 Vgl. Yves de Chartres: „dans le mariage faire l’amour voluptueusement et immodérément est adultère“, zitiert in: Gazzaniga, La sexualité dans le droit canonique médiéval, 41 (48), mit weiteren Zitaten von damaligen Kirchenoberhäuptern. 169 Die Pflicht zur ehelichen Treue wurde nicht sofort durch die Verkündung des Scheidungsurteils beendet, sondern erst im Augenblick des Eintritts von dessen Rechtskraft (Trib. Corr. Laval, 9. Januar 1948, JCP 1948, 2, 4119 (m. Anm. Lhérondel); Civ. 14. Dezember 1925, Gaz. Pal. 1926, 1, 302.; CA Toulouse, 1. Juni 1967, Gaz. Pal. 1967, 2, 181). 170 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 740 m. w. N. 171 Cass. 27. April 1838, Sirey 1938, 1, 538; CA Lyon, 7. Januar 1873, Sirey 1873, 2, 231. 172 Cass., 27. April 1838, Sirey 1938, 1, 538; CA Paris, 4. Dezember 1857, Dalloz 1958, 2, 1; CA Lyon, 7. Januar 1873, Dalloz 1973, 2, 8. 173 Umgekehrt konnte sich der ehebrecherische Ehemann nicht auf einen strafbaren Ehebruch seitens der Frau berufen, um ein Strafverfahren gegen sich zu verhindern oder zu beenden. Grund hierfür war der Ausnahmecharakter von Art. 336 und die daher fehlende Analogiefähigkeit der Norm (Cass. 23. März 1865, Sirey 1865, 1, 245).
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Ehebruchsstrafbarkeit des untreuen Ehemannes scheiterte hier daran, dass es bei einer Trennung von Tisch und Bett keinen ehelichen Wohnsitz mehr gab.174 Dies galt sogar für den Fall, dass Ehefrau und Ehemann nach der Trennung von Tisch und Bett einvernehmlich eine Wohnung teilten, da auch diese Wohnung dann kein ehelicher Wohnsitz mehr gewesen wäre.175 Ferner musste die Frau den Beischlaf mit einem anderen Mann als ihrem Ehepartner vollzogen haben. Nur der Beischlaf mit einer Person anderen Geschlechts stellte einen strafbaren Ehebruch dar.176 Homosexuelle Kontakte177 oder bloßes Zusammenleben mit einem Mann178 reichten nicht. Schließlich musste die Frau vorsätzlich handeln. Der Vorsatz erforderte eine Freiwilligkeit der sexuellen Beziehung und das Wissen um die Tatumstände. Am Vorsatz fehlte es demnach bei einer Vergewaltigung oder bei der irrigen Annahme der Frau, es handele sich um den Ehepartner. Auch wenn die Frau irrig annahm, verwitwet oder geschieden zu sein, fehlte es am Vorsatz.179 Gleiches galt für den Irrtum der Frau, schon die Verkündung eines Scheidungsurteils entbinde sie ihrer ehelichen Treuepflichten.180 (2) Betreffen auf handhafter Tat Der Grund für das Erfordernis des Betreffens auf handhafter Tat bestand darin, dass der Ehemann nur dann plötzlich und zweifellos mit dem Anblick seiner Frau beim Ehebruch konfrontiert war und deswegen die Beherrschung verlor,181 was die in einer solchen Gemütslage begangene Tötung allgemein wenig strafwürdig erscheinen ließ. Das gleiche Erfordernis fand sich auch in Art. 338 CPI, der die Strafbarkeit des Gehilfen wegen Ehebruchs betraf. Dieser konnte nur dann wegen Ehebruchs bestraft werden, wenn er auf handhafter Tat betroffen wurde oder wenn Schriftstücke182 seine Schuld bewiesen. In beiden Vorschriften war das Tatbestandsmerkmal des Betreffens auf handhafter Tat gleich zu verstehen.183 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 740 Fn. 3. Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 148; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 441 f. 176 Vouin, Droit pénal spécial, 1971, Rn. 288. 177 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 740; Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 211; Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 736; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 336 Rn. 7. 178 Cass. 8. November 1955, Bull. 458. 179 Goyet, Droit pénal spécial, Rn. 740. 180 Trib. Corr. Château-Thierry 12. Dezember 1947, Gaz. pal. 1948, 1, 74; Trib. Corr. Laval 9. Januar 1958, JCP 1948, 2, 4119 (m. Anm. Lhérondel); CA Toulouse 1. Juni 1967, Gaz. pal. 1967, 2, 181. 181 Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Paris, 1928, Bd. 2, Rn. 828. 182 Bei diesen Schriftstücken musste es sich nicht um einen Liebesbrief handeln; entscheidend war allein, dass das Schriftstück an der außerehelichen Beziehung keinen Zweifel ließ 174 175
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Das Tatbestandsmerkmal konnte auch durch einen Beamten der Kriminalpolizei festgestellt werden, der auf Antrag des Ehemannes den Tatort aufsuchte, um den Ehebruch auf handhafter Tat nachzuweisen. Für den Ehemann hatte dies den Vorteil, ein sicheres Beweismittel gegen seine Frau und ihren Gehilfen zu erwirken.184 Auch wenn die Feststellung des Ehebruchs durch die Kriminalpolizei auf Antrag des Ehemannes keine Seltenheit war, brachte sie im 20. Jahrhundert einen entscheidenden Nachteil mit sich: Die Hausbesuche durch staatlich bestellte Personen zur Feststellung des Ehebruchs mussten tagsüber, also im Zeitraum zwischen 6 Uhr morgens und 9 Uhr abends stattfinden. Dies ergab sich aus dem Gesetz vom 6. Dezember 1954, welches Art. 1037 Code de procédure civile neu fasste. In der Praxis war daher das Betreffen auf handhafter Tat durch den Ehemann in quantitativer Hinsicht relevanter. Die Rechtsprechung und die Literatur legten das Erfordernis großzügig aus. Dies gilt zunächst im Hinblick auf das zeitliche Moment. Die handhafte Tat bestehe nicht nur in der gerade begangenen Tat, auch die Zeit unmittelbar vor und nach Begehung des Ehebruchs müsse noch erfasst sein.185 Es sei nämlich nicht auszuschließen, dass die provozierende Wirkung auf den Ehemann auch in diesen Fällen dieselben seien wie beim Betreffen auf der Tat selbst. Es wurde allerdings vorausgesetzt, dass trotz zeitlicher Verzögerung der Gegenwehr seitens des Ehemannes kein Zweifel an dem Fortbestehen der Provokationswirkung bestand. Die handhafte Tat war somit auch dann zu bejahen, wenn der Ehemann nach dem Anblick des Ehebruchs eine Waffe holte, sei es im eigenen Haus oder andernorts, um augenblicklich zwecks seiner „Gegenwehr“ zurückzukehren.186 Erforderlich war aber zudem, dass der Täter den Ehebruch unzweifelhaft wahrgenommen hatte. Zwar fehlte es an einer sinnlichen Wahrnehmung, wenn der Täter nur durch einen Liebesbrief vom Ehebruch seiner Frau erfahren hatte.187 Aber im Übrigen legten sowohl die Rechtsprechung als auch die Lehre dieses Erfordernis täterfreundlich aus. Denn Beteiligte eines Ehebruchs neigen nach allgemeiner Erfahrung dazu, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, die ein Betreffen erschweren (Cass. 20. Oktober 1900, Dalloz 1900, 1, 283; Cass. 10. Februar 1949, Bull. 56.). Es konnte sich also auch um einen an eine andere Person als die Ehefrau adressierten Brief handeln (CA Rouen 1. Juni 1853, Dalloz 1855, 2, 340) oder um ein protokolliertes Geständnis während einer richterlichen oder polizeilichen Vernehmung (Cass. 20. Oktober 1900, Dalloz 19001 1, 283; CA Amiens, 4. Mai 1876, Sirey 1877, 2, 212; CA Alger 10. Juni 1877, Sirey 1877, 2, 292). 183 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 23. 184 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 § 51. 185 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 147; Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 50 ff.; in diesem Sinne wohl auch Sieye, Traité sur l’adultère, S. 441, der die Schwierigkeiten bei der Auslegung des Begriffs aufzeigt, die es seiner Meinung nach nahe legen, die Geschworenen im Einzelfall entscheiden zu lassen. 186 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 148. 187 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 147.
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sollen. Ein Verschließen der Tür etwa verhindert, dass der Ehemann seine Frau und ihren Gehilfen beim Ehebruch zweifellos sinnlich wahrnimmt. Seine Privilgierung nach Art. 324 Abs. 2 CPI wäre also in zahlreichen Fällen wertlos gewesen. Um sie aber nicht ins Leere laufen zu lassen, genügte ein Antreffen der Ehebrecherin und ihres Gehilfen in einer Lage, die keinen Zweifel an der Begehung des Ehebruchs aufkommen ließ. Eine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung des Ehebruchs selbst war damit nicht erforderlich. Es reichte aus, wenn beide gemeinsam in einem Zimmer angetroffen wurden, die Frau auf dem Bett liegend und der Mann nur mit seinem Hemd bekleidet.188 Gleiches galt für eine merkliche Verzögerung beim Öffnen der Wohnungstür nach dem Anklopfen189 oder Abdrücke zweier Körper in einem Bett.190 Auch wenn die Rechtsprechung ausdrücklich betonte, dass das Erfordernis des Betreffens auf handhafter Tat Indizien und Vermutungen als Beweismittel ausschließen soll,191 lief es doch gerade darauf hinaus. (a) Extensives Verständnis durch Rückgriff auf allgemeine Lebenserfahrung Für das Betreffen auf handhafter Tat reichte es nicht aus, dass eine verheiratete Frau sich mit einem Mann in einem verschlossenen Raum befand, selbst wenn dies zu später Nacht geschah. Es kam vielmehr darauf an, dass ihr Verhalten und die Umstände zweifellos darauf schließen ließen, dass sie den Ehebruch gerade vollzogen oder schon vollendet hatten.192 Nichtsdestoweniger hat die französische Rechtsprechung dieses Tatbestandsmerkmal extensiv ausgelegt und ließ teilweise Anhaltspunkte genügen, bei denen ein Richter in heutiger Zeit wohl durchaus noch berechtigte Zweifel am Vollzug des Ehebruchs gehabt hätte, wäre dieser heute noch strafbar. Erklären lässt sich die Großzügigkeit mit der damaligen Mentalität im Hinblick auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Der Ehebruch des Ehemannes war an hohe Voraussetzungen gebunden, so dass der Gesetzgeber eheliche Untreue durch den Mann weitgehend billigte. Von Frauen wurde indes erwartet, ihre sozialen Kontakte mit anderen Männern als dem Ehemann auf das Nötigste zu begrenzen. Geht man davon aus, dass die Richter in den im Folgenden dargestellten Beispielen nicht den geringsten Zweifel am Vollzug des Ehebruchs 188 Cass. 27. Februar 1879, Sirey 1879, 1, 333; Cass. 31. Mai 1889, Sirey 1891, 1, 425; vgl. auch Cass. 10. Dezember 1940, Gaz. pal. 1941, 1, 34; Cass. 20. Oktober 1963, Bull. 298. 189 In einem Fall hatten eine Ehefrau und ihr Liebhaber sich um 17 Uhr 45 eingeschlossen und sich geweigert, die Tür wieder zu öffnen, bis der Mann die Tür um 23 Uhr durch einen Fachmann öffnen ließ. Hieraus schlossen die Richter, das Paar sei auf frischer Tat ertappt worden, Cass. 15. November 1872, DP 1872, 1, 479 (2). 190 Cass. 10. Dezember 1940, Gaz. pal. 1941, 1, 34. 191 Cass. 22. September 1837, Sirey 1838, 1, 331; CA Rennes 10. April 1850, Dalloz 1852, 2, 249; vgl. aber Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 Rn. 34. 192 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 338 Rn. 52.
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hatten, das heißt am Vollzug des Geschlechtsverkehrs, so werden einige Parallelen zum oben dargestellten streng patriarchalischen Ehrverständnis in einigen Regionen der Türkei deutlich. Denn es reichte aus, wenn Zeugen die Ehefrau dabei beobachtet hatten, wie sie sich mit einer anderen Person in einem Zimmer einschloss, nachdem sie eine Matratze dorthin verbracht hatte; wenn ein Zeuge die Frau in unbekleidetem Zustand gemeinsam mit einem Mann in Schlafbekleidung antraf; wenn Zeugen darlegten, dass die Frau eine Nacht gemeinsam mit einem Mann in dem Bett ihrer Tochter verbracht hatten.193 Sogar das Hören von Kussgeräuschen durch Zeugen reichte aus.194 (b) Ausschluss des Mordes aus dem Anwendungsbereich Art. 324 Abs. 2 CPI privilegierte nicht den Täter eines „assassinat“ (Mord).195 Hierfür spricht nicht allein der Wortlaut,196 sondern auch das Tatbestandsmerkmal des Betreffens auf handhafter Tat.197 Der hierzu erforderliche enge zeitliche Zusammenhang fehle, wenn der Täter nicht im Augenblick der Provokation und der Wut tötete, sondern eine oder gar mehrere Stunden wartete, so dass die Annahme geplanter Rache nahelag.198 Gleiches musste dann gelten, wenn der argwöhnische Ehemann seiner Frau etwa durch das Vortäuschen einer Reise eine Falle stellte, um sie dann beim Ehebruch zu betreffen. Nach zutreffender Auffassung hatte der Ehemann seine Frau dann nicht auf handhafter Tat betroffen.199 Mit der Planung liege aber Vorbedacht vor, welche auch heute noch den „meurtre“ (Totschlag) vom „assassinat“ abgrenzt. Denn der Vorbedacht schloss aus, dass der Täter zur Tatzeit unter dem Eindruck eines überraschungsbedingten Wutausbruchs stand.200 Hierin Cass. 31. Mai 1889, Sirey 1891, 1, 425. CA Agen 18. Juli 1902, Dalloz 1903, 2, 344. Zwar unterschied sich die damalige Sexualmoral deutlich von unserer zeitgenössischen. Nichtsdestoweniger ist m. E. auch hierin ein Beispiel für die lockere Handhabung des Tatbestandsmerkmals des Betreffens auf handhafter Tat durch die französische Rechtsprechung zu erblicken. Denn immerhin erforderte es das Betreffen der am Ehebruch Beteiligten in zweifelloser Lage. Hier wurde vom einfachen Kuss zweifellos auf den Vollzug des Geschlechtsverkehrs geschlossen – ohne Kritik seitens der Literatur. 195 Cass. 10. Juli 1957, Bull. 536 zitiert bei: Goyet, Droit Pénal Spécial, Rn. 608 Fn. 3; Sieye, Traité sur l’adultère, S. 441; Umgekehrt konnte Abs. 2 auf weniger schwere Delikte wie eine Körperverletzung angewendet werden, Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 2, 22; a.A. mit Verweis auf den Wortlaut der Vorschrift CA Alger, 3. Mai 1879, Sirey 1880, 2, 20. 196 „[ . . . ] le meurtre commis par l’époux sur son épouse [ . . . ]“ meint allein den Totschlag. 197 CA Lyon 3. Januar 1845, Sirey 1845, 2, 547; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 24. 198 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 147; Donnedieu de Vabres, Précis de droit criminel, Rn. 775. 199 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 441. 200 Cass. 10. Juli 1957, Bull. 536. 193 194
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unterschied sich Art. 324 Abs. 2 CPI vom allgemeinen Strafmilderungsgrund der Provokation nach Art. 321 CPI,201 der seinerseits auch eine geplante Gewalttat erfasste.202 Diese Auffassung war indessen nicht unumstritten, worin sich der Wunsch einiger Stimmen in der Literatur ausdrückt, die Vorschrift notfalls entgegen ihrem klaren Wortlaut auf möglichst viele „Crimes passionnels“ anzuwenden. Zur Begründung ihrer Position verwiesen sie auf die Rechtsprechung, die Art. 321 CPI entgegen seinem Wortlaut auch auf den Mord anwendete.203 Es wurde vorgebracht, der argwöhnische Ehemann handele mit „bedingtem Vorbedacht“,204 wenn er sich eine Waffe besorge, um im Fall des Erblickens seiner Frau beim Ehebruch mit einer Tötung derselben zu reagieren. Dieser „bedingte Vorbedacht“ schließe nicht die Erregtheit des Ehemannes im Augenblick des Anblicks und der damit einhergehenden Verletztheit aus, der Art. 324 Abs. 2 CPI Rechnung trug. Zwar setzte die Vorschrift ihrem Wortlaut nach voraus, dass der Ehemann seine Frau überrascht hatte.205 Sie forderte aber nicht, dass der Ehemann selbst von seiner Entdeckung überrascht war.206 Andere207 wiesen darauf hin, dass ein geplantes Ertappen noch kein geplantes Töten bedeute, und dass die Provokation beim Anblick des Ehebruchs auch in diesem Fall überaus hoch sein könne. Denn der argwöhnische Ehemann stelle seiner Frau ja gerade aufgrund seiner Unsicherheit die Falle. Sei er sich aber beim Stellen der Falle schon vollkommen des ehebrecherischen Verhaltens seiner Frau sicher und habe er sich fest auf die Tötung seiner Frau eingestellt, so liege der Fall anders.208 In dieser Situation würde es sich um eine Tötung mit Vorbedacht handeln, also um einen Mord, auf den die Vorschrift unanwendbar sei. Letztlich zeugt der Streit vom Willen einiger Autoren, die letztlich hierfür untaugliche Norm des Art. 324 Abs. 2 CPI zur allgemeinen Privilegierung für „Crimes passionnels“ umzufunktionieren. 201 „Le meurtre, ainsi que les blessures et les coups sont excusables, s’ils ont été provoqués par des coups ou violences graves envers les personnes.“ 202 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 148; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 23. 203 Der Kassationshof hat – entgegen dem Wortlaut von Art. 321 CPI – dessen Anwendbarkeit auf qualifizierte Totschlagsdelikte, also auch den Mord, bejaht. Zur Begründung führte es an, auch bei diesen Tötungen mit Vorbedacht oder mittels eines hinterlistigen Überfalls sei eine vorhergehende Provokation nicht ausgeschlossen, vgl. Cass. 20. Dezember 1883, Bull. 289; Cass. 6. August 1898, Dalloz 1899, 1, 95. 204 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 25. 205 Vgl. Art. 324 Abs. 2 : „[ . . . ] à l’instant où il les surprend en flagrant délit [ . . . ]“. 206 Vgl. Garçon, Code pénal annoté Bd. 2, Art. 324 § 26: „Second argument est que „la femme doit être surprise: mais on joue sur les mots en concluant de là que le mari doit découvrir ainsi l’adultère, être surpris; c’est la femme qui est surprise, c’est-à-dire trouvée en flagrant délit d’adultère.“ 207 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 54 f. 208 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 54 f.
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(3) Am ehelichen Wohnsitz Ungeachtet der Kritik an diesem Erfordernis209 war nur die Tötung der am ehelichen Wohnsitz Betroffenen privilegiert. Ein Betreffen der Frau an einem anderen Ort reichte nicht. Dass der Mann seine Frau beim Ehebruch gerade in der ehelichen Wohnung vorgefunden hatte, musste sogar aus seinem Strafurteil hervorgehen. Der Kassationshof hob ein Urteil auf, das dem Angeklagten den Strafmilderungsgrund in Art. 324 Abs. 2 CPI zusprach, ohne den Ort des Ertappens auf frischer Tat zu nennen.210 Mit der örtlichen Einschränkung wollte der Gesetzgeber verhindern, dass misstrauische Ehemänner ihre Frau gedankenlos töteten.211 Zudem respektierte der Gesetzgeber von 1810 die Privatsphäre des ehelichen Wohnsitzes, an dem der Ehemann in der Ausübung seiner „juridiction domestique“ (häusliche Rechtsgewalt), frei sein müsse.212 Sie nahm Bezug auf Art. 339 CPI, der die Ehebruchsstrafbarkeit des Ehemannes betraf. Dieser machte sich nur dann wegen Ehebruchs strafbar, wenn er sich eine Geliebte am ehelichen Wohnsitz hielt. Die örtliche Einschränkung in Art. 324 Abs. 2 CPI war wie in dieser Vorschrift auszulegen.213 Danach meint „ehelicher Wohnsitz“ nicht nur den Hauptwohnsitz der Eheleute, sondern erfasste jeden Wohnsitz des Mannes, an dem er jederzeit seine Frau erwarten konnte.214 Es handelte sich also um Räumlichkeiten, in denen die Ehefrau die Möglichkeit hatte zu wohnen und auch verlangen konnte, empfangen zu werden. Bezüglich dieser Räumlichkeiten kommt dem Ehemann seinerseits das Recht zu, seine Frau zum dortigen Wohnen zu verpflichten, und in denen ihn gleichzeitig die Pflicht trifft, jederzeit in der Lage zu sein, sie dort zu empfangen.215 Das Anliegen des Gesetzgebers, gedankenlose Tötungen von Ehefrauen und / oder tatbeteiligten Dritten durch den Ehemann zu verhindern, schlug fehl. Letzt209 „Qu’importe cependant le lieu où le délit se commet! La colère, le ressentiment qui sont la cause impulsive du meurtre ne sont-ils pas aussi légitimes dans tous les cas?“, Garraud, Traité théorique et pratique du droit pénal français, Bd. 2, Rn. 828. 210 Cass. 25. Januar 1872, Bull. 22. 211 Dies stellt der conseiller Faure in der Gesetzesbegründung klar: „Cette restriction a paru nécessaire. On a craint que si ce meurtre commis dans tout autre lieu, était également excusable, la tranquilité des familles ne fût troublée par des époux méfians et injustes qu’aveuglerait l’espoir de se venger des prétendus égaremens de leurs épouses.“, Locré, Bd. 30, S. 477. 212 „Toutefois, S.A.S. [Le Prince Archichancelier de l’Empire] est d’avis de distinguer entre le mari qui surprend sa femme dans sa maison, et celui qui la trouve ailleurs. Le premier seul paraît devoir être excusé lorsqu’il a puni les coupables dans un lieu où il exerce une juridiction domestique.“, Locré, Bd. 30, S. 428. 213 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 27. 214 CA Toulouse 28. Februar 1900, Sirey 1903, 2, 133. 215 Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 745; Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 339 Rn. 5; Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 58.
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lich setzte sich das Konzept vom „Crime passionnel“ unter Umgehung der Voraussetzungen von Art. 324 Abs. 2 CPI durch.
b) Privilegierung von „Crimes passionnels“ jenseits des materiellrechtlichen Rahmens und die legislativen Reaktionen Ungeachtet des Umstands, dass mit der von ihrem ersten Absatz abweichenden Ausnahmevorschrift in Art. 324 Abs. 2 CPI nur die dort geschilderte Tötung eine Strafmilderung erfahren sollte, wurden darüber hinausgehend auch nicht erfasste „Crimes passionnels“ milde oder gar nicht bestraft. Dies ist umso erstaunlicher, da ein „Crime passionnel“ nicht selten mit Vorbedacht ausgeführt wird und entsprechend mit dem Tod zu bestrafen gewesen wären.216 Dennoch oder vielleicht gerade deshalb war die Verurteilung dieser Täter zum Tod wohl die absolute Ausnahme.217 Außerdem wird berichtet, dass Väter, die ihre ehebrecherischen Töchter töteten, oftmals von den Schwurgerichten freigesprochen wurden, ohne dass es hierfür eine materiellrechtliche Grundlage gab.218 Schließlich wurden wohl auch weibliche Täter eines „Crime passionnel“ freigesprochen.219 Tatsächlich verlor Art. 324 Abs. 2 CPI zunehmend an Bedeutung, weil seine Voraussetzungen nur selten erfüllt waren und die Verteidiger der Angeklagten sich kaum hierauf beriefen.220 Ein zeitgenössischer Autor folgerte aus alldem zynisch, dass es an sich keine „Crimes passionnels“ gäbe; mit dem Begriff würden vielmehr diejenigen Straftaten bezeichnet, welche die Geschworenen freisprechen wollen.221 aa) Strafprozessrechtlicher Hintergrund für die strafrichterliche Milde Strafprozessrechtliche Regelungen können Normen des materiellen Strafrechts praktisch aushebeln. Dies wird durch die Rechtsprechung der Cours d’assises222 veranschaulicht, welche die Täter eines „Crime passionnel“ entgegen dem Wortlaut von Art. 324 Abs. 2 CPI milder bestraften, teilweise sogar freisprachen.223
216 Art. 302 in der Fassung nach Inkrafttreten des Gesetzes vom 21. November 1901 und der Verordnung Nr. 60 – 529 vom 4. Juni 1960: „Tout coupable d’assassinat, de parricide et d’empoisonnement, sera puni de mort.“ Die Vorschrift war nach der Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich durch das Gesetz Nr. 81 – 908 vom 9. November 1981 zu reformieren; seitdem wird der Mord auch in Frankreich mit der lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft. 217 Sleiman, Le crime passionnel, S. 247. 218 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 47. 219 Chauveau-Hélie, Théorie du code pénal, Bd. 6, S. 50. 220 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 13. 221 Holtz, Les crimes passionnels, Paris, 1904, S. 9. 222 Einführend zum rechtlichen Rahmen der Schwurgerichte in Frankreich siehe Pfefferkorn, Einführung in das französische Strafverfahren, S. 33.
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Dieses Problem bestand schon im ersten französischen Strafgesetzbuch, dem Code pénal von 1791. Dieser sah als Ausdruck des Gleichheitssatzes für alle Delikte konkret festgelegte Strafen vor und reduzierte somit den Ermessensspielraum bei der Strafzumessung auf Null.224 Der Richter konnte damals keine mildernden Umstände feststellen.225 Ermöglicht wurde diese Tendenz zum einen durch die materiell-strafrechtliche Vorschrift in Art. 463 CPI, der es in das richterliche Ermessen stellte, im Fall von im Gesetz nicht näher benannten mildernden Umständen (Circonstances atténuantes) die Strafe unterhalb der gesetzlichen Mindeststrafe festzusetzen. Die möglichen Gründe für die Annahme mildernder Umstände waren vielfältig und reichten von einer positiven Vorgeschichte des Angeklagten über tätige Reue, nahezu pathologischer Persönlichkeit bis hin zu einer schlechten Erziehung.226 In der Urfassung betraf die Vorschrift jedoch allein Straftaten, die einen geringen Geldschaden von maximal 25 Francs verursacht hatten. Weil die Geschworenen zu harte Strafen für die Angeklagten befürchteten und deshalb seit der Einrichtung des Geschworenensystems viele Angeklagte freisprachen, sah sich der Gesetzgeber zum Eingreifen veranlasst. Er erweiterte mit dem Gesetz vom 25. Juni 1824 die Möglichkeit zur Feststellung strafmildernder Umstände erheblich und flexibilisierte so das Strafzumessungsrecht. Zuständig für die Feststellung waren jedoch allein die Berufsrichter, die Zuständigkeit der Geschworenen beschränkte sich auf die Entscheidung über die Schuldfrage. An der Befürchtung der Geschworenen, die Richter könnten zu schwere Strafen verhängen, änderte sich hierdurch allerdings nicht viel, so dass die Geschworenen entsprechend oft die Schuldfrage verneinten.227 Unter der Regentschaft von Louis-Philippe trat am 28. April 1832 eines der bedeutendsten Gesetze der Julimonarchie in Kraft. Mit dem Gesetz beabsichtigte der König ein milderes Strafrecht, da er die Strenge des napoleonischen Strafgesetzbuchs mit der gesellschaftlichen Entwicklung für unvereinbar hielt. Zudem war er der Überzeugung, dass die Geschworenen dem Gesetz stärker Folge leisten würden, wenn man ihnen die Möglichkeit zur Feststellung mildernder Umstände übertrüge.228 Neben der Abschaffung körperlicher Zuchtstrafen wie etwa der Verstümmelung reformierte es die Feststellung mildernder Umstände. Louis-Philippe übertrug mit dem Gesetz vom 28. April 1832 die Zuständigkeit für die Feststellung mildernder Umstände auf die Geschworenen. Über die konkret zu verhängende Strafe entschieden indes unverändert allein die Berufsrichter, deren Strenge die 223 Sieye, Traité sur l’adultère, S. 444 f.; Sleiman, Le crime passionnel, S. 15; Saleilles, L’Individualisation de la peine, S. 12 f. 224 Carbasse, Histoire du droit pénal et de la justice criminelle, Rn. 223. 225 Desprez, Du rôle du jury dans l’application de la peine, S. 136. 226 Sleiman, Le crime passionnel, S. 282. 227 Saleilles, L’individualisation de la peine, S. 13; Desprez, S. 80. 228 Desprez, Du rôle du jury dans l’application de la peine, S. 83.
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Geschworenen immer noch befürchteten. Die unverändert hohe Freispruchrate ließ die Wissenschaft zunehmend am Sinn des Geschworenensystems zweifeln. Es handele sich hierbei um eine Institution, die aus solchen Erwägungen heraus eingerichtet wurde, die einem funktionierenden Justizwesen beinahe zuwiderliefen.229 In der Folgezeit erweiterten daher weitere Gesetze, darunter das Gesetz vom 13. Mai 1863 sowie das Gesetz vom 28. Dezember 1928, die Möglichkeit einer Strafmilderung und legten die Einzelheiten fest. Aufgrund dessen war für Angeklagte ein Schwurgerichtsverfahren attraktiv, da eine entsprechende Möglichkeit für die Tribunaux correctionnels (einfache Strafgerichte) fehlte.230 Bei diesen Gerichten war eine Feststellung mildernder Umstände auf Berufsrichter beschränkt und selbst dann nur im Rahmen von Art. 463 CPI. Dementsprechend machten viele Anwälte vor den Tribunaux correctionnels deren Unzuständigkeit geltend und beriefen sich dabei auf Art. 310 CPI, der die Qualifikation der Tötung als Mord regelt. Obwohl Morde aus dem Anwendungsbereich von Art. 324 Abs. 2 CPI fielen, fühlten sich die Cours d’assises nicht daran gehindert, entsprechende oder sogar weitergehende Strafmilderungen anzuordnen.231 Zwar erlaubten die genannten Rechtsnormen den Geschworenen die Feststellung mildernder Umstände grundsätzlich bei jedem Delikt. Das Problem bestand jedoch bei „Crimes passionnels“ gerade darin, dass Art. 324 Abs. 1 CPI dem Grundsatz nach für die Tötung des Ehepartners jegliche Strafmilderung ausschloss. Nur im Rahmen der dort genannten Extremsituationen sowie im Rahmen von Art. 324 Abs. 2 war eine Ausnahme zulässig. Daher musste Art. 324 Abs. 2 CPI als lex specialis eine Sperrwirkung gegenüber den allgemeinen Strafmilderungsvorschriften wie etwa Art. 463 CPI entfalten. Stellten die Geschworenen demnach bei einem „Crime passionnel“ mildernde Umstände fest, obwohl die Voraussetzungen aus Art. 324 Abs. 2 CPI nicht erfüllt waren, verstießen sie eigentlich gegen geltendes Recht. Sie verletzten die unumstößliche Feststellung im ersten Absatz der Vorschrift, dass die Tötung des Ehepartners grundsätzlich nie milde bestraft werden kann. Freilich galt dies nicht für alle „Crimes passionnels“. Während Art. 324 CPI nur die Tötung des Ehepartners in der dort bestimmten Ausnahmesituation privilegierte, erfuhren andere „Crimes passionnels“ keine Einschränkung. Art. 324 Abs. 1 CPI bezog sich nicht auf Verlobte oder andere Paarbeziehungen. Erst recht bezog sich Art. 324 CPI nicht auf den Fall, dass der Täter sein Opfer tötete, weil dieses an einer Beziehung nicht interessiert war. Da die Geschworenen diesen rechtlichen Rahmen indes kaum berücksichtigten, war für die Angeklagten insofern ein Verfahren vor der Cour d’assises attraktiv, als die Möglichkeit der Feststellung strafmildernder Umstände in Art. 463 CPI erheblich erweitert wurde und damit in diesem Punkt kaum Unterschiede zwischen ein229 230 231
Desprez, Du rôle du jury dans l’application de la peine, S. 80. Roche, Du vitriolage au point de vue historique et médico-légal, S. 45. Vgl. die Untersuchung von Vanneau, L’amour aux assises.
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fachen Strafgerichten und Schwurgerichten herrschten. Im Übrigen war Berufsrichtern bewusst, dass eine Strafmilderung für ein „Crime passionnel“ jenseits der Voraussetzungen von Art. 324 Abs. 2 CPI gegen geltendes Recht verstieß. Warum die Geschworenen „Crimes passionnels“ so milde behandelten, lässt sich nur schwer auf einen Punkt bringen. Diese Frage ist Gegenstand verschiedener Erklärungsansätze gewesen, die einander jedoch nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen. Proal machte die Literatur und das Theater, unter Einschluss der Fachliteratur, für den damals allgemein verbreiteten Irrtum verantwortlich, ein Mann könne seine ehebrecherische Frau und ihren Liebhaber straflos töten, wenn er diese auf handhafter Tat ergriffen hätte.232 Auch Rabinowicz weist der Literatur die Veratwortung für die verbreitete milde Bestrafung des „Crime passionnel“ zu.233 Andere verweisen auf die quantitativ zunehmende subjektive Berichterstattung über „Crimes passionnels“ in den Zeitungen. Tatsächlich nahmen im Zeitraum ab 1870 in den „Faits divers“ die Berichte über „Crimes passionnels“ zu.234 Ob diese monokausalen Theorien, die an die aktuelle Diskussion über Jugendgewalt und gewaltverherrlichende Videospiele erinnern, für sich betrachtet das Phänomen laienrichterlicher Milde gegenüber den Tätern erklären, erscheint aber eher zweifelhaft. Denn sie übersehen, dass sowohl Dichtung als auch Fachliteratur nur dann die beabsichtigte Wirkung bei der Leserschaft erzielen, wenn sich der Rezipient mit dem Inhalt identifizieren kann. Wenn Menschen einen Text lesen, dessen Inhalt ihren Wertvorstellungen stark zuwiderläuft, werden sie eher abweisend reagieren. Darum konnten die kritisierten Zeitungsartikel, Romane und Dramen nur deshalb auf ihre Zielgruppe einwirken, weil diese zumindest ähnliche Vorstellungen von Konfliktbewältigung innerhalb von Beziehungen hatte. Zugleich ist fraglich, ob die Zunahme der Berichterstattung über „Crimes passionnels“ ab 1870 an einer wachsenden Sensationslust der Leserschaft lag oder nicht vielmehr an einer Zunahme von „Crimes passionnels“. Denn immerhin können auch hier die kollektiven Gewalterfahrungen unter anderem im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung auch innerhalb von Partnerschaften herabgesenkt und die Zunahme von Gewaltdelikten begünstigt haben. Die Nachsicht der Geschworenen bei der rechtlichen Beurteilung von „Crimes pasProal, Le crime et le suicide passionnels, S. 258. Rabinowicz, Crime passionnel. In diesem Sinne aber auch Sieye, Traité sur l’adultère, S. 444 f., der besonders das 1872 uraufgeführte Theaterstück „Tue-la! Scènes de la vie conjugale“ moralisch verurteilt. Der anonyme Autor verherrlicht hierin Gewalt unter Eheleuten. So schenkt eine Mutter ihrer Tochter einen Revolver und rät der Tochter zum Einsatz, falls ihr Mann eifersüchtig wird: „Verlass Dich nicht auf das Gesetz, es ist von Männern geschaffen; das Gesetz (ist) von Männern für Männer . . . und dementsprechend schlecht geschaffen. [ . . . ] Verlass Dich nicht auf Dich selbst . . . erkläre Dich selbst zum Richter und zum Henker dieser Kreatur ( . . . ).“ 234 Während 1880 im Petit Journal wöchentlich etwa zwei Artikel über Verbrechen aus Leidenschaft erschienen, stieg die Zahl derartiger Berichterstattung im Jahr 1910 auf etwa neun Artikel pro Woche an. Vgl. M’Sili, Le Fait divers en République. Histoire sociale de 1870 à nos jours, S. 178. 232 233
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sionnels“ allein auf die Literatur zurückzuführen, erscheint daher zu kurz gegriffen. Diese Haltung ist vielmehr in einem größeren sozialen Kontext zu sehen, in dem „Crimes passionnels“ auch ohne die kritisierte Literatur als kaum strafwürdige Delikte aufgefasst werden. Umgekehrt ist die Kritik an Dichtern und Journalisten insoweit berechtigt, als diese ebenso gut ihrer sozialen Verantwortung hätten gerecht werden können, indem sie diese Form der Kriminalität deutlich verurteilten. Ob dies allein aber angesichts der offenbar festen sozialen Vorstellung von der geringen Strafwürdigkeit eines „Crime passionnel“ auf fruchtbaren Boden gestoßen wäre, mag indes bezweifelt werden. Dass ungeachtet der schwurgerichtlichen Milde nie das Schwurgerichtssystem an sich abgeschafft wurde, ist mit dem historischen Hintergründen des Geschworenensystems zu erklären. Das Misstrauen der Akteure der Französischen Revolution gegenüber Berufsrichtern sowie der Wunsch nach einer demokratischen und freien Rechtsprechung sind die Ursprünge einer Entwicklung, die bis heute andauert: Die Geschworenen sind primär ihrer eigenen Überzeugung verpflichtet, erst danach dem Recht. Bei der Bildung dieser Überzeugung genießen sie eine umfassende Freiheit. Doch letztlich perpetuierten die Schöpfer des französischen Geschworenensystems damit die richterliche Willkür, die eigentlich mit ihnen bekämpft werden sollte. (1) Historische Entwicklung des Geschworenensystems Noch vor der Einführung der Cours d’assises, Schwurgerichte, im Jahr 1811 wurde die Institution der Jury (Geschworene) durch das Gesetz vom 24. September 1791 geschaffen.235 Der Gesetzgeber reagierte mit diesem Schritt auf die entsprechenden Forderungen aus vorrevolutionärer Zeit, die auch der Baron de Montesquieu teilte.236 Geschworene entschieden erst- und letztinstanzlich über schwere Delikte, also auch in Mordsachen. Die ihnen hierfür gewährte umfassende Freiheit bei der Überzeugungsbildung stellte den umstrittensten Punkt bei der Diskussion um ihre Einführung in den französischen Strafprozess dar.237 Doch sie waren nicht nur im Gesetzgebungsverfahren umstritten. Auch kurz nach ihrer Einführung zeigten sich Gerichte im Rahmen einer offiziellen Befragung mehrheitlich unzufrieden mit dem Geschworenensystem, da dieses eine milde Bestrafung selbst schwerer Straftaten begünstige.238 235 Damals gab es noch zwei Arten von Geschworenen: die im Jahr 1808 abgeschaffte „jury d’accusation“ (Anklagegeschworene) sowie die „jury de jugement“ (Urteilsgeschworene). Letztere entschieden über die Schuldfrage sowie über das Vorliegen von erschwerenden Umständen oder von Entschuldigungsgründen. 236 „La puissance de juger ne doit pas être donné à un sénat permanent, mais exercée par des personnes tirées du corps du peuple, dans certains temps de l’année, de la manière precrite par la loi, pour former un tribunal qui ne dure qu’autant que la nécessité le requiert.“, Charles Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit des loix, 11. Buch, Kapitel 6. 237 Vgl. Padoa Schioppa, Robespierre et le Jury, 19 ff.
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Nach seiner Krönung als Kaiser am 18. Mai 1804 ließ Napoléon Bonaparte deshalb vom Conseil d’Etat ein Gutachten über die Zukunft des Strafrechts erstellen.239 Von den fundamentalen vierzehn Fragen, auf deren Beantwortung Napoléon bei dem Gutachten Wert legte, betrafen allein neun die Geschworenen, insbesondere deren Beibehaltung, die Zusammensetzung sowie den Verfahrensablauf.240 Trotz aller Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern des Conseil d’Etat sah man in der Jury die eigentliche Bedingung für das Gelingen der Revolution, garantierte sie doch eine demokratische Justiz, ohne die Gefahr von Freiheitsbeschränkungen durch die Berufsrichter des Ancien Régime.241 Duport, ein damaliger Conseiller d’Etat, fasste diesen Gedanken in drastische Worte: „Sans jurés [ . . . ] il n’y a pas de liberté dans un pays, des ministres bas et corrupteurs, comme il est bien à craindre qu’ils ne le soient toujours, excluront ceux qui leur déplaieront; sans jurés, il n’y a plus de mœurs dans une monarchie.“242
238 „L’immense majorité préférait la suppression immédiate du jury à la continuation d’une expérience qu’elle jugeait décisive. Sur 22 cours d’appel, 13 se déclarent franchement contraires: les autres n’acceptaient le maintien du jury qu’avec des changements considérables ou se contentaient d’adhérer purement et simplement au projet de la commission. Sur 75 tribunaux criminels, dont les avis ont été publiés, 35 concluaient à la suppression, 20 au maintien et le reste hésitait. [ . . . ] Le triste résultat de l’impunité des plus grands crimes offensant la morale publique, effrayant la société, a presque conduit à douter si l’institution du jury, si belle en théorie, n’a pas été jusqu’aujourd’hui plus nuisible qu’utile dans ses effets.“, Sabatier, Rev. pénit. 1910, 905 (912). 239 Der Conseil d’Etat, Frankreichs höchstes Verwaltungsgericht, besitzt gegenüber der Regierung zugleich eine konsultative Funktion, etwa bei strittigen Gesetzesvorhaben. Dies ist nicht zuletzt mit Blick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz problematisch, weil seit je Regierungschefs – zumindest offiziell – als Präsident des Conseil d’Etat an der Entscheidungsfindung unmittelbar beteiligt sind. 240 „I. L’institution du jury, sera-t-elle conservée? II. Y aura-t-il un jury d’accusation et un jury de jugement? III. Comment seront nommés les jurés? dans quelle classe seront-ils nommés? qui les nommera? IV. Comment s’exercera la récusation? V. L’instruction sera-t-elle orale, ou écrite, ou partie orale et partie écrite? VI. Présentera-t-on plusieurs questions au jury de jugement? N’en présentera-t-on qu’une: N . . . est-il coupable? VII. La déclaration du jury sera-t-elle rendue à l’unanimité ou à un certain nombre de voix? VIII. Y aura-t-il des magistrats qui pourront tenir des assises dans un ou plusieurs tribunaux criminels de département? IX. La peine de mort sera-t-elle conservée? X. Y aura-t-il des peines perpétuelles? XI. La confiscation aura-t-elle lieu en certains cas? XII. Les juges auront-ils une certaine latitude dans l’application des peines? Y aura-t-il un maximum et un Minimum qui leur laisseront la faculté de prononcer la peine pour plus ou moins de temps, suivant les circonstances? XIII. Pourra-t-on placer sous la surveillance certains coindamnés qui auront subi leur peine, et pourra-t-on exiger dans certains cas des cautions de leur conduite future? XIV. Y aura-t-il un mode de réhabilitation pour les condamnés dont la conduite aura mérité cette faveur?“ in: Locré, Bd. 24, S. 11 f. 241 Sabatier, Rév. pénit. 1910, 905 (914). 242 „Ohne Geschworene [ . . . ] gibt es in keinem Land Freiheit, niederträchtige und korrupte Richter, die es wohl immer noch sein dürften, werden diejenigen einsperren, die ihnen nicht gefallen; ohne Geschworene gibt es keine Sitten in einer Monarchie.“, zitiert ebenda.
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Napoléon Bonaparte zeigte sich dagegen eher skeptisch. Er hielt die Bevölkerung für unfähig zur Mitwirkung an der Justiz und befürchtete, dass durch die Jury die öffentliche Sicherheit nicht ausreichend gewährleistet werde.243 Daher bestand er darauf, dass man ihm anhand der Erfahrung der vergangenen Jahre das Gegenteil belegte.244 Am Ende votierte Napoléon für die Jury, allerdings erst nach Änderungen des Geschworenensystems zur Milderung seiner Schwächen.245 Unter dem Druck seiner Zeit und verfassungsrechtlichen Zwängen246 musste er trotz aller Bedenken das Geschworenensystem beibehalten. Freilich bewirkte die jedem Geschworenensystem innewohnende umfassende Freiheit der Geschworenen bei ihrer Überzeugungsbildung nach wie vor fast eine Freistellung von der Gesetzesbindung. (2) Umfassende Freiheit der Geschworenen bei der Überzeugungsbildung Art. 342 des Code d’instruction criminelle von 1808 sowie ab 1959 Art. 353 des Code de procédure pénale gewährten den Geschworenen seit je eine umfassende Freiheit bei der Bildung ihrer Überzeugung, wie aus der jeweils dort niedergelegten Eidesformel hervorgeht: „La loi ne demande pas compte aux juges des moyens par lesquels ils se sont convaincus; elle ne leur prescrit pas des règles desquelles ils doivent faire particulièrement dépendre la plénitude et la suffisance d’une preuve; elle leur prescrit de s’interroger eux-mêmes dans le silence et le recueillement et de chercher, dans la sincérité de leur conscience, quelle impression ont fait, sur leur raison, les preuves rapportées contre l’accusé et les moyens de défense. La loi ne leur fait que cette seule question, qui renferme toute la mesure de leur devoir: avez-vous une intime conviction?“247
Schon Art. 24 in Titel VI der Verordnung vom 16.-29. September 1791 sah einen ähnlichen Eid vor: 243 Locré, Bd. 24, S. 611 und 621; vgl. auch Levasseur, Napoléon et l’élaboration des codes répressifs, 371 ff. 244 Sabatier, Rév. pénit. 1910, 905 (915 f.). 245 Sabatier, Rév. pénit. 1910, 905 (917 f.). 246 Die Jury war abgesichert durch Art. 62 der Verfassung vom 22. Frimaire des Jahres VIII: „En matière de délits emportant peine afflictive ou infamante, un premier jury admet ou rejette l’accusation: si elle est admise, un second jury reconnaît le fait; et les juges, formant un tribunal criminel, appliquent la peine. Leur jugement est sans appel.“ 247 „Das Gesetz verlangt von den Richtern keine Rechenschaft über die Gründe, die zu ihrer Entscheidung geführt haben; es schreibt ihnen keine Regeln vor, von denen sie den Umfang und die Vollständigkeit eines Beweismittels abhängig machen müssen; es verlangt von ihnen, sich in Ruhe und Zurückgezogenheit aufrichtig zu fragen, welchen Eindruck die gegen den Angeklagten vorgebrachten Beweismittel und die Argumentation der Verteidigung auf sie gehabt haben. Das Gesetz stellt ihnen nur diese eine Frage, die das ganze Ausmaß ihrer Pflicht umreißt: Sind sie fest überzeugt?“
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„Citoyens, vous jurez et promettez d’examiner avec l’attention la plus scrupuleuse les charges portées contre . . . de n’écouter ni la haine ni la méchanceté, ni la crainte ou l’affection, de vous décider d’après les charges et moyens de défense et suivant votre intime conviction avec l’impartialité et la fermeté qui conviennent à un homme libre.“248
Stets appelliert der Gesetzgeber an die „Intime Conviction“ (innere Überzeugung), die in beiden Eidesformeln als Hauptmaßstab für die Beurteilung der Schuldfrage dargestellt wird. Die Geschworenen sollen ihren persönlichen Eindruck von der Schuld des Angeklagten zum Maßstab nehmen und die Entscheidung nicht primär von rechtlichen Erwägungen abhängig machen. Dies bedeutet vor allem eine nahezu unüberprüfbare subjektive Beurteilung der Schuldfrage. Besonders ausgeprägt findet sich diese weitgehende Freiheit der Geschworenen in der alten Eidesformel, derzufolge der Geschworene seine Überzeugung neutral auf der Grundlage der Anklage und der Verteidigung bilden möge; worauf genau er diese Überzeugung stützen soll, ob etwa bei der Meinungsbildung Beweise eine Rolle spielen sollen, scheint unwichtig. In der Literatur wurde die umfassende Freiheit der Geschworenen als Anzeichen dafür gesehen, dass der Gesetzgeber sie über das Gesetz stellen wollte. Mit der eingeräumten Freiheit wurde hingenommen, dass die Geschworenen die Feststellung einer Straftat contra legem verneinten. Mit der Einführung der Geschworenen in den französischen Strafprozess bezweckte der Gesetzgeber die Bekämpfung der befürchteten Willkür von Berufsrichtern. Letztlich öffnete er aber damit der schwurgerichtlichen Willkür Tür und Tor.249 Dies wird auch durch ein weiteres, noch heute gültiges Privileg französischer Schwurgerichte deutlich: Cours d’assises sind von der für andere Gerichte bestehenden Urteilsbegründungspflicht entbunden.250 Anstelle einer Urteilsbegründung muss die Entscheidung einer Cours d’assises die Erklärung des Gerichts und der Geschworenen enthalten, also alle Antworten auf die den Geschworenen gestellten Fragen.251 Eine weitergehende Urteilsbegründungspflicht wäre hier auch systemwidrig, weil die Geschworenen – eine für sie durchaus recht kompromittierende Situation – die Gründe für ihre feste Überzeugung und den sie dorthin führenden Weg offen legen müssten.252 Dies hat aber freilich zur Folge, dass die Entscheidungen der Cours d’assises schlecht bis gar nicht rechtlich überprüft werden können. Die Gefahr eines quasi kontroll- und damit rechtsfreien Raumes liegt auf der Hand, 248 „Bürger, Sie schwören und geloben, mit höchster Aufmerksamkeit die gegen . . . erhobenen Vorwürfe zu untersuchen, nicht auf Hass oder Bosheit, Sorge oder Zuneigung zu hören, sich entsprechend der Anklage und den Argumenten der Verteidigung zu entscheiden und Ihrer festen Überzeugung mit der Unparteilichkeit und Bestimmtheit eines freien Menschen.“ 249 Desprez, Du rôle du jury dans l’application de la peine, S. 82. 250 Sleiman, Le crime passionnel, S. 263. 251 Cass. 16. Februar 1897, Bull. 66. 252 Eingehend zur Systemwidrigkeit Ranouil, l’Intime conviction, 84 (90 f.).
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da die Überprüfbarkeit schwurgerichtlicher Entscheidungen im Großen und Ganzen auf Verfahrensfehler begrenzt ist. Eine schwurgerichtliche Entscheidung kann beispielsweise gerügt werden, wenn die den Geschworenen gestellten Fragen schlecht formuliert waren. Die Cour de cassation hat deswegen eine schwurgerichtliche Entscheidung kassiert, weil nicht alle in Art. 324 Abs. 2 CPI enthalteten Tatbestandsmerkmale in der Frage auftauchten.253 Auch wenn eine Frau wegen Mordes angeklagt war, musste eine Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen einer Strafmilderung nach Art. 324 Abs. 2 CPI gestellt werden, ohne dass diese auf die Tat anwendbar gewesen wären.254 Dieses Problem wurde nicht allein in Frankreich erkannt, sondern auch hiezulande unter anderem von Feuerbach kritisch gewürdigt, da im hiesigen Rahmen des bürgerlichen Emanzipationsprozesses das Geschworenensystem im 19. Jahrhundert zunehmend auch in deutschen Staaten eingeführt wurde. Ungeachtet aller Skepsis in den Rechtswissenschaften255 setzten politische Liberalisten das Geschworenengericht als „Palladium der Freiheit“256 durch, um dem als für die bürgerlichen Freiheiten bedrohlich empfundenen Inquisitionsprozess ein Ende zu bereiten.257 Auch Feuerbach erkannte die Mängel des französischen Geschworenensystems, das dem Angeklagten gegen Richterwillkür und Kabinettsjustiz keinen besseren Schutz böte als das von ihm ebenso kritisierte alte Inquisitionsverfahren.258 Insbesondere übte Feuerbach Kritik an der französischen Beweistheorie von der inneren Überzeugung, in der er eine erhebliche Gefahr für Wahrheit und Gerechtigkeit erblickte. Diese Beweistheorie würde ihmzufolge „nicht sowohl bestimmen, wo die Überzeugung zu suchen, als vielmehr wo sie nicht zu suchen ist; wird nicht an nackte allgemeine Regeln der Überzeugung binden und jene unbedingt von Gesetzeswegen gebieten, sondern innerhalb der sehr weiten Grenzen, welche das Gebiet der Wahrheit umschließen, dem eigenen Urteile des Richters seinen gemessenen Spielraum lassen. Sie wird daher den Richter nicht in einen blinden Automaten verwandeln, aber sie wird verhindern, dass er nicht auf Phantasieflügeln über das Reich der Wahrheit hinausflattere und ein Wolkenbild mit innigster Überzeugung statt der Wahrheit umarme.“259 Dass diese Beweistheorie teilweise dazu führt, den Angeklagten contra legem freizusprechen oder milde zu verurteilen, erfährt die Billigung Feuerbachs nicht; gleichwohl zeigt Feuerbach auch die Vorzüge des Geschworenensystems, indem er auf auf die hiervon ausgehende Rechtsentwicklung hinweist: „In einem Staate, wo die Gesetzgebung zu weit hinter ihrem Zeitalter Cass. 25. Januar 1872, Dalloz 1872, 1, 48. Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 33. 255 Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte, S. 157. 256 Blasius, FS-Rosenberg, 148 (159); Gehle, Liber Amicorum Frost, 257; Schwinge, der Kampf um die Schwurgerichte, S. 153. 257 Eingehend zu der hiesigen Schwurgerichtsdebatte Linkenheil, Laienbeteiligung an der Strafjustiz. 258 Linkenheil, Laienbeteiligung an der Strafjustiz, S. 53. 259 Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 132. 253 254
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zurückgeblieben ist, wo noch grausamer Unverstand das Strafbare mit dem Unsträflichen, das Verbrechen mit dem Vergehen auf dieselbe Linie stellt, da wird jene Erscheinung nicht nur am öftesten wiederkehren, sondern auch sogar, wenn nicht auf Billigung, doch auf Entschuldigung Anspruch machen. [ . . . ] In der Wahl zwischen Wahrheit und Grausamkeit bleibt den Geschworenen nichts übrig, als ihr Rechtsurteil fälschlich in die Form des Taturteils einzukleiden und den Angeklagten gegen die klärsten Beweise völlig loszusprechen.“260 Das auch von ihm negativ beurteilte französische Geschworenenverfahren veranlasste Feuerbach indessen nicht zu einer völligen Ablehnung des Geschworenenverfahrens an sich. Im Gegenteil, aus politischer Sicht waren sie für ihn in einem demokratischen und konstituionellen Staat „als Sicherungsmittel der allgemeinen politischen Freiheit des Volkes im Ganzen und der persönlichen Freiheit des Einzelnen“ sogar notwendig.261 Die Mitwirkung juristischer Laien am Strafprozess verleiht diesem einen demokratischen Charakter, der die Freiheit der Geschworenen auch heute rechtfertigen mag. Die Anzahl der Geschworenen und ihre unterschiedliche soziale Herkunft ergeben gemeinsam, dass sich hinter jedem schwurgerichtlichen Urteil letztlich eine Art Referendum en miniature verbirgt. Die Geschworenen personifizieren das Volk und beantworten die ihnen gestellten Fragen gleichsam als Stellvertreter der öffentlichen Meinung. Diese unmittelbare demokratische Legitimation des schwurgerichtlichen Urteils macht die Einschränkungen bei der rechtlichen Nachprüfbarkeit nachvollziehbar. Zudem mag die Gefahr richterlicher Willkür bei einem Richter als Einzelentscheider um ein Vielfaches höher sein als bei einem pluralistisch zusammengesetzten Gremium wie den Geschworenen. Nichtsdestotrotz erkannte der französische Gesetzgeber den dringenden Bedarf einer Reform des Geschworenensystems, ohne die seine unter anderem in Art. 324 CPI normierten Wertungen unterlaufen zu werden drohten. (3) Legislative Maßnahmen zur Lösung des Problems Wenn Geschworene und Berufsrichter an der Entscheidung über Strafbarkeit und Strafmaß beteiligt sind, stellt sich die Frage nach der Kompetenzverteilung. Der Code d’instruction criminelle von 1808 trennte ursprünglich strikt die Zuständigkeit beider Gremien. Während die Geschworenen ausschließlich die Frage nach der Verwirklichung des Straftatbestandes durch den Angeklagten zu beantworten hatten, verhängten bejahendenfalls Berufsrichter die ihnen als angemessen erscheinende Sanktion. Weil juristische Laien gerade auf „Crimes passionnels“ emotional reagieren und ihrer Fantasie freien Lauf lassen, ist ihre Entscheidung nicht selten das Ergebnis Feuerbach, Geschwornen-Gericht, S. 156. Feuerbach, Erklärung des Präsidenten Feuerbach über seine angeblich geänderte Überzeugung in Ansehung der Geschwornen-Gerichte, 1819, Erlangen, S. 17. 260 261
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fehlender Objektivität.262 Besteht diese Gefahr schon bei Berufsrichtern, so ist sie bei Laienrichtern doch umso größer. Hinzu kommt die fehlende Fähigkeit der Geschworenen zur Beurteilung rechtlicher Fragen. Zwar ist es möglich, den Geschworenen nur Tatsachenfragen zu stellen und die rechtliche Einordnung dieser Tatsachen den am Verfahren beteiligten Berufsrichtern zu überlassen. Nur der Richter würde dann entscheiden, welcher Straftat sich der Angeklagte schuldig gemacht hat und welche Strafe zu verhängen ist. Dem Einwand mangelnder Rechtskenntnis der Geschworenen konnte mit dieser über lange Zeit praktizierten Zuständigkeitstrennung aber nur vermeintlich begegnet werden. Denn Tatsachenfragen lassen sich nur theoretisch von Rechtsfragen trennen. Tatsächlich interpretierten die Geschworenen nämlich nicht selten die Tatsachen dergestalt, dass dem Richter kein Entscheidungsspielraum mehr blieb. Aus Sorge einer zu strengen Bestrafung einiger Täter durch den Richter, auf dessen Entscheidung über das Strafmaß sie ja keinen Einfluss hatten, zogen es die Geschworenen vor, den Angeklagten freizusprechen, wenn sie Mitgefühl mit ihm hatten.263 Dies galt umso mehr, als die Voraussetzungen in Art. 324 Abs. 2 CPI recht eng waren und nur bei einem Bruchteil der „Crimes passionnels“ erfüllt gewesen sein dürften. Die Neigung der Geschworenen zum Freispruch des Angeklagten lässt sich auch statistisch belegen. Im Zeitraum von 1901 bis 1920 wurden durchschnittlich etwa 35% der Angeklagten freigesprochen.264 Daher schlug Garçon vor, den Anwendungsbereich der Vorschrift zu erweitern, um so möglichst viele „Crimes passionnels“ zu erfassen, so dass Freisprüche oder zu milde Strafen weniger zu befürchten stünden.265 Er stieß mit seinem Vorschlag beim Gesetzgeber allerdings auf taube Ohren. Dieser sah den Grund für die weitgehende Nachsicht der Geschworenen darin, dass diese sich allein zur Schuldfrage äußern konnten aber im Falle eines Schuldspruchs keinen Einfluss auf das Strafmaß hatten. Daher führte er mit dem Gesetz vom 5. März 1932 ein System der eingeschränkten Zusammenarbeit zwischen Geschworenen und Berufsrichtern ein, wonach die Geschworenen das Verhalten des Angeklagten in tatsächlicher wie Sleiman, Le crime passionnel, S. 15. Bouzat / Pinatel, Traité de droit pénal et de criminologie, Bd. II, Rn. 1138. Diese recht willkürliche Rechtsprechung musste aber nicht immer zugunsten des Angeklagten ausgehen. Es wird auch berichtet, dass die Zusammensetzung der Geschworenen, die oft Immobilieneigentümer waren, kausal für die Strenge der Schwurgerichtsentscheidungen über Straftaten gegen Vermögenswerte war. Deswegen beschrieb Tarde die Geschworenen als „galant et propriétaire“, in: Tarde, La criminalité comparée, S. 106. 264 Merle / Vitu, Traité de droit criminel, Bd. 2, Rn. 1321. 265 Garçon, Code pénal annoté, Bd. 2, Art. 324 § 14: „[ . . . ] il est clair que si la colère peut être excusée, c’est bien celle où un époux, quelles que soient les circonstances, venge son honneur conjugal. Si le texte était moins restrictif et s’accordait mieux avec la conscience publique, les acquittements auraient été moins fréquents. Nous pensons même que ce cas pourrait être un de ceux où les juges devraient être autorisés à prononcer une peine d’une nature différente de celle qui est infligée d’ordinaire aux meurtriers et spécialement aux assassins par cupidité.“ 262 263
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rechtlicher Hinsicht bewerteten und sich die Entscheidungsbefugnis hinsichtlich des Strafmaßes mit den Berufsrichtern teilten. Da aber auch nach dieser Reform immerhin noch etwa 25% der Angeklagten freigesprochen wurden,266 entschied sich der Gesetzgeber für weitere Reformen. Er führte am 25. November 1941 die gemeinsame Beteiligung beider Gremien in beiden Stadien des Verfahrens ein. Diese Kompetenzverteilung bestätigte er auch durch die große Strafprozessreform im Jahr 1958. Nach Art. 356 des Code de procédure pénale entscheiden Berufs- und Laienrichter gemeinsam über den Sachverhalt und dessen rechtliche Bewertung; das Gleiche gilt nach Art. 362 desselben Gesetzes für die Verhängung der Strafe. Diese legislative Entscheidung wirkte sich merklich positiv auf die Freispruchrate aus, die bald rapide abnahm: 8% im Jahr 1942, 9% im Jahr 1945, 13% im Jahr 1948 und 9% im Jahr 1951.267 Neben diesem strafprozessrechtlichen Hintergrund ist auf den familienrechtlichen Rahmen hinzuweisen, der die Begehung von „Crimes passionnels“ sowie die schwurgerichtliche Milde ihnen gegenüber angeregt hat.
bb) Scheidungsrechtlicher Hintergrund Das französische Familienrecht kannte im 19. Jahrhundert über lange Zeit die Scheidung nicht und ließ sie nachher nur in besonderen Ausnahmen zu. Vor allem in der Zeit, in der sich ein Mensch nicht von einem ihm untreuen Ehegatten scheiden lassen konnte, muss die Tötung desselben für viele wohl nachvollziehbar erschienen sein. Zwar kannte das französische Recht zu jener Zeit die Trennung von Tisch und Bett als Ausweg für diese Situation. Da die Trennung von Tisch und Bett jedoch nichts am Fortbestand der Ehe änderte, waren die Eheleute aneinander gebunden, ohne eine neue Ehe eingehen zu können. Dieser Umstand veranlasste Alexandre Dumas, den Jüngeren, zu der Bemerkung: „Pauvre loi, qui est réduite, n’osant pas libérer les époux par le divorce, à leur permettre implicitement de se délibérer par assassinat.“268 Die mit dem Gesetz vom 20. September 1792 in Frankreich erstmals eingeführte Möglichkeit zur Scheidung wurde durch die „Loi Bonald“ vom 8. Mai 1816 zum Schutz der Ehe wieder abgeschafft. Fast siebzig Jahre später wurde nach dreijähriger Gesetzesberatung mit der „Loi Naquet“ vom 27. Juli 1884 wieder die Scheidung eingeführt.269 Einem Bericht des französischen Justizministeriums aus dem Merle / Vitu, Traité de droit criminel, Bd. 2, Rn. 1321. Merle / Vitu, Traité de droit criminel, Bd. 2, Rn. 1321. 268 „Ein armseliges Gesetz, das nicht wagt, Eheleute durch die Scheidung voneinander zu trennen, ihnen aber implizit gestattet, sich durch Mord zu befreien.“, Alexandre Dumas der Jüngere, zitiert nach Proal, Le crime et le suicide passionnels, S. 259. 266 267
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Jahr 1895 zufolge stieg die Scheidungsrate seitdem kontinuierlich und verdreifachte sich in etwa acht Jahren auf 8673 Scheidungen, wobei etwa zwei Drittel der Antragsteller Frauen waren.270 Im Jahr 1938 wurden schließlich sogar 23.377 Scheidungsurteile verkündet. Dies ist erstaunlich, weil die Ehe nach der Loi Naquet nur ausnahmsweise geschieden werden sollte, wenn nämlich den Eheleuten ein weiteres Zusammenleben nicht mehr zugemutet werden konnte. Die Loi Naquet enthielt eine enumerative und damit abschließende Aufzählung von Scheidungsgründen: Ehebruch, Verurteilung zu einer Leibes- und Ehrenstrafe sowie schließlich eine üble Behandlung des Ehepartners. Von diesen drei Gründen war in der Praxis der letztgenannte am relevantesten (64,5% der Scheidungen),271 gefolgt vom Ehebruch (35 % der Scheidungen). Der zweite Grund war in der Praxis daher recht unbedeutend. Das Vichy-Regime trat dem seiner Auffassung nach zu liberalen Scheidungsrecht mit dem Gesetz vom 2. April 1941 klar entgegen. Das Gesetz sah sowohl zivilrechtliche als auch strafrechtliche Maßnahmen zur Begrenzung der Scheidungszahlen und zur Stärkung der Familie vor. In zivilrechtlicher Hinsicht führte es eine siebenjährige Trennungszeit ein, nach der das eigentliche Scheidungsverfahren erst eingeleitet werden konnte. Mit der damit verbundenen Prozessdauer und der Ungewissheit des Erfolgs des Scheidungsantrags dürfte diese Maßnahme auf scheidungsgeneigte Personen abschreckend gewirkt haben, zumal das Gesetz Scheidungen bei einer Ehedauer von unter drei Jahren untersagte. Zudem ließ es eine Scheidung wegen übler Behandlung des Ehepartners als absolute Ausnahme nur dann zu, wenn diese Ehepflichtverletzung besonders schwer wog oder wiederholt begangen wurde und das Fortführen der Ehe unerträglich gewesen wäre.272 Die strafrechtlichen Maßnahmen zur Stärkung der Familie bestanden zunächst in der Einführung neuer Straftatbestände. 273 Das Vichy-Regime stellte das Verlassen des Ehepartners sowie das Anregen der Scheidung eines anderen unter Strafe. Neben die oben dargestellten Ehebruchsdelikte trat ein neues Ehebruchsdelikt eigener Art, welches Liebesbeziehungen von Ehefrauen inkriminierte, deren Männer kriegsbedingt abwesend waren. Wegen der Abwesenheit der Ehemänner – beispielsweise aufgrund von Kriegsgefangenschaft – bedurfte eine Strafverfolgung hier keines Antrags des Ehemannes, so dass die Staatsanwaltschaft von Amts wegen einschreiten konnte. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass das Antragserfor269 Zu der historischen Entwicklung des Scheidungsrechts im Frankreich des 19. Jahrhunderts vgl. Ronsin, Les Divorciaires. Affrontements politiques et conceptions du mariage dans la France du XIXe siècle. 270 Proal, Le crime et le suicide passionnels, S. 262 Fn. 1. 271 Die hohe Praxisrelevanz dieses Scheidungsgrundes liegt sicher an der seiner Vagheit und der damit einhergehenden Flexibilität. 272 Bericht Nr. 1681 des Abgeordneten der Assemblée nationale Donnez, JO Assemblée 1975 Nr. 1681, S. 3. 273 Bordeaux, Sept ans de réflexion – Divorce et ordre social (1940 – 1945), 229 (232, 236 ff.).
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dernis für den einfachen Ehebruch der Frau nach Art. 336 CPI unter dem VichyRegime an Bedeutung verlor. Gerichte verurteilten Ehefrauen auch ohne den an sich erforderlichen Antrag. Die Urteilsgründe in einer veröffentlichten Entscheidung des Tribunal correctionnel von Paimbœuf sind exemplarisch: „[ . . . ]le nommé D. n’a pas hésité à détourner une épouse et une mère de famille de ses devoirs naturels. [ . . . ] Ils méritent tous deux une sanction sévère. [ . . . ] Ce serait une pernicieuse erreur de considérer l’adultère comme étant uniquement ou même principalement un délit d’ordre privé; qu’au contraire en détruisant les foyers, il ébranle les fondements mêmes de la société; que les efforts entrepris pour diminuer le nombre des divorces, assurer la protection de l’enfance ou réprimer l’avortement et l’infanticide ne produiront leurs effets que dans la mesure où l’on attaquera le mal à la racine: l’indiscipline des mœurs; que la rénovation de la famille ne saurait se concilier avec une indulgence excessive pour un délit dont les répercussions sociales sont particulièrement graves [ . . . ] condamne chacun à un mois d’emprisonnement et mille francs d’amende au complice.“274
Die familiäre Ordnung wurde zur Staatsangelegenheit, die nicht mehr allein dem Mann anvertraut werden konnte. Die Staatsanwaltschaft musste infolgedessen zuweilen das Familienoberhaupt ersetzen.275 Diese legislativen Maßnahmen wurde flankiert von propagandistischen Äußerungen des damaligen Justizministers Joseph Barthélemy unter anderem in einer Radiosendung aus dem Jahr 1941: „De 1882 à 1884, le divorce fut rétabli grâce à une campagne acharnée de Naquet. Ce Juif de la vallée du Rhône voulait sa revanche contre les catholiques.“276 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die nach wie vor wirksame Loi Naquet trotz ihres restriktiven Charakters von der Rechtsprechung umgangen und verfälscht, weil das damalige Scheidungsrecht im Widerspruch zu den sozialen Anschauungen der Allgemeinheit stand. Gleichzeitig wurden die strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften oft missbraucht. Viele Ehemänner zeigten ihre untreue Frau wegen Ehebruchs an, um sich ein Beweismittel für den Scheidungsantrag zu verschaffen. Nach der Verkündung des Strafurteils ließen sie ihren Frauen die Ehebruchsstrafe 274 „Der Angeklagte D. zögerte nicht, eine Ehefrau und Mutter von ihren natürlichen Pflichten abzulenken. [ . . . ] Beide verdienen eine schwere Strafe. [ . . . ] Es wäre ein schädlicher Fehler, im Ehebruch bloß oder überwiegend ein Privatdelikt zu sehen; im Gegenteil, indem es Familien zerstört, erschüttert es das Fundament unserer Gesellschaft; die unternommenen Anstrengungen zur Reduzierung der Scheidungszahlen, zur Absicherung des Kinderschutzes oder zur Bekämpfung von Abtreibung und Kindstötung entfalten nur insoweit ihre Wirkung, als man das Übel bei der Wurzel packt: den Sittenverfall; die Erneuerung der Familie verträgt sich nicht mit einer maßlosen Nachsicht bei einem Delikt, das in besonderem Maße sozialschädlich ist [ . . . Das Gericht] verurteilt beide zu einmonatiger Freiheitsstrafe und den complice zu einer Geldstrafe von tausend Francs.“ T. corr. Pambœuf, 11 mai 1942, Gaz. pal. 1942, p. 263. 275 Bordeaux, Sept ans de réflexion – Divorce et ordre social (1940 – 1945), 229 (237). 276 „Zwischen 1882 und 1884 wurde die Scheidung dank einer eifrigen Kampagne von Naquet wieder eingeführt. Dieser Jude aus dem Rhonetal wollte sich an den Katholiken Rache nehmen.“
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nach, weil es ihnen allein auf den Nachweis des Ehebruchs ankam. Für die strafrechtliche Bekämpfung von Ehebrüchen verloren die Artt. 336 ff. CPI indessen an Bedeutung. Während im Jahr 1950 4.600 Personen wegen Ehebruchs verurteilt wurden, waren es gerade einmal 554 im Jahr 1970. Dieser Umstand stieß nicht nur in der Literatur auf vehemente Kritik: „[ . . . ] les juges d’instruction se plaignaient du rôle qu’ils étaient amenés à jouer dans cette parodie de procédure pénale. Le législateur en a tiré les conséquences!“277 Mit dem Gesetz vom 11. Juli 1975 verabschiedete der französische Gesetzgeber die letzte große Scheidungsrechtsreform. Sie trat am 1. Januar 1976 in Kraft und steht damit in einem gesamteuropäischen Kontext, in dem zahlreiche andere Staaten Europas ihr Scheidungsrecht den modernen Anschauungen anpassten. Ab 1969 bis in die Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts reformierten unter anderem das Vereinigte Königreich, Italien, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland ihr Scheidungsrecht. Allen ist gemeinsam, dass sie sich von einem Scheidungsrecht mit Verschuldensprinzip getrennt und sich zugunsten des Zerrüttungsprinzips entschieden haben. Anders als die übrigen Staaten führte Frankreich zwar das Zerrüttungsprinzip ein, behielt jedoch zugleich das Verschuldensprinzip bei.278 Der hier einschlägige Art. 242 C. civ. listet jedoch anders als noch unter der loi Naquet die Scheidungsgründe bei Verschulden des Ehepartners nicht auf, sondern ist generalklauselartig formuliert: „Le divorce peut être demandé par un époux pour des faits imputables à l’autre lorsque ces faits constituent une violation grave ou renouvelée des devoirs et obligations du mariage et rendent intolérable le maintien de la vie commune“.279 Der Ehebruch ist wie die physische oder psychische Gewaltanwendung von dieser Vorschrift erfasst, auch wenn vereinzelt bedauert wurde, dass der Ehebruch in der Vorschrift nicht explizit erwähnt wird.280 Daneben regelt Art. 243 C. civ. die Verurteilung zu einer Leibes- und Ehrenstrafe als Scheidungsgrund. Diese Liberalisierung des Scheidungsrechts stellt jedoch nur einen Aspekt der Scheidungsrechtsreform von 1975 dar. Im Rahmen der Reform setzte der Gesetzgeber zur Beendigung der dortigen Geschlechterdiskriminierung die strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften sowie Art. 324 Abs. 2 CPI außer Kraft.
277 „[ . . . ] die Strafrichter beschwerten sich schon wegen der Rolle, die sie in dieser strafprozessualen Farce spielen mussten. Der Gesetzgeber hat aus all diesen Gründen seine Schlüsse gezogen!“, Véron, Droit pénal spécial 1976, S. 238. 278 Kritisch zum neuen Scheidungsrecht Rieg, Les causes de divorce dans le nouveau droit français, 15 (31). 279 „Die Scheidung kann von einem der Eheleute verlangt werden, wenn der andere in zurechenbarer Weise schwer oder wiederholt seine Ehepflichten verletzt und deswegen ein weiteres Zusammenleben unzumutbar ist.“ 280 Massip, La réforme du divorce, Bd. 1, Rn. 34.
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2. Gesetzgeberische Reformen zur Stärkung egalitärer Ziele Bei der Scheidungsrechtsreform von 1975 handelt es sich nicht um den ersten Versuch, das Strafgesetzbuch an die zunehmend egalitären Anschauungen in der Bevölkerung anzupassen. Bereits 1970 schlug der Abgeordnete Tisserand vor, die Vorschriften über den Ehebruch sowie das „Tötungsprivileg“ des Ehemannes aus Art. 324 Abs. 2 CPI abzuschaffen. Nach seinen Worten beruhten sie auf einer „archaischen Konzeption der Beziehungen zwischen Eheleuten“.281 Doch während die vorgeschlagene Abschaffung auf allgemeinen Beifall stieß, waren sich die Abgeordneten in der Assemblée nationale uneinig in Bezug auf die Ehebruchsstrafbarkeit. Die Uneinigkeit bezog sich damals auf die Frage, ob der Ehebruch fortan gänzlich straflos sein sollte oder ob die Voraussetzungen für die Strafbarkeit wegen Ehebruchs im Falle einer Beibehaltung der Vorschriften geschlechtsneutral sein sollten.282 Insgesamt blieben diese Initiativen jedoch erfolglos. Erst 1975 wurde ein neuer Versuch unternommen. Der Abgeordnete Fanton setzte sich in der Assemblée nationale zunächst erfolgreich für ein Festhalten an dem Strafmilderungsgrund in Art. 324 Abs. 2 CPI ein, schlug aber eine Neufassung der Vorschrift vor, die auch weibliche Täter privilegierte.283 Zur Begründung verwies er auf den Strafrechtswissenschaftler Lambert, der angesichts der „immer noch so primitiven Sittenlage“ in Frankreich Verständnis für die Situation des Ehepartners ausdrückte: „Non qu’aux yeux du législateur, l’adultère soit une infraction grave au point de permettre presque l’homicide, non que l’article 324 accorde au mari le droit presque entier de châtier par la mort l’épouse infidèle et l’amant de celle-ci, mais parce que le spectacle soudain de sa femme en train de le tromper dans sa propre maison est de nature à produire sur l’esprit de l’époux un choc violent qui bouleverse sa raison, et que ce spectacle est humainement propre à déterminer chez le mari, en l’état encore si primitif de nos mœurs, une colère instantanée, une envie de tuer plus ou moins irrésistible.“284 281 Bericht Nr. 1715 (4. Legislaturperiode) des Abgeordneten Tisserand zu seinem Gesetzesvorschlag Nr. 1219, der vom Rechtsausschluss am 16. Dezember 1970 angenommen wurde. 282 So schon der Gesetzesvorschlag Nr. 1411 des Abgeordneten Krieg aus dem Jahr 1965; vgl. auch den Vorschlag Nr. 292 des Abgeordneten Gerbet aus dem Jahr 1975. 283 „A la demande de M. Fanton, désirant que le meurtre entre époux reste excusable en cas d’adultère flagrant de la victime, la Commission a adopté une nouvelle rédaction de l’article 324, deuxième alinéa: cette rédaction fait disparaître la discrimination que la loi instituait en faveur du mari, justifiée selon L. Lambert, dans son Traité de Droit pénal spécial par le fait que le spectacle de l’adultère est ,humainement propre à déterminer, chez le mari, en l’état encore si primitif de nos mœurs, une colère instantanée, une envie de tirer plus ou moins irrésistible‘.“, des Abgeordneten Donnez, JO Assemblée 1975 Nr. 1681. 284 „Nicht dass in den Augen des Gesetzgebers der Ehebruch ein schwerer und eine Tötung rechtfertigender Gesetzesverstoß wäre, nicht dass Art. 324 CPI dem Ehemann ein nahezu vollumfängliches Recht zur Züchtigung mittels der Tötung der untreuen Ehefrau und deren Liebhabers gäbe, aber der unerwartete Anblick der im eigenen Haus untreuen eigenen Frau schockiert natürlich den Ehemann und bringt ihn aus der Fassung; und dieses Verhalten
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Mit dem Gesetz Nr. 75 – 617 vom 11. Juli 1975 wurden die strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften sowie Art. 324 Abs. 2 CPI dann aber doch außer Kraft gesetzt, nachdem sie 165 Jahre lang nahezu unverändert in Kraft gewesen waren.285 Dies stieß auf keinen nennenswerten Widerstand in der Literatur, was an der wachsenden Kritik an den Vorschriften, aber auch am Konzept vom „Crime passionnel“ gelegen haben mag. Schon in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, also zu einer Zeit sinkender Kriminalitätsraten, 286 wurde der Täter eines „Crime passionnel in kritischen Untersuchungen einem gefährlichen Verrückten gleichgestellt. Er wurde als geistig schwach dargestellt, so dass beispielsweise Rabinowicz nicht zögert, seine psychische Lage als Wahn darzustellen.287 Täter eines „Crime passionnel“ seien ihmzufolge eben nicht die „Durchschnittsmenschen“, wie die öffentliche Meinung angenommen habe. Auch De Greeff lehnte jeden Zusammenhang zwischen dem Verbrechen aus Leidenschaft und Liebesbeziehungen ab, indem er erläuterte, dem Täter gehe es in Wirklichkeit darum, sich selbst aufzuwerten.288 Im 20. Jahrhundert scheint das Verbrechen aus Leidenschaft in der Wissenschaft immer weniger als ein Verbrechen aus Liebe angesehen worden zu sein.289 Dass zwischen der Publikation dieser Werke und der Scheidungsrechtsreform immerhin mehrere Jahrzehnte vergingen, spricht indes gegen ihre maßgebliche Ursächlichkeit für den Sinneswandel des Gesetzgebers. Noch heute ist der Glaube an die hinter dem Begriff „Crime passionnel“ stehende Vorstellung in Frankreich weit verbreitet, der Einfluss der genannten Werke auf die öffentliche Meinung damit unbedeutend. Es steht mithin zu bezweifeln, ob der Gesetzgeber mit der Reform auf ebendiese Kritik reagierte. Überzeugender ist es, von egalitären Zielen des Gesetzgebers auszugehen. Um den Grundsatz in Art. 324 Abs. 1 CPI zu betonen und damit die Ächtung von Gewalt in Ehebeziehungen zu stärken, lehnte der Gesetzgeber eine geschlechtsneutrale Fassung von Art. 324 Abs. 2 CPI ab und setzte eine gänzliche Streichung des zweiten Absatzes durch. Jedoch bewirkte die Permanenz des Konzepts vom „Crime passionnel“ in vielen Köpfen eine unverändert milde Bewertung dieser Straftaten. Vereinzelte Stimmen in der Literatur schlugen Umwege über andere Vorschriften mit dem Ziel vor, das „Crime passionnel“ weiterhin milde zu bestrafen. Massip ging so weit, zu sagen, dass es eines besonderen Strafmilderungsgrundes gar nicht ist angesichts des derart primitiven Stands unserer Sitten aus menschlicher Sicht geeignet, bei dem Mann einen mehr oder weniger unwiderstehlichen Wunsch zum Töten zu wecken.“, Lambert, Traité de droit pénal spécial, S. 147. 285 Die unterdessen eingetretenen Veränderungen betrafen allein die Höhe der dort genannten Geldstrafen. Diese wurden der Geldwertentwicklung angepasst. Im Übrigen blieben die Vorschriften unverändert. 286 Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 44. 287 Rabinowicz, Le crime passionnel. 288 De Greeff, Amour et crimes d’amour. 289 Vgl. hierzu: Marcovitch, Crimes passionnels amoureux et constitution. Les conséquences médico-légales.
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bedürfe, zumal eine großzügige Strafmilderung auch im Wege der Feststellung mildernder Umstände möglich sei.290 Das Engagement der französischen Literatur zur Erhaltung zumindest des Gedanken von Art 324 Abs. 2 CPI war demgegenüber auf isoliert gebliebene Autoren beschränkt, die sich damit in eine Minderposition begaben. Der überwiegende Teil des Schrifttums äußerte sich nicht zu der Frage und tut dies auch bis heute nicht. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man diese Situation mit der Lage in Deutschland nach der gesetzlichen Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts durch die gegen „nachdrückliches konservatives Beharrungsbedürfnis“291 durchgesetzte Neufassung von § 1631 Abs. 2 BGB vergleicht, der körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen für unzulässig erklärt. Letztlich handelte es sich auch bei dem bis dahin anerkannten elterlichen Züchtigungsrecht um ein anachronistisches kulturelles Konzept, so dass zumindest insofern gewisse Parallelen zum „Crime passionnel“ bestehen. Hierzulande ist das Engagement der Lehre vergleichsweise höher, züchtigenden Eltern trotz des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift zumindest in Grenzen weiterhin zu rechtlicher Toleranz zu verhelfen.292 Wer sich für die gegenwärtige strafrechtliche Behandlung von „Crimes passionnels“ in Frankreich interessiert, wird vergeblich in der französischen Rechtsliteratur recherchieren. Allenfalls weisen Autoren juristischer Wörterbüchern auf die Rechtslage nach dem Code pénal impérial bis 1975 hin. Die aktuelle Rechtslage bleibt weitgehend unberücksichtigt. Angesichts der defizitären rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der rechtlichen Beurteilung von „Crimes passionnels“ bietet sich auf den ersten Blick eine Auswertung der Lösungen in der Rechtsprechung an. Diese könnte Aufschluss darüber geben, ob die fehlende rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung vielleicht daran liegt, dass diese Verbrechensform nunmehr unterschiedslos wie jede andere bestraft wird, eine Berücksichtigung der hinter ihr stehenden kulturellen Konzepte also gar nicht stattfindet. Doch auch hier stößt der Suchende auf Hürden. Denn zum einen werden in Frankreich längst nicht so viele Entscheidungen veröffentlicht wie in Deutschland, und die veröffentlichten Entscheidungen sind in aller Regel solche der Cour de cassation. Die Cour de cassation hat sich jedoch seit 1975 nie mit der Frage auseinandergesetzt, ob das damals ergangene Gesetz eine tätergünstige Berücksichtigung der kulturellen Hintergründe von „Crimes passionnels“ in anderer Form als über Art. 324 Abs. 2 CPI verbietet. Damit bleibt nur ein Rückgriff auf Entscheidungen französischer Tatsacheninstanzen, die ihrerseits mit einer Ausnahme293 nie veröffentlicht wurden. Auch hier ist eine Auswertung problematisch, ist doch bei den Tatsachengerichten in Frankreich zwischen zwei Arten von Gerichten zu unterscheiden: solchen, Massip, La réforme du divorce, Bd. 1, Rn. 289. Staudinger-Peschel-Gutzeit, Vorb. 1626 Rn. 17. 292 Vgl. Moritz, JA 1998, 704 (709); Wessels / Beulke, Rn. 387; LK-Lilie, § 223 Rn. 10. 293 CA Pau 12. Oktober 1994, Juris-Data Nr. 048406 (= Dr. pénal 1995, 117 m. Anm. Véron). 290 291
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bei denen allein Berufsrichter über die Strafbarkeit und die Strafe des Angeklagten entscheiden, und solchen, bei denen sich Berufsrichter diese Zuständigkeit mit Geschworenen teilen. Was die Haltung der erstgenannten Gerichte anbelangt, ist die soeben genannte veröffentliche Entscheidung aufschlussreich. Es liegt aber der Verdacht nahe, dass die rechtliche Einordnung bei einem Verfahren vor der Cour d’assises hiervon abweicht. Bezüglich dieser Entscheidungen ist aber vorab darauf hinzuweisen, dass diese Gerichte von der sonst zu beachtenden Urteilsbegründungspficht der Gerichte befreit sind. Die Entscheidung einer Cour d’assises gibt nur Aufschluss über die Person des Angeklagten, die anderen am Prozess beteiligten Personen, den Vorwurf, die Entscheidung der Geschworenen sowie das gewählte Strafmaß. Sie beinhaltet jedoch keine rechtlichen Erwägungen oder detaillierten Schilderungen der angeklagten Tat. Was die Geschworenen und die Berufsrichter zu ihrer Entscheidung bewogen hat, warum sie die von ihnen gewählte Strafe für angemessen halten oder ob es sich bei der angeklagten Tat um ein „Crime passionnel“ handelt, drückt sich hierin nicht aus. Dennoch ist davon auszugehen, dass der Täter eines „Crime passionnel“ unverändert gute Aussichten auf eine vergleichsweise milde Strafe hat, wenn sein Verfahren vor einer Cour d’assises stattfindet. Denn das Konzept vom „Crime passionnel“ ist im Bewusstsein Vieler fest verankert. In der journalistischen Berichterstattung über „Crimes passionnels“ wird der Begriff nach wie vor verwendet. Hier ist allein die Art und Weise der Berichterstattung unterschiedlich, je nachdem ob es sich um eine „seriöse“ Zeitung wie Le Monde handelt oder um eine weniger seriöse Publikation. Während Zeitungen wie Le Monde vergleichsweise objektiv und unregelmäßig über „Crimes passionnels“ berichten, finden sich in weniger seriösen Lokalblättern regelmäßig Artikel hierüber. Sogar einige Entscheidungen der Cour de cassation verwenden den Begriff, ohne aber auf die Frage nach seiner rechtlichen Behandlung einzugehen.294 Wegen der Permanenz des Konzepts vom „Crime passionnel“ wird die im Gesetz vorgesehene Gleichbehandlung dieser Delikte mit anderen Delikten von Cours d’assises wohl auch heute noch untergraben.295 Zwar besteht nicht mehr das Problem massenhafter Freisprüche, die strafrechtlichen Normen zuwiderlaufen. Die nachfolgenden Erörterungen ergeben jedoch, dass Täter eines „Crime passionnel“ mit relativ milden Strafen rechnen können.
a) Gesetzliche Behandlung des „Crime passionnel“ Am 1. März 1994 trat mit dem Gesetz Nr. 92 – 1336 vom 16. Dezember 1992 in Frankreich ein neues Strafgesetzbuch, der Nouveau Code Pénal (NCP) in Kraft. 294 Cass. 15. November 2005, Az. 05 – 85.125; Cass. 8. Oktober 1997, Az. 97 – 82.481 (beide Entscheidungen sind unter Doctrinal abrufbar). 295 Pradel, Manuel de droit pénal général, Rn. 487.
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Auch er unterscheidet bei vorsätzlichen Tötungen zwischen Meurtre und Assassinat, wobei der Vorbedacht nach wie vor das Abgrenzungskriterium bildet. Der einfache Totschlag wird nach Art. 221 – 1 NCP grundsätzlich mit bis zu dreißig Jahren Freiheitsstrafe bestraft,296 wohingegen Art. 221 – 3 NCP den Mord mit bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Mindeststrafen kennt das französische Strafrecht nicht. aa) Möglichkeiten einer Strafmilderung Da eine mit Art. 324 Abs. 2 CPI vergleichbare Vorschrift im neuen Strafgesetzbuch fehlt, stellt sich die Frage, ob der hinter „Crimes passionnels“ stehende Leidenschaftsausbruch bei der Strafbarkeitsbeurteilung von Gesetzes wegen unberücksichtigt bleibt. Einer Berücksichtigung steht jedenfalls kein allgemeines Verbot der milden Bestrafung von Tötungen des Ehepartners entgegen, weil eine mit Art. 324 Abs. 1 CPI vergleichbare Vorschrift im neuen Strafgesetzbuch fehlt. Damit ist auch in diesen Fällen einer Strafmilderung von Rechts wegen keine Grenze mehr gesetzt. Art. 122 – 1 NCP schließt die strafrechtliche Verantwortung des Täters aus, dessen Zurechnungsfähigkeit oder Selbstbeherrschung zur Tatzeit vollkommen ausgeschaltet war.297 Das Gleiche gilt nach Art. 122 – 2 NCP für den Täter, der zur Tatzeit unter dem Eindruck eines unwiderstehlichen Zwangs stand.298 Diese Vorschrift greift den Gedanken von Art. 64 CPI auf und bezieht sich grundsätzlich sowohl auf physischen wie auch psychisch wirkenden Zwang. Der psychisch wirkende Zwang muss jedoch wie dort ein Ausmaß erreicht haben, dass dem Täter die Wahl jeglicher Handlungsalternativen unmöglich war.299 Eindeutig ausgeschlossen ist eine Anwendung von Art. 122 – 2 NCP dann, wenn der Täter seine Leidenschaft als zwanghaft aufgefasst und deswegen einen anderen Menschen getötet hat. Denn wegen des mit Art. 64 CPI fast identischen Wortlauts der Norm ist die Rechtsprechung der Cour de cassation nach wie vor aktuell, dass der dort genannte Zwang 296 Als Ausnahme von diesem Grundsatz droht dem Täter eines Totschlags unter bestimmten, im Gesetz genannten Umständen lebenslange Freiheitsstrafe. 297 „N’est pas pénalement responsable la personne qui était atteinte, au moment des faits, d’un trouble psychique ou neuropsychique ayant aboli son discernement ou le contrôle de ses actes. La personne qui était atteinte, au moment des faits, d’un trouble psychique ou neuropsychique ayant altéré son discernement ou entravé le contrôle de ses actes demeure punissable; toutefois, la juridiction tient compte de cette circonstance lorsqu’elle détermine la peine et en fixe le régime.“ 298 „N’est pas pénalement responsable la personne qui a agi sous l’empire d’une force ou d’une contrainte à laquelle elle n’a pu résister.“ 299 Der in Art. 122 – 2 NCP geforderte unwiderstehliche Zwang wurde zum Beispiel bei dem wegen Straftaten gegen die Menschlichkeit angeklagten Maurice Papon abgelehnt, der sich auf die deutschen Repressalienandrohungen gegen französische Beamte zur Zeit der Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg berief, Cass. 23. Januar 1997, Bull. 32.
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nicht vom Täter selbst herrühren kann, es sei denn dieser litt an einer nervlichen Pathologie.300 Diese Lösung vermeidet, dass unter Rückgriff auf Art. 122 – 2 NCP diejenigen psychischen Zustände erfasst werden, die Art. 122 – 1 NCP gerade nicht erfasst. Um eine Umgehung von Art. 122 – 1 NCP zu verhindern, muss Art. 122 – 2 NCP bei psychischem Zwang restriktiv ausgelegt werden. Abgesehen davon besteht in bestimmten Fällen die Möglichkeit zur Strafmilderung, wobei zwischen gesetzlichen und richterlichen Strafmilderungsgründen zu unterscheiden ist. Erstere werden nunmehr als „Causes légales de diminution de la peine“ bezeichnet und ersetzen die früheren „Excuses atténuantes“,301 zu denen unter anderem Art. 324 Abs. 2 CPI gehörte. Hiervon ist die auf freier richterlicher Entscheidung beruhende Strafmilderung (Cause judiciaire d’atténuation de la peine) zu unterscheiden. Diese Möglichkeit ergibt sich aus dem Fehlen von Mindeststrafen – zumindest für quantifizierbare Strafen wie die Freiheitsstrafe – im neuen französischen Strafgesetzbuch.302 Durch den Verzicht auf eine Normierung von Mindeststrafen gewährt der französische Gesetzgeber dem Strafrichter eine umfassende Freiheit bei der Strafzumessung. Nichtsdestoweniger befreite der Gesetzgeber den Richter nicht davon, das von ihm festgesetzte Strafmaß zu begründen. Aus der richterlichen Entscheidung muss hervorgehen, dass die Strafe ausgewogen ist im Hinblick auf die Umstände der Tat und die persönlichen Verhältnisse des Täters,303 welche auch nach französischem Strafgesetzbuch den Maßstab für die Strafzumessung darstellen.304 Freilich gilt dies nur für Entscheidungen von Berufsrichtern. Aufgrund der Freistellung der Schwurgerichte von der Urteilsbegründungspflicht können diese Gerichte die Strafe mildern, ohne eine solche Entscheidung begründen zu müssen. Von dieser Möglichkeit machen französische Strafgerichte bei der Verurteilung von „Crimes passionnels“ auch Gebrauch. Fraglich ist, ob die Richter bei diesem Vorgehen das gesetzgeberische Ziel der Scheidungsrechtsreform von 1975 beachten. Es ist ange300 Cass. 11. April 1908, DP 1908, 1, 261 (m. Anm. Mercier); Cass. 27. November 1926, JCP 1927, 76; T. corr. Bobigny 22. November 1972, Gaz. Pal. 1972, 2, 890; Cass. 8. Dezember 1987, Dalloz 1988, 1, 131, (m. Anm. Koering-Joulin); Bouzat / Pinatel, Traité de droit pénal et de criminologie, Bd. I, Rn. 269; Stéfani / Levasseur / Bouloc, Droit pénal général, Rn. 432. 301 Desportes / Le Gunehec, Droit pénal général, Rn. 882. 302 Anders als im deutschen Strafrecht kennt das französische Strafrecht ausschließlich Höchststrafen, vgl. Art. 322 des Strafrechtsreformgesetzes 16. Dezember 1992: „Dans tous les textes prévoyant qu’un crime ou un délit est puni d’une peine d’amende, d’emprisonnement, de détention ou de réclusion, les mentions relatives aux minima des peines d’amende ou des peines privatives de liberté encourues sont supprimées.“ Eingehend Dervieux / Pesquié, RS crim. 1993, 523 ff.; Stefani / Levasseur / Bouloc, Droit pénal général, Rn. 646. 303 Desportes / Le Gunehec, Le Nouveau droit pénal, Bd. 1, Rn. 956 304 Art. 132 – 24 NCP: „Dans les limites fixées par la loi, la juridiction prononce les peines et fixe leur régime en fonction des circonstances de l’infraction et de la personnalité de son auteur. Lorsque la juridiction prononce une peine d’amende, elle détermine son montant en tenant compte également des ressources et des charges de l’auteur de l’infraction.“
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sichts einer nachfolgenden Sichtung einschlägiger Gerichtsentscheidungen und der sie begleitenden Berichterstattung selbst in seriösen Zeitungen davon auszugehen, dass weibliche Täter von „Crimes passionnels“ durch die aktuelle Rechtslage gegenüber männlichen Tätern benachteiligt werden. bb) Möglichkeiten einer Strafschärfung Seit kurzem können „Crimes passionnels“ Anknüpfungspunkt für eine „Circonstance aggravante“ (Strafschärfungsgrund) sein, was das Gesetz Nr. 2006 – 399 vom 4. April 2006 klarstellt.305 Dieses Gesetz steht im Kontext eines Aktionsplans der französischen Regierung vom 24. November 2004 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, der seinerseits durch eine am Vortag veröffentlichte nationale Untersuchung306 über das Ausmaß häuslicher Gewalt in Frankreich veranlasst wurde. Im Untersuchungszeitraum (2003 / 2004) wurden in Frankreich 228 Menschen im Rahmen einer Beziehung getötet. Davon starben 17 Menschen durch Sterbehilfe. Von den übrigen 211 Opfern waren 163 weiblichen und 46 männlichen Geschlechts. Damit starb im Untersuchungszeitraum alle drei Tage eine Frau, wohingegen alle sechzehn Tage ein Mann starb. Die von den Tätern angegebenen Gründe und Tatumstände waren mehrheitlich Streit (54 %), eine Trennung (27%), Alkohol (29 %) oder Eifersucht (22%).307 Tatmotive und Tatumstände (Mehrfachnennung möglich): Eifersucht 22 % Streit 54 % Trennung 27 % Wahnsinn 4% Alkohol 29 % Rauschgift 9% Medikamente 8% Depression 10 % Quelle: Bericht 2003 / 2004, S. 36
305 Das Gesetz sieht unter anderem zivilrechtliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Zwangsehen vor und normiert aus Klarstellungsgründen die Strafbarkeit der Vergewaltigung innerhalb der Ehe. Näheres zum Gesetz: Rebourg, JCP 2006, S. 775 ff. 306 ENSAE Junior Etudes im Auftrag des Ministère délégué à la Cohésion sociale et à la Parité: „Recensement national des morts violentes survenues au sein du couple en 2003 et 2004“, 23. November 2005. 307 ENSAE Junior Etudes im Auftrag des Ministère délégué à la Cohésion sociale et à la Parité: „Recensement national des morts violentes survenues au sein du couple en 2003 et 2004“, 23. November 2005, S. 36. Bei der Befragung der Täter war eine Mehrfachnennung möglich.
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Das Gesetz fügte Art. 132 – 80 in den Code pénal ein, demzufolge in den gesetzlich dafür vorgesehenen Fällen die Strafe verschärft wird, wenn die Tat durch den Ehepartner, Beziehungspartner oder eine Person begangen wurde, die mit dem Opfer einen pacte civil de solidarité308 geschlossen hatte. Gleiches gilt, wenn das Opfer sich von dem Täter getrennt hatte, sofern die Tat aufgrund der zuvor bestandenen Beziehung begangen wurde: „Dans les cas prévus par la loi, les peines encourues pour un crime ou un délit sont aggravées lorsque l’infraction est commise par le conjoint, le concubin ou le partenaire lié à la victime par un pacte civil de solidarité. La circonstance aggravante prévue au premier alinéa est également constituée lorsque les faits sont commis par l’ancien conjoint, l’ancien concubin ou l’ancien partenaire lié à la victime par un pacte civil de solidarité. Les dispositions du présent alinéa sont applicables dès lors que l’infraction est commise en raison des relations ayant existé entre l’auteur des faits et la victime.“309
Ein solcher gesetzlich vorgesehener Fall für eine Strafschärfung ist seit dem Gesetz vom 4. April 2006 gemäß Art. 221 – 4 Nr. 9 NCP der Totschlag; in diesem Fall hebt das Gesetz die Höchststrafe von dreißig Jahren auf lebenslange Freiheitsstrafe an: „Le meurtre est puni de la réclusion criminelle à perpétuité lorsqu’il est commis [ . . . ] par le conjoint ou le concubin de la victime ou le partenaire lié à la victime par un pacte civil de solidarité.“310
Die Vorschrift betrifft nicht nur „Crimes passionnels“, sondern auch eine Großzahl von „Ehrenmorden“, die ja oftmals vom (früheren) Ehepartner oder Lebensgefährten begangen werden. Soweit der Täter eines „Ehrenmordes“ seine frühere Ehepartnerin oder Lebensgefährtin tötet, droht ihm der Vorschrift zufolge lebenslange Freiheitsstrafe. Dies gilt auch für den Fall, dass eine Täterin eines „Ehrenmordes“ ihren (früheren) Partner tötet. Freilich sind nur diese „Ehrenmorde“ betroffen, nicht aber Tötungen der Schwester oder anderer, dem Täter verwandtschaftlich nahe stehender Personen. 308 Der „pacte civil de solidarité“ (kurz: PACS) ist teilweise mit der Lebenspartnerschaft im deutschen Recht vergleichbar, weil er nicht alle mit der Ehe verbundenen Rechte und Pflichten mit sich bringt. Anders als die deutsche Lebenspartnerschaft ist der „pacte civil de solidarité“ allerdings nicht auf homosexuelle Paare beschränkt, sondern steht auch heterosexuellen Paaren offen. 309 „In den gesetzlich vorgesehenen Fällen werden die für ein Verbrechen oder ein Vergehen drohenden Strafen verschärft, wenn die Straftat vom Ehepartner, dem Lebensgefährten oder dem PACS-Partner begangen wurde. Der im ersten Absatz vorgesehene erschwerende Umstand ist auch dann gegeben, wenn die Taten vom früheren Ehepartner, Lebensgefährten oder PACS-Partner begangen wurden. Dieser Absatz ist anwendbar, wenn die Straftat aufgrund einer früheren Beziehung des Täters mit dem Opfer begangen wurde.“ 310 „Der Totschlag wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft, wenn er [ . . . ] vom Ehepartner, dem Lebensgefährten oder dem PACS-Partner begangen wurde.“
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Das Gesetz setzte damit einem merkwürdigen Widerspruch ein Ende. Denn bereits zuvor gab es Strafschärfungen für bestimmte Delikte, wenn sie durch den Ehepartner, Lebensgefährten oder dem PACS-Partner des Opfers begangen wurden. Ein solches Delikt war die Körperverletzung mit Todesfolge gemäß Art. 222 – 8 Nr. 6 NCP, bei der die Höchststrafe von fünfzehn auf zwanzig Jahre Freiheitsstrafe anzuheben ist. Dies führte zu dem unerklärlichen Wertungswiderspruch, dass das Gesetz eine Strafschärfung bei ungewollter Todesfolge des Opfers vorsah, nicht aber bei vorsätzlicher Tötung des Opfers. Ob dem Gesetzgeber aber mit der Einführung der „Circonstance aggravante“ für den Totschlag ein entscheidender Durchbruch bei der Bekämpfung von „Crimes passionnels“ gelungen ist, mag gleichwohl bezweifelt werden. Eine Strafschärfung drückt zwar ein erhöhtes Unwerturteil des Gesetzgebers bezüglich eines bestimmten Verhaltens aus, doch ist aus zwei Gründen fraglich, ob sich die Gerichte dieser Einschätzung anschließen werden. Zum einen entfalten strenge Strafrechtsnormen wenig Wirksamkeit, wenn sie den sozialen Anschauungen zuwiderlaufen. Dieser Kritik kann jedoch damit begegnet werden, dass die Sensibilität der Öffentlichkeit gegenüber allen Erscheinungsformen häuslicher Gewalt in den vergangenen Jahrzehnten zunahm und immer noch zunimmt. Dementsprechend steht zu erwarten, dass die Öffentlichkeit zunehmend Abstand vom Konzept des „Crime passionnel“ nehmen wird. Weit schwerer wiegt ein rechtstechnischer Umstand, nämlich das Fehlen einer Mindeststrafe. Solange im französischen Strafrecht Mindeststrafen fehlen, drücken Strafschärfungen wie die in Art. 221 – 4 Nr. 9 NCP nur ein gesetzgeberisches Signal aus, denn den Gerichten bleibt es unbenommen, „Crimes passionnels“ wie bisher relativ milde zu bestrafen. Diese Gefahr hat der Gesetzgeber während der Beratung auch erkannt. Bereits im ersten Bericht zur Gesetzesinitiative wies der Senator de Richemont darauf hin, dass vergleichbare, ältere Strafschärfungen bei anderen Delikten bislang wirkungslos blieben.311 Für Körperverletzungsdelikte, die zu einer mindestens achttägigen Arbeitsunfähigkeit des Opfers führen, sieht das Gesetz in Art. 222 – 16 Nr. 6 NCP eine Strafschärfung von drei Jahren auf fünf Jahre Freiheitsstrafe vor, wenn das Opfer der Ehepartner oder Geliebte des Täters war. Im Jahr 2003 überstieg die im Durchschnitt hier verhängte Strafe nicht sechs Monate. Hieraus hat der Gesetzgeber allerdings nicht den erforderlichen Schluss – die Einführung einer Mindeststrafe – gezogen, sondern sich für ein recht wirkungsloses Signal entschieden. Damit ist selbst bei der Tötung des (früheren) Partners durch einen „Ehrenmord“ unklar, ob sich die vom Gesetzgeber offenbar favorisierte lebenslange Freiheitsstrafe auch in der Rechtswirklichkeit abbildet oder ob Gerichte angesichts fehlender Mindeststrafen auch hier vergleichsweise niedrige Strafen verhängen werden.
311 Bericht des Abgeordneten de Richemont, im Namen der commission des lois, Nr. 228 (2004 – 2005), S. 4, abrufbar unter http: //www.senat.fr.
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b) Zweifel an der richterlichen Gleichbehandlung der Täter eines „Crime passionnel“ Der französische Gesetzgeber hatte nach der Aufhebung von Art. 324 Abs. 2 CPI keine Vorschrift erlassen, die eine rechtliche Gleichbehandlung von „Crimes passionnels“ mit gewöhnlichen Delikten forderte.312 Wäre es ihm darum gegangen, „Crimes passionnels“ effektiver zu bekämpfen, hätte er eine Vorschrift erlassen können, derzufolge eine Strafmilderung in diesen Fällen ausgeschlossen wäre. Die Annahme liegt daher nahe, dass es ihm seinerzeit allein um die Verwirklichung seines Ziels der geschlechtlichen Gleichbehandlung ging. Männer wie Frauen sollten nunmehr unter Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften in den Genuss einer Strafmilderung gelangen, ohne ein Geschlecht von Gesetzes wegen besser zu stellen, wie es bei Art. 324 Abs. 2 CPI der Fall war. Ob der Gesetzgeber mit seinem Ziel rechtlicher Gleichbehandlung von Tätern eines „Crime passionnel“ Erfolg hatte, lässt sich indes nicht allein anhand der Gesetzeslage beurteilen. Denkbar ist eine indirekte Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in Frankreich, was eine statistische Untersuchung erfordern würde, ob Frauen bei vergleichbarer Sachlage mit den gleichen Strafen rechnen können wie männliche Täter. Der Versuch einer statistischen Untersuchung stößt indessen auf mehrere Hindernisse. Zum einen wäre als Ausgangspunkt eine exakte und konsensfähige Definition des Begriffs vom „Crime passionnel“ erforderlich, da die Autorenmeinungen trotz weitgehender Einigkeit in einigen Detailfragen auseinander gehen. Zum anderen ist insbesondere an die fehlende Urteilsbegründungspflicht der Schwurgerichte zu erinnern. Diese Gerichte müssen nicht offen legen, ob sie im jeweiligen Fall von einem „Crime passionnel“ ausgingen, warum sie das „Crime passionnel“ bejahten oder verneinten und welche rechtlichen Konsequenzen ihre Einschätzung auf die Beurteilung der Schuld sowie das Festsetzen der Strafe hatte. Diese Entscheidungen können allenfalls unter Einbeziehung der Prozessakten sowie der Zeitungsberichte über den Prozessverlauf ausgewertet werden. Bei einem solchen Vorgehen ließe sich feststellen, ob beide Geschlechter nach derzeit geltendem Recht von den zuständigen Richtern gleich behandelt werden. Eine solche Auswertung ist mit umfangreicher Arbeit verbunden, wäre aber aufschlussreich. Sie würde den Rahmen dieser Arbeit allerdings übersteigen. Gleichwohl werden im Folgenden ausgewählte Entscheidungen französischer Schwurgerichte vorgestellt und qualitativ analysiert. Ein Verständnis dieser Entscheidungen erfordert indes eine Kenntnis der öffentlichen Wahrnehmung von „Crimes passion312 Das Erlassen von Vorschriften, um politisch unerwünschte Tendenzen in der Rechtsprechungsentwicklung zu unterbinden, ist in Frankreich nicht unüblich. Als Beispiel sei hier nur Art. 1 des Gesetzes Nr. 2002 – 303 vom 4. März 2002 genannt, demzufolge niemand unter Berufung auf seine Geburt Schadensersatz verlangen kann. Diese Vorschrift schob der Rechtsprechung einen Riegel vor, die in Frankreich im Rahmen der Kind-als-Schaden-Problematik auch Schadensersatzansprüche des Kindes bejaht hatte.
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nels“ in der zeitgenössischen französischen Gesellschaft. Die hier einschlägige Zeitungsberichtserstattung ist auch in Zeiten fortschreitender Gleichberechtigung von Mann und Frau oft reißerisch, pathetisch und tendenziell verständnisvoller für männliche Täter eines „Crime passionnel“ als für weibliche. Daher liegt es nicht fern, dass auch die Rechtsprechung bewusst oder unbewusst entsprechend differenziert. aa) Fehlende Neutralität der Berichterstattung über „Crimes passionnels“ Noch heute drücken Zeitungsartikel eine unterschiedliche soziale Bewertung von „Crimes passionnels“ aus, je nachdem ob sie von Männern oder Frauen begangen wurden. Dies trifft auf Zeitungsartikel in Regionalzeitungen zu, die besonders häufig hierüber berichten, aber auch auf überregionale, „seriöse“ Zeitungen wie Le Monde. Zu diesem Ergebnis kam eine französische Forschungsgruppe bestehend aus zwei Psychologinnen und einer Soziologin nach einer Untersuchung von insgesamt 558 Zeitungsartikeln aus den Achtziger- und Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts.313 Was die Opfer angeht, werden in den untersuchten Artikeln weibliche Opfer meist gar nicht erwähnt oder zum Beispiel als „eine Leiche im Schrank“ neutralisiert. An anderer Stelle findet ein weibliches Opfer nur wegen seiner Eigenschaft als vier Kinder hinterlassende Mutter Erwähnung. Dies legt nahe, dass nicht die Tat als Tötung an sich das Drama darstellt, sondern das Hinterlassen nunmehr halbwaiser Kinder. Dagegen werden männliche Tatopfer meist nicht anonymisiert.314 Auch im Übrigen wird die journalistische Neutralität in der Berichterstattung über „Crimes passionnels“ – selbst in „seriösen“ Medien – oft nur dem Anschein nach gewahrt; die Wissenschaft wirft ihnen vor, „Crimes passionnels“ „brutal, emotional und genüsslich“315 darzustellen. Damit sich die Leserschaft mit den Hauptfiguren identifiziert, werden diese zudem oft nur mit ihrem Vornamen bezeichnet und ihr Wohnort angegeben. Demgegenüber fehlt in der Berichterstattung über Gerichtsprozesse bezüglich eines „Crime passionnel“ meist eine Angabe des Berufs, eines der auch in der französischen Gesellschaft wichtigsten sozialen Unterscheidungsmerkmale. 316 Auf diese Weise bauen die Autoren eine gedankliche Dreiecksbeziehung zwischen ihnen, den Lesern und den Tätern auf, um die Tat nachvollziehbar erscheinen zu lassen und die Vorstellung eines aus Liebe begangenen Verbrechens zu evo313 314 315 316
Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire. Ebenda, S. 98 ff. Raymond, Crimes de sang et faits de violence, S. 155. Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 20 f.
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zieren. Dass die Presse diese Verbrechen nicht mit der gleichen Missbilligung belegt wie andere Kriminalitätsformen, erschwert ihre gesellschaftliche Beurteilung als Bedrohung für die Sozialordnung. Die Täter werden nicht als gefährlich eingestuft, sondern es wird vielmehr ein tatveranlassender, spontaner und einmaliger Impuls beim Täter angenommen. Berichterstatter wie auch Leser sind ihnen wohlgesinnt, sei es weil man in ihnen Opfer eines untreuen Partners sieht, sei es weil sie mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkamen; dies gilt umso mehr, wenn sie nach der Tat Selbstmord begingen oder dies versuchten.317 In den „Faits divers“ werden „Crimes passionnels“ im Allgemeinen mit psychologischen Faktoren erklärt. Dies für sich genommen ist schon bemerkenswert, werden doch etwa in Kanada für vergleichbare Straftaten psychologische zugunsten von soziologischen Erklärungen verworfen.318 Das primäre Abstellen französischer Journalisten auf psychologische Erklärungen hat verschiedene Folgen. Zum einen werden die Taten individualisiert, sie erscheinen als Einzelfall von geringem gesellschaftlichem Belang. Als Einzelfall wahrgenommene „Crimes passionnels“ lassen vergessen, dass sich dahinter allgemeine Muster verbergen, deren Erkenntnis ein erster Schritt zur Bekämpfung dieser Kriminalitätsform ist. Der Rückgriff auf soziologische Erklärungen würde demgegenüber die Wahrnehmung begünstigen, dass strukturelle gesellschaftliche Probleme zu lösen sind, um die Gefahr von „Crimes passionnels“ zu reduzieren. Die damit ausgedrückte Privatheit dieser Kriminalität legt ihrerseits eine strikte Trennung zwischen sozial nicht hinterfragtem oder hinterfragbarem Privatleben und dem Leben in der Öffentlichkeit nahe, was umso bedenklicher ist, als das private Familienleben nicht immer nur Sicherheit für die Familienmitglieder bedeutet, sondern im Gegenteil nicht selten Hort von Aggression und damit Gefahr insbesondere für Frauen wie Kinder ist.319 Gerade die Privatheit dieser Taten wird neben der Seltenheit von Vorbestrafungen der Täter und deren geringer Kriminalitätsrückfälligkeit als ausreichender Grund zur richterlichen Milde ihnen gegenüber angesehen.320 Die Berichterstattung im Rahmen der Faits divers französischer Regionalzeitungen erfreut sich wohl auch deshalb eines breiten Interesses, weil sie an die Bedeutung von Werten erinnert, die in modernen Zeiten zunehmend an Bedeutung verlieren (Familie, eheliche Treue, Mutterschaft etc.).321 Ein hiermit verbundener Gesichtspunkt, auf den die oben genannte Studie allerdings nicht eingeht, ist die hieraus folgende Verfestigung alter Werte, welche nunmehr mit modernen Wertvorstellungen konkurrieren. Die eheliche Treue hat längst nicht mehr den herausHouel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 176. Diese Form der Kriminalität wird dort eher mit den Lebensumständen, der Erziehung, eventueller Arbeitslosigkeit oder Überbelastung bei Erwerbstätigkeit erklärt, vgl. Guérard / Lavender, Recherches féministes, 1991, S. 159 ff. 319 Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 178. 320 Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 45. 321 Houel / Mercader / Sobota, Crime passionnel, crime ordinaire, S. 174. 317 318
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ragenden unbestrittenen Stellenwert wie früher. Ist eine Person ihrem Ehepartner untreu, liegt hierin nicht zwingend ein Angriff auf dessen Ehre, sondern eher ein Anzeichen für zu lösende Beziehungsprobleme. Indem die genannten Zeitungsartikel aber an das frühere Verständnis von Familie, Treue, Mutterschaft erinnern und diese Werte idealisieren, erschweren sie die Durchsetzung eines neuen, liberalen Verständnisses menschlicher Beziehungen ohne Besitzansprüche an den Partner. Im Übrigen begünstigt die stete Betonung des traditionellen Verständnisses der genannten Werte Verhaltensunsicherheiten sowie entgegengesetzte Verhaltenserwartungen, deren Enttäuschung Frustration und Gewalt hervorbringen kann. bb) Beispiele aus der Rechtsprechung nach der Scheidungsrechtsreform Die im Folgenden dargestellten, überwiegend unveröffentlichten Entscheidungen belegen, dass die Rechtsprechung „Crimes passionnels“ nach wie vor relativ milde bestraft. Hinsichtlich der Vorgehensweise ist allerdings zwischen berufsrichterlichen und schwurgerichtlichen Entscheidungen zu differenzieren. Die erstgenannten Entscheidungen stützen sich auf ein dogmatisches Konzept, demzufolge „Crimes passionnels“ auf Tatbestandsebene unterschiedslos wie andere Straftaten zu behandeln sind. Eine richterliche Milde kommt dem Täter hier allenfalls auf der Strafzumessungsebene zu. Demgegenüber ergehen schwurgerichtliche Entscheidungen eher aus Billigkeitserwägungen, was ihre abschließende Kategorisierung erschwert. (1) Berufsrichterliche Behandlung von „Crimes passionnels“ In der einzigen veröffentlichten Gerichtsentscheidung, die sich mit der rechtlichen Behandlung von „Crimes passionnels“ auseinandersetzt, verneinte das erkennende Gericht die Existenz eines Strafmilderungsgrundes der Provokation im französischen Strafrecht. Das Gericht verurteilte die Angeklagte wegen Körperverletzung, weil sie ihre Schwiegereltern mit einem Schlüsselbund beworfen und dabei schwer verletzt hatte. Die Angeklagte verteidigte sich damit, ihre Schwiegereltern hätten sie mit Beleidigungen und körperlichen Angriffen zur Tat hingerissen. Dieser Hinweis blieb hingegen erfolglos. Das Gericht wies darauf hin, dass der Strafmilderungsgrund der Provokation in den Artt. 320 – 1 bis 326 CPI unterdessen durch das neu in Kraft getretene Strafgesetzbuch vom 1. März 1994 abgeschafft worden sei.322 Die Literatur wies vereinzelt darauf hin, dass das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung zur Provokation nicht zwingend bedeute, dass diese nicht dennoch bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigt werden könne. Der Weg322 CA Pau 12. Oktober 1994, Juris-Data Nr. 048406; Dr. pénal 1995, 117 (m. Anm. Véron).
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fall dieses gesetzlichen Strafmilderungsgrundes bringe zwar mit sich, dass die Provokation sich nicht mehr obligatorisch und nach einem bestimmten Satz auf das zu verhängende Strafmaß auswirke. Es sei jedoch dem Richter bei der Würdigung des Tathergangs und der Schwere der Schuld des Angeklagten überlassen, die Strafe nach seinem Ermessen gegebenenfalls auch dann milde festzusetzen, wenn ein gesetzlicher Strafmilderungsgrund fehle. Art. 132 – 19 NCP gestatte dem Richter die Verhängung einer milden Freiheitsstrafe im Einzelfall. Entsprechendes regele Art. 132 – 20 NCP für Geldstrafen. Art. 132 – 24 NCP stelle dabei klar, dass der Richter hierbei im Rahmen gesetzlicher Vorschriften handeln und die näheren Tatumstände berücksichtigen müsse. Aus alldem ergebe sich, dass die Richter eine weitreichende Freiheit bei der Festsetzung der Strafe genössen und der Provokation trotz des Fehlens gesetzlicher Normen bei der Strafzumessung Rechnung tragen könnten.323 Inwieweit Berufsrichter bei der Wahl des Strafmaßes nicht doch eine Provokation des Opfers berücksichtigen, lässt sich nicht mit abschließender Sicherheit sagen. Es ist wahrscheinlich dass die berufsrichterliche Strenge sich allein auf die Beurteilung der Strafbarkeit bezieht. Bei der Festsetzung der Höhe der zu verhängenden Strafe mag die Strenge demgegenüber enden. Vermutlich wurde die Provokation auch bereits in der besagten Entscheidung bedacht, weil die Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von lediglich einem Monat verurteilt wurde. (2) Schwurgerichtliche Milde gegenüber „Crimes passionnels“ Unter bestimmten ungeschriebenen Voraussetzungen können Täter eines „Crime passionnel“ von Schwurgerichten zu einer relativ milden Strafe verurteilt werden, obgleich eine ausdrückliche Privilegierungsvorschrift fehlt. Kurz gesagt ist eine milde Strafe dann zu erwarten, wenn der Täter als Durchschnittsmensch erscheint, dessen Tat nahezu als fremdverschuldet interpretiert werden kann, und der sich seinerseits im Vorfeld der Tat stets korrekt verhielt. Dies werden die nachfolgend geschilderten Rechtsfälle belegen. Da Schwurgerichtsentscheidungen in Frankreich nicht veröffentlicht werden, handelt es sich bei den nachfolgend diskutierten Entscheidungen um unveröffentlichte Entscheidungen, die durchweg nach der letzten großen Scheidungsrechtsreform ergangen sind. Sie wurden freundlicherweise von den Geschäftsstellen der jeweiligen Gerichte zur Verfügung gestellt und werden hier mit ihrem Aktenzeichen nachgewiesen. Um die Hintergründe zu beleuchten, werden die jeweiligen Berichte aus der Zeitung Le Monde in die Diskussion einbezogen. Können sich die Richter eines Schwurgerichts mit dem Angeklagten identifizieren oder sein Tun nachvollziehen, erwartet ihn eine relativ milde Strafe. Dies illus323 CA Pau, 12. Oktober 1994: Dr. pénal 1995, 117 (m. Anm. Véron); vgl. auch Véron, Droit pénal spécial, S. 107.
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triert der Fall von Henri Canovas, der am 14. Dezember 1990 wegen Mordes an seiner früheren Schwiegertochter zu einer Freiheitsstrafe von sechzehn Jahren verurteilt wurde.324 Damit lag die verhängte Strafe unterhalb des Antrags der Staatsanwaltschaft, welche zwanzig Jahre Freiheitsstrafe forderte. Canovas erklärte seine Tat damit, dass seine frühere Schwiegertochter ihn von seinem Enkelsohn fernhalten wollte. Um die enge Beziehung zu seinem Enkel zu erklären, wies er auf seine nordafrikanische Herkunft hin. In seiner Kultur sei der Mann für seine Familie und deren Ehre verantwortlich. In der Berichterstattung über seinen Strafprozess wird Canovas als sechzigjähriger liebevoller Großvater dargestellt, der um das Wohl seines Enkelsohnes ernsthaft besorgt war.325 Man könnte meinen, dass die Bezugnahme auf eine fremde Kultur einer richterlichen Nachsicht entgegensteht, wenn man die Milde der Gerichte von ihrer Identifikation mit dem Angeklagten abhängig macht. Stellt man dagegen auf die großväterliche Liebe zu seinem Enkelsohn ab, erscheint die Tat in einem gänzlich anderen Licht. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Tat kein außergewöhnliches Maß an Brutalität aufwies. Die Tat war für einen Franzosen nachvollziehbar genug, um die vergleichsweise milde Strafe zu wählen. Dass fremdkulturelle Motive nur dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn sie aus Sicht der französischen Kultur nachvollziehbar erscheinen, wird auch durch den folgenden Fall bestätigt, bei dem es um einen „Ehrenmord“ ging, an dem mehrere Verwandte des Opfers beteiligt waren. Am 15. August 1993 wurde die 15jährige Namiye Illikpinar von ihrem 22jährigen Bruder und ihrem 20jährigen Cousin in Anwesenheit ihrer Eltern durch Erwürgen getötet und darauf in einen Graben geworfen, weil sie mit einem jungen Franzosen geflirtet hatte. Nach Auffassung ihrer kurdischen Familie legte dies den Verlust ihrer Jungfräulichkeit nahe. Auch im Übrigen pflegte sie einen aus Sicht ihrer Familie zu westlichen Lebensstil.326 Die Familie verweigerte ihrerseits von Anfang an jedwede Integration in die französische Gesellschaft und benötigte während des Gerichtsverfahrens einen Dolmetscher, obgleich sie seit 1981 in Frankreich lebte. Der Bruder zeichnete sich außerdem durch schlechte Leistungen in der Schule, Prügeleien, Alkoholkonsum und eine Vorstrafe aus. Die Staatsanwaltschaft beantragte für den Bruder, den Cousin sowie die Eltern jeweils eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes. Die Cour d’assises du Haut-Rhin in Colmar verurteilte am 3. Dezember 1994 den Bruder zu lebenslanger Haft mit anschließender 18jähriger Sicherungsverwahrung, den Cousin sowie die Eltern zu jeweils 20 Jahren Haft.327 Demgegenüber wurde Thierry Ferrer milde bestraft. Die Cour d’assises d’Aixen-Provence verurteilte ihn am 5. Dezember 2003 wegen Mordes zu elf Jahren 324 CA Bouches-du-Rhône 14. Dezember 1990, AZ: 142A / 1990 (unveröffentlichte Entscheidung). 325 Giraudo, Aux assises des Bouches-du-Rhône: Le crime d’amour d’un grand-père pédagogue, in: Le Monde vom 14. 12. 1990. 326 Pierre, Nazmiye, fille d’ailleurs, Le Monde vom 1. 12. 1994. 327 N.N., En bref meurtre de Colmar, Le Monde vom 6. 12. 1994.
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Freiheitsstrafe.328 Die Geschworenen folgten damit nicht der Anklage, die fünfzehn Jahre gefordert hatte. Ferrer nahm irrig an, der von ihm ermordete Mann habe seine Tochter vergewaltigt, und ihn zu Tode geprügelt. Die Staatsanwaltschaft beurteilte diese Form der Selbstjustiz als skandalös: „Ce n’est pas un geste d’amour, ce n’est pas de la légitime défense affective [ . . . ]. C’est un scandale. Comment peut-on s’ériger en justicier et assassiner une victime innocente?“329 Nichtsdestoweniger erschien den Geschworenen das Leid des Angeklagten nachvollziehbar. Ähnliches gilt auch für Nacera Kherrouba, die am 17. Januar 2003 wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde.330 Kherrouba versuchte, ihre Lebensgefährtin mit einer Harpune zu töten, weil diese sie nach zehnjähriger Beziehung für einen Mann verlassen wollte.331 Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von sieben bis zu neun Jahren.332 Im Fall von Alain Tredez folgte das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Er wurde am 22. Juni 2000 wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Jahren verurteilt, weil er den Liebhaber seiner von ihm getrennt lebenden Frau tötete.333 Damit bewegte sich das Gericht im Rahmen der von der Staatsanwaltschaft geforderten Freiheitsstrafe von fünfzehn bis zwanzig Jahren. In der Berichterstattung wurde betont, dass die Ehe zwischen Tredez und seiner Frau über fünfundzwanzig Jahre bestanden hatte334 und dass Tredez militanter Pazifist war. Der Prozess nahm teilweise operettenhafte Züge an. Seine Frau Emmanuelle Tredez schilderte ihn als liebevollen Mann und wies sich selbst die Verantwortung für die Tat zu: „Je suis très consciente de mes responsabilités. J’ai quitté mon mari pour être libre et par amour de Patrice Guichard. Je n’ai pas compris le mal que je lui faisais. Je ne voudrais pas qu’il soit jugé de mes torts qui m’incombent. Au départ j’étais folle de douleur. J’ai dit trop de choses qui ne regardent que ma vie privée. Patrice est mort parce qu’il y avait un désespoir quelque part. Je ne suis pas coupable, mais j’ai des responsabilités.“335 Hierüber verwundert wies der Vorsitzende CA Aix-en-Provence 5. Dezember 2003, AZ: 89 / 03 (unveröffentlichte Entscheidung). „Es ist kein Zeichen der Liebe, es ist keine emotionale Notwehr [ . . . ]. Es ist ein Skandal. Wie kann man sich zum Richter aufwerfen und ein unschuldiges Opfer ermoden?“, Le Monde vom 7. 12. 2003. 330 CA Paris 17. Januar 2003, AZ: 02 / 0084 (unveröffentlichte Entscheidung). 331 Pereira, Crime passionnel au fusil-harpon, Le Monde vom 18. 1. 2003. 332 Le Monde vom 19. Januar 2003. 333 CA Nord 22. Juni 2000, AZ: A60 / 2000 (unveröffentlichte Entscheidung). 334 Le Monde vom 24. Juni 2000. 335 „Ich bin mit meiner Verantwortung sehr bewusst. Ich habe meinen Ehemann aus dem Wunsch, frei zu sein, und aus Liebe zu Patrice Guinchard verlassen. Ich habe nicht verstanden, dass ich ihm damit wehgetan habe. Ich wünsche nicht, dass er für meine Fehler verurteilt wird, die zu meinen Lasten gehen. Anfangs war ich verrückt vor Schmerz. Ich habe zuviel Dinge gesagt, die nur mein Privatleben betreffen. Patrice ist tot, weil es irgendwo Verzweiflung gab. Ich bin nicht schuld, aber ich trage Verantwortung.“ 328 329
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der Cour d’assises darauf hin, dass immerhin jemand gestorben sei und ob dies für die Zeugin nichts bedeute. Doch Emanuelle Tredez beharrte fest auf ihrem Standpunkt. Sie werde bei ihrem Ehemann bleiben: „C’est un coup de folie qu’il a commis pour moi. J’ai choisi de ne pas divorcer et ce n’est pas un désaveu de mon amour pour Patrice.“336 Streng reagierten die Geschworenen aber im Fall von Simone Weber. Sie wurde am 28. Februar 1991 wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwanzig Jahren verurteilt.337 Die von ihr eingelegte Revision blieb erfolglos. Die Staatsanwaltschaft forderte lebenslange Freiheitsstrafe und darüber hinaus achtzehn Jahre Sicherungsverwahrung. Simone Weber wurde vorgeworfen, ihren früheren Geliebten getötet und ihren zweiten Ehemann vergiftet zu haben. In der Presse wurde sie „la diabolique de Nancy“ und auch „la reine de la réplique“ genannt, weil sie in ihrer Aussage oftmals Philosophen und Politiker zitierte und damit ihre geistige Überlegenheit verdeutlichen wollte.338 Damit schuf sie eine Distanz zu den Geschworenen, die sich nicht mehr mit ihr identifizieren konnten. Bemerkenswert ist schließlich auch die schwurgerichtliche Strenge gegenüber Eric Bevalot. Er wurde am 27. September 2002 wegen Totschlags an seiner Frau Pia Bevalot zu zwanzig Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Die Richter folgten dem Antrag der Staatsanwaltschaft, verneinten jedoch im Gegensatz zu dieser das Vorliegen einer vorbedachten Tötung. Bevalot schlug auf seine Frau viermal mit einem Beil ein, weil er vermutete, sie sei ihm untreu und wolle ihn verlassen. Während des Prozesses stellte sich Eric Bevalot als guten Vater und Ehemann dar, der seine Frau innig liebte. Damit hätte er möglicherweise auch Erfolg gehabt. Eine Freundin des Opfers übergab dem Gericht aber einen ausführlichen Bericht von Pia Bevalot, den sie für ihr Scheidungsverfahren vorbereitet hatte. In diesem Bericht schilderte die Ehefrau des Angeklagten ihren Mann als am Familienleben desinteressiert, konsumbegeistert, verlogen und untreu dar.339 Es kam so heraus, dass Bevalot sich eines Tages mit Gonorrhoe infiziert hatte. Bevalots Erklärung, seiner Frau nie untreu gewesen zu sein, begegnete die Staatsanwaltschaft mit der Frage, wie er sich dann seine Gonorrhoeinfektion erkläre; eine solche Infektion setze Untreue voraus. Erst darauf gab Bevalot seine Untreue sowie seine Vater336 „Er hat für mich eine wahnsinnige Tat begangen. Ich habe mich gegen eine Scheidung entschieden, und dies ist keine Verleugnung meiner Liebe zu Patrice.“, Cherruau, Le crime passionnel d’Alain Tredez, ancien vice-président du conseil régional du Nord-Pas-de-Calais, Le Monde vom 23. 6. 2000. 337 CA Meurthe-et-Moselle 28. Februar 1991, AZ: 805 / 91 (unveröffentlichte Entscheidung). 338 Peyrot, La réclusion criminelle à perpétuité avec une période de sûreté de dix-huit ans demandée pour Simone Weber: Un réquisitoire sans faiblesse ni passion, Le Monde vom 28. 2. 1991; Labé, La „diabolique de Nancy“ condamnée à vingt ans, Le Monde vom 12. 8. 2006. 339 Pereira, Un pilote jugé pour crime passionnel à la hachette, Le Monde vom 27. 9. 2002.
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schaft zweier Kinder in Brasilien zu.340 Bemerkenswert ist dies vor allem, weil auf diese Weise die Opferperspektive fast unmittelbar berücksichtigt werden und der Darstellung der Tat als „Crime passionnel“ durch den Angeklagten eine andere Version entgegengesetzt werden konnte. Die Opferperspektive findet bei den meisten Prozessen vergleichsweise wenig Widerhall, was den Angeklagten erleichtert, sich selbst als korrekten, liebevollen Menschen darzustellen. Sicherlich waren die Darstellungen der Ehe und des Angeklagten durch das Opfer neben der Brutalität des Tötens mit vier Beilhieben ein zentrales Moment für die schwurgerichtliche Strenge gegenüber Bevalot. Nach Ansicht der Staatsanwältin handelte es sich bei dem Totschlag nicht um ein „Crime passionnel“, sondern um ein „Crime domestique déguisé“ (getarntes häusliches Verbrechen). Keine Frustration könne ein solch „rohes und barbarisches Verhalten“ rechtfertigen.341 Die gewählten Beispiele sind nicht die Ausnahme. Sie veranschaulichen, dass Schwurgerichte bei der Entscheidung über das Strafmaß relativ milde Strafen wählen, wenn sie sich mit dem Täter identifizieren und die Tat nachvollziehen können. Hierfür ist auch entscheidend, dass die Tat nicht auf allzu brutale Weise begangen wurde. Hat der Täter eine fremdkulturelle Prägung, wie im Fall von Henri Canovas, wirkt sich das zunächst weder negativ noch positiv für das Strafmaß aus. Hier kommt es darauf an, ob die kulturellen Vorstellungen des Täters sich grundlegend von denen der französischen Kultur unterscheiden oder ob es eine Schnittmenge gibt, die eine Identifikation mit dem Täter gestattet. Im Fall Canovas traten die streng patriarchalischen Vorstellungen des Täters hinter das Konzept großväterlicher Liebe und Sorge zurück. Hiermit konnten sich die Geschworenen auch identifizieren. Bei „Ehrenmorden“ wird ähnlich zu differenzieren sein. Maßgeblich ist auch hier die Frage nach der Möglichkeit einer Identifikation der Geschworenen mit dem Angeklagten. Hat der Angeklagten den „Ehrenmord“ auf besonders brutale Weise begangen oder stehen hinter dem konkreten „Ehrenmord“ für einen Franzosen schwer oder nicht nachvollziehbare Vorstellungen, wird die Strafe vergleichsweise streng ausfallen. Ob aber alle potentiellen Täter eines „Ehrenmordes“ gleichermaßen eine milde Strafe erwarten können, ob also die von einem Vater begangene Tat ebenso bewertet würde wie die des Bruders, Onkels oder des Ehemanns, lässt sich schwer beurteilen. Überhaupt vermittelt der Anhaltspunkt der Nachvollziehbarkeit der Tat eben nur eine vage Vorstellung davon, welche Taten im Allgemeinen milde bestraft werden. Nicht allein deshalb wäre ein Einschreiten des Gesetzgebers wünschenswert.
340
Pereira, Un pilote jugé pour crime passionnel à la hachette, Le Monde vom 27. 9.
2002. 341 Pereira, Vingt ans de réclusion criminelle pour l’ancien pilote accusé du meurtre de sa femme, Le Monde vom 29. 9. 2002.
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cc) Legislativer Handlungsbedarf zur strafrechtlichen Absicherung sexueller Gleichstellung Wer in „Crimes passionnels“ einmalige „Ausrutscher“ sieht, der wird keinen gesetzlichen Handlungsbedarf erkennen. Für ihn würde eine harte Bestrafung des Täters wenig sinnvoll erscheinen, so dass die derzeitige Rechtslage ihn zufrieden stellen dürfte. Richtigerweise ist in ihnen demgegenüber ein sozialschädliches Muster zu sehen, ein Bild von Menschen als exklusive Besitzobjekte, deren Treue notfalls mit schwerster Gewalt erzwungen oder sanktioniert werden kann. Der Täter eines „Crime passionnel“ ist eben nicht „normal“. Dies sollte auch das Recht im Interesse partnerschaftlicher Gewaltprävention berücksichtigen. Zudem wäre eine ausdrückliche Regelung auch im Interesse der Täter, die nach derzeit geltendem Recht nur schwer die sie erwartende Strafe abschätzen können. Ferner würde eine solche Regelung zur Absicherung geschlechtsneutraler Bestrafung von Tätern eines „Crime passionnel“ beitragen. Sinnvoll ist dies auch dann, wenn der französische Gesetzgeber eine milde Bestrafung von „Crimes passionnels“ begrüßt. Denn da der Begriff auf ungeschriebene und damit auch diffuse kulturelle Vorstellungen Bezug nimmt, ist nicht sichergestellt, dass diese Vorstellungen in geschlechtsneutraler Weise Einfluss auf die Wahl des Strafmaßes nehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch die Bevölkerung, die über die Institution der Geschworenen an der rechtsprechenden Gewalt in Frankreich mitwirkt, die Taten je nach Geschlecht ihres Urhebers beurteilt, weil sie die einschlägige Berichterstattung zu vergleichbaren Fällen verfolgt hat. Umso dringender erscheint eine positivrechtliche Definition des Begriffs des „Crime passionnel“ und seiner Voraussetzungen für eine Strafmilderung, sofern der französische Gesetzgeber es mit seinem Anliegen der Vermeidung geschlechtsbezogener Ungleichbehandlung ernst meint. Fraglich ist indes, ob die Rechtsklarheit auch tatsächlich einen merklichen Beitrag zur geschlechtsneutralen Prävention und Repression von „Crimes passionnels“ zu leisten vermag. Wie bereits festgestellt ist gerade beim Geschworenensystem das Risiko der Unterminierung legislativer Wertungen hoch, die den sozialen Anschauungen zuwiderlaufen oder diese nicht vollkommen wiedergeben. In der Tat treten die Schwächen des französischen Geschworenensystems bei der Bestrafung von „Crimes passionnels“ ausgesprochen deutlich zutage, was die Frage aufwirft, ob dieses dem Common Law entstammende Gremium in einem kontinentaleuropäischen Rechtskreis wie Frankreich überhaupt sinnvoll erscheint.342 Wenn die Höhe der Strafe offenbar davon abhängt, inwieweit der Täter noch als „Durchschnittsmensch“ angesehen werden kann, dann steht dieser Bewertungsmaßstab 342 Zu den Gemeinsamkeiten und den Unterschieden zwischen dem Vorbild der französischen Jury im britischen Common Law und dem französischen Geschworenensystem siehe Gerding, Trial by Jury. Die Bewährung des englischen und des US-amerikanischen Jury-Systems. Eine Idee im verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Wandel, S. 114 ff.
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dem Maßstab des „reasonable man“ aus dem Common Law näher als den Wertungen des französischen Gesetzgebers. Zudem bestand die Hauptursache für die Einführung des Geschworenensystems in Frankreich im Misstrauen gegenüber der Gesetzestreue von Berufsrichtern des Ancien Régime. Wenn aber berechtigte Zweifel daran bestehen, dass nunmehr die Geschworenen vom Gesetz abweichen, scheint es zunächst an der Zeit, über ihre Abschaffung nachzudenken. Ohne über Details der Frage nach dem Sinn einer Laienbeteiligung an der Strafjustiz nachsinnen zu wollen, stellt sich durchaus die Frage, wie Geschworene das zunehmend komplexere Recht im Sinne seines Urhebers anwenden sollen, wenn sie ihre Entscheidung nach schlichter Lektüre der einschlägigen Normen treffen, ohne die systematischen Zusammenhänge zu erfassen und die notwendigen Auslegungstechniken zu kennen, wenn sie ihre Entscheidung primär an ihrer persönlichen Überzeugung festmachen müssen. Während der Gesetzgeber schwerste Gewalt innerhalb von und nach Beziehungen neuerdings mit besonderen Strafschärfungsgründen bekämpfen will, kann diese Maßnahme fehlschlagen, sobald sich Geschworene hiervon nicht beeindrucken lassen, weil sie mit dem Angeklagten mitfühlen. Andererseits scheint das Hauptproblem weniger im Geschworenensystem an sich zu liegen. Immerhin sprechen Geschworene Täter eines „Crime passionnel“ nicht mehr frei oder verhängen so geringe Strafen, dass sie nicht mehr ins Gewicht fallen. Auch wenn französische Schwurgerichte mitunter Mitgefühl für Täter eines „Crime passionnel“ zum Anlass für vergleichsweise milde Strafen nehmen, nimmt die Sensibilität der Geschworenen für die Gefahren häuslicher Gewalt offenbar zu, auch wenn die Strafen in Einzelfällen immer noch vergleichsweise milde sein mögen. Das eigentliche Problem scheint unterdessen vielmehr in dem Fehlen von Mindeststrafandrohungen im französischen Strafgesetzbuch zu liegen. Will der Gesetzgeber mit der Einführung von Strafschärfungsgründen effektiv dafür sorgen, dass bestimmte Straftaten unter Partnern einer Beziehung härter bestraft werden als sonst, so kann er dieses Ziel wohl nur dann erreichen, wenn er zumindest in diesen Strafschärfungsvorschriften eine erhöhte Mindeststrafe androht. Denn andernfalls laufen seine Maßnahmen Gefahr, dort wirkungslos zu werden, wo sie auf konservativen Widerstand der Geschworenen stoßen. Die Einführung von Mindeststrafen in den Strafschärfungsgründen würde dann in dem sensiblen Bereich häuslicher Gewalt Sorge dafür tragen, dass das Konzept vom „Crime passionnel“ dem Täter die milde Strafe verschafft, welche der Gesetzgeber gerade verhindern wollte.
3. Folgen für die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ Bis zur Scheidungsrechtsreform von 1975 können die Vorstellungen von Ehre und Scham auch im positiven Recht in Frankreich nachgewiesen werden. Die ge-
II. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ im franzo¨sischen Strafrecht
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schlechtsspezifische Rollenverteilung innerhalb der Ehe drückte sich im Bereich des Strafrechts in der unterschiedlich intensiven Repression ehelicher Untreue aus, bei welcher der Gesetzgeber das männliche Geschlecht durch höhere Strafbarkeitsvoraussetzungen besser stellte als das weibliche. Diese Diskriminierung setzte sich im Bereich der strafrechtlichen Repression von Tötungen des Ehepartners fort, indem das Tötungsprivileg allein dem Ehemann zugesprochen wurde. Freilich erlaubt dieses Tötungsprivileg des Code pénal von 1810 kein strafloses Töten der beim Ehebruch betroffenen Ehefrau, wohl aber eine erhebliche Strafmilderung. Bemerkenswerterweise ist der Code pénal von 1810 maßgeblich unter der Leitung von zwei Männern aus dem eher ländlichen Mittelmeerraum entstanden. Napoléon Bonaparte war bekanntlich Korse, und sein Stellvertreter, der Erzkanzler des Reichs Jean-Jacques-Régis de Cambacérès wuchs in Montpellier auf. Möglicherweise ist die Herkunft dieser beiden Männer ein Faktor für die diskriminierende Ausgestaltung der strafrechtlichen Vorschriften mit Sexualitätsbezug. Die Entstehungszeit des Code pénal war es wohl eher nicht. Denn der Wunsch des Erzkanzlers des Reichs, erhöhte Anforderungen an die Ehebruchsstrafbarkeit von Männern zu stellen, wurde nicht von allen Mitgliedern des Conseil d’Etat kritiklos hingenommen. Der Graf Treilhard etwa argumentierte zugunsten gleicher Voraussetzungen für die Strafbarkeit von Mann und Frau.343 Dies gilt umso mehr, als das kanonische Recht Ehebrüche geschlechtsneutral verurteilte und die Anerkennung eines Tötungsrechts gänzlich ablehnte. Unter dem Code pénal von 1810 wären einige „Ehrenmorde“ von Gesetzes wegen privilegiert gewesen. Berücksichtigt man zudem die Umgehung der Tatbestandsanforderungen des Code pénal an die hier maßgebliche Strafmilderung in Art. 324 Abs. 2 CPI im Wege schwurgerichtlicher Entscheidungen, hätten Täter eines „Ehrenmordes“ damals oft mit äußerst milden Strafen, unter Umständen sogar mit Freisprüchen rechnen können. Dies gilt jedenfalls für diejenigen „Ehrenmorde“, bei denen der Täter seine (frühere) Partnerin tötet. Im Übrigen gab es keine Privilegierung für die Tötung etwa der ehebrecherischen Schwester, und es finden sich auch keine Überlieferungen, dass diese Tötung auf allgemeine Billigung stieß. Hier ist unklar, ob der Täter eines solchen „Ehrenmordes“ milde bestraft oder freigesprochen worden wäre. Seit der Scheidungsrechtsreform hat sich viel geändert. Der Ehebruch ist straflos und kein im Gesetz ausdrücklich genannter Anknüpfungspunkt mehr für eine milde Bestrafung der Tötung des untreuen Ehepartners. So wenig es strafrechtliche Sondervorschriften für „Crimes passionnels“ gibt, so wenig gibt es Vorschriften zur Bestrafung von „Ehrenmorden“. Beide müssten wie alle anderen Tötungsdelikte bestraft werden. Bis zum Inkrafttreten des neuen Code pénal von 1994 wird dies auch der Fall gewesen sein, da eine Strafmilderung nur dann gewährt werden konnte, wenn das Gesetz dies auch ausdrücklich vorsah. Da der neue Code pénal aber ausschließlich Höchststrafen kennt, wären gesetzlich festgelegte Strafmil343
Locré, Bd. 30, S. 396.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
derungsgründe überflüssig, zumal Richter ohnehin großzügig mildern können. Die Richter nutzen die ihnen gewährte Freiheit auch tatsächlich und bestrafen Täter eines „Crime passionnel“ vergleichsweise milde, was auch im Fall von „Ehrenmorden“ möglich ist. Hieran wird auch das Gesetz vom 4. April 2006 aller Wahrscheinlichkeit nach nichts ändern, weil mit der hier vorgesehenen Möglichkeit einer Strafschärfung nicht zugleich auch ein Mindeststrafrahmen für die betroffenen Delikte eingeführt wurde. Das Fehlen einer Mindeststrafe und die weit verbreitete Vorstellung vom „Crime passionnel“ als kaum sozialschädlicher Tat bewirken gemeinsam, dass die Täter eines „Crime passionnel“ mit vergleichsweise milden Strafen rechnen können, solange sich ihre Tat noch in bestimmten Grenzen hält. Ähnliches wird für viele „Ehrenmorde“ gelten. Am höchsten stehen die Chancen für eine geringe Strafe, wenn die Tat spontan sowie nicht zu brutal begangen wurde. Die Tatmotive müssen zudem vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet nachvollziehbar erscheinen, und der Täter muss vor Gericht ein makelloses Bild von sich abgeben. Es kommt entscheidend darauf an, ob man seine Tat nachvollziehen kann. Ob man die französische Lösung gutheißt oder nicht, hängt letztlich davon ab, ob man „Crimes passionnels“ und „Ehrenmorde“ als Privatangelegenheit ansieht oder nicht. Wer in diesen Kriminalitätsformen eine höchst sozialschädliche und entsprechend zu missbilligende Erscheinungsart partnerschaftlicher Konfliktsbewältigung sieht, wird sich auch in Frankreich heute in guter Gesellschaft befinden. Die Politik nimmt sich bereits seit 2004 der Bekämpfung häuslicher Gewalt als besonderem Schwerpunkt an. Dass sie aber nur einige Strafschärfungsgründe, darunter einen für Totschläge, einführte und nicht weiter ging, ist angesichts der zu erwartenden Wirkungslosigkeit derartiger Maßnahmen in einem Strafrecht ohne Mindeststrafe geradezu empörend. Ist dem französischen Gesetzgeber ernsthaft an einer Bekämpfung schwerster Formen häuslicher Gewalt gelegen, scheint eine Wiedereinführung von Mindeststrafen jedenfalls im Anwendungsbereich der Strafschärfungsgründe zur Bekämpfung häuslicher Gewalt unbedingt geboten.
III. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ im türkischen Recht Die Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 stellt sich als Ergebnis des Sieges der Reformisten über die Besatzungsmächte einerseits, aber auch über die islamischen Konservativen dar. Dementsprechend wurden zügig Reformen eingeleitet, die zum Großteil beachtliche Fortschritte für die Stellung der Frau realisierten. Was etwa das Familienrecht im türkischen Zivilgesetzbuch344 anbelangt, ist 344 Das türkische Zivilgesetzbuch (ZGB) trat am 4. 10. 1926 mit einer Übersetzung der französischen Fassung des schweizerischen ZGB in Kraft, Gesetz Nr. 743, Resmî Gazete Nr. 339 vom 4. 4. 1926.
III. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ im tu¨rkischen Recht
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die Fortschrittlichkeit gerade hinsichtlich der Frauenrechte beachtlich. Die Polygamie wurde abgeschafft, Frauen wurden im Scheidungs-, Kindersorge- und im Erbrecht gleichberechtigt. 1930 wurde Frauen schließlich das aktive und 1934 das passive Wahlrecht zuerkannt – noch vor Frankreich, Belgien und Italien. Weder das türkische Zivilrecht noch das türkische Strafrecht machen im Fall eines Ehebruchs einen Unterschied zwischen dem Ehemann oder der Ehefrau. Seit Juni 1998 stellen sowohl der Ehebruch durch den Ehemann als auch durch die Ehefrau keine Straftat mehr dar.345 Im Falle eines nachgewiesenen Ehebruchs, kann der andere Ehepartner die Scheidung einreichen und Schadensersatz verlangen, wobei der Nachweis dem Freibeweis unterliegt.346 Dennoch stellen außereheliche Beziehungen für viele ostanatolische Frauen ein Tabu dar, während die Beziehungen der dort ansässigen Männer weitgehend akzeptiert oder durch die traditionell dort noch verbreitete Polygamie jedenfalls sozial legalisiert sind. 66,6% der türkischen Frauen sind der Überzeugung, sich nicht von einem untreuen Ehemann scheiden lassen zu können, obgleich das Recht ihnen diese Möglichkeit gibt.347 Demgegenüber behaupten Teile der vor allem in Ostanatolien lebenden oder von dort stammenden Menschen, „unsittliches“ Verhalten von Frauen mit ihrer Tötung sanktionieren zu können. In der Tat trug eine türkische Strafnorm bis vor kurzem dieser Vorstellung Rechnung, wenngleich der Begriff „Ehrenmord“ dort nicht ausdrücklich genannt wurde. Danach stellte der außereheliche Geschlechtsverkehr eines nahen Verwandten, der nicht zwingend der Ehepartner sein musste, eine Provokation dar, die eine erhebliche Strafmilderung begründete. Insbesondere die seit den 1990er Jahren kontinuierlich wachsende Aufmerksamkeit der türkischen Öffentlichkeit für „Ehrenmorde“ im Zuge vermehrter Berichterstattung in den Medien sowie zunehmender Buchpublikationen348 führte zu Kritik an der Vorschrift. Die Kritik rührte einerseits von Nichtregierungsorganisationen wie etwa der 1997 gegründeten Frauenrechtsorganisation Ka-Mer.349 Auch Wissenschaftler warfen ihretwegen der Türkei eine schwere Missachtung von Frauenrechten vor.350 345 Bis 1996 kannte das türkische StGB den Tatbestand des Ehebruchs und unterschied diesbezüglich zwischen Ehebrüchen durch Männer und durch Frauen. Die Artikel betreffend des Ehebruchs wurden in einer Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtshofs für nichtig erklärt, da die geschlechtsspezifische Unterscheidung der rechtlichen Behandlung eines Ehebruchs gegen Art. 10 der türkischen Verfassung verstießen, der die rechtliche Gleichbehandlung von Mann und Frau gebietet. 346 Art. 129 und 143 des türkischen ZGB. 347 Ilkkaracan, Islam and Women’s Sexuality: A Research Report from Turkey, S. 9. Die Zahl beruht auf einer Befragung von 599 Frauen durch die Frauenrechtsorganisation Women for Women’s Rights in der östlichen Türkei. 348 Faraç, Töre KÖ skacÖnda KadÖn; Halis, Batman’da KadÖnlar Ölüyor; Halimi, Hapsedilmis¸ KadÖn; Arat, Türkiye’de KadÖn Olmak; Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri. 349 http: //www.kamer.org.tr. 350 Ilkkaracan, Islam and Women’s Sexuality: A Research Report from Turkey, S. 10.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Die Europäische Kommission sah sich sogar veranlasst, die Türkei im Rahmen der alljährlichen Fortschrittsberichte in Bezug auf die angestrebte EU-Mitgliedschaft zur Abschaffung dieser Vorschrift aufzufordern.351 Dies ist auf den ersten Blick erstaunlich, da die Norm sowohl männliche als auch weibliche Täter privilegierte. Das Gesetz machte hiervon jedoch eine Ausnahme, indem es die Tötung einer Frau durch ihren Bruder milde bestrafte, der Schwester aber im umgekehrten Fall eine Strafmilderung verwehrte. Zudem kamen fast ausschließlich Männer in den Genuss der Privilegierung, da durch Frauen begangene „Ehrenmorde“ eine Seltenheit, „Ehrenmorde“ durch Männer dagegen die Regel sind. Mit der Zeit mehrten sich die Stimmen, die eine Abschaffung von Art. 462 des türkischen Strafgesetzbuchs forderten, so dass mehrfach Vorschläge für eine entsprechende Reform in die türkische Nationalversammlung eingebracht wurden. Aufgrund häufiger Regierungswechsel in kürzester Zeit sowie wirtschaftlicher oder sicherheitspolitischer Krisen wurden diese Vorschläge jedoch nie intensiv debattiert oder gar angenommen. Der entscheidende Impuls zur Abschaffung der Vorschrift kam somit aus Brüssel, wo die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ als Maßstab für die Achtung von Frauenrechten und damit der Beitrittsreife eines Landes gewertet wurde. Die Türkei kam den Forderungen seitens der Europäischen Union jedoch nicht allein mit der Abschaffung der gewährten Privilegierungsvorschrift nach. Sie schuf im Rahmen einer umfassenden Strafrechtsreform aus dem Jahr 2005 einen eigenen Qualifizierungstatbestand für Tötungen aus Gründen der Tradition, worunter auch „Ehrenmorde“ fallen können. Hiernach können „Ehrenmorde“ nunmehr mit der Höchststrafe bestraft werden. Des Weiteren wurde das Ausmaß häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Türkei im Rahmen eines parlamentarischen ad-hoc-Ausschusses untersucht und hierzu verschiedene Wissenschaftler, Interessengruppen sowie Vertreter der Medien befragt. Der vom Ausschuss vorgelegte Bericht enthält praktische Empfehlungen zur Verhütung häuslicher Gewalt. Schließlich erging im Mai 2005 ein Rundschreiben des Ministerpräsidenten, in dem er die Priorität der Bekämpfung häuslicher Gewalt betonte und die hierzu erforderlichen Maßnahmen sowie zuständigen staatlichen Stellen aufführte.352 Nicht unerwähnt bleiben soll zuletzt ein Kooperationsprojekt von Politik und Medien; seit Oktober 2004 führt die Tageszeitung Hürriyet in Kooperation mit der Stiftung für moderne Erziehung (Çagdas¸; Egitim Vakf ) sowie dem Gouverneur von Istanbul eine Kampagne gegen häusliche Gewalt durch.353 351 In den Fortschrittsberichten taucht der Begriff „Ehrenmord“ erstmals im Jahr 2000 auf. Wurden „Ehrenmorde“ im Bericht des Jahres 2000 jedoch bloß am Rande erwähnt, spricht die Kommission in ihrem Bericht aus dem Jahr 2001 erstmals den rechtlichen Rahmen für die strafrechtliche Repression von „Ehrenmorden“ in der Türkei an: „Die rechtlichen Bestimmungen, die bei solchen Verbrechen eine Verminderung des Strafmaßes erlauben, sind weiterhin gültig.“, Europäische Kommission, Regelmäßiger Bericht über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt, 2001, Brüssel, S. 31. 352 Resmî Gazete vom 4. Juli 2006 Nr. 26218.
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Doch auch nach diesen Maßnahmen äußerte die Kommission Kritik an der Bekämpfung der „Ehrenmord“-Kriminalität in der Türkei: „Der Rechtsrahmen in diesem Bereich ist insgesamt zufrieden stellend, allerdings ist die Umsetzung nach wie vor problematisch. [ . . . ] Obwohl Ehrenmorde gemäß den neuen strafrechtlichen Bestimmungen als Mord in besonders schwerem Fall gelten, sind die Gerichtsurteile in solchen Fällen nicht einheitlich. Während in einigen Fällen die Höchststrafe (lebenslängliche Haft) verhängt wurde, erhielten andere, insbesondere minderjährige Täter, wesentlich mildere Strafen.“354
Damit stellt sich die Frage nach den Ursachen für die uneinheitliche Anwendung der Vorschrift in der Türkei. Zu deren Identifizierung reicht eine Kenntnis des derzeitigen Rechtsrahmens nicht, da die neuen strafrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung von „Ehrenmorden“ sich nur vor dem Hintergrund der früheren Rechtslage verstehen lassen. Zur angemessenen Würdigung der neuen Regelungen wird vorab die strafrechtliche Behandlung in der türkischen Rechtsgeschichte dargestellt.
1. Strafrechtliche Milde gegenüber „Ehrenmördern“ von frühosmanischer Zeit bis in die jüngste Vergangenheit Die rechtliche Milde gegenüber Tätern von „Ehrenmorden“ lässt sich bis in die frühe türkische Rechtsgeschichte zurückverfolgen. Eine milde Bestrafung oder sogar Straflosigkeit konnte der Täter bereits im Osmanischen Reich erwarten, das von 1299 bis zur Ausrufung der türkischen Republik am 29. Oktober 1923 währte. Auch nach der Ausrufung der Republik sah das Recht eine milde Bestrafung von „Ehrenmorden“ vor. Der bereits im späten Osmanischen Reich begonnene und von der türkischen Republik vertiefte Verwestlichungsprozess wirkte sich nicht dahingehend aus, dass „Ehrenmörder“ streng bestraft wurden. Denn die rezipierten Strafgesetzbücher aus dem christlichen Europa enthielten ihrerseits Vorschriften, welche eine vergleichsweise milde Bestrafung für Männer vorsahen, welche beim Ehebruch betroffene weibliche Verwandte töteten.
353 Durch das Engagement der Zeitung Hürriyet erreicht die Kampagne weite Teile der Bevölkerung. Die Zeitung ist mit einer Auflage von über einer halben Million eine der drei auflagenstärksten Tageszeitungen der Türkei. Hinzu kommt eine Auflage der europäischen Ausgabe von über 100.000 Exemplaren, die zu 70 % in Deutschland vertrieben werden. Die Kampagne erreicht damit auch türkischstämmige Familien in Deutschland. 354 Europäische Kommission, Türkei Fortschrittsbericht 2006, S. 19. Auch in ihrem Fortschrittsbericht aus dem Jahr 2008 begrüßt die Kommission die bisher getroffenen Maßnahmen, fordert die Türkei aber zugleich zu einer effektiveren Umsetzung dieser Maßnahmen angesichts steigender Zahlen von „Ehrenmorden“ in der Türkei auf, Fortschrittsbericht 2008, S. 20.
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a) Osmanisches Strafrecht Das Osmanische Reich als theokratisches Gemeinwesen stützte sein Strafrecht bis in das 19. Jahrhundert hinein im Wesentlichen allein auf das islamische Recht der Scharia,355 demzufolge der Täter eines Totschlags allein von den Angehörigen des Opfers angeklagt werden konnte. Verziehen die Angehörigen dem Täter, kam es zu keinem Gerichtsverfahren,356 so dass jedenfalls der entsprechend einem Familienratsbeschluss handelnde Täter eines „Ehrenmordes“ damit rechnen konnte, dass seine Tat strafrechtlich folgenlos für ihn bleiben würde. Daneben kannten die Osmanen von jeher auch ein Strafrecht weltlichen Ursprungs, das „Örfî Hukuk“. Denn die Scharia vermag für sich genommen wegen ihrer Unvollständigkeit wenig zu effizienter Kriminalitätsbekämpfung beizutragen. Für viele Delikte existieren nicht einmal Vorschriften. Zudem sind die Beweisregeln so streng, dass einige Delikte nicht wirksam bestraft werden können. Daher waren islamische Gemeinwesen seit je bemüht, die Lücken der Scharia im Bereich des Strafrechts mit ungeschriebenen wie geschriebenen säkularen Vorschriften zu ergänzen.357 Um Widersprüche zwischen säkulär-gewohnheitsrechtlichen und religiösen Strafnormen zu überwinden, haben osmanische Sultane verständliche und detaillierte Strafgesetzbücher und Strafprozessordnungen in Form von Gesetzbüchern („Kanunname“) im Einklang mit der Scharia erlassen.358 Dieses Vorgehen war zu jener Zeit in der islamischen Welt einzigartig, deren säkulares Strafrecht sich damals in anderen Ländern auf Gewohnheitsrecht beschränkte.359 Diese Ge355 An dieser Stelle sei aus praktischen Gründen nur am Rande erwähnt, dass das Recht der Scharia dem Grundsatz nach allein dann galt, wenn eine Streitpartei muslimischen Glaubens war. Streitigkeiten sogenannter „Zimmis“ (Andersgläubige) unterfielen eigenen Strafgerichten, welche gemäß dem jeweils eigenen Strafrecht entschieden. Wahlweise konnten Zimmis den Streit aber auch von einem islamischen Strafgericht entscheiden lassen. Näher hierzu bei Ayd n, Türk Hukuk Tarihi, S. 153 ff.; Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, S. 246; Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 182 f. 356 Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 219; Udeh, Mukayeseli Islâm Hukuku ve Bes ¸eri Hukuk, Bd. I, S. 320 ff.; Ayd n, Türk Hukuk Tarihi, S. 194 f. 357 Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 1. 358 Das älteste, uns überlieferte Gesetzbuch entstand unter der Regentschaft von Sultan Mehmet II., wohl kurz nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453. Eingehend zur Kodifizierung von Rechtsnormen im Osmanischen Reich siehe Inalc k, Türk Devletlerinde Devlet Kanunu Gelenegi, 27 ff. 359 Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 2. Hier ging es vor allem darum, die scheriatsrechtlichen Vorschriften des Islam praxisnah zu ergänzen. Dabei kam es aber oftmals zu Widersprüchen mit den Vorschriften der Scharia. Es wurde etwa oftmals die Beweisführung erheblich erleichtert oder vom Strafzumessungsrecht abgewichen. Nichtsdestoweniger kann davon ausgegangen werden, dass die osmanischen Gesetzbücher bindendes Recht im Osmanischen Reich darstellten und mit islamischem Recht vereinbar waren, zumal im Koran neben die Gehorsamspflicht gegenüber Gott und dem Propheten die Gehorsamspflicht gegenüber weltlichen Autoritäten gestellt wird, Sure 4, Vers 59.
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setzbücher galten zwar formell nur für die Dauer der Regentschaft des sie jeweils erlassenden Sultans, jedoch wurden sie in der Praxis oftmals durch die nachfolgenden Sultane bestätigt, solange sich die politischen und sozio-ökonomischen Umstände im Reich nicht grundlegend verändert hatten. Diese Praxis war umso sinnvoller, als die osmanischen Gesetzbücher nicht neues Recht setzen, sondern insbesondere Bräuche und den Willen des Sultans (Örf) klarstellten sowie bereits entschiedene Präzedenzfälle in Form einer allgemeinen Vorschrift formulierten und auf diese Weise bestätigen sollten.360 Mit den Gesetzbüchern wurde für den damaligen Rechtsanwender verbindliches Recht gesetzt.361 Gleichwohl sollte und durfte – jedenfalls theoretisch362 – nicht das islamische Recht außer Kraft gesetzt oder diesem widersprochen, sondern es durften nur seine Lücken durch religiös indifferente Bestimmungen ausgefüllt werden.363 Nach Auffassung der islamischen Rechtsgelehrten wäre der Erlass einer scheriatsrechtswidrigen Vorschrift auch ohne Rücksicht auf soziale Veränderungen unzulässig gewesen.364 Außerdem äußerten sich islamische Gelehrte in Form von Fetvas (islamischrechtliche Gutachten) zu Strafbarkeitsfragen und ergänzten so das geschriebene Recht. Überlieferte Fetvas von S¸eyhülislams erklären „Ehrenmorde“ für straflos. Dabei sei betont, dass Fetvas nach islamischer Vorstellung zwar an sich keine rechtliche Bindungswirkung genießen, da sie grundsätzlich nur die persönliche Rechtsauffassung eines Moslems ausdrücken können. Demgegenüber besaßen die Fetvas eines jeden S¸eyhülislams im Osmanischen Reich durchaus eine rechtliche Bindungswirkung.365 Sie besaßen diese Wirkung gleichwohl nicht im Einzelfall, sondern nur allgemein. Die Befugnis zur rechtsverbindlichen Entscheidung von Einzelfällen blieb Kad s366 (Richtern) vorbehalten.367 360 Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 172, 174. Vgl. zu der zweitgenannten Funktion beispielhaft Art. 46 des Strafgesetzbuchs von Sultan Süleyman I.: „And in Istanbul a person struck the face of one of his boys in public with a knife and wounded [him]. The Lord Chief Justice investigated [the matter]. When it was proved in accordance with the shari’a that he had struck [the boy], [the case] was submitted to H. M. the Sultan, Asylum of the World. On 3 Receb 908 he ordered that person to e hanged by way of administrative punishment. And in Brusa a large number of softas with their sheikh assaulted night-watchmen and wounded many of them. The Sultan, Asylum of the World, on the said date ordered them to be hanged too by way of administrative punishment.“ 361 Y lmaz / Neumann Periplus 1993, 16 ff. 362 In der Praxis wichen die Kanunnames sehr wohl von einzelnen Vorschriften der Scharia ab, vgl. Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 110. 363 Der S ¸ eyhülislam Ebusuud Efendi fasste diesen Grundsatz in folgende Worte: „Nâ-mes¸rû olan nesneye emr-i sultânî olmaz“, zitiert bei Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 110; vgl. auch Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 20; Selle, Prozessrecht des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich, S. 13; Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, S. 225. 364 Ansay, Das türkische Recht, 441 (442). 365 Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, S. 72, 237 f.; Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 152.
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Als S¸eyhülislam (Scheich des Islams) bezeichnete man den Mufti von Istanbul, der zugleich an der Spitze einer Hierarchie islamischer Rechtsgelehrter stand.368 Der S¸eyhülislam begutachtete die Übereinstimmung von Sachverhalten und staatlichen Rechtsakten mit der Scharia und fixierte diese Gutachten in Form von Fetvas.369 Diese Fetvas wirkten dabei auch rechtschöpferisch, indem sie das bestehende Recht fortentwickelten370 Der Titel und die Aufgaben des S¸eyhülislams verdeutlichen die Absicherung der Konformität osmanischer Staatsgewalt mit den Grundsätzen des Islam und damit die faktische Subordination der kaiserlichen Staatslenkung unter dessen Prinzipien.371 Von den osmanischen Gesetzbüchern werden hier exemplarisch zwei herausragende Strafgesetzbücher aus osmanischer Zeit dargestellt: ein Gesetzbuch aus der Zeit Sultan Süleymans I. (Regentschaft von 1520 bis 1566) und ein Gesetzbuch aus der Regentschaft von Sultan Abdülmecid I. (Regentschaft von 1839 bis 1861).372 Das Strafgesetz Süleymans ist deshalb bemerkenswert, weil sein Umfang den vieler Strafgesetzbücher anderer Sultane übertrifft und bereits das erste von drei Kapiteln der Repression von Delikten mit Sexualitätsbezug gewidmet ist. Das Strafgesetzbuch Abdülmecids I. wiederum ist von Interesse, weil es in der türkischen Geschichte das erste moderne sowie weitgehend säkulare Strafgesetzbuch und zudem eine Annäherung an das moderne europäische Rechtsdenken darstellt. Mit ihm wurde der Code pénal impérial français von 1810 rezipiert. Dabei sollen jedoch die praktischen Probleme einer solchen Untersuchung nicht verschwiegen werden. Ähnlich wie im alten Rom ist auch hier Material schwer 366 Kad s waren Angehörige der Ulema (islamische Geistlichkeit), welche eine besondere islamischrechtliche Ausbildung genossen haben, Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, S. 241 ff. 367 Cin / Akyülmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 152. 368 Mit der Übernahme des Kalifenstatus durch die osmanischen Sultane gewann der S¸eyhülislam seit dem 16. Jahrhundert an Einfluss und verkörperte die Spitze der Ulema, der islamischen Religionsgelehrten. Er wurde rangmäßig dem Großwesir gleichgestellt und verkörperte sogar eine höhere moralische Autorität. Dies drückte sich auch im Protokoll aus. Beim Bayramfest empfing der Sultan nur den S¸eyhülislam stehend und ging einige Schritte auf ihn zu. Bei der Inthronisierung eines Sultans legte der S¸eyhülislam ihm den Schwertgürtel an, Kürs¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 78 f. 369 Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 20. Einen guten Eindruck in die gutachterliche Arbeitsweise des S¸eyhülislams vermittelt Selle, Prozessrecht des 16. Jahrhunderts im Osmanischen Reich, S. 77 f., der die zahlreichen Gutachten Ebussuud Efendis (S¸eyhülislam unter Süleyman dem Prächtigen – 1520 bis 1566) ins Deutsche übersetzt hat. 370 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 4. 371 Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 108. 372 Diesbezüglich ist anzumerken, dass diese Rechtstexte zu einer Zeit entstanden, als die türkische Sprache sich des arabischen Alphabets bediente, so dass wir auf Übersetzungen angewiesen sind.
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greifbar, was konkrete Gerichtsentscheidungen in Einzelfällen angeht. Über die Anwendung der einschlägigen osmanischen Strafvorschriften in realen Einzelfällen können hier also nur wenige Angaben gemacht werden. Was die Rechtswirklichkeit angeht, helfen jedoch die einschlägigen Fetvas von den zeitgenössischen S¸eyhülislams weiter, die mit der Rechtslage nach dem jeweiligen Gesetzbuch zu vergleichen sein wird. aa) Rechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ unter Sultan Süleyman I. Sultan Süleyman I., der Prächtige, erließ am 19. Dezember 1545 ein im Folgenden als Ceza Kanunname-i Sultan Süleyman bezeichnetes Strafgesetzbuch. Es greift Vorschriften älterer kaiserlicher Strafgesetzbücher auf und ergänzt sie durch neue Strafnormen, die in einer kohärenten Systematik redigiert wurden. Zudem stammen viele Begriffe im Ceza Kanunname-i Sultan Süleyman aus dem Arabischen, wohingegen Sultan Süleymans Vorgänger weitgehend türkische Begriffe verwendeten.373 Von insgesamt 126 Artikeln des Strafgesetzbuchs betreffen die 35 ersten Vorschriften Straftaten mit Sexualitätsbezug. Hinsichtlich der strafrechtlichen Einordnung von „Ehrenmorden“ ist hier Art. 13 des Ceza Kanunname-i Sultan Süleyman von Interesse. Gemäß Art. 13 des Strafgesetzbuchs ist ein Strafverfahren gegen den Täter unzulässig, wenn er seine Frau bei unzüchtigem Verhalten mit einem anderen ertappte und beide gemeinsam tötete, solange er unverzüglich andere in sein Haus holte, um die Umstände der Tat zu bezeugen.374 Von diesem Kanunname existieren indessen unterschiedliche Handschriften, deren Anforderungen an eine straflose Tötung von den genannten divergieren. Eine andere Handschrift des Gesetzes ließ es ausreichen, wenn der Täter nur einen an der Unzucht Beteiligten tötete; ihr zufolge war auch die Tötung der eigenen Tochter privilegiert. Auch existiert eine Handschrift, welche ausdrücklich fordert, dass der Täter seine Tötungshandlung auf der Stelle beim Ertappen seiner unzüchtigen Frau vornahm.375 Nach dem Recht der Scharia konnten die Angehörigen eines Tötungsopfers von einer Strafverfolgung absehen. Wurde ein unzüchtiges Mädchen auf Beschluss ihrer Familie getötet, so dürfte diese Familie von einer Strafverfolgung abgesehen haben. Wurde jedoch auch derjenige getötet, mit welchem das Mädchen Unzucht trieb, so bestand die Gefahr einer von der Familie des Mannes initiierten Strafverfolgung. Art. 13 des Strafgesetzbuchs gab dem Täter für diesen Fall die Sicherheit, Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 30 f. „If a person finds his wife somewhere comitting fornication with [another] person [and] kills both of them together – provided he immediately calls people into his house and takes them to witness, the claims of the heirs of those killed shall not be heard [in court].“, Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 98. 375 Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 98 Fn. 2 zu Art. 13. 373 374
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dass ein Antrag ebenjener Familie auf Strafverfolgung kein richterliches Gehör finden durfte. Insofern schützte die Vorschrift Täter eines „Ehrenmordes“ auf noch weitergehende Weise, als dies das Recht der Scharia ohnehin schon tat. Zudem schloss die Vorschrift abweichend vom Recht der Scharia richterliches Gehör völlig aus. Die Vorschrift bezieht sich nur auf einen Bruchteil dessen, was wir heute als „Ehrenmord“ bezeichnen. Privilegiert ist nach Art. 13 allein die Tötung im Falle unzüchtigen Verhaltens der Ehefrau. Was die Tötung anderer weiblicher Verwandter angeht, divergieren die überlieferten Handschriften des Gesetzbuchs. Von diesen ließ nur eine neben der Tötung der eigenen Ehefrau auch die Tötung der Tochter zu. Die Tötung etwa der Schwester oder gar anderer weiblicher Verwandter war jedenfalls keiner überlieferten Handschrift zufolge privilegiert. Dennoch fallen Ähnlichkeiten mit der Lex Iulia auf, da die Tötung in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem tatprovozierenden unzüchtigen Verhalten der Ehefrau stehen und die Tat im eigenen Haus stattgefunden haben musste. Letzteres ergibt sich aus dem Erfordernis, dass der Täter im Anschluss an seine Tat unverzüglich Zeugen in sein Haus rufen musste, was nur dann Sinn macht, wenn die Tötung auch dort begangen wurde. Zudem privilegiert die Vorschrift nur männliche Täter. Insgesamt entsteht bei der Lektüre dieser Vorschrift der Eindruck, dass das Kanunname Süleymans „Ehrenmorde“ nicht als reine Privatangelegenheit wertete, da im Falle des Rufens von Zeugen der Ehekonflikt und dessen Bewältigung vom Mann nach außen getragen wird. Wurde dem Zeugenerfordernis nicht genügt, schien dem Täter eine Anklage wegen Totschlags zu drohen, ohne dass er sich auf die Privilegierungsvorschrift berufen könnte. Trotz dieser Strenge ist es wahrscheinlich, dass viele „Ehrenmorde“ zu jener Zeit für den Täter folgenlos blieben. Denn der Staat schritt zur Kriminalitätsbekämpfung bei der Verletzung von Individualrechten nicht von Amts wegen ein; eine Staatsanwaltschaft gab es nicht.376 Ob der Täter eines „Ehrenmordes“ strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, hing daher maßgeblich davon ab, ob – im Falle einer fehlgeschlagenen Tötung – der Verletzte selbst oder die Erben des Opfers eine Bestrafung des Täters im Wege der K sas oder der Diyet verlangten. Für die Einleitung eines Verfahrens vor dem Kad war ein Antrag der Erben des Opfers beim Gericht erforderlich. Im Falle der Weigerung auch nur eines Erben konnte das Gericht den Antrag ablehnen.377 Gleiches galt für die Urteilsvollstreckung. Entschieden sich die Erben des Opfers für die K sas-Strafe, mussten sie alle bei der Vollstreckung des Todesurteils anwesend sein oder hierbei zumindest vertreten worden sein. Auch die Vollstreckung des Urteils selbst lag in den Händen 376 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 6; Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 111; Sind „Rechte Gottes“ von der Straftat betroffen oder sind bei einem Tötungsdelikt keine Erben vorhanden, wird das Verfahren von offizieller Stelle aus eingeleitet, vgl. Heyd, Studies in Old Ottoman Criminal Law, S. 241 f. 377 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 7.
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der Erben, weswegen oftmals anstelle der Wiedervergeltung die Zahlung von Diyet verlangt wurde.378 Noch heute sind aber in bestimmten Regionen der Türkei einige Familien mit der Tötung eines Angehörigen – zumindest stillschweigend – einverstanden, wenn sie ansonsten einen Ehrverlust befürchten. Es ist nicht davon auszugehen, dass das Ehrverständnis der Menschen und damit auch deren Sexualmoral in den jeweils betroffenen Regionen in frühosmanischer Zeit liberaler waren als heute. Geht es zudem um den Fall, dass eine Familie im Rahmen des Familienrats die Tötung eines Mitglieds beschloss, liegt es auf der Hand, dass die gleichen Familienmitglieder von der Beantragung eines Strafverfahrens abgesehen haben dürften. Nichtsdestoweniger lässt die Vorschrift erkennen, dass der Herrscher „Ehrenmorde“ nicht ausnahmslos privilegieren wollte, sondern nur unter engen Voraussetzungen. Die Rechtspraxis scheint Täter von „Ehrenmorden“ jedoch weitaus großzügiger privilegiert zu haben, wie etwa Fetvas von S¸eyhülislams aus der Zeit von Süleyman I., dem Prächtigen, belegen. Ebussuud Efendi, der S¸eyhülislam zur Zeit der Regentschaft von Sultan Süleyman I., erklärte in einer Fetva, dass die Angehörigen von Opfern eines „Ehrenmordes“ – anders als nach den allgemeinen islamrechtlichen Vorschriften – keine Strafe für den Täter verlangen können, und zwar unabhängig davon, ob er zum Beweis des unzüchtigen Verhaltens der Opfer Zeugen in das Haus holt: „Zeyd, zevcesi Hindi le Amr hîn-i zinada katl eyledikten sonra Hindi le Amr n veresesi Zeyd’i k sas yahut Zeyd’den diyet almaga kadir olur mu? El-cevab: Olmaz, kat’an teftis¸ olunmaz, memnudur.“379
Ferner wurde der Bereich der privilegierten Täter nicht auf Ehemänner beschränkt, sondern durch den S¸eyhülislam Ebussuud auf weitere nahe stehende Familienangehörige ausgeweitet: „Zeyd, mülkünde bir gece Amr, Zeyd’in k z kardes¸i Hindi le zina eyleseler, Zeyd Amr katledip Zeyd’in anas Hind’i katl eylese ehl-i örf bunlara dahle kadir olur mu? El-cevab: Asla olmaz.“380
Diese mit Art. 13 des Gesetzbuchs Süleymans vergleichbare Fetva schließt die Zulässigkeit eines Strafprozesses offenbar sogar dann aus, wenn ein entsprechender Antrag der Angehörigen vorlag. In diesem Fall musste der Richter die Klage Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 7. „Ist es zulässig, wenn die Erben zweier Unzüchtiger vom Ehemann K sas oder Diyet verlangen, nachdem dieser beide Unzüchtige im Zeitpunkt der Unzuchtsbegehung tötete? Die Antwort lautet: Nein, ist es nicht, niemals kann danach gefragt werden, es ist verboten.“, Ebussuud Efendi, in: Düzdag, Ebussuud Efendi Fetvâlar Is¸ g nda 16. As r Türk Hayat , S. 158. 380 „Kann der Richter tätig werden, wenn eine Frau im Haus ihrer Familie mit einem Mann Unzucht trieb und von ihrem Bruder getötet wurde, während ihre Mutter den Geliebten ihrer Tochter tötete? Die Antwort lautet: Nein, nie und nimmer.“, Ebussuud Efendi, in: Düzdag, Ebussuud Efendi Fetvâlar Is¸ g nda 16. As r Türk Hayat , S. 158. 378 379
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abweisen. Auch hier wurde anders als bei Art. 13 des Gesetzbuchs nicht verlangt, dass der Täter unmittelbar nach der Tat Zeugen zum Tatort holte. Was die Bestrafung des Täters angeht, der zur Rettung der Familienehre einen Einbrecher mit einer Axt tötet, stellt der S¸eyhülislam Ebussuud dessen Straffreiheit klar: „Zeyd, Hind’in evine girip cebr ile tasarruf etmek isteyip Hind Zeyd’i âhar tarikle def ’e kadir olmamakla balta ile vurup mecruh eyleyip Zeyd o cerahattan fevt olsa, Hind’e nesne laz m olur mu? El-cevab: Gaza etmis¸ olur.“381
Diese Fetva scheint auf den ersten Blick nichts mit „Ehrenmorden“ zu tun zu haben und hat es in Wirklichkeit doch. Denn auch wenn vom Opfer der nach dieser Fetva privilegierten Tötung keine Unzuchtshandlung verlangt wird, steht sie in engem Zusammenhang mit einer archaisch-patriarchalischen Sexualmoral. Mit dem gewaltsamen Eindringen eines Fremden in ein Haus wird nämlich nicht nur die sexuelle Reinheit der dort wohnhaften Frauen gefährdet, sondern auch der gesellschaftliche Ruf dieser Frauen als „rein“. Das gewaltsame Eindringen in ein fremdes Haus steht somit einem Angriff auf die Ehre dieser Frauen und damit letztlich auch des für sie verantwortlichen Mannes gleich. Für dieses Verständnis spricht auch die Betonung des Umstands, dass der Täter „außer sich vor Zorn“ gewesen war. Im Übrigen geht Ebussuud Efendi offenbar nicht davon aus, dass das gewaltsame Eindringen des Opfers in das Haus des Täters zum Zwecke eines Angriffs auf dessen Eigentum erfolgte. Dann nämlich hätte es sich angeboten, auf die Notwehrmomente der Tötungshandlung abzustellen, um eine Straflosigkeit der Tat des Hauseigentümers zu begründen. Stattdessen stellt Ebussuud Efendi ein „Versehen“ des Täters fest, was bei einer bestehenden Notwehrlage infolge eines Angriffs auf das Eigentum des Täters fern liegt. Hier geht es vielmehr um die Verteidigung des Ansehens der Familie, die durch das nächtliche Eindringen eines Fremden in das Haus gefährdet ist. Versteht man Art. 13 des Kanunnames Süleymans als Versuch, „Ehrenmorde“ aus dem Bereich privater Lebensführung zu lösen und durch die Einbeziehung von Zeugen zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen, so stand diese Tendenz im Widerspruch zur Rechtsauffassung des S¸eyhülislams Ebussuud. Diese sah kaum rechtliche Einschränkungen für die rechtsfolgenlose Begehung eines „Ehrenmordes“ vor. Was die Behandlung von „Ehrenmorden“ nach dem Recht der Scharia angeht, werden die Kad s sich noch Jahrhunderte nach der Redaktion der genannten Fetvas des S¸eyhülislam Ebussuud Efendi haben leiten lassen, da diese auch in späteren 381 „Ist eine Bestrafung des Täters einer Tötung erforderlich, wenn sein Opfer gewaltsam in sein Haus eindringen wollte, und er außer sich vor Zorn es mit einer Axt geschlagen und dabei verwundet hat und es am Eiterausfluss gestorben sein sollte? Die Antwort lautet: er wird wohl rechtmäßig aus Versehen gehandelt haben.“, Ebussuud Efendi, in: Düzdag, Ebussuud Efendi Fetvâlar Is¸ g nda 16. As r Türk Hayat , S. 158.
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Jahrhunderten noch hohes Ansehen genossen.382 Dass sich das Rechtsempfinden der S¸eyhülislams auch Jahrhunderte nach Ebussuud Efendi kaum geändert hatte, wird auch durch eine Fetva vom Dürrizade Seyit Mehmet Arif Efendi belegt, der von 1792 bis 1798 das Amt des S¸eyhülislam wahrnahm: „Zeyd, Amr anas Hindi le zina ederken gördükte, Amr katl eylese Zeyd’e bir nesne laz m olur mu? El-cevab: Olmaz.“383
bb) Einflüsse französischen Strafrechts auf die Tanzimat-Politik Infolge militärischer Niederlagen beginnend mit der Niederlage vor Wien im Jahr 1683 sah sich die osmanische Staatselite bereits im 18. Jahrhundert gezwungen, die technische und zivilisatorische Überlegenheit der europäischen Mächte zu akzeptieren und einen Verwestlichungsprozess einzuleiten. Dieser Prozess wurde aber nicht deswegen eingeleitet, weil die osmanische Elite europäische kulturelle und politische Wertesysteme im Osmanischen Reich verankern wollte, sondern um die europäischen Mächte mit ihren eigenen Waffen zu besiegen.384 Die Annäherung des „kranken Mannes am Bosporus“ an Europa wurde jedoch erst im 19. Jahrhundert durch ein kaiserliches Modernisierungsprojekt namens Tanzimat (Neuordnung) ernsthaft verfolgt. Die Tanzimat-Politik wurde am 3. November 1839 dadurch eingeleitet, dass der damalige Außenminister und spätere Großwesir Mustafa Res¸it Pas¸a den Gülhane Hatt- S¸erif385 des damals sechzehnjährigen Sultan Abdülmecid I. wenige Monate nach dessen Inthronisierung proklamierte. Mustafa Res¸it Pas¸a lernte als osmanischer Botschafter in London und Paris europäisches Denken kennen und gilt als Architekt der Tanzimat-Politik, die er mit dem gutmütigen und leicht beeinflussbaren Sultan Abdülmecid I. zur grundlegenden Reform des Osmanischen Reiches umsetzen konnte.386 Mit diesem ursprünglich auf Französisch verfassten387 Erlass begann in der türkischen Rechtsgeschichte die Phase der Rezeption ausländischen Rechts. Teil dieser Politik war auch die Erarbeitung eines säkularen Strafrechts, welche erfolgreich mit dem Inkrafttreten des Ceza Kanunname-i Hümayunu388 (CKH) am Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (31). „Muss derjenige bestraft werden, der seine Mutter mit einem anderen Mann beim Ehebruch sieht und die Mutter tötet? Die Antwort lautet: nein.“, Dürrizade Mehmet Arif b. Muhammad, Nitecü’l-Fetâvâ, S. 571. 384 Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 1, S. 13 f. 385 Der Erlass trägt den Namen des kaiserlichen Rosenpavillons Gülhane, vor dem er von Mustafa Res¸it Pas¸a in Anwesenheit der ausländischen Diplomatie sowie den Hochrangigen des Protokolls proklamiert wurde, näher Ansay, Das türkische Recht, 441 (442); Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (34). 386 Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 15; Coulson, A History of Islamic Law, S. 151. 387 Rumpf, Die „Europäisierung“ der türkischen Verfassung, 51 (58). 382 383
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9. August 1858 beendet wurde.389 Dem CKH gingen zwei Gesetzbücher von 1840390 und 1851 voran, die aber jeweils nur für kurze Zeit galten und sich damit nicht durchgesetzt hatten. In ihnen wurden allein die Tazir-Delikte geregelt, also diejenigen ohne ausdrückliche Regelung durch das islamische Recht. Orientierten sich beide Gesetzbücher auch stark an islamischem Denken, so lassen sie dennoch Ansätze einer Verwestlichung erkennen. Das Gesetz von 1851, der Kanun-u Cedid, führte die Änderung ein, dass die Hinterbliebenen eines Tötungsopfers dem Täter nicht mehr verzeihen und so eine Strafverfolgung verhindern konnten. Art. 11 des Gesetzes übertrug die Strafverfolgungsbefugnis im Falle eines Verzeihens der Angehörigen auf den Staat, ohne aber die für die Strafverfolgung zuständigen staatlichen Stellen näher zu bezeichnen. Eine Staatsanwaltschaft gab es damals noch nicht, so dass die Zuständigkeitsfrage offen blieb.391 Beide Gesetzbücher waren aber recht knapp und zu unvollständig, um den Anforderungen an ein modernes Strafgesetz zu erfüllen,392 so dass schließlich im Jahr 1858 das Ceza Kanunname-i Hümayunu in Kraft trat. (1) Die Behandlung von „Ehrenmorden“ nach dem CKH Dieses Strafgesetzbuch rezipierte den Code pénal impérial français als Ausdruck des Willens einer Annäherung an Europa und galt unterschiedlos für alle Untertanen des Osmanischen Reiches, also auch für Andersgläubige. Zugleich beinhaltete das Gesetz aber auch Vorschriften, die sich an islamischrechtlichen Wertvorstellungen orientierten. Der Hintergrund hierfür mag sein, dass die für die Erarbeitung des Gesetzbuchs zuständige Kommission einschließlich ihres Vorsitzenden Ahmet Cevdet Pas¸a überwiegend aus Ulema-Angehörigen, also islamischen Religions388 Die ursprüngliche Fassung des Ceza Kanunname-i Hümayunu ist abgedruckt in: Akgündüz, Mukayeseli Islâm ve Osmanl Hukuku Küllyat , S. 832 ff. Eine deutsche Übersetzung findet sich bei Nord, Das türkische Strafgesetzbuch vom 28 Zilhidje 1274 (9. August 1858) mit Novelle vom 6. Djemazi-ül-achyr 1329 (4. April 1911) und den wichtigsten türkischen Strafnebengesetzen. Die Übersetzung von Nord bezieht sich auf die Fassung des Gesetzbuchs nach einer umfassenden Strafrechtsreform im Jahr 1911. Für eine englische Übersetzung der Ursprungsfassung sowie der Änderungen siehe Strachey Bucknill / Utidjian, The Imperial Ottoman Penal Code. 389 Das Strafgesetzbuch von 1858 wurde dem Großwesir vom Divan in Form eines Mazbatta (Bericht), für die erforderliche Bestätigung des Sultans vorgelegt. Es sollte an die Stelle aller damals in der Türkei geltenden säkularen Strafvorschriften treten und diese ersetzen. Am 9. August 1858 genehmigte der Sultan den Kodexentwurf und verlieh ihm somit Gesetzeskraft, Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 11. 390 Das Gesetz vom 3. Mai 1840 ist abgedruckt bei Kaynar, Mustafa Res ¸it Pas¸a ve Tanzimat, S. 302 ff. 391 Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 243 f. 392 Das erste Gesetz von 1840 umfasste 41 Artikel, das Gesetz von 1851 nur zwei Artikel mehr. Erst das Gesetz von 1858 war von seinem Umfang her geeignet, mit europäischen Strafgesetzbüchern Schritt zu halten. Es umfasste 264 Artikel.
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gelehrten, bestand,393 welche sich andernfalls der Strafrechtsreform wohl widersetzt hätten. Deswegen wurde anders als im Quellenrecht die Blutrache entsprechend den scheriatsrechtlichen Wertvorstellungen in Art. 189 CKH privilegiert. Das Gesetz ging aber weiter, indem es in Art. 1 ausdrücklich jede scheriatsrechtliche Beurteilung eines Sachverhaltes zuließ, selbst wenn sie von einer Regelung im Ceza Kanunname-i Hümayunu zuwiderlief. Die scheriatsrechtliche Beurteilung blieb zwar ohne Auswirkung auf die Auslegung des Ceza Kanunname-i Hümayunu, doch die Scharia wurde als neben dem Ceza Kanunname-i Hümayunu geltende, eigenständige Rechtsordnung von dem neuen Gesetz ausdrücklich in Art. 1 CKH anerkannt: „Dogrudan dogruya hükûmet aleyhine vuku bulan cerâyimin icrây- mücâzat devlete ait oldugu gibi, bir s¸ah s aleyhinde vuku bulan cerâyimin âsayis¸-i umumiyi ihlal eylemesi ciheti dahi kezalik devlet ait oldugundan, tayin ve icras s¸er’an emr-i ulül-emre ait olan ta’zirin tayin-i derecât n dahi is¸bu Kanunname mütekeffil ve mutazamm n olup ancak herhalde s¸er’an muayyen olan hukuk-u s¸ahsiyeye halel gelmeyecektir.“394
Art. 1 CKH führte durch die pauschale Anerkennung scheriatsrechtlicher Vorschriften zu einem strafrechtlichen Dualismus: Auf der einen Seite leitete die Vorschrift ein säkulares, in sich abgeschlossenes Strafgesetzbuch ein, auf der anderen Seite erkannte es aber auch hiervon abweichende strafrechtliche Bewertungen von Taten nach der Scharia an. Die Entscheidung, welches Recht anzuwenden war, überließ es im Wesentlichen bei einer Verletzung von Individualrechtsgütern dem jeweils Geschädigten beziehungsweise im Falle von Tötungsdelikten den Hinterbliebenen. Durch die Dualität der Rechtswege – Kad -Gerichte einerseits sowie die zur Anwendung des neuen Strafrechts berufenen Nizamiye-Gerichte andererseits – entstanden Zuständigkeitskonflikte zwischen beiden Gerichten jedenfalls in den Bereichen, in denen beide Gerichte zuständig waren. Diese Konflikte dauerten bis zum Ende des Osmanischen Reiches fort. Wenn etwa ein wegen eines Tötungsdelikts Angeklagter von einem Nizamiye-Gericht freigesprochen wurde, bestand gleichwohl die Möglichkeit einer Verurteilung durch das Kad -Gericht, wenn ein entsprechender Antrag durch die Hinterbliebenen des Opfers gestellt wurde. Zur Lösung dieses Konflikts wurden nie Maßnahmen ergriffen.395 Hinsichtlich der strafrechtlichen Bewertung von „Ehrenmorden“ ist im Wesentlichen Art. 188 CKH von Bedeutung. Danach war die Strafe des Täters zu mildern, 393 Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 181. 394 „Wie die unmittelbar gegen die Regierung gerichteten Straftaten in den Händen des Staates liegen, so gehört auch die Bestrafung einer Straftat gegen das Individuum als Störung des Rechtsfriedens zu den Aufgaben des Staates, weswegen das vorliegende Gesetz auch die einzelnen Grade der Strafbarkeit bestimmt, die festzusetzen und in Anwendung zu bringen nach der Scharia der Obrigkeit zukommt, wovon jedoch die in der Scharia anerkannten Individualrechte in keinem Fall berührt werden.“ 395 Bozkurt, Bat Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi; Cin / Aky lmaz, Türk Hukuk Tarihi, S. 245 Fn. 181.
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wenn er seine Frau oder eine seiner Mahrems beim Ehebruch oder bei Unzucht ertappte und einen oder beide Beteiligte gleichzeitig tötete: „Bir kimse zevcesini yahut diger mahâriminden birini bir s¸ah s ile fiil-i s¸enî icra eder iken görüp de ikisini birden katl eylese kezalik mazurdur.“396
Die vom Gesetzgeber verwendete Formulierung „fiil-i s¸enî“ bedeutet wörtlich übersetzt „scheußliche Tat“ und bezeichnet unzüchtiges Verhalten. Sie drückte seine Verachtung gegenüber diesem Verhalten auf besonders starke Weise aus. Wie im französischen Strafrecht waren auch im Ceza Kanunname-i Hümayunu ausschließlich Männer privilegiert. Anders als im Quellenrecht wurde der Täterkreis jedoch erheblich erweitert, indem die osmanische Norm auch die Tötung einer Mahrem privilegierte. Hierbei handelt es sich um einen scheriatsrechtlichen Begriff. Gemeint sind Frauen, die ein Mann nicht heiraten darf, also die weiblichen Vorfahren oder Abkömmlinge, Frauen der eigenen Vorfahren oder Abkömmlinge, die Schwestern, Nichten, Tanten und Großtanten, die Schwiegermutter, Tanten der Ehefrau und der Stieftochter sowie deren Töchter.397 Als Folge des weit gefassten Opferkreises war nicht nur der Ehemann des Opfers, sondern waren auch der Vater, Großvater, Bruder, Neffe und viele andere männliche Verwandte privilegiert. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung aus dem Jahr 1908 entstand der Wille, das Strafrecht von Grund auf entsprechend den moderneren Strafrechtstheorien zu reformieren. Die von der Regierung hierzu eingesetzte Kommission musste jedoch bald erkennen, dass die Redaktion eines neuen Strafgesetzbuchs jahrelange, intensive Vorarbeiten erforderte, für die es damals auch nicht genug geeignete Kräfte gab. Darum entschloss man sich zu einer umfassenden Revision des geltenden Strafrechts nach europäischem Vorbild und entschied sich zugunsten des italienischen Strafgesetzbuchs.398 Ergebnis dieses Prozesses war die Novelle vom 3. Juni 1911, welche eine Neufassung von 70 Artikeln vorsah, also etwa eines Drittels des alten Strafgesetzbuches von 1858. Angesichts der Zahl der betroffenen Artikel handelte es sich bei der Reform um mehr als ein Provisorium, nämlich um einen Brückenschlag vom Code pénal impérial français zu modernen Strafrechtstheorien. Das Reformgesetz trat am 4. Juni 1911 in Kraft und beinhaltete auch eine Neufassung von Art. 188 CKH: „Bir kimse zevcesini veya diger mahariminden birini bir s¸ahs ile fiil-i s¸eni-i zina halinde görüp de birisini veya ikisini birden darb veya cerh veya katl eylese mafuvdur. Eger bir kimse zevcesini veya diger mahariminden birini bir s¸ahs ile firas¸- gayr-i mes¸ruada görüp de birisini veya ikisini birden darb veya cerh veyhud katl etse mazurdur.“ 399 396 „Wer seine Ehefrau oder eine seiner mahrems mit einer Person bei unzüchtigem Verhalten ertappt und beide gleichzeitig tötet, wird milde bestraft.“ 397 Schacht, Bergsträsser’s Grundzüge des islamischen Rechts, S. 83. 398 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 15. 399 „Wer seine Ehefrau oder eine seiner mahrems bei der scheußlichen Tat des Ehebruchs ertappt und einen oder beide misshandelt, verletzt oder tötet, bleibt straffrei. Wer seine Ehefrau oder eine seiner mahrems mit einer Person beim Versuch des unerlaubten Geschlechts-
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Im Gegensatz zur alten Fassung, welche ausschließlich eine Strafmilderung normierte, ermöglichte die Neufassung sogar die Straflosigkeit von „Ehrenmorden“. Allerdings unterschied sie zwischen zwei Tatsituationen, an die jeweils unterschiedliche Rechtsfolgen geknüpft waren. Nur wenn der Täter seine Ehefrau oder eine Mahrem mit einem anderen Mann beim unehelichen Geschlechtsverkehr ertappte und misshandelte oder verletzte oder einen oder beide zusammen tötete, handelte er straffrei. Ertappte der Täter jedoch beide nur beim Versuch des Ehebruchs,400 wurde seine Strafe gemildert. Der Umfang der Strafmilderung bestimmte sich nach Art. 190 CKH, der die Haftstrafe in seiner ursprünglichen Fassung auf drei Monate bis drei Jahre herabsetzte. Zugleich wurde der Täter für fünf bis zehn Jahre – je nach Schwere der Tat – unter Polizeiaufsicht gestellt. Diese Strafmilderung war beträchtlich. Denn grundsätzlich war ein mit Vorbedacht begangener Totschlag gemäß Art. 170 CKH mit dem Tod zu bestrafen. Selbst wenn dem Täter von den Angehörigen des Opfers die K sas-Strafe verziehen wurde, war er gemäß Art. 172 CKH mit lebenslanger oder zeitiger Zwangsarbeit nicht unter 15 zu bestrafen. Art. 170 CKH wurde durch das Gesetz vom 4. Juni 1911 dahingehend modifiziert, dass die Todesstrafe für jede Tötung eines Verwandten aufsteigender Linie angedroht wurde, selbst wenn diese ohne Vorbedacht begangen worden war. Das gleiche Reformgesetz änderte auch Art. 190 CKH, so dass nunmehr an die Stelle der Todesstrafe oder lebenslangen Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe von einem bis zu drei Jahren trat. Was zeitige Freiheitsstrafen angeht, wurden diese auf sechs Monate bis zu zwei Jahren gekürzt. Ein einfacher Totschlag wurde vor und nach der Reform von 1911 gemäß Art. 174 CKH immerhin mit 15 Jahren Zwangsarbeit bestraft. Darüber hinaus enthielt das osmanische Strafgesetzbuch wie sein französisches Vorbild eine Vorschrift für „mildernde Umstände“, die generalklauselartig in Art. 47 CKH niedergelegt und auf alle Straftaten anwendbar war. Anders als in der Quellennorm wies Art. 47 CKH in seiner ursprünglichen Fassung die Entscheidung über das Vorliegen von mildernden Umständen nicht dem Gericht, sondern dem Sultan zu. Diesem allein stand es frei, mittels einer auf den Einzelfall bezogenen Irâde (kaiserlicher Erlass) die Todesstrafe in eine Zuchthausstrafe, eine Zuchthausstrafe in einfache Haft, lebenslange Haft in Verbannung, sowie zeitige Freiheisstrafen in zeitige Verbannung umzuwandeln. Durch den Erlass wurde also nicht die Bestrafung an sich aufgehoben, sondern in eine mildere Strafart umgewandelt. Da sich die Norm auf die Straftatbestände im Besonderen Teil des Gesetzes bezog und keine anderweitige Formulierung gewählt wurde, bezog sich die kaiserliche Begnadigung allein auf nach dem CKH von einem Nizamiye-Gericht verhängte Strafen. verkehrs ertappt und einen oder beide zusammen misshandelt, verletzt oder tötet, wird milde bestraft.“ 400 Im Text heißt es wörtlich: „in einem Bett, das ihr nicht erlaubt ist“, womit offenbar gemeint ist, dass die Frau zur Begehung des Ehebruchs mit einem anderen Mann zusammen in einem Bett liegt, dass aber der außereheliche Geschlechtsverkehr (im Gegensatz zu Abs. 1) noch nicht vollzogen ist.
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Überlieferungen zufolge machten die Sultane von ihrer kraft Art. 47 CKH verliehenen Begnadigungsbefugnis vielfach Gebrauch,401 so dass es in den seltensten Fällen zu einer Vollstreckung eines Todesurteils kam.402 Eine scheriatsrechtliche Verurteilung wurde damit durch die kaiserliche Begnadigung nicht zum Erlöschen gebracht.403 Gleichwohl erging in diesen Fällen ein kaiserlicher Erlass, demzufolge dem Geschädigten oder dessen Hinterbliebenen ein Verzicht auf die Talionsstrafe und die Annahme von Diyet angeordnet wurde.404 Bedenkt man, dass die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Anschauungen an ein traditionelles Ehrverständnis anknüpfen, das auch zu jener Zeit weit verbreitet war, wird die kaiserliche Milde auch „Ehrenmorde“ betroffen haben. Nach seiner Neufassung durch das Gesetz vom 4. Juni 1911 wies Art. 47 CKH die Zuständigkeit für die Feststellung mildernder Umstände nicht mehr dem Sultan zu, sondern dem Nizamiye-Gericht. Zugleich sah die Neufassung einen von der Ursprungsfassung abweichenden Milderungsmaßstab vor. Nunmehr wurde im Falle einer Feststellung mildernder Umstände eine Verurteilung zum Tod in eine lebenslange Freiheitsstrafe im Zuchthaus, mindestens jedoch in eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren umgewandelt. Lebenslange Freiheitsstrafe im Zuchthaus war in eine zeitige umzuwandeln oder in eine mindestens fünf Jahre langen Freiheitsstrafe in einem einfachen Gefängnis. Inwieweit sich diese Vorschrift im Einzelnen auf die Bestrafung von Tätern eines „Ehrenmords“ ausgewirkt hatte, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es ist jedoch wohl anzunehmen, dass sie bei „Ehrenmorden“ angewendet wurde, wenn die Voraussetzungen von Art. 188 CKH nicht erfüllt waren, aber eine vergleichbare Motivationslage bestand. (2) Akzeptanz und Durchsetzbarkeit des neuen Rechts Auch wenn die Milde des Gesetzgebers für sich betrachtet bedenklich war, lag das eigentliche Problem wohl eher in der Frage nach der Akzeptanz und der Durchsetzbarkeit des neuen Rechts. Insbesondere die sich aus der Dualität der Strafrechtswege ergebenden Probleme wurden bis zur Gründung der Republik nie systematisch gelöst. Für ein und dieselbe Tat waren zum einen die Nizamiye-Gerichte zur Anwendung des säkularen Strafrechts berufen. Zum anderen waren die traditionellen Kad -Gerichte weiterhin für die Anwendung des islamischen Strafrechts zuständig.405 Ein zeitgenössischer Autor berichtet, dass eine Anklage in der Rechtspraxis zunächst vom Nizamiye-Gericht entsprechend dem Ceza Kanunname-i Hümayunu verhandelt wurde. Wenn der Geschädigte oder seine HinterblieJaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 15. Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 385. 403 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 108; Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 378. 404 Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 385. 405 Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (38). 401 402
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benen als Nebenkläger aufgetreten waren, übermittelte das Gericht unabhängig vom Verfahrensausgang nach seiner Entscheidung die Akten dem Kad . Dieser fragte den Geschädigten oder seine Hinterbliebenen daraufhin, ob sie ihre Rechte nach der Scharia geltend machen wollten. Ablehnendenfalls wurden die Akten wieder an das Nizamiye-Gericht übermittelt, welches diese im Fall eines Verbrechens von Amts wegen an den Kassationshof weiterleitete. Bejahendenfalls beurteilte der Kad den Fall unabhängig von der Entscheidung des Nizamiye-Gerichts allein nach dem Recht der Scharia.406 Wichen zwei Entscheidungen hinsichtlich der Rechtsfolge voneinander ab, stellte sich die Frage, welche der beiden verbindlich war. Eine Instanz zur Klärung dieser Frage existierte nicht. Regelmäßig wurde in der Rechtspraxis das strengere Urteil vollstreckt, unabhängig von der Frage nach dessen Urheber.407 Ob eine Straftat vor einem Nizamiye-Gericht überhaupt zur Anklage kam, hing jedoch anfangs maßgeblich von dem Opfer beziehungsweise dessen Hinterbliebenen ab, da zunächst eine Staatsanwaltschaft und somit eine staatliche Verbrechensverfolgung fehlte. Damit hing die Durchsetzung des säkularen Strafrechts zumindest vor der Einführung einer Staatsanwaltschaft maßgeblich von der Akzeptanz des neuen Rechts in der Bevölkerung ab. Ein Zeitgenosse berichtet zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, dass das Kad -Gericht immer seltener angerufen wurde, weil die „kultivierte muslimische Bevölkerung“ sich im Allgemeinen an das säkulare Strafrecht gewöhnt habe.408 Von der „unkultivierten“ Bevölkerung wird jedoch nichts berichtet. Schätzungen zufolge wurde in Kayseri, also im Innersten Anatoliens, in neun von zehn Fällen nach dem neuen Strafgesetz geurteilt.409 Sicher ist dies jedoch nicht. Andererseits bestehen am Erfolg der Durchsetzung des neuen Strafrechts insoweit Zweifel, als es fundamental vom Recht der Scharia abwich und der osmanischen Bevölkerung auferlegt wurde, anstatt aus ihrer Mitte heraus zu wachsen. Dies zeigt sich auch am Beispiel des Ehebruchs in Art. 201 CKH nach seiner Ergänzung durch das Gesetz vom 3. Cemaziyelahir 1277 (17. Dezember 1860). Diese Stravorschrift über den Ehebruch rezipierte französisches Recht nahezu wortlautgetreu410 und unterschied damit ebenso wie das französische Vorbild nach den GeHeidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 383 f. Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 385. 408 „Aujourd’hui, la partie lesée ou son héritier s’adresse rarement au tribunal cheriyé, pour faire valoir ses droits individuels. [ . . . ] D’une façon générale, on peut affirmer que la population musulmane cultivée s’est accoutumée à la juridiction pénale des tribunaux nizamiyé et que la conception du droit à la vengeance privée tombe de plus en plus dans l’oubli.“, Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 386. 409 Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 184. 410 In Ermangelung eines Ehemannes, etwa infolge dessen Todes, war beim Ehebruch der Frau abweichend vom französischen Vorbild ihr gesetzlicher Vertreter zur Anzeige berechtigt. Ein weiterer Unterschied bestand in der Beweisvorschrift für den Ehebruch des Mitschuldi406 407
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schlechtern, was in klarem Widerspruch zur insofern geschlechtsneutralen Scharia steht. Auch unterstand der strafprozessuale Nachweis eines Ehebruchs nicht den erhöhten Voraussetzungen, welche der Koran vorschreibt, sondern beurteilte sich nach den allgemeinen Beweisvorschriften. Auch dies führte zu dem Vorwurf seitens der Mitglieder der Ulema, die Verbindlichkeit des neuen Strafgesetzbuchs sei mehr auf einen Akt der staatlichen Gewalt als auf die Überzeugung der Gläubigen zurückzuführen, welche das Gesetz mehr befolgten als es zu akzeptieren.411 Das Ceza Kanunname-i Hümayunu wurde nicht aufgrund eines Wechsels der gesellschaftlichen Anschauungen erlassen. Es wurde der Bevölkerung von der Obrigkeit aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit aufgezwungen. Hinter dem Erlass des Gesetzes stand die von den Vertragsparteien des Friedensvertrags von Paris aus dem Jahr 1856 zur Beendigung des Krimkriegs erklärte Bereitschaft, im Falle rechtlicher Reformen seitens der Türkei die Kapitulationen aufzuheben.412 Art. 9 des Friedensvertrags von Paris verpflichtete das Osmanische Reich, alle Untertanen diskriminierungsfrei zu schützen,413 was auch die Einführung eines für alle Personen gleich verbindlichen Strafrechts erforderte. Hinter der mit diesem Gesetz verfolgten Tanzimat-Politik stand also weniger die innere Überzeugung von der Notwendigkeit einer Verbesserung der rechtlichen Stellung der Untertanen im Osmanischen Reich, sondern die Rettung des Staates unter Bewahrung osmanischer Souveränität.414 Wenn aber selbst die osmanische Staatselite die Reforminhalte gen. Über die Quellennorm in Art. 338 Abs. 2 CPI hinaus galt der Ehebruch des Mitschuldigen als erwiesen, wenn sich bei der Tat ein muslimischer Mann im „Harim“ befand. „Harim“ ist nicht mit „Harem“ zu verwechseln und meint alle Privatgemächer eines Wohnsitzes, nicht allein die von Frauen bewohnten Räume. Insofern ist die Übersetzung von Nord, S. 63, der „Harim“ mit „Frauengemächern“ übersetzt, ungenau. 411 Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 380 f. 412 Heidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 368. Mit dem Begriff „Kapitulationen“ wurden die Handelsverträge bezeichnet, mit denen der Markt des Osmanischen Reiches für europäische Handelstreibende geöffnet wurde. Die Einfuhrzölle lagen den Kapitulationen zufolge unter den Ausfuhrzöllen. Insgesamt betrachtet schadeten die Kapitulationen dem ohnehin wirtschaftlich kaum wettbewerbsfähigen Osmanischen Reich. 413 Art. 9 des Vertrags: „Sa Majesté Impériale le Sultan, dans sa constante sollicitude pour le bien-être de ses sujets, ayant octroyé un Firman qui, en améliorant leur sort, sans distinction de religion ni de race, consacre ses généreuses intentions envers les populations chrétiennes de son Empire, et voulant donner un nouveau témoignage de ses sentiments à cet égard, a résolu de communiquer aux Puissances contractantes ledit Firman, spontanément émané de sa volonté souveraine. Les Puissances contractantes constatent la haute valeur de cette communication. Il est bien entendu qu’elle ne saurait, en aucun cas, donner le droit auxdites Puissances de s’immiscer soit collectivement, soit séparément, dans les rapports de Sa Majesté le Sultan avec ses sujets, ni dans l’administration intérieure de son Empire.“ Der gesamte Vertragstext ist in französischer Sprache abgedruckt in dem grundlegenden Werk zum Pariser Kongress von Gourdon, Histoire du Congrès de Paris. 414 Dies betonte Nam k Kemal in einem Artikel in der Zeitung Ibret vom 4. Ramazan 1289 (5. November 1872), zitiert nach Kaynar, Mustafa Res¸it Pas¸a ve Tanzimat, S. 195 ff.
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nicht als Zweck an sich erkannte, werden diese Inhalte umso weniger in die Überzeugung der Bevölkerung eingegangen sein, mit der sie fundamental brachen. Es erscheint nach alldem unwahrscheinlich, dass in den ersten Jahrzehnten, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war, die Hinterbliebenen des Opfers eines „Ehrenmordes“ Anzeige vor einem Gericht erstattet haben, von dem jedenfalls nicht immer ein mildes Urteil zu erwarten war. Selbst wenn ein Nizamiye-Gericht sich mit einem „Ehrenmord“ befasste, bleibt unklar, ob dieses immer ganz im Sinne des neuen Strafgesetzes entschied. Denn das Osmanische Reich umfasste zur Zeit des Inkrafttretens des Ceza Kanunname-i Hümayunu ungeachtet aller vorherigen Gebietsverluste eine immense Fläche, die sich – abgesehen vom Gebiet der heutigen Türkei – auf den Balkan bis nach Bosnien, Teile des heutigen Griechenland, den Nahen Osten einschließlich der arabischen Halbinsel sowie große Teile Nordafrikas erstreckte. Auf diesem Gebiet mussten flächendeckend Richter eingesetzt werden, die eigens für die Anwendung westlichen Strafrechts ausgebildet wurden. Die bloße Übersetzung eines westlichen Strafgesetzbuchs reichte wohl kaum aus, allein mit dem Recht der Scharia vertraute Juristen auf dessen wirkungsvolle Anwendung vorzubereiten. Erforderlich wäre gewesen, alle Juristen des Osmanischen Reichs durch intensive Fortbildungsmaßnahmen unter der Leitung westlicher Juristen auf ihre neuen Aufgaben vorzubereiten. Die Situation der Juristenausbildung ist jedoch zu jener Zeit nur als desolat zu bezeichnen. Zur Unterweisung der im islamischen Recht ausgebildeten Juristen in das säkulare Recht war zunächst die im Jahr 1854 gegründete Rechtsschule Muallimhane-i Nüvvab berufen.415 Im Jahr 1880 wurde die Dar-ül Fünun S¸ahane, die spätere Universität Istanbul, um eine juristische Fakultät erweitert, die jedoch bis zum Untergang des Osmanischen Reiches die einzige Juristenausbildung auf Hochschulniveau anbot.416Angesichts des immensen Bedarfs an mit dem westlichen Recht vertrauten Juristen im Osmanischen Reich waren diese Vorstöße eher der Tropfen auf den heißen Stein. Es ist daher gut denkbar, dass viele Richter bei der Anwendung des rezipierten Rechts von den scheriatsrechtlichen Auslegungsregeln ausgingen, was einer wirksamen Durchsetzung des neuen Rechts entgegengestanden hätte. Für eine Übergangszeit – so wird berichtet – waren die Nizamiye-Gerichte sowohl mit türkischen wie auch mit Richtern der westeuropäischen Großmächte besetzt.417 Inwiefern sich diese Aussage auf das ganze Staatsgebiet des Osmanischen Reiches bezieht, ist jedoch unklar. Wahrscheinlicher erscheint, dass sie auf urbane Gebiete zutrifft, in denen nicht nur muslimische Untertanen ansässig waren; schließlich bestand vor dem Hintergrund des Pariser Vertrags der Hauptzweck des säkularen Strafrechts darin, nichtmuslimischen wie muslimischen Untertanen den Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (22 f.). Vgl. Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (23); Bozkurt, Türkiye’de Hukuk Egitimin Tarihçesi, S. 51 ff. 417 Jaenecke, Grundprobleme des türkischen Strafrechts, S. 11. 415 416
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gleichen strafrechtlichen Schutz zu bieten, um die Situation der Andersgläubigen zu verbessern. In ländlichen beziehungsweise ausschließlich von Muslimen bewohnten Gebieten mag der Bedarf an säkularen Strafgerichten nicht so stark gewesen sein, so dass Richter westeuropäischer Herkunft hier vermutlich kaum oder nicht eingesetzt wurden. Gleichwohl wurden zur Durchsetzung des neuen Strafrechts vergleichsweise effektivere Maßnahmen ergriffen. Die Rezeption des französischen Code de procédure pénale von 1808 mit dem Usul-i Muhakemat- Cezaiyye Kanunu vom 25. Juni 1879 bedeutete eine bedeutende Annäherung an den Westen.418 Diese Strafprozessordnung blieb, abgesehen von wenigen Änderungen,419 bis 1929 in Kraft. Sie brach fundamental mit dem islamischen Recht, indem sie die Anzahl der Richter an den Gerichten erhöhte sowie ein Berufungsrecht und eine Staatsanwaltschaft einführte. All dies war in der islamischen Welt zu damaliger Zeit unbekannt.420 Die Festnahme eines Beschuldigten, seine Verbringung vor Gericht und die Aufklärung von Straftaten waren damit nicht mehr Privatpersonen überlassen, sondern fielen in die Zuständigkeit staatlicher Ermittlungsorgane. Das Legalitätsprinzip war in Art. 20 der Prozessordnung niedergelegt. An sich hätte der Usul-i Muhakemat- Cezaiyye Kanunu einen Motor für die Integration westlichen Rechtsdenkens in der osmanischen Gesellschaft darstellen können, zumal integrationsgefährdende Regelungen des Quellrechts nicht rezipiert wurden. Abweichend vom französischen Vorbild kennt die osmanische Prozessordnung die Insitution der Geschworenen nicht. Abgesehen von den bereits dargelegten Gründen, welche gegen diese Institution sprechen, hätte die Einführung des Geschworenensystems erhebliche Probleme mit sich gebracht, weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit den Grundsätzen des neuen Strafrechts und den dahinter stehenden meist westlichen Anschauungen vertraut war. An sich hätte der Verzicht auf ein Geschworenensystem dazu führen müssen, nicht zwischen einer Entscheidung über die Schuldfrage und einer rechtlichen Beurteilung der Tat zu unterscheiden. Diese Trennung war in einem allein von Berufsrichtern geleiteten Prozess überflüssig. Gleichwohl hielt das osmanische Strafprozessrecht in den Artt. 291 ff. an dieser Trennung fest und ließ die Berufsrichter zunächst über die Schuldfrage entscheiden, wobei eine Zweidrittelmehrheit zur Bejahung der Schuld erforderlich war. Wurde die Schuld verneint, war der Angeklagte freizusprechen. Andernfalls beantragte der Staatsanwalt die gesetzlich vorgesehene Strafe. Da ein westlicher Beobachter noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts feststellte, dass das Lehrpersonal und die Studenten an den Rechtsschulen noch 418 Für eine deutsche Übersetzung der Prozessordnung siehe Padel, Die Ottomanische Strafprozessordnung. Veröffentlicht auf Irade vom 5 Redscheb 1296 (25. Juni 1879). 419 Hinsichtlich der Änderungen bis zum Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung im Jahre 1929, vgl. Önder, ZStW 70 (1958), 75 (318). 420 Üçok / Mumcu / Bozkurt, Türk Hukuk Tarihi, S. 345; Kürs ¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 182.
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vom islamischrechtlichen Denken durchdrungen waren,421 ist gut denkbar, dass Richter im Fall von „Ehrenmorden“ über die Verneinung der Schuldfrage trotz an sich nachweisbarer Schuld zu einem Freispruch kamen. Jedenfalls bot die Trennung zwischen Schuld- und Rechtsfrage die Möglichkeit, die vom Ceza Kanunname-i Hümayunu vorgesehenen Rechtsfolgen zu unterminieren, indem man die Schuldfrage verneinte. Wenn also die Richter mit einer Strafvorschrift nicht einverstanden waren, weil diese zu sehr von ihrer islamischrechtlichen Überzeugung abwich, könnten sie auf diesem Weg ihre Überzeugung durchgesetzt haben. In der Tat stellt Hirsch fest, dass diese Strafprozessordnung zu einem erheblichen Teil „toter Buchstabe geblieben“ war.422 Den Grund dafür erblickt er in der sich zunehmend verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Situation des Osmanischen Reiches im ausgehenden 19. Jahrhundert. Diese desolate Lage des Reiches, die mit großen Gebietsverlusten einherging, versperrte den Blickt für eine durchgreifende Justizreform. Der Bruch mit der eigenen jahrhundertealten Rechtstradition und die Übernahme fremden Rechts war indes keine Aufgabe, die mit halbherzigen Reformen durchzuführen war. Schließlich dürfte die im 19. Jahrhundert praktisch nicht vorhandene staatliche Ausbildungspolitik und das daraus resultierende Fehlen qualifizierter, mit dem rezipierten Recht vertrauter Juristen eine entscheidende Rolle gespielt haben. Doch der Anschluss des Osmanischen Reiches an ein europäisches Strafrechtssystem stellte wie die gesamte Tanzimatpolitik ungeachtet aller berechtigten Kritik an ihren Mängeln ein bahnbrechendes und zugleich gefährliches Unterfangen dar. Letztlich ließ sich die Politik nur zu Lasten der früheren Elite, der Ulema, realisieren, von deren Seite Schlimmstes befürchtet wurde. Bei seiner Verlesung des Gülhane Hatt- Hümayun vor den eingeladenen ausländischen Diplomaten und den Hochrangigen des Protokolls, drei Monate nach der Thronbesteigung Abdülmecids I., war sich Mustafa Res¸it Pas¸a nicht sicher, ob er dies überhaupt überleben würde. Es ist überliefert, dass er zuvor von seiner Familie Abschied nahm.423 Eine Rezeption neuen Ausmaßes wurde mit dem Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 eingeleitet, in dem sich die Türkei zu intensiven Rechtsreformen verpflichtete.424 Zur Vorbereitung dieser Reformen sollte die Türkei westliche Rechtsgelehrte als Berater einstellen, welche mindestens fünf Jahre im Land tätig sein sollten. Wann und in welchem Umfang diese Reformen umzusetzen sein sollten, wurde vertraglich nicht geregelt. Doch auch über die vertraglichen Verpflichtungen hinaus beschloss die neue Staatsführung die Vervollkommnung der Tanzimat-ReHeidborn, Manuel de droit public et administratif de l’Empire ottoman, S. 418. Vgl. auch Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 97. 423 Ahmed Cevdet Pas ¸a, Tezâkir 1 – 12 (hrsg. von Baysun), S. 67; Kürs¸at, Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert, Bd. 2, S. 15 f. 424 Art. 38 ff. und das Zusatzprotokoll Nr. XI des Vertrags von Lausanne. Näher Bozkurt, Bat Hukukunun Türkiye’de Benimsenmesi. Osmanl Devleti’nden Türkiye Cumhuriyeti’ne Resepsyon Süreci (1839 – 1939), S. 175 ff. 421 422
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formen durch die Schaffung eines neuen, einheitlichen Rechts unter gänzlicher Abschaffung des Rechts der Scharia. b) Reichweite der rechtlichen Privilegierung von „Ehrenmorden“ in der Republik Türkei bis zum Jahr 2005 Nach der Gründung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923 vertiefte ihr erster Präsident Mustafa Kemal Atatürk durch zahlreiche drastische Reformen den Anschluss des Landes an Westeuropa. Zu nennen sind insbesondere die Trennung von Religion und Staat, die Gleichstellung der Frau, die Europäisierung des Bildungswesens, die Einführung des lateinischen Alphabets und europäischer Kleidung. Diese an den liberalen Ideen Europas orientierten Maßnahmen richteten sich gegen die vom Islam normierte Gesellschaftsordnung und betrafen zwangsläufig auch das Recht, dessen Säkularisierung ohnehin Bestandteil der Politik Atatürks gewesen ist. Die Abkehr von islamischem Denken hatte Folgen für das Recht und drückte sich in der Intensivierung der Rezeption westeuropäischer Rechtssysteme aus. So wird diese durch das Ziel der völligen Abkehr von der Scharia geprägte Zeit vom Rechtshistoriker Mumcu gar als „die Zeit der Totalrezeption“425 bezeichnet. Von der ersten Reformphase nach 1839 unterschied sie sich nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Denn Atatürk erkannte und handelte aus der fehlgeschlagenen Rezeption der Tanzimatperiode lernend auch nach dieser Erkenntnis, dass die Rezeption fremden Rechts sich nicht in der Übersetzung fremder Rechtsbücher erschöpfen kann, sondern einen Wechsel des Denkens im Sinne einer Angleichung an fremdes Rechtsdenken voraussetzt.426 So hat man zur Umsetzung des übernommenen Rechts zwei wesentliche Maßnahmen getroffen: Zum einen berief man aus Europa Hochschullehrer und andere Spezialisten, die türkische Studenten und Praktiker im neuen Recht unterweisen konnten, und zum anderen ließ das Justizministerium ausländische Literatur und Gerichtsentscheidungen aus den Ursprungsländern der rezipierten Gesetze ins Türkische übersetzen und brachte diese zu niedrigen Preisen auf den Markt. Außerdem wurde der oberste Gerichtshof mit im westlichen Recht ausgebildeten Richtern besetzt.427 Hirsch kommt als einer der in die Türkei berufenen Hochschullehrer zu der Feststellung, dass die Rezeption westlichen Rechts durch die Republik Türkei anders als die Rezeption in der Tanzimatperiode nicht im Versuchsstadium steckenblieb. Vielmehr wurde das rezipierte Recht nunmehr „Bestandteil und Wirkungsfaktor ihres nationalen Rechts und verlor den Charakter des ,ausländischen‘ völlig.“428 Dies wirkte sich auch auf das Strafrecht aus. Mit dem Inkrafttreten des türkischen Strafgesetzbuchs (exTCK) am 1. Juli 1926 brach die Türkei zugunsten eines 425 426 427 428
Mumcu, Siebzig Jahre westliches Recht in der Türkischen Republik, 17 (40). Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 97. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 97 f. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 117.
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säkularen Strafrechts mit dem strafrechtlichen Dualismus aus der spätosmanischen Zeit. Der Gesetzgeber rezipierte hierzu das damals als modern empfundene429 italienische Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1889, den Codice Zanardelli. Doch wie unter osmanischer Herrschaft erfolgte auch hier die Rezeption nicht ohne Anpassungen an türkische Wertvorstellungen. Diese Anpassungen bezogen sich vor allem auf die italienischen Vorschriften, die dem türkischen Gesetzgeber nicht streng genug erschienen. Er legte unter anderem Wert auf die im italienischen Strafrecht damals abgeschaffte Todesstrafe.430 Auch das türkische Strafgesetzbuch von 1926 stellte außerehelichen Geschlechtsverkehr unter Strafe. Hierbei unterschied es – ähnlich wie der Code pénal impérial français oder auch das italienische Quellengesetz – zwischen einem Tatbestand für den Ehebruch der Ehefrau und einem Tatbestand für den Ehemann. Art. 440 exTCK drohte der Ehefrau eine Strafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren für den außerehelichen Geschlechtsverkehr an; den tatbeteiligten Dritten drohte die gleiche Strafe, wobei die Beweisführung keinen besonderen Voraussetzungen unterlag: „Zina eden kar hakk nda alt aydan üç seneye kadar hapis cezas tertip olunur. Kar n n evli oldugunu bilerek bu fiilde ortak olan kimse hakk nda da ayn ceza hükmolunur.“431
Ebenso drohte dem Ehemann und der tatbeteiligten Dritten im Fall eines Ehebruchs eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu drei Jahren. Nach Art. 441 exTCK lag ein Ehebruch des Ehemannes jedoch erst dann vor, wenn dieser sich am ehelichen Wohnsitz oder andernorts in allgemein bekannter Weise eine ledige Frau wie eine Ehefrau hielt. Über den Wortlaut hinaus verlangten Literatur und Rechtsprechung, dass es dabei zu mehrmaligem Geschlechtsverkehr gekommen sein musste.432 Wie der Code pénal impérial français verwendet das türkische Strafgesetzbuch von 1926 den Begriff „Zina“ (Ehebruch) nur in der die Ehefrau betreffenden Norm. In Art. 441 exTCK verwendete der Gesetzgeber den Begriff „Zina“ nicht: „Kar s ile birlikte ikamet etmekte oldugu evde yahut herkesçe bilinecek surette bas¸ka yerde kar koca gibi geçinmek için bas¸tkas ile evli olmayan bir kad n tutmakta olan koca hakk nda alt aydan üç seneye kadar hapis cezas hükmolunur. Erkegin evli oldugunu bilerek bu fiilde s¸erik olan kad n hakk nda da ayn ceza verilir.“433 Önder, Das türkische Strafrecht, 417 (427). Die Todesstrafe wurde in der Türkei seit 1984 nicht mehr vollstreckt und durch das Gesetz Nr. 4771 vom 3. 8. 2002 in Friedenszeiten endgültig abgeschafft, nachdem das verfassungsändernde Gesetz Nr. 4709 vom 3. 10. 2001 die Todesstrafe nur noch für terroristische Straftaten zuließ, Tellenbach, Einführung in das türkische Strafrecht, S. 3. 431 „Für eine Ehefrau, die die Ehe bricht, wird Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren angedroht. Die gleiche Strafe trifft den, der in Kenntnis des Verheiratetseins der Frau an dieser Tat teilgenommen hat.“ 432 Hafizogullar , Zina cürümleri, S. 215 m. w. N. 429 430
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Art. 441 exTCK wurde vom Anayasa Mahkemesi (das türkische Verfassungsgericht) am 23. September 1996 wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz für nichtig erklärt.434 Ironischerweise hatte dies zur Folge, dass Art. 441 exTCK wegen der verglichen mit Art. 440 exTCK hohen Strafbarkeitsvoraussetzungen für nichtig erklärt wurde, während die eigentlich von der Ungleichbehandlung benachteiligten Frauen wegen der unverändert in Kraft belassenen Ehebruchsvorschrift in Art. 440 exTCK strafbar waren. Auch der Gesetzgeber sah sich nicht zum Tätigwerden veranlasst, so dass erst zwei Jahre nach der genannten Entscheidung das Anayasa Mahkemesi am 23. 6. 1998 schließlich auch die Ehebruchsvorschrift für Ehefrauen für nichtig erklärte.435 Ein Versuch der Regierung unter Premierminister Reçep Tayyip Erdogan zur Wiedereinführung der Ehebruchsstrafbarkeit aus dem Jahr 2004 schlug fehl.436 Insbesondere nach diesen Entscheidungen stellte sich die Frage umso dringlicher, ob Art. 462 exTCK, ein besonderer Fall der Provokation, der „Ehrenmorde“ unter gewissen Voraussetzungen erheblich milder bestrafte als gewöhnliche Tötungsdelikte, in verfassungsrechtlicher Hinsicht Bestand hatte. Denn die im Übrigen ihrem Wortlaut nach geschlechtsdiskriminierungsfreie Vorschrift verwehrte der Schwester eine Strafmilderung, die ihren Bruder tötete, wohingegen sie dem Bruder im umgekehrten Fall eine Strafmilderung zusprach. Die Frage stellte sich auch deshalb, weil die Norm unter anderem an den zuvor strafbaren Ehebruch anknüpfte. Das Gericht bestätigte aber in einem konkreten Normenkontrollverfahren mit einer Mehrheit von sieben zu vier Stimmen die Verfassungsgemäßheit der Norm.437 Zur Begründung verwies es auf den weiten legislativen Ermessensspiel433 „Der Ehemann, der in dem Hause, das er mit seiner Frau bewohnt oder an einem anderen Orte, jedoch in der Weise, dass es allgemein bekannt ist, eine ledige Frau hält, um mit ihr in ehelicher Gemeinschaft zu leben, wird zu Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren verurteilt. Die Frau, die in Kenntnis des Verheiratetseins des Mannes an der Tat teilgenommen hat, wird mit der gleichen Strafe bestraft.“ 434 AYM 23. 9. 1996, 15 / 34, Resmî Gazete 27. 12. 1996, Nr. 22860. 435 AYM 23. 6. 1998, 3 / 28, Resmî Gazete 13. 3. 1999, Nr. 23638. 436 Der Vorschlag knüpfte die Strafbarkeit an geschlechtsneutrale Voraussetzungen an. Das Strafmaß sollte zwischen sechs Monaten und zwei Jahren Freiheitsstrafe betragen. Ministerpräsident Erdogan begründete sein Vorhaben damit, dass zur Stärkung des Landes die Familien gestärkt werden müssten. Unter heftiger Kritik seitens nationaler und internationaler Frauenrechtsverbände, aber auch unter dem Druck des damaligen Erweiterungskommissars der Europäischen Union Verheugen, der vor einer Entwicklung warnte, die als Hinwendung zu islamischrechtlichen Prinzipien gedeutet werden könne, ließ die Regierung schließlich von ihrem Vorhaben ab, Pope, Le premier ministre turc défend la pénalisation de l’adultère, Le Monde vom 15. 9. 2004. 437 Eingeleitet wurde das Verfahren durch das Zweite Schwurgericht Bak rköy im Jahr 1997. Das Schwurgericht drückte in seiner Vorlage Zweifel an der Verfassungsgemäßheit von Art. 462 exTCK aus, insbesondere im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz aus Art. 10, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 17 sowie die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 19 der türkischen Verfassung.
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raum bei einer Entscheidung über die Strafbarkeit menschlichen Verhaltens. Der Gesetzgeber habe zudem sowohl Männer als auch Frauen in den privilegierten Täterkreis einbezogen. Auf das Problem, dass zwar Schwestern in den Täterkreis einbezogen wurden, diese aber nicht ihren Bruder töten durften, während dies umgekehrt von der Vorschrift erfasst war, gingen die Richter nicht ausdrücklich ein. Der Gleichheitsgrundsatz sei jedenfalls nicht verletzt, weil Schwestern überhaupt zum privilegierten Täterkreis gehörten. Frauen erhielten nämlich die Strafmilderung, wenn sie ihre Schwester töteten. Auf die Beziehung des Täters zum Opfer kam es demnach dem Gericht zufolge für die Verfassungsgemäßheit der Norm nicht entscheidend an. Das Sondervotum bejahte dagegen eine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bei dem in der Vorschrift genannten Opferkreis. Leib und Leben als höchste Güter eines Menschen erlaubten gerade in einer pluralistischen, freiheitlichen und partizipativen Demokratie keine milde Strafe für Tötungsdelikte aus Gründen der Ehre.438 Auch bei „Ehrenmorden“ überwiege das verletzte Rechtsgut „Leben“ das Rechtsgut der (Familien-)Ehre. Keine Beachtung schenkten die Richter bei ihrer Wertung dem sozialen Druck auf Täter von „Ehrenmorden“, den sie bei dieser Abwägung hätten einfließen lassen können. Die Vorschrift wurde in der Türkei insgesamt gesehen oft kritisiert. Auf die Aufhebung der Strafbarkeit von Ehebrüchen in Deutschland, Frankreich und Italien hinweisend forderten Strafrechtswissenschaftler eine Bestrafung für „Ehrenmorde“ nach den allgemeinen strafrechtlichen Vorschriften.439 Erem äußerte sich dahingehend, dass eine Norm wie Art. 462 exTCK in einem die Scheidung zulassenden Rechtssystem fehl am Platz sei. Daher sei Art. 462 exTCK außer Kraft zu setzen.440 Nach Demirbas¸ verstieß Art. 462 exTCK, insbesondere das Tatbestandsmerkmal des „widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs“, gegen die sich aus der allgemeinen Handlungsfreiheit sowie dem Grundrecht auf Leben und körperliche Integrität ergebende sexuelle Freiheit.441 Letztlich war die Kritik erfolgreich. Vor ihrem Hintergrund sowie der Perspektive eines Beitritts zur Europäischen Union setzte das türkische Parlament die Norm mit dem Gesetz Nr. 4928 vom 15. Juli 2003442 außer Kraft. In der Folgezeit blieb allenfalls eine Strafmilderung unter Rückgriff auf die allgemeine Vor438 „Anayasa’nÖ n 17. maddesinde güvence altÖna alÖnan ve digÖer hak ve özgürlükler arasÖnda öncelikli bir yere sahip olan yas¸am hakkÖna yapÖlan saldÖrÖnÖn, s¸eref ve haysiyeti koruma veya kurtarma gibi bir gerekçeyle de olsa büyük ceza indirimi ile adeta onaylanÖr hale gelmesi kabul edilemez. Anayasa’nÖn Bas¸langÖçÖnda ve 17. maddesinde belirtilen çagÖdas¸ uygarlÖk düzeyine ulas¸mÖs¸ çogÖulcu özgürlükçü ve katÖlÖmcÖdemokrasilerde insana tanÖnan öncelik ve ceza hukukundaki gelis¸meler de gözetildigÖinde itiraz konusu kuralÖn, Anayasay´a aykÖrÖlÖgÖÖdaha belirgin biçimde ortaya çÖkmaktadÖr.“ 439 Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 111. 440 Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸ erh, Bd. 3, S. 2132. 441 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 110. 442 Resmî Gazete 19. 7. 2003, S. 25173.
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schrift des Art. 51 exTCK möglich,443 welche wie die Sondervorschrift in Art. 462 exTCK eine milde Bestrafung von „Ehrenmorden“ ermöglichte. Diese gegenüber der spezielleren Normierung der Provokation in Art. 462 exTCK nachrangige Norm444 war bis 2003 nur dann anwendbar, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen der besonderen Provokation nicht erfüllt waren.445 Um eine doppelte Strafmilderung für den Täter auszuschließen, hat der Yarg tay, das oberste türkische Gericht auf dem Gebiet des Strafrechts, unter der Zustimmung der Literatur von jeher eine gleichzeitige Anwendung von Art. 462 und Art. 51 exTCK ausgeschlossen.446 aa) Besonderer Strafmilderungsgrund der Provokation in Art. 462 exTCK Mit Art. 462 exTCK rezipierte der türkische Gesetzgeber den gemeinsam mit der Ehebruchsstrafbarkeit erst mit dem Gesetz Nr. 441 vom 5. August 1981 außer Kraft gesetzten Art. 587 des italienischen Codice penale. Auch dieser betraf die Strafmilderung für Tötungs- und Körperverletzungsdelikte im Namen der Ehre. Er sah für Tötungsdelikte im Namen der Ehre anstelle der sonst für Totschläge nach Art. 575 des Codice vorgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens 21 Jahren eine Freiheitsstrafe von drei bis sieben Jahren vor. Voraussetzung dafür war, dass das Opfer die Frau, die Tochter oder die Schwester des Täters war, er diese bei unerlaubtem Geschlechtsverkehr entdeckte und er die Tat aufgrund der stark provozierenden Wirkung dieser Verletzung seiner Ehre oder der seiner Familie ausgeführt hatte. Ähnlich stark wurden vom Gesetzgeber auch die Strafen für in dieser Situation begangene Körperverletzungsdelikte gemildert.447 Dönmezer, Kis¸ilere ve mala kars¸ cürümler, S. 177. 1. CD 25. Oktober 1932, 3104; CGK 17. Mai 1993, 1 – 132 / 160; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 132. 445 CGK 21. Juni 1993, 4 – 154 / 183, bei: Yas ¸ar, Içtihatl Türk Ceza Kanunu, 1096 f.: „Zina suçundan dolay , daha sonra haklar nda mahkumiyet karar ç km s¸ ise de, zina, olay s ras nda veya olay n biraz öncesinde olmay p, daha önceki günlerde vuku bulundugundan, TCK’nun 462. maddesi uygulanamaz, san k hakk nda TCK’nun 51. maddesi uygulan r.“ 446 1. CD 25. Oktober 1932, 5552 / 3104, TKarDer 1932, 15; CGK 20. März 1989, 1 – 55 / 113, bei: Içel / Yenisey, Kars¸ las¸t r lmal ve Uygulamal Ceza Kanunlar , S. 798; Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 125; Yüksel, Son Yarg tay Kararlar Ile Birlikte Tatbikatta Adam Öldürme Cürümleri, S. 247. 447 „Art. 587. – Omicidio e lesione personale a cause di onore. Chiunque cagiona la morte del coniuge, della figlia o della sorella, nell’atto in cui ne scopre la illegittima relazione carnale e nello stato d’ira determinato dall’offesa recata all’onor suo o della famiglia, è punito con la reclusione da tre a sette anni. Alla stessa pena soggiace chi, nelle dette circostanze, cagiona la morte della persona, che sia in illegittima relazione carnale col coniuge, con la figlia o con la sorella. Se il colpevole cagiona, nelle stesse circostanze, alle dette persone, una lesione personale, le pene stabilite negli articoli 582 e 583 sono ridotte a un terzo; se dalla lesione personale deriva la morte, la pena è della reclusione da due a cinque anni. 443 444
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Wie nach der Quellennorm wurden auch nach Art. 462 exTCK Körperverletzungs- und Tötungsdelikte milder bestraft, wenn der Täter einen ihm nahe stehenden Verwandten beim Ehebruch oder beim unerlaubten Geschlechtsverkehr ertappte und unter diesem Eindruck seine Tat begangen hat: „Yukar da geçen iki fas lda beyan olunan fiiller zinay icra halinde veya gayr mes¸ru cinsî münasebette bulundugu esnada mes¸huden yakalanan veya zina yapmak veya gayr mes¸ru cinsî münasebette bulunmak üzere yahut henüz zina yapm s¸ veya gayr mes¸ru münasebette bulunmus¸ oldugunda zevahire göre s¸üphe edilmiyecek surette görünen bir koca veya kar yahut k zkardes¸ veya fürudan biri yahut bunlar n müs¸terek faili veya her ikisi aleyhine kar koca yahut usulden biri veya erkek veya k zkardes¸ler taraf ndan is¸lenmis¸ olursa, fiilin muayyen olan cezas sekizde bire indirilir ve ag r hapis cezas hapis cezas na tahvil olunur. Müebbet ag r hapis cezas yerine dört seneden sekiz seneye ve idam cezas yerine bes¸ seneden on seneye kadar hapis cezas verilir.“448
Die in Art. 462 exTCK vorgesehene Strafmilderung war beträchtlichen Ausmaßes. Tötete der Täter seinen Nachkommen, so trat an die Stelle der sonst drohenden Todesstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.449 Tötete der Täter seinen Ehepartner oder die eigene Schwester, so trat anstelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine Strafe von 4 bis 8 Jahren.450 Wurde der tatbeteiligte Dritte im Sinne von Art. 448 exTCK vorsätzlich getötet, so wurde die Strafe auf ein Achtel gesenkt und in Freiheitsstrafe umgewandelt.451 Über das Strafmaß für eine Tötung beider am Ehebruch oder am widerrechtlichen Geschlechtsverkehr Beteiligten bestand Uneinigkeit. Teilweise wurden dann zwei voneinander zu trennende Straftaten angenommen, deren Strafen jeweils nach Art. 462 exTCK zu mildern seien.452 Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur lehnten diese Auffassung ab und befürworteten eine Bestrafung des Täters wegen einer einheitlichen Tat.453 Der Wortlaut von Art. 462 exTCK differenziere Non è punibile chi, nelle stesse circostanze, commette contro le dette persone il fatto preveduto dall’art. 581.“ 448 „Sind die in den vorhergehenden beiden Abschnitten angeführten Taten von der Ehefrau, dem Ehemann, einem Verwandten aufsteigender Linie, von dem Bruder oder der Schwester gegenüber dem Ehemann, der Ehefrau, der Schwester, einem Abkömmling, an den Mittätern oder an beiden bei Ertappen auf frischer Tat des Ehebruchs oder des widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs oder bei Ertappen in einem Zustand begangen worden, der zweifelsfrei auf die beabsichtigte oder bereits begangene Ausübung des Ehebruchs oder des widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs schließen lässt, so wird die festgestellte Strafe auf ein Achtel herabgesetzt, wobei die Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe umgewandelt wird. Anstelle der lebenslangen Zuchthausstrafe tritt Gefängnis von 4 bis zu 8 Jahren, und anstatt der Todesstrafe ist auf Gefängnis von 5 bis zu 10 Jahren zu erkennen.“ 449 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3978. 450 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3978. 451 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu S. 3978. 452 Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 126; Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸ erh, Bd. 3, S. 2135; Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 89.
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nicht danach, ob sich die Tat gegen nur eine oder zwei Personen richte. Für beide Fälle drohte die Vorschrift die gleiche Strafe an. Dass zwei Menschen getötet wurden, könne der Richter bei der Strafzumessung durch eine Ausschöpfung des oberen Strafrahmens berücksichtigen. Fest steht jedoch, dass auch der nach Art. 462 exTCK handelnde Täter eine Tat beging, gegen welche die Opfer Notwehr üben durften. Unumstritten war dies jedoch nicht. Vereinzelt wurde ein solches Recht der Beteiligten abgelehnt.454 Richtigerweise stand den Angegriffenen – mit der überwiegenden Auffassung – ein Notwehrrecht zu, da die Strafmilderungsvorschrift in Art. 462 exTCK dem Täter noch kein Tötungsrecht verlieh.455 Dass der Täter auch nach dieser Norm zu bestrafen sei, spreche für die Einstufung seines Verhaltens als rechtswidrigen Angriff. Im Übrigen hing das Notwehrrecht auch nach türkischem Strafrecht nicht davon ab, ob der Angriff von den Notwehrübenden zurechenbar verursacht wurde oder nicht. Im Laufe ihrer Geschichte wurde die Vorschrift dreimal vom türkischen Gesetzgeber modifiziert. 1936 wurde eingefügt, dass mit Abkömmlingen nur weibliche Personen gemeint sind. 1938 wurde die Strafmilderung reduziert, indem der Strafrahmen von zwei bis zu fünf Jahren auf drei bis zu fünf Jahren erhöht wurde. Zeitgleich wurde die Beschränkung auf weibliche Abkömmlinge wieder aufgehoben. 1953 wurde schließlich das Tatbestandsmerkmal des „widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs“ in die Vorschrift eingefügt. Anstelle der Todesstrafe erwartete den Täter nunmehr eine Freiheitsstrafe von 5 bis zu 10 Jahren, anstelle lebenslanger Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe von 4 bis zu 8 Jahren.456 In dieser Fassung blieb die Vorschrift bis zu ihrem Außerkrafttreten im Jahr 2003 unverändert und war im Wesentlichen an zwei Voraussetzungen geknüpft. Die eine betraf die Situation der Tatbegehung, während die andere sich auf die Beziehung des Täters zu seinem Opfer bezog.
453 1. CD 16. November 1993, 1949 / 2360, YKD 1994, 462 f.; Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 158 f.; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3978. 454 Taner, Ceza Hukuku – Umumi K s m, S. 419; die Ablehnung wurde damit begründet, dass ein Notwehrrecht nur demjenigen zustehen könne, der selbst auf der Seite des Rechts steht. Bei Ehebrechern sei dies aber nicht der Fall. Im Übrigen gehe die Gefahr getötet zu werden nicht vom Täter aus, sondern in erster Linie von den für die Provokation Verantwortlichen, also den Ehebrechern. 455 Erem, Ümanist Doktrin Aç s ndan Türk Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 28 ff.; Demirbas, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 107 f.; Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 92; Dönmezer / Erman, Nazari ve Tatbiki Ceza Hukuku, Genel K s m, Bd. 2, S. 109; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 143; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3975; vgl. auch Önder, S¸ah slara ve Mala Kars¸ Cürümler ve Bilis¸im Alan nda Suçlar, S. 141. 456 Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 135 f.
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(1) Personeller Anwendungsbereich Sowohl der Täter- als auch der Opferkreis wurden in Art. 462 exTCK abschließend definiert. Der Ausnahmecharakter der Norm schloss eine Ausweitung auf andere Personenkreise etwa im Wege der Analogie aus.457 Trotz des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots hatte die türkische Rechtsprechung nie eine geschlechtsneutrale Auslegung und damit eine Ausweitung des in Art. 462 exTCK geschützten Täterkreises vorgenommen. Sie hielt sich stets an den Wortlaut der Vorschrift. Der privilegierte Täterkreis beschränkte sich auf den Ehemann, die Ehefrau, die Vorfahren sowie Brüder und Schwestern. Der Ehepartner war jedoch nur bei einer rechtlich anerkennungsfähigen Ehe privilegiert,458 selbst wenn diese ungültig war.459 Als Bruder oder Schwester wurden auch die Halbgeschwister behandelt.460 Ausgeschlossen war dagegen der Verlobte, der Geliebte oder eine befreundete Person. Ebenso wenig konnten sich der Onkel, die Tante, der Schwager, die Schwägerin, die Schwiegermutter, der Schwiegervater, der Neffe oder die Nichte auf die Vorschrift berufen.461 Erst recht war die Strafmilderung nicht auf nicht verwandte Dritte anwendbar, die der Täter zur Tat anstiftete oder mit denen er die Tat in Mittäterschaft beging.462 Denn die in der Vorschrift beschriebene Verwandtschaftsbeziehung des Täters zum Opfer stellte ein besonderes persönliches Merkmal dar, das allein die gesetzgeberische Milde gegenüber dem Zorn des Täters motivierte. Fehlte diese Nähebeziehung dem tatbeteiligten Dritten, so bemaß sich seine Strafe nicht nach Art. 462 exTCK.463 Aber auch der an sich von der Vorschrift privile457 CGK 16. November 1987, 9 – 355 / 557, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 85, bezüglich der Ablehnung einer Anwendung von Art. 462 exTCK für den Sohn, der den Liebhaber seiner Mutter tötet; vgl. auch die Ablehnung einer Anwendung für den Schwiegervater in 4. CD 16. April 1953, 3095 / 4267, zit. bei Yüksel, Son Yarg tay Kararlar Ile Birlikte Tatbikatta Adam Öldürme Cürümleri, S. 248; 1. CD 27. April 1966, 872 / 994, zitiert in: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 85, bezüglich der Ablehnung einer Anwendung zugunsten des Sohnes, welcher seinen Vater tötete, weil dieser den Ehebruch mit der Schwester des Täters beging; Demirbas¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 103; Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 125; Erem, Türk Ceza Kanunu S¸erh, Bd. 3, S. 2134 f.; Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 85; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3977; a.A. Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 23, 142. 458 Bei rechtlich nicht anerkannten Ehen konnte sich der Ehepartner nicht auf Art. 462 exTCK, wohl aber auf Art. 51 exTCK berufen, Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3977. 459 Auch hier sei eine so provozierende Wirkung des Anblicks des Ehebruchs wie bei gültiger Ehe nicht auszuschließen gewesen, Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3977. 460 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3978. 461 Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸erh, Bd. 3, S. 2134 f.; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 110; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3975, 3977. 462 Dönmezer / Erman, Nazari ve Tatbiki Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 559; Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 159. 463 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3979.
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gierte Verwandte, der sich zur Tatausführung eines Dritten – etwa infolge einer Anstiftung – bediente, konnte sich nicht auf die Vorschrift berufen. Dies lag daran, dass die Vorschrift eine eigenhändige Tatausführung erforderte.464 Das Opfer musste der Ehepartner, die Schwester, ein Abkömmling oder der am Ehebruch oder am widerrechtlichen Geschlechtsverkehr beteiligte Dritte sein, den das Gesetz als „Mittäter“ bezeichnete. Tötete der Täter eine Person, die den am Ehebruch oder am widerrechtlichen Geschlechtsverkehr etwa durch das Zurverfügungstellen des eigenen Hauses Hilfe leistete, konnte er sich hierfür nicht auf Art. 462 exTCK berufen.465 Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 462 exTCK stieß in der Literatur auf heftige Kritik. Insbesondere wurde dem Gesetzgeber vorgeworfen, ohne nachvollziehbaren Grund die Strafe des Bruders zu senken, der seine unverheiratete Schwester wegen sexueller Kontakte mit einem Mann tötete. Bei solchen Taten gehe es nicht um provozierte Gewalt, sondern um die Verteidigung antiquierter Moralvorstellungen. Es sei zudem nicht einzusehen, warum Frauen ihrerseits nicht auch bei der Tötung ihres Bruders privilegiert waren. Was die Vorschrift schützen wolle, nämlich überkommene Moralvorstellungen, erschließe sich aus dem Kreis der privilegierten Täter.466 Ebenso wenig erschien es der Literatur gerechtfertigt, dass der Gesetzgeber den Vorfahren verglichen mit dem Abkömmling bevorzugte.467 Zwar wird von vereinzelten Stimmen der geschlechtsneutrale Charakter dieser Einschränkung betont. Väter konnten den eigenen ehebrecherischen Sohn töten und sich bezüglich dieser Tat auf Art. 462 exTCK berufen. Gleiches galt für den seinen Enkel tötenden Großvater.468 Dass nach Art. 462 exTCK ältere Familienmitglieder ihre Nachkommen töten konnten aber nicht umgekehrt, wurde als ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot in Art. 10 der Verfassung angesehen. Es gebe für diese Ungleichbehandlung auch keinen einsichtigen Grund, weil jüngere Familienmitglieder nicht zwingend ein geringeres Interesse an der in Art. 462 exTCK geschützten Verteidigung der Familienehre hätten.469 Tutumlu, HaksÖz Tahrik. Erem, Türk Ceza Kanunu S¸erh, Bd. 3, S. 2134; Demirbas¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 104. 466 Vgl. Dönmezer, Kis ¸ilere ve mala karsÖcürümler, S. 176; Önder, S¸ahÖslara ve Mala Kars¸Ö Cürümler ve Bilis¸im AlanÖnda Suçlar, S. 145; vgl. auch Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 124, der eine Neuformulierung der Vorschrift dahingehend forderte, dass der Täter, zum Zorn aufgereizt, die Ehre retten wollte; Malkoç, AçÖklamalÖTürk ceza kanunu, S. 3978. 467 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 103, 165; Önder, S¸ahÖslara ve Mala Kars¸ÖCürümler ve Bilis¸im AlanÖnda Suçlar, S. 144; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 142. 468 Malkoç, AçÖ klamalÖTürk ceza kanunu, S. 3977. 469 Tutumlu, HaksÖ z Tahrik, S. 81; Anstelle einer Neufassung der Vorschrift fordert Tutumlu angesichts der für „Ehrenmorde“ angemesseneren Norm in Art. 51 Abs. 2 exTCK die gänzliche Abschaffung von Art. 462 exTCK. 464 465
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(2) Anforderungen an die Tatsituation Das beziehungsweise die Opfer mussten auf frischer Tat des Ehebruchs oder des widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs ertappt worden sein oder in einem Zustand, der zweifelsfrei darauf schließen lässt, dass diese Formen des Geschlechtsverkehrs begangen wurden oder hierzu angesetzt wurde. Der Geschlechtsverkehr musste also zweifelsfrei kurz bevorstehen, gerade stattfinden oder stattgefunden haben. Verglichen mit Art. 324 Abs. 2 CPI waren die zeitlichen Voraussetzungen in Art. 462 exTCK tätergünstiger, erfassten sie doch auch die Tötung vor und nach dem Geschlechtsverkehr. Um die Beteiligten beim Ehebruch oder beim widerrechtlichen Geschlechtsverkehr zu ertappen, musste der Täter das Geschehen nicht unmittelbar sinnlich wahrgenommen haben. Es reichte jedoch für Art. 462 exTCK nicht, als Täter nur durch Hörensagen vom Geschehen erfahren zu haben. Dies gab allenfalls zu einer Anwendung von Art. 51 exTCK Anlass.470 Der Geschlechtsverkehr stand aber dann zweifellos bevor, wenn die vom Täter beobachteten Handlungen in für Dritte nachvollziehbarer Weise als eine solche Vorbereitung einstufbar gewesen waren. Für die Annahme einer solchen Vorbereitung sprechen die Verfassung der Beteiligten, der Ort, an dem sie angetroffen wurden, sowie von den Beteiligten getroffene Vorbereitungsmaßnahmen. 471 Im Wesentlichen kam es darauf an, dass die Betroffenen ohne das Einschreiten des Täters die sexuellen Handlungen vorgenommen hätten.472 Hierfür ließ die Rechtsprechung genügen, wenn der Bruder die Schwester und ihren Liebhaber eng umschlungen vorfand.473 Der Geschlechtsverkehr war dann zweifellos begangen worden, wenn der Täter objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte für diese Annahme hatte. Hierfür reichte es beispielsweise aus, wenn er kurz vor Betreten des jeweiligen Ortes entsprechende Laute oder Wörter vernommen hatte, die auf einen soeben vollzogenen Geschlechtsakt schließen ließen.474 Ebenso ließ die Rechtsprechung genügen, wenn Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 127 ff. Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3975; die Rechtsprechung bejahte das Erfordernis etwa dann, wenn eine verheiratete Frau sich auf dem Boden mit einem Dritten umarmte und diesen küsste, CGK 17. Mai 1993, 1 – 132 / 160, bei:Yas¸ar, Içtihatl Türk Ceza Kanunu, S. 1097. 472 Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 140 Fn. 85, nennt als Beispiel einen Fall, bei dem der Yarg tay das Tatbestandsmerkmal bejaht hatte. Es handelte sich um einen Mann auf Reisen, der bei einem Telefonat mit seiner Ehefrau den Verdacht schöpfte, sie könne ihm in seiner Abwesenheit untreu sein. Nachdem er umgehend zurückgekehrt war, ließ ihn seine Frau lange vor der verschlossenen Tür warten. Um vorzutäuschen, sie wäre im Bad gewesen, öffnete sie schließlich die Tür mit nassen Haaren. Der argwöhnische Ehemann fand nach einigem Suchen den Geliebten seiner Frau im Kleiderschrank und erschoss ihn, 1. CD 29. Mai 1991, 1125 / 1497, YKD 1991, 1568 (1569). 473 1. CD 21. Februar 1973, 365 – 619. 474 Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3976. 470 471
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die Ehefrau mit einem Dritten den Stall verließ.475 In einem anderen Fall beobachtete ein Sohn früh am Morgen seine Mutter, wie sie mit einem Fremden unter einem Aprikosenbaum begann, Zärtlichkeiten auszutauschen. Als der Vater beim Aufwachen seine Ehefrau nicht neben sich im Bett vorfand, und beobachtete, wie seine Frau nach Hause und der Liebhaber in die entgegengesetzte Richtung lief, fragte er seine Frau, woher sie käme. Auf ihre Antwort, das gehe ihn nichts an, tötete er sie. Der Yarg tay kam zu einer Anwendung von Art. 462 exTCK, weil der Argwohn des Ehemannes nachvollziehbar war.476 Problematisch war in diesem Zusammenhang die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 462 exTCK auf eine Putativprovokation, also auf den Fall einer irrigen Annahme des Vorliegens der geforderten Tatsituation durch den Täter. Dieser konnte sich beispielsweise nur vorstellen, dass seine in Wirklichkeit vergewaltigte Frau den Geschlechtsverkehr mit dem Dritten freiwillig vollzog und er daher eine nach Art. 462 exTCK privilegierte Tat begehen würde. Der Literatur zufolge war Art. 462 exTCK dann anzuwenden, wenn auch ein verständiger Dritter die Situation wie der Täter bewertet hätte.477 Die Rechtsprechung äußerte sich nie klar zu dieser Frage. Sie versagte eine Anwendung von Art. 462 exTCK jedoch dann, wenn die dort geforderte Tatsituation für jedermann erkennbar nicht gegeben war.478 (a) Ehebruch oder unehelicher Geschlechtsverkehr Das Tatbestandsmerkmal „Zina“ erfasst seiner arabischen Herkunft entsprechend an sich jede Form unzüchtigen Verhaltens. Dann wäre die zweite Alternative des widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs obsolet gewesen, so dass Zina im türkischen Strafrecht eine andere Bedeutung gehabt haben musste. Anders als etwa Art. 324 Abs. 2 CPI verwies Art. 462 exTCK nicht ausdrücklich auf die strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften. „Zina“ war damit kein eigenständiger strafrechtlicher Begriff,479 sondern bestimmte sich nach den zivilrechtlichen Vorschriften. Daher meinte er nach überwiegender Auffassung die sexuelle Beziehung zweier Personen unterschiedlichen Geschlechts, von denen mindestens eine CGK 10. Oktober 1973, 166 / 811, bei: Yener, Tatbikatta Ag r Ceza Davalar , S. 213. CGK 19. Oktober 1981, 1 – 254 / 347, bei: Savas¸ / Mollamahmutoglu, Türk Ceza Kanunun Yorumu, 4. Bd, S. 4823 f. 477 Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸ erh, Bd. 3, S. 2140; Demirbas¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 108; Erman / Özek, Türk Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 157; Önder, S¸ah slara ve Mala Kars¸ Cürümler ve Bilis¸im Alan nda Suçlar, S. 145; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 111; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3979. 478 1. CD 10. Februar 1981, 575 / 427, YKD 1981, 770. In dem Fall tötete der Angeklagte einen Mann, mit dem seine Frau sich morgens außerhalb des Hauses unterhalten hatte. 479 Anderer Ansicht wohl Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 138, der bei Art. 462 exTCK den Ehebruch des Ehemannes nur unter den Voraussetzungen von Art. 441 ex-TCK annehmen will. 475 476
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zivilrechtlich verheiratet sein musste.480 Die hierfür vorausgesetzte Ehe bestand so lange, wie die Eheleute noch nicht rechtskräftig geschieden waren; selbst eine auf richterlichem Beschluss beruhende Trennung schloss damit die Anwendung von Art. 462 exTCK nicht aus.481 Ausgeschlossen war eine Anwendung von Art. 462 exTCK jedoch im Fall einer zivilrechtlich nicht anerkannten Ehe (z. B. Imam-Ehe). Hier wurde stattdessen Art. 51 exTCK angewendet.482 Bei einer ungültigen, aber zivilrechtlich geschlossenen Ehe war ein Ehebruch dagegen möglich.483 Durch die Bezugnahme auf zivilrechtliche Vorschriften war die Annahme eines Ehebruchs abweichend von den strafrechtlichen Ehebruchsvorschriften an geschlechtsneutrale Anforderungen geknüpft. Das Zivilrecht verstand unter Ehebruch sowohl für Männer als auch für Frauen die sexuelle Beziehung einer verheirateten Person mit einem Dritten.484 Nicht erforderlich waren deswegen die in Art. 441 exTCK für den Ehebruch des Ehemanns relevanten zusätzlichen Voraussetzungen. Für eine Anwendung von Art. 462 ETCK auf die Tötung des Ehemanns reichte also auch der einmalige außereheliche Geschlechtsverkehr gleich an welchem Ort.485 Andere Kontakte mit einem Dritten – etwa eine Unterhaltung mit einer verheirateten Frau auf der Straße oder ein Flirt mit ihr – stellten dagegen noch keinen Ehebruch dar.486 Ob auch homosexueller Geschlechtsverkehr als Ehebruch zu werten sei, war umstritten. Teilweise vertraten Zivilrechtler die Auffassung, auch homosexueller Geschlechtsverkehr sei Ehebruch.487 Dem widersprachen andere Stimmen der zivilrechtlichen Literatur.488 Weil 1953 die Vorschrift um das Tatbestandsmerkmal des außerehelichen Geschlechtsverkehrs ergänzt wurde, kam es im Ergebnis nicht mehr darauf an, ob homosexueller Geschlechtsverkehr Zina darstellte oder nicht. Nach einhelliger Auffassung handelte es sich hier um eine Form widerrechtlichen Geschlechtsverkehrs.489
480 Demirbas„ Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, Istanbul, S. 98; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 136; Malkoç, Aç klamal Türk Ceza Kanunu, S. 3975; Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 109; vgl. auch Ak ntürk, Aile Hukuku, S. 200. 481 Erem, Adam Öldürme Cürümleri, S. 127; Dönmezer, Kis ¸ilere ve mala kars¸ cürümler, S. 176. 482 CGK 24. April 1989, 99 / 159, YKD 1989, 1316; zust. Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 88. 483 Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 82; Evik, Türk Ceza Yasas n n 462. Maddesi, 99 (113). 484 Egger, Medeni Kanun S ¸erhi, Bd. 2: Aile Hukuku, S. 160. 485 Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 82. 486 1. CD 10. Februar 1981, 575 / 427, bei: Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 156; zust. Oguzman / Dural, Aile Hukuku, S. 115. 487 Ak ntürk, Aile Hukuku, S. 200. 488 Tekinay, Türk Aile Hukuku, S. 210. 489 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Haks z Halleri, S. 98 f.; Evik, Türk Ceza Yasas n n 462. Maddesi, 99 (114); Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 82; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 136 f.; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3975.
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Problematisch war, was allgemein unter „widerrechtlichem Geschlechtsverkehr“ zu verstehen sein sollte. Die tatbestandliche Formulierung „gayr mes¸ru cinsî münasebet“ ist unglücklich, stellt sich doch die Frage, wann Geschlechtsverkehr jedenfalls von Rechts wegen „widerrechtlich“ sein soll, ohne einen Ehebruch darzustellen. Sinnvoll war die Tatbestandsergänzung nur bei klarer Abgrenzbarkeit ihres Anwendungsbereichs von dem der Ehebruchsalternative. Der Gesetzgeber hat auch offen gelassen, ob die Widerrechtlichkeit sich am Maßstab des Rechts oder zugleich auch an ungeschriebenen gesellschaftlichen Normen orientiert. Stellt man jedoch allein auf den rechtlichen Maßstab ab, also auf die Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs, würde dieses Tatbestandsmerkmal dem Ehebruch in Art. 462 exTCK keinen eigenständigen Anwendungsbereich mehr lassen. Für die Widerrechtlichkeit musste daher ein Verstoß gegen außerrechtliche gesellschaftliche Normen ausreichen, zumal Art. 462 exTCK die Tötung zur Rettung der Familienehre privilegieren sollte; die Familienehre ist nach den regionalen Anschauungen in wenigen Regionen der Türkei jedoch nicht allein im Fall des Ehebruchs, sondern auch in anderen Fällen gefährdet. Nach den oben dargestellten Wertvorstellungen einiger Türken ist die Familienehre auch dann ernstlich gefährdet, wenn bekannt wird, dass eine unverheiratete Minderjährige Geschlechtsverkehr mit einem Mann hat, so dass dies aus gesellschaftlicher Sicht zugleich als widerrechtlich eingestuft werden könnte. Gleiches gilt für den Geschlechtsverkehr einer verheirateten Person mit einem Dritten gleichen Geschlechts, der ja nach überwiegender Auffassung keinen Ehebruch im Sinne der Vorschrift darstellte. Unter „widerrechtlichem Geschlechtsverkehr“ war jedoch jeder uneheliche Geschlechtsverkehr zu verstehen.490 An der Tatbestandsergänzung übte die Literatur Kritik, weil das Tatbestandsmerkmal des Ehebruchs ausreiche. Sie wies darauf hin, dass es in den übrigen Fällen keinen rechtlichen Grund für eine Strafmilderung gebe. Während Eheleute die Verletzung der ehelichen Treuepflicht durch den anderen Partner strafrechtlich sanktionieren oder sich deswegen scheiden lassen konnten, fehlten entsprechende Rechte für die übrigen in Art. 462 exTCK aufgeführten Verwandtschaftsbeziehungen. Allein sittliche, rechtlich sanktionslose Normen als Anknüpfungspunkt für eine Privilegierung von Straftaten gegen Leib und Leben zu wählen, erschien unangemessen.491 Dies galt umso mehr, als die sexuelle Freiheit durch Art. 12 Abs. 1 sowie Art. 17 Abs. 1 der Verfassung geschützt wird.492 Andere Stimmen in der Literatur wurden in ihrer Kritik deutlicher und bezeichneten die Privilegierung insgesamt als Ausdruck „größter Ungerechtigkeit“ sowie „mittelalterlicher, scheriatsrechtlicher Gesinnung“ und forderten zugleich ihre Abschaffung.493 Dönmezer, Kis¸ilere ve mala kars¸ cürümler, S. 176. Dönmezer, Ceza Hukuku Hususî K s m, S¸ah slara kars¸ ve mal aleyhinde cürümler, S. 89; ders., Kis¸ilere, S. 174 f.; Önder, S¸ah slara ve Mala Kars¸ Cürümler ve Bilis¸im Alan nda Suçlar, S. 145; zust. wohl auch Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 124. 492 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 110. 490 491
III. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ im tu¨rkischen Recht
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(b) Zeitliche Unmittelbarkeit Um die von Art. 462 exTCK seinem Zweck entsprechend stillschweigend vorausgesetzte Provokationswirkung annehmen zu können, musste die Tat in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem sie provozierenden Ereignis stehen. Die Rechtsprechung lehnte eine Anwendung der Vorschrift ab, wenn zwischen dem provozierenden Ereignis und der Tat „beträchtlich viel Zeit“ verstrichen war.494 In diesem Fall stehe der Täter nicht mehr unter der provozierenden Wirkung des Anblicks des Geschlechtsverkehrs einer ihm nahe stehenden Person, welche der Gesetzgeber mit dieser Strafmilderung im Blick hatte. Aus diesem Grund konnte eine geplante Tat nicht milde bestraft werden.495 Desgleichen folgte hieraus eine Unanwendbarkeit der Vorschrift, wenn der Täter schon vor Erblicken des Opfers beim Ehebruch oder beim widerrechtlichen Geschlechtsverkehr Kenntnis von diesem hatte.496 Angesichts der zeitlichen Eingrenzung der nach Art. 462 exTCK privilegierten Tötung mag die Annahme nahe liegend erscheinen, dass es dem Gesetzgeber seinerzeit nicht um eine Privilegierung von Tötungen aus Gründen der Ehre ging, sondern um die Privilegierung affektbedingter Tötungshandlungen. So gesehen hätte Art. 462 exTCK einen Gedanken ausgedrückt, der auch dem deutschen Strafrecht nicht fremd ist, nämlich dass die aus der Affektsituation heraus begangene 493 Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 153 ff.; zust. Evik, Türk Ceza Yasasînîn 462. Maddesi, 99 (119). 494 CGK 21. Juni 1993, 4 – 154 / 183, bei: Tutumlu, Haksîz Tahrik, S. 81 f.; zust. Dönmezer, Kis¸ilere ve mala kars¸î cürümler, S. 174; 1. CD, 16. Februar 1972, 462 / 656, bei: Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 109; Dönmezer, Ceza Hukuku Hususî Kîsîm, S¸ahîlara kars¸îve mal aleyhinde cürümler, S. 88. 495 Dönmezer, Ceza Hukuku Hususî Kîsîm, S ¸ ahîslara kars¸î ve mal aleyhinde cürümler, S. 88; im Ergebnis auch Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 110; Dönmezer; Kis¸ilere ve mala kars¸î cürümler, S. 174; CGK 4. Juni 1973, 1 / 459, bei: Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 131 Rn. 36; der Yargîtay bejahte Art. 462 ex-TCK in einem bemerkenswerten Fall, bei dem ein arwöhnischer Ehemann mittags drei bis vier Stunden vor seiner verschlossenen Haustür stand und vergebens versuchte, hineinzugelangen. Als er später den in einem Schrank versteckten Geliebten seiner Frau entdeckte, verriegelte er den Schrank, um ihn an der Flucht zu hindern. Die Frau konnte fliehen, ohne dass der Ehemann sie festzuhalten vermochte. Wieder daheim hinderte der Ehemann den Geliebten, der sich unterdessen aus dem Schrank befreit hatte, an einer Flucht durch den Kamin, indem er ihn erneut in den Schrank einsperrte. Erst nach einer letzten erfolglosen Verfolgung seiner Frau kehrte der Ehemann zu seinem Haus zurück und tötete den Geliebten seiner Ehefrau durch Erdrosseln. Der Yargîtay bejahte den Zeitzusammenhang mit der Begründung, der Ehemann habe die schon anfangs beschlossene Tötung des Geliebten nur wegen der Flucht seiner Ehefrau verschoben; dass in der Zwischenzeit kein anderes Motiv als die beim Täter provozierte Wut dessen Handlungsentschlüsse leiteten, veranlasste das Gericht zur Bejahung des zeitlichen Erfordernisses, da die Tat nach seiner Auffassung in den Bereich der Taten fiel, die der Gesetzgeber mit der Vorschrift privilegieren wollte, 1. CD 29. September 1993, 1258 / 1790, YKD 1994, 289 – 292. Der Sachverhalt wird ausführlich bei Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 139 Fn. 83 geschildert. 496 1. CD, 26. November 1958, 2896, in MHD 1959, S. 134.
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Tötung weniger strafwürdig ist. Art. 462 exTCK unterschied sich dagegen insofern von § 213 Alt. 1 StGB, als die türkische Vorschrift den Täterkreis ausdrücklich weit fasste und damit eine Provokation auch formal betrachtet nicht betroffener Menschen annahm. Nach deutschem Verständnis wären der Bruder oder der Großvater einer Ehebrecherin nicht von ihrem Verhalten betroffen, so dass die Annahme einer privilegierten Handlung hier fernläge. Art. 462 exTCK zog den privilegierten Täterkreis jedoch weiter und vermutete aufgrund der zeitlichen Voraussetzung implizit die persönliche affektive Betroffenheit des erfassten Täterkreis von einem sexuellen Fehlverhalten durch das Opfer, welche nur nach Verstreichen geraumer Zeit fernlag. Ob sich die privilegierende Wirkung von Art. 462 exTCK auch auf vorbedachte Tötungen gemäß Art. 450 Nr. 4 exTCK erstreckte, war innerhalb der Lehre umstritten. Der dies bejahende Teil des Schrifttums schloss die Privilegierung erst dann aus, wenn das Wissen des Ehemannes auf dessen Dulden schließen ließ.497 Überzeugender wurde aber eine Anwendung auf vorbedachte Tötungen wegen der Eigenschaft des Art. 462 exTCK als besonderer Fall der Provokation abgelehnt.498 Der Täter musste seine Tat also unverzüglich begehen, da andernfalls eine vorbedachte Tötung nahelag, welche nicht nach Art. 462 exTCK privilegiert sein konnte,499 weil die Vorschrift ansonsten leicht in die Nähe eines „Tötungsrechts“ hätte rücken können.500 Mit dem Tatbestandsmerkmal „suçüstü“ (auf frischer Tat) machte der Gesetzgeber deutlich, dass nur eine spontane Tötung privilegiert werden sollte. Auch das Tatbestandsmerkmal des „Ertappens“ setzte eine Zufälligkeit der Kenntnisnahme bei zuvor fehlendem Wissen des Täters voraus. Dieser Meinung schloss sich auch die Rechtsprechung an.501 Ein bloßer Verdacht begründete jedoch noch kein Wissen, so dass sich der verdachtschöpfende Ehemann auf Art. 462 exTCK berufen konnte, der seine Frau im Zeitpunkt der Gewissheit 497 Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 86; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3976; Demirbas¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 100; ähnl. auch Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 108 f. 498 Majno Bd. 3, S. 283; zust. Gözübüyük, Türk Ceza Kanunu Aç klamas , Bd. 4, Istanbul, 1981, S. 448. 499 Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸ erh, Bd. 3, S. 2138; Malkoç, Aç klamal Türk ceza kanunu, S. 3976. 500 Erem, Türk Ceza Kanunu S ¸ erh, Bd. 3, S. 2139; Erem, Adam Öldürme Cürümleri, S. 123; zust. Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 86.; Ayd nöz, Türk Ceza Kanunu ve ilgili Kanunlar, S. 530. 501 1. CD 31. Dezember 1948, 3089 / 2547, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 91; CGK 4. Juni 1973, 1 / 459, bei: Erem, Türk Ceza Kanunu S¸erh, Bd. 3, S. 2140; Die Rechtsprechung verneinte das Tatbestandsmerkmal des Ertappens auch in dem Fall, in dem der von der Untreue seiner Ehefrau wissende Ehemann sich in Verständnis übte und seine Frau um Beendigung ihrer Beziehung bat. Als er später sah, dass sie seine Bitte nicht erfüllte, tötete er sie und ihren Geliebten. Siehe CGK 21. Juni 1993, 4 – 154 / 183, YKD 1993, 1869 (1870).
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bezüglich deren Untreue tötete.502 War das Zufälligkeitserfordernis nicht erfüllt, stand im Übrigen der Rückgriff auf Art. 51 exTCK offen.503 Kritisiert wurde aber, dass Art. 462 exTCK im Gegensatz zu Art. 587 des italienischen Codice penale seinem Wortlaut nach kein Handeln aus Zorn und Schmerz forderte, sondern eine solche Gemütskrise des Täters als selbstverständlich voraussetze.504 Mit Blick auf das Gesetzlichkeitsprinzip lehnte ein Teil der Literatur ein entsprechendes Erfordernis für die Anwendung von Art. 462 exTCK ab.505 Dennoch stand für die überwiegende Auffassung hinter Art. 462 exTCK eine widerlegbare Vermutung, dass der Täter in der dort beschriebenen Situation seine Tat aus Wut oder Qual beging, weil die Vorschrift ein besonderer Fall der allgemeinen Provokation in Art. 51 exTCK sei. Dem in Art. 462 exTCK fehlenden Erfordernis eines psychischen Ausnahmezustands liege ein legislatives Versehen zugrunde.506 Das Festhalten am psychologischen Erfordernis finde seine Stütze überdies im Normzweck.507 Wer das provozierende Ereignis nur als Vorwand für eine Tötung aus anderen Gründen als zur Ehrenrettung nutze, könne sich nicht auf Art. 462 exTCK berufen.508 Der Nachweis einer anderen handlungsdominierenden Motivation zur Tatzeit schloss also eine Anwendung von Art. 462 exTCK aus.509 Hier wurde das Bemühen der Rechtsprechung sowie von Teilen der Literatur erkennbar, eine weitgehende Privilegierung von Straftaten im Namen der Ehre einzugrenzen. bb) Allgemeiner Strafmilderungsgrund der Provokation nach Art. 51 exTCK Erfüllte ein „Ehrenmord“ nicht die Voraussetzungen von Art. 462 exTCK, war gleichwohl die Verhängung einer milden Strafe unter den Voraussetzungen von Art. 51 exTCK möglich. Diese Vorschrift normierte die Strafmilderung im Fall einer unerlaubten Provokation.510 Die Strafmilderung hing davon ab, ob der Täter
502 CGK 20. März 1989, 1 – 55 / 133, bei: Önder, S ¸ ahÖslara ve Mala Kars¸ÖCürümler ve Bilis¸im AlanÖnda Suçlar, S. 141; zust. Malkoç, AçÖklamalÖTürk ceza kanunu, S. 3976. 503 Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 156. 504 Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 154. 505 Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 157 f.; Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel HaksÖz Halleri, S. 105; Erem / Toroslu, S. 405, schlugen daher eine Neufassung der Norm vor, um sie mit dem Tatbestandsmerkmal der Wut angesichts des Angriffs auf die eigene Ehre oder die der Familie zu ergänzen. 506 Tutumlu, HaksÖ z Tahrik, S. 86. 507 Majno, Ceza Kanunu S ¸ erhi, Bd. 3, Ankara, 1980. 508 Tutumlu, HaksÖ z Tahrik, S. 86; vgl. auch 1. CD 29. September 1993, 1258 / 1790, YKD 1994, 289. 509 Demirbas ¸, Türk Ceza Kanununda Özel Tahrik Halleri, S. 104 f.; Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 143; Evik, Türk Ceza YasasÖnÖn 462. Maddesi, 99 (115).
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durch eine unerlaubte Provokation aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht wurde und in der darauf folgenden Zornesaufwallung oder infolge schweren seelischen Schmerzes seine Straftat beging. Aufgrund der Stellung der Vorschrift im Allgemeinen Teil des Gesetzes war sie im Gegensatz zu Art. 462 exTCK auf alle Tatbestände des besonderen Teils anwendbar: „Bir kimse haks z bir tahrikin husule getirdigi gazap veya s¸edit bir elemin tesiri alt nda bur suç is¸ler ve bu suç ölüm cezas n müstelzim bulunursa müebbet ag r hapis cezas na ve müebbet ag r hapis cezas n müstelzim bulunursa yirmi dört sene ag r hapis cezas na mahkûm olur. Sair hallerde is¸lenen suçun cezas n n dörtte biri indirilir. Tahrik ag r ve s¸iddetli olursa ölüm cezas yerine yirmi dört sene ve müebbet ag r hapis cezas yerine on bes¸ seneden as¸ag olmamak üzere ag r hapis cezas verilir. Sair cezalar n yar s ndan üçte ikisine kadar indirilir.“511
Verglichen mit Art. 462 exTCK war Art. 51 exTCK flexibler. Der Täterkreis war nicht auf bestimmte Personen begrenzt, so dass auch die Tötung eines Mannes durch die eigene Schwester unter Anwendung von Art. 51 exTCK verurteilt werden konnte.512 Außerdem enthielt die Norm keine zeitliche Beschränkung. Verstrich einige Zeit zwischen dem provozierenden Ereignis und der Tötung, war zwar die Strafmilderung nach Art. 462 exTCK ausgeschlossen, nicht aber die wegen unerlaubter Provokation nach Art. 51 exTCK.513 Die Rechtsprechung stellte klar, dass das Opfer für eine Anwendung von Art. 51 exTCK den Täter durch sein Verhalten unerlaubt provoziert und hierdurch bei diesem einen Zornsausbruch oder heftigen Schmerz verursacht haben musste.514 Hieraus erschloss sich auch der Grund für die Strafmilderung: Zum einen hielt der Gesetzgeber das Opfer aufgrund von dessen eigenem Fehlverhalten im Hinblick auf die Tat für mitverantwortlich. Zum anderen erschien die Tat einer Person in einem psychischen Ausnahmezustand weniger vorwerfbar, wenn dieser Zustand sie zur Tat verleitet hatte.515 510 Die türkische Überschrift des Artikels „haks z tahrik“ wird hier mit „unerlaubter Provokation“ übersetzt. In den deutschsprachigen Übersetzungen wird der Begriff regelmäßig mit „ungerechtfertigte Aufreizung“ und damit ungenau übertragen. 511 „Wer in durch unerlaubte Provokation hervorgerufenem Zornausbruch oder heftigem Schmerz eine Straftat begeht, wird, falls diese Straftat mit dem Tode bedroht ist, zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, und wenn sie mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht ist, zu 24 Jahren Zuchthaus verurteilt. In den übrigen Fällen wird die Strafe für die begangene Straftat um ein Viertel ermäßigt. War die Provokation schwer und gewaltig, so wird anstatt auf Todesstrafe zu Zuchthaus nicht unter 24 Jahren und anstatt auf lebenslanges Zuchthaus zu Zuchthaus nicht unter 15 Jahren erkannt. Die übrigen Strafen werden um die Hälfte bis um zwei Drittel herabgesetzt.“ 512 Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 86. 513 Soyaslan, Ceza Hukuku Özel Hükümler, 1999, S. 110. 514 Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 22. 515 Evik, Türk Ceza Yasas n n 462. Maddesi, 99 (102); Önder, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 341 f.; Dönmezer / Erman, Nazari ve Tatbiki Ceza Hukuku, Bd. 2, S. 346;
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Als Folge der tatbestandlichen Flexibilität der Norm war das Maß der hiernach möglichen Strafmilderung verglichen mit der engeren Vorschrift in Art. 462 exTCK gering. Grundsätzlich wurde die Todesstrafe nach Art. 51 exTCK in eine lebenslange Zuchthausstrafe und diese in eine 24jährige Zuchthausstrafe umgewandelt; zeitige Freiheitsstrafen waren um ein Viertel zu ermäßigen. War die unerlaubte Provokation schwer und gewaltig, erhöhte sich der Milderungsmaßstab, ohne jedoch die großzügige Rate des Art. 462 exTCK zu erreichen. Eine schwere und gewaltige Provokation erlaubte anstelle der Todesstrafe eine Zuchthausstrafe nicht unter 24 Jahren sowie Zuchthausstrafe nicht unter 15 Jahren anstelle einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Im Übrigen waren zeitige Freiheitsstrafen um die Hälfte bis um zwei Drittel herabzusetzen. Die Norm wurde wegen ihrer Flexibilität auf der Tatbestandsseite und ihres eingeschränkten Strafmilderungsrahmens auf der Rechtsfolgenseite von der überwiegenden Zahl der Autoren als die für „Ehrenmorde“ angemessenere Norm angesehen. Unter diesem Hinweis forderten die gleichen Autoren die Abschaffung von Art. 462 exTCK.516 Das Engagement der Literatur ging jedoch nicht so weit, eine verglichen mit anderen Tötungsdelikten unterschiedlose Bestrafung von „Ehrenmorden“ – also eine Bestrafung ohne jegliche Milderung – zu fordern. Hieraus zu schließen, dass die Literatur generell eine milde Bestrafung von „Ehrenmorden“ befürwortete, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Die Forderung nach einer Abschaffung von Art. 462 exTCK ging bereits sehr weit; darüber hinaus die Abschaffung von Art. 51 exTCK oder eine ausdrückliche Ausnahme von „Ehrenmorden“ aus seinem Anwendungsbereich zu fordern, erschien in einer Phase mehrmaliger erfolgloser Anläufe zu einer umfassenden Strafrechtsreform unrealistisch. Die permanente Forderung der Literatur nach einer Abschaffung von Art. 462 exTCK und die gleichzeitige Befürwortung einer Anwendung von Art. 51 exTCK manifestierte mithin ihre Bereitschaft, zu konstruktiven und politisch realistischen Lösungen des Problems beizutragen. Ob jedoch Art. 51 exTCK auch tatsächlich die geeignete Norm für die effektive Bekämpfung von „Ehrenmorden“ gewesen wäre, erscheint fraglich. Dies liegt vor allem an der Flexibilität der Voraussetzungen. Was in Art. 51 exTCK mit „haks z“ (unerlaubt) gemeint ist, kann unterschiedlich beantwortet werden. Denkbar wäre ein Abstellen auf rein rechtliche Maßstäbe. Dann müsste das provozierende Opferverhalten zwar nicht zwingend durch das Strafrecht, aber durch das türkische Recht sanktioniert, also rechtswidrig sein. Ein solches Verständnis der Norm hätte dazu geführt, dass allein der Ehebruch des Opfers in den Anwendungsbereich der Erem / Dan s¸man / Artuk, Ceza Hukuku Genel Hükümler, S. 591 f.; Gürelli, IBD 1951, 6 (332); Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 20 f. 516 S ¸ ahin, Törelerin Etkisiyle Is¸lenen Adam Öldürme Suçlar n n Ceza Hukuku Aç s ndan Degerlendirilmesi, S. 35 (38); Evik, Türk Ceza Yasas n n 462. Maddesi, 99 (108); Demirbas¸, Türk Ceza Kanununda Özel Haks z Halleri, S. 97; Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 81; Evik, Türk Ceza Yasas n n 462. Maddesi, 99 (100, 108); Erem, Adam öldürme cürümleri, S. 123; Erman / Özek, Ceza Hukuku Özel Bölüm, S. 154.
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Norm gefallen wäre, selbst wenn man hierüber noch streiten könnte. Denn mit dem Wegfall der Ehebruchsstrafbarkeit in den späten Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts konnten Ehebrüche nunmehr allenfalls mit einer Scheidung sanktioniert werden. Ob das jedoch bei einem rein rechtlichen Verständnis des Begriffs „unerlaubt“ für eine Anwendung von Art. 51 exTCK ausgereicht hätte, liegt nicht auf der Hand. Jedenfalls wären andere Fälle von allein den Sozialnormen zuwiderlaufendem Geschlechtsverkehr nicht unter Art. 51 exTCK zu subsumieren gewesen. Bei einem solchen Verständnis hätte sich die Norm nur auf einen geringen Teil der Bestrafungen von „Ehrenmorden“ ausgewirkt, während diese im Übrigen bestraft worden wären wie jedes andere Tötungsdelikt. Die Rechtspraxis ging indes einen anderen Weg, indem sie den Maßstab für die Annahme der „Unerlaubtheit“ auch auf außerjuristische sittliche Normen ausdehnte. Hinzu kam, dass Art. 51 exTCK bezüglich des Grades der Strafmilderung zwischen einfacher und schwerer unerlaubter Provokation unterschied, ohne hierfür Abgrenzungskriterien vorzugeben. Die Rechtsprechung löste dieses Problem durch Einzelfallentscheidungen, bei denen sie sich wiederum an außerrechtlichen Sittlichkeitsnormen orientierte. Diese Auslegung von Art. 51 exTCK bestätigte zumindest teilweise diese außerrechtlichen Sittlichkeitsnormen, zu denen auch die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertvorstellungen gehörten. Denn durch die Anerkennung einer Strafmilderung erklärten die Richter zwar nach wie vor die Strafwürdigkeit des zu beurteilenden Verhaltens; sie erklärten aber zugleich, dass der Wert des Rechtsguts „Leben“ mit außerrechtlichen, streng patriarchalischen Sexualitätsnormen bestimmter Bevölkerungsgruppen abgewogen werden könne, so dass eine solche Tötung weniger strafwürdig erschien als andere. (1) Erweiterung des Unrechtmäßigkeitsmaßstabs auf sittliche Normen Durch die Einbeziehung außerrechtlicher Sittlichkeitsnormen bei der Beurteilung der Unerlaubtheit der Provokation verlieh die Rechtsprechung dem Strafmilderungsgrund in Art. 51 exTCK einen weiten Anwendungsbereich. Den Maßstab für die Unerlaubtheit bildete nicht das Strafrecht selbst; um unerlaubt zu sein, musste die Handlung des Provozierenden nicht notwendigerweise strafbar sein oder gegen andere Rechtsnormen verstoßen.517 Dem Verstoß gegen das Recht wurde seitens der Rechtsprechung ebenso gegen gesellschaftliche Wertnormen, Sitten, Gebräuche oder Konventionen verstoßendes Verhalten gleichgestellt: „Toplumsal deger hükümlerine, ahlaka, örf ve adete ayk r davran s¸lar hukuka ayk r davran s¸ niteliginde olduklar ndan adi k s¸k rtma nedeni olarak kabul edilmeleri gerekir.“518 Önder, Das türkische Strafrecht, 417 (479). „Gegen gesellschaftliche Wertnormen, Sitten, Gebräuche oder Konventionen verstoßendes Verhalten muss ebenso wie gegen das Recht verstoßendes Verhalten als Provokationsgrund anerkannt werden.“, 1. CD 1. April 1980, 41 / 1453, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 24. 517 518
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Hier stellte sich die Frage, welche Eigenschaft und welche Dauerhaftigkeit die nach Art. 51 exTCK privilegierten Wertvorstellungen haben mussten. Für die Unerlaubtheit hätte man einen Verstoß gegen dauerhafte und landesweit gültige Wertnormen verlangen können. Maßgebend waren aber stattdessen allein der Ort und die Zeit der Tat.519 Sie ließ somit auch regionale oder nur temporär gültige Wertnormen für die Beurteilung der Unerlaubtheit zu. Dass die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertvorstellungen nur in bestimmten Regionen der Türkei endemisch sind, stand vom Standpunkt der Rechtsprechung aus einer Anwendung von Art. 51 exTCK folglich nicht entgegen. Immerhin wurde Art. 51 exTCK in der höchstrichterlichen Judikatur für den Fall der Vergewaltigung einer Frau abgelehnt, welche der Täter als Provokation und damit als hinreichenden Grund zur Tötung der Vergewaltigten angesehen hatte.520 Wie bereits ausgeführt, wird im streng patriarchalischen Wertgefüge der Vergewaltigten die Verantwortlichkeit für die Sexualtat zugewiesen. Vor dem Hintergrund der deswegen von der Familie befürchteten Schande werden Vergewaltigungsopfer teilweise sogar von ihren Angehörigen getötet. Der Yarg tay ging jedoch nicht so weit, auch diese Wertvorstellungen über Art. 51 exTCK zu privilegieren, fehlt doch hier eindeutig eine Handlung des Opfers im strafrechtlichen Sinne, an welche die Vorschrift anknüpft. Die Berücksichtigung rein sozialer Wertvorstellungen reichte daher nur so weit, als die Provokation auch ein Verhalten im Strafrechtssinn darstellte. Eine weitere Ausweitung seines Anwendungsbereichs erfuhr Art. 51 exTCK aber noch dadurch, dass die Rechtsprechung für die Annahme der unerlaubten Provokation kein Wissen oder Wollen des Opfers bezüglich seines provozierenden Verhaltens forderte. Damit fielen auch vorsatzlose Provokationen unter Art. 51 exTCK.521 Eine Anwendung der Vorschrift lehnte die Rechtsprechung nur dann ab, wenn das Opfer sich gerechtfertigt verhielt. Denn ein von einem Rechtfertigungsgrund getragenes Verhalten könne nie unerlaubt sein.522 Der unbestimmte Wortlaut der Vorschrift sowie der Rückgriff auf noch unbestimmtere außerrechtliche Sozialnormen sind heikel. Tatsächlich sind gerade außerrechtliche Sozialnormen, zumal sie im Gegensatz zum Recht kaum schriftlich auf verbindliche Weise fixiert werden, nur schwer eindeutig nachzuweisen. Die Rechtsprechung begab sich mit ihrer Tatbestandsauslegung auf dünnes Eis.
Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 24. CGK 23. März 1987, 1 – 536 / 133, bei: Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254; 5. CD 29. März 2006, 403 / 2577, bei: Kaçak, Yeni Içtihatlarla Türk Ceza Kanunu, S. 128; 1. CD 12. März 2002, 146 / 766, bei: Tezcan / Erdem / Önok, Teorik ve Pratik Ceza Özel Hukuku, S. 157. 521 1. CD 7. Februar 1995, 4368 / 251, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 25. 522 1. CD 15. Dezember 1992, 2711 / 2857, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 26. 519 520
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(2) Abgrenzung zwischen einfacher und schwerer Provokation Im Hinblick auf den Grad der Strafmilderung unterschied das Gesetz zwischen einfacher und schwerer Provokation, ohne jedoch diese Provokationsformen mittels einer Definition voneinander abzugrenzen. Folglich war die Beurteilung der Schwere einer Provokation in das richterliche Ermessen gestellt.523 Der Richter hatte bei der Abgrenzung die Besonderheiten des Einzelfalls, die Lage der betroffenen Personen, Sozialnormen, Sitten und Gebräuche, allgemeine Rechtsgrundsätze, die Eigenschaft der zu bestrafenden Handlung als rechtswidrig sowie die Grundsätze der Billigkeit zu berücksichtigen.524 Doch auch die Rechtsprechung entwickelte keinen objektiven Maßstab, um die einfache von der schweren Provokation abzugrenzen. Ihre Ausführungen zur Problematik waren kaum weiterführend und dürften die Tatrichter eher verunsichert haben, zumal die höchstrichterliche Judikatur mehr einer Kasuistik gleicht als einem Beitrag zu einer klaren Abgrenzungsordnung. Tötete der Täter etwa seinen beim Ehebruch begriffenen Ehepartner und / oder den Dritten, ging die Rechtsprechung meist von schwerer Provokation aus, wohingegen andere Personen sich allenfalls auf eine einfache Provokation berufen konnten.525 Dasselbe stellte die Rechtsprechung für den Fall klar, dass der Täter vom Ehebruch seines Ehepartners erfuhr, zumal Art. 51 exTCK im Gegensatz zu der Sondervorschrift in Art. 462 exTCK keine zeitliche Einschränkung enthielt. Zwischen dem provozierenden Ereignis und der Tat konnte also einige Zeit verstrichen sein, ohne dass dies eine Anwendung von Art. 51 exTCK ausgeschlossen hätte.526 Hiervon abweichend nahm der Yarg tay aber für einen betrogenen Ehemann eine einfache Provokation für die Tötung beider Ehebrecher an. In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte der Ehemann beide Ehebrecher angezeigt, woraufhin sie strafrechtlich verurteilt wurden. Mit der Strafe unzufrieden tötete der Ehemann beide.527 Die Entscheidung verdeutlicht, dass Ehebrüche nicht generell als schwere Provoktion eingestuft werden konnten, sondern dass die Einstufung einer umfassenden Würdigung des Einzelfalls, insbesondere der zwischen der eigentlichen Provokation und der Tat als Reaktion hierauf verstrichenen Zeitspanne, bedurfte. Umgekehrt reichte dem Yarg tay für die Bejahung einer schweren ProCUH 12. 6. 1950, 1 – 5554, zitiert bei Önder, Das türkische Strafrecht, 417 (479). Otacü, AD 2003, 228 ff. unter Hinweis auf CGK 11. Juni 1996, 1 – 121 / 134; CGK 13. Februar 1995, 1 – 396 / 16. 525 1. CD 24. Mai 1999, 163 / 1914; 1. CD 10. November 1992, 1963 / 2400; 1. CD 28. November 1991, 2707 / 2892, alle bei: Yas¸ar, Uygulamada Türk Ceza Yasas , Genel Hükümler, S. 822 f.; CGK 12. Februar 1979, 484 / 58, bei: Otacü, AD 2003, 228 (236); Güls¸en, Türk Ceza Hukukunda Namus ve Töre Cinayetlerinin Cezaland r labilirdigi, 103 (118) m. w. N. 526 CGK 25. Juni 1990, 1 – 176 / 194, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 179 f. 527 CGK 1. Februar 1993, 1 – 161 / 20, bei: Aykut, Namus ve Töre Cinayetlerinin Türk Hukukundaki Ugulamas , 45 (65). Das Tatgericht hatte bemerkenswerterweise auf einfachen Totschlag erkannt, ohne Art. 51 exTCK anzuwenden. 523 524
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vokation aus, wenn ein Ehemann während eines Trennungsstreits von einem fremden Mann herrührende Kussspuren am Körper seiner Frau entdeckte.528 Für die Annahme einer schweren Provokation infolge eines Ehebruchs war zudem – anders als bei Art. 462 exTCK – nicht erforderlich, dass die Ehe rechtlich anerkannt war. Der Yarg tay bezog auch Imam-Ehen in den Anwendungsbereich der Vorschrift ein. Ihm zufolge schloss die fehlende staatliche Anerkennung nicht aus, dass diese Ehen sozial anerkannt und damit schützenswert waren.529 Eine einfache Provokation wurde demgegenüber im Fall einer Frau angenommen, die sich von ihrem Ehemann trennen wollte und ihm im Streit sagte, sie könne mit einem Mann ihres Wunsches zusammensein, und ihr Mann könne „ruhig dumm aus der Wäsche schauen“.530 Gleiches galt für den Fall, dass die Ehefrau noch vor Wirksamwerden des Scheidungsurteils die Einladung eines Dritten zum Tanz annahm und daher von ihrem Mann getötet wurde.531 Die Schwelle zur Bejahung einer einfachen Provokation war also recht niedrig und begünstigte regelmäßig männliche Täter, da Frauen sich seltener auf Sozialnormen berufen konnten, die Männer in ihrem Verhalten einschränkten. Derartige Sozialnormen waren in den infrage stehenden patriarchalischen Wertgefügen ohnehin weitgehend inexistent. Dass es deshalb umfassender Reformen zur effektiven Durchsetzung der Frauenrechte gerade im Bereich des Strafrechts bedurfte, liegt daher auf der Hand. cc) Reformentwürfe Der Strafrechtsreform aus dem Jahr 2005 gingen insbesondere in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Reformvorschläge voran, welche nach jahrelanger Vorarbeit in Expertenkommissionen konzipiert wurden. In diesen Vorschlägen kam auch die öffentliche Kritik an der strafrechtlichen Diskriminierung von Frauen 528 Der Täter sah am Tag der Tat seine Frau gemeinsam mit einem fremden Mann in ein Taxi einsteigen. Als sie drei Stunden später heimkehrte, fragte der Täter sie, was sie mit einem anderen Mann zu tun hatte. Auf ihre Antwort hin, er könne verschwinden und sich von ihr trennen, wenn er das wolle, begannen beide, sich miteinander zu raufen. Dabei nahm der Täter Ekchymosen auf ihrer linken Wange und am Jochbein sowie Kratzspuren auf den Schultern, Armen und auf der Brust wahr. In diesem Augenblick nahm der Täter ein Brotmesser und tötete hiermit seine Frau. Die von der Frau begangene unerlaubte Provokation verstieße gegen die Anstandsregeln und wurde vom Yarg tay als schwere unerlaubte Provokation eingestuft. CGK 12. November 1990, 1 – 252 / 273, bei: Tutumlu, Haks z Tahrik, S. 55. 529 „Toplumumuza gayr resmi evliliklere de resmi evlilikler kadar deger verildigi bilinen bir gerçektir. Bu kabul, gayr resmi evliligi resmi evlilikle es¸ tutmak anlam na gelmez.“, CGK 24. April 1989, 1 – 99 / 159, bei: Aykut, Namus ve Töre Cinayetlerinin Türk Hukukundaki Ugulamas , 45 (65). 530 CGK 13. Mai 1985, 608 / 268, bei: Yavuz, YD 1991, 445 (459). 531 1. CD 10. November 1988, 3004 / 4025, bei: Yavuz, YD 1991, 445 (459).
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zum Ausdruck. Sie wurden von der türkischen Nationalversammlung aber nie angenommen.532 Der Reformentwurf von 1989 war hinsichtlich dieser Problematik noch recht zögerlich, weil er sich in Art. 219 auf eine Neufassung von Art 462 exTCK beschränkte: „Bu k sm n Birinci ve Ikinci Bölümlerinde yeralan fiiller cinsî ilis¸kide bulundugu sirada yakalanan veya cinsî ilis¸kide bulunmak üzere veya cinsî ilis¸kide bulunmus¸ oldugundan s¸üphe edilmeyecek surette görülen es¸lere veya bunlar n suç ortag na veya her ikisine kars¸ kar veya koca taraf ndan is¸lenmis¸ olursa, ölüm cezas yerine alt y ldan on y la, müebbet hapis halinde dört y ldan sekiz y la kadar hapis cezas verilir. Diger hallerde ceza sekizde bire indirilir.“533
Der Reformentwurf grenzte den privilegierten Täterkreis auf Eheleute ein; auch die privilegierte Tatsituation war eingeschränkt, weil nur ein Ehebruch ausreichte, nicht aber jeder andere widerrechtliche Geschlechtsverkehr. Man könnte meinen, dass es dementsprechend für eine Anwendung der Vorschrift nicht gereicht hätte, den Ehepartner bei homosexuellem Geschlechtsverkehr ertappt zu haben. Indes bezeichnet der Entwurf den „Ehebruch“ (Zina) nicht als solchen, sondern als „Geschlechtsverkehr“ (cinsel ilis¸ki). Damit wurde zwar die besonders negative Bewertung, die der Gesetzgeber mit dem Begriff „Ehebruch“ zum Ausdruck brachte, abgeschwächt. Jedoch erfasste die gewählte Formulierung jeglichen Geschlechtsverkehr, also auch außerehelichen homosexuellen Geschlechtsverkehr. Der wesentliche Unterschied betraf also die Beschränkung der Privilegierung auf Tötungen unter Eheleuten. Im Übrigen unterschied sich Art. 219 des Entwurfs praktisch nicht von Art. 462 exTCK. Der Strafrechtsentwurf von 1997 sah in seinem Artikel 392 ein geschlechtsneutrales Verbot des Ehebruchs vor, verzichtete jedoch auf eine mit Art. 462 exTCK vergleichbare Vorschrift. Auch der Reformentwurf aus dem Jahr 2001 verzichtete auf eine mit Art. 462 exTCK vergleichbare Vorschrift.534
532 Für eine knappe Darstellung zu den vergeblichen Reformversuchen vgl. Roxin / Isfen, GA 2005, 228 (229) m. w. N. 533 „Wurden die Straftaten in dem ersten [Straftaten gegen das Leben] und dem zweiten [Straftaten gegen die körperliche Integrität] Titel dieses Abschnitts am Ehepartner, dessen Mittäter oder an beiden bei Ertappen im Augenblick des Geschlechtsverkehrs oder bei Ertappen in einem Zustand begangen, der zweifelsfrei auf die beabsichtigte oder bereits begangene Ausübung des Geschlechtsverkehrs schließen lässt, so wird anstelle der Todesstrafe eine Freiheitsstrafe von sechs bis zehn Jahren, anstelle der lebenslangen Freiheitsstrafe eine Freiheitsstrafe von vier bis acht Jahren verhängt. In anderen Fällen wird die Strafe auf ein Achtel herabgesetzt.“ 534 Dönmezer, Kis ¸ilere ve mala kars¸ cürümler, S. 177.
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2. Die Behandlung von „Ehrenmorden“ nach derzeit geltendem türkischem Strafrecht Am 1. Juni 2005 trat in der Türkei ein neues Strafgesetzbuch535 (TCK) an die Stelle des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1926. Grund für die Reform war einerseits die Einbuße an inhaltlicher Kohärenz des früheren Strafgesetzbuchs, welche nach über 70 Änderungsgesetzen zu verzeichnen war.536 Nach der Vielzahl der zuvor gescheiterten Reformversuche dürfte jedoch ein weiterer Aspekt entscheidend gewesen sein. Die Verabschiedung des neuen Strafgesetzbuchs fiel in die Phase der Kandidatur für einen Beitritt zur Europäischen Union, so dass vor allem dieser Aspekt die treibende Kraft im Strafrechtsreformprozess war. Im Hintergrund stand die damals noch bevorstehende Empfehlung der Europäischen Kommission vom 6. Oktober 2004 über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen der Union mit der Türkei. Dementsprechend waren die in Ankara unternommenen Anstrengungen groß, noch rechtzeitig ein modernes Strafgesetzbuch zu verabschieden. Das letztlich verabschiedete Strafgesetzbuch unterscheidet sich jedoch grundlegend von dem nicht konsensfähigen Regierungsentwurf, der im Frühjahr 2003 in die türkische Nationalversammlung eingebracht wurde. Es wurde unter Zeitdruck in knapp sieben Monaten und 58 Sitzungen entworfen und nach knapp fünf Monaten mit einigen Änderungen und Ergänzungen von der Nationalversammlung fraktionsübergreifend verabschiedet.537 Es liegt nahe, dass das Strafgesetzbuch angesichts der Eile und fehlender wissenschaftlicher Diskussion im Vorfeld an Perfektion einbüßen musste. Diese Einbußen wirken sich zum Teil auch auf die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ aus. Dieser skeptische Blick soll freilich nicht den immensen Kraftakt relativieren, der hinter dem Reformwerk steht. Trotz der im Nachfolgenden näher dargestellten Schwächen und den damit einhergehenden Herausforderungen an Wissenschaft und Praxis steckt in dem Strafgesetzbuch das Potential einer intensiveren Anbindung an das westliche Europa. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern orientiert sich das neue Werk als erstes türkisches Strafgesetzbuch nicht an einem einzigen Quellenrecht. Gleichwohl rezipiert der türkische Gesetzgeber auch mit dem neuen Strafgesetzbuch fremdes Strafrecht, wenngleich diesmal mehrere Strafgesetzbücher ausgewertet worden sind, zu denen auch das deutsche Strafgesetzbuch zählt.538 Mit diesem Legislativakt bezweckte die Türkei auch, den Forderungen der Europäischen Union sowie der türkischen Zivilgesellschaft nach einem strengen Vorgehen gegen „Ehrenmorde“ nachzukommen. Zur Umsetzung dieser Forderung verGesetz Nr. 5237 vom 26. 9. 2004, Resmî Gazete Nr. 25611 vom 11. 10. 2004. Sözüer, ZStW 2007, 717 ff. 537 Roxin / Isfen, GA 2005, 228 (229). 538 Die Vielzahl der rezipierten Quellen führte freilich dazu, dass kein in sich stimmiges Werk geschaffen wurde, sondern sich die Normen teilweise deutlich widersprechen. 535 536
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zichtete der Gesetzgeber nicht nur auf die Wiedereinführung einer mit Art. 462 exTCK vergleichbaren Privilegierung, sondern verschärfte das Strafmaß für „Ehrenmorde“ sogar durch die Einführung eines Qualifikationstatbetandes innerhalb der Tötungsdelikte. Gegenüber der für den einfachen Totschlag drohenden Strafe erwartet den Täter einer Tötung aus Gründen der Tradition eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe.539 Hierunter können auch „Ehrenmorde“ fallen. Ergänzend führte der Gesetzgeber Vorschriften für eine strenge Bestrafung von Familienratsmitgliedern ein, die sich zur Tatbegehung eines Minderjährigen bedienen, was von der Literatur teilweise ausdrücklich begrüßt wurde.540 Die Strafe des mittelbaren Täters, der sich zur Tatbegehung eines schuldunfähigen Werkzeugs bedient, wird gemäß Art. 37 Abs. 2 TCK um ein Drittel erhöht: „Suçun is¸lenmesinde bir bas¸kas n araç olarak kullanan kis¸i de fail olarak sorumlu tutulur. Kusur yetenegi olmayanlar suçun is¸lenmesinde araç olarak kullanan kis¸inin cezas , üçte birden yar s na kadar art r l r.“541
Gemäß Art. 31 TCK können Kinder unter 12 Jahren strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden, so dass derjenige, der sich eines unter 12 Jahre alten Kindes bedient, über Art. 37 II TCK eine Strafschärfung erfährt. Daneben existiert in Art. 38 Abs. 2 TCK eine allgemeine Strafschärfungsvorschrift für Anstiftungen unter Verwandten beziehungsweise die Anstiftung eines nicht unbedingt mit dem Anstifter verwandten Kindes: „Üstsoy ve altsoy ilis¸kisinden dogan nüfuz kullan lmak suretiyle suça azmettirme hâlinde, azmettiren cezas üçte birden yar s na kadar art r l r. Çocuklar n suça azmettirilmesi hâlinde, bu f kra hükmüne göre cezan n art r labilmesi için üstsoy ve altsoy ilis¸kisinin varl g aranmaz.“542
Soweit diese Vorschrift eine Abschreckung durch strenge Bestrafung der Verwandten bezweckt, die im Rahmen eines Familienrats eine Blutrachetötung oder einen „Ehrenmord“ beschließen, ist die Wirksamkeit dieser Norm zu bezweifeln. 539 Während die lebenslange Freiheitsstrafe nach Art. 48 TCK eine Freiheitsstrafe für die Dauer des Lebens des Täters bedeutet, meint „ag rlas¸t r lm s¸ müebbet hapis cezas “ (erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe) gemäß Art. 47 TCK eine lebenslange Freiheitsstrafe, bei welcher der Täter gemäß besonderen Gesetzen oder anderen Rechtsvorschriften im Rahmen eines strengen Sicherheitssystems bestraft wird. Bezüglich der Notwendigkeit einer erschwerten Freiheitsstrafe kritisch Roxin / Isfen GA 2005, 228 (241). 540 Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254; Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis ¸ilere Kars¸ Suçlar, S. 56. 541 „Wer einen anderen zur Tatbegehung als Werkzeug einsetzt, wird als Täter bestraft. Wer einen Schuldunfähigen als Werkzeug benutzt, dessen Strafe wird um ein Drittel bis um die Hälfte angehoben.“ 542 „(2) Wer die Verwandtschaftsbeziehung zu einem Vorfahren oder Abkömmling dazu ausnutzt, diesen zur Begehung einer Straftat anzustiften, dessen Strafe wird um ein Drittel bis um die Hälfte angehoben. Wird ein Kind zur Begehung einer Straftat angestiftet, kommt es auf die Feststellung einer Verwandtschaftsbeziehung zur Strafanhebung im Sinne dieser Vorschrift nicht an.“
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Denn in diesem Fall droht dem Vordermann ohnehin die Höchststrafe, so dass die in Art. 38 Abs. 2 TCK angedrohte Straferhöhung ins Leere läuft. Die Vorschrift gewinnt freilich dort an Bedeutung, wo der Familienrat einen Minderjährigen zur Tatbegehung bestimmt, weil die diesem an sich drohende erschwerte lebenslange Freheitsstrafe gemäß Art. 31 TCK bei Tätern zwischen 12 und 15 Jahren auf eine zeitige Freiheitsstrafe von 12 bis 15 Jahren herabgesetzt wird. Auch bei Tätern im Alter zwischen 15 und 18 Jahren wird die Strafe auf eine zeitige Freiheitsstrafe herabgesetzt, die allerdings zwischen 18 und 20 Jahren beträgt. Ob das neue Gesetz eine strenge Bestrafung des Tatnächsten absichert, erscheint gleichwohl unklar. Denn auch das neue Strafgesetzbuch sieht eine milde Bestrafung für eine infolge unerlaubter Provokation begangene Tat vor. Diese ist nunmehr in Art. 29 TCK geregelt. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Qualifikation in Art. 82 TCK und der Strafmilderungsvorschrift in Art. 29 TCK. Hiervon hängt es ab, ob „Ehrenmorde“ künftig eher streng oder weiterhin milde bestraft werden. Diese Fragen wurden schon im Gesetzgebungsverfahren kontrovers diskutiert. In der Beratung vom 14. September 2004 bekräftigte die für Frauenfragen zuständige Abgeordnete der Oppositionspartei CHP, dass die Tötung einer Frau wegen ihres sexuell selbstbestimmten Lebensstils nie unter Art. 29 TCK fallen dürfe.543 Dieser Einschätzung trat der Abgeordnete der Regierungspartei Bozdag entgegen. Es existiere keine Norm, derzufolge bei Tötungen aus Gründen der Tradition die Annahme einer unerlaubten Provokation ausgeschlossen sei, so dass der Richter jederzeit Art. 29 TCK anwenden könne, wenn er vom Vorliegen unerlaubter Provokation überzeugt sei. Bozdag berief sich auf den Fall, dass eine Person ihren Ehepartner beim Geschlechtsverkehr mit einem Dritten ertappt, dadurch ihre Beherrschung verliert und ein Tötungsverbrechen begeht. Eine Anwendung von Art. 29 TCK müsse dem Richter hier unbenommen bleiben.544 Das gewählte Beispiel verweist implizit auf die in Art. 462 exTCK vorausgesetzte Tatsituation; zugleich erinnert es aber auch an die Rechtspraxis zur Zeit der Geltung dieser Vorschrift, die Art. 51 exTCK stets als Auffangnorm für Art 462 exTCK verstand, solange dessen Voraussetzungen nicht erfüllt waren. Damit machte Bozdag aber auch deutlich, dass es ihm und seiner Partei bei der Reform nicht um die wirksame Bekämpfung von „Ehrenmorden“ ging, sondern vielmehr um ein Erwecken eines entsprechenden Anscheins.545 Die Regierungspartei setzte sich durch, so dass die Qualifikationsnorm in Art. 82 lit. k) TCK entsprechend der Gesetzesbegründung nur dann angewendet werden darf, wenn die Voraussetzungen der strafmildernden unerlaubten Provoka543 TBMM Tutanak Dergisi, 14. September 2004, 119. Sitzung (abrufbar unter tbmm. gov.tr). 544 Ebenda. 545 So auch Göztepe, TBBD 2005, 29 (46); dies., EuGRZ 2008, 16 (20).
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tion nicht erfüllt sind. Eine gleichzeitige Anwendung beider Vorschriften ist damit ausgeschlossen: „Töre saikiyle öldürme halinde ag rlas¸t r lm s¸ müebbet hapis cezas na hükmedilecektir. Ancak, bu hükmün uygulanabilmesi için, somut olayda haks z tahrikin kos¸ullar n n bulunmamas gerekir.“546
Weil Art. 29 TCK sich hinsichtlich seines Wortlauts nur geringfügig von Art. 51 exTCK unterscheidet und nach dem gesetzgeberischen Willen der Qualifikationsnorm vorgeht, steht eine Fortsetzung milder Bestrafungen von „Ehrenmorden“ zu befürchten. Die höchstrichterliche Judikatur hatte bislang noch keine Gelegenheit, sich zu diesem Problem zu äußern. Der noch in den Anfängen stehenden höchstrichterlichen Auseinandersetzung mit der Problematik steht jedoch eine rege Diskussion im Schrifttum gegenüber, das – dies ist gewiss der stetig wachsenden Brisanz der Thematik geschuldet – geteilter Meinung ist. Es finden sich dort Stimmen, denen zufolge die Reform kaum Neuerungen bei der strafrechtlichen Bewertung von „Ehrenmorden“ realisiert habe, so dass sich Täter eines „Ehrenmordes“ oftmals auf die Milderungsvorschrift in Art. 29 TCK berufen können. Zunehmend äußern sich demgegenüber Autoren, die sich für eine strenge Bestrafung von Tätern eines „Ehrenmordes“ einsetzen und die dafür eintreten, dass Täter sich nicht auf Art. 29 TCK berufen können, wenn ein Familienmitglied von seiner sexuellen Freiheit Gebrauch macht.547 Es stellt sich daher die Frage, ob und wie diese strenge Bestrafung der Täter eines „Ehrenmordes“ auf dogmatisch schlüssige Weise gewährleistet werden kann.
a) Allgemeiner Strafmilderungsgrund der Provokation in Art. 29 TCK Art. 29 TCK zählte in der legislativen Beratungsphase zu den umstrittensten Vorschriften des neuen Strafgesetzbuchs, was wohl hauptsächlich an der großzügigen Anwendung des Art. 51 exTCK – der Vorgängernorm – durch die Rechtsprechung lag, welcher der Gesetzgeber entgegentreten wollte.548 Gleichwohl entschied sich der türkische Gesetzgeber zugunsten der Beibehaltung eines auf alle Tatbestände anwendbaren Schuldmilderungsgrundes im Falle unerlaubt provozierter Taten, nahm hierbei aber Änderungen im Vergleich zur früheren Regelung vor: „Haks z bir fiilin meydana getirdigi hiddet veya s¸iddetli elemin etkisi alt nda suç is¸leyen kimseye ag rlas¸t r lm s¸ müebbet hapis cezas yerine onsekiz y ldan yirmidört y la ve müeb546 „Im Falle einer Tötung aus Gründen der Tradition ist eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen. Aber um diese Vorschrift anzuwenden, dürfen im Einzelfall nicht die Voraussetzungen einer unerlaubten Provokation erfüllt sein.“ 547 S ¸ en, Yeni Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 261. 548 Sözüer, ZStW 2007, 717 (732).
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bet hapis cezas yerine oniki y ldan onsekiz y la kadar hapis cezas verilir. Diger hâllerde verilecek cezan n dörtte birinden dörtte üçüne kadar indirilir.“ 549
Zuallererst fällt das Fehlen einer Unterscheidung zwischen einfacher und schwerer Provokation auf, wie sie noch dem Art. 51 exTCK zugrunde lag. Ob sich die Unterscheidung wegen des fehlenden Widerhalls im Wortlaut der neuen Vorschrift erledigt hat, mag indessen bezweifelt werden. Denn auch wenn die Beurteilung der Schwere der Provokation nicht mehr erforderlich zu sein scheint, macht der nunmehr stärker auseinanderklaffende Milderungsrahmen die Beurteilung unverändert erforderlich. Wenn die Milderungsrate im Einzelfall bei 1/4 beginnt und bei 3/4 endet, muss sich der Richter für eine Rate entscheiden, weswegen sich das Problem der Abgrenzung allenfalls in formaler Hinsicht erledigt hat. Folgenreicher ist die Bezeichnung des die Provokation begründenden Anlasses. Nunmehr verwendet der Gesetzgeber die Formulierung „haks z fiil“ (unerlaubte Handlung), um das vom Opfer ausgehende provozierende Verhalten zu beschreiben. Der Begriff stammt aus dem zivilrechtlichen Deliktsrecht und wirft Probleme auf. Unklar ist zunächst, ab wann eine unerlaubte Handlung im Sinne der Vorschrift zu bejahen ist. Ein großer Teil der Literatur kommentiert die Vorschrift unter Rückgriff auf die frühere Rechtsprechung zu Art. 51 exTCK, ohne die Änderungen im Wortlaut der Norm oder die Gesetzesbegründung zu berücksichtigen. Dies ist insbesondere für die strafrechtliche Beurteilung von „Ehrenmorden“ folgenreich. Denn ausgehend von den Ausführungen einiger Autoren ist Art. 29 TCK ein Einfallstor für die Privilegierung von solchen Fällen, für die es ehemals einen Privilegierungsgrund gab und die der Gesetzgeber nunmehr eigentlich nicht milde bestraft wissen will. Insofern ergeben sich Parallelen zu den zahlreichen Ausführungen der deutschen Strafrechtsliteratur zum minder schweren Fall des Totschlags in § 213 RStGB kurz nach seinem Inkrafttreten, denen zufolge diese Norm eine Berücksichtigung an sich längst überkommener Tötungsrechte ermöglichen sollte.550 Hinweise für eine Auslegung des Begriffs der unerlaubten Handlung finden sich in der Gesetzesbegründung: „Hiddet veya s¸iddetli elemin haks z bir fiil sonucu ortaya ç kmas gerekir. Maddeye bu ibarenin eklenmesinin amac , ülkemizde özellikle „töre veya namus cinayeti“ olarak adland r lan akraba içi öldürme suçlar nda haks z tahrik indiriminin yanl s¸ biçimde uygulanmas n n önüne geçmektir. Maddedeki düzenleme nedeniyle bir suçun magduruna yönelik gerçekles¸tirilen fiiller dolay s yla fail haks z tahrik indiriminden yararlanamayacakt r. Örnegin cinsel sald r ya 549 „Wer eine Straftat unter dem Eindruck einer Zorn oder heftiges Leid auslösenden unerlaubten Handlung begeht, wird anstelle von erschwerter lebenslanger Freiheitsstrafe mit einer Haftstrafe von siebzehn bis vierundzwanzig Jahren und anstelle von lebenslanger Freiheitsstrafe mit einer Haftstrafe von zwölf bis achtzehn Jahren bestraft. In den übrigen Fällen wird die Strafe von einem Viertel bis zu drei Vierteln gemildert.“ 550 Dazu näher in Teil 3 Abschnitt I.
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maruz kalm s¸ kad na kars¸ baban n veya erkek kardes¸in is¸ledigi öldürme fiilinde, haks z tahrike olarak ceza indirimi yap lamayacaktir. Maddedeki haks z fiil terimi, bir davran s¸ n hukuk düzenince tasvip edilmedig anlam na gelmektedir. Ancak böyle bir haks z fiili yapan kis¸iye kars¸ yönelik fiilin varl g durumunda maddenin uygulanmas söz konusu olabilecektir.“551
Nach der in der Literatur herrschenden Meinung552 ist mit dem Begriff der „unerlaubten Handlung“ keine Straftat oder ein zivilrechtliches Delikt gemeint. Auch eine straflose Handlung könne in rechtlicher Hinsicht unerlaubt sein und damit eine unerlaubte Handlung im Normsinn darstellen. Für die Beurteilung der Unerlaubtheit sei auf die in einer Gesellschaft anerkannten sozialen Wertnormen zurückzugreifen. Dabei seien insbesondere die Person des Täters sowie die örtlichen Anschauungen zu berücksichtigen. Diese Meinung steht jedoch in klarem Widerspruch zur Normbegründung, weil der Verstoß gegen Sozialnormen nicht zwingend einem Rechtsverstoß gleichkommt. Insofern ist dieser herrschenden Auffassung vorzuwerfen, dass sie die legislativen Reformbestrebungen nicht vollumfänglich würdigt, sondern stattdessen die aktuelle Rechtslage der früheren undifferenziert gleichstellt. Eine andere Ansicht553 lässt einen Verstoß gegen außerrechtliche Normen, also etwa bloße Moralvorstellungen, für die Annahme einer unerlaubten Handlung nicht genügen. Soziale Moralvorstellungen beziehungsweise Traditionen können dem Recht jedenfalls von ihrem Standpunkt aus nicht vorgehen. Ein Verstoß gegen Moralvorstellungen sei nur dann als eine unerlaubte Handlung einzustufen, wenn diese Moralvorstellungen ausdrücklich durch Rechtsvorschriften anerkannt seien, wenn also das Opfer mit seinem Verstoß gegen Moralvorstellungen zugleich gegen das Recht verstoße. Eine unerlaubte Handlung sei daher abzulehnen, wenn der 551 „Der Zorn oder das heftige Leid muss Folge einer unerlaubten Tat gewesen sein. Mit dieser Tatbestandsergänzung wird bezweckt, einer fehlerhaften Annahme der unerlaubten Provokation für die in unserem Land begangenen Tötungsdelikte unter Verwandten, insbesondere die sogenannten „Ehren- oder Traditionsmorde entgegenzuwirken. Aufgrund des Wortlauts der Vorschrift kann der Täter sich nicht auf die Privilegierung der unerlaubten Provokation berufen, wenn sich seine Tat gegen das Opfer einer Straftat richtet. So kann etwa die von ihrem Vater oder Bruder begangene Tötung einer Frau, die einen sexuellen Übergriff erlebt hatte, nicht wegen unerlaubter Provokation hinsichtlich der Strafe gemildert werden. Der in der Vorschrift [verwendete] Begriff der unerlaubten Tat meint ein nach rechtlichem Maßstab unerlaubtes Verhalten. Nur wenn die Tat sich gegen eine Person richtet, welche eine solche unerlaubte Handlung begeht, ist die Vorschrift anzuwenden.“, Begründung zu Art. 29 TCK. 552 Özgenç, Türk Ceza Hukuku. Genel Hükümler, S. 394; Demirbas ¸, Ceza Hukuku. Genel Hükümler, S. 392; Artuk / Gökcen / Yenidünya, 5237 Sayçlç Yeni TCKy´a Göre Hazçrlanmçs¸ Ceza Hukuku. Genel Hükümler, Bd. 1, S. 688; Malkoç, Aççklamalç – Iççtihatlç 5237 Sayçlç Yeni Türk Ceza Kanunu, Bd. 1, S. 177; Parlar / HatipogÇlu, 5237 Sayçlç Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 306. 553 Malkoç, Aççklamalç – ç Içtihatlç Yeni Türk Ceza Kanunu, S. 178 ff., insbesondere S. 180; Centel / Zafer / Çakmut, Türk Ceza Hukukuna Giris„ S. 447; Parlar / HatipogÇlu, 5237 Sayçlç Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 307 f.
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Handelnde von seinen rechtlich anerkannten Freiheiten Gebrauch gemacht habe, weil eine solche Handlung im Einklang mit dem Recht stehe und es dann nicht auf die Wirkung auf den Täter ankomme.554 Wenn etwa eine verheiratete Frau sich von ihrem Mann scheiden lassen wolle, stehe ihr dieses Recht zu. Die rechtliche Möglichkeit einer Scheidung versperre infolgedessen die Annahme einer „unerlaubten Handlung“. Diese Sichtweise befindet sich auch deshalb im Einklang mit der Gesetzesbegründung, weil der Gesetzgeber dort einen Fall nennt, der nicht nach Art. 29 TCK privilegiert werden soll: Art. 29 TCK sei nicht anwendbar, wenn der Vater oder der Bruder eine Frau tötet, weil diese zuvor Opfer eines Sexualdelikts geworden war. Der Hinweis, dass die Tötung einer Vergewaltigten keinen Fall der unerlaubten Provokation darstelle, ist bemerkenswert. Dieser Fall wurde vom Yarg tay nämlich auch nach der früheren Gesetzeslage nicht unter Art. 51 exTCK subsumiert, so dass es dieses gesetzgeberischen Hinweises an sich nicht bedurft hätte.555 Wenn der Gesetzgeber eine zu weitgehende Anwendung der Vorschrift durch die Rechtsprechung moniert und zur Klarstellung seiner Reformbestrebungen auf das von ihm gewählte Beispiel rekurriert, erscheint dies zunächst widersprüchlich. Das Beispiel ergibt jedoch dann Sinn, wenn der Gesetzgeber auch weitere Fälle nicht mehr als unerlaubte Provokation bewertet wissen will, nämlich solche, in denen das als provozierend empfundene Verhalten des Opfers nicht gegen das Recht verstößt. Diese Sicht wird durch den dem Beispiel nachfolgenden Satz in der Begründung bestätigt, wonach das Opfer gegen rechtliche Normen verstoßen haben muss. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage reicht ein einfacher Verstoß gegen Sitten, Traditionen, Gebräuche und Anstandsregeln unterhalb der rechtlichen Relevanzschwelle für die Bejahung einer unerlaubten Provokation nicht mehr aus. Vereinzelt wird aufgrund des in der Begründung genannten Beispiels der Vergewaltigten angenommen, nur bei Tötungen alleinstehender Frauen sei eine Anwendung von Art. 29 TCK unzulässig. Da die Gesetzesbegründung im Übrigen keine Einschränkungen vorsehe, sei im Umkehrschluss weiterhin eine unerlaubte Provokation anzunehmen, wenn eine verheiratete Frau ihren Mann für einen Dritten verlässt und daher getötet wird.556 Diese Meinung ist indessen isoliert und überdies auch nicht haltbar. Denn der Gesetzgeber bezeichnet den von ihm gewählten Fall der Vergewaltigten ausdrücklich als Beispiel, so dass die von ihm geforderten Einschränkungen in der richterlichen Anwendung über diesen Fall hinausgehen müssen. Zudem stellt das Verlassen des Ehepartners auch nach türkischem Recht kein rechtlich relevantes Fehlverhalten dar. Eine unerlaubte Handlung im Sinne von Art. 29 TCK setzt jedoch ein rechtlich relevantes Fehlverhalten des Opfers voraus. 554 Demirbas ¸, Ceza Hukuku. Genel Hükümler, S. 392 unter Hinweis auf CGK 19. März 1996, 1 – 37 / K. 47; zust. Artuk / Gökcen / Yenidünya, 5237 Say l Yeni TCKy´a Göre Haz rlanm s¸ Ceza Hukuku. Genel Hükümler, Bd. 1, S. 690. 555 CGK 23. März 1987, 1 – 536 / 133, bei: Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254. 556 Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254.
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Laut Göztepe steht aber zu befürchten, dass die Gerichte in allen in der Gesetzesbegründung nicht genannten Fällen weiterhin gesellschaftliche Normverstöße als Fälle unerlaubter Handlung positiv feststellen oder stillschweigend annehmen werden. Wenn beispielsweise eine Frau entgegen dem Willen ihrer Familie eine einverständliche sexuelle Beziehung mit einem Mann aufnimmt, ihn heiratet, mit einem männlichen Freund ins Kino oder spazieren geht oder ähnliches Verhalten an den Tag legt, geht es um das sittliche Verhalten der jeweiligen Frau, nicht das eines Dritten; die Gesetzesbegründung schließt jedoch ausdrücklich nur den Fall für eine Anwendung von Art. 29 TCK aus, bei dem ein Dritter einen Normverstoß – nämlich die Vergewaltigung – begeht.557 Dem Gesetzgeber ist daher vorzuhalten, nicht klar dargelegt zu haben, worauf die Rechtsprechung bei der Anwendung von Art. 29 TCK abstellen soll. Wenn die unerlaubte Provokation im Sinne der Vorschrift allein von der Handlungsqualität des Opferverhaltens abhängen soll, dann wären die früher nach Art. 51 exTCK privilegierten Fälle weiterhin einer Strafmilderung zugänglich. Dann aber hätte die Reform in dieser Hinsicht wenig verändert. Andererseits lässt sich die Vorschrift auch so verstehen, dass ein Verstoß gegen die traditionellen Ehrvorstellungen keine unerlaubte Provokation darstellt, solange das Verhalten nicht rechtlich relevant ist. Im Grunde genommen ist aber den Gerichten angesichts der Unklarheit des gesetzgeberischen Anliegens kaum ein Hindernis in den Weg gelegt, ihre tätergünstige Rechtsprechung in „Ehrenmordfällen“ fortzusetzen, solange nicht der in der Gesetzesbegründung ausdrücklich genannte Fall einer Vergewaltigung einschlägig ist.
b) Strafschärfungsgrund für Tötungen aus Gründen der Tradition in Art. 82 TCK Art. 82 TCK erschwert die lebenslange Freiheitsstrafe für eine vorsätzliche Tötung im Sinne von Art. 81 TCK in den von der Vorschrift genannten Fällen. Hierzu zählt auch die Blutrachetötung und die Tötung aus Gründen der Tradition: „Kasten öldürme suçunun; [ . . . ] j) kan gütme saikiyle, k) töre saikiyle, is¸lenmesi hâlinde, kis¸i ag rlas¸t r lm s¸ müebbet hapis cezas ile cezaland r l r.“558
Teilweise wird der Gesetzgeber kritisiert, keine entsprechende Qualifikation für Körperverletzungsdelikte eingeführt zu haben.559 Unter vielen Aspekten ist die Vorschrift jedoch geglückt. Begrüßenswert ist die geschlechtsneutrale Formulierung der Vorschrift. Schließlich begehen zwar meist Männer „Ehrenmorde“, teilGöztepe, TBBD 2005, 29 (44); dies., EuGRZ 2008, 16 (20). „Wird die vorsätzliche Tötung [ . . . ] j) aus Gründen der Blutrache, k) aus Gründen der Tradition, begangen, wird der Täter mit erschwerter lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.“ 559 S ¸ en, Yeni Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 261. 557 558
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weise aber auch Frauen.560 Des Weiteren ist zu begrüßen, dass das Täteralter oder seine verwandtschaftliche Beziehung zum Opfer für eine Anwendung von Art. 82 TCK irrelevant sind.561 Gleichwohl wirft die Tatbestandsfassung einige Fragen auf. Die erste betrifft das Verhältnis zwischen Art. 82 lit. j) TCK und Art. 82 lit. k) TCK, denn auch eine Blutrachetötung wird aus traditionellen Gründen begangen.562 Wegen dieser Nähe zu Blutrachefällen wird die Qualifikation in Art. 82 lit. k) TCK vereinzelt als unnötig erachtet.563 In beiden Fällen handelt es sich um kulturell motivierte Taten, bei denen die Familie involviert ist und die kollektive Ehre verteidigt wird. Beiden Taten liegt zudem eine oftmals schwer nachzuweisende Planung zugrunde.564 Diese Frage ist jedoch dahingehend zu beantworten, dass lit. j) zugleich als ein besonderer Fall von lit. k) der letztgenannten Variante als Spezialfall vorangeht. Weitaus größere Probleme bereitet die Frage, wann im Übrigen von einer Tötung aus Gründen der Tradition die Rede sein kann. Der Gesetzgeber traf in seiner Begründung zu Art. 82 TCK keine Aussagen darüber, was er mit „Tradition“ meint und wann eine Tötung unter Art. 82 lit. k) TCK fallen soll. Seine Erläuterungen beschränken sich darauf, dass dieses Qualifikationsmerkmal nur dann bejaht werden kann, wenn kein Fall widerrechtlicher Provokation vorliegt. Diese Knappheit der gesetzgeberischen Ausführungen wird von der Literatur kritisiert. Auf diese Weise hätte der Gesetzgeber die Reichweite der von ihm verfolgten Reformbestrebungen unmissverständlich verdeutlichen können.565 Insbesondere hat der Gesetzgeber es unterlassen, den Begriff der „Tradition“ näher zu erläutern oder Ausführungen dazu zu machen, welche Straftaten er im Einzelnen unter diesen Tatbestand subsumiert wissen will. Die Knappheit der Gesetzesbegründung und der schlichten Bezugnahme auf Art. 29 TCK legen nahe, dass sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung von Art. 82 lit. k) TCK herausgebildet haben. Die Divergenzen innerhalb der Literatur beschränken sich jedoch allenfalls auf den Wortlaut von Definitionsversuchen für den Begriff „töre“ (Tradition).566 Es fällt auf, dass die Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸ÖSuçlar, S. 56. Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸ÖSuçlar, S. 56; Göztepe, TBBD 2005, 29 (41). 562 Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis ¸ilere Kars¸ÖSuçlar, S. 55. 563 Hakeri, Kasten Ödürme, S. 253. 564 Hakeri, Kasten Öldürme, S. 253. 565 Göztepe, TBBD 2005, 29 (44); vgl. dies., EuGRZ 2008, 16 (21). 566 Vgl. unter Hinweis auf das türkische Rechtswörterbuch „Türk Hukuk Lügat“ Aykut, Namus ve Töre Cinayetlerinin Türk Hukukundaki UgulamasÖ, in: KSSGM (Hrsg.), Töre Cinayetleri, Ankara, 1999, 45 (45); ebenso Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸Ö Suçlar, S. 55: „Töre, yazÖlÖolmayan ancak toplum içinde yÖllardan beri kendisine uyulagelen ahlak ve hukuk kurallarÖdÖr.“ Vgl. auch eine andere von Meran verwendete Definition: „Bunun yanÖnda toplum üyelerinin çogÖunlugÖunun inandÖgÖÖterbiye standartlarÖnÖsalayan temel 560 561
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B. „Ehrenmorde“ und das Honour-Shame-Syndrome
Autoren mehr oder weniger ratlos auf Definitionen in Wörterbüchern oder anderen außerjuristischen Quellen zurückgreifen und sich im Kern nicht widersprechen. Angesichts der geringen Abweichungen in dieser Frage können die Begriffsdefinitionen in der Literatur folgendermaßen zusammengefasst werden: Tradition ist die Summe der von einer Gesellschaft seit einiger Zeit überlieferten, immer noch eingehaltenen und vom Individuum einforderbaren Verhaltensregeln. Eine weitere Begriffsdefinition berücksichtigt dagegen stärker den hinter der Vorschrift stehenden gesetzgeberischen Willen. Dementsprechend meine der Begriff „Tradition“, dass „ein Familienrat die Tötung eines – meist weiblichen – Mitglieds zum Schutz der Familienehre beschließt“.567 Freilich ist dieser Meinung entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber zwar eine strengere Sanktionierung von „Ehrenmorden“ im Blick hatte, der Wortlaut aber hierüber hinausgeht. Indem er die Tötung aus Gründen der Tradition qualifiziert, öffnet er den Tatbestand auch für solche Traditionen, welche der türkischen Tradition fremd sind. Die Vorschrift erfasst auch die Verurteilung fremdkulturell geprägter Täter, welche eine Tötung aus Gründen ihrer heimatlichen Tradition begehen, wobei diese Tradition nicht identisch mit einer in der Türkei endemischen Tradition sein muss. Insofern ist dieser Definition entgegenzuhalten, dass sie den Anwendungsbereich der Vorschrift zu einseitig auf Tötungen begrenzt, die vor dem Hintergrund türkischer Traditionen stehen. Vorzugswürdig ist also die zuvor dargestellte, neutrale Begriffsdefinition, die im Einklang mit der neutralen Formulierung der Qualifikationsvorschrift steht. Jedenfalls besteht Einigkeit auch in der Aussage, dass nicht jede Tötung aus Gründen der Ehre in den Anwendungsbereich der Qualifizierungsnorm fällt. Hätte der Gesetzgeber dies gewünscht, müsste der Wortlaut anders lauten, etwa „namus saikiyle“ (aus Gründen der sexuellen Ehre).568 Noch deutlicher ist die Einigkeit der Literatur in der Frage, wann Art. 82 lit. k) TCK einen von Art. 29 TCK eigenständigen Anwendungsbereich hat. Art. 82 lit. k) TCK soll nur dann anwendbar sein, wenn der Täter aufgrund eines Familienratsbeschlusses den Totschlag begangen hat.569 Die Literatur relativiert vereinzelt die ahlak kurallarÖve davranÖs¸ biçimleri olarak da tanÖmlanabilmektedir.“, in: Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸ÖSuçlar, S. 55; Y ld z, Intihar bir Töre Cinayeti mi?, S. 137; ähnlich auch Tezcan: „bir toplumun ya da toplum kesiminin ortaklas¸a benimsedigÖi, kabul ettigÖi, uymak zorunda oldugÖu gelenek, görenek gibi toplumsal kurumlardan davranÖs¸ kalÖplarÖnÖiçerir. Töreler, alÖs¸Ölagelen, yapÖlagelen davranÖs¸ kalÖplardÖndan olus¸ur. BastÖrÖcÖ, etkin, zorlayÖcÖyaptÖrÖm güçleri vardÖr.“, in: Tezcan, Töre (Namus) Cinayetleri, S. 16.; auf beide Quellen verweisend Parlar / Hatipoglu, 5237 SayÖlÖTürk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 682. 567 Sözüer, ZStW 2007, 717 (744). 568 Insoweit krit. Parlar / Hatipoglu, 5237 SayÖ lÖ Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 682 f.; Tezcan / Erdem / Önok, Teorik ve Pratik Ceza Özel Hukuku, S. 157; Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254; vgl. auch Sar han, TCK KadÖnlara Neler Getiriyor?, S. 32 f.; Centel / Zafer / Çakmut, Kis¸ilere Kars¸ÖIÖs¸lenen Suçlar, Bd. 1, S. 57. 569 Malkoç, AçÖ klamalÖ– IÖçtihatlÖ5237 SayÖlÖYeni Türk Ceza Kanunu, Bd. 1, S. 537; Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸ÖSuçlar, S. 56; Tezcan / Erdem / Önok, Teorik
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Höhe der Anforderungen an eine Anwendung von Art. 82 lit. k) TCK und lässt auch Tötungsbeschlüsse anderer Personengemeinschaften oder eines Teils solcher Personengemeinschaften genügen, denen sich der Täter so verbunden fühlt, dass er den Beschluss als für sich zwingend empfindet.570 Gleich ob man auch Beschlüsse anderer Gemeinschaften für Art. 82 lit. k) TCK ausreichen lässt oder nicht, stellt sich das Problem der Beweisbarkeit solcher Beschlüsse. Mit dem Angeklagten verwandte Zeugen haben ein Zeugnisverweigerungsrecht und machen hiervon oft Gebrauch, wenn sie die Ehrvorstellungen des Täters teilen und ihr Interesse an seinem Freispruch entsprechend groß ist. Andere Zeugen wollen oft aus Furcht nicht aussagen. Mit diesen Beweisschwierigkeiten erklärte der Yarg tay-Richter Surulu die wenigen Bestrafungen von Familienratsmitgliedern unter Geltung des Strafgesetzbuchs von 1926. Gelang jedoch der Nachweis, waren sie als Anstifter gleich dem Haupttäter zu bestrafen.571 Diese Beweisprobleme sind auch mit dem neuen Strafgesetzbuch nicht aus der Welt geschafft.572 Zu ihrer Lösung wird vorgeschlagen, einen Verzicht der Hinterbliebenen auf eine Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen gegen den Haupttäter als Indiz für das Vorliegen eines Familienratsbeschlusses zu werten.573 Ob damit aber das Beweisproblem gelöst ist, erscheint durchaus fraglich. Denn immerhin können die Hinterbliebenen auf Entschädigungszahlungen ja auch aus Furcht verzichten, dass deren Geltendmachung eine bereits eingetretene soziale Marginalisierung vertiefen würde. Angesichts der Probleme, die mit dem Erfordernis eines Familienratsbeschlusses für eine Anwendung von Art. 82 lit. k) TCK einhergehen, stellt sich die Frage, ob ein solcher Beschluss wirklich zwingend erforderlich ist. Denn bei einer realistischen Prognose wird es kaum zu Verurteilungen nach Art. 82 lit. k) TCK kommen können, wenn man hierzu einen Familienratsbeschluss fordert. Fordert man jedoch keinen Familienratsbeschluss, ist die Vorschrift angesichts des hohen Strafrahmens restriktiv auszulegen.574 Diesen Anforderungen wird die von Soyaslan vertretene Ansicht575 gerecht, welche Art. 82 lit. k) TCK einerseits bei Tötungen aufgrund einer Familienratsentve Pratik Ceza Özel Hukuku, S. 157; Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254; Parlar / Hatipoglu, 5237 Say l Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 682; vgl. auch Soyaslan, Ceza Hukuku – Özel Hükümler, 2005, S. 107. 570 Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis ¸ilere Kars¸ Suçlar, S. 56; Arslan / Azizagaoglu, Yeni Türk Ceza Kanunu S¸erhi, S. 364; Centel / Zafer / Çakmut, Kis¸ilere Kars¸ Is¸lenen Suçlar, Bd. 1, S. 57. 571 Güls ¸en, Türk Ceza Hukukunda Namus ve Töre Cinayetlerinin Cezaland r labilirdig i, 103 (111). 572 Malkoç, Aç klamal – Içtihatl 5237 Say l Yeni Türk Ceza Kanunu, Bd. 1, S. 537; Meran, Yeni Türk Ceza Kanununda Kis¸ilere Kars¸ Suçlar, S. 55. 573 Güllüoglu, Kad na Yönelik S ¸ idette Yasalar n Yetersizligi, 97 (100); Hakeri, Kasten Öldürme, S. 254. 574 Toroslu, Ceza Hukuku, S. 35.
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scheidung bejaht, aber andererseits auch dann, wenn das Familienoberhaupt ohne einen solchen Beschluss die Tötung aus Gründen der sexuellen Ehre begeht. Über die Auslegung von Soyaslan hinaus ließe sich ein weiterer Fall unter Art 82 lit. k) TCK subsumieren, nämlich die Tötung des Opfers aus Gründen der sexuellen Ehre durch eine vom Familienoberhaupt bestimmte Person. Für diese Auslegung spricht der von der herrschenden Meinung durchweg außer Acht gelassene Charakter des Tatbestandsmerkmales „töre saikiyle“. „Saiki“ bedeutet „Grund“ oder genauer „Beweggrund“. Es handelt sich damit um ein subjektives Tatbestandsmerkmal. Als subjektives Tatbestandsmerkmal verlangt es ausschließlich eine bestimmte innere Haltung des Täters zu der von ihm begangenen Tat. Dem Täter muss es im Fall von Art. 87 lit. k) TCK darauf ankommen, sich traditionsgemäß zu verhalten. Ob traditionelle Verfahrensregeln bei einem „Ehrenmord“ tatsächlich eingehalten wurden, ob also ein Familienratsbeschluss vorliegt oder nicht, kann bei der Prüfung dieses subjektiven Merkmals keine Rolle spielen. Entscheidend ist vielmehr, ob der Täter die Tötung aus dem Beweggrund heraus begangen hat, den von ihm empfundenen Handlungsimperativen der Tradition zu gehorchen. Dass darüber hinaus zur Annahme dieses subjektiven Tatbestandsmerkmals ein Familienratsbeschluss objektiv vorliegen muss, lässt sich aus dem Wortlaut nicht ablesen und ist daher dogmatisch nicht überzeugend. Für diese Ansicht spricht weiterhin, dass im Ergebnis nicht danach differenziert werden kann, ob die Tötung auf den Beschluss des Familienrates zurückzuführen ist oder auf die alleinige Entscheidung des Familienoberhauptes. Letztlich kann der Familienrat in einem patriarchalischen Umfeld nur dazu dienen, die Familie auf den Willen des Familienoberhauptes einzuschwören und dem Täter ein Mehr an Sicherheit zu verschaffen, weil alle Familienmitglieder auf seine Seite gebracht werden sollen. Begeht das Oberhaupt höchstpersönlich die Tötung, ist ein Beschluss des Familienrates ohnehin überflüssig. Wer hier Art. 82 lit. k) TCK nicht ohne Familienratsbeschluss anwenden will, unterstellt, dass die Familie dem Willen ihres Oberhauptes in einer so sensiblen Angelegenheit entgegentreten könnte wie dem Ansehen der Familie, für die letztlich er allein verantwortlich ist. In einem streng patriarchalischen, an klaren Rollenzuweisungen und Gehorsam ausgerichteten kulturellen Umfeld erscheint die Annahme geradezu naiv, im Familienrat könne sich jedermann frei äußern und gegebenenfalls das Familienoberhaupt überstimmen. Letztlich wird ein Familienrat dazu dienen, die ganze Familie auf den Willen des Familienoberhaupts einzuschwören. Ein unbedingtes Erfordernis eines Familienratsbeschlusses zur Anwendung der Qualifikation des Art. 82 lit. k) TCK verkennt also die traditionellen Hintergründe dieser Institution. Schließlich ist diese Auffassung gegenüber der herrschenden Ansicht insoweit vorzugswürdig, als sie der Qualifikationsnorm überhaupt einen Anwendungsbereich gibt; denn andernfalls ließe sich jedenfalls eine rechtsstaatlich haltbare Verurteilung kaum bewerkstelligen. 575
Soyaslan, Ceza Hukuku – Özel Hükümler, 2005, S. 107.
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3. Ausblick Eduard Hirschs Ausführungen zur Rezeption westlichen Rechts in der Türkei sind auch heute unverändert aktuell: „Juristisch in Kraft gesetzte Gesetze bilden in Wirklichkeit zunächst noch gar keine Rechtsordnung, sondern lediglich den Plan zu einer solchen, etwa in der gleichen Weise, wie ein Bauplan eines Architekten so lange auf dem geduldigen Papier stehen bleibt, bis der Versuch gemacht wird, ihn zu verwirklichen. Wo es an der Möglichkeit fehlt, das importierte rechtliche Gedankengut ins Bewußtsein der Normadressaten zu heben und dort zu verankern, bleibt das bestgemeinte und bestgearbeitete Gesetz toter Buchstabe. Es bedarf einer mühseligen, aufreibenden und lange andauernden Aufklärungsarbeit, bevor der Boden für eine Rezeption überhaupt erst bereit ist.“576 Für Hirsch hing die wirkliche Europäisierung der Türkei demnach vor allem von der tatkräftigen Durchsetzung europäischer Werte ab,577 wobei die Überwindung archaischen Rechtsdenkens in den Köpfen der Menschen eine Generationenfrage mit einer Überganszeit von dreißig bis fünzig Jahren sei.578 Ungefähr vierzig Jahre nach Veröffentlichung dieser Gedanken Hirschs bestraft das türkische Strafgesetzbuch „Ehrenmorde“ unter gewissen Voraussetzungen härter als einen einfachen Totschlag und geht damit weit über die Forderungen der Europäischen Union nach einer Abschaffung von Strafmilderungen für diese Delikte hinaus. Inwiefern der Yarg tay in Zukunft auch außerrechtliche Normen im Rahmen der Anwendung von Art. 29 TCK berücksichtigen und damit Art. 82 lit. k) TCK einen weiteren Anwendungsbereich verleihen wird, bleibt vorerst unklar, da höchstrichterliche Entscheidungen zu den neuen Vorschriften erst in den nächsten Jahren zu erwarten sind. Es wäre zwar denkbar, dass der Yarg tay schon jetzt bei der Anwendung von Art. 51 exTCK auf die gegenwärtig zu entscheidenden Fälle die Ausführungen des Gesetzgebers zum neuen Strafgesetzbuch sowie die breite Debatte über Frauenrechte zum Anlass nimmt, einen Kurswechsel in der Rechtsprechung dahingehend einzuleiten, dass Täter sich nicht mehr erfolgreich auf die Verletzung außerrechtlicher Normen durch das Opfer berufen können, um so eine Strafmilderung zu erwirken. Tatsächlich stimmt die aktuellere Rechtsprechung zu Art. 51 exTCK jedoch eher mit der früheren Position des Yarg tay darin überein, dass das Opfer nicht zwingend gegen rechtlich anerkannte Sozialnormen verstoßen haben muss. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2006579 bejahte der Yarg tay das Vorliegen einer Provokation seitens der volljährigen Schwester des Täters, weil sie mit diesem einverHirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 100. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 115. 578 Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 119. 579 1. CD 20. März 2006, 307 – 840, bei: Parlar / Hatipoglu, 5237 Say l Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 333. 576 577
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nehmlichen Inzest verübt hatte. Zwar ist auch in der Türkei der Inzest mit Strafe bedroht, so dass vom Opfer hier in der Tat ein rechtswidriges Verhalten ausging und kein Verstoß gegen bloß außerrechtliche Normen. Dieses Verhalten war auch freiwillig. Jedoch bestehen ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Provokation, zumal der Bruder ja selbst am von beiden Seiten einvernehmlich verübten Inzest beteiligt war. Hier liegt es eher fern, dass der Zornausbruch des Täters auf dem Inzest beruhte; vielmehr wird er, wenn denn überhaupt von einem Zornausbruch die Rede sein kann, seine Ursache im befürchteten öffentlichen Skandal gehabt haben, falls sich die Angelegenheit im Täterumfeld herumspräche. So betrachtet folgte die Provokation auch hier erst aus einer Berücksichtigung außerrechtlicher Normen. In einer weiteren Entscheidung desselben Jahres580 nahm der Yarg tay eine Provokation an, weil das Opfer – vermutlich eine weibliche, dem Täter nahe stehende Person – sich weigerte, ein Kopftuch zu tragen und den Kontakt zu ihren männlichen Bekannten abzubrechen. Ebenfalls aus dem Jahr 2006 stammt eine weitere Entscheidung des Yarg tay,581 in der dieser eine Provokation seitens einer vom Täter getöteten Prostituierten annahm, weil diese sich weigerte, nur noch mit ihm zu verkehren. Demgegenüber äußert sich in einer Entscheidung aus dem Jahr 2003 ein relativ strenges Verständnis des Yarg tay von Art. 51 exTCK.582 Hier ging es um die Tötung des Liebhabers einer verheirateten Frau durch ihren Neffen. Die Frau wurde von ihrem Ehemann in der ehelichen Wohnung mit dem Liebhaber überrascht, woraufhin der Ehemann beide töten wollte. Zur Tötung kam es jedoch nicht; allein der Liebhaber wurde vom Ehemann verletzt. Hierauf erstattete der Ehemann Anzeige gegen den Liebhaber, der auch gerichtlich zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Seine Frau hat der Ehemann jedoch nicht angezeigt. In der Folgezeit trennten sich die Eheleute, und die Frau zog zur Familie ihres noch in Haft befindlichen Liebhabers. Zwei Jahre nach dem Vorfall brachte der Neffe des Ehemanns den Liebhaber nach dessen Entlassung aus der Haft um und gab seinem minderjährigen Cousin, dem Sohn der Eheleute, die Tatwaffe, damit dieser zur Polizei gehe und sich selbst anzeige. Die wahren Tatumstände wurden jedoch bald bekannt und der eigentliche Täter angeklagt. Im Verfahren verwies der Täter darauf, das Opfer habe ihn zur Tat provoziert. Insbesondere wies er darauf hin, dass Art. 51 exTCK keine Einschränkung vorsehe, was den zeitlichen Abstand zwischen Provokation und Täterreaktion angehe. Auch wenn zwischen der Provokation und der Tötung zwei Jahre gelegen haben, könne Art. 51 exTCK angewendet werden. Der Yarg tay trat dem entgegen und verwies darauf, dass der wachsende zeitliche Abstand zwischen Provokation 580 1. CD 6. März.2006, 5305 – 434, bei: Parlar / Hatipoglu, 5237 Say l Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 334. 581 1. CD 27. April 2006, 1410 – 1683, bei: Parlar / Hatipoglu, 5237 Say l Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 331. 582 CGK 10. Juni 2003, 1 – 43 / 183, bei: Parlar / Hatipoglu, 5237 Say l Türk Ceza Kanunu Yorumu, Bd. 1, S. 321 ff.
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und Reaktion sich im Allgemeinen auf die Gemütslage des Täters zur Tatzeit auswirke. Zudem beurteilte der Yarg tay das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 51 exTCK für den Täter, indem er den Umgang des Onkels mit dem provozierenden Ereignis betrachtete. Dass dieser damals seine Frau nicht angezeigt und den Liebhaber verletzt habe, spreche dafür, dass der Vorfall nunmehr für ihn erledigt gewesen sei. Im Übrigen betonte der Yarg tay ausdrücklich das Recht der Frau und ihres Liebhabers, eine Beziehung zu führen. All dies führte zu einer Verneinung von Art. 51 exTCK für den Täter, dem es dem Yarg tay zufolge weniger um die Rettung der sexuellen Ehre seines Onkels und seiner Tante gegangen sei, zumal er ihnen verwandtschaftlich nicht allzu nahe gestanden habe. Hier deutet sich eine Tendenz zu einem strengeren Umgang mit Art. 51 exTCK an, die insofern beachtlich ist, als diese Entscheidung vom vereinigten Strafsenat (Ceza Genel Kurulu) gefasst wurde. Entscheidungen des vereinigten Strafsenates wird in der türkischen Literatur und auch in der Praxis besondere Bedeutung beigemessen. Es ist zu hoffen, dass der Yarg tay für eine Anwendung von Art. 29 TCK keine Verletzung außerrechtlicher Normen ausreichen lassen wird. Auch ist zu wünschen, dass Art. 81 lit. k) TCK einen nennenswerten Anwendungsbereich erhalten wird, um der strafrechtlichen Annäherung an westeuropäische Werte auch in der Praxis Nachdruck zu verleihen. Um auf die Gedanken Hirschs über die Europäisierung der Türkei zurückzukommen, sei jedoch darauf hingewiesen, dass mit Art. 81 lit. k) TCK westliche Anschauungen Eingang ins türkische Strafrecht gefunden haben, obwohl dahingehend kein entsprechender Druck von Außen auf den türkischen Gesetzgeber ausgeübt wurde. Die Europäische Kommission hat die Abschaffung der Privilegierungsnorm des Art. 462 exTCK gefordert, mehr aber nicht. Die sich in der Qualifikationsnorm des Art. 81 lit. k) TCK manifestierende Hinwendung zu westlichen Beurteilungsmustern folgte vielmehr innerstaatlichen Forderungen seitens der Zivilbevölkerung. Türkische Nichtregierungsorganisationen wie Women for Women’s Human Rights hatten Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt, „Ehrenmorde“ als qualifizierte Tötungen einzustufen, um den Tätern angemessen harte Strafen anzudrohen.583 Damit näherte sich die Türkei in diesem Fall aus sich selbst heraus westlichen Wertanschauungen, was hoffen lässt, dass türkische Richter künftig – abweichend vom konservativen Schrifttum – „Ehrenmorde“ streng bestrafen werden. Jedenfalls ist die Norm, aber vor allem aufgrund ihres Entstehens, ein Beispiel für die wirkliche Europäisierung der Türkei.
583 Women for Women’s Human Rights, New Ways: Gender Discrimination in the Turkish Penal Code Draft Law. An Analysis of the Draft Law from a Gender Perspective and Proposed Amendments by the Women’s Platform on the Penal Code, 2003, S. 7.
C. Die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach deutschem Strafrecht Wie das deutsche Strafrecht „Ehrenmorde“ einordnet, gibt Aufschluss über die staatliche Toleranz gegenüber schwerster Gewalt, die zumeist gegen Frauen gerichtet ist, sowie – bei Begehung durch fremdkulturell geprägte Täter – gegenüber Bindungen an fremde Kulturen. Beide Aspekte betreffen hochsensible Problemkreise, was erklärt, dass die Diskussion insbesondere den zweiten Aspekt betreffend zwar wächst, aber immer noch in den Anfängen steht. Dabei nimmt eine ergebnisoffene, enttabuisierte Diskussion dieser Fragen an Dringlichkeit wohl eher zu. Das im Jahr in kraft getretene deutsche Strafgesetzbuch galt der Regelung des Strafrechts für eine Bevölkerung in einem neuentstandenen Nationalstaat, der auf einer nach heutigen Maßstäben relativ homogenen Werteordnung aufbaute.1 In einer zunehmend globalisierten Welt stellen sich jedoch Fragen, die für die Verfasser des Strafgesetzbuchs unvorhersehbar waren. Umso mehr bedarf es einer wissenschaftlichen Erarbeitung der Voraussetzungen und Grenzen einer strafrechtlichen Berücksichtigung der Bindungen eines Täters an fremdkulturelle Anschauungen.
1 Es soll hier nicht übergangen werden, dass Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Macht in der jungen reichsdeutschen Gesellschaft durchaus unterschiedlich verteilt waren, vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 700 ff.; gleichwohl bestand weitgehende Einheit in vielen Wertfragen, wohingegen der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft eine allgemein anerkannte Ordnung der Werte im eigentlichen Sinne fehlt. Das Bestehen einer Werteordnung nach der Reichsgründung 1871 wird in der Darstellung der damaligen Sexualmoral bei Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1, S. 95 ff. besonders deutlich: „Im ländlich-bäuerlichen Bereich wie im proletarischen und überhaupt im Unterschichtenbereich war sie [die Sexualität, Anm. d. Verf.] weniger normativ geregelt und insoweit weniger unterdrückt [ . . . ]. Aber es war die bürgerliche Sexualität, die für unseren Zeitraum maßgebend war, sie setzte mehr denn je zuvor über Kirchen, Sozialisierungsinstanzen wie Schulen und Ärzte und die Öffentlichkeit die Normen der Respektabilität, die dann für alle – auch für Land- und Arbeitervolk – galten. [ . . . ] Die bürgerliche Moral des 19. Jahrhunderts [ . . . ] hatte wie keine je zuvor die kirchliche Eingrenzung von legitimer Sexualität ganz und gar diesem Moralgebot unterworfen. Das, was ehedem natürlich auch schon Sünde war, aber alltäglich, lässlich, geduldet, das sollte nicht sein: also ein neuer Rigorismus der Moral. [ . . . ] Libertinage und uneheliche Kinder gab es natürlich, aber sie gehörten in den Bereich des Heimlichen – so wie das ,Séparée‘. [ . . . ] Die Sexualmoral spielte eine besonders wichtige Rolle. Selbstbeherrschung, Besonnenheit und Mäßigung, Anstand, Nüchternheit und Arbeitsamkeit, Ordnung und Normalität, das war bürgerliche Tugend, aber mit solchen Eigenschaften waren die Meisterung des Lebens und die Beherrschung der Sexualität unlösbar verbunden, und das hieß im sozialen Kontext: Normgerechtes Sexualverhalten, Kontrolle und Normalität und bürgerliche Respektabilität hingen eng zusammen.“ , Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1, S. 95 f.
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Bei „Ehrenmorden“ werden die genannten, für sich genommen ohnehin schon komplexen Fragestellungen in Deutschland um die verfassungsrechtlichen Probleme ergänzt, die sich aus der in § 211 Abs. 1 StGB zwingend angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe ergeben. In seiner Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit der lebenslangen Freiheitsstrafe betonte das Bundesverfassungsgericht das Gebot sachgerechter Abstimmung von Tatbestand und Rechtsfolge, wobei dem Gesetzgeber jedoch eine Einschätzungsprärogative zukomme, über die sich das Gericht nur bei eindeutiger Widerlegbarkeit der gesetzgeberischen Beurteilungen hinwegsetzen könne.2 Die vom Gesetzgeber angedrohte Strafe müsse daher in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Tatschuld stehen und dürfe die Schuld des Täters nicht übersteigen. Bestehe die Möglichkeit verschiedener Grade des Unrechts und der Schuld, müsse der Gesetzgeber dem Richter ermöglichen, die Strafe dem anzupassen.3 Bis 1953 enthielt der Mordtatbestand eine strafzumessungsrechtliche Ausnahmevorschrift in § 211 Abs. 3 RStGB, wonach anstelle der Todesstrafe auf lebenslanges Zuchthaus erkannt werden konnte, wenn die damalige Höchststrafe ausnahmsweise nicht angemessen war. Unterdessen droht § 211 StGB die lebenslange Freiheitsstrafe jedoch absolut an. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die zwingende Verknüpfung der Mordmerkmale mit der lebenslangen Freiheitsstrafe der Rechtssicherheit und der Gleichförmigkeit der Gesetzesanwendung dient.4 Das Bundesverfassungsgericht wies in seiner Entscheidung zur Verfassungsgemäßheit der lebenslangen Freiheitsstrafe darauf hin, dass die verhängten Strafen auch bei ähnlich gelagerten Fällen erfahrungsgemäß von Gericht zu Gericht nicht unerheblich divergieren und dass Richter bisweilen dazu neigen, „der schweren Strafe auch in den Fällen möglichst auszuweichen, in denen sie der Gesetzgeber angewandt wissen wollte.“5 Gerade bei einem so schwerwiegendem Verbrechen wie dem Mord sei es ein aufgrund des Gebots materieller Gerechtigkeit legitimes Anliegen des Gesetzgebers, auf eine möglichst gleichmäßige Bestrafung der Täter hinzuwirken. Führe dies im Einzelfall infolge der Starrheit einzelner Mordmerkmale wie der Heimtücke zu unbilligen Ergebnissen, sei der Mordtatbestand verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern der Richter im Wege einer verfassungskonformen restriktiven Auslegung unter Berücksichtigung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs auch eine verhältnismäßige Strafe verhängen könne.6 Wie aber die Beschränkung der Verurteilung zur Höchststrafe auf Fälle entsprechend schwerer Schuld im Einzelnen zu gewährleisten sei, ließ das Bundesverfassungsgericht offen.7 Bezogen auf die Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen bei der Auslegung des Mordtatbestandes variieren die Wege der Rechtsprechung, mit denen 2 3 4 5 6 7
BVerfGE 45, 187 (238). BVerfGE 45, 187 (259 f.) m. w. N. BVerfGE 45, 187 (260). BVerfGE 45, 187 (261). BVerfGE 45, 187 (261) m. w. N. BVerfGE 45, 187 (267).
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sie hieraus auf eine verminderte Vorwerfbarkeit der Tötung schloss und damit auf eine Verurteilung wegen Totschlags auswich, was auch Auswirkungen auf die Reichweite der Toleranz gegenüber fremdkulturellen Prägungen hat. Saliger teilt die Entwicklung der Rechtsprechung in dieser Frage in drei Phasen ein.8 Diese Wechselhaftigkeit in der Rechtsprechung spiegelt dabei durchaus den Umgang mit der Zuwanderung durch die Politik wider. Die anfangs als regierungsamtliche Verschlusssache betriebene Anwerbepolitik ließ die Frage nach dem rechten Umgang mit den damit einhergehenden soziokulturellen Problemen noch weitgehend unberücksichtigt. Erst mit wachsender Zuwanderung und zunehmender Aufenthaltsdauer der hierzulande lebenden Ausländer wurde das „Ausländerproblem“ identifiziert, zu dessen Lösung sich die Politik zu Beginn der Achtzigerjahre auf die Erforderlichkeit der „Integration“ hier lebender Ausländer einigte.9 Wie weit aber der Ausländern zu gewährende Freiraum für die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität zu sein hat, blieb dabei noch noch unklar. Der multikulturalistische Standpunkt geht von einem dialogischen Prozess hin zu einer „Einigung auf Basisregeln des Zusammenlebens bei gleichzeitiger Akzeptanz der kulturell unterschiedlich ausgestalteten Lebensentwürfe“10 aus. So gesehen erledigt sich die Integration gleichsam selbständig. Zugleich betonen Multikulturalisten die Notwendigkeit, der Gefahr entgegenzuwirken, dass Ausländer und ihre Nachkommen in dem Anpassungsprozess an die hiesige Gesellschaft ihre Identität verlieren könnten. „Man sah sich geradezu aufgefordert, dieser Gefahr gegenzusteuern, das Bewusstsein der Migranten für ihre kulturellen Wurzeln zu stärken. ,Muttersprache zuerst‘ war dementsprechend die Maxime; bevor sie Deutsch lernten, sollten die in Deutschland geborenen Kinder von Migranten der zweiten, dritten und vierten Generation Türkisch oder Kurdisch lernen. ,Assimilation‘ wurde mit Aufgabe der kulturellen Identität der türkischen Muslime gleichgesetzt. Es wurde zum Unwort, wer dafür plädierte, stand fast unter Rassismusverdacht.“11 Die gesellschaftlichen Realitäten widerlegen jedoch zunehmend die Eignung des Multikulturalismus für die Lösung der soziokulturellen Probleme der hierzulande lebenden Ausländer. Deren Situation ist vielfach von sozioökonomischer Marginalisierung geprägt. Erschwerend kommt hinzu, dass die jüngsten Schreckensmeldungen über die Situation hierzulande lebender ausländischer Frauen ein Bild einer archaischen Parallelgesellschaft ergeben, die Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft notfalls mit Gewalt zu verhindern bereit ist. „Ehrenmorde“ und die öffentlich gewordenen Reaktionen Neuköllner Schüler mit türkischem Migrationshintergrund auf die Tötung Hatun Aynur Sürücüs stellen die bisherige IntegrationsSaliger, StV 2003, 21 ff. Trautmann, Migration, Kriminalität und Strafrecht, S. 48; zu den Phasen der Ausländerpolitik siehe Meier-Braun, „Gastarbeiter“ oder Einwanderer; ders., Integration und Rückkehr?; ders. / Kilgus (Hrsg.), 40 Jahre „Gastarbeiter“ in Deutschland. 10 Gaitanides, Die neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 39 (1992), 316 (318). 11 Kelek, Die verlorenen Söhne, S. 18. 8 9
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politik infrage und schärfen das Bewusstsein für die hierdurch begünstigten sozialen Missstände. Das wachsende Bewusstsein dieses gesellschaftlichen Problems wird etwa in verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen deutlich, die den Freiraum für die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität zunehmend kritisch bewerten.12 Ein differenzierter Umgang mit Fremdkulturen führte zur verwaltungsgerichtlichen Verwerfung der Befreiung muslimischer Jungen vom Schwimmunterricht.13 Für das Verwaltungsgericht Hamburg überwog bei einer Beantragung der Befreiung eines muslimischen Mädchens vom Sexualkundeunterricht der staatliche Erziehungsauftrag.14 Vätern wurde wegen Züchtigung der Tochter und gegen diese gerichtete psychische Gewalt,15 aber auch versuchter Zwangsverheiratung und verhinderter Berufsausbildung das Sorgerecht entzogen.16 Es wird zu untersuchen sein, inwieweit die Rechtsprechung sowie die Literatur sich diesem zunehmend kritischen Umgang mit Fremdkulturen im Bereich des Strafrechts – genauer: im Bereich der niedrigen Beweggründe des § 211 StGB – angeschlossen haben. Die jeweiligen Standpunkte der vergangenen Jahrzehnte sollen dabei nicht allein auf ihre Überzeugungskraft überprüft werden. Es wird auch danach zu fragen sein, ob die jeweiligen Standpunkte einer Erhaltung oder Stärkung der Bestands- und Durchschlagskraft der Rechtsordnung zuträglich sind oder ob die strafrechtliche Normbestätigung der Berücksichtigung fremder Normen weicht und damit die positive Generalprävention im Bereich der niedrigen Beweggründe bei fremdkulturell geprägten Tätern schwächt. Als Lackmustest soll dabei die strafrechtliche Bewertung des folgenden fiktiven Beispielsfalls dienen: Ein in Ostanatolien geborener, aber seit fünf Jahren in Deutschland lebender Mann tötet seine Schwester, unmittelbar nachdem er erfahren hat, dass sie Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, weil er dies als Schande für die Familienehre empfindet und das Ansehen seiner Familie schützen will. Nach hier vertretener Auffassung darf es nicht sein, dass dieser Täter lediglich wegen Totschlags bestraft wird. Denn zum einen erscheint hier die Tötung der Frau als Beseitigung eines Menschen, der als störend für das eigene Ansehen und das der eigenen Familie erachtet wird. So betrachtet wird die Schwester zum bloßen Mittel zum Zweck der Ehrenrettung degradiert und ihr Lebensrecht weniger gewichtigen Interessen untergeordnet. Mag der Täter zwar den „sozialen Tod“ befürchtet haben, so ist bei der Schwester durch sein Verhalten doch immerhin Hierzu Röper, ZRP 2006, 187 ff. VG Düsseldorf NWVBl 2006, 68. Die Sorgeberechtigten verschiedener Jungen hielten eine Befreiung vom Schwimmunterricht für erforderlich, da diese andernfalls ihre Mitschülerinnen im Badeanzug sehen müssten und dies nicht mit ihrem Glauben vereinbar sei. 14 VG Hamburg NordÖR 2004, 412. Begründet wurde der Antrag auf Befreiung mit den Gewissenskonflikten der Mädchen, da der Islam Sexualität nur in der Ehe zulasse und es zuvor keiner Wissensvermittlung bedürfe. Zur bremischen Praxis im Sexualkundeunterricht vgl. die Senatsantwort auf eine Große Anfrage, Bgsch-Dr. 16 / 983 v. 18. 4. 2006. 15 Bay FamRZ 1993, 229. 16 OLG Köln NJW-RR 2001, 221. 12 13
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tatsächlich der physische Tod eingetreten. Ein so hochgradig egoistisches „Gehen über Leichen“, um einem möglicherweise zu Unrecht befürchteten Ansehensverlust zuvorzukommen, erscheint höchststrafwürdig. Selbst wenn tatsächlich ein Ansehensverlust drohte, erscheint das skrupellose Opfern eines Menschenlebens höchst verwerflich, wird die vergewaltigte Schwester doch letztlich für einen Umstand bestraft, für den sie nicht verantwortlich ist und der ihr ohnehin schon maßloses Leid bereitet. Diese Ausführungen berücksichtigen freilich noch nicht die Ausländereigenschaft des Täters und seine hiermit verbundene von der deutschen in vielen Punkten wohl abweichende Sozialisation. Ob die bereits bestehenden Ansätze zur Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen auch im genannten Fall aufgrund des kulturellen Tathintergrundes zur Verneinung der Motivgeneralklausel gelangen können, ob also die aus der Ausländereigenschaft möglicherweise folgenden Besonderheiten des Falles auch hier berücksichtigt werden können, wird noch zu untersuchen sein. Außerdem wird sich im Anschluss hieran die Frage stellen, inwieweit bei der Prüfung der niedrigen Beweggründe ein fremdkultureller Tathintergrund überhaupt eine Rolle spielen darf. Aus den Ergebnissen der Untersuchung dieser Frage werden schließlich die entsprechenden Folgen für die Auslegung der Motivgeneralklausel des Mordtatbestandes, der niedrigen Beweggründe, darzustellen sein. Vorab wird die bisherige Auseinandersetzung mit dem Honour-ShameSyndrome um eine Betrachtung der deutschen Rechtsgeschichte ergänzt, um zu untersuchen, ob dieses Syndrom tatsächlich vor allem dem Mittelmeerraum eigen sei.
I. Deutsche Rechtsgeschichte Erleichterte auch der Blick auf die jeweilige Rechtsgeschichte in den Abschnitten zum französischen und türkischen Recht das Verständnis der dort aktuellen Rechtslage, so ist ein Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte für das Verständnis des derzeitigen Rechtsrahmens und der Rechtswirklichkeit jedenfalls nicht unbedingt erforderlich. Nichtsdestoweniger soll ein Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte der Verifizierung der Theorie vom Honour-Shame-Syndrome dienen; da es zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Theorie eines Vergleiches der mutmaßlich typisch mediterranen Sexualmoral mit einem nichtmediterranen Kulturkreis bedarf, bietet sich eine Betrachtung der Bestrafung von Tötungen im Verwandtenkreis aus Gründen der sexuellen Ehre in der deutschen Strafrechtsentwicklung an. Und in der Tat legen die nachfolgenden Ausführungen die Schlussfolgerung nahe, dass das Honour-Shame-Syndrome keineswegs auf den mediterranen Kuturraum begrenzt, sondern vielmehr auch hierzulande nachweisbar ist. Denn vielfach deuten Rechtsnormen aus verschiedenen Epochen der deutschen Rechtsgeschichte darauf, dass Tötungen von dem Täter nahestehenden Personen aus Gründen der sexuellen Ehre auch hierzulande milde oder gar nicht bestraft
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wurden. Damit wird die Theorie des mediterranen Honour-Shame-Syndromes in ihrer Überzeugungskraft erheblich erschüttert. Dennoch ist einzuräumen, dass eine Widerlegung der Theorie eine umfassende Untersuchung erfordert, die an diesem Ort nicht geleistet werden kann.
1. Historischer Überblick bis zum Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs Die mittelalterlichen Volksrechte gewährten dem Ehemann oft sogar ausdrücklich das Recht, seine ehebrecherische Frau zu töten. Das Edictum Rothari forderte zur Straflosigkeit zwar ausdrücklich die Tötung beider Ehebrecher;17 jedoch ist anzunehmen, dass die Straflosigkeit der Tötung allein der Ehefrau keiner Erwähnung bedurfte, da diese in der eheherrlichen Munt enthalten war.18 Dies wird ebenso auf die lex Baiuvariorum zutreffen, welche ausdrücklich ebenfalls allein die Tötung beider auf frischer Tat ertappten Ehebrecher für straflos erklärt.19 Auch das burgundische Volksrecht forderte zur Straflosigkeit ausdrücklich die Tötung beider Ehebrecher. Andernfalls machte sich der Ehemann wergeldpflichtig,20 wobei diese Strafandrohung dann ins Leere lief, wenn er allein seine Frau tötete, fiel das Wergeld doch dem nächsten Angehörigen des Opfers – also ihm selbst – zu. Die Wergeldpflicht konnte mithin dadurch umgangen werden, dass der Ehemann ausschließlich seine Frau tötete. Die Lex Ribuaria gestattete dem Ehemann die Tötung des Ehebrechers, wenn er diesen aufgrund körperlicher Unterlegenheit nicht festhalten konnte. Zudem musste der Ehemann vierzehn oder vierzig Tage lang den Leichnam bewachen und den Tathergang vor Gericht beschwören,21 da ihm andernfalls die Strafe wegen Totschlags drohte.22 17 Vgl. Art. 212 des Edikts: „Si quis cum uxorem suam alium fornicantem invenerit, liberum aut servum, potestatem habeat eos ambos occidendi; et si eos occiderit, non requirantur.“ 18 Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 49. 19 Vgl. Kapitel 1 aus Titel VII der lex Baiuvariorum: „Si quis cum uxore alterius concubuerit libera, componat hoc marito eius cum suo weregeldo, id est, CL X. sol. Et si in lecto cum illa interfectus fuerit, pro ipsa compositione quam debuit solvere marito eius, in suo scelere iaceat sine vindicta. Et si in lecto calcaverit uno pede, et prohibetur a muliere, et amplius nihil fecerit, cum XII. solid. componat, eo quod iniuste in extraneum calcavit thorum.“ 20 Lex Burgundionum, Titel LXVIII: „Si adulterantes inventi fuerint, vir occidantur et femina. Nam hoc observandum est, ut aut utrumque occidat: aut si unum occiderit, pretium ipsius solvat, sub ea traditione pretii, quae est prioribus legibus constituta.“ 21 Die hiermit vorgeschriebene Art der Beweisführung beruht auf der Annahme, nur ein rechtmäßig Tötender könne im Bewusstsein der eigenen Schuld längere Zeit beim Opfer verbringen. Ein unrechtmäßig Tötender würde alsbald wegen seiner Schuldgefühle der Kraft beraubt, in der Nähe seines Opfers tagelang zu verharren. Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 46 f.; Welsch, Die Bestrafung des Ehebruchs, S. 29. 22 Lex Ribuaria, Titel 77, Kapitel 1: „Si quis hominem super res suas comprehenderit et com ligare voluerit, aut super uxorem aut super filiam vel his similibus et non praevaluerit ligare, sed colebus ei excesserit, et eum interfecerit, coram testibus in quadruvio in cluta eum
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Während die bislang genannten Volksrechte die Straflosigkeit der Tötung des Ehebrechers auch vom Ertappen desselben auf frischer Tat abhängig machten, gewährte das friesische Volksrecht dem Ehemann ein solches Tötungsrecht sogar dann, wenn der Ehebrecher nicht auf frischer Tat ertappt wurde. Was die Bestrafung der Ehefrau angeht, war diese in das freie Ermessen des Ehemannes gestellt, was auch die Befugnis zur Tötung umfasste.23 Aus Sachsen wird gar berichtet, dass dort im 8. Jahrhundert Ehebrecher regelmäßig aufgehängt, während unzüchtige Frauen – gleich ob ledig oder verheiratet – in den Selbstmord getrieben oder von den Frauen des Dorfes öffentlich in einer der französische „Course“ vergleichbaren Weise misshandelt wurden.24 Auch hinsichtlich der übrigen damaligen deutschen Volksrechte wird angenommen, dass sie dem Ehemann das Recht zur straflosen Tötung des Ehebrechers und der Ehebrecherin gaben.25 Umgekehrt ist jedoch nicht überliefert und angesichts der patriarchalischen Strukturen auch kaum denkbar, dass Frauen zu damaliger Zeit ein Recht hatten, ihren untreuen Ehemann zu töten. Nach Art. 13 Abs. 5 des zweiten Buches des Sachsenspiegels sollte man den im Ehebruch Begriffenen enthaupten.26 Es bleibt indessen offen, ob auch der Ehemann diese Tötung straflos begehen konnte oder ob nur die staatliche Strafvollstreckung gemeint war. Die unter dem Einfluss des Sachsen- und des Schwabenspiegels entstandenen Städterechte befassten sich meist recht knapp mit der Ehebruchsstrafbarkeit und dem Tötungsrecht des Ehemannes. Nur in sehr wenigen Punkten stimmen sie miteinander überein, mit Ausnahme des Tötungsrechts des Ehemannes. Kaum ein Stadtrecht bekämpfte offen die Rache des Ehemannes,27 gleichwohl bemühten sich levare debet, et sic XL seu XIV noctes custodire et tunc ante iudice in harao coniurit, quod eum de vita forfactum interfecisset. Sin antem ista non adimpleverit, homicidii culpabilis iudicetur. Aut si negaverit, com legitimo numero iuret, quod hoc non fecisset.“ 23 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 103. 24 Dies geht aus einer bei Welsch zitierten Passage aus einem Brief des heiligen Bonifatius an den König Æthelbald hervor: „In antiqua Saxonica, ubi nulla Christi cognitio, si virgo in materna domo vel maritata sit, manu propria strangulatam cremant aut cingulo tenus vestibus abscissis flagellant eam castae matronae, et de villa in villam missae occurrunt matronae novae flagelantes et cultellis pugant donec interimant.“, Welsch, Die Bestrafung des Ehebruchs, S. 26 f., Fn. 9; Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 59; Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 102 f.; vgl. übrigens zu ähnlichen Strafen bei den Germanen Tacitus, Germania, Kapitel 19: „Accisis crinibus nudatam coram propinquis expellit domo maritus ac per omne vicum verbere agit.“ 25 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 94, 102 f.; Heidenreich, Der Weg der Strafvorschrift über den Ehebruch, S. 78. 26 „Die den man slat oder vat oder rovet, oder bernet sunder mortbrand, oder wif oder maget nodeget, unde den vrede breket, unde die in overhure begrepen werdet; den sal man dat hovet afslan.“ 27 Als Ausnahme ist insoweit die Bearbeitung des sächsischen Landrechts für Berlin aus dem 13. Jahrhundert anzusehen, die es dem Mann sogar aufs Strengste verbot, die auf der Tat ertappten Ehebrecher zu töten. Tötete er sie dennoch, anstatt sie dem Gericht zu übergeben,
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die jeweiligen Verfasser um die Formulierung strenger Anforderungen an die Straflosigkeit.28 Einer Überlieferung des sächsischen Rechts29 zufolge scheinen die dortigen Voraussetzungen an eine straflose Tötung ausgesprochen streng gewesen zu sein: „Dist. II: Begrifft eyner eyn by syme wibe unde begriffe her sy byde mit der worhaften tad, unde sluge sy beyde zcu tode uff enander, he sal sich uffe sy secczen mit siner gewere, unde dy sal he in siner hand habe, unde sal sende noch deme gerichte, unde sal clagen mit dem geruffte ober sinen rouber unde des landes rouber und rouberin, dy on in eyme rechten reroube sine eschaft beroubt haben, unde bete daz mit ortelyn, daz man ome teyle umbe dyselben schinbaren hanthafftige tad, wy he mit on geboren sal. So teyle man ome: he sulle sy bindin uff enander, unde sulle sy uffinbar furen under den galgen, unde sulle do eyn grab graben soben schu lang unde soben schu tif, unde sal nehmen scw borden dorne, unde sal legen eyne under, daz wip mit deme rucke doruff, denne den fredebrecher oben obir sy storcze, unde den eynen burden uf sinen rucke legen, unde eynen eychen phal durch beyde slone, sy sin lebende oder tot, das sy an dem nicht entwischen mugen; unde daz grab sal man zcuslan unde scufullen. Unde had her sy beyde zcu tode geslan unde beget recht, he blibet ane nod unde ane wandel kegen den frunden unde kegen deme gerichte, unde kann her sy ouch lebening gewaldigen unde beget recht, is schadet ome ar nicht.“30
Die Norm wird als Beginn der Aberkennung eines Racherechts des Ehemannes verstanden, drohte dem Täter doch die Bestrafung wegen Totschlags, wenn die Voraussetzungen im Einzelfall nicht erfüllt waren, was eine nicht affektive Tötung nahelege.31 Angesichts der Vielzahl der zu beachtenden Erfordernisse und der zur Realisierung nötigen Zeitdauer stellt sich indessen die Frage, wie ein im Sinne der drohte ihm das Gesetz mit dem Verlust von Leib, Ehre und Gut. Hier wird ein Ansatz erkennbar, das ehemännliche Tötungsrecht zugunsten einer staatlichen Ehebruchsrepression zurückzudrängen. Fidicin, Geschichte der Stadt Berlin, Bd. 1, S. 131. 28 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 82. 29 Ortloff, Rechtsbuch nach Distinctionen, Buch IV, Kapitel 11. 30 „Ergreift einer einen bei seiner Frau und ergreift sie beide bei wahrhafter Tat und schlägt sie beide nach einander zu Tode, so soll er sich mit seiner Waffe auf sie setzen und sie in seiner Hand halten und nach dem Gericht senden und soll klagen mit Geruffte [d. h. Schreien] gegen seinen Räuber und des Landes Räuber und die Räuberin, die ihn in einem Reroub [d. h. besonders schwerem Raub] seiner ehelichen Rechte beraubt haben und mit einem Urteil feststellen lassen, dass man ihm im Hinblick auf diese offensichtliche handhaftige Tat mitteile, wie er mit ihnen verfahren soll. So teile man ihm mit: er soll sie beide aufeinander binden und soll sie öffentlich unter den Galgen führen und soll dort ein sieben Schuh langes und sieben Schuh tiefes Grab graben und soll zwei Bündel Dornen nehmen und soll eins nach unten legen, das Weib mit dem Rücken darauf, dann den Friedensbrecher über sie stürzen, und das andere Bündel auf seinen Rücken legen und einen Eichenpfahl durch beide schlagen, sie seien lebendig oder tot, damit sie nicht entwischen mögen; und das Grab soll man zuschlagen und zufüllen. Und hat er sie beide zu Tode geschlagen und Recht begangen, er bleibt ohne Verfolgung und ohne Verpflichtung gegenüber den Verwandten und gegenüber dem Gericht; wenn er sie lebendig in seine Gewalt bringt und sich damit sein Recht nimmt, dann hat er davon auch keinen Schaden.“ 31 Heidenreich, Der Weg der Strafvorschrift über den Ehebruch, S. 86 f.
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Vorschrift handelnder Mann noch im Affekt handeln soll. Auch ist zweifelhaft, dass die strengen Voraussetzungen den tötungsgeneigten Ehemann von seinem Vorhaben abbringen sollten. Die Norm liest sich wie eine Gewaltverherrlichung und damit eher als eine Einladung von Ehemännern zur Ausübung schwerster Formen von Gewalt gegen Ehebrecher. Zudem wird dem Ehemann ausdrücklich ja selbst dann strafloses Töten erlaubt, wenn er die strengen Voraussetzungen nicht befolgt hat. Sanktionslos bleibt übrigens auch hier außereheliche Untreue von Ehemännern, freilich solange die Geliebte nicht selbst auch verheiratet ist. Auch der Schwabenspiegel drohte Ehebrechern mit der Todesstrafe: „Ob ieman bi eins mannes wibe lit, der uber hurer und die uber hurerin du beidn sampt sint dez todes schuldig.“32
Von einem Tötungsrecht des Ehemannes war im Schwabenspiegel jedoch keine Rede. Aus der Anerkennung dieses Tötungsrechts in verwandten Rechtsquellen und der Eigenschaft des Schwabenspiegels als Sammlung von Gewohnheitsrecht lässt sich jedoch schließen, dass der Schwabenspiegel trotz seines Schweigens in dieser Frage das Tötungsrecht des Ehemannes bei Ergreifen der Ehebrecher auf frischer Tat anerkannte.33 Das von ihm beeinflusste Freisinger Stadtrecht erlaubte beispielsweise ausdrücklich die Tötung beider Ehebrecher unter der Voraussetzung, dass der Täter sogleich seine Nachbarn herbei rief, ihnen von der Tat berichtete und die blutige Waffe dem Gericht vorlegte. Dass der Ehemann beide Ehebrecher tötete, war zur Straflosigkeit seines Verhaltens nicht erforderlich. Er wurde dann an den geistlichen Richter verwiesen, vom dem er seine Buße für die Tötung empfangen sollte.34 Beachtete der Ehemann diese Anforderungen an eine straflose Tötung nicht, drohte das Stadtrecht mit schwerer Strafe: er solle zunächst an ein Pferd gebunden und „der welt zue gesicht“ geschleift werden, danach aber den Tod durch das Rad erleiden.35 Demgegenüber verbat das kleine Kaiserrecht ausdrücklich jede Racheübung gegen die Täter bei schwerer Strafe und rief stattdessen zur richterlichen Kon32 Die Glosse erläutert hierzu, dass unter Ehebruch nur der Beischlaf mit einer verheirateten Frau zu verstehen sei: „overhure – dat sint de sik bi eliken vrouven leggen.“, zitiert bei Welsch, Die Bestrafung des Ehebruchs, S. 41. 33 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 131. 34 Stadt- und Landrechtsbuch Ruprechts von Freising, Buch 2, Kapitel 15: „Und ist das ein wirt ein anndernn zue sündlichnn dingnn bey seinem weib vindet ligenn es sey pfaff oder lai. und sticht oder schlecht sy paide zue tod. er sol sy nit püessenn. wie er es aber bewärnn sol das er sy alzo fundenn hat unnd zuhant er den todslach verpringtt. so sol er seinen nagstenn hinrueffenn unnd sol jn klagnn das er jn seiner ernn beraubt hat, den er da erslagenn hat. unnd sein hausfraw jr trew an jm zeprochen hat. alzo sol er mit dem selbnn pluetigenn waffenn für den richter gen und sol jm das auch alzo klagenn. damit bewärtt er den totschlag. und sol jn der richter zue hannt schickenn an den geistlichnn richter. da sol er puess enphahen. und enes fründtnn den er erslagenn hat, wann sy paide jr trew zeprochnn habnn.“, zitiert bei Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 81. 35 Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 133.
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fliktlösung auf. Nahm der Ehemann gleichwohl Rache, sollte er der Strafgewalt des Kaisers mit Leib und Gut verfallen.36 Die weltliche Ehebruchsrepression wurde mit dem Entstehen kirchlichen Strafrechts ergänzt, was sich für diejenigen auswirkte, für die sonst kein weltlicher Richter zuständig war.37 Für die Kirche stellte sich ein Ehebruch nicht bloß als Verletzung des Treueanspruchs des Ehepartners dar, sondern vielmehr als eine Missachtung des Sakraments der Ehe und damit als Sünde.38 Verglichen mit der alttestamentarischen Auffassung39 erweiterte die Kirche den Kreis der als Ehebruch geltenden Handlungen durch eine geschlechtsneutrale Definition, derzufolge aus der Ehe die gleichen Pflichten für Mann und Frau resultierten, was auch die eheliche Treuepflicht einschloss: „Omne stuprum adulterium est nec viro licet, quod mulieri non licet.“40 Das kanonische Recht ahndete den Ehebruch jedoch nicht durch die Strafen des weltlichen Rechts, sondern durch die der Bußordnungen.41 Hinsichtlich der Behandlung der Tötung von Ehebrechern durch den Ehemann sind die Bußordnungen widersprüchlich. Eine angelsächsische Bußordnung beschränkte das Tötungsrecht nicht auf den Ehemann, sondern räumte sogar jedermann die Befugnis zur Tötung von Ehebrechern ein.42 Indessen widersprach diese Regelung an sich dem Sinn des kanonischen Rechts, welches die Sünder zuvorderst zur Buße anmahnte, um diese vor ewiger Verdammnis zu bewahren. Tötete 36 II. B. c. 22: „Begrifet man einen man in eins andern mannes hus bie sinem elichen wibe, an der warn schulde, bie tag oder bie nacht, also daz er mit ir zu schaffen habe, an den sal des wibes [man] kein arg legen mit slegen noch mit stozzin, wan er mag en binden und vahin, und sal in dan dem keiser antworten; der sal ez rechen mit dem rechte, daz darzu dem gesetzt. Dazselbe ist auch der frowen recht. vergizzet er sich aber, daz er iz selber richten will, so er aller ubelst mag, so hat er sich gegeben in des keisers gewalt mit libe und mit gute. Seit der keiser in sime rechten beschriben hat, daz nieman selber richten sal. Get aber daz wibe zu einem manne in daz hus zu im heim, und hat mit im zu schaffen, und wirt man des gewar; darumb en ist der man nit schuldig, dan got zu verantworten.“, zitiert bei Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 74; Bennecke, Die strafrechtliche Lehre vom Ehebruch, S. 134. 37 Welsch, Die Bestrafung des Ehebruchs, S. 40 f.; vgl. auch Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 36. 38 Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 1. 39 Vgl. etwa Deuteronomium 22, 22 in der Übersetzung von Martin Luther: „Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen beide sterben, der Mann und die Frau, der er beigewohnt hat; so sollst du das Böse aus Israel wegtun.“ Hier wird deutlich, dass allein der außereheliche Beischlaf mit einer verheirateten Frau als Ehebruch bewertet wird. 40 Causa 32 quaestio 4 Kapitel 4 der Pars Secunda des Decretum Gratiani. 41 Das kanonische Recht beruht auch nicht auf Rechtswerken mit Gesetzeskraft, sondern auf Bußordnungen, die in Privatarbeit zustande kamen. Die Bußordnungen waren in der Praxis jedoch eine wichtige Erkenntnisquelle bei der Anwendung kanonischen Rechts. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das kirchliche Recht im Codex Iuris Canonici kodifiziert. 42 Vgl. Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 4 f.
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der Ehemann aber die Ehebrecher, so nahm er ihnen damit jegliche Gelegenheit zur Buße und gab sie nach damaliger kirchlicher Vorstellung zwangsläufig der Verdammnis preis. Mithin schlug die Regelung im angelsächsischen Bußrecht eine Brücke zum weltlichen Recht und brach hierfür mit den Grundlagen des kanonischen Rechts. Kirchliche Würdenträger vertraten demgegenüber mehrheitlich die Vorstellung von der Strafwürdigkeit der ehemännlichen Ragetötung.43 Eine bemerkenswerte Ausnahme bei der strafrechtlichen Beurteilung von Ehebrüchen bilden die Rechte westfälischer Weistümer. Das Benker Heidenrecht etwa sprach sich dafür aus, dass der Mann seine Frau dem Nachbarn bringen solle, wenn er seine sexuellen Pflichten nicht erfüllen könne. Andere westfälische Rechtskodifikationen gehen noch weiter; wenn der Nachbar dieser Bitte nicht nachkommen wolle oder könne, solle der Mann seine Frau geschmückt und mit einem Beutel voll Geld auf den Jahrmarkt bringen. „Und kann man ihr alsdann noch nicht genug helffen, so helffen ihr thausend düffel.“ Der im Hinblick auf die übrigen deutschen Rechtskodifikationen kaum stärker denkbare Kontrast hatte allerdings einen durchaus sinnstiftenden Hintergrund. Westfalen war damals weitgehend von zahlreichen Kleinbauern besiedelt, denen daran gelegen war, Erben für den Grundbesitz zu haben. Die Straflosigkeit des Ehebruchs in Westfalen sollte diesen Bauern die Möglichkeit eines Erben auch für den Fall sichern, dass die Eheleute außerstande waren, einen ehelichen Erben in die Welt zu setzen.44 Nach Art. 145 Abs. 2 der Bambergensis war der Ehemann entschuldigt und damit straflos, wenn er die Ehebrecher auf frischer Tat ertappte oder nach einer Verwarnung in Gemeinschaft antraf und sie im Affekt erschlug.45 Gleiches galt gemäß Art. 175 Abs. 1 der Bambergensis sogar für den Vater der Ehebrecherin, wenn er die Tötung „in ordentlicher Weise“ durchgeführt hatte.46 Auch die Carolina gewährte sowohl dem Ehemann als auch dem Vater ein Recht auf straflose Tötung, wobei der Wortlaut allein die Tötung des Ehebrechers als entschuldigt vorsah, 43
Entsprechende Nachweise finden sich bei Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs,
S. 5. 44
Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 101 f. mit den entsprechenden Nachwei-
sen. 45 Art. 145 Abs. 2 der Bambergensis: „Jtem begriff auch der Eeman den Eebrecher an dem eebruch, oder aber So ein eeman einem andern sein behausung vnd gemeynschafft mit seinem eeweyb wissentlich verspottet hat, betrit daruber denselben in söllicher vberfarung vnd schlecht in auss hitzigem gemüt darob zu tode, oder auch die Eebrecherin: die peinlich straff wirt jm seines billichen schmertzen halb ubersehen. Doch, wo wider einen solchen Eeman bewisen werden möchte, das er bey derselbigen seiner elichen haussfrawen auch ein Eebrecher were, oder aber den eebruch seines weybs gewist vnd daruber eeliche gemeinschafft vnd handlung mit jr gehabt, So het er darumb gemelter clag oder straff nit stat.“ 46 Art. 175 Abs. 1 der Bambergensis: „Jtem es sein sunst ander mere entleybung, die auss vnstreflichen vrsachen geschee mögen, So dieselbigen vrsachen recht und ördentlich gepraucht werden: Als da einer yemant vmb vnkeuscher werck willen, die er mit sexnem Eeweyb oder Tochter vbet, erschlecht, wie vor in dem hunderten vnd funffundvierzigisten artickel des Eebruchs davon gesetzt ist; Jtem so einer zu rettung eines andern leyb, leben oder gut yemant erschlecht.“
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nicht aber die Tötung der Ehefrau.47 Ob hieraus jedoch auf die Strafbarkeit der Tötung der Ehefrau geschlossen werden kann, erscheint schon deshalb fragwürdig, weil die Carolina das unter ihr geltende Recht nicht vollständig kompilierte, sondern vielfach Lücken aufweist, die der Richter gemäß Art. 105 der Carolina nach freiem Ermessen füllen konnte. Es wird in der Literatur auch vertreten, dass es sich bei der fehlenden Normierung der Straflosigkeit einer Tötung der Ehefrau um ein Redaktionsversehen handelte.48 Mit der Aufklärung wurden Rachetötungen des Ehemannes kritischer bewertet, was sich auch im Strafrecht niederschlug. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 gestand dem Ehemann kein Tötungsrecht zu und beinhaltete auch keinen besonderen Strafmilderungsgrund für die Tötung eines oder beider Ehebrecher. Diese Strenge vermochte sich indessen in späterer Zeit nicht durchzusetzen. Die ehemännliche Rachetötung wird in der deutschen Strafrechtsliteratur des ausgehenden 19. sowie des beginnenden 20. Jahrhunderts geradezu idealisiert, was in den Ausführungen Rosenthals von 1880 zum mittelalterlichstädterechtlichen Erfordernis des Ergreifens der Ehebrecher auf frischer Tat sowie der dahinterstehenden psychologischen Eingrenzung des Racherechts ausgesprochen deutlich wird: „In ihr [d.i. die Tötung] kommt jener edle Keim der Rache in Erscheinung, jener gerechte Schmerz über die dem Racheübenden durch die zugefügte schwere Kränkung bekundete Nichtachtung seiner Persönlichkeit, durch Verletzung des ihm heiligsten Gutes, seiner Familienehre (sic!), aufs höchste gesteigert. Die deutsche Rechtsanschauung hat sogar bei geordneter Strafrechtspflege für solche Tötung noch Verständnis und Entschuldigung, weil sie in einer tiefsittlichen Auffassung der Ehe und der Familienpflichten ihre starken Wurzeln hat.“49
Weil die Vorstellung breiter Teile der Gesellschaft von der Ehrenhaftigkeit einer ehemännlichen Rachetötung noch bis in das 20. Jahrhundert hinein überdauerte, wirkten die genannten Tötungsrechte über § 213 StGB unterschwellig nach, so dass männliche Täter einer Partnertötung oft privilegiert waren.
47 Art. 150 Abs. 1 CCC: „Jtem es sein sunst andere mer entleibung die etwo auß vnstrefflichen vrsachen beschehen, so dieselben vrsachen recht vnd ordenlich gebraucht werden, als da eyner jemandt vmb vnkeuscher werck willen, die er mit seinem eheweib oder tochter übet, erschlecht, wie vor inn dem hundertsten vnnd eyn vnd zwentzigsten artickel des ehebruchs anfahend, Item so eyn ehemann eynem andern etc. gesetzt ist.“ 48 Von Wächter, Lehrbuch, § 214 Anm. 69; Welsch, Die Bestrafung des Ehebruchs, S. 55 Fn. 24. 49 Rosenthal, Die Rechtsfolgen des Ehebruchs, S. 73.
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2. Strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ nach Inkrafttreten des RStGB Gemäß § 213 Alt. 1 StGB droht dem Täter einer vorsätzlichen Tötung eine vergleichsweise milde Strafe, wenn er ohne eigene Schuld durch eine ihm oder einem Angehörigen zugefügte schwere Beleidigung des Opfers zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden ist. Das Schulbeispiel für eine „schwere Beleidigung“ bildet dabei seit je die untreue Ehefrau, die mit ihrem Liebhaber in der ehelichen Wohnung vom Ehemann überrascht wird.50 Dieses untechnische Verständnis des Beleidigungsbegriffs über das Delikt des 14. Abschnitts hinaus hat auch historische Gründe. Der Entwurf von Art. 177 des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1829 stellte den Misshandlungen und schweren Beleidigungen die „groben Rechtsverletzungen“ an die Seite, um in Anlehnung an Art. 324 CPI den infolge des Begreifens des Ehebruchs begangenen Totschlag strafrechtlich milde bewerten zu können. Alsbald wurde dieser Zusatz jedoch verworfen, weil der so begangene Totschlag durch das Tatbestandsmerkmal der „schweren Beleidigung“ erfasst gewesen sei. Dass diese Vorschrift weitgehend wörtlich von dem Gesetzgeber des Reichsstrafgesetzbuchs rezipiert und in dem Gesetzgebungsprozess keine abweichende Auffassung geäußert wurde, spricht dafür, § 213 Alt. 1 StGB auf dieselbe Art auszulegen wie Art. 177 des Preußischen Strafgesetzbuchs, so dass die „schwere Beleidigung“ über das technische Verständnis im Sinne von § 185 StGB hinausgeht.51 Mag schon hier – jedenfalls vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet – zweifelhaft sein, ob die Tötung der Frau oder des Ehebrechers nicht eine überzogene Reaktion darstellt, die durch das Strafrecht nicht auch noch privilegiert werden sollte, gilt dies erst Recht für weitaus harmloseres Opferverhalten, das der Rechtsprechung in der Vergangenheit Anlass zu einer Anwendung von § 213 StGB gab oder das die Literatur für ausreichend erachtete. Die frühe Literatur zum Reichsstrafgesetzbuch hielt wie selbstverständlich den Vater der „großjährigen Tochter“ für privilegiert, der einen Mann überrascht und tötet, welcher nachts „deren Verführung in einer Zusammenkunft betreibt“. Die schwere Beleidigung treffe den Vater auch dann, wenn seine „großjährige Tochter“ mit der „Zusammenkunft“ einverstanden war. Angesichts der heutigen Anschauungen in Deutschland wäre schon fraglich, ob ein Vater hierdurch überhaupt zum Zorn gereizt sein kann, wie es die Vorschrift erfordert. Das Gleiche gelte für die Tötung „des Ehebrechers oder von analogen Verhältnissen, durch welche der hin50 RG JW 1930, 919; BGH bei Holtz MDR 1978, 108 (110 f.); BGH StV 1990, 265 (267); LK-Jähnke, § 213 Rn. 8; Otto, Grundkurs BT, § 5 Rn. 6; Schneider, NStZ 2001, 456; Lackner / Kühl, § 213 Rn. 2; NK-Neumann § 213 Rn. 10; S / S-Eser, § 213 Rn. 5; vgl. hierzu schon Schwartz, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, S. 479; Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, II 2; Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd. 2, 42 b; von Olshausen, S. 957. 51 von Olshausen, S. 957.
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tergangene Ehemann zum Zorn gereizt werden kann. Auch der vom Getödteten durch sein Benehmen verschuldete, an sich vielleicht unbegründete Verdacht eines ehebrecherischen Umganges entspricht den Voraussetzungen des § 213.“ Es reichte also schon der Anschein des Ehebruchs, wie auch bei „Ehrenmorden“ schon der Anschein sexuell als unehrenhaft geltenden Verhaltens reicht. An anderer Stelle heißt es: „Eine Kupplerin richtet im Auftrage eines auf der Straße harrenden Liebhabers einem anständigen Mädchen eine unzüchtige Bestellung aus. Werden Beide, Kupplerin und Anstifter getödtet, so liegt der Tatbestand des § 213 vor, falls dies auf der Stelle geschieht.“52 Darüber hinaus legte aber auch die Rechtsprechung bis in die zweite Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts § 213 StGB einseitig zugunsten männlicher Täter aus. In einer Entscheidung des Reichsgericht aus dem Jahr 193053 ging es um eine Ehefrau, die ihrem alkoholsüchtigen Ehemann ihren Trennungswunsch offenbarte, woraufhin dieser sie sofort der Untreue verdächtigte und mit der vom Reichsgericht ausdrücklich als „nicht unangemessen“ bewerteten Frage konfrontierte, weshalb sie „jeden dritten Tag ihre Wäsche wechsele“. Darauf entgegnete die Frau, sie könne sich so viel Sauberkeit wegen ihrer Herrenbekannschaften leisten, was aber wohl eher als eine ironische Zurechtweisung des unhöflichen Ehemannes gemeint war. Auf dessen Vorwurf „dann lässt Du Dich also auch gebrauchen“ entgegnete sie mit „das musst Du mir überlassen.“ Aufgrund des „schnöden“ und „überaus aufreizenden“ Benehmens der Ehefrau handele es sich laut der Entscheidung bei dem anschließend vom Ehemann an ihr in Form von Würgen begangenen Totschlag um einen nach § 213 StGB privilegierten Provokationsfall. Das Gericht stellte sogar ausdrücklich fest, dass keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich seien, dass der Mann „unangemessen“ handelte, obwohl in der Entscheidung von „ständiger Trunksucht“, „unzureichender Gewährung des Unterhalts“ und „schlechter Behandlung“ seitens des Ehemannes die Rede ist; auch wirkt sich die in der Frage nach dem aus Tätersicht offenbar zu häufig stattfindenden Wäschewechsel liegende grobe Unverschämtheit nicht auf die richterliche Bejahung von § 213 StGB aus. Mittermaiers Urteilsanmerkung zufolge tritt einem in der Entscheidung „eine veraltete, rein männliche Einstellung zur Ehe entgegen, wonach nur der Mann sich alles erlauben kann, aber die Frau trotzdem Gehorsam zu leisten hat.“ Eine vergleichbare Ausblendung der Vorgeschichte unternahm auch der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone in einer Entscheidung aus dem Jahr 1950.54 Das Tötungsopfer war auch hier eine Frau, wobei diese den Täter jedoch nicht durch eheliche Untreue zur Tat provoziert haben soll. Die Getötete unterhielt mit dem späteren Täter wohl eine außer- oder zumindest uneheliche Beziehung und erwartete von ihm ein Kind. Als der Täter hiervon erfuhr, übte er dahingehend Druck auf sie aus, sie solle ihre Schwangerschaft und seine Vaterschaft geheim halten; 52 53 54
Holtzendorff, Handbuch des Deutschen Strafrechts, Bd. III, S. 437 f. RG JW 1930, 919 (m. Anm. Mittermaier). OGHSt 2, 340.
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überdies drängte er sie zur Abtreibung, was nach der Formulierung der Richter „bei ihr starke Niedergedrücktheit hervorrief“. Als diese deswegen einen Suizidversuch unternahm, wollte der Täter sie hieran hindern. Um den Suizid erfolgreich durchführen zu können, wollte die Getötete den Täter aus dem Raum drängen, wobei ihr Misshandlungen gegen ihn unterliefen. Diese Misshandlungen werden jedoch sehr geringfügig gewesen sein, zumal das Schwurgericht einen hierauf gerichteten Vorsatz der Getöteten ausschloss. Gleichwohl behauptete der Täter, hierdurch zum Zorn gereizt worden zu sein, weswegen er seine Geliebte tötete. Das Schwurgericht Hamburg lehnte in dem Fall eine Anwendung von § 213 StGB ab; insbesondere verneinte es mit Blick auf die Vorgeschichte, dass der Täter ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt wurde. Dieser Einschätzung trat der Oberste Gerichtshof mit dem Hinweis entgegen, § 213 StGB habe „ersichtlich nur solche Umstände im Auge, die mit dem Vorgang der Tötung in unmittelbarem Zusammenhange stehen“, so dass ihmzufolge einer Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Fall nichts entgegenstehe. Zwar räumte der Gerichtshof ein, auch Vorfälle aus der Vergangenheit könnten einem „an sich nicht sehr schwerwiegenden Verhalten kurz vor der Tat ein solches Gewicht geben, daß dieses doch als ausreichender, die Mißhandlung oder schwere Beleidigung weitgehend entschuldigender Anlaß gelten“ müsse. Jedoch müsse auch dann vom Täter im gegebenen Augenblick ein ihm als Schuld vorwerfbares Verhalten gegeben sein, damit eine Anwendung von § 213 StGB ausgeschlossen sei. Freilich führte diese Rechtsauffassung im dargestellten Fall zu einer Annahme „gerechten Zorns“, weil die Frau es wagte, zur Ermöglichung ihres Suizidversuchs gegen den Täter vorzugehen. Dass dieser sie geschwängert, verlassen und zum Abbruch der Schwangerschaft und zur Verheimlichung seiner Vaterschaft gedrängt hatte, was ursächlich für ihre „starke Niedergedrücktheit“ und ihren Selbstmordversuch war, änderte am Vorliegen „gerechten Zorns“ nach Ansicht der Richter offenbar nichts.55 In einer anderen Entscheidung56 ließ das Reichsgericht für die Annahme einer schweren Beleidigung genügen, dass die schließlich getötete Ehefrau auf die Bitte des Ehemannes, zu ihm zurückzukehren, mit einem „höhnischen Nein“ antwortete und schließlich sogar, was offenbar besonderer Erwähnung bedurfte, „mit dem Fuß aufgestampft“ hat. Durch dieses Aufstampfen habe sie die beleidigende Eigenschaft des zuvor geführten Wortwechsels „verschärft“. Eine weitere Entscheidung des Reichsgerichts aus den Dreißigerjahren57 betrifft auf den ersten Blick die zeitlichen Anforderungen an die Täterreaktion. Bei näherer Betrachtung ist sie aber auch für das Verständnis des Reichsgerichts von dem Tatbestandsmerkmal der „schweren Beleidigung“ und letztlich auch von dem Normzweck des § 213 StGB aufschlussreich. Dass der betrogene Ehemann der Entscheidung zufolge seit drei Tagen vom Ehebruch informiert und sein „see55 56 57
Krit. auch Geilen, FS-Dreher, 357 (368). RG JW 1924, 1768. RG JW 1935, 527.
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lisches Gleichgewicht wiedergefunden“ hatte, sprach an sich gegen die Annahme eines minder schweren Falles. Indessen ließ das Reichsgericht für § 213 StGB ausreichen, dass die Erregung des Täters zur Tatzeit noch nicht völlig abgeklungen war. Hierdurch minimalisierte es zugunsten des Mannes die psychologischen, aber auch die kausalitätsbezogenen Voraussetzungen des § 213 StGB auf das Mindeste. In der Entscheidung wird zudem besonders hervorgehoben, der Täter habe erst Tage nach seiner Kenntnisnahme vom Ehebruch erfahren, dass dieser „im Dorf nicht verborgen geblieben“ war. Anlass der Provokation bildete damit für das Reichsgericht nicht der eigentliche Ehebruch, sondern der öffentliche Skandal. Bei einem solchen Verständnis schützt § 213 StGB „den Verteidiger einer ganz veräußerlichten Mannesehre und die Wahrung der rein bürgerlichen Reputation. Wenn das überhaupt ein legitimer Gesichtspunkt ist, so handelt es sich jedenfalls um eine rückläufige, wenn nicht schon jetzt rückständige Betrachtungsweise, die dann ein Grund mehr ist, von dem sozusagen absoluten Stellenwert des Ehebruchs im Rahmen des § 213 abzugehen. [ . . . ] Das RG erwähnt ausdrücklich die ,menschenunwürdige Behandlung‘ der Frau, sieht aber trotzdem keinen rechtlich relevanten Schuldzusammenhang zwischen der Untreue der Frau und dem vorausgegangenen Verhalten des Mannes. Auch hier führt das Dogma von der erforderlichen Situationsbezogenheit der Mitschuld zur Ausblendung der Vorgeschichte und damit zur Hochstilisierung des Ehebruchs zu einer durch nichts zu kompensierenden Ungeheuerlichkeit.“58 Ein weiteres Beispiel für die einseitige Privilegierung durch den Bundesgerichtshof bildet eine Entscheidung aus dem Jahr 1966.59 Hier verursachte der Ehemann durch seine Trunksucht, jahrelange Misshandlungen, Beschimpfungen und sonstige Ausschreitungen eine langjährige Ehekrise. Als er nach der Trennung seine Frau unangemeldet aufsuchte, um sich mit ihr auszusprechen, und in ihrem Bett einen anderen Mann antraf, schritt er umgehend zur Tötung der Frau durch Messerstiche. Zwar lehnte der Bundesgerichtshof eine Anwendung von § 213 StGB im Ergebnis ab. Der Bundesgerichtshof stützte seine Ablehnung allerdings nicht auf das Nichtvorliegen einer schweren Beleidigung. Eine solche bejahte er im Gegenteil, weil die Getötete einen anderen Mann in ihr Zimmer aufnahm und mit ihm das Bett teilte; seine Ablehnung begründete der Bundesgerichtshof mit dem vom Täter schon auf dem Weg zu seiner Noch-Ehefrau fest gefassten Entschluss, sie zu töten, falls sie nicht mit ihm zurückkehre. Aufgrund dieses unbedingten Handlungswillens fehlte es dem Bundesgerichtshof an der von § 213 StGB vorausgesetzten kausalen Verknüpfung zwischen der Beleidigung und dem Tatentschluss. Das Schwurgericht hatte dem Täter eine Anwendung von § 213 StGB mit der Begründung versagt, er sei nicht ohne eigene Schuld zum Zorn gereizt worden. Auch hier lag das eigentliche Problem nicht in der Frage, ob das Opferverhalten überhaupt eine schwere Beleidigung verkörpern kann, wenn die Ehe wie hier be58 59
Geilen, FS-Dreher, 357 (367). BGHSt 21, 14.
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reits so zerrüttet ist, dass von einem „Ehebruch“ eigentlich kaum noch die Rede sein kann. Denn der Ehebruch als klassischer Beispielsfall für eine schwere Beleidigung im Sinne von § 213 StGB könnte hier allenfalls bei rein formalistischer Betrachtung bejaht werden; die für den Ehebruch sonst typische „betrügerische“ Haltung des Ehebrechers gegen seinen Ehepartner durch bewussten Missbrauch des in ihn gesetzten Vertrauens hinsichtlich seiner Treue fehlt hier gänzlich,60 war doch die Trennung bereits seit Monaten vollzogen und zudem mit einer alsbaldigen Scheidung zu rechnen. Die Noch-Ehefrau wollte den Mann ehelichen, mit dem sie vom Täter dann ertappt wurde. Das in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zitierte Schwurgericht wies darauf hin, der Täter sei nicht ohne eigene Schuld provoziert worden, habe er doch seine Frau durch jahrelange Misshandlungen und Beschimpfungen, durch seine Trunksucht und die hierdurch bedingten Ausschreitungen schließlich dahin gebracht, eine weitere Fortsetzung der Ehe für aussichtslos und nicht mehr zumutbar zu halten. Deshalb habe sie sich konsequenterweise zur Scheidung vom Täter entschlossen, wovon dieser auch unterrichtet war. Infolgedessen konnte der Täter, so das Schwurgericht, „nicht mehr erwarten, daß sie ihm weiter die eheliche Treue halten und jeden anderen Umgang mit Männern meiden würde.“ Dass der Täter seine Noch-Ehefrau bei seinem unangemeldeten Auftauchen mit ihrem Partner, den sie nach der Scheidung zu heiraten beabsichtigte, im Zimmer überraschte, sei letztlich seine Schuld gewesen und nicht von der Getöteten provoziert. Hierzu stellte der Bundesgerichtshof zunächst fest, dass er in seiner früheren Rechtsprechung nicht gebilligt hat, die vom Täter maßgeblich herbeigeführte Zerrüttung der Ehe bei der Prüfung des Merkmals „ohne eigene Schuld“ im Rahmen des § 213 StGB zu dessen Ungunsten zu berücksichtigen. Immerhin äußerten die Richter in dieser Entscheidung erstmals Zweifel daran, ob das Ausblenden der ehelichen Vorgeschichte Zustimmung verdient. Vom Abstellen auf allein die akute, unmittelbar situationsbezogene Mitschuld distanziert sich der Bundesgerichtshof indessen nicht eindeutig, sondern ließ diese Frage offen, weil sie sich angesichts der fehlenden Kausalität zwischen der schweren Beleidigung und dem Tötungsentschluss ohnehin erübrige. Schließt der Bundesgerichtshof in der soeben genannten Entscheidung allein aus der formal-eherechtlichen Situation der Noch-Eheleute auf einen berechtigten Treueanspruch des Täters, den die Getötete durch ihre Beziehung zu einem anderen Mann – auch nach der Trennung von ihrem Ehemann – verletzt und so eine schwere Beleidigung verursacht haben soll, kommt es ihm in einer Entscheidung aus den frühen 1970er Jahren zur Begründung eines nachvollziehbaren Treueanspruchs nicht einmal auf das formale Bestehen eines Eheverhältnisses an. In dem Fall hatte der Täter seine „Lebensgefährtin“ mit einem unbekleideten Mann überrascht. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass die vom Schwurgericht nicht erwogene Provokation sich hier als geradezu selbstverständlich aufdränge.61 Es ist wohl 60
Krit. auch Geilen, FS-Dreher, 357 (360).
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Geilens diesbezüglich geäußerter Vermutung beizupflichten, das Reichsgericht wäre noch drei Jahrzehnte zuvor nicht einmal auf die Idee gekommen, dem Lebensgefährten eine Anwendung von § 213 StGB zuzugestehen.62 Sicher mag man zugunsten des Bundesgerichtshofes einräumen, dass sich der zwischenzeitlich eingetretene Wandel der Sexual- und Beziehungsmoral auch im Strafrecht niederschlagen muss. Gleichwohl kommen Zweifel auf, ob aus der bloßen Faktizität von Beziehungen auch jenseits der staatlich sanktionierten Ehe auf einen auch dort mittelbar anerkannten Treueanspruch geschlossen werden darf, jedenfalls solange mit dem Begriff des „Lebensgefährten“ recht undifferenziert umgegangen wird. Wenn Begriffe wie „Lebensgefährte“ oder „Lebensgemeinschaft“ sehr unterschiedliche Beziehungskonstellationen beschreiben, droht ein zu weiter Anwendungsbereich von § 213 StGB in Paarbeziehungen. Es liegt auf der Hand, dass nicht jede nichteheliche Gemeinschaft dieselben Treueerwartungen für Dritte nachvollziehbar begründet, welche sich aus der Ehe oder etwa einer Lebenspartnerschaft ergeben und die eine Berücksichtigung über § 213 StGB tragen. Um einen vergleichbaren Treueanspruch und im Falle von dessen Verletzung die in § 213 StGB privilegierte Kränkung zu begründen, bedarf es richtigerweise einer „Lebensgemeinschaft“ mit eheähnlichem Ausschließlichkeitscharakter.63 Einen solchen wird man regelmäßig erst bei langjähriger Beziehung oder einer Verlobung mit dem Opfer bejahen können, die auf eine Ausschließlichkeit der Beziehung schließen lässt.
3. Zwischenergebnis Der Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte hat gezeigt, dass die Kontrolle weiblicher Sexualität auch im deutschen Kulturraum – mit Ausnahme der geschlechtsneutralen Ehebruchsrepression im kanonischen Recht – dem jeweiligen Mann überantwortet war. Umgekehrt durften Frauen die männliche Sexualität nicht kontrollieren. So hatten Frauen nie ein Recht, ihren untreuen Ehemann straflos zu töten, wohingegen Männer im umgekehrten Fall lange ein solches Recht genossen. Inwieweit von diesem bis in die Neuzeit verbreiteten Recht auch tatsächlich Gebrauch gemacht wurde, inwiefern also dieses Recht nicht bloß formell, sondern auch gesellschaftlich anerkannt wurde, lässt sich nur schwer beantworten. Möglich ist, dass es sich hier um eine bloße Rezeption römischen Rechts handelte, nicht aber um die Wiedergabe der wirklichen Rechtsüberzeugung damals lebender Menschen. In seinen Ausführungen zum Tötungsrecht des Ehemannes schließt Abegg64 aus den teilweise anzutreffenden örtlichen und zeitlichen Voraussetzungen für eine 61 62 63
BGHSt 21, 14 f.; zu diesem Aspekt der Entscheidung Geilen, FS-Dreher, 357 (368). Geilen, FS-Dreher, 357 (368). So schon Geilen, FS-Dreher, 357 (368 f.).
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straflose Rachetötung, dass ein solches Tötungsrecht auf deutschem Gebiet nie anerkannt war, sondern – im Gegenteil – die jeweiligen Rechtstexte stets um eine wirksame Bekämpfung dieser Delikte bemüht waren. Diesem Verständnis liegt zum einen die Prämisse zugrunde, dass ehemännliche Rachetötungen durchaus ein weit verbreitetes soziales Problem darstellten, das auch mit Mitteln des Rechts bekämpft werden sollte; dies macht insbesondere dann Sinn, wenn damals derartige Tötungen auf gesellschaftliches Verständnis oder gar Zuspruch stießen, da eine breite Ablehnung solcher Taten gepaart mit einem strikten und ausnahmslosen strafrechtlichen Verbot wohl einen geeigneteren Rahmen für die Bekämpfung dieser Rachetötungen bietet als die damals tatsächlich gefundene Lösung. Die Anerkennung des Racherechts des Ehemanns etwa in den mittelalterlichen Stadtrechten, die an örtliche und / oder zeitliche Voraussetzungen gebunden war, mutet mehr als Entgegenkommen der jeweiligen Herrscher an das Volk an, als dass sie sich als beherzter Bekämpfungsversuch verstehen lässt. Zum anderen liegt es nahe, dass Abeggs historische Sicht auf das Tötungsrecht seine persönliche Rechtsauffassung stützen sollte, dass ehemännliche Rachetötungen keine Rechtsmilde verdienen. Diese moderne Auffassung ließ sich offenbar 1830 leichter vertreten, wenn man darauf hinweisen konnte, dass die Täter einer Rachetötung schon in der deutschen Rechtsgeschichte keine grenzenlose Rechtsmilde mehr erfuhren. Wahrscheinlich waren Rachetötungen auf deutschem Gebiet also nicht ungewöhnlich und stießen auf gesellschaftliche Nachsicht. Auch wird es einen Bezug zwischen dem weiblichen Sexualverhalten und dem Ansehen der Verwandten der jeweiligen Frau gegeben haben. Hierauf deutet die oben zitierte Formulierung Rosenthals hin, der im Ehebruch der Frau eine schwere Kränkung des Ehemannes erblickt, durch welche die Frau ihre Nichtachtung seiner Persönlichkeit sowie die Verletzung „seines ,heiligsten Gutes‘, seiner (sic!) Familienehre“ ausdrückte. Nach diesem Verständnis ist der Mann Hüter der Familienehre und unmittelbar hierin verletzt, wenn seine Frau eine außereheliche Beziehung unterhält. Aufschlussreich war auch die Literatur und Rechtsprechung zu § 213 StGB. Zwar spielen Holtzendorffs Darlegungen, auch die nächtliche Verführung der „großjährigen Tochter“ durch einen Mann stelle – ungeachtet ihrer Zustimmung – eine schwere Beleidigung des Vaters dar, die eine Anwendung von § 213 StGB begründe, auf das römische Recht unter der Lex Iulia an. Jedoch macht sich Holtzendorff die entsprechenden Anschauungen zu eigen und stellt sie hinsichtlich der Legitimität der damit verbundenen Strafmilde nicht in Frage. Zudem hat der Blick auf die Rechtsprechung bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts gezeigt, dass das Reichsgericht sowie der Bundesgerichtshof § 213 Alt. 1 StGB tendenziell einseitig-maskulin auslegten. Frauen mussten selbst heftigste körperliche Gewalt ihrer Männer erdulden; wollten sie sich – was aus heutiger Sicht nur verständlich war, aus damaliger Sicht indessen wohl nicht – von ihrem Partner lösen, reichten teilweise bagatellartige Provokationsmomente wie etwa ein Aufstampfen mit dem 64
Abegg, Untersuchungen aus dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft, Bd. 3, S. 269 ff.
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Fuß, um eine Anwendung von § 213 Alt. 1 StGB zugunsten des Mannes zu begründen. Aufschlussreich ist insbesondere aber die Entscheidung des Reichsgerichts aus den frühen Dreißigerjahren, in der das Gericht die psychologischen Voraussetzungen des § 213 Alt. 1 StGB auf ein Minimum dahingehend reduzierte, dass die Erregung des Mannes noch nicht völlig abgeklungen sein durfte. Hier reichte offenbar als Provokationsmoment, dass der Mann mit dem öffentlichen Skandal konfrontiert war. Damit ist auch hier die außereheliche Affäre für den Mann keine reine Privatangelegenheit gewesen, die allein einer Klärung zwischen ihm und seiner Frau bedurfte. Vielmehr hing sein Ansehen in der Öffentlichkeit davon ab, wie sich seine Frau in sexueller Hinsicht verhielt. Das Reichsgericht teilte diese Auffassung insoweit, als es diesen Fall unter § 213 Alt. 1 StGB subsumierte, obgleich die Norm ersichtlich nicht erfüllt war. Die Befürchtung, das sexuelle Verhalten der Frau schade seiner Ehre, war damit nicht auf den Ehemann begrenzt, sondern auch für andere nachvollziehbar. Möglicherweise sind diese Anhaltspunkte für einen Nachweis der Vorstellungen von Ehre und Scham in der deutschen Rechtsgeschichte das bloße Ergebnis einer kulturellen und rechtlichen Rezeption römischer Sexualanschauungen. Dass sie nicht originär dem deutschen Kulturraum entstammen, ändert aber nichts daran, dass sich das Honour-Shame-Syndrome auch in der deutschen Rechtsgeschichte nachweisen lässt. Damit war dieses Syndrom nicht auf den Mittelmeerraum begrenzt und unterscheidet den Mittelmeerraum in dieser Hinsicht auch nicht von anderen – angrenzenden – Kulturkreisen. Zugleich verdeutlichen die aus dem Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte gewonnenen Erkenntnisse, wie wichtig es bei der Beobachtung und Untersuchung fremder Kulturen ist, auch die eigene Kultur kritisch zu hinterfragen. Wer bei der wissenschaftlichen Erforschung fremder Kulturen den Blick auf das Fremde fixiert, wird auch nur das Fremde entdecken und dabei Gemeinsamkeiten aus dem Auge verlieren. Was die Vertreter des Honour-Shame-Syndromes entdeckt zu haben glauben, lässt sich auch als patriarchalisches Gesellschaftsmuster deuten, das jedoch – freilich jeweils in unterschiedlichem Grad – auch in westlichen Gesellschaften noch nachweisbar ist. Im Ergebnis bedeutet dies für die Frage der Berücksichtigung fremder Kulturen bei der strafrechtlichen Beurteilung fremdkulturell motivierter Taten, dass die normativen Erwartungen der fremden Kultur vom Rechtsanwender kritisch hinterfragt werden sollen, ob sie sich tatsächlich diametral von den hiesigen unterscheiden. Eine Verneinung dieser Frage sollte dem Rechtsanwender Anlass geben, von einer tätergünstigen Berücksichtigung des fremdkulturellen Tathintergrundes Abstand zu nehmen, weil dieser dann eben nicht im eigentlichen Sinne fremd ist.
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
II. „Ehrenmorde“ als Tötungen aus niedrigem Beweggrund Bei „Ehrenmorden“ stellt sich die Frage, ob und bejahendenfalls wie das Tötungsmotiv der „Ehre“ das Vorliegen niedriger Beweggründe begründet. Außerdem fragt sich, ob und inwiefern bei der Prüfung der niedrigen Beweggründe ein Verfangensein des Täters in „Ehrenmorden“ positiv gegenüberstehenden heimatlichen Wertvorstellungen Einfluss haben kann. Ist ein „Ehrenmord“ fremdkulturell motiviert, stellt sich die Frage, nach Maßgabe welcher Werteordnung das von der Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe vorausgesetzte Werturteil zu ergehen hat. Weil weder die Motivgeneralklausel noch die Rechtsprechung in ihrer oben genannten Definition ausdrücklich Bezug auf die hiesige Werteordnung nehmen, käme ein Abstellen allein auf fremdkulturelle Wertvorstellungen durchaus in Betracht. Steht etwa im Fall eines ausländischen Täters dessen heimatliche Werteordnung seiner Tat positiv gegenüber, ließe sich mit dieser Erwägung die gesteigerte Verwerflichkeit des Tötungsmotivs widerlegen, vorausgesetzt es kommt maßgeblich auf diese Werteordnung an. Stellt man bei „Ehrenmorden“ dagegen auf die hiesige Werteordnung ab, wächst die Wahrscheinlichkeit der objektiven Niedrigkeit der Beweggründe des Täters. Da die Motivationslage bei „Ehrenmorden“ aber von Fall zu Fall unterschiedlich sein kann und es überdies keinen niedrigen Beweggrund per se gibt, dürfen die nachfolgenden Ausführungen nur als Anhaltspunkte für eine Motivbeurteilung in „Ehrenmordfällen“ gelten. Teilweise werden diese Tötungen aus eigener Überzeugung von den hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertvorstellungen begangen, wohingegen andere Täter die Tat allein aus tatsächlichem oder befürchtetem sozialem Druck begehen, ohne selbst in streng patriarchalischen Vorstellungen verhaftet zu sein. Nach allgemeiner Auffassung ist ein solcher Beweggrund niedrig, „der nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe steht, durch hemmungslose, triebhafte Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verwerflich, ja verächtlich ist.“65 Maßgeblich ist bei Motivbündeln, also dem gleichzeitigen Zusammenwirken mehrerer Motive, das Hauptmotiv der Tat.66 Freilich bedarf die als „Leerformel“67, „pathetisch überladen“68 sowie als „nichtssagend“69 kritisierte Definition der niedrigen Beweggründe einer Konkretisierung, zumal auf moralische Wertvorstellun65 BGHSt 3, 132 f.; 42, 226; 47, 128; ähnl. BGH NJW 2004, 3051 (3054); NJW 2002, 382 (383); NJW 1993, 1665; BGH StV 1994, 182; Lackner / Kühl, § 211 Rn. 5; Fischer, § 211 Rn. 14; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 69 ff.; Krey, BT / 1, Rn. 28; Wessels / Hettinger, Rn. 95. 66 Kindhäuser, § 2 Rn. 20; BGHSt 42, 301 (304); BGH NStZ-RR 2004, 14 (15); NJW 2001, 763; NStZ 1997, 81. 67 Paeffgen, GA 1982, 255 (266). 68 Otto, Grundkurs BT, § 4 Rn. 13. 69 Arzt / Weber, Strafrecht BT, § 2 Rn. 67.
II. „Ehrenmorde“ als To¨tungen aus niedrigem Beweggrund
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gen Bezug genommen wird, die in der pluralistischen Bundesrepublik heute teilweise schwer generalisierbar und umso weniger universalisierbar sind. Weil sich die niedrigkeitsbegründenden Umstände überdies psychologisch nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen lassen, kommt es bei den Motivbewertungen zu gravierenden Differenzen zwischen Tat- und Revisionsgerichten.70 Die bisher unternommenen Versuche, die niedrigen Beweggründe auf ein absolutes Leitprinzip zurückzuführen, knüpfen zumeist an die Gefährlichkeit von Tat und Täter, die besondere Verwerflichkeit der Tat oder ein Missverhältnis zwischen Mittel und Zweck an.71 Sie enthalten ihrerseits ausfüllungsbedürftige Elemente, so dass selbst in Anwendung des gleichen Leitprinzips unterschiedliche Personen beim gleichen Sachverhalt zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen können. Die niedrigen Beweggründe müssen daher weiterhin als Oberbegriff für verschiedene Fallgruppen verstanden werden,72 wobei die von der Literatur entwickelten Leitprinzipien als Argumentationshilfe bei der Findung des Niedrigkeitsurteils dienen können. Dieses Niedrigkeitsurteil hat aufgrund einer Gesamtwürdigung der Vorgeschichte sowie der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit zu erfolgen, mithin aller inneren und äußeren Faktoren, die für die Handlungsantriebe des Täters maßgebend waren.73 Gefühlsregungen wie Zorn, Wut, Enttäuschung oder Verärgerung können niedrige Beweggründe sein, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen, also nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind.74 Entbehrt hingegen das Motiv ungeachtet seiner Verwerflichkeit, die jeder vorsätzlichen und rechtswidrigen Tötung innewohnt, nicht jeglichen menschlich nachvollziehbaren Grundes, so ist es nicht als „niedrig“ zu qualifizieren.75 Im letztgenannten Fall können die Vorstellungen des Täters selbst nicht Anknüpfungspunkt für die Annahme einer Tötung aus niedrigen Beweggründen sein, macht sich der Täter doch mit ihnen nicht gemein. Doch schon mit der Tat beweisen zu wollen, kein „Angsthase“ zu sein, kann einen niedrigen Beweggrund 70 Kargl, StraFO 2001, 365 (368); Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungskriminalität, S. 189. 71 Zusammenstellungen der Versuche finden sich bei Kelker, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, S. 609; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 8 ff. jeweils m. w. N. 72 MüKo-Schneider, § 211 Rn. 74. 73 BGHSt 35, 116, 127; BGH NStZ 2006, 284; NJW 2001, 3794, 3796; NStZ-RR 2000, 333; BGH GA 1974, 370; Otto, JZ 2002, 567; Fischer, § 211 Rn. 15. Krit. Maurach / Schroeder / Maiwald, BT / 1 § 2 Rn. 37; vgl. auch S / S-Eser, § 211 Rn. 18; NK-Neumann, § 211 Rn. 32 m. w. N. 74 St. Rspr. BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 16, 22, 23, 28, 30, 36; BGH StV 2001, 228 (229); NStZ 1995, 181; 1993, 182; StV 1981, 399; NJW 1967, 1140; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 71; krit. Neumann, JR 2002, 471. 75 Vgl. BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 18, 30, 32; BGH NStZ 2006, 286, 287; NJW 2006, 1008; BGH StV 1998, 130; 2001, 571; Rengier, BT / 2, § 4 Rn. 17 m. w. N.; diese Einschätzung jedenfalls für die Fälle von Selbstjustiz abl. Dietz, NJW 2006, 1385 (1387), der die Grenze der Berücksichtigung nachvollziehbarer Tötungsmotivationen bei § 213 StGB zieht.
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im Sinne des § 211 StGB darstellen.76 Das Gleiche gilt, wenn der Täter mit seiner Tat die Sympathie Dritter gewinnen will und sich damit die niedrigen Beweggründe anderer zu Eigen macht.77 Freilich bedarf die Feststellung auch hier einer umfassenden Würdigung aller be- und entlastenden Umstände der Tat. Weitaus problematischer ist die Prüfung niedriger Beweggründe in Fällen der Begehung eines „Ehrenmordes“ aus eigener Überzeugung. Ordnet der Täter sein Opfer aufgrund seines Geschlechts als sozial tieferstehend ein und spricht ihm daher ein nur vermindertes Lebensrecht zu, bestehen Parallelen zur Tötung aus Rassenhass oder aus Anmaßung der Überlegenheit der eigenen Rasse, bei der die bundesdeutsche Rechtsprechung von jeher niedrige Beweggründe annimmt.78 Versteht man „Ehrenmorde“ als eine Form der Verteidigung streng patriarchalischer Normen, können zudem die Ausführungen des Bundesgerichtshofs zu Blutrachetötungen herangezogen werden, demzufolge eine „Tötung aus Blutrache, bei der sich der Täter seiner ,persönlichen Ehre und der Familie‘ wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, [ . . . ] als besonders verwerflich und rücksichtslos anzusehen“ sei. Dies gelte insbesondere in einer Rechtsgemeinschaft, die das Lebensrecht von Menschen so hoch bewertet, dass sie es als Strafe einem Täter auch dann nicht aberkennt, wenn dieser durch eine Straftat die denkbar höchste Schuld auf sich geladen hat. Die Tötung aus Blutrache begründe daher grundsätzlich die Annahme niedriger Beweggründe.79 Gleichwohl weist die Rechtsprechung darauf hin, dass sie auch nach hiesigen Rechts- und Moralvorstellungen im Einzelfall als durchaus verständliche Reaktion auf empfundene Ungerechtigkeit erscheinen kann, wenn etwa ein Angehöriger des Getöteten sich von den Strafverfolgungsbehörden im Stich gelassen fühlt und den Täter aus Enttäuschung über das mangelhafte staatliche Vorgehen gegen ihn tötet. Freilich gilt dies bei mehreren Beteiligten nur für denjenigen, bei dem das Tötungsmotiv nachvollzogen werden kann.80 Abgesehen von Eifersuchtstötungen aus Verzweiflung81 ist ein nach hiesi76 BGH Urt. v. 5. September 2007, 2 StR 306 / 07, insoweit unveröffentlicht; vgl. auch Valerius, JZ 2008, 912 (916). 77 BGH NJW 1994, 395; Lackner / Kühl, Rn. 5a; OGHSt 2, 180; s. a. BGHSt 22, 375. 78 BGHSt 18, 37; 47, 128; BGH NJW 2000, 1583; BGH NJW 1994, 395. 79 BGH NStZ 2006, 286 (287 f.); 2002, 369 (370); BGH StV 2001, 228 (229); 1996, 208 (209); Nehm, FS-Eser, 419 (422 ff.); vgl. auch Dietz, NJW 2006, 1385 (1386). 80 BGH, NStZ 2006, 286; abl. MüKo-Schneider, § 211 Rn. 87, demzufolge auch ansatzweise menschlich nachvollziehbare Motive wie Wut über erlittene Schmach der Blutrache nicht den Charakter der Unterminierung tragender sozialethischer Muster nehmen. Köhler geht demgegenüber gar so weit, die besondere Verwerflichkeit des Blutrachemotivs in der deutschen Kultur insgesamt in Frage zu stellen, könne man doch auch im hiesigen Rechtskreis kein allgemeines Unverständnis erwarten, wenn sich ein Täter auf die aus seiner Sicht verletzte Familienehre beruft, Köhler, JZ 1980, 238 (239) unter Hinweis auf BGHSt 3, 132 f.; abl. auch Dietz, NJW 2006, 1385 (1387). 81 BGH NStZ-RR 2006, 340 (342); BGH NStZ 2004, 34, wo die Verzweiflung auch aus einem gescheiterten Suizidversuch des Täters nach der Tat abgeleitet wird; BGH NStZ 2002,
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gen Wertmaßstäben nachvollziehbarer „Ehrenmord“ allerdings schwer vorstellbar, zumal die deutsche Öffentlichkeit auf die Tötung Hatun Aynur Sürücüs fassungslos reagierte und das öffentliche Unverständnis einiger Aufklärung der soziokulturellen Hintergründe solcher Taten bedurfte. Daher lässt sich das Gesagte nur eingeschränkt auf „Ehrenmorde“ übertragen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956.82 Hier ging es um die Tötung eines unehelichen Kindes durch seine Großeltern unmittelbar nach seiner Geburt, um das Ansehen der Familie im Dorf nicht zu gefährden. Entgegen der Auffassung des Schwurgerichts stellte der Bundesgerichtshof das Vorliegen niedriger Beweggründe fest und begründete dies hinsichtlich der Großmutter damit, dass sie „ihrem Geltungsbedürfnis und ihrem übersteigerten Ehrgefühl ein junges Menschenleben [opferte], für das sie als Großmutter besondere Pflichten hatte.“ Wer also um seiner und der Familienehre willen ein Familienmitglied tötet, wird wohl aus niedrigen Beweggründen handeln. Dies wird auch dann gelten, wenn der Täter dem Opfer gegenüber keine besonderen Pflichten hatte, weil der Täter das Opfer letztlich als Mittel zum Zweck der Ehrwahrung instrumentalisiert und ihm damit neben dem Lebensrecht auch die Subjektqualität völlig abspricht. Ist die Niedrigkeit eines Beweggrundes erst einmal objektiv festgestellt, ist zu untersuchen, ob auch die subjektive Seite des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe erfüllt ist. Dies kann der Täter wiewohl nicht mit dem Vorbringen widerlegen, er selbst habe sein Motiv nicht als niedrig eingestuft, solange er dazu nur fähig ist.83 Lediglich ausnahmsweise, wenn dem Täter bei der Tat die niedrigkeitsbegründenden Umstände nicht bewusst waren oder wenn er außerstande war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmten, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern, sei ein Mord aus niedrigen Beweggründen schon auf Tatbestandsebene84 abzulehnen und lediglich eine Verurteilung wegen Totschlags anzunehmen. Was fremdkulturell motivierte Tötungen angeht, besteht Einigkeit, dass der fremdkulturelle Tathintergrund bei der Prüfung der niedrigen Beweggründe grundsätzlich beachtlich ist und zur Ablehnung des Mordmerkmals führen kann. Umstritten ist allein, auf welchem Wege die Berücksichtigung in Ansatz zu bringen 368; BGH StV 2001, 228; 2001, 571 f.; Rengier, BT / 2, § 4 Rn. 21; näher zum Ganzen MüKo-Schneider, § 211 Rn. 91; NK-Neumann, § 211 Rn. 35; Kindhäuser, § 2 Rn. 17. 82 BGHSt 9, 180. 83 BGH NJW 2004, 1466 (1467); BGH NStZ 1993, 281; BGH bei Holtz, MDR 1977, 807 (809). 84 BGHSt 35, 116 (121); BGH NJW 2002, 382 (383); BGH NStZ 1981, 209; ebenso BGH NStZ 1997, 81; BGH NJW 1996, 602; 1993, 3210; für eine Verortung der Frage auf die Schuldebene MüKo-Schneider, § 211 Rn. 99 f.; S / S-Eser, § 211 Rn. 39; NK-Neumann, § 211 Rn. 45; Maurach / Schroeder / Maiwald, § 2 Rn. 42; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 31 ff., 86 ff., 249 ff.; ders., JR 1990, 299; Trück, NStZ 2004, 497 (498 f.); Saliger, StV 2003, 21 (23); SK-Horn, § 211 Rn. 17; Fabricius, StV 1996, 209 (211).
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ist. Die deutsche Rechtsprechung hat im Laufe der Zeit zum Problem der Berücksichtigung fremder Kulturvorstellungen im Rahmen der Prüfung der niedrigen Beweggründe mehrfach ihre Position gewechselt, wohl weil eine einheitliche Linie im Umgang mit fremden Kulturen auch im gesellschaftlichen und politischen Diskurs über die Integration von Migranten fehlte. Mit der Vision einer multikulturellen und toleranten Gesellschaft schien es lange unvereinbar, häuslicher Gewalt in Migrantenfamilien auf den Grund zu gehen. Dabei ist die Frage nach der dogmatischen Verortung des Problems im Verbrechensaufbau keineswegs allein akademischer Natur. Die Antwort hierauf besagt schon für sich genommen viel über das Maß von Großzügigkeit oder Strenge bei der Berücksichtigung der Tätermoral. Die von der aktuellen Rechtsprechung vertretene Vorsatzlösung verortet das Problem auf der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe und erweist sich als relativ streng. Nur bei blickverengenden Wertfixierungen des Täters kann seine abweichende Vorstellung als für ihn günstig berücksichtigt werden. Da eine solch intensive Wertfixierung bei fortschreitender Integration immer unwahrscheinlicher wird, dürfte eine Berücksichtigung die Ausnahme sein. Dementsprechend liegt eine Verurteilung wegen Mordes bei einem integrierten Ehrenmörder nahe. Dagegen misst die zwischenzeitlich vertretene und seit einiger Zeit von der Rechtsprechung aufgegebene Gesamtwürdigungslösung, welche fremdkulturelle Tatmotive bereits beim objektiven Niedrigkeitsurteil in Ansatz bringt, abweichenden Überzeugungen des Täters tendenziell einen Wert an sich zu und neigt eher zu einer Verneinung des Mordtatbestands.
1. Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen im Rahmen der Gesamtwürdigung In einem Beschluss aus dem Jahr 1979 berücksichtigte der Bundesgerichtshof85 erstmals die fremdkulturelle Prägung von Tätern im Rahmen der Gesamtwürdigung.86 Damit problematisierte er die Prägungen nicht im Vorsatz, sondern bei der objektiven Feststellung der Niedrigkeit des Tötungsmotivs. Dieser Auffassung folgen zahlreiche Stimmen in der Literatur.87 Dieser hier als „Gesamtwürdigungslösung“88 bezeichnete Ansatz setzt in seiner Begründung bei der im Schuldprinzip wurzelnden Gesamtwürdigung von Tat BGH NJW 1980, 537. Diese Rechtsprechung wurde mehrfach bestätigt: BGH StV 1981, 399; 1984, 261; 1994, 182; 1997, 565; BGH NJW 1983, 55. 87 NK-Neumann, § 211 Rn. 30; Maurach / Schroeder / Maiwald, BT / 1, § 2 Rn. 37; Köhler, JZ 1980, 238 ff.; Sonnen, JA 1980, 746 (747); SK-Horn, § 211 Rn. 17; Lackner / Kühl, § 211 Rn. 5; Otto, Grundkurs BT, § 4 Rn. 16; wohl auch Rengier, BT / 2, § 4 Rn. 22; Saliger, StV 2003, 21 ff.; Wessels / Hettinger, Rn. 96. 88 Allgemein wird diese Lösung als „objektive Theorie“ beziehungsweise „objektive Phase“ bezeichnet, vgl. Saliger, StV 2003, 21 (23). Diese Bezeichnung könnte jedoch dahin85 86
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und Täter bei der Feststellung der Niedrigkeit des Beweggrundes an, bei der individuelle Entstehungszusammenhänge der Straftat und soziokulturelle Bindungen des Täters nicht außer acht bleiben dürfen.89 Denn verstehe man Schuld im strafrechtlichen Sinne als das persönliche Verantwortenmüssen einer tatbestandsmäßigen Handlung,90 sei der Täter für die normativen Fehlorientierungen verantwortlich, für die er auch individuell zuständig ist. Folge der Täter abweichenden, für ihn verbindlichen Normen, ergäben sich Zweifel an der individuellen Zuständigkeit.91 Diese Lösung relativiere auch nicht die hiesige Sozialmoral, welche nach wie vor objektiv-generell den Maßstab für die Feststellung der Niedrigkeit eines Motivs bilde, sondern trage dem Umstand Rechnung, dass man den Täter für seine heimatlichen Anschauungen nicht zur Verantwortung ziehen könne.92 Die hiervon abweichenden Moralvorstellungen des Täters würden allein auf individueller Ebene in Ansatz gebracht. Dies erscheine auch gerecht, sei dem Täter doch das in seiner herkunftsbedingt-schicksalhaften Bindung an die Heimatkultur wurzelnde Tötungsmotiv nicht vorwerfbar. Die Verstrickung des Täters in dessen heimatliches Normgefüge stehe dem im Mordmerkmal enthaltenen Vorwurf sozialer Rücksichtslosigkeit93 entgegen.94 Die Bezugnahme der niedrigen Beweggründe auf allgemeine sittliche Wertmaßstäbe schließe es nicht aus, die individuellen Bedingungen der Tat, zu denen die Bindung des Täters an die besonderen Ehrvorstellungen seines Lebenskreises gehören können, in die Bewertung einzubeziehen und eine richterliche Bewertung der Beweggründe als niedrig zu verneinen.95 Nach einem rechtstheoretischen Argument folgt das Berücksichtigungsgebot aus dem Wandel Deutschlands zu einem faktischen Einwanderungsland, jedenfalls solange die Integration der hier lebenden Ausländer noch nicht erreicht ist.96 In einem Einwanderungsland mit der damit verbundenen Vielfalt an in mancherlei Hinsicht widersprüchlichen Wertsystemen, können nur solche Angehend missverstanden werden, dass die Vertreter dieses Ansatzes für einen objektiven Beurteilungsmaßstab bei der sittlichen Motivbewertung eintreten. Deswegen wird hier der Begriff „Gesamtwürdigungslösung“ gewählt. 89 Saliger, StV 2003, 21 (24). 90 Roxin, AT, § 19; Stratenwerth / Kuhlen, AT, § 7 Rn. 24 ff., § 10; S / S-Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 103 ff. 91 Saliger, StV 2003, 21 (23). 92 NK-Neumann, § 211 Rn. 30. 93 Die Niedrigkeit eines Beweggrundes hängt nach diesem gesinnungsethischen Verständnis davon ab, ob der Täter an ihn gerichtete Wertanrufe missachtet und somit wertverachtend tötet, vgl. von Gerkan, S. 130 f. 94 Saliger, StV 2003, 21 (24); Fabricius, StV 1996, 209 (210); Köhler, JZ 1980, 283 (240). 95 BGH NJW 1980, 537. 96 Sonnen, JA 1980, 746 (747); vgl. auch Köhler, JZ 1980, 238 (240); zu den Problemen bei der Integration schon Schwerdtfeger, Gutachten A zum 53. Deutschen Juristentag Berlin, 1980, A 18 ff.
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schauungen für die Allgemeinheit verbindlich sein, die einem interkulturellen gemeinsamen sozialethischen Minimum entsprechen, also dem kleinsten gemeinsamen Nenner.97 Welche Voraussetzungen an die Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen der Gesamtwürdigungslösung im Näheren zugrunde liegen, ist immer noch umstritten. Die Rechtsprechung verfuhr jedenfalls bei der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen mehr als großzügig. a) Voraussetzungen für die Berücksichtigungsfähigkeit Um die fremdkulturellen Wertvorstellungen des Täters berücksichtigen zu können, muss in objektiver Hinsicht ein kultureller Normenkonflikt vorliegen.98 Dies ist dann der Fall, wenn das Tötungsmotiv einerseits nach den hiesigen Wertvorstellungen als niedrig bewertet wird, andererseits aber nach der heimatlichen Werteordnung des Täters privilegiert ist. Einige Autoren betonen schon die Schwierigkeiten der ersten Voraussetzung.99 Gleichwohl ist es weitaus schwieriger zu beantworten, ab wann die sich in der Tat manifestierende Anschauung nach Maßgabe der heimatlichen Werteordnung des Täters als privilegiert gelten darf. Teilweise wird gefordert, dass die abweichenden kulturellen – nicht bloß subkulturellen100 – Sozialnormen bestimmte Tötungsmotive nicht nur privilegieren, sondern von derartiger Prägungskraft sein müssen, dass auch die jeweilige Rechtsordnung diese soziale Privilegierung aufgreift oder ihr zumindest neutral gegenübersteht.101 Dementsprechend könne der Täter eines „Ehrenmordes“ sich nicht auf eine überholte oder in seiner Heimat nicht (mehr) mehrheitlich vertretene Sexualmoral102 als Tötungsgrund berufen.103 Eine Ablehnung der niedrigen Beweggründe wird aber teilweise auch dann für möglich gehalten, wenn die Normen der heimatlichen Sozial- und Rechtsordnung gegeneinander stehen; hier seien mit Blick auf das Schuldprinzip die abweichenden heimatlichen Sozialnormen bei hinreichender Prägungskraft gleichwohl zu berücksichtigen.104 97 Köhler, JZ 1980, 238 (240); Fabricius, StV 1996, 209 (210); NK-Neumann, § 211 Rn. 30. Zur Abgrenzung von Recht und Unrecht aus interkultureller Sicht Hilgendorf, JuS 2008, 761 ff. 98 Kritisch zum Begriff des Kulturkonflikts im Zusammenhang mit Ausländerkriminalität allgemein Schüler-Springorum, NStZ 1983, 532 ff. 99 Geilen, JK 1980, § 211 Nr. 5; Köhler, JZ 1980, 238 (239). 100 Sonnen, JA 1980, 746 (747); Saliger, StV 2003, 21 (22, 24). 101 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 275; Saliger, StV 2003, 21 (24). 102 Etwa die Todeswürdigkeit der Untreue von Frauen oder vorehelichen Geschlechtsverkehrs von Mädchen, ein unbeschränktes sexuelles Zugriffsrecht des männlichen Familienoberhauptes auf weibliche Familienangehörige oder ähnliche Anschauungen. 103 BGH NJW 2004, 1466 (1468). 104 BGH NJW 1980, 537; Saliger StV, 2003, 21 (24).
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Auf individueller Ebene setzt ein nachvollziehbarer Kulturnormenkonflikt voraus, dass die abweichenden Moralvorstellungen den Täter zur Tatzeit geprägt haben, dass er von ihnen durchdrungen, also herkunftsbedingt-schicksalhaft in ihnen verhaftet ist.105 Nur dann stellt sich die Kulturnormenabweichung für den Täter als wahrhafter, unausweichlicher Konflikt dar, der den Grad des im Licht des Schuldprinzips privilegierungsbedürftigen sozialen Zwanges erreicht. Auf die Möglichkeit des Täters, sich mit den hiesigen Wertanschauungen vertraut zu machen, soll es nicht ankommen.106 Nach Ansicht einiger Vertreter der Gesamtwürdigungslösung soll jedoch die Möglichkeit des Täters, sich mit den hiesigen Wertvorstellungen vertraut zu machen, gegen eine Berücksichtigung der heimatlichen Wertvorstellungen sprechen. Unter teilweisem Rückgriff auf eine „Quasi-Vermeidbarkeit“ aus dem Rechtsgedanken des § 17 StGB sollen Indizien wie individuelle Erkenntniskräfte, die Dauer des Inlandsaufenthaltes, das Alter bei der Einreise, bereits vorhandene Wertvorstellungen oder das Maß an sozialer Integration Berücksichtigung finden. Denn die Berufung des Täters auf seine heimatlichen Wertanschauungen sei mit zunehmendem Aufenthalt in Deutschland kontrafaktisch. Außerdem stelle eine schrankenlose Privilegierung heimatlicher Wertorientierungen die Verbindlichkeit der hiesigen Wertanschauungen zu sehr in Frage.107 Teilweise wird dagegen vertreten, dass zugunsten einer angenommenen „Richtigkeit“ überwundene Zweifel des Täters an der Legitimität seiner heimatlichen Wertung nicht gegen eine fehlende Vermeidbarkeit abweichender Normorientierungen sprechen. Denn zwischen skrupulösen und nicht reflektierenden oder gar gewissenlosen Tätern lasse sich hier kein Unterschied machen. Ebensowenig belaste ein ambivalentes Verhältnis zum heimatlichen Wertesystem den Täter, beweise doch gerade die Tat dessen Unvermögen, sich hiervon zu lösen. Auch eine kulturelle Teilanpassung sei daher nicht zu Lasten des Täters zu berücksichtigen.108 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass der in Kenntnis des Unrechts seiner Tat handelnde Täter eine höhere Strafe als derjenige verdient, der fest glaubt, im Recht zu sein.109 Ohne eine strenge Anwendung des Korrektivs der „Quasi-Vermeidbarkeit“ führt die Gesamtwürdigungslösung im Ergebnis zu einer uferlosen Besserstellung fremdkulturell geprägter Täter. Die Frage nach der Einordnung von Zweifeln des Täters bei der Motivbewertung stellte sich indirekt in einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1982.110 105 BGH StV 1997, 566; BGH NJW 1995, 603; BGH GA 1967, 244; NK-Neumann, § 211 Rn. 30; Köhler, JZ 1980, 238 (240). 106 BGH StV 1997, 565; 1994, 182; 1981, 399; BGH NJW 1983, 55; Köhler, JZ 1980, 238 (240); Sonnen, JA 1980, 746 (747). 107 Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 275; Geilen, JK 1980 § 211 Nr. 5; Saliger, StV 2003, 21 (25). 108 Saliger, StV 2003, 21 (25). 109 Vgl. Momsen, NStZ 2003, 237 (241).
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
In der Entscheidung ging es um einen in einem griechischen Dorf geborenen, traditionell erzogenen Mann, der im Alter von 13 Jahren nach Deutschland einreiste, und auch danach noch seinen Anschauungen verhaftet blieb. Mit 23 Jahren heiratete er eine etwa gleichaltrige Griechin, schöpfte aber schon in der Hochzeitsnacht den Verdacht, dass diese nicht mehr Jungfrau war. Nach jahrelangem Drängen gab die Frau den vorehelichen Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu, weswegen der Täter sich in „seiner Ehre zutieft verletzt“ fühlte. Auf seine Feststellung, entweder seine Frau oder ihr früherer Liebhaber müssten nun sterben, erfuhr er den Namen des früheren Liebhabers der Frau, den er aus Eifersucht, verletztem Ehrgefühl und Rache erstechen wollte. Als er ihn zur Rede gestellt hatte, erwiderte dieser wahrheitswidrig, er habe auch nach ihrer Eheschließung noch den Analverkehr mit der Frau des Täters ausgeübt, weswegen es zu einer tätlichen Auseinandersetzung kam. In der Folgezeit lockte der Täter gemeinsam mit seiner Frau deren früheren Liebhaber in seine Wohnung, wo er sich im Bad bewaffnet versteckt hielt. Als er wahrnahm, dass dieser sich seiner Frau anzunähern versuchte, kamen ihm trotz seiner Aufregung und Eifersucht Bedenken, die Tat auszuführen. Er überwand diese Bedenken dann aber und schlug mit einem Handbeil mehrmals auf den früheren Liebhaber ein, bis dieser starb. In der Entscheidung ging es um die Frage, ob die Verneinung niedriger Beweggründe aufgrund fremdkultureller Besonderheiten des Täters zugleich einen Fall im Sinne der sogenannten „Rechtsfolgenlösung“ des Großen Senats111 darstellt, wonach auch bei Bejahung des Mordmerkmals der – hier einschlägigen – Heimtücke aufgrund „außergewöhnlicher Umstände“ eine zeitige Freiheitsstrafe verhängt werden kann. Der Bundesgerichtshof entschied, dass die Verneinung niedriger Beweggründe infolge der Berücksichtigung fremdkultureller Wertanschauungen nicht ohne weiteres die Annahme „außergewöhnlicher Umstände“ begründet. Dass niedrige Beweggründe nicht vorlägen, wurde nicht einmal erörtert, sondern als geradezu selbstverständlich vorausgesetzt, obwohl die Zweifel des Täters doch nahe legen, dass er sich durchaus den hiesigen Anschauungen genähert hatte. Das Vorliegen solcher Umstände lehnte der Bundesgerichtshof dann nach Maßgabe deutscher Wertanschauungen ab, weil die vermeintliche Ehrkränkung in Form der Entjungferung der Frau des Täters zu einem Zeitpunkt erfolgte, als diese sich noch nicht kannten. Ferner hätte der Täter auch keine Kenntnis hiervon genommen, hätte er nicht gerade auf der Preisgabe der Details insistiert. Der Bundesgerichtshof schien demnach Zweifel des Täters nicht zu dessen Ungunsten gewertet zu haben.
110 111
BGH NJW 1983, 55. BGHSt 30, 105.
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b) Ausufernde Berücksichtigung in der Rechtsprechung Unklar ist, wie hoch die Anforderungen an die Annahme einer solchen fremdkulturellen Wertprägung sind. Nach einem Beschluss des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1979112 und einem Teil der Lehre113 entscheiden allein die „tatsächlichen Beweggründe“;114 demnach soll es auch keine Rolle spielen, ob sich der Täter im Laufe eines langjährigen Aufenthaltes in Deutschland mit den hierzulande herrschenden Wertvorstellungen vertraut machen konnte. Die genannte Entscheidung treibt die Gesamtwürdigungslösung in ihrer weiten Toleranz gegenüber fremdkulturellen Anschauungen auf die Spitze; sie verneint die niedrigen Beweggründe nicht nur für den aus dörflichen Verhältnissen stammenden angeklagten türkischen Vater, welcher auf die versuchte Tötung eines türkischen Studenten hinwirkte, weil dieser seine Tochter ohne Heiratsabsicht geschwängert hatte; auch bei dem zur Tötung aufgeforderten Sohn gleicher Herkunft verneint der Bundesgerichtshof das Mordmerkmal aufgrund des von ihm empfundenen sozialen Zwangs seitens der Familie. Dass er die Strafwürdigkeit der Tötung nach deutschem wie nach türkischem Recht durchaus kannte, stehe einer Ablehnung der Motivgeneralklausel nicht entgegen. Der Bundesgerichtshof begründet dies mit der Erwägung, das Auseinanderfallen rechtlicher Bewertung und sozialer Verhaltenserwartung sei auch dem deutschen Kulturkreis nicht fremd, und lässt bei der objektiven Feststellung eines Kulturnormenkonflikts eine Privilegierung des Tötungsmotivs nach der heimatlichen Sozialordnung genügen. Selbst dass der Sohn sich die Anschauungen des Vaters erst nach anfänglichem Widerstreben zu Eigen gemacht habe, stehe der Ablehnung niedriger Beweggründe nicht entgegen. Nahezu absurd ist schließlich aber die Ablehnung niedriger Beweggründe für den dritten Angeklagten. Dieser Spätaussiedler ohne nennenswerte Kontakte zu Deutschen hatte umso mehr Kontakt zu Türken, von denen er anerkannt werden wollte. Auch hier geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass die von ihm kritiklos übernommenen türkischen Anschauungen auch bei ihm das Tatmotiv bildeten. Angesichts des gestörten Verhältnisses dieses Angeklagten zu seinen deutschen Eltern, unverschuldeter Anpassungsschwierigkeit bei Deutschen, dafür guter Erfahrung im Umgang mit Türken sowie seiner einfachen und naiven Strukturierung erscheine die Internalisierung türkischer Werte nachvollziehbar. Hieran ist vielerlei bemerkenswert. Zunächst verdeutlicht dieses Beispiel, wie sehr sich die richterliche Identifizierung des Hauptmotivs bei Motivbündeln auf die Entscheidung zwischen Verurteilung wegen Mordes oder wegen Totschlags auswirkt. Bei dem Spätaussiedler hätte ebenso der Frage nachgegangen werden können, ob anstelle der – vermeintlich – türkischen Anschauungen nicht vielmehr ein Wunsch nach sozialer Anerkennung gegeben war, für den er wortwörtlich über Leichen zu gehen bereit BGH NJW 1980, 537. Sonnen, JA 1980, 746 (747); krit. Köhler, JZ 1980, 238 (240). 114 Gemeint ist wohl das tatsächlich bestehende Vorstellungsbild des Täters, Geilen, JK 1980 § 211 Nr. 5. 112 113
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
und willens war. In diesem Fall hätte man die Motivgeneralklausel wohl bejahen können. Denkwürdig ist aber auch, wie der Bundesgerichtshof hier die „türkische Sitte“ zum einen dahingehend erläutert, dass die männlichen Angehörigen einer Familie die Ehre verlören, wenn sie gegen den heiratsunwilligen Mann nicht mit Gewalt vorgingen, andererseits aber ausblendet, dass der nichtverwandte Spätaussiedler dann ja gar nicht vom Ehrangriff betroffen gewesen sein kann. Letztlich läuft dies darauf hinaus, dass der dritte Angeklagte nicht nur die für ihn geltende und damit zu berücksichtigende Kultur frei wählen, sondern auch deren Inhalt nach seinem Belieben erweitern konnte. In letzter Konsequenz bedeutet die Entscheidung somit eigentlich eine Verneinung niedriger Beweggründe für Überzeugungstäter.115 Möglicherweise hat der Bundesgerichtshof auch für den dritten Angeklagten milde entschieden, um einen erheblichen Schwachpunkt der Gesamtwürdigungslösung zu kaschieren. Denn bei konsequenter Anwendung dieser Lösung müsste bei einer aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten Tätergruppe dasselbe Geschehen schon objektiv unterschiedlich bewertet werden, was sich aber nicht mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz vereinbaren lässt.116 Daher wurde an der Entscheidung dahingehend Kritik geübt, dass sie maßgeblich auf die Bindung des Täters an die Anschauungen seines „Lebenskreises“ abstellt. Konsequenterweise müssten dann auch auch die Ganovenehre sowie die Anschauungen von Terroristen zugunsten des Tötenden berücksichtigt werden. Die auftragsgemäße Liquidierung eines Verräters wäre dann aufgrund ihrer „Ehrenhaftigkeit“ nicht aus niedrigen Beweggründen begangen.117 Hiergegen wenden Vertreter der Gesamtwürdigungslösung ein, dass zwischen der Ganovenehre und den fremdkulturellen Moralvorstellungen ein wesentlicher Unterschied bestehe. Ganoven und Terroristen hätten zuvor bereits die hiesigen Normen im Rahmen ihrer Erstsozialisation internalisiert, ehe sie sich ihr eigenes subkulturelles Wertesystem schufen. In dem Beschluss gehe es jedoch „nicht um Subkulturen innerhalb einer Gesamtkultur, sondern um den Konflikt zwischen türkischer und deutscher Kultur.“118 Gerade im Hinblick auf die Verneinung niedriger Beweggründe für den dritten Angeklagten überzeugt dieses Argument nicht, da dann ja konsequenterweise dieser wegen Mordes hätte verurteilt werden müssen. Die höchstrichterliche Verneinung der Motivgeneralklausel auch für ihn wird in der Literatur aber nicht in Frage gestellt, so dass der Vorwurf, auch Ganoven oder Terroristen müssten sich dann auf ihr Wertesystem berufen dürfen, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Dies gilt umso mehr, als es ja allein auf die tatsächlichen Beweggründe ankommen 115 An dieser Stelle sei betont, dass auch für Überzeugungstäter die Annahme niedriger Beweggründe möglich ist, vgl. BGH NJW 2004, 3051 ff.; BGH NStZ 2004, 89 ff. (m. Anm. Schneider); zusammenfassend zum Meinungsstand, inwieweit politische Beweggründe als niedrig erscheinen können, S / S-Eser, § 211 Rn. 20 m. w. N. 116 Schulz, NJW 2005, 551 (554); Nehm, FS-Eser, 419 (426). 117 Geilen, JK 1980, § 211 Nr. 5. 118 Sonnen, JA 1980, 746 (747); Saliger, StV 2003, 21 (24).
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soll, ohne dass deren Inhalt kritisch hinterfragt wird. Außerdem fingiert die Unterscheidung anhand von Konflikten zwischen zwei Kulturen einerseits sowie einer Kultur und einer Subkultur andererseits realitätsfern, dass ein Überzeugungstäter nie so in seiner Werteordnung verhaftet sein kann wie ein Ausländer in seiner heimatlichen Werteordnung. Dieses Kriterium ist für sich betrachtet ungeeignet, die für alle Einzelfälle notwendige und klare Abgrenzung zu leisten. Vielmehr unterscheiden sich der Ausländer sowie der Überzeugungstäter im Hinblick auf die Verantwortung für ihre abweichende Sozialisation. Dieser Aspekt betrifft aber nicht die Beurteilung des Motivs an sich, sondern die individuelle Vorwerfbarkeit des Handelns aus diesem Motiv.119 Weil es dem Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung allein auf die „tatsächlichen Beweggründe“ zur Tatzeit ankam, wurde auch nicht die Frage diskutiert, inwieweit die Tatbeteiligten sich mit den hiesigen Wertvorstellungen vertraut machen konnten. Gleiches gilt für eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1981,120 in der es um einen aus bäuerlich-konservativen Verhältnissen stammenden Italiener mit „autoritär-patriarchalischem Weltbild“ und einer sich „am unteren Rande des Durchschnitts“ befindlichen Intelligenz ging, der seine von ihm getrennt lebende Ehefrau aufgrund ihres Verhältnisses mit einem anderen Mann tötete, als er beide beim Ehebruch ertappt hatte. Auch hier stellt der Bundesgerichthof bei der Motivbewertung auf die „italienisch-südländische Mentalität“ ab und kommt so zu einer Verneinung niedriger Beweggründe. Für die Richter reichte es offenbar für ihre Ablehnung der Mordstrafbarkeit, dass der Täter „glaubte [Hervorhebung d. Verf.], berechtigten Grund für Verärgerung und Wut zu haben.“ Maßgeblich scheinen somit auch hier die tatsächlichen Beweggründe gewesen zu sein, ohne dass hinterfragt wird, ob der Täter denn auch tatsächlich berechtigten Grund für seine Verärgerung und Wut hatte. Insbesondere wird nicht nach einer möglichen Annäherung des Täters an die hiesige Kultur gefragt. In dieser Hinsicht mag der Bundesgerichtshof indessen unterschiedliche Haltungen angenommen haben. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1997121 ging es um die Tötung einer Frau durch ihren Ehemann, weil sie nach der Trennung eine Beziehung mit einem anderen Mann unterhielt. Dem traditionell erzogenen schiitischen Ehemann, der aus dem Iran stammte, stellte sich das Verhalten seiner NochEhefrau als skandalöse und todeswürdige Provokation dar, auf die er mit der Tötung derselben reagierte. Der Bundesgerichtshof bestätigte die schwurgerichtliche Ablehnung der niedrigen Beweggründe, weil „die starke Bindung des kaum assimilierten [Hervorhebung d. Verf.] Angekl. an die besonderen religiösen und moralischen Leitbilder seines Herkunftslandes seine Beweggründe zu der Tat nicht als nach allgemeiner sittlicher Wertung besonders verwerflich erscheinen lässt.“ Diese Formulierung lässt sich durchaus dahingehend verstehen, dass es bei der Ge119 120 121
Nehm, FS-Eser, 419 (427). BGH StV 1981, 399 f. BGH StV 1997, 565 (566).
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samtwürdigung auch darauf ankommt, ob sich dem Täter in hinreichendem Umfang Gelegenheit bot, sich mit der hiesigen Kultur vertraut zu machen. Wegen der nur beiläufigen Erwähnung des Umstands, der Täter sei kaum assimiliert gewesen, verbleiben jedoch Zweifel, ob es dem Bundesgerichtshof entscheidend hierauf ankam. Jedenfalls wäre eine deutlichere Positionierung in dieser Frage wünschenswert gewesen. Bemerkenswert ist an den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, denen die Gesamtwürdigungslösung zugrunde liegt, dass er sich hinsichtlich der Frage nach der Berücksichtigung heimatlicher Wertvorstellungen des Täters sehr eindeutig, ja gar kategorisch äußert. In den Entscheidungen ist von einer Berücksichtigungsfähigkeit keine Rede; im Gegenteil, dem Bundesgerichtshof zufolge „können die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen der Täter wegen seiner Bindung an eine fremde Kultur verhaftet ist, [bei der Beurteilung der Niedrigkeit eines Beweggrundes] nicht außer Betracht bleiben“.122 In einer jüngeren Entscheidung treibt der Bundesgerichtshof diesen Gedanken von der Formulierung her auf die Spitze: „Da bei der Prüfung der Frage, ob Tötungsbeweggründe als ,niedrig‘ i. S. d. § 211 Abs. 2 StGB zu bewerten sind, die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen berücksichtigt werden müssen [Hervorhebung d. Verf.], denen ein in der Bundesrepublik Deutschland lebender ausländischer Täter wegen seiner fortdauernden Bindung an die heimatliche Kultur verhaftet ist, ist diese Wertung [des Tatgerichts] aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.“123 Hiermit fixiert er tendenziell bereits die objektive Bewertung derart auf die moralische „Anerkennung“ heimatlicher Wertvorstellungen, dass er im Grunde genommen einen „niedrigen Beweggrund“ von vornherein ausschließen muss. Was die tätergünstige Berücksichtigung des Blutrachemotivs in einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall angeht, äußert sich Küper recht eindeutig: „Einen so massiven Einfluss rückständig-menschenverachtender Traditionen schon auf der Bewertungsbasis niedriger Beweggründe kann eine zivilisierte Rechtsordnung auch auf einer sozialethischen Ebene ,unterhalb‘ ihrer Rechtsnormen nicht akzeptieren.“ 124 Gleiches dürfte dann wohl auch für die Berücksichtigung der hinter „Ehrenmorden“ stehenden Wertanschauungen gelten. Folgerichtig verortet die aktuelle Rechtsprechung die Frage nach der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen nicht auf der objektiven Bewertungsebene, sondern auf der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe.
122 123 124
BGH StV 1981, 399 m. w. N. BGH StV 1997, 565 (566). Küper, JZ 2006, 608 (610).
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2. Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen auf subjektiver Seite (Vorsatzlösung) Die aktuelle Rechtsprechung stellt die Niedrigkeit der Beweggründe objektiv, also ohne Ansehung der Herkunft des Täters und seiner sozialen Prägungen fest. Vielmehr sei der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt, zu entnehmen.125 Der besondere fremdkulturelle Hintergrund einer Tötung kann jedoch auf der inneren Tatseite des Mordmerkmals berücksichtigt werden; demnach handelt der Täter nicht aus niedrigen Beweggründen, wenn ihm bei der Tat die niedrigkeitsbegründenden Umstände nicht bewusst waren, oder wenn es ihm nicht möglich war, seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmen, gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.126 Der von seinen heimatlichen Vorstellungen stark beherrschte Täter, der sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebensumstände nicht lösen konnte, kann demnach auch bei objektiver Niedrigkeit seiner Beweggründe ausnahmsweise wegen Totschlags verurteilt werden.127 Gleiches gilt für den noch ganz in seinem heimatlichen Kulturkreis verhafteten Täter, der die niedrigkeitsbegründenden Wertungsgesichtspunkte in ihrem Bedeutungsgehalt geistig nicht nachvollziehen konnte.128 Diese Lösung wurde von der Rechtsprechung bereits im Jahr 1966 in der ersten veröffentlichten Entscheidung vertreten, welche sich mit der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen bei der Prüfung der niedrigen Beweggründe auseinandersetzt.129 Begründet wurde die Berücksichtigung im Rahmen der Vorsatzlösung damit, dass Persönlichkeitsmängel schon bei „psychopathischen Persönlichkeiten“ und damit erst recht auch bei Ausländern in Anschlag gebracht werden müssen, wenn diese „in von unseren abweichenden Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit nicht lösen konnten.“130 Das Erfordernis des bewussteinsmäßigen Erfassens der Motive betont der Bundesgerichtshof auch in einer Entscheidung des 4. Strafsenats aus dem Jahr 1977.131
125 BGH NStZ 2006, 284; 2002, 369; 1995, 79; BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 41; BGH NJW 2004, 1466 ff.; BGH NStZ-RR 2004, 361 f.; Momsen, NStZ 2003, 237 ff.; Otto, Jura 2003, 612 (617). 126 BGH NStZ 1995, 79 unter Hinweis auf BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 2, 4, 10, 12, 15, 24, 28. 127 BGH NStZ 1995, 79 m. w. N. 128 BGH NJW 2006, 1008 (1012). 129 BGH GA 1967, 244. 130 BGH GA 1967, 244. 131 BGH bei Holtz, MDR 1977, 807 (809 f.).
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Für die Vorsatzlösung wird vorgebracht, die Grenzen positiver Berücksichtigungsfähigkeit seien überschritten, wenn ein Tatmotiv in den Anschauungen der deutschen Rechtsgemeinschaft keinen nennenswerten Widerhall findet, weil der Täter dann das sozialethische Minimum verfehle. Zudem betreffen Bindungen an eine abweichende Werteordnung die Individualethik, nicht aber die für das Niedrigkeitsurteil maßgebliche Sozialethik.132 Schon der allgemeine Gleichheitssatz verbietet es, ausländischen Tätern allein wegen ihrer abweichenden Sozialisation eine Vorzugsbehandlung zuteil werden zu lassen, die Sektenmitgliedern oder politischen Überzeugungstätern bei der an einem objektiven Maßstab orientierten Motivbewertung versagt wird.133 Zudem kann ein mordspezifisches „Ausländerprivileg“ diskriminierend wirken. Der von Kulturrelativisten hiergegen erhobene Vorwurf des „Ethnozentrismus“ überzeuge nicht, weil er an den Bedingungen zur Feststellung des sozialethischen Minimums vorbeigehe und political correctness mit den hierzulande rechtserheblichen Grundsätzen elementarer Sittlichkeit verwechsele.134 Durch die Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen des Täters allein auf subjektiver Ebene schafft die Rechtsprechung überdies Raum für die kritische Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden und für eine situationsgerechte Individualisierung. Dass der Berücksichtigung hier engere Grenzen gesetzt sind als bei der Gesamtwürdigungslösung, findet seine Berechtigung in dem herausragenden Stellenwert des Rechtsguts Leben in der deutschen Rechtsordnung.135 Die Vorsatzlösung ist in der Literatur im Vordringen begriffen,136 derzufolge hierdurch keine „kulturellen Rabatte“ gewährt und somit zufrieden stellende Ergebnisse ermöglicht würden, sodass im Hinblick auf „Ehrenmorde“ für den Gesetzgeber kein Handlungsbedarf bestehe.137 Es bedarf gleichwohl einer Erörterung, wie sich die Maßgeblichkeit allein hiesiger Wertanschauungen bei der objektiven Motivbeurteilung begründen lässt und wie weit die Toleranz gegenüber fremdkulturellen Bindungen auf subjektiver Seite geht beziehungsweise von welchen Bewertungsfaktoren sie abhängt. a) Objektiver Maßstab für die Niedrigkeitsfeststellung Dass der Bezugsrahmen für das Niedrigkeitsurteil allein die Wertanschauungen der Bundesrepublik Deutschland sein können, wird auf unterschiedliche Weise beMüKo-Schneider, § 211 Rn. 94. Eingehend hierzu Geilen, JK StGB § 211 / 15; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 94. 134 MüKo-Schneider, § 211 Rn. 94. 135 MüKo-Schneider, § 211 Rn. 94. 136 Vgl. LK-Jähnke, § 211 Rn. 37; Geilen, JK 1980, § 211 Nr. 5; Fischer, § 211 Rn. 29; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 274 f.; Schubert / Moebius, ZRP 2006, 33 (34 f.); Schulz, NJW 2005, 551 ff.; Küper, JZ 2006, 608 ff.; Krey, BT / 1 § 1 Rn. 31; MüKoSchneider, § 211 Rn. 93 f. 137 Schubert / Moebius, ZRP 2006, 33 (35). 132 133
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gründet. Teilweise wird darauf verwiesen, die Gesamtwürdigungslösung könne eine Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag im Bereich niedriger Beweggründe kaum mehr leisten.138 Neuerdings wird die Geltung allein deutscher Wertmaßstäbe auch mit der Anpassungspflicht hierzulande lebender Nichtdeutscher begründet, was sicherlich mit der sich verbreitenden Erkenntnis zusammenhängt, dass sich ihre Integration nicht mit falsch verstandener Toleranz gegenüber allem Andersartigen bewerkstelligen lässt. Besonders bei hochrangigen Verfassungsgütern wie dem in Art. 2 II GG gesicherten Recht auf Leben verbiete sich eine erfolgreiche Berufung nichtdeutscher Täter auf ihre Wertvorstellungen. Wer dagegen in der Fremde leben wolle wie in der Heimat, der solle überlegen, ob er nicht besser in der Heimat geblieben wäre.139 Eine bevorzugende Behandlung von Ausländern, also ein „Ausländerprivileg“, diskriminiere Ausländer zudem eher als ihnen zu nützen,140 verstärke ein solches Privileg doch die Entfremdung zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Ist der Maßstab für die Motivbeurteilung auf die Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft reduziert, liegt der Vorwurf der ideologischen Voreingenommenheit nicht fern.141 Jedoch legen umgekehrt einige Begründungsversuche für einen objektiven Maßstab bei der Niedrigkeitsfeststellung auch ihrerseits durchaus den Verdacht der ideologischen Voreingenommenheit nahe. Von ausländischen Tätern kann demgegenüber erwartet werden, sich wenigstens auf die fundamentalen Wertmaßstäbe dieser Gesellschaft einzulassen. Eine Enttäuschung dieser Erwartung rechtfertigt es, „eine unter Missachtung der Grundvorstellungen vorgenommene Gewalthandlung als in höchstem Maße missbilligt zu kennzeichnen.“142 Schließlich sehe das deutsche Strafrecht auch sonst keine Privilegierung für Anschauungen vor, die denen des Strafgesetzbuchs zuwiderlaufen.143 Dabei mangele es nicht der deutschen Rechtsgemeinschaft an Toleranz, sondern dem Täter, der selbst das sozialethische Minimum verfehle.144 Diese Ausführungen veranschaulichen die Schwierigkeit einer Antwort auf die Frage, ob sich der Maßstab für die Motivbeurteilung an den hier anerkannten Wertvorstellungen orientiert.145 Andererseits stellt die Kritik an einer Unterwerfung fremdkulturell geprägter Täter unter die hiesige Werteordnung im Ergebnis eine kulturübergreifende Strafbefugnis in Frage. Es versteht sich fast von selbst, dass jedes Strafrecht an die jeweiligen gesellschaftlichen Wertanschauungen anknüpft und diese Anschauungen hierüber – wenn auch indirekt – strafbegründend wirken. 138 139 140 141 142 143 144 145
Paeffgen, GA 1982, 255 (271 Fn. 71). Dietz, NJW 2006, 1385 (1386); ähnlich Trück, NStZ 2004, 497. MüKo-Schneider, § 211 Rn. 94; Altvater, NStZ 1998, 342 (344). Vgl. Saliger, StV 2003, 21 (23). Trück, NStZ 2004, 497. Kudlich / Tepe, GA 2008, 92 (95). Trück, NStZ 2004, 497. So Momsen, NStZ 2003, 237 (238).
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Gleichwohl schlägt sich abweichendes Rechtsempfinden allenfalls auf der Schuldebene nieder.146 In Deutschland unterliegt schon aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes grundsätzlich jedermann dem deutschen Strafrecht, auch Nichtdeutsche. Wer hiergegen den Einwand der Intoleranz gegenüber dem Fremden erhebt, verwechselt politische Korrektheit mit den in Deutschland rechtserheblichen Grundsätzen elementarer Sittlichkeit.147 Das deutsche Strafrecht ist nach den Vorstellungen der deutschen Rechtsgemeinschaft auszulegen, da andernfalls im Wege der Auslegung § 3 StGB unterlaufen würde.148 Dieser Auffassung wird aber entgegengehalten, das in § 3 StGB verankerte Territorialitätsprinzip beschränke sich auf die Aussage, dass die deutsche Strafhoheit auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt ist. Wer etwa nach § 46 StGB die herkunftsbedingte Motivation des Täters berücksichtigen will, unterlaufe damit noch nicht die Geltung des deutschen Strafrechts für im Inland begangene Taten.149 Über das klassische Verständnis von § 3 StGB hinaus könnte in der Vorschrift aber auch eine Auslegungshilfe für die Inhaltsbestimmung wertungsoffener strafrechtlicher Termini wie der „niedrigen Beweggründe“ erblickt werden. Möglicherweise gehören zum deutschen Strafrecht nämlich auch die hier unmittelbar oder mittelbar zur Geltung kommenden Wertanschauungen. Das im deutschen Strafrecht zum Ausdruck kommende staatliche Gewaltmonopol kann nur dann seinen Zweck erreichen, wenn der Bürger einer Strafbefugnis beraubt ist. Aus diesem Grund erscheint die Blutrache als Tötungsmotiv regelmäßig als besonders verwerflich. Das deutsche Strafrecht kennt zudem die Strafbarkeit des Ehebruchs nicht mehr, sondern verhält sich dem freiwilligen außerehelichen Geschlechtsverkehr gegenüber grundsätzlich tolerant. Diese Toleranz könnte aber Teil des deutschen Strafrechts und untrennbar mit ihm verbunden sein. Gestärkt wird diese Sichtweise durch Art. 103 Abs. 2 GG, der das Verhältnis des Einzelnen zu der strafenden Gesellschaft bestimmt. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt vom deutschen Gesetzgeber die gesetzliche Festlegung der Voraussetzungen und Folgen einer Straftat. Greift nun aber der Rechtsanwender bei der Auslegung eines deutschen Tatbestandes auf fremdkulturelle Wertvorstellungen zurück und macht letztlich die Frage der Voraussetzungen einer Straftat hiervon abhängig, so wird das Verhältnis zwischen dem Täter und der strafenden deutschen Gesellschaft gestört.150 Ferner vermögen die Vertreter der Gesamtwürdigungslösung nicht zu begründen, weswegen die hiesigen Wertanschauungen gleichsam die Obergrenze der Motivbewertung bilden sollen, wenn das Tötungsmotiv in der heimatlichen Werteordnung des Täters strenger als hierzulande beurteilt wird.151 146 147 148 149 150
Nehm, FS-Eser, 419 (426). Schulz, NJW 2005, 551 (554). BGH NStZ 1996, 80. Nehm, FS-Eser, 419 (422). Vgl. Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408.
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Zudem liegt bei den ausdrücklich benannten Mordmerkmalen der ersten Gruppe eine Bewertung aus Sicht des jeweiligen Täterkreises fern, was für eine ebenso objektive Bewertung beim Auffangmerkmal der niedrigen Beweggründe spricht.152 Auch sonst findet eine Haltung, mit der andere Normen als die dem Strafgesetzbuch zugrunde liegenden im deutschen Strafrecht befolgt werden, keine Privilegierung.153 Beim Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe ist dies insbesondere deshalb berechtigt, weil es hier um die Verteidigung einer Werteordnung geht. Diese mag nur dann gelingen, wenn sich der Rechtsanwender – gleich aus welchem Grund – von einer hiervon abweichenden Werteordnung distanziert. Zwar mag die Trennung in einen objektiven und einen individuellen Kulturkonflikt in der Theorie das Dilemma einer Abkehr von der zu verteidigenden Werteordnung mildern, in der Praxis stellt sich die Gesamtwürdigungslösung aufgrund dieser allein künstlichen Trennung gleichwohl als potenziell kontingente Individualethik dar.154 Mit dem Abstellen allein auf die hiesigen Anschauungen geht überdies keine Vorwegnahme eines für den Täter negativen Ergebnisses der Motivbewertung einher. Insbesondere kann ein Tötungsmotiv, das nach § 213 Alt. 1 StGB milde bestraft würde, nicht die Annahme niedriger Beweggründe nach sich ziehen. Ein anderes Ergebnis stünde im Widerspruch zu dem in § 213 Alt. 1 StGB zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Anliegen der milden Bestrafung bestimmter affektiver Tötungshandlungen. Eine Tötung, die die Voraussetzungen des § 213 Alt. 1 StGB erfüllt und dementsprechend milde bestraft würde, kann also schon objektiv nicht aus niedrigem Beweggrund begangen sein.155 Soweit hinter einem „Ehrenmord“ die Eifersucht des Ehemannes steht, der seine Frau bei Zärtlichkeiten mit einem anderen Mann ertappt und sie zeitnah im Affekt tötet, wird der Beweggrund schon objektiv nicht niedrig sein. Auch darüber hinaus können einige „Ehrenmorde“ schon objektiv nicht aus niedrigen Beweggründen begangen sein. Möglich wird dies durch einen diskriminierungsfreien Umgang mit auf den ersten Blick fremdartig erscheinenden Wertanschauungen im Wege kritischen Hinterfragens, ob sie sich tatsächlich diametral von den hiesigen Wertanschauungen unterscheiden. In der Tat hat der Bundesgerichtshof im Fall einer Blutrachetötung unterstrichen, dass die hinter der Blutrache stehenden Wertungen und Gefühle sich von den hiesigen nicht ausnahmslos unterscheiden und es insoweit Überschneidungen geben kann.156 Nehm, FS-Eser, 419 (427); Jähnke, MDR 1980, 705 (709). Valerius, JZ 2008, 912 (916). 153 Kudlich / Tepe, GA 2008, 92 (95). 154 Trück, NStZ 2004, 497 unter Hinweis auf MüKo-Schneider, § 211 Rn. 94. 155 Diese Herangehensweise ist nach hier vertretener Auffassung allein beim Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe zulässig, nicht bei den übrigen Mordmerkmalen. Insofern besteht ein Unterschied zu dem von einigen Vertretern der Lehre von der negativen Typenkorrektur vertretenen Ansatz, wonach die Verwirklichung eines Mordmerkmals in Fällen des § 213 StGB nicht die Strafbarkeit wegen Mordes begründe, siehe Küpper, FS-Kriele, 777 (793); Riess, NJW 1968, 628 (630). 151 152
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Das Vorgehen des Bundesgerichtshofs ist insbesondere deswegen bemerkensund begrüßenswert, als es Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und der fremden Kultur aufdeckt, wo sie vorher sicher kaum erwartet worden wären. Die vom Bundesgerichtshof vollzogene Motivbewertung bietet insoweit Angehörigen beider Kulturkreise die Gelegenheit, sich mit dem Bewertungsergebnis zu identifizieren, wohingegen die Methode der Gesamtwürdigungslösung eher zur Abgrenzung und Abschottung einlädt, betont sie doch nur das – oft nur vermeintlich – Fremdartige, ohne zu hinterfragen, ob es denn tatsächlich so fremdartig ist. b) Subjektive Anforderungen Da der Täter die Bewertung seiner Beweggründe nicht vorzunehmen braucht, ist es gleichgültig, ob er selbst sein Motiv als niedrig einstuft, solange er dazu nur fähig ist.157 Denn zum einen muss der Täter sich als Folge des Verständnisses der niedrigen Beweggründe als echtes Merkmal des subjektiven Tatbestandes sowie des Schuldprinzips der niedrigkeitsbegründenden Umstände bewusst sein.158 Unbewusste Strebungen stellen keine Motive dar, sondern von der Motivgeneralklausel nicht erfasste Triebe. Zum Zeitpunkt der Tatbegehung müssen die niedrigen Tatmotive daher bewusstseinsdominant gewesen sein.159 Motive liegen als täterinterne Sachverhalte entweder vor oder nicht und können nicht Gegenstand des Vorsatzes sein, weil dieser eine innere Beziehung des Täters zu den objektiven tatbestandlichen Umständen zum Gegenstand hat. Mit dem Erfordernis bewusstseinsmäßigen Erfassens sollen unbewusste Antriebe bei der rechtlichen Motivbewertung ausgeschlossen werden.160 Zum anderen ist danach zu fragen, ob und inwieweit der Täter imstande war, diese Bewertung nachzuvollziehen, und – soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen wie Wut, Hass oder Zorn als Handlungsantrieb in Frage kommen – inwieweit er angesichts etwaiger Bindungen an seine heimatlichen WertvorstellunVgl. BGH NStZ 2006, 286. BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 39; BGH NStZ 2004, 332 f.; 1995, 79; BGH Urt. vom 5. September 2007, 2 StR 306 / 07, insoweit unveröffentlicht; BGHSt 22, 77; NK-Neumann, § 211 Rn. 44; Rengier, BT / 2 § 4 Rn. 40; Paeffgen, GA 1982, 255 (271 Fn. 71); S / S-Eser, § 211 Rn. 38; LK-Jähnke, § 211 Rn. 33; Lackner / Kühl, § 211 Rn. 5; Valerius, JZ 2008, 912 (917); abw. Köhler, JZ 1980, 238 (241), der ein qualifiziertes Unrechtsbewusstsein in Form der Einsicht in den wertungsmäßigen Zusammenhang fordert; BGH StV 1997, 565; 1981, 399. Momsen spricht einerseits vom Mitvollziehen der hiesigen Bewertung, andererseits von der Erschwerung der Normbefolgung, was seine Einordnung erschwert, NStZ 2003, 237 (238 f.). 158 BGH NJW 2002, 382 (383); BGHSt 6, 329 (331 f.); BGH NStZ-RR 1998, 133 (134); NK-Neumann, § 211 Rn. 45; Lackner / Kühl, § 211 Rn. 5b; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 96 ff.; Maurach / Schroeder / Maiwald, BT / 1 § 2 Rn. 40 m. w. N.; krit. SK-Horn, § 211 Rn. 17. 159 OGHSt 2, 173, 344; BGHSt 2, 60; 6, 332; vgl. auch BGHSt 13, 138. 160 LK-Jähnke, § 211 Rn. 34; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 96. 156 157
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gen seinen Tatantrieb beherrschen konnte.161 Dieses aus dem Schuldprinzip162 abgeleitete Erfordernis wird in der Literatur als „Motivationsbeherrschungspotential“ bezeichnet und lässt sich dem Wortlaut des § 211 Abs. 2 StGB jedenfalls explizit nicht entnehmen. Gefolgert wird es jedoch aus der Annahme, dass nicht die objektiv als niedrig beurteilten Motive als solche sozial unwerthaft seien, sondern das mangelnde Beherrschen dieser Strebungen, soweit sie sich als konkret sozialschädlich auswirken können, weil ethischer Bewertung nur das unterworfen werden könne, was ethischen Einflüssen unterliegt.163 Erst dass sich der Täter in Kenntnis der Situation den niedrigkeitsbegründenden Wertappellen bewusst und zurechnungsfähig widersetzt, gebe Anlass, den Beweggrund des Täters als sozialethisch verachtenswert und damit niedrig zu bewerten.164 Das Niedrigkeitsurteil erscheine dort ungerechtfertigt, wo der Täter zur Ausformung seiner Motivation gelangen „musste“. Paeffgen begründet dies mit einem Beispiel: „Ähnlich wie dem Gefesselten kein Vorwurf wegen seines Untätigbleibens gemacht werden kann, so kann auch dem in seine Motivation Verstrickten das Nichtbeherrschen seiner Motive nicht zum zusätzlichen Vorwurf gemacht werden.“165 Vom Vorliegen dieses Potentials dürfe im Einzelfall ausgegangen werden, was umso mehr gelte, je schwerwiegender die Tötungstat in ihrer Begehung und den Folgen erscheine.166 Gleichwohl müsse diese Vermutung aufgrund des Schuldprinzips einer Widerlegung offen stehen.167 Umgekehrt reicht es dem Bundesgerichtshof zufolge nicht, wenn der Tatrichter das Motivationsbeherrschungspotential schlicht feststellt. Dieser müsse nach Anhaltspunkten suchen, die das Fehlen belegen, und diese ausdrücklich benennen. Bei der Feststellung des Fehlens des Motivationsbeherrschungspotentials kann ein Blick auf den Tathergang hilfreich sein. Eine mehraktige Tatbegehung spricht gegen die Annahme einer Spontantat, sondern eher für ein bewusstes Nachgeben gegenüber den wutbedingten Handlungsantrieben durch den Täter.168
161 BGH NStZ-RR 2004, 44; BGH NStZ 1996, 384 (385); 1995, 79; 1989, 363 f.; 1981, 100 (101); BGH, BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedr. Beweggr. 2, 6; zust. S / S-Eser, Rn. 39; Fischer, § 211 Rn. 29; Wessels / Hettinger, Rn. 100; Küper, JZ 2006, 608 (611); a.A. Dietz, NJW 2006, 1385 (1387), der genügen lässt, dass der Täter sich des Verstoßes seiner Tat gegen die deutsche Werteordnung bewusst war, selbst wenn er sich nicht von seinen starken Bindungen an die heimatliche Werteordnung zu lösen vermochte. 162 BGH NStZ 1992, 182 (183); 1989, 363 f.; darauf, dass es sich bei den Kriterien zur Beurteilung des Motivationsbeherrschungspotentials um schuldspezifische Aspekte handelt, weisen LK-Jähnke, § 211 Rn. 34; NK-Neumann, § 211 Rn. 45; S / S-Eser, § 211 Rn. 39; SKHorn, § 211 Rn. 17; Maurach / Schroeder / Maiwald, BT I § 2 Rn. 44 hin. 163 Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 227. 164 Paeffgen, GA 1982, 255 (267); Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S. 231 f. 165 Paeffgen, GA 1982, 255 (271). 166 MüKo-Schneider, § 211 Rn. 99 m. w. N. 167 Paeffgen, GA 1982, 255 (270); MüKo-Schneider, § 211 Rn. 98. 168 BGH NStZ 2006, 284 (285) unter Hinweis auf BGH NStZ 2004, 332.
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Der Bundesgerichtshof sowie ein Teil der Literatur169 gehen davon aus, dass sich die hierzu erforderliche Prüfung nicht mit der Frage der Schuldfähigkeit deckt. Für sie ist das Motivationsbeherrschungspotential damit strikt losgelöst von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters für seine Tat zu beurteilen und auch dann einer Verneinung zugänglich, wenn er voll schuldfähig gehandelt hat.170 Begründet wird dies mit der Tötungshemmschwelle,171 die auch dann noch bestehe, wenn der Täter sich im Übrigen nicht von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Antrieben frei machen könne.172 Im Ergebnis bejaht der Bundesgerichtshof die Fähigkeit des Täters, seine Tatantriebe gedanklich zu beherrschen und gefühlsmäßig zu steuern, wenn er die Tat planmäßig vorbereitet und verwirklicht.173 Hier wird deutlich, dass mit dem aufgestellten Erfordernis des Motivationsbeherrschungspotenzials das früher zur Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag maßgebliche Überlegungskriterium in einem anderen Gewand wieder auflebt.174 Doch auch bei Spontantaten sei das Kriterium nicht ausgeschlossen, wenn der Täter dem Opfer gegenüber schon seit langem feindlich gesinnt war oder dieses zuvor über einen längeren Zeitraum misshandelt hatte.175 Andererseits liege das Potenzial bei einfach strukturierten Tatantrieben und bei Missachtung simpelster Regeln des auf Achtung der persönlichen Selbstbestimmung gegründeten menschlichen Zusammenlebens fern.176 Die Vorsatzlösung berücksichtigt ähnlich wie bei § 17 StGB die Möglichkeit des Täters, sich mit den deutschen Wertvorstellungen vertraut zu machen. Damit wird eine umfangreiche Würdigung des individuellen Integrationsprozesses erforderlich. Ob der Täter noch fest in seinen heimatlichen Anschauungen verhaftet ist, könne durch „aussagekräftige Anhaltspunkte“ verifiziert werden, wozu ein langer Aufenthalt, Teilnahme am Arbeitsleben, Freundes- und Bekanntenkreis, Mitwirkung in Vereinen und politischen Organisationen, Verständigungsprobleme sowie Ess- und Trinkgewohnheiten zählen sollen.177 Zugleich dürften die Anforderungen 169 BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedr. Beweggr. 2; BGH StV 1994, 372 f.; BGH NStZ-RR 1998, 133 (134); Paeffgen, GA 1982, 255 (271). Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 249 f. 170 BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedr. Beweggr. 2; BGH StV 1994, 372 f.; BGH NStZ-RR 1998, 133 (134). S. auch BGH NStZ, 1988, 360 (361); krit. Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 251 f., 261 ff. mit Fn. 57; NK-Neumann, Rn. 45; SK-Horn, § 211 Rn. 17; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 99. 171 Zu der Herleitung der Theorie von der Tötungshemmschwelle siehe die Nachweise bei Arzt / Weber, Strafrecht BT, § 2 Rn. 2. 172 BGH StV 1994, 372; a.A. LK-Jähnke, § 211 Rn. 37, 47; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 250; ders., JR 1990, 299 f.; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 98. 173 BGH NStZ 2006, 97 (98); vgl. auch BGH Urt. vom 5. 9. 2007 – 2 StR 306 / 07, insoweit unveröffentlicht. 174 Rengier, BT / 2, § 4 Rn. 42. 175 BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedr. Beweggr. 6, 13. 176 BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedr. Beweggr. 13, 22. 177 MüKo-Schneider, § 211 Rn. 95; vgl. auch Fischer, § 211 Rn. 29.
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an die Quasi-Unvermeidbarkeit der Verwurzelung in der heimatlichen Vorstellungswelt wegen der Schicksalhaftigkeit dieser Bindung und dem Fehlen einer Strafmilderungsmöglichkeit bei Annahme von Vermeidbarkeit aber nicht überspannt werden. Selbst ein vieljähriges Leben eines Zuwanderers in der Bundesrepublik und dessen wirtschaftliche Unabhängigkeit als erfolgreicher Unternehmer würde keine abschließende Beurteilung von dessen kultureller Integration in die deutsche Gesellschaft gestatten.178 Durch diese Individualisierung der Prüfung niedriger Beweggründe schafft die Rechtsprechung mittelbar Raum für die Berücksichtigung von Erwägungen, die – wäre hier nicht zwingend die lebenslange Freiheitsstrafe angedroht – an sich auch beim Mord berücksichtigt werden müssten. Ob die Rechtsprechung sich dabei tatsächlich an dem jetzigen Stand der Diskussion einer Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen auf Strafzumessungsebene orientiert, wird sich in einer Auswertung ausgewählter Entscheidungen des Bundesgerichtshofs zu der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe bei Ausländern herausstellen. aa) Möglichkeit mittelbarer Strafzumessung durch individualisierenden Maßstab Beurteilt sich die Niedrigkeit eines Beweggrundes auch am Unwert der Nichtunterdrückung eines Tatmotivs, so sei dieser in all den Fällen abgeschwächt, in denen bestimmte Faktoren in die Vorstellung des Täters eingetreten sind, die sonst im Rahmen einer Strafzumessung eine milde Strafe begründen würden. Dagegen verhindere die Nichtunterdrückung eines Tatmotivs dann nicht die Annahme eines niedrigen Beweggrundes, wenn das Tatmotiv aus Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit des Täters gegenüber den sozialen Erwartungen nicht unterdrückt wurde und sich damit in der Nichtunterdrückung selbst ein besonders hoher Unwert manifestiere.179 Wird der Unwert der Nichtunterdrückung abgeschwächt, wenn ansonsten eine milde Strafzumessung möglich wäre, so ist auf § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB hinzuweisen, demgemäß im Rahmen der Strafzumessung das Vorleben des Täters sowie seine persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen sind. In der Tat können sich aus der Ausländereigenschaft resultierende Besonderheiten des Täters gegenüber anderen Tätern bei der Strafzumessung zu dessen Gunsten auswirken, auch wenn wegen des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz in Art. 3 Abs. 1 GG nicht die Ausländereigenschaft an sich strafmildernd wirken darf.180 Fest steht, dass Strafschärfungen unter dem Gesichtspunkt, der Täter habe mit seiner Tat die deutsche Gastfreundschaft missbraucht, unzulässig sind und daher berechtigterweise durchweg zur Urteilsaufhebung führen.181 Ebenso unzulässig ist 178 179 180
Küper, JZ 2006, 608 (611). Paeffgen, GA 1982, 255 (267 f.). Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408 m. w. N.
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es, mit einer Strafschärfung ein Zeichen an alle Ausländer setzen zu wollen, dass hinsichtlich der Achtung der sexuellen Ehre von Frauen auch für Ausländer die deutschen Anschauungen gelten.182 Auch wenn die bloße Abstammung des Täters aus einem fremden Kulturkreis für sich genommen noch keine vergleichsweise milde Strafe rechtfertigt, können sich die aus der Ausländereigenschaft folgenden Besonderheiten der Tat oder der Täterpersönlichkeit anerkanntermaßen strafmildernd auswirken; dies gilt zum Beispiel auch für die Bindung an eingewurzelte fremdkulturelle Wertvorstellungen, die dem Täter die Befolgung hiesiger Normen vergleichsweise erschwert. Hierbei gehe es der Rechtsprechung und der Literatur zufolge um die Anwendung allgemeiner deutscher Strafzumessungsregeln, keineswegs um eine Sonderbehandlung im Sinne einer Orientierung an fremdem Recht.183 Eine isolierte Meinung im Schrifttum schlägt demgegenüber in Anlehnung an die sogenannte „Datumstheorie“ des internationalen Privatrechts vor, Lücken des deutschen Rechts durch eine Orientierung an fremdem Recht im Sinne einer Berücksichtigung des Heimatrechts des Täters zu schließen, wenn dies der Zweck der fraglichen deutschen Norm nahe legt. Eine solche Lücke finde sich dort, wo das deutsche Gesetz eine Wertung fordert, die Kriterien für diese Bewertung aber nicht beziehungsweise nicht abschließend nennt. Unter „Berücksichtigung“ sei dabei nicht eine unmittelbare Anwendung ausländischen Rechts zu verstehen, das heißt eine Entscheidung des Falls durch Heranziehung ausländischen Rechts als verbindliches Normgefüge. Vielmehr meine „Berücksichtigung“ ein Zurückgreifen auf die Wertungen ausländischen Rechts zur Ausfüllung der deutschen Rechtslücke. Schließlich sei, „wenn schon Türken andere Sitten, andere Mentalität und Auffassungen haben als Deutsche [ . . . ] das auf sie zugeschnittene Recht im Zweifel das für sie angemessenste.“184 Übertragen auf „Ehrenmorde“ bedeutet dies, dass der Gesetzgeber mit dem Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ zwar von der Rechtsprechung eine Wertung fordert, aber die hierfür maßgeblichen Bezugspunkte offenlässt. Damit steht der Weg für eine Berücksichtigung fremden Rechts im Rahmen der Prüfung der Motivgeneralklausel offen. Würde die entsprechende Tat nach dem Recht der Gesellschaft, welcher der Täter entstammt, milde beziehungsweise gar nicht bestraft, schlüge diese Bewertung unter Zugrundelegung der von der Mindermeinung vorgeschlagenen Theorie auf die Prüfung der Motivgeneralklausel durch. Eine solche Tat wäre nicht aus niedrigem Beweggrund begangen. Wie bereits festgestellt, 181 BGH bei Dallinger MDR 1973, 369; StV 1993, 358; 1991, 105; NStZ 1993, 337. Vgl. demgegenüber BGH NJW 1983, 55 (56). 182 Detter, FS 50 Jahre BGH, 679 (703 f.) 183 Vgl. BGHSt 22, 77 (80); BGH NStZ 1996, 80; Streng, Kultureller Pluralismus und Strafgleichheit, in: Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, 279 (291 f.); NK-Streng, § 46 Rn. 150; Nestler-Tremel, 1986, 1408; SK-Horn, § 46 Rn. 119. 184 Grundmann, NJW 1985, 1251; ders., NJW 1987, 2129.
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geht es aber hier nicht um eine Anwendung ausländischen Rechts, so dass der Täter im dargestellten Beispiel trotz milder oder fehlender Strafandrohung im Heimatstrafrecht gleichwohl nach deutschem Strafrecht bestraft wird. Ob dem Täter Strafmilde zuteil wird, hängt grundsätzlich vom deutschen Recht ab. Dagegen würde sich eine in der Heimat drohende Strafschärfung wie etwa die Qualifikation in Art. 82 lit. k) TCK zuungunsten des Täters auswirken, so dass in diesem Fall ein niedriger Beweggrund selbst dann anzunehmen wäre, wenn das Tötungsmotiv nach hiesigen Anschauungen nicht auf sittlich tiefster Stufe stünde. Dies müsste aber auch für solche strafrechtlichen Normen gelten, die dem Rechtsstaatsprinzip nach deutschem Verständnis nicht genügen, so dass die Niedrigkeit eines Beweggrundes auch aus einer solchen Norm folgen könnte. Diese Mindermeinung stieß aber nicht wegen dieser Gefahr durchweg auf Ablehnung. Die gegebenenfalls auch schuldsteigernde Berücksichtigung des Heimatrechts des Täters durchbricht die Bindung des deutschen Strafrechts an die Werteordnung des Grundgesetzes sowie an die hinter ihm stehende Gesellschaft.185 Zudem würde die auch schuldsteigernde Berücksichtigung fremder Rechtsvorstellungen die Straflosigkeit sogenannter „Wahndelikte“ bei der Schuldbewertung sowie der Strafzumessung unterlaufen. Im Übrigen würde eine den deutschen Mitbürgern ungewöhnlich hart erscheinende Strafe als Ausländerdiskriminierung verstanden, was der in dem Strafmaß auszudrückenden Normbestätigung abträglich wäre.186 Aufgrund dieser tiefgreifenden Einwände verbietet sich eine schuld- und damit strafsteigernde Berücksichtigung ausländischer Rechtsvorstellungen. Überwiegend wird daher eine Berücksichtigung des heimatlichen Strafrechts ausschließlich zu Strafmilderungszwecken anerkannt.187 Strafmildernd berücksichtigt wird dabei nicht die fremde Wertvorstellung als solche, sondern die Bindung an ebendiese, welche dem Täter die Befolgung hier geltender Rechtsgebote erschwert.188 Die Bindung des Täters an fremdkulturelle Wertvorstellungen soll daher nur dann strafmildernd berücksichtigt werden können, soweit dem Täter die hiesige Wertordnung noch nicht genügend vertraut war oder vertraut hätte sein können. Einem Täter, der über längere Zeit in Deutschland oder einem soziokulturell ähnlich verfassten Land gelebt hat, wird zum Vorwurf gereicht, die deutschen Rechtsvorstellungen nicht berücksichtigt zu haben.189 Was „traditionelle Wertvor185 BGH NStZ-RR 1996, 71; Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408; Lackner / Kühl, § 46 Rn. 36b; S / S-Stree, § 46 Rn. 36; Detter, FS 50 Jahre BGH, 679 (703); Schnorr von Carolsfeld, FS-Bruns, 271 (287); vgl. LK-Theune, § 46 Rn. 189 ff. 186 Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 569. 187 BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 359; 1998, 298; 1997, 1; NStZ 1996, 80; Lackner / Kühl, § 46 Rn. 36b; vgl. SK-Horn, § 46 Rn. 119; Detter, FS 50 Jahre BGH, 679 (702 f.) m. w. N.; S / S-Stree, § 46 Rn. 36. 188 Fischer, § 46 Rn. 43 a unter Hinweis auf BGH NStZ-RR 2006, 140 f. 189 BGH NJW 1995, 602 f.; StV 1997, 183 f.; Bay NJW 1964, 364; MüKo-Franke, § 46 Rn. 46; S / S-Stree, § 46 Rn. 36; NK-Streng, § 46 Rn. 50; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 569; Fischer, § 46 Rn. 43a; vgl. Schnorr von Carolsfeld, FS-Bruns, 271 (287); Theune,
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stellungen in der Familie“ anbelangt, wird teilweise eine Ausnahme dahingehend gemacht, dass Bindungen an diese auch bei längerer Aufenthaltsdauer strafmildernd zu berücksichtigen seien.190 Demgegenüber stellte der Bundesgerichtshof in einer jüngeren Entscheidung fest, dass der religiös-kulturelle Hintergrund auch bei Vergewaltigung der Ehefrau keinen Strafmilderungsgrund im Sinne von § 46 StGB darstelle.191 Bei der tätergünstigen Berücksichtigung heimatlicher Anschauungen auf Strafzumessungsebene ist der Bundesgerichtshof in einigen Entscheidungen jedoch vergleichsweise großzügig und verlangt keinen Widerhall der Wertvorstellung im fremden Recht. Demnach können fremde Verhaltensmuster und Vorstellungen regelmäßig nur dann strafmildernd berücksichtigt werden, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen. Der heimatlichen Strafrechtsordnung kommt dabei allerdings nur indizielle Bedeutung bei, weil die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit durch kulturelle Standards geprägt werden, nicht durch formelle Rechtsvorschriften. Daher soll es für eine Strafmilderung ausreichen, wenn die Schuld des Täters rein sozialisationsbedingt verringert ist, auch wenn die Tat in der Heimat des Täters strafrechtlich verfolgt wird.192 bb) Die subjektiven Anforderungen bei Ausländern im Spiegel der Rechtsprechung Die höchstrichterliche Rechtsprechung betrachtet die Ablehnung niedriger Beweggründe auf subjektiver Ebene bei fremdkulturell motivierten Tätern als Ausnahme, tut sich aber schwer damit, hier allgemeingültige Kriterien zur Feststellung StV 1985, 206; Grundmann, NJW 1985, 1253; ders., NJW 1987, 2129; Nestler-Tremel, NJW 1986, 1408. 190 S / S-Stree, § 46 Rn. 36 unter Hinweis auf BGH StV 2002, 20. 191 BGH NStZ-RR 2007, 86 f. 192 BGH NStZ-RR 2007, 86 (87); ebenso NK-Streng, § 46 Rn. 150; Fischer, § 46 Rn. 43a; Hörnle, Tatproportionale Strafzumessung, S. 311. Vgl. auch das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 1. 2. 2007, 4 StR 514 / 06. Der Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen: Eine jesidische Kurdin sollte von ihrer Familie zwangsverheiratet werden und wurde zu diesem Zweck von dem mit ihr verlobten jesidischen Cousin entführt, um sie notfalls mit dem Tode zu bedrohen, falls sie ihn nicht heirate. Während der Entführung wurde sie zum Geschlechtsverkehr mit dem Cousin genötigt. In seiner Entscheidung bestätigt der Bundesgerichtshof die Verurteilung des Cousins wegen Geiselnahme in einem minder schweren Fall sowie wegen einfacher Vergewaltigung, obgleich ein Regelbeispiel verwirklicht war, weil „der – wie auch die Nebenklägerin [das Opfer] – aus einem anderen Kulturkreis stammende Angeklagte unter dem ,Erwartungsdruck‘ seiner Familie stand und daher zur Begehung der Tat insgesamt eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte.“ Es ist bemerkenswert, dass der Bundesgerichtshof hier nicht hinterfragt, ob das heimatliche Recht des Täters sein Verhalten milde bewertet. Zudem ist fraglich, inwieweit es bei der Strafzumessung eine Rolle spielen darf, dass das Opfer wie der Täter aus dem jesidischen Kulturkreis stammte. Der ausdrückliche Hinweis hierauf birgt in sich den unangenehmen Beigeschmack, jesidische Frauen müssten sich ein derartiges Verhalten eher gefallen lassen als andere.
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der subjektiven Elemente der Motivgeneralklausel zu entwickeln. Dabei wäre insbesondere aufgrund der in § 211 StGB zwingend angedrohten Höchststrafe und dem hieraus resultierenden Gebot der Rechtsklarheit die Formulierung von praxistauglichen und abgrenzungsscharfen Kriterien unbedingt angezeigt. In der Literatur wird die höchstrichterliche Judikatur dahingehend verstanden, dass vom Täter umso eher die Kenntnis deutscher Wertanschauungen und eine Ausrichtung des eigenen Verhaltens hieran verlangt werden kann, je einsichtsfähiger er ist und je länger er in Deutschland gelebt und sich der hiesigen Lebensweise angepasst hat. Umgekehrt sei die Motivgeneralklausel auf subjektiver Ebene umso eher zu verneinen, je einfacher strukturiert und stärker in heimatlichen Wertanschauungen verhaftet der Täter ist.193 In der ersten Zeit, in welcher der Bundesgerichtshof sich mit der Frage der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen befasste, erschienen die Ausführungen recht vage und undifferenziert. Auch wenn er damals schon als Ort für die Berücksichtigung die subjektive Seite der Motivgeneralklausel erkannte, unterscheiden sich die damaligen Entscheidungen in ihrer Großzügigkeit gegenüber den Tätern sehr von den heutigen. Vermutlich waren Richter damals mit unerwarteten strafrechtlichen Fragen konfrontiert, die sich aus den Besonderheiten aufgrund der Ausländereigenschaft der Angeklagten ergaben. Dementsprechend sind die hier interessierenden Ausführungen des Bundesgerichtshofs aus dieser Zeit recht diffus und nehmen Bezug auf bereits gelöste Fälle, die den Richtern offenbar vergleichbar erschienen. In einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1966 wies dieser auf die Relevanz von Persönlichkeitsmängeln bei der Motivbewertung hin; gelte „das in gewissem Umfange schon für ,psychopathische Persönlichkeiten‘“, so sei „dieser Grundsatz erst recht dann anzuwenden, wenn Ausländer in – von den unseren abweichenden – Anschauungen und Vorstellungen ihrer Heimat befangen sind, von denen sie sich zur Tatzeit noch nicht lösen konnten.“194 Der im Ergebnis anmaßende und beleidigende Charakter des vom Bundesgerichtshof angestellten Vergleichs von Ausländern mit Psychopathen bedarf keiner besonderen Betonung, er resultierte aber seinerzeit möglicherweise aus der fehlenden Vorbereitung der Richter auf die Folgen der Anwerbepolitik der Bundesregierung und der damals sträflich vernachlässigten Integrationsdebatte auf das Strafrecht. Demgegenüber verdeutlicht der Blick auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2005,195 dass der richterliche Umgang mit Fremdkulturen im Bereich der niedrigen Beweggründe strenger und ausdifferenzierter geworden ist. Dem Urteil lag eine Schlägerei mit der Tötung eines Beteiligten zugrunde, wobei die Gruppe des später Getöteten die andere Gruppe zuvor mit dem griechischen Schimpfwort „Malaka“ beschimpft hatte und sich die Täter hierdurch offenbar sehr gekränkt fühlten. Das Landgericht verneinte hier die Motivgeneralklausel mit Blick auf die 193 194 195
Dietz, NJW 2006, 1385 (1387). BGH GA 1967, 244. BGH NStZ 2006, 284.
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kulturelle Herkunft des Tötenden, „in der der Begriff der Ehre besonders ausgeprägt ist.“ Es fehle daher wohl schon an der objektiven Niedrigkeit seines Beweggrundes. Der Bundesgerichtshof trat dem entgegen und wies darauf hin, dass fremdkulturelle Hintergründe allenfalls auf subjektiver Ebene in Ansatz zu bringen seien. Das Fehlen der Wertungsfähigkeit des Täters hielt er hier für fern liegend. Die Annahme, einfache Beleidigungen würden die Tötung von Menschen zu einer Ehrensache machen, sei auch in fremden Kulturkreisen durchaus abwegig, zumal wenn zwischen dem Anlass und der Tat ein eklatantes Missverhältnis bestehe. Auch eine etwaige Provokation des Täters vermöge nichts an diesem Missverhältnis zu ändern; die hierdurch ausgelöste Erregung beim Täter ändere auch nichts an dessen Motivationsbeherrschungspotential, wenn dieser sich bewusst von beherrschbaren Gefühlen zu den Taten hatte treiben lassen. Der Bundesgerichtshof geht hier kritisch mit Fremdkulturen. Die stereotype Sichtweise des Landgerichts, dass Ehrendinge in der Herkunftskultur der Täter einen hohen Rang einnähmen, würdigte er anhand differenzierter Bewertungskriterien für die Berücksichtigungsfähigkeit fremdkultureller Anschauungen im Rahmen der Motivgeneralklausel. In jüngeren Entscheidungen untersucht der Bundesgerichtshof das Motivationsbeherrschungspotential auch bei ausländischen Tätern nur sehr knapp, ohne die Möglichkeit eines kulturbedingt fehlenden Steuerungsund Beherrschungsvermögens auch nur anzusprechen, wenn die Tötung planmäßig vorbereitet und verwirklicht wurde.196 Obwohl der Bundesgerichtshof seit seiner – soweit ersichtlich – ersten veröffentlichten Entscheidung zur Berücksichtigung fremdkultureller Anschauungen aus dem Jahr 1966 ausdifferenzierte Bewertungskriterien erarbeitet und sich mehrmals zu Einzelfragen geäußert hat, ist nach wie vor unklar, wie die subjektiven Anforderungen bei fremdkulturell geprägten Tätern im Einzelfall zu beurteilen sind. Eine Sichtung der veröffentlichten Rechtsprechung zu dieser Frage ergab, dass sich die subjektiven Anforderungen bei fremdkulturell motivierten Tötungen an dem Druck aus dem kulturellen Umfeld des Täters, an dem Grad seiner Integriertheit in der hiesigen Gesellschaft und neuerdings auch an seinem Heimatstrafrecht orientieren. Gleichwohl bestehen teilweise erhebliche Ungereimtheiten in der höchstrichterlichen Judikatur, was die tatrichterliche Verunsicherung nur allzu verständlich macht. (1) Auswirkung von Druckmomenten aus dem kulturellen Umfeld Die wohl erste Entscheidung, in welcher der Bundesgerichtshof die Maßgeblichkeit hiesiger Anschauungen für die Motivbeurteilung ausdrücklich hervorhebt,197 lässt einige Fragen hinsichtlich des Sachverhaltes offen. Der aus Ostanatolien 196 197
Vgl. BGH NStZ 2006, 97. BGH NStZ 1995, 79.
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stammende Täter Esref Y. tötete sein Opfer aus Blutrache für die vorangegangene Tötung eines Mitglieds seiner Sippe, weil die Familie des ersten Opfers zu der Überzeugung gelangt war, die Familienehre gebiete diese Tat zu ihrer Wahrung notfalls auch unter Beteiligung der Familie des Täters Esref Y.,198 und entsprechenden Druck auf den Täter ausübte. Der Bundesgerichtshof lehnte das Vorliegen niedriger Beweggründe ab, setzte sich aber im Rahmen seiner Prüfung der Motivgeneralklausel mit wichtigen Fragen nicht auseinander. So spielt es in der Urteilsbegründung offensichtlich keine Rolle, wie lange der Täter schon in Deutschland gelebt hatte. Auch wird nicht erwähnt, auf welche Weise vor der Tat Druck auf den Täter ausgeübt wurde und was ihm im Einzelnen drohte. Der Bundesgerichtshof ließ es für eine Ablehnung der Wertungsfähigkeit genügen, dass er „eine einfach strukturierte Persönlichkeit und nach wie vor den in Ostanatolien herrschenden traditionellen Moral- und Wertvorstellungen verhaftet [gewesen sei], woran sich auch durch seinen Aufenthalt in Deutschland nichts geändert“ habe. Er sei zudem „vom ,Blutrachegedanken‘ durchdrungen [gewesen] und von seiner Familie für die Durchführung der Tat ,ausgewählt‘ worden; er fühlte sich verpflichtet, das Opfer zu töten, um die Familienehre wieder herzustellen, wodurch seine persönliche Entscheidungsfreiheit im Zeitpunkt der Tat reduziert war.“ Demgegenüber ließ der Bundesgerichtshof in einem Urteil aus dem Jahr 2002199 Druck aus dem kulturellen Umfeld des Täters für eine Verneinung der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe nicht genügen. Hier ging es um die Tötung eines kurdischen Liebespaares im Jahr 1999, bei dem der Mann der kurdischen Arbeiterpartei PKK angehörte. Der Gebietsverantwortliche dieser Organisation beurteilte die Beziehung als unehrenhaft und befahl drei PKK-Mitgliedern die Tötung des Paares. Von diesen Mitgliedern lebten zwei seit 1985 in Deutschland, das dritte Mitglied erst seit 1997. In der Entscheidung ging es allein um die strafrechtliche Verantwortung der unmittelbar tatbeteiligten drei Mitglieder, nicht aber um die des Gebietsverantwortlichen. Der Bundesgerichtshof begründete die Niedrigkeit des Tötungsmotivs damit, dass den Tätern im Falle einer Befehlsverweigerung keinesfalls eine Bestrafung in Form von körperlichen Übergriffen oder gar einer Tötung drohte. Der drohende Ansehens- und Ehrverlust innerhalb der kurdischen Gemeinde beziehungsweise die drohende Ausgrenzung aus der kurdischen Gemeinschaft reichte dem Bundesgerichtshof nicht zur Widerlegung der Niedrigkeit des Tötungsmotivs. Dabei kam ein vom Landgericht angeordnetes sozialwissenschaftlich-ethnologisches Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Täter abgesehen von Mitgliedern der kurdischen Gemeinde keine Kontakte oder soziale Beziehungen in Deutschland besaßen und dass sie sich nur soweit an die deutschen Verhältnisse angepasst hatten, wie es erforderlich war, um ein formal unauffälliges Leben zu führen. Sie hatten also erhebliche Angst vor sozialer Ausgrenzung. Der Druck 198 Mit der Tat sollte die vorangegangene Tötung eines mit Esref Y. nicht blutsverwandten Menschen gesühnt werden, der aber nur versehentlich anstelle eines mit ihm Verwandten getötet worden war. Darum war die Familie von Esref Y. in die Blutrache involviert. 199 BGH StV 2003, 21.
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wird umso stärker gewesen sein, als zwei der Täter bereits in der Türkei wegen Nichtbefolgung von PKK-Befehlen verprügelt worden waren, wobei das Landgericht Folterungen nicht ausschließen konnte. Der dritte Angeklagte hatte als Folge einer Inhaftierung in der Türkei Angstvorstellungen vor dem Erleiden körperlicher Gewalt.200 Dass der Bundesgerichtshof für die Relevanz des familiären Drucks bei der Prüfung der Motivgeneralklausel anders als bei dem PKK-Fall keine Todesgefahr für den Täter verlangt, erscheint auf den ersten Blick systemwidrig. Die Zugehörigkeit zur eigenen Familie mag anders als die Zugehörigkeit zu einer Gruppierung wie einer Partei regelmäßig eine besondere Bindung begründen, die aufzugeben dem Einzelnen regelmäßig ungleich schwerer fallen mag als etwa die Ausgrenzung aus einer anderen Gruppierung. Ergänzt man die Argumentation des Bundesgerichtshofs um diese Erwägung, wird jedoch verständlich, warum er jeden familiären Druck genügen lässt, ohne nach einem qualifizierten Druckmittel zu fragen. Momsen wirft in seiner Auseinandersetzung mit dem PKK-Fall ein, dass der Bundesgerichtshof die Einbindung der Täter in einem Machtapparat mit Befehlsstrukturen bereits auf objektiver Bewertungsebene zu ihren Gunsten hätte berücksichtigen müssen, zumal das Handeln auf Befehl im Allgemeinen den Täter entlaste.201 Anders als im PKK-Fall geht es in den von Momsen herangezogenen Vergleichsfällen aber um auf staatlichen Befehl handelnde Täter. Dass aber der Einzelne in seinem Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit staatlicher Anordnungen besonderen Schutz genießt, weil etwa eine effektive Verteidigungspolitik davon abhängt, dass der einfache Soldat die Rechtmäßigkeit der an ihn gerichteten Anordnungen nicht hinterfragt, versteht sich fast von selbst. Demgegenüber kann es ein solches schützenswertes Vertrauen in eine „Rechtmäßigkeit“ bei Anordnungen einer terroristischen Vereinigung nicht geben, verfolgt eine solche Vereinigung ja gerade sozialschädliche Ziele. Insofern sind die Fälle nicht miteinander vergleichbar, so dass die Einbindung des Täters in Befehlsstrukturen diesen nicht per se vom Niedrigkeitsurteil entlastet. Andererseits unterhielten die Täter im PKK-Fall außer mit ihren kurdischen Landsleuten keine sozialen Kontakte mit der Folge, dass der Verlust dieser Bindungen die vollständige soziale Isolation nach sich gezogen hätte. Dass die Täter zudem mit massiver körperlicher Gewalt im Fall einer Befehlsverweigerung gerechnet hatten, erscheint aufgrund ihrer früheren massiven Gewalterfahrungen keinesfalls abwegig. Doch selbst wenn sie keine körperliche Gewalt zu befürchten hatten, erscheint die Ausgrenzung aus dem Mitgliedskreis der PKK dem „sozialen Tod“ gleichzukommen. Im Hinblick auf das Gewicht des Drucks veranschaulicht gerade dieser Fall, dass es keine Rolle spielen kann, von wem der Druck ausgeht; vielmehr sollte stets die Schwere des Drohmittels in den Blick genommen werden. 200 201
Momsen, NStZ 2003, 237 (238). Momsen, NStZ 2003, 237.
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Im Ergebnis überzeugt, dass der Bundesgerichtshof zur Entlastung des Täters die Drohung mit nicht unerheblichen körperlichen Strafen oder mit einer Tötung fordert.202 Konsequenterweise dürfte dann den Täter aber auch familiärer Druck nicht per se entlasten, sondern nur qualifizierte Druckmomente. Demnach könnte es den Täter eines „Ehrenmordes“ nicht stets entlasten, die Tat auf familiären Druck hin begangen zu haben. (2) Auswirkung der Integriertheit des Täters In dem PKK-Fall bejahte der Bundesgerichtshof die Wertungsfähigkeit der Täter hinsichtlich der zwei seit 1985 in Deutschland lebenden Täter mit Hinweis auf die Durchführung eines gegen beide gerichteten Strafverfahrens im Jahr 1991 wegen versuchten Totschlags, weil sie gemeinsam mit weiteren Mittätern auf einer Kurdenhochzeit eine Blutrachetötung verübt hatten. Bei dem dritten Täter wäre eine Verneinung der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe mit Hinweis auf seinen gerade einmal zweijährigen Inlandsaufenthalt grundsätzlich denkbar gewesen. Nichtsdestoweniger wies der Bundesgerichtshof hier auf dessen „ambivalentes Verhältnis zum kurdischen Verein und zur PKK“ hin; er habe sich der „Sache des ,Volkes‘“ durchaus verbunden gefühlt, wollte sich aber nicht stärker für den Verein beziehungsweise die PKK engagieren. Auch wenn das Ergebnis Beifall verdient, verbleiben Zweifel an der Begründung, dürfte doch bereits die mit der vorsätzlichen Tötung überwundene Tötungshemmung des dritten Täters ein über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehendes Engagement für die kurdische Sache nahe legen. Zudem bleibt unklar, warum der Bundesgerichtshof die Wertungsfähigkeit nach nur zweijährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik bejaht und in einer späteren Entscheidung auch nach über zehnjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik und der Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit die fehlende Wertungsfähigkeit nicht deutlich ausschließt.203 In wiederum einer anderen Entscheidung erachtet der Bundesgerichtshof die Berufung des Täters auf seine Heimatkultur als kontrafaktisch, weil er zur Tatzeit seit über zwanzig Jahren in Deutschland gelebt habe und überdies deutscher Staatsangehöriger sei.204 Wenn es dem Bundesgerichtshof nicht auf die Dauer des Inlandsaufenthalts ankommt, fragt sich, warum er diese Dauer in den Urteilsgründen überhaupt betont. Jedenfalls sind die Ausführungen in diesem Punkt eher verwirrend und teils sogar widersprüchlich. In dem bereits genannten Urteil aus dem Jahr 1966205 berücksichtigte der Bundesgerichtshof die Aufenthaltsdauer noch gar nicht. Hier ging es um einen hin202 Teilweise abweichend Valerius, JZ 2008, 912 (916), der die besondere Verwerflichkeit der Tötungsmotive dann in Frage stellt, wenn der Ansehens- und Ehrverlust im Täterumfeld zu dessen sozialer Ächtung führt. 203 BGH Urt. v. 5. September 2007, 2 StR 306 / 07, insoweit unveröffentlicht. 204 BGH NStZ-RR 2007, 86. 205 BGH GA 1967, 244.
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sichtlich seiner Herkunft nicht näher bezeichneten Täter, der seine Vermieterin aufgrund der Fehlvorstellung tötete, diese sei mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen seine Ehefrau und dem hierdurch ermöglichten Ehebruch einverstanden gewesen und habe im Übrigen verächtlich über ihn gesprochen. Der Bundesgerichtshof nahm zugunsten des Täters Persönlichkeitsmängel an, aufgrund derer es ihm zur Tatzeit am Bewusstsein der niedrigkeitsbegründenden Umstände gefehlt habe. Interessant ist aber, dass der Bundesgerichtshof bei der Motivbewertung zugunsten des Täters betont, dass er auf dem Polizeirevier und der Kriminalwache um Unterstützung bat und sich somit vergeblich bemühte, in rechtmäßiger Weise Genugtuung zu erlangen. Diese Ausführung ist irritierend, weil sie an sich nicht die subjektive Seite der niedrigen Beweggründe betrifft, sondern das objektive Niedrigkeitsurteil. Der Bundesgerichtshof argumentiert hier auf zwei Ebenen und damit unklar. Der Verweis auf den vergeblichen Ruf nach staatlicher Hilfe ist aber auch deshalb interessant, weil er die Wertungsfähigkeit des Täters ja gerade indiziert. Hier deutet sich an, dass der Täter zögerte, seine Vermieterin sofort zu töten, und dass er wusste, dass hierzulande privat nicht gelöste Konflikte im Allgemeinen mit staatlicher Hilfe gelöst werden. Diesen Umstand hätte der Bundesgerichtshof also vielmehr zu Lasten des Täters werten können, weil er nahe legt, dass dieser um die hohe Verwerflichkeit der Rache hierzulande im Bilde war. In einem Urteil aus dem Jahr 1977 ging es um einen 22 Jahre alten, in ländlichen Verhältnissen aufgewachsenen Sizilianer, der im Alter von 15 Jahren nach Deutschland ausgewandert war und vier Menschen wegen eines gescheiterten Liebesverhältnisses getötet hatte.206 Der Bundesgerichtshof wies darauf hin, dass Persönlichkeitsmängel die Wertungsfähigkeit aufheben können, was insbesondere bei einem Ausländer der Fall sei, der „sich noch im Stadium der kulturellen Anpassung und damit in einem Zustand interkultureller Spannungen befand, der es nicht endgültig ausschließen läßt, daß er im Augenblick der Tat [ . . . ] in sizilianische Denkweisen zurückgefallen ist und deshalb das krasse Mißverhältnis zwischen Anlaß der Tötung [ . . . ] und ihrem Erfolg nicht in ausreichendem Maße in sein Bewusstsein aufgenommen hat.“ Abgesehen davon, dass die tendenziell abwertende Formulierung „sizilianische Denkweisen“ unglücklich gewählt ist, sind die Ausführungen zur bisherigen Integrationsleistung des Täters bemerkenswert. Anscheinend ging der Bundesgerichtshof davon aus, dass ein Zuwanderer sich mit längerem Aufenthalt in Deutschland zunehmend anpasse und erst nach Überwindung „interkultureller Spannungen“ die für die niedrigen Beweggründe erforderliche Wertungsfähigkeit besitze. Dass ein Zuwanderer sich im Regelfall nie völlig anpasst – dies hieße ja die vollständige Loslösung von seiner Enkulturation – wird schlicht übergangen. Nimmt man den Bundesgerichtshof beim Wort, wäre die Wertungsfähigkeit bei Zuwanderern stets zu verneinen, was auf ein mit Blick auf den Gleichheitsgrundsatz unzulässiges Ausländerprivileg hinausliefe. 206
BGH bei Holtz, MDR 1977, 807 (809).
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Was das Verständnis des Bundesgerichtshofs von Integration angeht, ist auch ein Beschluss aus dem Jahr 2003 aufschlussreich.207 Hier ging es um ein 1996 nach Deutschland eingereistes chinesisches Ehepaar, bei dem sich die Frau gut einlebte und sich bald mit entsprechenden Heiratswünschen einem deutschen Mann zuwandte. Der Ehemann konnte demgegenüber keinen Fuß fassen und wurde wiederholt straffällig. Als es 2001 zu einer Auseinandersetzung kam, bei der sich die Frau gegen ihn auflehnte, gab er ihr die Schuld für sein erfolgloses Leben und tötete sie deswegen. Der Bundesgerichtshof verneinte unabhängig vom Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB sowie unabhängig vom immerhin fünfjährigen Aufenthalt des Täters im Inland dessen Fähigkeit zur Einsicht in die Niedrigkeit seiner Beweggründe aufgrund seiner psychischen Verfassung, weil sich der „integrationsunfähige Angeklagte“ von seiner Frau im Stich gelassen gefühlt hatte. Dies erstaunt, zumal das Tatmotiv des Bestrafungswunsches aus Herrschsucht derart einfach strukturiert ist, dass sich die gesteigerte Verwerflichkeit auch bei fremder Herkunft, problematischer Persönlichkeitsstruktur und selbst in einer psychischen Ausnahmeverfassung erschließen muss.208 Zudem lehnte der Bundesgerichtshof eine über die Verneinung des Mordtatbestandes hinausgehende Anwendung von § 213 StGB mit der Begründung ab, der Täter sei nicht frei von eigener Schuld an der Auseinandersetzung gewesen. Es mutet seltsam an, dass dieser Gesichtspunkt nicht schon im Rahmen der Prüfung der niedrigen Beweggründe angesprochen und berücksichtigt wurde, gehört doch zu der bei der Prüfung erforderlichen Gesamtwürdigung auch die Einbeziehung der Vorgeschichte der Tat.209 Der Bundesgerichtshof hätte sich daher schon bei der Prüfung des Mordtatbestandes mit der Frage nach dem Vorverschulden für den Affekt und die Verzweiflung eingehend auseinandersetzen müssen.210 Jedenfalls scheint es dem Beschluss zufolge eben nicht nur integrationsunwillige, sondern gar integrationsunfähige Täter zu geben. Was dies bezogen auf das Konzept des Bundesgerichtshofs vom Integrationsbegriff im Detail bedeutet, ist unklar. Die Formulierung lässt die Deutung zu, dass es fremdkulturelle Täter geben kann, die auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt nicht die Fähigkeit zur Einsicht in die Niedrigkeit ihrer Beweggründe besitzen. Überzeugender ist demgegenüber ein Urteil aus dem Jahr 2004,211 in dem es um einen aus der Türkei stammenden Mann ging, der seine in Deutschland geborene und aufgewachsene Ehefrau tötete, weil sie sich in Folge von Demütigungen und Misshandlungen von ihm lösen wollte und nicht willens war, an der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis mitzuwirken. Dies empfand er als demütigend und drohte mehrmals, er werde im Falle einer Rückkehr in die Türkei „eine Leiche 207 208 209 210 211
BGH NStZ-RR 2004, 44 (m. Anm. Trück, NStZ 2004, 497). Trück, NStZ 2004, 497 (498). BGH NStZ-RR 2003, 78 f.; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 69. Trück, NStZ 2004, 497 (498). BGH NStZ 2004, 332.
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mitnehmen“. Auf ihre erneute Weigerung begann der Mann, auf seine Frau einzuschlagen und ihr mit einem Klappmesser 48 Messerstiche zu versetzen, bis sie sich nicht mehr rührte und verstarb. Das Landgericht verurteilte den Täter lediglich wegen Totschlags, weil seine maßlose Wut und Empörung gegenüber seiner Frau auf fremdkulturellen Wertanschauungen fußten und die bevorstehende „ruhmlose“ Rückkehr in die Türkei „nach seinen anatolischen Wertvorstellungen seine Familien- und Mannesehre verletzte und zu einem Ansehensverlust in der Heimat führen mußte.“ Das Landgericht verneinte daher die subjektive Seite der Motivgeneralklausel, ohne aber klarzustellen, woran es dem Täter denn genau fehlte. Der Bundesgerichtshof bejahte die Wertungsfähigkeit des Täters mit Hinweis darauf, er sei von Familienmitgliedern über das Verhältnis von Mann und Frau in der deutschen Kultur unterrichtet worden; zudem hätte die Schwester ihm mit der Polizei gedroht. Überdies habe das Landgericht in seinen Urteilsgründen nicht belegt, dass sich der Täter nach anatolischen Wertvorstellungen für berechtigt halten durfte, seine Frau fortwährend zu misshandeln und schließlich sogar zu töten. Vielmehr könnten vom Täter getroffene Maßnahmen, damit die Nachbarn nichts vom Geschehen hören konnten, sowie sein Bestreiten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe gegenüber seinen Eltern dafür sprechen, dass er durchaus die deutsche Bewertung seines Tötungsmotivs nachvollziehen konnte. Auch das Motivationsbeherrschungspotential bejahte der Bundesgerichtshof, selbst wenn im Fall ein Affekt nahelag. Zu Recht wies er aber darauf hin, dass eine wachsende affektive Erregung den Täter nicht zu entlasten vermag, wenn er sich – wie hier geschehen – bewusst von beherrschbaren Gefühlen zur Tat hat treiben lassen. (3) Auswirkungen des Heimatstrafrechts des Täters Der Bundesgerichtshof greift in jüngster Zeit teilweise auf das Heimatstrafrecht zurück, um die subjektive Haltung ausländischer Täter zu ihrem Tötungsmotiv zu ergründen. Dem Heimatstrafrecht kommt dabei jedoch wohl keine entscheidende, sondern eher indizielle Funktion zu. In einem Beschluss aus dem Jahr 2004212 ging es um einen seit 1992 in der Bundesrepublik lebenden Pakistaner, der im Jahr 2003 versuchte, einen Landsmann zu töten, weil dieser im Besitz von Portraitfotos seiner Tochter war, welche diese ohne Kopftuch und Schleier zeigten. Hierdurch habe er sich in seiner bzw. der Ehre seiner Tochter verletzt gefühlt; dieses streng patriarchalische Ehrverständnis wich dabei von dem traditionellen pakistanischen Ehrverständnis ab. Der Bundesgerichtshof bejahte hier unter anderem durch einen Rückgriff auf das pakistanische Recht die Wertungsfähigkeit des Täters. Ob er mit seinem Beschluss eine Neuorientierung seiner Rechtsprechung am Heimatstrafrecht des Täters einleiten wollte, ist dagegen ungewiss. Möglicherweise beschränkt sich sein Blick auf das Heimatstrafrecht nur auf die Fälle, in denen der Täter sich auf sektiererische Über212
BGH NStZ-RR 2004, 361.
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zeugungen beruft und es eines objektiven Kriteriums zur Verifizierung der Anerkennung jener Überzeugungen in der Heimatkultur des Täters bedarf. In dem Fall einer versuchten Tötung der früheren Ehefrau, weil diese sich von ihrem Mann trennen wollte, betonte der Bundesgerichtshof, fremde Verhaltensmuster, Vorstellungen und Anschauungen seien regelmäßig nur dann zu berücksichtigen, wenn sie im Einklang mit der fremden Rechtsordnung stehen, was im Fall des türkischen Täters nicht der Fall sei.213 Eine abschließende Beurteilung der subjektiven Seite durch Rückgriff auf das Heimatstrafrecht beabsichtigt der Bundesgerichtshof nicht. Er verfährt damit in diesem Punkt in Einklang mit seiner Strafzumessungsrechtsprechung, die zuweilen auf das Heimatstrafrecht zurückgreift, in anderen Fällen aber eben nicht.214 Mag dieses Vorgehen bei Straftatbeständen mit zeitiger Strafandrohung schon bedenklich genug sein, wird es angesichts der in § 211 StGB angedrohten Höchststrafe umso bedenklicher, weil es zu sehr an klaren und nachvollziehbaren Kriterien fehlt, die eine relativ verlässliche Strafprognose ermöglichen. cc) Eingrenzungsansätze in der Literatur Um einer uferlosen Berücksichtigung von Bindungen ausländischer Täter an ihre Heimatkultur im Rahmen des Motivationsbeherrschungspotentials Grenzen zu setzen, schlagen Stimmen in der Literatur zwei Lösungswege vor. Der erste Vorschlag beschränkt die Berücksichtigung auf die Fälle, in denen die vom Täter befolgte heimatliche Wertanschauung auch vom dortigen Strafrecht anerkannt wird.215 Ein zweiter Eingrenzungsansatz will die Grenze der Berücksichtigungsfähigkeit beim deutschen „ordre public“ ziehen. (1) Eingrenzung durch Rückgriff auf das Heimatstrafrecht Ein Teil der Literatur will die Berufung des Täters „auf irgendwelche exotischen Sitten“ durch eine Eingrenzung auf vom Heimatrecht ausdrücklich anerkannte Wertanschauungen begrenzen.216 Eine Berufung des Täters auf von seinem Heimatrecht missbilligte Wertvorstellungen müsse daran scheitern, dass ihm seine Rechtsordnung die Fähigkeit zur Bewertung der Tatantriebe vermittele. Es sei unBGH NStZ-RR 2007, 86. Für die Maßgeblichkeit der fremden Rechtsordnung BGH bei Pfister NStZ-RR 1999, 353 (359); BGH NStZ-RR 1998, 298. Für eine lediglich indizielle Wirkung der fremden Rechtsordnung vgl. BGH NStZ 1996, 80; BGH NStZ-RR 2007, 86 (87). 215 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37; wohl auch Momsen, NStZ 2003, 237 (238); Dietz, NJW 2006, 1385 (1387). 216 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37; wohl auch Fischer, § 211 Rn. 31; Momsen, NStZ 2003, 237 (238); Dietz, NJW 2006, 1385 (1387). 213 214
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angebracht, eine von einem türkischen Täter begangene Blutrachetötung hierzulande milde zu bewerten, ist für die Blutrache in der Türkei doch seit Langem die Höchststrafe vorgesehen.217 Soweit das heimatliche Recht bestimmte Tötungsmotive ausdrücklich privilegiere, liege es Jähnke zufolge nahe, dass „ein in heimatlichen Vorstellungen befangener Ausländer die zugrunde liegende Wertung teilt und eine abweichende deutsche Auffassung nicht kennt.“218 Der entgegengesetzte Fall spreche gegen die Verbindlichkeit des jeweiligen Motivs in der heimatlichen Werteordnung des Täters, so dass davon ausgegangen werden könne, der Täter habe seine gefühlsmäßigen Regungen gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern können. Soweit eine ausdrückliche Privilegierung fehle, sei davon auszugehen, dass „die Kulturvölker die Tötung eines fremden Menschen im Wesentlichen gleich bewerten und davon etwa abweichenden Gebräuchen die rechtliche Anerkennung versagen.“219 Mit dieser Lösung ist keine Motivbewertung nach Maßgabe des heimatlichen Strafrechts des Täters verbunden oder gar eine direkte Anwendung des Heimatstrafrechts, die allein von vereinzelten Stimmen im Schrifttum bei strafrechtlichen Generalklauseln wie den niedrigen Beweggründen für zulässig erachtet wird.220 Tatsächlich kann ohne eingrenzende Erfordernisse hinsichtlich der prägenden Kultur eine tätergünstige Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen leicht ins Uferlose geraten, so dass sich der Rückgriff auf das heimatliche Recht als objektives Kriterium zum Nachweis fremdkultureller Anschauungen anbietet. Ohne nähere Eingrenzung besteht die Gefahr einer Berücksichtigung selbst partikulärer, subkultureller Wertvorstellungen.221 Zudem berücksichtigt die Rechtsprechung bei der Strafzumessung die Bindung ausländischer Täter an heimatliche Anschauungen nicht selten nur dann, wenn diese auch von deren heimatlichem Strafrecht getragen werden.222 Begreift man das Kriterium des Motivationsbeherrschungspotentials als einen Filter zum Ausschluss von Härtefällen aus dem Anwendungsbereich der Motivgeneralklausel, um die Strafgerechtigkeit auch im Einzelfall zu gewährleisten, bietet es sich an, im Rahmen der Prüfung der niedrigen Beweggründe bei fremdkulturell motivierten Tötungen auch das Heimatstrafrecht des Täters zu berücksichtigen. Oft genug ist das heimatliche Recht des Täters jedoch nicht so eindeutig, dass es jegliche Zweifel an der Milde der Heimatkultur des Täters gegenüber der von ihm begangenen Tat völlig ausräumt. Das von Jähnke gewählte Beispiel der Qualifikationsvorschrift betreffend die Blutrachetötung in Art. 450 Nr. 10 exTCK verdeut217 Vgl. Art. 450 Nr. 10 türk StGB; dazu Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 68; ferner Arzt / Weber, Strafrecht BT, § 2 Rn. 69 Fn. 105; Fischer, § 211 Rn. 29. 218 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37. 219 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37. 220 So Grundmann, NJW 1985, 1251 (1255). 221 LK-Jähnke, § 211 Rn. 37. 222 BGH NStZ-RR 1998, 298; 1997, 1; NStZ 1996, 80.
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licht die sich aus seiner Auffassung ergebenden Probleme recht anschaulich. Keineswegs fiel jede Tötung, bei der Blutrache eine tatveranlassende Rolle spielte, in den Anwendungsbereich der Norm, sondern es musste zwischen der zu rächenden Tötung und der Blutrachetötung ein nicht näher definierter enger zeitlicher Zusammenhang bestehen.223 Konsequenterweise müsste diese Auslegung vom deutschen Strafgericht berücksichtigt werden, entscheidet sie doch maßgeblich über den Widerhall tötungsfreundlicher Wertvorstellungen im Heimatrecht des Täters. Dass aber etwa der von Art. 450 Nr. 10 exTCK vorausgesetzte zeitliche Zusammenhang ein kaum greifbares Kriterium darstellt, illustriert, dass die Berücksichtigung der heimatlichen Strafrechtsnormen nur bedingt zu einer trennschärferen Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag im Bereich niedriger Beweggründe beiträgt. Im Übrigen setzen sich längst nicht alle Staaten der Welt aus einer – relativ– homogenen Bevölkerung zusammen, wie dies in Deutschland der Fall ist. Gerade in Vielvölkerstaaten wie etwa der Türkei ist nicht zu erwarten, dass die Wertvorstellungen aller Volksgruppen sich im türkischen Strafrecht widerspiegeln. Hier kann das Strafrecht vielmehr Ausdruck der Anschauungen allein der dominierenden Bevölkerungsgruppe oder einer herrschenden Elite sein. Spiegelt sich eine Wertvorstellung wie die hinter „Ehrenmorden“ stehende nicht im türkischen Strafrecht wider, bedeutet dies noch lange nicht deren Irrelevanz in der türkischen Gesellschaft. Das Ganze wird bei Tätern aus Staaten wie Nigeria verkompliziert, in denen sich das anzuwendende Strafrecht nach Wohnort, ethnischer Zuschreibung und nach Religionszugehörigkeit bestimmt.224 Überdies wurden in der Geschichte einiger Staaten wie der Türkei die endemischen sozialen Anschauungen durch die Rezeption westlichen Rechts überlagert, das in einzelnen Punkten den Anschauungen breiter Teile der Bevölkerung zuwiderlief. Außerdem wird dem Täter durch den fehlenden Widerhall dieser Wertvorstellungen im türkischen Recht noch nicht zwingend die Fähigkeit zum Niedrigkeitsurteil bezüglich der entsprechenden Beweggründe vermittelt. Unbeantwortet bleibt die Frage, wann und wieso das Heimatrecht des Täters ihm die Fähigkeit zur Bewertung seiner Tatantriebe vermittelt und wie mit Tätern zu verfahren ist, deren Heimatrecht sich nach deren Auswanderung aus der Heimat geändert hat. Diese Frage stellt sich etwa bei vor dem Jahr 2003 nach Deutschland zugewanderten türkischen Tätern, weil in diesem Jahr die strafrechtliche Privilegierung für „Ehrenmorde“ außer Kraft gesetzt wurde und seit dem Jahr 2005 „Ehrenmorde“ oftmals als qualifizierte Totschlagsdelikte einzustufen sind. Zwar hat in diesem Fall der Täter die Entwicklung der Wertvorstellungen dann nicht im eigenen Heimatland mitvollzogen oder erlebt, durch die unter türkischstämmigen Menschen 223 Eingehend zu Art. 450 Nr. 10 exTCK sowie den historischen Hintergründen der Vorschrift Hakeri, Strafrechtsbestimmungen, S. 60 ff. 224 Vgl. Olong, Nigerian Legal System. An introduction; Doherty, Criminal Procedure in Nigeria. Law and Practice, S. 26 ff.; zur den Quellen des nigerianischen Strafrechts siehe Karibi-Whyte, History and Sources of Nigerian Criminal Law.
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auch im Ausland weit verbreitete und regelmäßige Nutzung türkischer Medien sowie Kontakte zu in der Heimat gebliebenen Angehörigen und Freunden nehmen sie aber an den heimatlichen Veränderungsprozessen teil und müssen sich diese dementsprechend entgegenhalten lassen. (2) Eingrenzung durch Rückgriff auf den deutschen ordre public Teilweise wird gefordert, die Berücksichtigungsfähigkeit fremdkultureller Anschauungen bei der Motivbeurteilung an dem deutschen Ordre public zu orientieren; die Anschauungen sollen dann nicht berücksichtigungsfähig sein, wenn sie den Kernaussagen der hiesigen Rechts- und Sozialordnung zuwiderlaufen. Ein demokratischer Rechtsstaat müsse „stabile und im Kern unveränderliche Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander bereithalten und diese nötigenfalls auch mit staatlichen Sanktionen durchsetzen.“225 Eine uniforme Rechtsanwendung ohne Ansehung des fremdkulturellen Hintergrundes werde umso notwendiger, je mehr das öffentliche Interesse beziehungsweise das Interesse Dritter berührt werde und je weniger gewichtig das auf den fremdkulturellen Normen beruhende individuelle Anliegen sei. Umgekehrt gewönnen diese Anliegen an Gewicht, je gewichtiger sie isoliert betrachtet seien und je weniger öffentliche Interessen oder solche Dritter hiervon betroffen seien.226 Das Strafrecht könne seine friedenssichernde Funktion im Grundsatz nur dann erfüllen, wenn seine Normen uneingeschränkt gelten. Wenn eine fremdkulturelle Anschauung mit Straftatbeständen kollidiere, könne sie sich ausnahmsweise durchsetzen, wenn ihre Auswirkungen gering seien und den Bereich des Sozialadäquaten nicht überschritten, wie dies bei der Beschneidung von Jungen der Fall sei.227 In diesen Ausnahmefällen büße das Strafrecht nämlich seine friedenssichernde Funktion kaum ein. Über diese Bagatellfälle hinaus ein „Kulturprivileg“ zu gewähren, sei indessen mit dem Grundgedanken des Strafrechts nicht vereinbar. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung kultureller Anschauungen jenseits der Bagatellgrenze dahingehend diskriminierend wirke, dass auch anderen Angehörigen desselben Kulturkreises diejenigen Anschauungen zugeschrieben würden, die – vermeintlich? – hinter der Tat stünden. Auch zum Strafzumessungsrecht wird vereinzelt eine tätergünstige Berücksichtigung der Bindung an fremdkulturelle Anschauungen jenseits des deutschen Ordre public abgelehnt und als Beispiel für derartige Anschauungen die Vorstellung von der Ehrenhaftigkeit der Blutrache genannt.228 Gleichwohl fehlt dem Ausschluss der Berücksichtigung entsprechender Bindungen aus dem Bereich berücksichtigungsfähiger Verhaftungen des Täters in heimatlichen Anschauungen die dogmati225 226 227 228
Rohe, JZ 2007, 801. Rohe, JZ 2007, 801 (802). Rohe, JZ 2007, 801 (805). Schnorr von Carolsfeld, FS-Bruns, 271 (287).
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sche Herleitung, was eine Abgrenzung erschwert. Aus dem relativ unbestimmten Begriff des Ordre public geht nicht eindeutig hervor, wann er im Einzelfall berührt ist und wann nicht. Eine Herleitung vermag möglicherweise hier mehr Klarheit zu schaffen. Ohne diese Klarheit droht mit dem Kriterium des Ordre public jedoch noch mehr Rechtsunsicherheit, als dies nach derzeit geltender Rechtslage ohnehin schon der Fall ist. Ohne nähere Bestimmung der Grenzen des Begriffs des Ordre public überzeugt dieses Konzept nicht.
c) Zwischenergebnis Die Abkehr der Rechtsprechung von der zwischenzeitlich von ihr vertretenen Gesamtwürdigungslösung ist begrüßenswert. Wer fremde Kulturanschauungen schon auf objektiver Bewertungsebene berücksichtigt, ohne inhaltliche Eingrenzungen vorzunehmen, muss in Kauf nehmen, dass der seine vergewaltigte Schwester tötende Bruder ostanatolischer Herkunft, der mit der Tat seine und die Familienehre bewahren will, grundsätzlich nicht aus niedrigen Beweggründen handelt. Es ist schwer vorstellbar, wie das Strafrecht bei diesem Bewertungsergebnis seine generalpräventive Funktion erfüllen soll, ist die Identifizierung der Allgemeinheit mit dieser Bewertung – vorsichtig ausgedrückt – zu Recht eher nicht zu erwarten. Die Vorsatzlösung hat den Vorzug, diesen Fall auf objektiver Bewertungsebene nach den hiesigen Anschauungen zu beurteilen, was nicht zugleich bedeutet, dass jedes fremdkulturelle Tatmotiv per se als niedrig zu bewerten ist. Nicht selten kann es Überschneidungen zwischen fremdkulturellen Motiven und den hiesigen Anschauungen geben, die ein Tatmotiv nachvollziehbar erscheinen lassen. Das Motiv des seine vergewaltigte Schwester tötenden Bruders überschreitet jedoch den Schnittmengenbereich zwischen deutscher und ostanatolischer Kultur und erscheint jedenfalls aus deutscher Sicht als zutiefst verachtenswert. Nach der Vorsatzlösung soll der Ausschluss niedriger Beweggründe auf subjektiver Ebene die Ausnahme bilden; die subjektiven Kriterien der Motivgeneralklausel sind aber gerade bei fremdkulturellen Hintergründen einer Tat zu offen, als dass sich eine verlässliche Prognose der richterlichen Motivbewertung bewerkstelligen ließe. Das höchstrichterliche Interesse, durch individualisierende Eingrenzung auf subjektiver Ebene solche Fälle aus dem Anwendungsbereich der niedrigen Beweggründe auszuschließen, die dem Strafrechtsanwender als nicht höchststrafwürdig erscheinen, ist nachvollziehbar. Gleichwohl stellt die Vorsatzlösung die Prüfung niedriger Beweggründe auf ein unsicheres Fundament. Ob im Beispielsfall der Bruder wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen zu verurteilen ist, hängt zum einen davon ab, ob sich seine Heimatkultur positiv zu seinem Tötungsmotiv verhält. Dass es hier nicht zwingend auf das türkische Strafrecht, das dieses Tötungsmotiv nicht strafmildernd anerkennt, ankommen soll, erschwert den Nachweis der fremdkulturellen Anerkennung des Tötungsmotivs erheblich. Zudem können den Täter Druck-
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momente auf subjektiver Ebene entlasten, solange er nicht als integriert zu betrachten ist. Dies sind wertungsoffene Kriterien, von denen das Mordverdikt nicht abhängig sein sollte. Es fragt sich daher, wie die Bestrafung von „Ehrenmorden“ auf ein solideres und einer Prognose besser zugängliches Fundament gestellt werden kann.
3. Alternative Lösungswege zur strafrechtlichen Einordnung von „Ehrenmorden“ Weder die deutsche Rechtsprechung noch die Strafrechtsliteratur stellen – ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen – die Notwendigkeit einer Berücksichtigung fremdkultureller Bindungen im Rahmen der Prüfung der Motivgeneralklausel in Frage. Allein Kohlhaas kritisiert diese Haltung in seiner Anmerkung zu BGHSt 22, 77229 auf das Heftigste und nähert sich damit fast einem Schulterschluss mit den Stammtischen: „Auch ist die Neigung, fremde Sitten zu berücksichtigen, eine typisch deutsche Nachkriegsweichheit. Sieht man die Urteile, die in Balkanländern gegen deutsche Kraftfahrer ausgesprochen werden, so hat man den festen Eindruck, daß man sich dort nicht darum schert, ob man in Deutschland erst ab 1,3 % fahruntüchtig ist. Man erwartet dort, daß der Einreisende die Gesetze so achtet, wie sie an Ort und Stelle gewertet werden. Das Risiko trägt jeder ins Ausland Reisende. Warum also nicht umgekehrt?“ Demgegenüber gibt es laut Saliger „jenseits ideologischer Voreingenommenheiten eine begründbare Alternative zur täterprivilegierenden Berücksichtigung kulturell abweichender Moralvorstellungen bei der tatbestandlichen Prüfung niedriger Beweggründe nicht.“ Dies folge aus der Möglichkeit der Berücksichtigung divergierender Normorientierungen im Rahmen von § 17 StGB sowie der Strafmilderungsmöglichkeit für anerkennungswürdige Anschauungen von Gewissens- und Überzeugungstätern gemäß § 46 StGB.230 Daher seien bei dem Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe, dessen Bejahung zwingend mit der Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe verknüpft ist, die fremdkulturellen Anschauungen des Täters aufgrund des Schuldprinzips zu berücksichtigen. Aus der Forderung einer Berücksichtigung in zwei strafrechtlichen Vorschriften auf einen allgemeinen, bei der Motivgeneralklausel zu berücksichtigenden Rechtsgedanken zu schließen, begegnet indessen erheblichen Bedenken. Dies gilt zum einen deshalb, weil bei § 46 StGB eben nur anerkennungswürdige abweichende Normorientierungen von Überzeugungstätern Berücksichtigung finden können. Und eine Berücksichtigung selbst anerkennungswürdiger Normorientierungen soll bei Einsatz erheblicher Gewalt, also insbesondere bei vorsätzlichen Tötungsdelikten, ausscheiden.231 Der strafmildernden Berücksichtigung der Anschauungen von 229 230
Kohlhaas, LM 1968 Nr. 59 zu § 211 StGB. Saliger, StV 2003, 21 (23).
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Überzeugungstätern sind also enge Grenzen gesetzt, die Tötungsgewalt nicht erfassen. Aus dem Verweis auf Strafmilderungsmöglichkeiten für Überzeugungstäter müsste eher folgen, dass § 46 StGB eine Berücksichtigung fremdkultureller Tötungsmotive erst recht nicht begründen kann. Was § 17 StGB angeht, setzt er der Berücksichtigungsfähigkeit abweichender Normorientierungen klare Grenzen, die weder von der Gesamtwürdigungslösung noch von der Vorsatzlösung eingehalten werden. Die hierzulande geführte Debatte fixiert – abgesehen von der isolierten Äußerung von Kohlhaas – ihre Auseinandersetzung mit der Problematik des strafrechtlichen Umgangs mit Fremdkulturen auf die Frage des „Wie“ des Umgangs und behandelt die Frage nach dem „Ob“ recht stiefmütterlich. Dabei verspricht eine ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem „Ob“ hilfreiche Erkenntnisse für das „Wie“ eines Umgangs mit Fremdkulturen. Anders als hierzulande wird die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit fremdkultureller Prägungen bei der Beurteilung der Strafbarkeit ausländischer Täter im anglo-amerikanischen Rechtsraum sehr offen diskutiert. Dort gehen einige Autoren sogar so weit zu fragen, ob das Strafrecht überhaupt fremdkulturelle Hintergründe einer Straftat berücksichtigen sollte. Auch weil einige an der anglo-amerikanischen Diskussion beteiligte Autoren selbst kulturellen Minderheiten angehören, verspricht die Auseinandersetzung mit den dortigen Argumenten einigen Gewinn für die hierzulande geführte Debatte, weil diese Autoren nicht unter Rassismusverdacht gestellt werden können. In einem zweiten Schritt sollen die aus der Auswertung der Debatte und ihren Argumenten gewonnenen Erkenntnisse in die Erarbeitung eines neuen Lösungsansatzes für die strafrechtliche Behandlung von „Ehrenmorden“ einfließen. Bei der Erarbeitung eines neuen Lösungsansatzes geht es aber nicht um einen gänzlichen Bruch mit den zuvor dargestellten Lösungen. Vielmehr wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Vorsatzlösung im Grundsatz überzeugt und daher einer Prüfung der Motivgeneralklausel zugrunde zu legen ist. Fraglich ist aber, ob und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen die Anwendung der Vorsatzlösung bei fremdkulturell motivierten Tätern zur Ablehnung der niedrigen Beweggründe führen sollte. Es geht also nicht um die Erarbeitung eines gänzlich neuen Ansatzes, sondern um die Frage, wie die Vorsatzlösung bei fremdkulturell motivierten Tätern gehandhabt werden kann, damit das Mordverdikt vorhersehbar und zugleich schuldangemessen ist.
a) Angloamerikanische Diskussion um die Einführung einer „Cultural Defense“ Ab der Mitte der 1980er Jahre232 beriefen sich ausländische Angeklagte in USamerikanischen Strafprozessen zunehmend auf ihre Heimatkultur, um ihr Handeln 231
LK-Theune, § 46 Rn. 108.
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
zu erklären und auf eine milde Strafe oder einen Freispruch hinzuwirken.233 Weil einige Angeklagte sich auf diese Weise erfolgreich verteidigen konnten und ungewöhnlich milde Strafen oder gar Freisprüche erwirkten, andere Angeklagte jedoch nicht, schien der Umgang mit fremdkulturellen Tathintergründen durch die Gerichte willkürlich. Eine umfassende Auswertung US-amerikanischer Gerichtsentscheidungen durch Renteln234 weist nach, dass Gerichte teilweise nicht nur den fremdkulturellen Tathintergrund nicht zugunsten des Täters berücksichtigten, sondern oftmals schon nicht zuließen, dass der Angeklagte die Existenz einer rechtlich oder allein sozial anerkannten Privilegierungsnorm in seiner heimatlichen Werteordnung nachweist. Zur Lösung dieses Dilemmas schlagen anglo-amerikanische Autoren die formelle Anerkennung einer „Cultural Defense“ vor, also eines fakultativen Strafmilderungsgrundes, der bewirkt, dass die Tat des Angeklagten nicht an dem sonst maßgeblichen Vergleichsmaßstab der reasonable (bzw. ordinary) person der Mehrheitsgesellschaft gemessen wird, sondern an Wertmaßstäben der Herkunftskultur des Täters.235 Die Befürworter einer „Cultural Defense“ erachten ausländische Täter dann nicht für strafrechtlich voll verantwortlich, wenn sie in einer fremden Kultur sozialisiert wurden, sich in der Regel dementsprechend verhielten und auch ihre Tat in Einklang mit den fremdkulturellen Anschauungen steht. Unter den Befürwortern ist indessen umstritten, ob die Tat lediglich in Einklang mit den fremdkulturellen Sozialanschauungen im weiteren Sinne stehen,236 oder ob sie im Heimatland gar nicht oder milde bestraft werden muss.237 Mit ihrem Vorschlag blieben die Befürworter der „Cultural Defense“ aber bis heute erfolglos; die Zahl ihrer Gegner ist immer noch groß,238 und im angloamerikanischen Strafrecht wird nach wie vor die hinter einer Tat stehende herkunftsbedingte Prägung ausländischer Täter nicht schon per se als eigener Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- oder Strafmilderungsgrund anerkannt, sondern allenfalls im Rahmen bestehender Vorschriften in Ansatz gebracht. Dass eine AnTorry, Journal of Legal Pluralism 44 (1999), 127 (128). Phillips, When culture means gender, S. 2 m. w. N. 234 Renteln, The Cultural Defense. 235 Renteln, The Cultural Defense, S. 187 ff.; Anonymus, Harvard Law Review 99 (1986), 1293 ff.; auch Woo weist nach, dass die Verurteilungen in drei vergleichbaren Fällen einer Eifersuchtstötung durch asiatische Migranten hinsichtlich des gewählten Strafmaßes erheblich divergierten, Woo, International Journal of the Sociology of Law 32 (2004), 279 (290 ff.) m. w. N. 236 Van Broeck, Criminal Law and Criminal Justice 9 (2001), 1 (5). 237 Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1096); wohl auch Magnarella, The Journal of Ethnic Studies 19 (1991), 65 (67). 238 Lyman, Criminal Justice Journal 9 (1986), 87 ff.; Sams, Georgia Journal of International and Comparative Law 16 (1986), 335 ff.; Choi, Pacific Basin Law Journal 8 (1990), 80 ff.; Gallin, Boston College Law Review 35 (1994), 723 ff.; Coleman, Columbia Law Review 96 (1996), 1093 ff.; Sacks, Arizona Journal of International and Comparative Law 13 (1996), 523 ff.; Taylor, Maine Law Review 50 (1998), 445 ff. 232 233
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wendung bereits bestehender Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- sowie Strafmilderungsvorschriften auf fremdkulturell motivierte Täter regelmäßig zu deren Pathologisierung oder Diskriminierung beziehungsweise der Abwertung ihrer Kultur führe, mache die formelle Anerkennung der „Cultural Defense“ unabdingbar. Denn wer sich entsprechend seiner Heimatkultur verhalte, handele von seinem Standpunkt aus betrachtet aus hochstehenden Motiven, was seine Tat weniger verwerflich erscheinen lasse. Eine Straflosigkeit fremdkulturellen Verhaltens sei zudem nicht die Folge der defense, so dass die Anschauungen der Täterkultur keine strafrechtliche Billigung erfahren würden. Schließlich drücke das Strafrecht die Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft aus, was ihre Angehörigen kaum noch wahrnähmen. Weil aber alle Kulturen den gleichen Respekt verdienten und die Minderheiten im Gegensatz zur Mehrheitsgesellschaft aufgrund ihres Ausschlusses von Wahles keine realistische Aussicht auf Einflussnahme auf das materielle Strafrecht hätten, drohe ihnen bei uniformer Strafrechtsanwendung eine Diskriminierung.239 In der Diskussion um die formelle Anerkennung einer „Cultural Defense“ tauchen häufig Argumente auf, die auch in der deutschen Diskussion um das „Wie“ einer Berücksichtigung fremdkultureller Tathintergründe angeführt werden. Die Argumente betreffen einerseits die Bewältigung der kulturellen Spannungen zwischen der Heimatkultur sowie der Kultur der strafenden Gesellschaft durch den Täter und andererseits das Verhältnis der heimatlichen zur Kultur der strafenden Gesellschaft. aa) Bewältigung kultureller Spannungen durch den Täter Für die formelle Anerkennung einer „Cultural Defense“ wird ins Feld geführt, dass ansonsten Zuwanderer zur Assimilierung an die Kultur der strafenden Gesellschaft gezwungen würden, ohne eine Gelegenheit zu haben, in Auseinandersetzung mit der neuen Kultur freiwillig neue Identitäten zu konstruieren.240 Dem wird entgegengehalten, dass die ausschließliche Maßgeblichkeit der Anschauungen der strafenden Gesellschaft Traditionen effektiver unterbinde, welche hiergegen verstießen.241 Die formelle Anerkennung einer „Cultural Defense“ brächte eine unzulässige Besserstellung ausländischer Täter mit sich, welche der Mehrheit der Menschen aus der strafenden Gesellschaft unzugänglich wäre,242 was im Ergebnis 239 Renteln, Cultural Defense, S. 46 ff.; Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1109).; vgl. auch Maguigan, New York University Law Review (36) 1995, 70; Sing, Yale Law Journal 108 (1999), 1845. 240 Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1110 f.). 241 Vgl. Sams, Georgia Journal of International and Comparative Law 16 (1986), 335 (349). 242 Lyman, Criminal Justice Journal 9 (1986), 87 (116); Sams, Georgia Journal of International and Comparative Law 16 (1986), 335 (350 f.); Coleman, Columbia Law Review 96 (1996), 1093.
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
wegen der Anknüpfung an die Zugehörigkeit des Täters zu einer ethnischen Minderheit wie eine Affirmative Action243 erscheinen könnte. Wie die Täter die kulturellen Spannungen im Fall eines Normkonflikts bewältigen oder bewältigen sollten, stellt jedoch nur vordergründig das eigentliche Problem der strafrechtlichen Beurteilung ihres Verhaltens dar. In Wirklichkeit beginnt das Problem schon bei den in der hiesigen Strafrechtsdiskussion unangesprochenen Fragen, ab wann der Täter einer fremden Kultur angehört, welcher Kultur er angehört und welche Normen Ausdruck dieser Kultur sind. Desweiteren stellt sich die Frage, ob und ab wann die strafende Gesellschaft dem Täter zugestehen soll, das kulturelle Spannungsverhältnis nahezu zwanghaft zugunsten seiner Herkunftskultur gelöst zu haben. (1) Ermittlung der Kultur des Täters Die Frage, ab wann der Täter sich auf fremdkulturelle Normen zulässigerweise berufen können soll, ist durchaus schwer zu beantworten. Dem Konzept von der „Cultural Defense“ liegt dem Anthropologen Wikan zufolge eine falsche Vorstellung von Kultur als etwas Statischem, Festem, Objektivem, Uniformem, das von jedem Mitglied einer sozialen Gruppe geteilt werde, zugrunde.244 Zu leicht werde unterstellt, dass die Kultur ihre Angehörigen beuge, auf eine bestimmte Weise zu handeln, als hätten diese keine eigenen Antriebe oder einen Willen.245 Auch andere Stimmen betonen, dass Menschen nicht einseitig durch ihre Kultur determiniert werden, sondern in einem dialektischen Wechselverhältnis zu ihr stehen.246 Wenn es aber wahr ist, dass jeder Mensch eher eine individuelle Version einer bestimmten Kultur darstellt als deren exaktes, uniformes Abbild,247 dann wird die Schwierigkeit der Feststellung einzelner Kulturnormen offenkundig. Dabei ist schon umstritten, was unter dem Begriff „Kultur“ zu verstehen ist. Von den zahllosen Definitionen des Kulturbegriffs seien im Folgenden einige genannt, um das Problem zu verdeutlichen, auf das der Strafrechtsanwender stößt, wenn er den kulturellen Hintergrund einer Tat bei der Motivbewertung nach § 211 Abs. 2 StGB zu Tätergunsten berücksichtigen will. 243 Mit dem Begriff „affirmative action“ werden institutionalisierte Maßnahmen zur Verhinderung oder Verminderung von Diskriminierung bezeichnet. Näher hierzu Simmons, Affirmative action; Rubio, A history of affirmative action. 244 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (62). 245 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (58); vgl. auch Torry, Journal of Legal Pluralism 44 (1999), 127 (139 f.). 246 Vgl. Torry, Journal of Legal Pluralism 1999 (44), 127 (136); Moody-Adams, Ethics 104 (1994), 291 (304). 247 Vgl. Moody-Adams, Ethics 104 (1994), 291 (307): „I submit that it is more plausible to claim that each individual possesses her own version of a given culture [ . . . ].“
II. „Ehrenmorde“ als To¨tungen aus niedrigem Beweggrund
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Teilweise wird „Kultur“ als Lebensweise und als soziales Geschehen aufgefasst, das dem Menschen Verwurzelung und Zugehörigkeit bietet, ohne tiefere Ursachen für bestimmte Normen zu nennen.248 Die kanadische UNESCO-Kommission definierte „Kultur“ als „dynamic value system of learned elements, with assumptions, conventions, beliefs and rules permitting members of a group to relate to each other and to the world, to communicate and to develop their creative potential.“249 Es hat sich in der interkulturellen Forschung jedoch wohl die folgende Definition von Kroeber und Kluckhohn durchgesetzt: „Culture consists of patterns, explicit and implicit, of and for behaviour acquired and transmitted by symbols, constituting the distinctive achievements of human groups, including their embodiments in artefacts; the essential core of culture consists of traditional (i.e. historically derived and selected) ideas and especially their attached values; culture systems may, on the one hand, be considered as products of action, on the other as conditioning elements of further action.“250
Ungeachtet der Unterschiede der Definitionen im Einzelnen werfen schon die Gemeinsamkeiten einige Fragen auf. Jede der Definitionen macht die Zugehörigkeit zu einer Kultur nicht von der ethnischen Identität der jeweiligen Person abhängig. Beide Definitionen erfassen auch Subkulturen als Kulturen. Überträgt man dieses Verständnis auf das Konzept der „Cultural Defense“, so könnten sich nicht allein ethnische Minoritäten auf ihre Anschauungen berufen, sondern auch andere subkulturelle Bevölkerungsgruppen wie kriminelle oder gar terroristische Vereinigungen, solange sie ihren Angehörigen durch bestimmte Verhaltensmuster ein Gefühl der Verwurzelung und der Zugehörigkeit bieten. Dem tritt Renteln mit dem Argument entgegen, dass die Zugehörigkeit zu kriminellen Vereinigungen sozialen Aspekten näherstünde, als dass sie sich mit kulturellen Unterschieden erklären ließe. Sie will allein ethnische Minoritäten in den Genuss einer „Cultural Defense“ kommen lassen.251 Fest steht, dass der Kulturbegriff normativ zu unbestimmt ist, um die im Strafrecht gebotene klare Abgrenzung zu gewährleisten. Wer Mitglieder krimineller Vereinigungen oder Auftragsmörder, die sich auf ihre Überzeugungen berufen, streng bestrafen will, muss wohl beim Kulturbegriff Einschränkungen vornehmen,252 was indessen dort zu ungerechten Strafen führt, wo diese sich auf tatsächlichen Druck aus ihrem sozialen Milieu berufen, die Tat zu begehen. Entsprechender Druck würde bei ausländischen Tätern Anlass zu einer milden Strafbarkeitsbewertung geben. Wer bei Ausländern wegen divergierenden Anschauungen und erheblichen sozialen Drucks zu relativ milden Strafbarkeitsbewertungen gelangt, Eagleton, Was ist Kultur?, 48. Kanadische UNESCO-Kommission, Cultures 4 (1977), 78 (83). 250 Kroeber / Kluckhohn, Culture. A critical review of concepts and definitions, Cambridge, S. 1. 251 Renteln, Review of Law and Women’s Studies 2 (1993), 437 (497). 252 Vgl. Tunick, Punishment Society 6 (2004), 395 (396). 248 249
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
bleibt die Erklärung schuldig, warum dies bei aus einem Druck ausübenden sozialen Umfeld stammenden deutschen Überzeugungstäter nicht zu dem gleichen Schluss führt. Aber selbst wenn man sich auf eine Definition des Kulturbegriffs einigte, verbliebe die Frage, wie stark eine bestimmte Anschauung in quantitativer Hinsicht in einer Gesellschaft Widerhall finden muss, um der jeweiligen Kultur zugerechnet zu werden. Das Beispiel türkischer „Ehrenmorde“ wirft die Frage auf, warum nicht alle türkischen oder zumindest ostanatolischen Männer weibliche Familienmitglieder töten, sobald sie sich sexuell normwidrig verhalten und dieser Umstand bekannt wird. Wenn man „Ehrenmorde“ als Teil der dortigen Kultur begreift, müssten doch alle dort beheimateten Menschen „Ehrenmorde“ begehen, sobald sich ein entsprechender Anlass bietet. Viele dort ansässige Menschen halten aber selbst dann andere vergleichsweise milde Reaktionen für ausreichend, um die eigene sowie die Familienehre wiederherzustellen. Fraglich ist daher, wie sich ein ostanatolischer Täter auf die hinter „Ehrenmorden“ stehenden Anschauungen berufen können soll, wenn andere Ostanatolier in der gleichen Situation anders handeln würden. Dieser Frage geht Tunick anhand des Falles Kimura nach. Diese in Kalifornien lebende japanische Immigrantin beschloss am 29. Januar 1985, Selbstmord zu begehen, nachdem sie von einer dreijährigen Affäre ihres Ehemannes erfahren hatte. Sie beging den Akt jedoch nicht alleine, sondern nahm ihre zwei Kinder – eines war im Säuglingsalter, das andere vier Jahre alt – mit sich ins Meer, um gemeinsam mit ihnen zu sterben. Dieses Vorgehen entsprach wohl einer japanischen Tradition namens „Oya-ko Shinju“, bei der eine vom Ehemann betrogene Mutter gemeinsam mit ihren Kindern Suizid begeht.253 Als sie von zwei Studenten wahrgenommen wurden, versuchten diese, Frau Kimura mit ihren Kindern zu retten. Allein Frau Kimura konnte gerettet werden. Die Anklage warf Kimura in jeweils zwei Fällen Mord sowie schwere Kindesgefährdung (felony child endangerment) vor. Ihr drohte hierfür die Todesstrafe. Die Verteidigung berief sich nicht explizit auf den kulturellen Hintergrund der Tat, sondern plädierte wegen der seelischen Ausnahmeverfassung von Kimura zur Tatzeit auf Totschlag und erwirkte eine einjährige Haftstrafe sowie eine fünfjährige Bewährungsstrafe mit psychologischer Behandlung. Weil sie sich zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits seit fünfzehn Monaten in Haft befand, wurde sie umgehend entlassen.254
253 Die Wurzeln dieser Tradition und die näheren Gründe, warum dieser erweiterte Suizid einigen japanischen Müttern als geeignete Reaktion auf eheliche Untreue ihrer Partner erscheint, sind unklar. Eine Zusammenstellung einschlägiger Theorien mit den entsprechenden Nachweisen liefert Matsumoto, Journal of International Law and Practice 4 (1995), 507 (511 f., 516 f.). 254 Eingehend zum Fall Kimura samt der strafrechtlichen Behandlung von „Oya-ko Shinju“ nach damaligem japanischen Strafrecht siehe Matsumoto, Journal of International Law and Practice 4, 507 ff.
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Tunick will die Frage, inwiefern Kimuras Tat von der japanischen Kultur bestimmt war, nicht mit einem Blick auf das Verhalten aller vom Ehemann betrogenen japanischen Mütter beantworten; ihmzufolge bedarf es eines Blicks auf all jene japanischen Mütter, die einen so starken Ehrangriff erleben, dass sie sich zum erweiterten Suizid verpflichtet fühlen. Hier müssten weiterhin all diejenigen Mütter aus der Vergleichgruppe ausgeschlossen werden, die – anders als Frau Kimura – auf kein nennenswertes soziales Netzwerk zurückgreifen können, das ihr Leid in einer solchen Situation auffangen könnte.255 Abgesehen davon, dass auch hier der Versuch unternommen wird, auf Biegen und Brechen die Uniformität und Allgemeinverbindlichkeit der Haltung der Japaner zum „Oya-ko Shinju“ zu belegen, ist an der Erklärung fragwürdig, ob sie dem Beleg einer Norm der japanischen Kultur dienen kann, welche die Praxis des „Oya-ko Shinju“ toleriert oder legitimiert. Denn letztlich sind die von Tunick hinzugezogenen Aspekte des sozialen Leids individuelle, psychische Aspekte, welche von kulturellen Aspekten zu trennen sind, da diese das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft betreffen. Ob ein Verhalten kulturell toleriert oder legitimiert wird, bestimmt sich vielmehr nach der darauf folgenden öffentlichen Reaktion der Angehörigen der entsprechenden Gesellschaft. Tunick will bei der Berücksichtigungsfähigkeit einer heimatlichen Wertanschauung dort die Grenze ziehen, wo die Legitimität und Berechtigung der Anschauungen auch innerhalb der Angehörigen einer Kultur tatsächlich in Frage gestellt werden. Weil etwa in der türkischen Gesellschaft die Legitimität einer milden Bestrafung von „Ehrenmorden“ zunehmend in Frage gestellt und unterdessen auch vom türkischen Gesetzgeber verneint werde, könne sich ein türkischer Täter eines „Ehrenmordes“ kaum noch auf seine heimatlichen Anschauungen berufen. Dies gelte angesichts der Intensität der in der Türkei geführten Debatte sogar für Auswanderer, da man bei ihnen von einer entsprechenden Kenntnis der Debatte ausgehen könne.256 Da ein Gericht mit der Beantwortung dieser komplexen Fragen überfordert wäre, wird in der Praxis zum Beleg kultureller Anschauungen regelmäßig auf Sachverständige zurückgegriffen, meist Anthropologen, die auch belegen sollen, dass die Anschauung das Verhalten des Angeklagten beeinflusst haben könnte. Der Anthropologe Wikan erhält offenbar selbst oft Anfragen von Strafverteidigern, die ihn um Mitwirkung am Verfahren als Sachverständiger bitten, um die angeklagte Tat in einen fremdkulturellen Kontext zu rücken. Wikan zeichnet hier ein erschreckendes Bild: „A different type of call comes from some lawyers who phone and say ,I have this client. He has beaten his wife (or murdered a man or something), but I understand it’s his culture that. . . Would you please appear in court as an expert witness for the defense and say that?‘ And when I say I will not, this is not a question of culture, the lawyer usually proceeds: 255 256
Tunick, Punishment Society 6 (2004), 395 (398 f.). Tunick, Punishment Society 6 (2004), 395 (405 f.).
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
,But do you think we can find somebody else who will say that this is his culture?‘ To which my answer is ,Certainly!‘“257
Der Beleg eines fremdkulturellen Tathintergrundes erscheint in der Schilderung Wikans willkürlich und käuflich, also als etwas, das der Verteidiger für seinen ausländischen Mandanten in jedem Fall erwirken kann. Wikans Schilderung ist aber auch als Appell an die Strafjustiz zu verstehen, mit ethnologischen Sachverständigen entsprechend kritisch umzugehen. (2) Verhaftetsein des Täters in der Heimatkultur: „inability thesis“ Ein weiteres Problem ist mit der von den Befürwortern der formellen Anerkennung einer „Cultural Defense“ vorausgesetzten „Inability Thesis“ verbunden, derzufolge die Kultur das Verhalten einer Person derart bestimmen könne, dass diese zu rechtskonformem Verhalten außerstande sei.258 Hiergegen wendet MoodyAdams am Beispiel griechischer Sklavenhalter ein, dass die kulturelle Erziehung niemanden von seiner Verantwortung freistellt, wenn andere Angehörige der jeweiligen Gesellschaft über die Erziehung vermittelte Anschauungen in Frage stellen oder gar direkt kritisieren.259 Sie bejaht die Vorwerfbarkeit darüber hinaus selbst dann, wenn niemand die jeweilige Anschauung in Frage gestellt hatte. „Merely in virtue of learning a language, every human being has the capacity to imagine (to conceive) that her social world might be organized in quite different principles [ . . . ] one has the capacity to question existing social practices merely by virtue of learning to form the negation of any statement.“260 Hieraus folgert Moody-Adams, dass alle Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Erziehung die Fähigkeit besitzen, einzusehen, dass bestimmte Verhaltensweisen falsch sind; wenn sie sich gleichwohl falsch verhalten, können sie hierfür auch stets zur Verantwortung gezogen werden. Dementsprechend könne den Griechen die Sklavenhaltung ebenso vorgeworfen werden wie den Nationalsozialisten die Judenvernichtung. Die kulturelle Erziehung stelle niemanden von seiner moralischen Verantwortung frei, weil jedermann Distanz zu seiner Kultur suchen könne, um deren Anschauungen zu hinterfragen.261 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57. Tunick, Punishment Society 6 (2004), 395 (397). 259 Moody-Adams, Ethics 104 (1994), 291 (296). 260 Griechischen Sklavenhaltern, so könnte man meinen, hätte man zur Zeit der Antike keinen moralischen Vorwurf für ihr Verhalten machen können, konnten sie die Verwerflichkeit in jener Zeit kulturbedingt nicht erkennen. Dass jedoch Zeitgenossen wie Aristoteles die Sklavenhaltung offen kritisiert haben, führt Moody-Adams zu der Annahme, dass Griechen schon damals ungeachtet der Anschauungen der Mehrheit die Verwerflichkeit der Sklavenhaltung erkennen konnten. Somit hielten sich die Herren aus freien Stücken ihre Sklaven, weil sie doch Gelegenheit hatten, die Verwerflichkeit ihrer Anschauungen zu erkennen. Ihnen könne infolgedessen ein Vorwurf aus ihrem Verhalten gemacht werden, Moody-Adams, Ethics 104 (1994), 291 (296 Fn. 14). 257 258
II. „Ehrenmorde“ als To¨tungen aus niedrigem Beweggrund
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Die von den Befürwortern einer „Cultural Defense“ vorausgesetzte Zwangswirkung kultureller Anschauungen nimmt in der Tat ab und bestimmt den Einzelnen umso weniger in dessen Verhalten, je mehr Angehörige seiner Gesellschaft diese Anschauungen in Frage stellen oder gar kritisieren. Jedoch ist es höchst problematisch, die Vorwerfbarkeit eines Verhaltens normativ, losgelöst von der Existenz von Kritikern der dahinter stehenden Anschauungen zu bestimmen und das auch noch unabhängig von ihrer Verbindlichkeit. Zudem belegen erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse, dass die Art der Wahrnehmung der Umwelt durchaus auch von der kulturellen Zugehörigkeit abhängt.262 Nicht alle Anschauungen sind hinsichtlich der Erwartung an Mitglieder einer Gesellschaft an gleich schwere Sanktionen gebunden. Die Vorwerfbarkeit des jeweiligen Verhaltens allein von den kognitiven Kapazitäten des Einzelnen abhängig zu machen, ohne nach der Bindungskraft der Norm zu differenzieren, überzeugt in dieser Absolutheit wenig. Wer jedoch einen freien Willen von Individuen jenseits ihrer heimatlichen Kulturanschauungen verneint, muss weitreichende Folgen in Kauf nehmen, da hierdurch letztlich die Legitimität des Strafrechts insgesamt in Frage gestellt wird. Wenn es wahr ist, dass Menschen keinen freien Willen haben, sich von ihrer Erstsozialisation zu lösen, dann lässt sich eine neu eingeführte oder neugefasste Strafnorm moralisch kaum noch begründen.263 Als Beispiel mag hier die Neufassung von § 1631 BGB durch das Gesetz vom 2. 11. 2000264 dienen. Mit dieser Neufassung hat der Gesetzgeber der rechtlichen Toleranz gegenüber elterlicher Gewalt ein Ende bereitet, so dass etwa körperliche Gewalt gegenüber Kindern als Körperverletzung bestraft werden kann.Wie lässt sich die nunmehr vorgesehene Bestrafung für die körperliche Züchtigung des eigenen Kindes legitimieren, wenn der Vater und die meisten seiner Altersgenossen von ihren Eltern die Angemessenheit körperlicher Züchtigungen als Erziehungsmittel vorgelebt bekamen? Eine im Jahr 2003 erschienene Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums und des Bundesjustizministeriums265 untersuchte die Auswirkungen des seit November 2000 ausdrücklich normierten Rechts von Kindern auf gewaltfreie Erziehung und verglich die Ergebnisse mit denen früherer ebenso repräsentativer Studien. Während 1996 noch 33,2% der befragten Eltern angaben, ihren Kindern „kräftig den Po versohlt zu haben“, waren es sechs Jahre später immerhin noch mehr als ein Viertel (26,4%). Zudem glaubten auch nach der Reform 34,5% der gewaltbelasteten Eltern, ihnen stünde ein natürliches Züchtigungsrecht zu, was auf eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit sowie die diesbezügliche richterliche Großzügigkeit in der Vergangenheit zurückgeführt wird. Zudem meinte im Jahr 2002 noch Moody-Adams, Ethics 104 (1994), 291 (298 f.). Tunick, Punishment Society 6 (2004), 395 (399) m. w. N. 263 Eingehend hierzu Williams, Free will and determinism. 264 BGBl. I S. 1479. 265 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend / Bundesministerium für Justiz (Hrsg.), Gewaltfreie Erziehung. Eine Bilanz nach Einführung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung. 261 262
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
etwa jeder zweite Jugendliche, dass seine Eltern ihn ohrfeigen dürfen. Hier soll nicht der Eindruck entstehen, die Reform sei hinsichtlich ihres Anliegens wirkungslos. Insgesamt betrachtet ist die familiale Gewalt gegenüber Kindern ihr zufolge rückläufig. Gleichwohl belegt sie, dass die Umsetzung des neuen gewaltfreien Erziehungsleitbildes intensiver Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit bedarf, deren Effekte noch einiger Zeit bedürfen. Zugleich aber zeigt dieses Beispiel, dass der Berücksichtigung kultureller Prägungen im Rahmen der Erstsozialisation bei der strafrechtlichen Bewertung entsprechend motivierten Verhaltens Grenzen gesetzt sind. Würde man die in Bezug auf Gewalterfahrungen negativen Kindheitserfahrungen gewalttätiger Eltern zu ihren Gunsten berücksichtigen, liefe das legitime gesetzgeberische Leitbild von einer gewaltfreien Kindererziehung wohl ins Leere. Man könnte entsprechend die Inability Thesis dahingehend abschwächen, dass es dem fremdkulturell geprägten Täter zwar nicht unmöglich aber zumindest vergleichsweise erschwert war, sich konform mit den hiesigen Normen zu verhalten. Der Wechsel von einem Kulturkreis in einen neuen ist durchaus mit erheblichen Belastungen für den Migranten verbunden, die seit der gleichnamigen Arbeit des Anthropologen Oberg aus dem Jahr 1954 als „Kulturschock“ bekannt sind.266 Angesichts dieser Belastungen mag der einzelne Migrant unmotiviert und außerstande sein, sich den neuen Anforderungen zu stellen. Diese Erwägung kann eine „Cultural Defense“ jedoch nur für die erste Zeit nach der Zuwanderung schlüssig begründen, besteht danach doch kein Anlass mehr für eine strafrechtliche Besserstellung, da von Zuwanderern dann erwartet werden darf, in seinem Verhalten die Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft zu kennen. Außerdem werden heimatliche Anschauungen beim integrierten Täter durch Anschauungen der Aufnahmegesellschaft überlagert, was nahe legt, die Berücksichtigung der heimatlichen Wertanschauungen von der Integrationsleistung des Täters abhängig zu machen,267 wie es die deutsche Rechtsprechung und zahlreiche Stimmen in der Literatur etwa bei der Prüfung der Motivgeneralklausel tun.268 266 Oberg, Culture Shock. Oberg beschreibt darin die Schwierigkeit von Individuen, sich in einer unvertrauten Umgebung zurechtzufinden und sich in fremde Kommunikationsprozesse einzuschalten. Der Begriff des Kulturschocks bedeutet in der Alltagssprache soviel wie „Hier gefällt’s mir nicht“, meint als wissenschaftlicher Terminus jedoch ein zunehmend aversives Erlebnis, gekoppelt mit Problemen der verhältnismäßigen Anpassung, das sich beim Betroffenen nach einem mittel- bis längerfristigen Eintritt in einen fremden Kulturkreis vollzieht und bei ihm Leidensdruck erzeugt. Zu den psychologischen Aspekten siehe Berg, Culture Shock im Handgepäck. Psychologie des Kulturkreiswechsels. 267 Anonymus, Harvard Law Review 99 (1986), 1293 (1310); Ann, Asian American Pacific Islands Law Journal 1 (1993), 49 (51); Volpp, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), 57 (61); Renteln, Review of Law and Women’s Studies 2 (1993), 437 (504); Tomao, Georgetown Immigration Law Journal 10 (1996), 241 (249). 268 Vgl. BGH NStZ-RR 2007, 86; 2004, 44; BGH bei Holtz, MDR 1997, 807 (809); Fischer, § 211 Rn. 29; Heine, Tötung aus „niedrigen Beweggründen“, S. 275; Geilen, JK 1980 StGB § 211 Nr. 5; Saliger, StV 2003, 21 (25); Otto, Jura 2003, 612 (617); MüKoSchneider, § 211 Rn. 95.
II. „Ehrenmorde“ als To¨tungen aus niedrigem Beweggrund
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Dies ist in vielerlei Hinsicht höchst bedenklich. Denn zum einen ist trotz des unverändert eminenten Stellenwertes des Integrationsbegriffs im politischen Diskurs noch weitgehend offen, ab wann ein Ausländer als „integriert“ zu betrachten sein soll. Das Bedürfnis nach Klarheit ist umso stärker, als teilweise sogar die Legitimität des Aufenthaltes in der Bundesrepublik von der Integration des jeweiligen Ausländers abhängig gemacht wird.269 Fest steht, dass Integration nicht mit Assimilation gleichgesetzt werden kann. Laut dem Bundesinnnenministerium meint „Integration“ die „Eingliederung in das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben in der Bundesrepublik“, nicht aber die „vorbehaltlose Anpassung an die deutsche Lebensart“.270 Integration mache dabei nicht bei der Einhaltung von Gesetzen halt. Vielmehr setze Integration „auf seiten der Ausländer die erforderliche Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft voraus.“271 Dazu müsse die Bundesrepublik Deutschland „den Ausländern die Teilhabe an ihrem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellem Leben ermöglichen und im Rahmen ihrer ethisch-moralischen, rechtlichen, kulturellen Wertvorstellungen Ausländern einen Freiraum für die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität lassen. Den Ausländern obliegt es, sich in die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Ordnung der BRD einzufügen, die hiesigen kulturellen und politischen Wertvorstellungen zu respektieren und sich nicht gegen ihre deutsche Umwelt zu verschließen.“272 Bedenken ergeben sich fernerhin aus der Gefahr, von der Tat selbst auf die fehlende Integriertheit des Täters zu schließen.273 Überhaupt besteht die allgemeine Tendenz, von der Ausländereigenschaft eines Menschen abzuleiten, dass dessen Fehlverhalten kulturbedingt sei. Volpp stellt fest, dass eine indische Witwenverbrennung als Erscheinungsform extremer Misogynie in Indien angesehen wird, wohingegen ein Amerikaner, der seine Frau zu Tode geschlagen hat, als sich falsch verhaltendes Individuum wahrgenommen wird. Das Verhalten des Amerikaners werde nur ihm selbst zugerechnet, nicht der US-amerikanischen Kultur.274 Auch bei Fehlverhalten deutscher Täter wird nicht an etwaige kulturelle Hintergründe 269 „Die Ausländer in Deutschland sollen frei entscheiden können, aber sie müssen sich auch entscheiden, ob sie in ihre Heimat zurückkehren oder ob sie bei uns bleiben und sich integrieren wollen.“, Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982, BTProtokolle 9 / 7219 f. 270 Jeweils Bundesministerium des Inneren, Aufzeichnungen zur Ausländerpolitik, Bonn, 1997, S. 6. Als Minimum verlange die Integration „die Bereitschaft ausländischer Familien, die Grundwerte der Verfassung der Bundesrepublik (Trennung von Staat und Kirche, Stellung der Frau) anzuerkennen und ihre Gesetze (Erfüllung der Schulpflicht) einzuhalten“ sowie ihr Interesse am Erwerb der deutschen Sprache. 271 Bundesministerium des Inneren, Aufzeichnungen zur Ausländerpolitik, Bonn, 1997, S. 3. 272 Bundesministerium des Inneren, Aufzeichnungen zur Ausländerpolitik, Bonn, 1997, S. 6. 273 Vgl. etwa Saliger, StV 2003, 21 (25); Sonnen, JA 1980, 746 (747). 274 Volpp, Columbia Law Review 101 (2001), 1181 (1187); siehe auch dies., Yale Journal of Law and the Humanities 12 (2000), 89 ff.
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
gedacht. Mag bei ausländischen Straftätern der Schluss auf die Herkunftskultur als Tathintergrund auch vielen als die beste Erklärung erscheinen, so ist hier dennoch Vorsicht geboten. Denn nur weil in einem bestimmten Land der Welt Frauen wegen ihres sexuellen Fehlverhaltens getötet werden, heißt dies noch lange nicht, dass ein aus diesem Land stammender Täter seine untreue Frau gleichsam zwanghaft wegen seiner Herkunft tötet. Vielmehr könnte ein in Wirklichkeit integrierter Täter sich wetterwendig nur deshalb auf seine Kultur berufen, weil dies ihm einen Vorteil bei der strafrechtlichen Beurteilung seines Verhaltens verspricht. Es darf nicht sein, dass dieser Täter sich kontrafaktisch auf seine Herkunftskultur beruft. Wie jedoch die Rechtsprechung hier Zweifel ausräumen und für Gerechtigkeit sorgen soll, ist unklar, bleibt doch das Kriterium der „Integriertheit“ inhaltlich zu unbestimmt und schwer bis kaum messbar. Aus einer von einem Türken begangenen Tötung, die zunächst als von archaisch-patriarchalischen Anschauungen geprägter „Ehrenmord“ erscheint, auf die fehlende Integriertheit des Täters zu schließen, würde indessen darauf hinauslaufen, dass jeder Täter eines objektiv als solcher erscheinenden „Ehrenmordes“ nicht integriert wäre und daher nicht wegen Mordes bestraft werden kann. Eine Tötung aus Eifersucht, welche nach hiesigen Wertmaßstäben unter bestimmten Voraussetzungen275 als Tötung aus niedrigen Beweggründen verstanden werden kann, würde dann als rein fremdkulturell motivierter „Ehrenmord“ eines nichtintegrierten Täters gedeutet mit der Gefahr, dass dieser in Wirklichkeit tatsächlich integrierte Täter infolgedessen nicht wegen Mordes bestraft würde. Dabei muss ein äußerlich als solcher erscheinender „Ehrenmord“ keiner sein. Es ist möglich, dass der Täter seine Ehefrau als untreu darstellt, um seine Tat zu legitimieren, obwohl er seine Frau lediglich tötete, um sich seiner Geliebten zuzuwenden und diese zu heiraten.276 Überhaupt weisen Kritiker der „Cultural Defense“ zu Recht darauf hin, dass in Tötungsprozessen die Berücksichtigung der Opferperspektive zu kurz kommt, sofern die angeklagte Straftat nicht im Versuchsstadium stecken blieb. Regelmäßig kann das Opfer naturgemäß nicht für sich sprechen. Im Gegenzug hat der Täter die Gelegenheit, sich über dessen Fehlverhalten zu äußern und das Opfer als Ehebrecherin oder auf sonstige Art schandebringende Person zu stigmatisieren. Das Opfer kann diese Interpretation nicht widerlegen und seinen eigenen Standpunkt nicht darlegen.277 Doch selbst wenn man nicht schon von der Tat auf die fehlende Integriertheit des Täters schließt, weckt die Abhängigkeit der Verurteilung wegen Mordes von der Integrationsleistung des Täters erhebliche Bedenken. Unklar ist nämlich, ab wann der Täter als integriert zu betrachten sein soll. Integration ist kein reflexartiger Vorgang im Sinne einer Totalreaktion, die entweder in Bezug auf die gesamte neue Kultur vorliegt oder gar nicht. Sie findet schrittweise statt. Wer auch auf die 275 276 277
Siehe BGHSt 3, 180; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 91. Vgl. Safilios-Rothschild, The British Journal of Sociology 20 (1969), 205 (214). Volpp, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), 57 (65).
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Integration abstellen will, um bei fremdkulturell motivierten Taten zwischen Mord und Totschlag zu differenzieren, muss daher näher festlegen, ab wann ein Täter als integriert betrachtet werden kann und ob der einzelne Täter in Anwendung dieser Maßstäbe integriert ist oder nicht. Fest steht allein, dass ein gerade erst zugewanderter Täter ohne vorherige Kontakte mit der Kultur des Einwanderungslandes nicht integriert sein kann.278 Im Übrigen droht aber die Gefahr willkürlicher Entscheidungen, da die Integrationsleistung ein in der Praxis kaum verlässlich messbares Kriterium darstellt,279 das für die angesichts der höchststrafebedingten erforderlichen Klarheit in der Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag wenig taugt. Wer vom Gegenteil ausgeht, begreift die Kultur unzulässigerweise als etwas Ganzes oder Unteilbares. Tatsächlich ist jede Kultur aber hochkomplex und kann allenfalls in ihren einzelnen Elementen internalisiert werden. Dementsprechend kann ein Ausländer sich rasch in einer Hinsicht anpassen, in anderer Hinsicht aber Probleme mit einer Anpassung haben.280 Viele Migranten werden durch mehrere Kulturen geprägt und sind, je nach Situation und Vorteilsabwägung, in einer Hinsicht an die neue Kultur angepasst und in anderer nicht.281 Zum Beispiel kann sich ein Ausländer aus einem kommunistischen Staat etwa rasch an die hiesige Marktwirtschaft anpassen, zugleich aber die Geschlechterrollen ablehnen. Hier erscheint fraglich, ob dieser Ausländer sich an die hiesigen Verhältnisse angepasst hat. Die Rechtsprechung wird es kaum zu tun haben mit rein fremdkulturell orientierten Menschen. In der Regel sind die Täter in vielerlei Hinsicht integriert und haben Kenntnis von der Bewertung ihrer Tatmotive nach hiesigen Wertanschauungen. Sie können insoweit nicht mit den Menschen aus ihrer Herkunftsregion gleichgestellt werden. Vor diesem Hintergrund könnte man von einem „Ehrenmord“ auf die fehlende Internalisierung der hiesigen Geschlechterrollen beim ausländischen Täter schließen, was jedoch die oben bereits dargestellten Probleme impliziert und daher ablehnungswürdig ist. Um die Integriertheit des Täters etwas verlässlicher bestimmen zu können und mehr Rechtssicherheit zu schaffen, schlagen einige Befürworter der „Cultural Defense“ feste Zeitgrenzen vor, nach denen sich ausländische Täter nicht mehr auf ihre Heimatkultur berufen können sollen. De Benedictis fordert, dass die „Cultural Defense“ bei Tätern nach zehnjährigem Aufenthalt im Ausland unzulässig sein soll.282 Ma stimmt ihm zu, soweit es um ältere Immigranten geht; im Übrigen sollen fünf Jahre Aufenthalt zur Anpassung genügen.283 Die Fünfjahresgrenze lehnt sich an die Aufenthaltsdauer an, nach der sich ein Einwanderer in den Vereinigten 278 Anonymus, Harvard Law Review 99 (1986), 1293 (1299); Torry, Journal of Legal Pluralism 1999 (44), 127 (130) m. w. N. 279 Torry, Crime, Law & Social Change 36 (2001), 309 (321 f.). 280 Chiu, Pacific Basin Law Journal 8 (1994), 1053 (1101 f.). 281 Torry, Journal of Legal Pluralism 1999 (44), 127 (139). 282 De Benedictis, ABA Journal 1992, 28 (29). 283 Ma, San Diego Justice Journal 3 (1995), 461 (462).
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Staaten einbürgern lassen kann, so dass die Grenze hierzulande in Anlehnung an § 10 StAG bei acht Jahren liegen müsste. Zudem verneint Ma die Zulässigkeit einer „Cultural Defense“ für ausländische Täter der zweiten oder späteren Generation.284 Chiu macht demgegenüber darauf aufmerksam, dass Zeitgrenzen sich nicht als Abgrenzungskriterium anbieten, denn ein seit 20 Jahren in den USA lebender Chinese, der in Chinatown wohnt und der englischen Sprache kaum mächtig ist, müsste sich auf die „Cultural Defense“ berufen können, während eine Zulässigkeit bei einer Philippina sehr in Frage steht, die erst vor einem Jahr einwanderte, um ein Graduiertenkolleg an der Universität von Berkeley zu besuchen. Macht man die Zulässigkeit von einer Zehnjahresgrenze abhängig, so könnte sich der Chinese trotz seiner mangelhaften Integration nicht auf seine Herkunftskultur berufen, während der Philippina diese Möglichkeit offenstünde.285 Diesem Gedanken trägt im Übrigen auch das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht in §§ 10, 11 StAG Rechnung, indem es dem ausländischen Antragsteller die Einbürgerung selbst nach achtjährigem rechtmäßigen Aufenthalt im Inland nicht bedingungslos ermöglicht, sondern von ihm ein ausdrückliches Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes sowie ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verlangt. Auch der Gesetzgeber hält es damit keineswegs für selbstverständlich, dass ausländische Mitbürger nach achtjährigem Aufenthalt im Inland schon allein deswegen als integriert zu betrachten sind. Wegen der dargestellten Nachteile plädieren einige Autoren für klare Zeitgrenzen, die aber nicht rigide angewendet werden sollen; sollte die Zeitgrenze im Einzelfall überschritten sein, müssten die Gerichte gleichwohl prüfen, ob der Angeklagte Gelegenheit zur Anpassung an die Mehrheitskultur hatte.286 Doch auf die tatsächliche Integration kommt es auch hier nicht an, vielmehr wird die Anpassung des Täters normativ untersucht. Andere Autoren wollen gänzlich auf präzise Zeitrahmen verzichten, da nicht ausgemacht sei, dass ein Täter sich nach wenigen Jahren an die neue Kultur anpassen könne.287 Letztlich sind klare Zeitgrenzen zu starr, wohingegen ein zu weiter zeitlicher Spielraum dem Erfordernis der Rechtsklarheit zuwiderläuft, öffnet er doch willkürlichen Beurteilungen Tür und Tor. Es spricht daher einiges dafür, die Integrationsleistung ausländischer Täter von der Schwere ihrer Bestrafung zu lösen.
Ma, San Diego Justice Journal 3 (1995), 461 (483). Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1102). 286 Sams, Georgia Journal of International and Comparative Law 16 (1986), 335 (347); Volpp, Harvard Women’s Law Journal 17 (1994), 57 (70); Anonymus, Harvard Law Review 99 (1986), 1293 ff. 287 Renteln, Review of Law and Women’s Studies 2 (1993), 437 (496); Lam, Asian American Pacific Islands Law Journal 1 (1993), 49 (51). 284 285
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bb) Verhältnis der heimatlichen zur hiesigen Kultur Eine weitere Prämisse der „Cultural Defense“ betrifft das Verhältnis der Heimatkultur des Täters zur Kultur der strafenden Gesellschaft; demnach ist eine abweichende Bewertung fremdkulturell motivierter Taten allein dann legitim, wenn sich die hiesigen Anschauungen und diejenigen der Fremdkultur grundlegend unterscheiden. Andernfalls besteht überhaupt kein Grund, den fremdkulturell geprägten Täter anders zu behandeln als einen „gewöhnlichen“ Täter. Diese Prämisse umfasst zwei zu untersuchende Aspekte, namentlich den Beleg der Existenz einer fremdkulturellen Norm samt Identifizierung ihres Inhaltes sowie fernerhin die Feststellung eines diametralen Abweichens dieser Norm von den hiesigen Anschauungen. (1) Fiktion des Täters als in einer statischen und uniformen Kultur Gefangener Auch Anschauungen anderer gesellschaftlicher Minderheiten wie etwa rechtsextremer Gruppierungen finden keine Berücksichtigung im Strafrecht. Nach der Logik der Befürworter der „Cultural Defense“ müssten auch hier die jeweiligen sozialen Anschauungen, zum Beispiel im Fall der Tötung eines Ausländers aus Rassenhass berücksichtigt werden. Dass dieses Ergebnis unhaltbar ist, dürfte auf der Hand liegen. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit rechtfertigt – jedenfalls isoliert – keine vom Üblichen abweichende rechtliche Beurteilung einer Straftat. Überzeugungskraft gewinnt der Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Minderheit und der hiermit verknüpften Diskriminierungsgefahr in einem demokratischen Strafrechtssystem erst durch die Erweiterung um die Prämisse, dass Ausländer nach einem Wertesystem erzogen wurden, von dem sie sich nicht lösen konnten und für das sie daher nicht zur Verantwortung gezogen werden können wie der rechtsextreme Täter, der ja nach einer üblichen Sozialisierung nach deutschen Werten erzogen wurde und sich erst später „freiwillig“ für seine rechtsextreme Einstellung entschieden hat. Diese auch in der deutschsprachigen Rechtsliteratur vertretene Ansicht288 wird jedoch der Komplexität der Sache kaum gerecht und ist im Übrigen hinsichtlich der Wahrheit ihrer Aussage äußerst fraglich. Zunächst wird als selbstverständlich unterstellt, dass Deutsche entsprechend eines allgemeinen Wertekanons erzogen werden, der gleiche Voraussetzungen für alle schafft und der es rechtfertigt, sie ohne Ansehung ihrer Überzeugungen zu bestrafen. Ob Angehörige einer Kulturgemeinschaft alle im Sinne eines allgemeinen Wertekanons erzogen werden, ist jedoch sehr fraglich. Des Weiteren stellen neuerdings auch Vertreter der Memetik289 in Frage, ob Menschen im weiteren LeSonnen, JA 1980, 746 (747); Saliger, StV 2003, 21 (24). Die auf den Biologen Richard Dawkins zurückgehende Memetik befasst sich als Gegenstück zu Darwins biologischer Evolutionstheorie mit der kulturellen Evolution. Sie glie288 289
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
bensverlauf neue Überzeugungen überhaupt „freiwillig“ annehmen, also in einer bewussten und von äußeren Einflüssen völlig freien Willensentscheidung. Sie erklären, dass die Weichen für später angenommene Anschauungen bereits durch frühere Prägungen gestellt und durch diese bedingt werden, so dass hinsichtlich der Anschauungen jedes Menschen Zweifel an der Freiwilligkeit bestehen, weil hier äußere sowie frühere Einflüsse bestimmend wirken.290 Dementsprechend müsste eine „Cultural Defense“ folgerichtig für jeden Überzeugungstäter anerkannt werden. Dann aber müsste auch ein Mitglied einer ausländerfeindlichen Gruppierung milde bestraft werden, das unter enormem Druck seine Schwester tötet, weil ihre Beziehung mit einem Menschen afrikanischer Herkunft von ihm als unehrenhaft und seiner Familienehre schadend angesehen wird.291 Selbst wenn man vom Gegenteil ausgeht und annimmt, jedermann könne sich frei für oder gegen bestimmte Anschauungen entscheiden, solange diese nicht im Rahmen der Erstsozialisation vermittelt wurden, verbleiben erhebliche Zweifel an der Wahrheit der Aussage, dass Ausländer nach einem Wertesystem erzogen wurden, von dem sie sich nicht lösen konnten. Die Idee einer „Cultural Defense“ impliziert die fragliche Annahme, dass jede Kultur statisch, eindimensional und klar identifizierbar ist.292 Die hiermit konstruierte Uniformität der in der Heimatkultur vermittelten Anschauungen, die dann ja bei jedem oder zumindest den meisten Angehörigen der jeweiligen Region die gleichen sein müssten, entspricht nicht der Realität. Eine UNDP / UNFPA-Studie, die das türkische Ehrverständnis untersuchte, führte zu dem Ergebnis, dass die Meinungen zum Ehrbegriff und zu der Schwere von zu ergreifenden Sanktionen im Fall eines entsprechenden Fehlverhaltens im Einzelnen erheblich voneinander divergierten.293 Auch in der Anthropologie wird unter Einräumung einer gewissen Mitschuld an dem weitläufigen Missverständnis von Kulturen als etwas Uniformem, Statischem, Objektivierbarem der Vorstellung entgegengetreten, die Kultur könne Menschen zu einem bestimmten Verhalten zwingen, als hätten diese im Gegensatz zu Menschen aus Industrienationen keine eigenen Antriebe oder einen eigenen Willen.294 Das Abstellen auf eine uniforme, statische Kultur geht zudem zu Lasten der jüngeren Generationen, deren kulturelle Identität mit derjenigen ihrer Eltern gleichgesetzt wird. Wikan weist darauf hin, dass die automatische Gleichsetzung der Elternkultur mit derjenigen ihrer Kinder so gut wie nie hinterfragt wird. Dass sich die Anschauungen jüngerer Generationen in westlichen Gedert die inhaltlichen Bestandteile einer Kultur in „Meme“, worauf ihr Name zurückzuführen ist. Seit kurzem übertragen Wissenschaftler vor allem im angelsächsischen Raum die Memetik auf das Recht. Eingehend zum Verhältnis zwischen Memetik und Recht Henke, HFR 2007, 1 ff. 290 Gordon, Duke Law Journal 50 (2001), 1809 (1824 f.). 291 Phillips, When culture means gender, S. 33. 292 Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1099). 293 UNDP / UNFPA, The Dynamics of Honor Killings in Turkey. 294 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (62).
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sellschaften in manchen Fragen diametral von denen ihrer Eltern unterscheiden, wird wohl niemand bestreiten. Bei Kindern von Migranten ist das anders; die Anschauungen ihrer Eltern werden ihnen gedankenlos zugeschrieben, als hätten sie keinen eigenen Willen.295 Würden kulturelle Anschauungen von Generation zu Generation weitergegeben, ohne dass die jüngere Generation diese auf den Prüfstand stellt, so wäre etwa der Kreislauf elterlicher Gewalt wohl nie zu durchbrechen; Eltern, die es selbst nicht anders erfahren haben, würden ausnahmslos ihre Kinder schlagen, und jene wiederum eines Tages ihre eigenen Kinder. Bei der Art des Umgangs der Gesellschaft mit elterlicher Gewalt handelt es sich auch um eine Frage der Kultur. Mag es hier zwar nicht um einen Aspekt der Hochkultur gehen wie etwa Literatur, bildende Kunst oder institutionalisierte Traditionen, so geht es doch um die Frage der Haltung der Gesellschaft zu einem verbreiteten Verhaltensmuster, nämlich um die Frage, ob die Gesellschaft elterliche Gewalt toleriert beziehungsweise legitimiert oder ob das Ideal einer gewaltfreien Erziehung dominiert. Konnten Eltern weitgehend davon ausgehen, niemanden schlagen zu dürfen, es sei denn, es war das eigene Kind, so hat der Gesetzgeber mit der Neufassung von § 1631 BGB der rechtlichen Toleranz gegenüber elterlicher Gewalt ein Ende bereitet. Geht man von einem statischen Kulturbild aus, dürfte sich das gesetzgeberische Ideal einer gewaltfreien Erziehung schlechterdings nicht realisieren lassen. Das Strafrecht muss damit voraussetzen dürfen, dass Menschen bei gegebenem Anlass Distanz zu dem nehmen, was sie im Rahmen ihrer Sozialisation gelernt haben. Das Gesetz kann von Eltern erwarten, ihren Kindern gegenüber keine Gewalt mehr anzuwenden, und im Fall einer Zuwiderhandlung mit Strafe drohen. Das Gesetz kann aber auch von Zuwanderern erwarten, bei ihrer Einreise in eine westliche und industrialisierte Gesellschaft archaisch-patriarchalische Wertvorstellungen in Frage zu stellen. Geht von diesen Zuwanderern nach hiesigen Maßstäben strafbare, aber von ihrer Heimatkultur legitimierte Gewalt aus, so dürfen sie in ihrem Vertrauen kaum schutzwürdig sein, dass ihre Bindung an die gewaltlegitimierenden Anschauungen hierzulande berücksichtigt wird. Andernfalls müssten sich auch Eltern auf ihre Gewalterfahrungen als Kind berufen können, um ihr Verhalten in strafrechtlicher Hinsicht in ein anderes Licht zu rücken. (2) Diametrales Abweichen der fremdkulturellen von den hiesigen Anschauungen Die fast reflexartige Erklärung, die Taten ausländischer Täter seien durch ihre Kultur begründet, betont im Ergebnis kulturelle Unterschiede, sie reproduziert und perpetuiert hierdurch unreflektierte, stereotype Wahrnehmungen des nichtwestlichen „Anderen“.296 Selbst ein nach Anschauungen der jeweiligen Minderheits295
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kultur als ungewöhnlich bewertetes Verhalten erscheint so als typische Folge ebenjener kulturellen Anschauungen, wohingegen bei deutschen Tätern deren Kultur nicht als solche wahrgenommen wird. Hier käme niemand von sich aus auf den Gedanken, ihren kulturellen Hintergrund zu ihren Gunsten in Ansatz zu bringen, werden westliche Täter doch als grundsätzlich vernunftbegabte und anpassungsfähige Menschen wahrgenommen, während Ausländer als Opfer ihrer eigenen Kultur verstanden werden.297 Chiu macht darauf aufmerksam, dass der Rückgriff auf die Kultur ausländischer Täter eine nur vermeintliche Political Correctness ausdrückt, hinter der sich tatsächlich aber eine Missachtung äußert: „In the nineteenth century, white society viewed Asian people as barbaric and uncultured in comparison to white people. The twentieth century corollary is that while Asian people are neither inferior nor backwards, their culture is.“298
Die hiesige Rechtsprechung verleitet zu dem Eindruck, alle ost- und südostanatolischen Männer seien – anders als Deutsche – extrem eifersüchtig sowie gewohnt und willens, weibliche Familienangehörige im Fall sexuellen Fehlverhaltens zu töten.299 Die Rechtsprechung lädt zudem fremdkulturell geprägte Menschen dazu ein, ihre Kultur beizubehalten, selbst wenn sie den hiesigen Vorstellungen von Freiheit zuwiderlaufen. Auf diese Weise erleichtert sie die Bildung und das Fortbestehen kultureller Enklaven. Tatsächlich greifen Ausländer diese rassistisch geprägten Wahrnehmungen des Andersseins in ihrem Verhalten auf und fördern sie auf diese Weise: „Whereas ,we‘ regard ourselves as thinking, reasoning, acting human beings with the ability to reflect and respond to changing circumstance, ,they‘ are portrayed as caught in the web of culture and propelled to do as culture bids. [ . . . ] It is a sad fact of life that many immigrants are also actively reappropriating this model. But in so doing they are actually lending support to a racist model of themselves. For what is racism other than degradation of persons on the basis of inborn or ethnic characteristics? [ . . . ] Antiracism, by this logic, consists in applying the same model of the human being to natives and immigrants alike, taking them all on earnest as thinking, reasoning, acting human beings.“300
Um rassistischen Wahrnehmungen fremder Kulturen entgegenzuwirken und die Integration von Zuwanderern zu fördern, ist es nach Wikan notwendig, fremde Kulturen nicht allein in Bezug auf die Unterschiede zur eigenen Kultur zu begreifen, sondern auch Gemeinsamkeiten zu berücksichtigen.301 Übertragen auf das Strafrecht müsste dann von den Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft aus296 Phillips, When culture means gender, S. 11 f.; Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1103). 297 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (58). 298 Chiu, California Law Review 82 (1994), 1053 (1110). 299 Über die verletzende Wirkung derartiger Feststellungen vgl. Alfieri, Texas Law Review 76 (1998), 1293 (1354 f.). 300 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (58). 301 Wikan, Social Anthropology 7 (1999), 57 (63).
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gegangen werden, wobei die kulturellen Hintergründe des Täters allein dafür berücksichtigt werden sollen, um die Tat besser in die Kategorien der strafenden Gesellschaft einordnen zu können. Dies soll jedoch nur dann gelten, wenn bei einem bloßen Blick auf das Täterverhalten ohne Kenntnis des kulturellen Hintergrundes eine strafrechtliche Beurteilung erschwert oder unmöglich ist.302 Mit einem solchen interkulturellen Strafrecht könnte verhindert werden, dass mit der Berücksichtigung fremdkultureller Bindungen die allgemeine Geltung des Rechts in Frage gestellt wird, indem die Geltung bestimmter Normen von der Zugehörigkeit zu einer Minderheit abhängt. Der universellen Geltung des Rechts droht im Falle einer Anerkennung der „Cultural Defense“ ferner ein Dammbruch, denn auch viele nichtethnische Gruppen haben von denen der Mehrheit abweichende Anschauungen, die dann konsequenterweise auch zu ihren Gunsten berücksichtigt werden müssten. Überhaupt fragt sich, ob dann nicht letztlich die Zugehörigkeit zu einer Gruppe über das anzuwendende Recht entscheidet.303 Die Berücksichtigung kultureller Vielfalt führt infolge des Schaffens solcher Ausnahmetatbestände zur Unterminierung der Rechtsordnung. Ein homogen angewendetes Strafrecht schafft einen Rahmen, innerhalb dessen man sich auf die Geltung und Beachtung von Normen verlassen kann. Schafft man unter dem unbestimmten Schlagwort „Kultur“ weit reichende Ausnahmetatbestände, erschüttert dies das Vertrauen der Gesellschaft in die Geltung strafrechtlicher Normen. Eine homogene Strafrechtsanwendung bevorzugt auch nicht die Angehörigen der hiesigen Mehrheitsgesellschaft, deren parlamentarische Vertreter Urheber der Strafrechtsnormen sind. Zwar darf man Volpp zufolge nicht der Fehlannahme verfallen, das Gesetz verhalte sich neutral zu Kulturen und damit auch zur Kultur der Mehrheitsgesellschaft. Daher laufe eine Ablehnung einer „Cultural Defense“ im Ergebnis darauf hinaus, dass sich die Kulturnormen der Mehrheitsgesellschaft im Wege der Anwendung des vermeintlich neutralen Strafgesetzes durchsetzen.304 Wenn dem so ist, sind Angehörige von Minderheiten einem Nachteil ausgesetzt. So gesehen bedürften inländische Täter keiner „Cultural Defense“, da ihre Anschauungen bereits formell Eingang ins Strafrecht gefunden haben. In der Tat muss kein Täter einer Tötung auf Verlangen mehr darlegen, dass die deutsche Kultur die Tötung auf ernstliche Bestimmung des Getöteten hin milde beurteilt. Insoweit schafft § 216 StGB Klarheit. Was aber fremdkulturelle Motive einer Tötung wie etwa die hinter einem „Ehrenmord“ stehenden Tatantriebe angeht, so findet sich im deutschen Strafgesetzbuch keine Vorschrift, die ein solches Motiv per se als strafmildernd einstuft. Es entsteht der erste Eindruck, als bevorzuge das nationale Strafrecht die jeweilige Kultur und zwar auf Kosten fremdkulturell geprägte Täter. Allerdings ist das deutsche Strafrecht nicht zwingend der Spiegel der hiesigen sozialen Wertanschauungen, sondern vielmehr eine alternative, in sich geschlossene 302 303 304
Phillips, When culture means gender, S. 36 ff. Phillips, When culture means gender, S. 6 f. Volpp, Columbia Law Review 96 (1996), 1573 (1612).
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C. Die strafrechtliche Behandlung nach deutschem Strafrecht
Wertstruktur. Nicht alles gesellschaftlich Geächtete ist strafbar, und nicht alles Strafbare ist zugleich auch gesellschaftlich geächtet. Längst haben sich Recht und allgemeine Sittlichkeit auseinanderentwickelt. Man kann also nicht das Strafrecht mit dem Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheitsbevölkerung gleichsetzen, so dass die Vorstellung einer Bevorzugung der Mehrheitsgesellschaft Zweifeln begegnet. Insofern sind bei einer gleichförmigen Strafrechtsanwendung Ausländer nicht in dem Maße benachteiligt, wie dies oftmals angenommen wird. Eine gleichförmige kritische Strafrechtsanwendung würde zudem helfen, auch die Mehrheitsgesellschaft als von häuslicher oder anderen weitverbreiteten Formen von Gewalt betroffen wahrzunehmen und dieses Problem effektiver zu bekämpfen. Außerdem kann dem oft aufkommenden Eindruck entgegengewirkt werden, Gewalt gegen Frauen sei eher im Migrantenmilieu verbreitet. Volpp kritisiert, dass kulturelle Muster hinter häuslicher Gewalt in westlichen Kulturen oftmals ignoriert werden: „We identify sexual violence in immigrants of color and Third World communities as cultural, while failing to recognize the cultural aspects of sexual violence affecting white mainstream women. This is related to the general failure to look at the behavior of white persons as cultural, while always ascribing the label of culture to the behavior of minority groups.“305
Ein hiermit verbundenes feministisches Argument weist darauf hin, dass die meisten Kulturen im Kern darauf abzielen, die Kontrolle der Männer über die ihnen untergeordneten Frauen abzusichern.306 Unterstellt man die Richtigkeit dieser These, würde dies zur Folge haben, dass die Anerkennung einer „Cultural Defense“ patriarchalische Anschauungen begünstigt und erhält.307 Zur Widerlegung dieser These könnte man auf den Fall von Kimura verweisen, die von ihrer Zugehörigkeit zur japanischen Kultur profitiert zu haben scheint. Es scheint also nicht nur für Männer von Vorteil zu sein, wenn die „Cultural Defense“ ein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz wäre. Moller Okin weist indessen darauf hin, dass selbst dort, wo Frauen von einer Kulturanschauung begünstigt zu sein scheinen, immer noch diskriminierende Elemente durchscheinen.308 Die Entscheidung im Fall Kimura normalisiere und legitimiere implizit das Schamgefühl einer vom Mann betrogenen Frau, anstelle diese Vermutung in Frage zu stellen. Auch wenn Kimura als Individuum im Ergebnis von der Berücksichtigung des kulturellen Hintergrunds profitiert hat, so geht diese Rechtsgunst zu Lasten der Gesamtheit der Frauen.309 Phillips macht anhand ausgewählter englischer Gerichtsfälle die Beobachtung, dass ausländische Täterinnen, deren Tat ihre Unterordnung gegenüber ihrem Mann Volpp, Columbia Law Review 101 (2001), 1181 (1189). Moller Okin, Ethics 108 (1998), 661 (667). 307 Phillips, When culture means gender, S. 8 ff.; Lee, Murder and the Reasonable Man, S. 108; Maguigan, New York University Law Review 36 (1995), 70. 308 Moller Okin, Is Multiculturalism Bad for Women?, 19. 309 Phillipps, When culture means gender, S. 9 f. 305 306
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belegen, milde bestraft werden. Demonstriert die Tat jedoch die Emanzipiertheit der Täterin, werde die Heimatkultur völlig ausgeblendet.310 cc) Zwischenergebnis Die Würdigung der Argumente für und wider die formelle Anerkennung einer „Cultural Defense“ im angloamerikanischen Rechtskreis hat auch solche Probleme aufgezeigt, die bei der hiesigen Diskussion um die Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen unberücksichtigt bleiben. Die strafrechtliche Reaktion auf eine Tat von fremdkulturellen Prägungen abhängig zu machen, muss bei konsequenter Umsetzung dieses Gedankens zur Erörterung von Umständen führen, die sich oft genug nicht sicher nachweisen lassen werden. Ob bestimmte Anschauungen tatsächlich in der Sozialisation des Täters eine nennenswerte Rolle gespielt haben, ob diese Anschauungen in der Heimatkultur nicht bloß von Sektierern vertreten werden, wie die Heimatkultur zu bestimmen und einzugrenzen ist, ob hinter der Tat nicht vielmehr individuelle beziehungsweise psychische Gründe und weniger sozialisationsbedingte Gründe standen, ob das Tatverhalten überhaupt zwanghaft zu nennen sein kann, ob der Täter sich bereits integriert hat und ab wann ein Ausländer als hinreichend integriert zu betrachten ist, ob sich die in der Tat ausdrückende Anschauung auch wirklich diametral von den hiesigen Anschauungen unterscheidet – dies sind nur einige Feststellungen, die sich aus der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen ergeben. Hinzu kommt die Frage, was eigentlich den fremdkulturell geprägten Täter – begreift man eine Kultur als auch von ethnischen Gemeinsamkeiten der Angehörigen abhängig – vom subkulturell geprägten Menschen unterscheidet – anders ausgedrückt: Warum stellt sich die Frage der Berücksichtigung abweichender Anschauungen nicht auch bei Sektenmitgliedern? Es ist sicher ein Irrglaube, alle Deutschen seien nach einem gleichen Wertkodex erzogen worden und subkulturell motivierte Täter hätten sich von dieser gleichförmigen Sozialisation in einem freiwilligen Abkehrprozess zu ihrer Subkultur gewandt. Auch bei Angehörigen von Subkulturen kann diese Zugehörigkeit schicksalhaft sein, etwa bei in „national befreiten Zonen“ aufgewachsenen deutschen Tätern, die einen Ausländer aus Rassenhass töten. Selbst wenn ein deutscher Täter aber in einem 310 Phillips berichtet unter anderem von der zu lebenslanger Haft verurteilten Zoora Shah, die den Heroindealer Mohammed Azam getötet hatte. Azam hatte Shah laut ihrer Aussage wiederholt körperlich misshandelt und vergewaltigt, seine Partner zum Geschlechtsverkehr mit ihr ermuntert und sexuelles Interesse an ihrer zwölfjährigen Tochter entwickelt. Das Gericht schenkte Shahs Aussage keinen Glauben, weil sie sich wegen dieser Probleme zuvor an niemanden gewandt hatte. Dass Shahs kulturbedingte Vorstellung von Ehre ihr Schwierigkeiten bereitet haben könnte, sich mitzuteilen, ließen die Richter unberücksichtigt. Vielmehr habe sie schon angesichts ihres Lebenswandels dermaßen an Ehre eingebüßt, dass von einer schützenswerten Ehre kaum noch die Rede sein könne. „Ehre“ gestanden die Richter also nur sexuell reinen, passiven Frauen zu, wohingegen aktive und starke Frauen nicht vorbringen konnten, eine lange Leidensgeschichte aus Scham für sich behalten zu haben. Phillips, When culture means gender, S. 26 ff.
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gewöhnlichen Umfeld sozialisiert wurde, kann er schicksalhaft in die Frage einer subkulturellen Gemeinschaft geraten sein, die eine derart starke Bindungskraft auf ihn ausübt, dass sich die Frage der Berücksichtigung auch solcher Bindungen bei der Prüfung des Motivationsbeherrschungspotentials stellen müsste. Zu denken ist hier etwa an fanatisierte Sektenmitglieder. Jedenfalls überzeugt der völlige Ausschluss dieser Personen aus dem Täterkreis, bei dem das Motivationsbeherrschungspotentials eingehender Prüfung bedarf, in dieser Absolutheit nicht, wenn man eine solche Prüfung bei fremdkulturell geprägten Tätern fordert. Die Beschränkung der Berücksichtigung der kulturellen Anschauungen auf fremdkulturelle überzeugt auch nicht mit Blick auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1956, in welcher dieser bezogen auf die Großmutter niedrige Beweggründe annahm, die aus übersteigertem Ehrverständnis gemeinsam mit dem Großvater ihr Enkelkind kurz nach seiner Geburt tötete, weil es unehelich zur Welt kam.311 Der Bundesgerichtshof bejahte hier die niedrigen Beweggründe mit Blick darauf, dass die Großmutter das Leben eines Menschen ihrem Geltungsbedürfnis und ihrem übersteigerten Ehrgefühl opferte, für das sie als Großmutter besondere Pflichten hatte. In seiner Anmerkung zu diesem Urteil äußerte Dreher demgegenüber Verständnis für das Tatmotiv der Großmutter. In der Familie habe „etwas von der Luft der Hebbel’schen Maria Magdalena und der Stücke Gerhart Hauptmanns [geweht], der Luft einer Dichtung, die gerade zeigen wollte, wie aus Motiven, die keineswegs niedrig sind, menschliche Katastrophen erwachsen können. Nicht umsonst sehen Länder des romanischen Rechtskreises für gewisse Tötungen aus Gründen der Familienehre einen milderen Strafrahmen vor. [ . . . ] Wenn gerade das, was die Tat des Mannes menschlich verständlicher macht, ihn zum Mörder statt zum Totschläger werden ließe, so wäre [§ 211] Abs. 2 verfehlt.“312 Spätestens über fünfzig Jahre nach Drehers Urteilsanmerkung ist die Verneinung niedriger Beweggründe auf objektiver Ebene bei Tötungen aus übersteigertem Ehrgefühl ein kaum tragbares Ergebnis. Dann müsste ja auch Kriemhilds Rache selbst an Unbeteiligten im Nibelungenlied eine durchweg positive Bewertung des Blutrachemotivs nach sich ziehen. Es mag aber durchaus sein, dass den Großeltern damals die Fähigkeit fehlte, ihre gedanklichen Regungen zu beherrschen und zu steuern. Das Paar lebte in dörflichen Verhältnissen und hatte erst bei Einsetzen der Geburtswehen von der Schwangerschaft ihrer unverheirateten Tochter Kenntnis genommen. Die Tat folgte auch unmittelbar auf die Kenntnisnahme dieser Tatsache, die in der Bundesrepublik in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gerade auf dem Lande bekannterweise soziale Ächtung und damit völlige Isolation bedeuten konnte. Die unerwartete Konfrontation mit diesem als Schande empfundenen Umstand mag die Eheleute völlig überfordert und zu der Tat verleitet haben. Dreher stellt das Tatmotiv der Großeltern im Ergebnis in einen kulturellen Kontext, so dass der Vorsatzlösung folgend das eigentliche Problem 311 312
BGHSt 9, 180. Dreher, MDR 1956, 498 (501).
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sich bei der Frage der Fähigkeit der Großeltern hätte stellen müssen, ihre gedanklichen Regungen zu beherrschen und zu steuern. Es geht hier auch nicht um subkulturelle Prägungen, weil die Vorstellung von der Unehrenhaftigkeit einer unehelichen Geburt damals noch weit verbreitet war. Wenn der Bundesgerichtshof damals nicht einmal in Frage gestellt hat, ob sich die Großeltern zur Tatzeit noch beherrschen konnten, kann man zwischen den Zeilen erkennen, dass für ihn die Selbstbeherrschung und Besonnenheit der Großeltern zu Recht eine Selbstverständlichkeit war, die keiner näheren Erörterung bedurfte. Bei ausländischen Tätern erachtet der Bundesgerichtshof aber – abgesehen von überlegten Tötungen – die Selbstbeherrschung zum Tatzeitpunkt mit Blick auf deren Sozialisation und die hieraus erwachsenden Bindungen für erörterungsbedürftig. Damit behandelt der Bundesgerichtshof die Sozialisation von Deutschen und von Ausländern mit zweierlei Maß, weil er deutschen Tätern ein Mehr an Selbstbeherrschung abverlangt als ausländischen Tätern. Dem liegt ein diskriminierendes Bild von ausländischen Tätern zugrunde, das sich freilich im Ergebnis zu deren Gunsten niederschlägt. Dass aber die Ausländereigenschaft des Täters Anlass zu der Frage gibt, ob dieser sich aus freien Stücken für das Unrecht entschieden hat oder zur Tat gleichsam getriebenes „Werkzeug“ seiner Kultur war, wird bei kulturell motivierten Tötungen deutscher Täter nicht einmal angedacht, obwohl die Motivationslagen im Einzelfall identisch sein mögen. Kulturelle Muster hinter von deutschen Tätern begangenen Taten werden ignoriert, wohingegen diese Muster bei ausländischen Tätern überbetont werden. Dieses Konzept ausländischer Täter als willensschwache Wesen, von denen die Einhaltung selbst elementarster Normen des menschlichen Zusammenlebens weniger erwartet werden könne, ist nicht nur tendenziell diskriminierend und anmaßend, sondern es verschließt sich zudem auch aus den genannten Gründen einer objektiv nachweisbaren Grundlage. Losgelöst von der Frage einer generellen Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen im Strafrecht, die hier nicht zu erörtern ist, sprechen die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Debatte um die „Cultural Defense“ für eine Gleichbehandlung fremdkulturell motivierter Täter mit anderen Tätern: Entweder dürfen fremdkulturelle Prägungen bei der Prüfung der Motivgeneralklausel überhaupt keine Rolle spielen oder kulturelle – auch subkulturelle – Prägungen sollten unabhängig von der Herkunft des Täters – also auch bei deutschen Tätern – gleichermaßen intensiv in den Blick genommen werden. Schon aus positiv-generalpräventiven Gründen erscheint die erste Alternative vorzugswürdig. Es fragt sich nun, wie diese Befunde im Einzelnen künftig bei der Bestrafung von „Ehrenmorden“ berücksichtigt werden können.
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b) Diskriminierungsfreie Bestrafung von „Ehrenmorden“ Das auch verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Recht auf bestimmte Strafvorschriften soll dem Einzelnen das Wissen darum ermöglichen, was strafrechtlich verboten und mit welcher Strafe es sanktioniert ist, damit er sein Verhalten danach ausrichten kann. Außerdem besitzt Art. 103 Abs. 2 GG eine kompetenzwahrende Funktion, da er die Bestimmungsmacht des Parlaments herausstellt und die Entscheidung über Grundrechtsbeschränkungen ihm allein anvertraut.313 Die Strafvorschrift muss dabei umso präziser gefasst sein, je schwerer die angedrohte Strafe ist.314 Übertragen auf den Mordtatbestand bedeutet dies ein verfassungsrechtliches Gebot, die damit verbundene Höchststrafe an klar umrissene Mordmerkmale zu knüpfen. Geht es nach dem geistigen Urheber des derzeit geltenden Mordtatbestandes, würde § 211 StGB diese Voraussetzungen erfüllen. Der Mordtatbestand in seiner aktuellen Fassung geht auf einen Entwurf des Schweizerischen Strafgesetzbuchs von Carl Stooss zurück, der jedoch das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe gerade nicht erfasste.315 Stooss erläuterte in seiner Anmerkung zu der Mordvorschrift in Art. 50 des Entwurfs: „Für den Richter wird es sicher nicht schwer sein, zu entscheiden, ob Mord oder Totschlag vorliegt; denn die Merkmale des Mordes sind aus den Umständen des Falles leicht zu erkennen.“316 Dieses Versprechen blieb – zurückhaltend gesprochen – unerfüllt, wenn man sich einmal die gut nachvollziehbare wachsende Verunsicherung der Tatrichter bei der Anwendung des Mordparagraphen vor Augen hält, die letztlich auf eine ausufernde und teils widersprüchliche Kasuistik in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Bezug nehmen müssen, damit ihre Entscheidungen einer Revision standhalten. Die Verwendung unbestimmter wertungsausfüllungsbedürftiger Begriffe oder Generalklauseln ist zwar zulässig.317 Die Pflicht des Gesetzgebers zu genauer Festlegung und präziser Bestimmung der Strafbarkeitsvoraussetzungen wächst indessen mit der Schwere der von ihm angedrohten Strafe. Das Bundesverfassungsgericht relativiert diese Pflicht allerdings zu Recht, da ansonsten Gesetze zu starr und kasuistisch und dem Wandel der Verhältnisse und der Besonderheiten des Einzelfalls nicht mehr gerecht würden.318 Die Wertungsoffenheit des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe ist also trotz der zwingend hiermit verknüpften HöchstMaunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art 103 Rn. 179; Jarass / Pieroth, Art. 103 Rn. 43. BVerfGE 75, 329 (342 f.). 315 Art. 50 Abs. 2 des Vorentwurfs lautete: „Tötet der Thäter aus Mordlust, aus Habgier, unter Verübung von Grausamkeit, heimtückisch oder mittelst Gift, Sprengstoffen oder Feuer, oder um die Begehung eines andern Verbrechens zu verdecken oder zu erleichtern, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.“ Der gesamte Vorentwurf ist abgedruckt in Stooss, Schweizerisches Strafgesetzbuch. Vorentwurf mit Motiven im Auftrage des schweizerischen Bundesrates, Basel und Genf, 1894. 316 Stooss, Schweizerisches Strafgesetzbuch, S. 147 f. 317 Jarass / Pieroth Art. 103 Rn. 48. 318 BVerfGE 75, 329 (342) m. w. N. 313 314
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strafe der hiesigen Strafrechtsordnung nicht verfassungswidrig. Bei wertungsoffenen und anderen unbestimmten Tatbeständen fordert das Bundesverfassungsgericht jedoch, dass ein unbestimmtes Tatbestandsmerkmal durch eine gleich bleibende Anwendung in der Rechtsprechung bestimmt geworden ist.319 Eine solche nachträgliche Bestimmung der niedrigen Beweggründe durch die Rechtsprechung steht jedoch streng genommen noch aus. Wenn schon Tatrichter oft genug damit überfragt sind, ob im Einzelfall niedrige Beweggründe vorliegen oder nicht, dann wird der Bürger erst Recht nicht in der Lage sein, eine zutreffende Einschätzung vorzunehmen und sein Verhalten danach auszurichten. Denn bei keinem anderen Mordmerkmal divergieren die Einschätzungen zwischen Tat- und Revisionsgerichten so oft wie bei der Motivgeneralklausel.320 Die jeweiligen Einschätzungen werden von der Anklage bis zur Verurteilung der Täter in 71% der Fälle umgedeutet, in denen niedrige Beweggründe in Betracht kommen.321 Die Verunsicherung der Tatrichter nimmt auch nicht Wunder: Ist schon der Maßstab für das tiefe sittliche Unwerturteil für einen Beweggrund eine immer noch kasuistische und tendenziell diffuse Größe, wird die Diffusion durch die nach herrschender Meinung erforderliche Gesamtwürdigung von Tat und Täter bei dem Niedrigkeitsurteil zusätzlich vertieft. In der Literatur wird nur vereinzelt das Dilemma offen beim Namen genannt: Die Gesamtwürdigung von Tat und Täter mag zwar eine differenzierte Handhabung der Motivgeneralklausel ermöglichen, so dass es in Härtefällen „nur“ zu einer Verurteilung wegen Totschlags kommt; diese Gesamtwürdigung ersetzt aber den ohnehin schon vagen Begriff der niedrigen Beweggründe durch eine „nicht minder unkontrollierbare flexible Richtermoral.“322 Das eigentliche Problem stellt sich aber gerade bei fremdkulturell motivierten Tötungen auf subjektiver Ebene, wo die vom Bundesgerichtshof formulierten Leitlinien eher zu Konfusion denn zu Orientierung und Klarheit beitragen. Das Mordurteil darf sich in diesen Fällen einfach nicht auf konfuse und teils widersprüchliche Kriterien stützen, sondern sollte von klareren Voraussetzungen abhängen, um nicht letztlich den Richter selbst über die Höchststrafwürdigkeit entscheiden zu lassen, sondern die Entscheidung auf den gesetzgeberischen Willen zurückzuführen. Wer aber die fremdkulturellen Prägungen des Täters auf subjektiver Ebene berücksichtigen will, wird keine klaren und trennscharfen Kriterien entwickeln können, welcher die niedrigen Beweggründe aufgrund ihres Mangels an Bestimmtheit durch die Rechtsprechung bedürfen. Das hat die Auseinandersetzung mit dem Für und Wider einer formellen Anerkennung der „Cultural Defense“ in der angloamerikanischen Diskussion aufgezeigt. 319 BVerfGE 28, 175 (183); 37, 201 (208); 45, 363 (372); 73, 206 (243); zust. Dreher / Schulze-Fielitz, Art. 103 Rn. 35 m. w. N.; krit. Münch v. / Kuning, Art. 103 Rn. 29. 320 Eser, NStZ 1981, 383 (384). 321 Kargl, StraFo 2001, 365 (368). 322 Kargl, StraFo 2001, 365 (367); Weber, Die Abschaffung der lebenslänglichen Freiheitsstrafe, S. 135.
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Dieser Befund sollte Anlass zur Überlegung geben, wie die gutgemeinten Ansätze zur Eingrenzung dieses Mordmerkmals nachvollziehbaren beziehungsweise verobjektivierbaren Kriterien folgen können. Auch der fremdkulturell motivierte Täter muss wissen können, welche Strafe ihn erwartet. Auf der anderen Seite muss sich eine Bestrafung fremdkulturell motivierter Täter am Schuldprinzip orientieren. Übereinstimmend mit der Vorsatzlösung ist nach hier vertretener Auffassung die Motivgeneralklausel objektiv nach Maßgabe der Anschauungen der hiesigen Rechts- und Sozialgemeinschaft zu prüfen, was jedoch die Bewertung auch eines fremdkulturellen Tatmotivs als niedrig ausschließen kann, wenn bei genauer Betrachtung das Tatmotiv auch nach hiesigen Anschauungen nachvollziehbar erscheint. Dies gilt zum einen für solche Tötungshandlungen, welche die Merkmale von § 213 Alt. 1 StGB voraussetzen, da hier die Annahme eines objektiv niedrigen Beweggrundes wertungswidersprüchlich wäre. Aber auch jenseits der Fälle, bei denen das Strafgesetz Anhaltspunkte für eine Nachvollziehbarkeit von Tatmotiven bereithält, ist bei einer sorgfältigen Betrachtung der Motivlage des Täters und einem kritischen Blick auf die hiesigen Wertanschauungen die Ablehnung niedriger Beweggründe bei fremdkulturellen Tötungsmotiven denkbar. Im Fall von Kimura, die sich mit ihren Kindern umbringen wollte, weil ihr Mann sie betrogen hatte und dieser erweiterte Suizid auf nennenswerten positiven Widerhall in der japanischen Kultur stößt, wird man angesichts des sich in diesem erweiterten Suizid manifestierenden Verzweiflungsmoments von einem Niedrigkeitsurteil absehen können. In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe, wo sich Raum für die Berücksichtigung individueller Besonderheiten des Falls bietet. Hier fragt die Rechtsprechung insbesondere nach der Fähigkeit des Täters, das hiesige Niedrigkeitsurteil nachzuvollziehen und seine Regungen und Triebe zu steuern und zu beherrschen. Im Folgenden wird der Frage nachzugehen sein, wie diese Kriterien künftig bei fremdkulturell geprägten Tätern gehandhabt werden können, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Feststellung niedriger Beweggründe zu genügen und eine diskriminierungsfreie Bestrafung fremdkulturell motivierter Täter zu gewährleisten. aa) Berücksichtigung abweichenden Unrechtsbewusstseins Während auf Tatbestandsebene nicht erforderlich ist, dass der Täter seine Beweggründe selbst als niedrig bewertet, fällt die Frage der Fähigkeit zu einer korrekten Motivbewertung durch den Täter in den Anwendungsbereich des Unrechtsbewusstseins nach § 17 StGB, also auf die Schuldebene.323 Die Vorsatzlösung verlagert damit bei den niedrigen Beweggründen eine Frage, die sich üblicherweise 323 Vgl. Saliger, StV 2003, 21 (25); Nehm, FS-Eser, 419 (426); Fabricius, StV 1996, 209 (211); Trück, NStZ 2004, 497 (498); Schulz, NJW 2005, 551 (554).
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erst auf Schuldebene stellt, schon auf die Ebene des Tatbestands. Fraglich ist daher, ob und inwiefern fremdkulturelle Besonderheiten von Straftaten jenseits des Mordtatbestandes im Rahmen von § 17 StGB berücksichtigt werden. Klarstellungshalber sei darauf hingewiesen, dass nach hier vertretener Auffassung eine direkte Anwendung von § 17 StGB im Bereich von „Ehrenmorden“ zumeist abzulehnen sein wird. Zu Recht besteht heute nur eine geringe Neigung, im Bereich des Kernstrafrechts Verbotsirrtümer als bedeutsam anzusehen;324 gleichwohl verspricht eine kritische Auseinandersetzung mit dem derzeitigen Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur zu Verbotsirrtümern bei Ausländern Erkenntnisse für eine kohärente, transparente und diskriminierungsfreie Auslegung der Motivgeneralklausel der niedrigen Beweggründe. (1) Fehlen des Unrechtsbewusstseins Gemäß § 17 StGB handelt derjenige ohne Schuld und ist damit straflos, dem bei Tatbegehung die Unrechtseinsicht fehlt, sofern der hierdurch begründete Irrtum unvermeidlich ist. Der Verbotsirrtum ist dabei klar vom Tatumstandsirrtum nach § 16 StGB abzugrenzen, der anwendbar ist, wenn der Handelnde tatsächliche Umstände eines normativen Merkmals nicht kennt; § 17 StGB ist dagegen anwendbar, soweit der Täter sich über das rechtliche Verständnis eines Merkmals irrt.325 Für die Unrechtseinsicht ist mindestens das Bewusstsein erforderlich, gegen die rechtliche Ordnung zu verstoßen, ohne dass es aber der Kenntnis der verletzten Rechtsnorm bedarf.326 Kommen dem Täter Zweifel bezüglich der Erlaubtheit seines Verhaltens, ist das Unrechtsbewusstsein gleichwohl zu bejahen, wenn er mit der Möglichkeit rechnet, Unrecht zu tun, und er das billigend in Kauf nimmt.327 Der Verbotsirrtum kennt unterschiedliche Erscheinungsformen. Befindet sich der Täter in Unkenntnis der Verbotsnorm als solcher, spricht man von einem „direkten Verbotsirrtum“, glaubt der Täter an die Existenz eines rechtlich nicht anerkannten Rechtfertigungsgrundes oder verkennt er die Grenzen eines rechtlich aner324 Vgl. Freund, Strafrecht AT, § 4 Rn. 64; Hassemer, FS-Wolff, 101 (109); Kühl, AT, 2005, § 13 Rn. 49; Roxin, AT, § 21 Rn. 20. Das Reichsgericht ging davon aus, dass das Unrechtsbewusstsein im Strafrechtsbereich des ethischen Minimums vorausgesetzt werden dürfe, „weil jedermann die den Strafgesetzen zugrunde liegenden Verbote und Gebote kenne oder doch kennen müsse“, vgl. BGHSt 2, 194 (202). 325 S / S-Cramer, § 15 Rn. 99 ff.; Roxin, AT, § 12 Rn. 90 ff., § 21 Rn. 22; Lackner / Kühl, § 17 Rn. 22; a.A. NK-Puppe, § 16 Rn. 79 ff., die den Irrtum über Inhalt und Gültigkeit der Blankettnorm als Tatumstandsirrtum ansieht. Differenzierend LK-Vogel, § 17 Rn. 101. Zu weiteren Konzeptionen Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem Irrtum; Kindhäuser, GA 1990, 407 ff. 326 BGHSt 11, 266. 327 BGHSt 4, 4; BayObLG GA 1956, 127; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 12, 22; Fischer, § 17 Rn. 5 m. w. N.; Lackner / Kühl, § 17 Rn. 4 m. w. N.; Kühl, AT, § 11 Rn. 30 m. w. N.; a.A. NKNeumann, § 17 Rn. 33.
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kannten Rechtfertigungsgrundes, liegt ein indirekter Verbotsirrtum vor.328 Denkbar ist aber auch, dass der Täter von der Existenz einer bestimmten Verbotsnorm weiß, deren Regelungsbereich aber nicht kennt; dann liegt ein Verbotsirrtum in Form eines Subsumtionsirrtums vor, der bei allen konkretisierungsbedürftigen Tatbestandsmerkmalen in Betracht kommt, also auch bei normativen Merkmalen wie den niedrigen Beweggründen in § 211 StGB. Anders als beim Tatumstandsirrtum in § 16 StGB kennt der Täter im Subsumtionsirrtum die Bedeutung seines Verhaltens im Sinne einer „Parallelwertung in der Laiensphäre“.329 Zur Annahme eines Verbotsirrtums ist jedoch erforderlich, dass der Täter infolge der Fehlinterpretation des Tatbestandsmerkmals verkennt, dass seine Handlung gegen ein sanktionsbewehrtes rechtliches Verbot verstößt.330 Die Hauptfälle indirekter Verbotsirrtümer bilden dagegen Konstellationen, in denen fremde Rechtsordnungen dem Täter Rechtsabweichungen großzügiger gestatten oder gleichlautende Tatbestandsmerkmale unterschiedlich verstehen.331 Da „Ehrenmorde“ in einigen Staaten nicht bestraft werden, liegen indirekte Verbotsirrtümer für aus diesen Staaten stammende Täter jedenfalls nicht fern. Dieser Befund bedarf einer weitergehenden Konkretisierung. Ein indirekter Verbotsirrtum wird nur bei solchen Tätern nahe liegen, die aus Staaten stammen, in denen „Ehrenmorde“ gerechtfertigte Tötungen sind. Eine besondere Privilegierung in der heimatlichen Strafrechtsordnung ausländischer Täter, wie es sie in der Türkei bis zum Jahr 2003 noch in Form des Art. 462 exTCK gab, legt noch keinen indirekten Verbotsirrtum nahe, geht es bei einer Privilegierung doch gerade nicht um die völlige Entlastung eines tatbestandsmäßigen Handelns, sondern nur um die Abschwächung der Strafe. Auch bei den von Art. 462 exTCK erfassten Taten handelte es sich um sanktionsbewehrte Handlungen, so dass aus einer solchen Privilegierung keine Erlaubnis abgeleitet werden kann. Ein Verbotsirrtum dürfte jedoch bei solchen Tätern vorliegen, in deren Heimat „Ehrenmorde“ aufgrund einer Erlaubnisnorm überhaupt nicht bestraft werden. In der Tat berücksichtigt die Rechtsprechung bei der Frage, ob ausländische Täter bei der Tatbegehung einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlagen, deren Heimatrecht.332 Gleichwohl weist die Literatur darauf hin, dass bei der Ermittlung des Vorstellungsbildes ausländischer Täter über die Ermittlung der positiven heimatlichen Strafrechtslage hinaus auch zu berücksichtigen sei, dass diese durch entgegenstehende sittliche Wertvorstellungen überlagert und durchdrungen werden könne, weswegen dem Täter bereits die Kenntnis seines staatlichen Heimatrechts fehlen könne.333 Aus dem Umstand, hier gehe es weniger um eine Frage der AnerNK-Neumann, § 17 Rn. 47. Puppe, GA 1990, 145 (149 ff.); NK-Neumann, § 17 Rn. 49. 330 MüKo-Joecks, § 17 Rn. 31; NK-Neumann, § 17 Rn. 49. 331 Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (218). 332 Vgl. BGH NJW 1999, 2908 f.; AG Grevenboich NJW 1983, 528 f.; LG Mannheim NJW 1990, 2212 f. 328 329
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kennung deutschen Rechts durch den Täter als vielmehr um die Verinnerlichung seines heimatlichen Strafrechts, wird geschlossen, das deutsche Strafrecht vermöge auch unter Präventionsgesichtspunkten zur Korrektur solch „fremdstaatlichen Fehlverhaltens“ nichts beizutragen, weshalb die Anerkennung eines Verbotsirrtums nahe liege.334 Dem ist entgegenzuhalten, dass es bei dem Außerachtlassen außerrechtlicher Erlaubnisnormen für bestimmte Tötungen nicht um die Korrektur fremdstaatlichen Fehlverhaltens geht, sondern um die Betonung des Anspruchs auf Achtung der hiesigen strafrechtlichen Normen, die von jedermann gefordert werden darf und muss, der sich in ihren Anwendungsbereich begibt. Zu korrigieren ist in diesem Sinne nicht das „fremdstaatliche Fehlverhalten“, sondern das Fehlverhalten des Täters, der sich wohl kaum in der Sicherheit wiegen kann, seine selbst in der Heimat allein sozial und eben nicht rechtlich anerkannten Erlaubnisnormen erführen in der Bundesrepublik sogar rechtliche Anerkennung. Bei der Frage, ob ein fremdkulturell geprägter Täter sich tatsächlich in Unkenntnis des Verbotenseins seiner Tat befand, kommt es daher allein auf dessen Heimatrecht an. Übertragen auf die Motivgeneralklausel bedeutet dies, dass nach dem Rechtsgedanken des § 17 StGB die fehlende Fähigkeit des Täters eines „Ehrenmordes“ in die Einsicht der Niedrigkeit seines Tatmotivs dann zu problematisieren ist, wenn sein Tun in seiner Herkunftskultur keine Strafe nach sich zöge. (2) Unvermeidbarkeit des fehlenden Unrechtsbewusstseins Fehlte dem Täter zur Zeit der Tatbegehung die Unrechtseinsicht, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, ob dieser Umstand auch unvermeidbar war. Nur die unvermeidbar fehlende Unrechtseinsicht des Täters soll ihn nach § 17 StGB vom Schuldvorwurf befreien. War der Irrtum vermeidbar, kann der Richter nach § 49 I StGB die Strafe mildern. Der Rechtsprechung zufolge ist der Irrtum nur dann vermeidbar, wenn dem Täter trotz Anspannung seines Gewissens335 und dem Einsatz aller ihm nach seinen individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen zugänglichen Erkenntnismittel336 die Unrechtseinsicht fehlte. Die Literatur macht indessen darauf aufmerksam, dass die Gewissensanspannung bei fremdkulturell geprägten Tätern nicht zur Unrechtseinsicht zu verhelfen vermag, sofern die Verbotsunkenntnis auf dem kulturellen Unterschied beruht, speist sich doch ihr Gewissen gerade nicht aus den zu reflektierenden Wertanschauungen. Wenn sich eine Erkundigungspflicht nicht begründen lässt, muss konsequenterweise die Unvermeidbarkeit des Irrtums zugegeben werden.337 Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (214 f.). Hirsch, FS-Schelsky, 211 (226 f.); Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (216). 335 BGHSt 2, 194 (201). 336 BGHSt 4, 1 (5); OLG Köln NJW 1996, 472; zust. jedenfalls in Bezug auf den Bereich des Kernstrafrechts Fischer, § 17 Rn. 8 m. w. N. 333 334
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Teilweise versucht man, diese Tendenz durch Berücksichtigung der hierzulande gesammelten Erfahrungen von Zuwanderern zu durchbrechen. Demnach seien bei der Beurteilung der Vermeidbarkeit auch der Bildungsstand, die Erfahrung, sprachliche Kenntnisse oder auch die Dauer des Aufenthalts in Deutschland des Täters zu berücksichtigen, und zwar konkret bezogen auf Art, Gewicht und Ausführung der Tat.338 Hier könnten auch die Verwurzelung des Täters in einem fremden Kulturkreis oder fehlende Rechts- und Sprachkenntnisse von aus dem Ausland stammenden Tätern relevant werden, ohne dass diese Umstände eine Unvermeidbarkeit präjudizieren.339 Möglicherweise lässt sich dieser Automatismus aber auch dadurch überwinden, dass von Ausländern mit dem Eintritt in die hiesige Rechtsgemeinschaft verlangt wird, sich über die Vorschriften des Kernstrafrechts zu orientieren. Dies müsste jedenfalls für diejenigen Ausländer gelten, deren Aufenthalt in Deutschland auf Dauer angelegt ist.340 Wer sich in einen ihm fremden Kulturkreis begibt und glaubt, er brauche sich um den zentralen Normbestand dieses Kulturkreises nicht zu kümmern, verhält sich widersprüchlich. Sein Kenntnismangel beruht dann auf Rechtsfeindschaft oder zumindest Rechtsgleichgültigkeit, so dass er ihn trotz seiner fremdkulturellen Enkulturation nicht entlastet.341 Zu Recht macht die Literatur darauf aufmerksam, dass dieser Aspekt vielmehr eine Frage des in den Fällen anerkannten Vorverschuldens sei, in denen die Rechtsordnung die Ausübung von Tätigkeiten speziellen Regelungen unterwirft. Dieses Ergebnis ist gleichwohl verallgemeinerungsfähig, jedoch soll nach der Literatur eine Ausnahme bei Ausländern zu machen sein, die eine besonders große Scheu vor dem Fremden hegen und sich aufgrund ihrer Sozialisation von dem sich stark von dem ihren unterscheidenden hiesigen Wertesystem auf eine Weise verschließen, dass ihnen die fehlende Kenntnisnahme der hiesigen Wertanschauungen nicht vorzuwerfen sei. In diesem Fall sei anstelle des sonst generalisierenden Beurteilungsmaßstabs der Vermeidbarkeitsfeststellung ein individualisierender Maßstab zugrunde zu legen. Hier sei die Vermeidbarkeit daher unter Hinzuziehung psychiatrischer und völkerkundlicher Gutachter zu beurteilen.342 Ob die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums auch unter Rückgriff auf ein vor der Tatbegehung liegendes Verschulden begründet werden kann, ist umstritten und 337 Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (220) m. w. N.; zust. Valerius, NStZ 2003, 341 (344); insgesamt kritisch zum Erfordernis der Gewissensanspannung Walter, Kern des Strafrechts, S. 310 m. w. N. 338 Fischer, § 17 Rn. 8 m. w. N. 339 Krauß, Unrechtsbewußtsein, S. 30 (49). 340 S / S-Cramer / Sternberg-Lieben, § 17 Rn. 17; Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (221); LK-Schroeder, § 17 Rn. 47; Valerius, NStZ 2003, 341 (344); zweifelnd Stratenwerth, GS Kaufmann, 1989, S. 485 (488); vgl. auch NK-Neumann, § 17 Rn. 59; Roxin, AT, § 21 Rn. 48; anders SK-Rudolphi, § 17 Rn. 46. 341 Lesch, JA 1996, 607 (609). 342 Laubenthal / Baier, GA 2000, 205 (220 f.); ähnlich Valerius, JZ 2008, 912 (918).
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angesichts des rechtsstaatlich problematischen Bereichs von Täter- und „Lebensführungsschuld“ auch nicht unproblematisch. Das Konzept der „Lebensführungsschuld“ erlangte unter den Nationalsozialisten besondere Bedeutung und sollte neben die Einzeltatschuld treten. Demnach sei im Strafrecht auch die ganze „Lebensführungsschuld“ des Täters zu berücksichtigen, die ihn habe „aus der Art schlagen“ lassen.343 Diese diffuse täterstrafrechtliche Konzeption erfasste die gesamte Persönlichkeit des Täters sowie sein So-Geworden-Sein durch verfehlte Lebensführung und vermengt auf diese Weise die Schuld mit etwa unverschuldetem Schicksal. Dass das Vorleben des Täters vor seiner Tat nach der Konzeption des Strafgesetzbuchs indessen nicht Grundlage des Schuldvorwurfs sein darf, wird auf den Wortlaut des § 20 StGB zurückgeführt. Eine „schuldhafte“ Lebensführung komme einer schuldhaften Tatbestandserfüllung nicht gleich. Ferner sei die Lebensführung forensisch nicht greifbar und würde die rechtsstaatlich gebotene Begrenzungswirkung des Schuldprinzips unterlaufen. Der Bundesgerichtshof lässt den Rückgriff auf ein vor der Tatbegehung gelagertes Verschulden in Fällen der Rechtsfeindschaft zu.344 Roxin erkennt den Fall des Vorverschuldens an, wenn der Täter es versäumt hat, sich rechtliche Spezialkenntnisse anzueignen, die in der Tatsituation nicht mehr erlangbar sind. Dies betrifft etwa die Teilnahme am Straßenverkehr oder die Ausübung von sanktionsbewehrten Regelungen unterworfenen Berufen. Hier werde nicht auf eine Lebensführungsschuld abgestellt, weil nicht an die gesamte Lebensführung oder Charakterentwicklung des Täters angeknüpft werde, sondern an konkrete Sorgfaltswidrigkeiten, die Rechtsverstöße der später vorfallenden Art schon im Vorfeld erwarten ließen. Es gehe weiterhin um eine Tatschuld, wenn sie auf deutlich umgrenzbare, vor der erfolgsauslösenden Handlung liegende Sorgfaltsmängel gestützt werde, die diese von vornherein nahe legten.345 Unzulässig sei aber das Abstellen auf die Lebensführungsschuld, etwa in Form der Annahme, der Täter habe sich zu einem in Rechtsfragen kenntnisreicheren und sensibleren Menschen erziehen müssen. Für die Annahme der Vermeidbarkeit in Affektfällen müsse man dem Täter vielmehr vorhalten können, sich zu einem bestimmten Zeitpunkt, als das Unrechtsbewusstsein hinsichtlich späteren Verhaltens noch vorhanden war, nicht zurückgenommen, sondern weiter in den Affekt hineingesteigert zu haben.346 Nichtsdestotrotz bleibt zu bedenken, dass § 20 StGB die Schuldfähigkeit des Täters zur Tatzeit verlangt, wohingegen eine derartige zeitliche Voraussetzung für die Mezger, ZStW 57 (1938), 688. BGHSt 2, 208 f.; kritisch zu dieser Entscheidung, in der es eigentlich nicht um die Vermeidbarkeit, sondern schon um das Vorliegen eines Verbotsirrtums gehe, Roxin, AT, § 21 Rn. 48. 345 Roxin, AT, § 21 Rn. 49 f.; SK-Rudolphi, § 17 Rn. 44 f. m. w. N.; Puppe, FS-Rudolphi, 231 (238) m. w. N.; Walter, Kern des Strafrechts, S. 310 m. w. N. 346 Roxin, AT, § 21 Rn. 51. 343 344
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Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums in § 17 Satz 2 StGB fehlt. Zudem wäre eine Übertragung der zeitlichen Voraussetzung in den §§ 20, 21 StGB auf den Verbotsirrtum in § 17 Satz 2 StGB auch problematisch, weil die dort geregelte Einsichtsfähigkeit und die hier vorausgesetzte Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums beide jeweils nur eine Dimension aus der Fähigkeit zur Unrechtseinsicht erfassen und diesen jeweils einer eigenständigen Norm unterwerfen.347 Die §§ 20, 21 StGB betreffen die allgemeine Freiheit des Täters zur Vornahme von Akten der Unrechtseinsicht, während die Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums allein die Frage betrifft, ob dem Täter nach seinen Verhältnissen die Irrtumsbehebung möglich war – und zwar unabhängig von dessen Freiheit zur tatsächlichen Ergreifung dieser Möglichkeit.348 Die zeitliche Vorverlagerung stünde auch nicht mit dem Konzept der Tatschuld an sich in Widerspruch, weil im Gegensatz zur Schuldfähigkeit das potentielle Unrechtsbewusstsein kein notwendiges Element der Schuld darstellt. Dies liegt daran, dass es hier weder um einen psychischen Befund noch um eine reelle Beziehung zur Tat geht, sondern allein um den Gedanken, dass der Täter ein Unrechtsbewusstsein hätte erlangen können und auch sollen.349 Damit ist die Vorverlagerung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums mit dem Tatschuldprinzip durchaus vereinbar. Im Übrigen bestehen Parallelen zu dem hier diskutierten Fall mit der Ausübung eines besonders reglementierten Berufs, bei dem eine Verlagerung des Verschuldens vor den Zeitpunkt der eigentlichen Tatbegehung bereits weitgehend anerkannt ist. Denn auch bei dem Zuwanderer wird von einem unverschuldeten Schicksal, das vom Konzept der „Lebensführungsschuld“ erfasst werden soll, nicht die Rede sein können, wenn dieser sich bewusst und aus eigener Entscheidung zur Einreise in ein freiheitliches Land wie die Bundesrepublik entschlossen hat, so wie sich eine Person auch freiwillig zur Ausübung eines besonders reglementierten Berufs entschließt. Wer sich aber auf Dauer in ein ihm fremdes Land mit einer dementsprechend fremden Rechtsordnung begibt, von dem wird man erwarten dürfen, dass er sich zumindest mit den durch das Kernstrafrecht – also einen klar umgrenzten Normkreis – geschützten gesellschaftlichen Anschauungen vertraut macht. Wer aus einer Gesellschaft stammt, in der beispielsweise Stammesgewohnheitsrecht oder das islamische Recht für die einzelnen Mitglieder verbindlich ist, kann jedenfalls nicht davon ausgehen, dass die dahinter stehenden Anschauungen völlig mit dem Strafrecht einer westlichen Industrienation übereinstimmen. Hier ist durchaus schon zum Zeitpunkt der Einreise absehbar, dass bestimmte in der Täterheimat weitgehend gebilligte oder tolerierte Verhaltensweisen auf Ablehnung bis hin zum strafrechtlichen Verbot stoßen werden. Es versteht sich von selbst, dass Zuwanderer sich der Kenntnisnahme hiesiger Anschauungen nicht verschließen dürfen, Vgl. SK-Rudolphi, § 17 Rn. 26. Vgl. SK-Rudolphi, § 17 Rn. 29, 31, der gleichwohl für die Feststellung der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums auf den Zeitpunkt der Tat abstellt. 349 Puppe, FS-Rudolphi, 231 (239 f.); vgl. Roxin, FS-Lackner, 307 (311). 347 348
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zumal von ihnen damit nicht gefordert ist, diese auch aus innerer Überzeugung zu teilen. Wer im Übrigen bei fremdkulturell geprägten Tätern von einem schicksalhaft bedingten Unrechtsbewusstsein ausgeht, spricht ihnen im Ergebnis die Lernfähigkeit ab, mithin einen wichtigen Aspekt der Subjektqualität des Menschen und damit seiner Würde. Dies sollte unabhängig von „großer Scheu“ oder der Sozialisation des Täters gelten, denn zum einen laden diese Erwägungen zur Bildung von Parallelgesellschaften ein, die allseits beklagt wird. Zum anderen liegt insbesondere dieser Eingrenzung ein Bild von Ausländern zugrunde, das dem eines frei handelnden und eigenverantwortlichen Menschen, also eines Subjekts, zuwiderläuft. Im Übrigen begegnet das Abstellen hierauf den Bedenken, die hier in der Auseinandersetzung mit der Diskussion um eine formelle Anerkennung der „Cultural Defense“ geäußert wurden. Übertragen auf das Erfordernis der niedrigen Beweggründe, dass der Täter imstande gewesen sein muss, eine Bewertung seines Tatmotivs als niedrig nachzuvollziehen, erscheint es als mit dem Tatschuldprinzip vereinbar, kulturbedingte Unkenntnis nicht zugunsten des Täters zu werten. Fremdkulturell geprägte Täter, die sich für einige Jahre oder auf unbestimmte Zeit in der Bundesrepublik aufhalten, sollen sich daher nicht darauf berufen können, sie seien außerstande gewesen, die Niedrigkeit ihres Tatmotivs nach hiesigen Anschauungen nachzuvollziehen. Allein die fremdkulturelle Prägung des Täters dürfte daher – abgesehen von sich nur kurzzeitig in Deutschland aufhaltenden Tätern – keinen Anhaltspunkt für ein besonderes Infragestellen der Fähigkeit des Täters bieten, die besondere Verwerflichkeit seines Tatmotivs nach hiesigen Anschauungen nachzuvollziehen. bb) Berücksichtigung verminderten Motivationsbeherrschungspotentials Die Rechtsprechung verneint das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe, wenn der Täter seine gefühlsmäßigen Regungen, die sein Handeln bestimmten, gedanklich nicht beherrschen und willensmäßig steuern konnte – und zwar unabhängig von den Voraussetzungen des § 21 StGB.350 Dass die verminderte Steuerungsfähigkeit beziehungsweise das verminderte Beherrschungsvermögen des Täters das von ihm verwirklichte Unrecht herabsetzt, ist durchaus einsichtig. Dass aber die Eigenschaft des Täters als Ausländer Anlass zu der Frage geben soll, ob dieser seine gefühlsmäßigen Regungen beherrschen und steuern konnte, läuft auf ein unhaltbares und sicher auch nicht korrektes Bild ausländischer Menschen hinaus. Paeffgen begründet das Erfordernis des Motivationsbeherrschungspotentials anhand des Beispiels eines Gefesselten, dem sein Untätigbleiben nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.351 Und damit hat er auch zweifellos Recht. Aber ein Ausländer ist nicht so in seine Motivation verstrickt, dass er sich nicht beherrschen 350 351
BGH NStZ-RR 2004, 44. Paeffgen, GA 1982, 255 (271).
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kann und dass ihm auch keine Alternative zur Unrechtsbegehung offen steht. Ausländer sind wie Deutsche vernunftbegabte Wesen. Wer kulturbedingt verminderte oder fehlende Selbstbeherrschung zugunsten des Täters berücksichtigen will, muss dann auch die hiesigen Normen kritischer wahrnehmen und gegebenenfalls zugunsten deutscher Täter berücksichtigen. Davon ist aber in der derzeitigen Rechtsprechung keine Spur, denn sonst wären Fälle (vermeintlich?) übersteigerten Ehrgefühls wie der Fall in BGHSt 9, 180 kein Fall niedriger Beweggründe. Das Messen mit zweierlei Maß führt zu Ungleichbehandlungen, die angesichts der Strafandrohung in § 211 Abs. 1 StGB schlechthin nicht hinnehmbar sind. Hier wird das verfassungsrechtliche Gebot schuldangemessenen Strafens bei Ausländern überbetont und bei deutschkulturell motivierten Tätern – insoweit aus guten Gründen – hintangestellt. Im Übrigen hängt die Berücksichtigung fremdkultureller Bindungen auf der Ebene des Motivationsbeherrschungspotentials von einem Geflecht verschiedener, jeweils kaum sicher nachweisbarer Faktoren ab, die oft genug kein eindeutiges Bild ergeben werden und deshalb unvorhersehbare richterliche Entscheidungen begünstigen. Im Hinblick auf die Vorhersehbarkeit und Gleichförmigkeit staatlichen Strafens ist diese Vorgehensweise höchst bedenklich. Im Schrifttum wird vorgebracht, das Infragestellen des Motivationsbeherrschungspotentials bei fremdkulturell geprägten Tätern stelle im Ergebnis die Bindung an kulturelle Wertvorstellungen auf eine Stufe mit den in § 20 StGB genannten Täterdefekten der „krankhaften Störung“, der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, des „Schwachsinns“ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeiten“. Dies lasse die Deutung zu, die Rechtsprechung ordne die fremdkulturelle Prägung des Täters als dessen Krankheitsbild ein und stelle damit implizit dessen Therapiebedürftigkeit fest. Das besondere Infragestellen des Motivationsbeherrschungspotentials aufgrund kultureller Prägungen laufe daher auf eine unhaltbare und nicht hinzunehmende Missachtung anderer Kulturen hinaus.352 Mit der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen bei der Prüfung niedriger Beweggründe auf subjektiver Ebene schafft die Rechtsprechung Raum für – aus ihrer Sicht – täterangemessene Strafen zu Lasten deutschkulturell motivierter Täter und auf Kosten anderer verfassungsrechtlicher Vorgaben, namentlich neben den genannten Grundsätzen auch dem eminenten Stellenwert des Rechtsguts Leben im hiesigen Rechtskreis. Dieser Tendenz zu kaum noch vorhersehbaren richterlichen Entscheidungen im Bereich fremdkulturell motivierter Tötungsdelikte sollte Einhalt geboten werden. Der hier vertretene Ansatz läuft solange nicht auf eine Verletzung des Schuldprinzips hinaus, wie eine Widerlegung des Vorliegens des Motivationsbeherrschungspotentials fremdkulturell motivierten Tätern in dem gleichen Maße zusteht wie auch deutsch sozialisierten Tätern, also etwa bei Übermüdung, Triebanomalien oder Spontanreaktionen aus plötzlicher unkontrollierter Gefühlswallung.353 352
(918).
Fabricius, StV 1996, 209 (211); Saliger, StV 2003, 22 (24); Valerius, JZ 2008, 912
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Umgekehrt sollte aber der fremdkulturelle Hintergrund eines Täters nicht für sich genommen dazu Anlass geben, dessen Motivationsbeherrschungspotential in Frage zu stellen. Das Motivationsbeherrschungspotential soll vielmehr nur dann in Frage gestellt werden, wenn Umstände vorliegen, die auch bei einem nach hiesigen Anschauungen sozialisierten Täter Anlass zur besonders sorgfältigen Prüfung des Motivationsbeherrschungspotentials geben. Dann würde es im Beispielsfall dem Bruder, der seine vergewaltigte Schwester aus Gründen der Ehrenrettung tötet, schwer fallen, das Fehlen seiner Fähigkeit zu belegen, seine Regungen zu beherrschen und zu steuern, was im Übrigen der generalpräventiven Funktion des Strafrechts zuträglich ist und auch schuldangemessen erscheint.
353 BGH NJW 1989, 1739 (1740) m. w. N.; NStZ-RR 2004, 108; 1998, 67 f.; BGHR StGB § 211 II niedr. Beweggr. 10; S / S-Eser, § 211 Rn. 39; MüKo-Schneider, § 211 Rn. 98.
Zusammenfassung Die zentralen Ergebnisse der Untersuchung von „Ehrenmorden“ im Wandel des Strafrechts lassen sich in folgende Thesen zusammenfassen: 1. Das türkische Ehrkonzept „namus“ ist sexualitätsbezogen und stellt besonders hohe Verhaltenserwartungen an Frauen, deren Verletzung in einigen Regionen der Türkei als todeswürdig erachtet wird. Zur Ehrenrettung wegen „falschen“ weiblichen Sexualverhaltens tauglich ist indessen nur die zeitnahe Reaktion des Täters, die nicht zwingend in einer Tötung bestehen muss; vielmehr gelten auch vergleichweise milde Reaktionen als zur Ehrenwahrung tauglich, solange ein zeitlicher Zusammenhang zur Verletzung der Verhaltenserwartung besteht. Mit dem Ehrkonzept nicht vereinbar sind daher Tötungen, die erst geraume Zeit nach Verletzung der Verhaltenserwartung erfolgen. Das türkische Ehrverständnis befindet sich derzeit aber im Wandel und erfährt in seiner Strenge wachsende gesellschaftliche Kritik. 2. „Ehrenmorde“ stehen im Widerspruch zum Islam, der Männern wie Frauen die gleiche Strafe im Fall unzüchtigen Verhaltens androht. Diese Strafe besteht nicht in der Tötung der jeweiligen Person, sondern in einer körperlichen Strafe. Der Islam legitimiert die Tötung einer unzüchtigen Person demnach nicht. Das islamische Strafrecht macht die Bestrafung eines Totschlägers allerdings von einem entsprechenden Antrag der Hinterbliebenen abhängig. Vergeben die Hinterbliebenen dem Täter, kann die Tat strafrechtlich nicht verfolgt werden. Dies bildet wohl den Hintergrund für die Tradition, „Ehrenmorde“ im Familienrat zu beschließen, denn im Familienrat kann das Familienoberhaupt die Angehörigen seiner Familie darauf einschwören, nichts gegen den Täter des „Ehrenmordes“ zu unternehmen. Freilich legitimiert der Islam dieses Vorgehen nicht; vielmehr geht es hier um die Nutzung einer Lücke, die das islamische Strafrecht aufgrund des privaten Charakters des Totschlags lässt. 3. „Ehrenmorde“ werden nach jüngeren statistischen Erhebungen in der Türkei vor allem in großen Ballungszentren begangen, wo die soziale Kontrolle und damit korrelierend die Gefahr eines Ehrverlustes relativ gering sind. Daher ist der Verweis von Tätern einer Partner- oder Verwandtentötung auf das türkische Ehrkonzept kritisch zu hinterfragen, weil von einem „Ehrenmord“ nur bei drohendem Ehrverlust infolge einer sozialen Bewertung durch das Umfeld des Täters die Rede sein kann. Oft genug werden hinter einem vermeintlichen „Ehrenmord“ weniger kulturelle als vielmehr individuelle Gründe stehen. 4. Das hinter „Ehrenmorden“ stehende Ehrkonzept lässt sich auch in anderen mediterranen Strafrechtsordnungen nachweisen. Dies trifft bereits auf das römi-
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sche Strafrecht zu, welches die Kontolle weiblichen Sexualverhaltens Männern zuordnete. Diese durften ihre weiblichen Familienangehörigen ursprünglich einschänkungslos, ab dem Inkrafttreten der Lex Iulia nur eingeschränkt töten. Das Recht, eine ehebrecherische Frau zu töten, wies die Lex Iulia allein deren Vater zu, wobei zeitliche und örtliche Voraussetzungen zu beachten waren. Der Ehemann durfte seine ehebrecherische Frau nicht töten, wohl aber den Ehebrecher, wenn dies auf der Stelle geschah und das Opfer einer niederen Schicht angehörte. 5. Auch dem französischen Strafrecht ist ein sexuelles Ehrverständnis lange Zeit bekannt gewesen, das einseitig Frauen benachteiligte. Bis zu seiner Streichung im Jahr 1975 sah Art. 324 Abs. 2 CPI allein für den Ehemann eine Strafmilderung vor, der seine Frau auf handhafter Tat in der ehelichen Wohnung überraschte und sie oder den Ehebrecher oder beide tötete. Anstelle der Strafmilderung wurden Täter eines sogenannten „Crime passionnel“ auch jenseits der Voraussetzungen von Art. 324 Abs. 2 CPI freigesprochen, was durch das französische Geschworenengerichtssystem erleichtert wurde. Seit 1994 bedarf es keines ausdrücklichen Strafmilderungsgrundes wie in Art. 324 Abs. 2 CPI mehr, weil das seitdem geltende französische Strafgesetzbuch keine Mindeststrafen kennt. Allerdings kommt es bei „Crimes passionnels“ nicht mehr zu den früher üblichen massenhaften Freisprüchen, doch fallen die Strafen immer noch vergleichsweise milde aus, wenn sich die Geschworenen mit dem Täter identifizieren können. Zur effektiven Bekämpfung häuslicher Gewalt wäre daher die punktuelle Einführung von Mindeststrafen in den jeweils betroffenen Tatbeständen im Fall der gegen den (früheren) Partner begangenen Tat wünschenswert. 6. Dem osmanischen Strafrecht lag das islamische Strafrecht zugrunde, ergänzt und ausgelegt durch kaiserliche Erlasse und Gutachten des S¸eyhülislams, der als Spitze der Geistlichkeit besondere Autorität genoss. Die Rechtslage unter Sultan Süleyman I. begünstigte „Ehrenmorde“ dadurch, dass es den Angehörigen des Opfers rechtliches Gehör unabhängig von ihren Interessen versagte. 7. Das osmanische Strafrecht besaß infolge der Tanzimat-Politik dualistischen Charakter, was sich auch in der gleichzeitigen Geltung von islamischen neben dem säkularen Strafrecht ausdrückte. Das säkulare Strafgesetzbuch von 1858 orientierte sich am damaligen französischen Strafgesetzbuch und rezipierte auch Art. 324 Abs. 2 CPI, erweiterte den Opferkreis aber um Mahrems, so dass auch die Tötung der Schwester oder anderer nahe stehender weiblicher Familienangehöriger privilegiert war. Der dringende Bedarf an im säkularen Strafrecht geschulten Juristen konnte indessen lange nicht ausreichend befriedigt werden, weshalb das Gesetz in seinem Wirkungsbereich wohl mehr auf die damaligen Ballungszentren begrenzt war. 8. Mit der Gründung der Republik Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk ging ein völliger Bruch mit der islamischen Tradition und konsequenterweise dem Dua-
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lismus der Tanzimat-Politik einher, so dass im Strafrecht allein das am italienischen Strafgesetzbuch orientierte türkische Strafgesetzbuch von 1926 galt. Dieses Gesetz kannte mit Art. 462 exTCK einen Strafmilderunsggrund für die Tötung nahe stehender Familienangehöriger und / oder eines Dritten, mit dem diese beim Ehebruch oder unehelichen Geschlechtsverkehr, kurz davor oder danach überrascht wurde. Waren die Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht erfüllt, griff die Rechtsprechung auf eine allgemeine Strafmilderungsvorschrift für Provokationen zurück, die allerdings die Strafe weniger milderte als Art. 462 exTCK. Als Provokation wurde von der Rechtsprechung auch der Verstoß gegen streng patriarchalische, außerrechtliche Normen eingestuft. 9. Das neue türkische Strafgesetzbuch von 2005 sieht in Art. 82 lit. k) eine Qualifikation für Tötungen aus Gründen der Tradition vor, wobei die Gesetzgebungsmaterialien kaum Hinweis darauf enthalten, was im Einzelnen von der Vorschrift erfasst sein soll. Höchstrichterliche Entscheidungen zu der Frage stehen noch aus. Die Literatur versteht unter Tötungen aus Gründen der Tradition solche Tötungen, denen ein sexuelles Ehrkonzept und die Entscheidung eines Familienrats zugrunde liegen. Demgegenüber bietet es sich vor dem Hintergrund des Gremiums des Familienrats an, auch die Tötung durch das Familienoberhaupt oder durch eine vom Familienoberhaupt bestimmte Person als erfasst zu sehen, zumal es im Familienrat besonders darum geht, die Familie auf den Willen ihres Oberhauptes einzuschwören. Probleme bereitet indessen der nach wie vor bestehende allgemeine Strafmilderungsgrund der Provokation, den die Literatur teilweise noch als Einfallstor für die Berücksichtigung streng patriarchalischer Normen versteht. Indessen weist die Gesetzesbegründung darauf hin, dass als Provokation nur noch Verstöße gegen rechtliche Normen zu verstehen sind. Ein Ehebruch oder andere als unzüchtig geltende Verhaltensweisen fallen damit nicht mehr unter die Norm. Ob die Rechtsprechung sich hieran orientieren wird, bleibt abzuwarten. 10. Dass die Rechtsprechung „Ehrenmorde“ künftig strenger bestrafen wird, ist nicht unwahrscheinlich, kamen wichtige Impulse für die Einführung des Strafschärfungsgrundes für Tötungen aus Gründen der Tradition doch aus der Mitte der Gesellschaft. Zudem nimmt die mediale Auseinandersetzung mit häuslicher Gewalt im Allgemeinen und „Ehrenmorden“ im Besonderen zu, was eine abnehmende Billigung dieser Phänomene berücksichtigt. 11. Die hinter „Ehrenmorden“ stehenden streng patriarchalischen Ehrvorstellungen werden als ein den gesamten Mittelmeerraum verbindendes Phänomen verstanden, das als „Honour-Shame-Syndrome“ bezeichnet wird. Ein Blick auf die deutsche Rechtsgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit hat die These zumindest erschüttert, dass das Honour-Shame-Syndrome allein dem Mittelmeerraum eigen sei. Vielmehr stehen dahinter patriarchalische Anschauungen, die auch der deutschen Kulturgeschichte nicht völlig fremd sind. 12. Die strafrechtliche Behandlung von fremdkulturell motivierten Tötungsdelikten im deutschen Strafrecht ist umstritten. Die Rechtsprechung vertrat dies-
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bezüglich in ihrer Entwicklung zwei unterschiedliche Standpunkte, die in dieser Untersuchung als Gesamtwürdigungs- und als Vorsatzlösung bezeichnet werden. Die Gesamtwürdigungslösung gab die Rechtsprechung inzwischen zugunsten der Vorsatzlösung auf. Gleichwohl befürworten nach wie vor zahlreiche Stimmen in der Literatur eine Berücksichigung fremdkultureller Tötungsmotive nach der Gesamtwürdigungslösung. 13. Die Gesamtwürdigungslösung berücksichtigt fremdkulturelle Tötungsmotive schon auf objektiver Bewertungsebene bei der Prüfung niedriger Beweggründe und gelangt vergleichsweise häufig zu einer Verneinung des Mordtatbestandes. Sie ist dabei teilweise widersprüchlich. Ihre Anhänger vermögen insbesondere nicht zu begründen, warum die hiesigen Wertanschauungen jedenfalls die Obergrenze der Motivbewertung bilden sollen, wenn das Tatmotiv in dem Kulturkreis des Täters strenger bewertet wird als hierzulande. Zudem wird die straflegitimierende Verbindung zwischen dem Täter und dem hiesigen Gesetzgeber insoweit unterbrochen, als dem Gesetzgeber fremde Wertanschauungen maßgeblich für die Strafbarkeitsbeurteilung sein sollen. Schließlich misst die Gesamtwürdigungslösung fremden Wertanschauungen tendenziell einen Wert an sich zu, ohne inhaltliche Grenzen zu ziehen, was aus generalpräventiven Erwägungen nicht unbedenklich ist. 14. Die Vorsatzlösung ist insoweit begrüßenswert, als sie die Motivbeurteilung von den hiesigen Anschauungen abhängig macht. Auch ist im Grundsatz zu begrüßen, dass sie auf der subjektiven Seite der niedrigen Beweggründe Möglichkeiten dafür schafft, Härtefälle aus dem Anwendungsbereich der niedrigen Beweggründe herauszunehmen. Gleichwohl ist es bedenklich, die Ausländereigenschaft des Täters als Anknüpfungspunkt dafür zu nehmen, die subjektive Seite der niedrigen Beweggründe intensiver als üblich zu hinterfragen. 15. Die Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen im Strafrecht ist generell problematisch. Dies gilt aber umso mehr im Bereich der Höchststrafbarkeit für Mord, da diese aus verfassungsrechtlicher Sicht ein besonderes Maß an Bestimmtheit der Strafbarkeitsvoraussetzungen gebietet. Dieses Gebot ist bei der aktuellen Lage der Rechtsprechung hinsichtlich der Berücksichtigung fremdkultureller Prägungen nicht erfüllt. Vielmehr hängt die Verneinung niedriger Beweggründe bei fremdkulturell geprägten Tätern von ausfüllungsbedürftigen Kriterien ab, die einem Beweis schwerer zugänglich sind, als es sich die Rechtsprechung und die deutsche Strafrechtsliteratur bewusst machen. Ob die Rechtsprechung die subjektive Seite der niedrigen Beweggründe bei fremdkulturell geprägten Tätern im Einzelfall bejahen wird, lässt sich im Vorfeld oft genug nicht abschätzen. Es obliegt dabei der Rechtsprechung, das mit der Höchststrafe zwingend verknüpfte wertungsoffene und daher unbestimmte Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe durch eine konstante und widerspruchsfreie Judikatur inhaltlich zu bestimmen, wie es aus verfassungsrechtlicher Sicht dringend geboten ist.
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16. Es widerspricht nicht dem ebenso aus der Verfassung folgenden Gebot schuldangemessenen Strafens, die fremdkulturellen Prägungen eines Täters bei der Prüfung seiner Beweggründe unberücksichtigt zu lassen, sofern sich der Täter über längere Zeit in Deutschland aufhält und hier nicht nur auf Reisen ist. 17. Schuldangemessenes Strafen kann oftmals auch bei versagter Berücksichtigung auf objektiver Bewertungsebene dadurch gewährleistet werden, dass die hiesigen Wertnormen kritisch hinterfragt werden und sich die Rechtsprechung auf die Suche nach Schnittmengen zwischen der hiesigen und der Täterkultur begibt. Findet aber das Tatmotiv hier keinen nennenswerten Widerhall, besteht kein Grund zur Berücksichtigung auf objektiver Bewertungsebene. 18. Auf subjektiver Ebene stellt sich die Frage danach, ob der Täter die Niedrigkeit seiner Beweggründe einsehen und er seine Regungen beherrschen und steuern konnte. Die Fähigkeit zur Einsicht in die Niedrigkeit kann von jedem Ausländer erwartet werden, der hierzulande seinen Wohnsitz nimmt. Von ihm kann ab dem Zeitpunkt der Einreise erwartet werden, sich mit den Wertungen der hiesigen Rechtsgemeinschaft jedenfalls im Bereich des Kernstrafrechts – insbesondere der Tötungsdelikte – vertraut zu machen. Der Täter, der sich hierum nicht bemüht und der aus Ignoranz oder Gleichgültigkeit bezüglich der hiesigen Wertanschauungen tötet, handelt aus einer rechtsfeindlichen Haltung heraus. Es wäre im Übrigen abwegig, wenn ein in archaisch-patriarchalischen Anschauungen verhafteter Ausländer annähme, dieselben Anschauungen gälten auch in einer westlichen Industrienation. Das Beherrschungs- und Steuerungsvermögen infolge kultureller Prägungen genauer zu prüfen, hält die Rechtsprechung nur bei Ausländern für erforderlich, nicht aber bei deutschen Tätern, deren Taten sie eher in einem individuellen Kontext sieht. Konsequenterweise müssten auch kulturelle gewaltbegünstigende Muster des deutschen Kulturkreises aufgedeckt und als solche deutlich benannt werden, was jedoch – aus gutem Grund – nicht geschieht. Dann sollten aber Ausländer auch insoweit gleich behandelt werden. Schuldangemessenes Strafen ist hier in gleichem Maße geboten wie bei deutschen Tätern. Das bedeutet, dass die fremdkulturelle Sozialisation des Täters nicht Grund für eine besonders intensive Prüfung des Beherrschungs- und Steuerungsvermögens bietet. Vielmehr reichen die Gründe, die auch bei deutschen Tätern Berücksichtigung finden, namentlich Alkoholisierung, Übermüdung, Triebanomalien etc. 19. Ein solcher diskriminierungsfreier Ansatz schafft die Möglichkeit für eine breitere Identifikation der Allgemeinheit mit dem Niedrigkeitsurteil bezüglich der Beweggründe. Zugleich kann er bewirken, kulturbedingte Gewalt nicht blickverengend als ein Problem von Zuwanderern, sondern als ein gesamtgesellschaftliches Problem wahrzunehmen, das unverändert auch von erfolgreicher Präventionsarbeit abhängig ist. Übrigens ist eine Präventionsarbeit etwa durch soziale Einrichtungen, Schulen etc. sicher sehr wichtig für die Zurückdrängung der Gewaltprävalenz in der hiesigen Gesellschaft und sollte hierbei die zentrale Maßnahme sein. Aber nach dem Verständnis des Verfassers dieser Arbeit muss
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ein auch generalpräventiv ausgerichtetes Strafrecht wie das deutsche im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen unterstützend wirken.
Glossar Anayasa Mahkemesi
Türkisches Verfassungsgericht
Ceza Genel Kurulu
Vereinte Strafsenat des Yarg tay
Ceza Umumî Heyeti
Früher übliche Bezeichnung des Vereinten Strafsenats des Yarg tay
Cognaten
Blutsverwandte
Crime passionnel
Verbrechen aus Leidenschaft
Diyet
Deliktstyp des islamischen Strafrechts, bei dem der Täter als Strafe „Blutgelt“ an das Opfer beziehungsweise dessen Hinterbliebene zahlen muss
Emniyet Genel Müdürlügü
Generaldirektion der türkischen Polizeibehörden
Fetva
Islamischrechtliches Gutachten
Hadd
Deliktstyp im islamischen Strafrecht, bei dem die Strafe qualitativ und quantitativ exakt festgesetzt ist, ohne dass der Richter hiervon abweichen kann
Haks z tahrik
Unerlaubte Provokation
Haks z fiil
Unerlaubte Handlung
Harim
Privater Wohnbereich
Hudud
(arab.) Pluralform von „Hadd“
Hadith
(arab.) Überlieferungen über das Leben Mohammeds
Irâde
Beschluss des Sultans
Iudicium domesticum
(lat.) Hausgericht im Alten Rom
Jandarma Genel Komutanl g
(türk.) Generaldirektion der türkischen Gendarmeriebehörden
Kanunname
Gesetz
K yas
Analogieschluss im islamischen Recht
K sas
Deliktstyp im islamischen Strafrecht, bei dem die Talionsstrafe angedroht ist
LenociniumKuppelei Mahrem
Eine Frau, mit der man nach islamischen Recht aufgrund zu naher Verwandtschaft nicht heiraten darf
Mores
Altrömische Sitten
Namus
Sexuelle Ehre
Namus cinayeti
Türkische Bezeichnung für „Ehrenmord“
Glossar
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Nizamiye-Gericht
Säkulares Gericht in der Tanzimatperiode
Örf
Gewohnheit, Sitte
Örfî hukuk
Gewohnheitsrecht
Oya-ko Shinju
(jap.) Erweiterter Suizid, der in Japan wohl nicht selten vorkommt. Hierbei tötet die von ihrem Ehepartner hintergangene Frau sich gemeinsam mit ihren Kindern
Patria potestas
(lat.) Väterliche Gewalt im Alten Rom
Relegatio in insulam
(lat.) Verbannung auf eine Insel, eine der von der Lex Iulia angedrohten Strafen
Sayg
Achtung
Stuprum
Unzucht
Sunna
Gesamtheit der islamischen Überlieferungen
Tanzimat
Wörtl. „Neuordnung“. Bezeichnung für den im Jahr 1839 eingeleiteten osmanischen Reformprozess, mit dem die Verhältnisse des Reiches den westlichen Verhältnissen zunehmend angenähert werden sollte
Töre cinayeti
Mord aus Gründen der Sitte / Tradition
S¸eref
Würde
S¸eyhülislam
Seit Sultan Süleyman dem Prächtigen das oberste Mitglied der islamischen Geistlichkeit
Yarg tay
Höchstes ordentliches Gericht in der Türkei
Zina
Unzucht
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