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German Pages 148 [152] Year 1987
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 41
ANETTE INGENHOFF
Drama oder Epos? Richard Wagners Gattungstheorie des musikalischen Dramas
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987
Für Monika und Hans-Dieter
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Ingenhoff, Anette: Drama oder Epos? : Richard Wagners Gattungstheorie d. musikal. Dramas / Anette Ingenhoff. - Tübingen : Niemeyer, 1987. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 41) NE: GT ISBN 3-484-32041-9
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Williams Graphics, Abergele, North Wales, UK Druck: Voralpendruck, Sulzberg im Allgäu
Inhalt
Vorwort Editorische Notiz
Vll IX
I. Einleitung
1
1. Vorbemerkungen 2. Zur Forschungssituation 3. Problemstellung der Untersuchung
1 3 8
II. Wagners Dramenkonzeption im Überblick
15
1. Die Zürcher Hauptschriften
15
2. Das zweite Buch von Oper und Drama
20
III. Die Entwicklung des europäischen Dramas in Stichworten
23
IV. Die Bedeutung der Shakespeareschen Dramenform für Wagners Dramentheorie
44
1. Wagner und Shakespeare 2. Aspekte der Dramentheorie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts
45 50
V. Einflüsse Goethes und Schillers auf Wagner
57
1. Wagners Auseinandersetzung mit dem dramatischen Werk Goethes und Schillers 2. Wagners Rezeption der Gattungsästhetik Goethes und Schillers
57 74
VI. Wagners Romankritik
80
1. Beziehungen Wagners zur Romantik: Das Drama als »sentimentalisches« Kunstwerk 2. Wagner und der deutsche Realismus
80 88 V
VII. Wagners Mythosbegriff 1. Die Mythologie des musikalischen Dramas 2. Wagners Theorie vom »Wunder im Dichtwerke«
101 103 112
Exkurse 1 2 3 4
Elemente der offenen Form im Ring des Nibelungen Erzählungen im Ring des Nibelungen Von der Geschichte zum Mythos Die jüngere Inszenierungsgeschichte des Ring
Bibliographie
VI
117 121 124 127 129
Vorwort
Diese Untersuchung entstand aufgrund einer Anregung von Prof. Dr. Ulrich Siegele vom Musikwissenschaftlichen Institut in Tübingen. Ihm möchte ich an erster Stelle danken. Er war ein stets aufmerksamer und hilfsbereiter Begleiter meiner Studien. Ebenso danke ich den Professoren Manfred Hermann Schmid und Arnold Feil für ihre Unterstützung meiner Arbeit. Danken möchte ich auch den Professoren Walter Haug und Gotthart Wunberg, die mir in literaturgeschichtlichen Fragen zur Seite standen und durch wertvolle Hinweise weiterhalfen. Ferner gilt mein Dank Dr. Ingeborg Schatz und Wolf Rosenberg vom Südwestfunk Baden-Baden und Norbert Ely vom Sender Freies Berlin für weiterführende Gespräche und Anregungen. Günter Fischer vom RichardWagner-Archiv in Bayreuth war mir behilflich bei der Suche nach ausgefallener Literatur. Herzlich danke ich Linde Kapitzki für die Abschrift des Manuskripts. Anette Ingenhoff
Baden-Baden
VII
Editorische Notiz
In allen Zitaten sind Hervorhebungen des Autors weggelassen. Hervorhebungen und Bemerkungen in spitzen Klammern in Zitaten stammen von der Verfasserin. In den Fußnoten wird die Literatur abgekürzt zitiert (Autor, Jahreszahl, Seitenabgabe). Die Aufschlüsselung findet sich in der Bibliographie. Für häufig zitierte Literatur wurden folgende Abkürzungen verwendet: Briefe CT DVjs
Richard Wagner, Briefe. Hg. Hanjo Kesting. Cosima Wagner, Die Tagebücher. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Kindler Kindlers Literaturlexikon. MD Richard Wagner, Die Musikdramen. Hg. Joachim Kaiser. ML Richard Wagner, Mein Leben. Hg. Martin Gregor-Dellin. OuD Richard Wagner, Oper und Drama. Hg. Klaus Kropfinger. VA Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. WB Richard Wagner, Dichtungen und Schriften. Hg. Dieter Borchmeyer.
IX
»... denn bisher warf immer der Sonnengott die Dichtgabe mit der Rechten und die Tongabe mit der Linken zwei so weit auseinanderstehenden Menschen zu, daß wir noch bis diesen Augenblick auf den Mann harren, der eine ächte Oper zugleich dichtet und setzt.« Jean Paul, 1813
I. Einleitung
1. Vorbemerkungen In der Wagner-Rezeption ist es vor allem der Romancier Thomas Mann, der das Epische in Wagners Musikdramen schätzt. Er schreibt über ihn: »Ich habe oft Mühe, ihn als Dramatiker zu empfinden. Ist er nicht eher ein theatralischer Epiker?«1 Mann ist nicht der Erste und Einzige, der feststellt, daß Wagners Dramen hinsichtlich ihrer Gattung ein Problem stellen. Es läßt sich prägnant so formulieren: Sind Dramen, die an einer Handlungsüberfülle leiden, die - wie im Falle des Ring - mehrteilig angelegt sind, die ausgedehnte Erzählpartien aufweisen und die außerdem noch von einem dichten Netz musikalischer Erinnerungsmotive überzogen sind, eigentlich noch Dramen? Sind es nicht viel mehr epische Dramen oder gar dramatisierte Epen? Auch in der Wagnerforschung ist das Phänomen der Gattungsmischung bei Wagner beobachtet und aus verschiedener Sicht beschrieben worden. Man hat hervorgehoben, daß dem Leitmotiv eine genuin epische Technik der Rekapitulation und der Reflexion innewohnt. 2 Man hat auf epische Strukturen in Wagners Stoffen aufmerksam gemacht, besonders auf die epische Anlage des vierteiligen Ring-Komplexes.3 Eine wichtige Frage blieb jedoch unbeantwortet: Ist die episch-dramatisch gemischte Form des Musikdramas ein mehr oder weniger zufälliges Produkt der künstlerischen Entwicklung Wagners oder geht sie auf den theoretischen Entwurf des Musikdramas zurück, ist sie ein Ergebnis seines Reformwillens? Anders gefragt: ist die Gattungsmischung bei Wagner eine Folge seiner künstlerischen Praxis oder ist sie von ihm auch theoretisch konzipiert, d.h. gehört sie zum Programm des »Dramas der Zukunft«? 1
Mann, 1963, 13. Dahlhaus, Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner. In: Dahlhaus, Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk, 1970, 17-40. 1 Reinhold Brinkmann, Szenische Epik. In: Dahlhaus, Richard Wagner - Werk und Wirkung, 1971, 85-96.
2
1
Wichtige Anregungen zu dieser Fragestellung gab Reinhold Brinkmann mit seinen beiden Aufsätzen »Szenische Epik. Marginalien zu Wagners Dramenkonzeption im Ring des Nibelungen« (1971) und »Richard Wagner, der Erzähler« (1982).4 Im ersten Aufsatz stellt Brinkmann die These auf, daß Wagner keinen rein dramatischen, sondern einen gemischten Gattungsbegriff habe; was Wagner unter dem Drama verstehe, sei bereits eine gemischte, dem Epos sich annähernde dramatische Form, ein »szenisches Epos«. Im zweiten Aufsatz zeigt Brinkmann an musikalischen Beispielen Wagners zentrale Formidee auf: die insgeheime Erzählstruktur des musikalischen Dramas. Die Idee der vorliegenden Untersuchung ist es, Ursachen für die Tatsache der Gattungsmischung bei Wagner in dessen Konzeption des musikalischen Dramas zu suchen. Ist ein solches Vorgehen gerechtfertigt? Wie sinnvoll ist überhaupt eine Beschäftigung mit Wagners theoretischem Werk? . Thomas Mann fragt am Beginn seiner »Auseinandersetzung mit Richard Wagner« von 1911, ob überhaupt je jemand Wagners Theorien ernstgenommen habe. 5 1933 dagegen, in seinem Aufsatz »Leiden und Größe Richard Wagners«, gesteht er Wagners Schriften »außerordentlichen Verstand« zu6 und in seinem Zürcher Vortrag vom November 1937 »Richard Wagner und der Ring des Nibelungen« betrachtet er Wagners Genie als eine »beispiellose Mischung von höchster Modernität und Intellektualität«. 7 Diese ambivalente Beurteilung Wagnerschen Theoretisierens ist typisch. Auf den ersten Blick erscheinen Wagners Schriften als ein diffuses Gewirr unhaltbarer Argumentationen. Sie enthalten gleichermaßen falsche wie treffende ästhetische Urteile, Vermischungen künstlerischer und revolutionärer Ideen; Wagner drängt sich dem Leser mit ideologisch überfrachteten und unrealistischen politischen Stellungsnahmen auf und der Leitfaden des Ganzen ist letztlich eine beinahe hysterisch anmutende Apologie der eigenen Leistung, des eigenen, noch ungeschaffenen Werkes. In diesem Wirrwarr ist es nicht leicht, sich zurechtzufinden. Dennoch entsteht immer wieder auch der Eindruck der Schlüssigkeit und es scheint, als sei man am Ende eines Gedankenganges überzeugt worden. Aber nicht nur durch Wagners aufdringliches Pathos, nicht nur, weil Wagner, wie Nietzsche es formulierte, 4
5 6 7
Reinhold Brinkmann, a.a.O., 93. Ders., Richard Wagner, der Erzähler. In: Österreichische Musikzeitschrift 37, 1982, 2 9 7 - 3 0 6 . Mann, a.a.O., 27. Mann, a.a.O., 104. Mann, a.a.O., 143.
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»ein Ding so oft sagt, bis man verzweifelt - bis man's glaubt«, 8 sondern weil der dargelegte Sachverhalt doch irgendwie stimmt. Wagners Schriften dienen einem ganz bestimmten Zweck: der Selbstvergewisserung über das eigene Werk. Diesen Zweck, aber eben nur diesen, erfüllen sie in hervorragender Weise. Und Thomas Mann trifft dieses Faktum, wenn er schreibt: Der außerordentliche Verstand, den er in seinen kritischen Schriften bekundet, dient zwar nicht eigentlich dem Geiste, der 'Wahrheit', der abstrakten Erkenntnis, sondern seinem Werk, das er erläutern, rechtfertigen, dem er innerlich und äußerlich den Weg bereiten soll, - aber eine Tatsache ist er darum nicht weniger. 9
Aus dieser Perspektive erscheint es gerechtfertigt, sich mit Wagners theoretischen Schriften ernsthaft auseinanderzusetzen.
2. Zur Forschungssituation Wagners theoretische Schriften sind bisher überhaupt noch wenig eingehend für die Interpretation seiner Werke herangezogen worden. Noch seltener wurde der Versuch unternommen, sie als eigenständige intellektuelle und ästhetische Leistungen anzuerkennen. Dennoch sind in diesen Schriften ja Reflexe der wichtigen ästhetischen Strömungen enthalten, die im 19. Jahrhundert lebendig waren. Man belächelte Wagners Schriften: »Nie hätte jemand sie auch nur einen Augenblick ernst genommen ohne das Werk, das sie, solange man im Theater sitzt, zu beweisen scheint, und das doch eben nichts weiter beweist als sich selber. Ja hat überhaupt je jemand ernstlich an diese Theorie geglaubt?«10 Als repräsentativ für die Forschungssituation zu Wagners Werk und Theorie können die Aufsätze aus den beiden von Carl Dahlhaus herausgegebenen Bänden der Thyssen-Stiftung »Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk« (1970) und »Richard Wagner - Werk und Wirkung« (1971) gelten. Sie befassen sich zum größten Teil mit den Werken Wagners. Der erste Band enthält Beiträge zu Rienzi, Tannhäuser, zum Ring, zu Tristan, zu den Meistersingern, der zweite Band zusätzlich Beiträge zu Lohengrin und Parsifal. Außerdem widmet man sich 8
Nietzsche, Bd. 3, 352. ' M a n n , a.a.O., 104. 10 Mann, a.a.O., 27.
3
musikalisch-kompositorischen Fragen, z.B. dem vieldiskutierten »Geheimnis der Form« bei Wagner. Die Themen reichen über die Leitmotivtechnik, den Melodiebegriff und die »Unendliche Melodie«, Dynamik, Klangflächenkomposition, Instrumentation bis zu Wagners chromatischer Harmonik und seinem Verhältnis zur Sinfonie. Aber nur ein einziger Beitrag des zweiten Bandes beschäftigt sich mit Wagners Idee der Verbindung von Musik und Sprache und zieht dazu Oper und Drama heran. 11 Darauf ist zurückzukommen. Th. Mann scheint Recht zu behalten: erst durch Wagners Werk wird man aufmerksam auf seine Theorie. Dennoch: diese Theorie enthält, wie GregorDellin treffend bemerkt, den Schlüssel zu Wagners Selbstverständnis. 12 Es gibt zwei ältere Untersuchungen zu den Schriften Wagners: Hugo Dinger: »Richard Wagners geistige Entwicklung« (1892) und Paul Moos: »Richard Wagner als Ästhetiker« (1906). Hugo Dinger skizziert Wagners Weltanschauung in ihrer zeitlichen Entwicklung. Es ist naheliegend, daß er - aus einer eher philosophischen Perspektive argumentierend - ein Schwergewicht auf die Analyse der weltanschaulichen Phasen legt, die Wagner durchläuft. Besonders wird der Kontrast zwischen der junghegelianischen Phase, in der die theoretischen Schriften entstehen, und der Schopenhauerschen Phase, in der die späten Musikdramen entstehen, hervorgehoben. Unter diesem Gesichtspunkt nimmt die Standortbestimmung Wagners in Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Politik einen großen Raum ein, die Ästhetik erscheint nur am Rande. In seiner Zusammenfassung der Kunstlehre Wagners aus der junghegelianischen Periode erläutert Dinger den Begriff des Gesamtkunstwerks, 13 tritt aber entschieden einer Überbewertung der Ästhetik Wagners entgegen: Es ist verkehrt, gegenüber der mit einer dramatischen Begabung ohne gleichen vollzogenen Schöpfung des Wagnerschen Kunstwerks, dessen nebenbei formulierte theoretische Rechtfertigung seiner künstlerischen Tat zur Hauptsache zu machen. 1 4
Paul Moos liefert ein sehr ausführliches, nach Themen geordnetes Referat der Gedanken Wagners in dessen theoretischen Hauptschriften, ohne aber " Gerlach, Musik und Sprachein Wagners Schrift Oper und Drama. In: Dahlhaus, Richard Wagner - Werk und Wirkung, 1971, 9 - 4 0 . 12 Gregor-Dellin, 1983, 325. 13 Dinger, 1892, 308f. 14 Ders., 312.
4
vom Nacherzählen zur kritischen Analyse zu gelangen. Seine Kritik bleibt allgemein und richtet sich pauschal gegen Wagners Behauptung, Dichtung und Musik müßten in jedem Fall vereint werden; Moos sieht darin - natürlich richtig - die Erhebung einer Doppelbegabung zur allgemeingültigen Theorie.15 Auch die großen Biographien berücksichtigen die Schriften Wagners nur in geringem Umfang. Für Carl Friedrich Glasenapp ist typisch, daß er die theoretischen Schriften Wagners in einer völlig allgemein gehaltenen Begeisterung schildert, ohne die Gedanken genau zu referieren. Ja, er betont, man solle sich nicht ans einzelne halten, um die Schriften richtig genießen zu können. 16 Zu Oper und Drama werden nur die Briefe aus der Entstehungszeit zitiert, nicht aber das Werk selbst.17 Ernest Newman beschränkt sich darauf, die biographischen Umstände zu schildern, unter denen die theoretischen Schriften entstanden. Der beschriebene Kontext ist die Erweiterung des Nibelungenplans, hier erscheinen Oper und Drama und die anderen Schriften gewissermaßen als Beiwerk, nicht aber als Hauptquelle Wagnerscher Ästhetik. Diese erschließt Newman aus Briefen Wagners. 18 Auch die neueren Wagnerbiographen berücksichtigen Wagners Schriften kaum. Robert Gutmann widmet den vier Schriften Das Kunstwerk der Zukunft, Die Kunst und die Revolution, Das Judentum in der Musik und Oper und Drama ganze drei Seiten seiner umfangreichen Biographie." Curt von Westernhagen beklagt zwar, daß Wagners Schriften nicht wirklich aufmerksam gelesen und aufgenommen wurden, daß z.B. das Kunstwerk der Zukunft nicht mehr Folgen hatte als die Prägung der irreführenden Schlagworte »Zukunftsmusik« und »Gesamtkunstwerk«. 20 Aber auch er geht nicht weiter auf Wagners theoretische Erörterungen ein. Über Oper und Drama bemerkt er lediglich, daß dieses Buch der »abstrakte Ausdruck eines >künstlerisch-produktiven Prozesseswargroßen Gedankens< gegen die Burg.«, Rheingold, Klavierauszug F. Mottl, 246.
8
121
Der Wotanmonolog im 2. Akt Walküre bringt die genaue Erklärung des Plans, den Wotan am Ende des Rheingold gefaßt hat. Ohne diese Darstellung würde der Zuhörer die Hintergründe der Wälsungentragödie auch gar nicht begreifen, denn woher soll er wissen, daß Siegmund eigentlich der von Wotan ersehnte freie Held werden sollte. Ebenso ergeht es Wagner mit Brünnhildes Entschluß im 2. Akt der Walküre, Siegmunds Leben zu retten. Dies dürfte einer der wichtigsten Augenblicke der ganzen Tetralogie sein. Wagner schrieb in Oper und Drama: »Antigone verstand nichts von Politik, sie liebte«, das läßt sich mit gleichem Recht hier von Brünnhilde sagen. In Brünnhildes Entschluß manifestiert sich der entscheidende Schritt vom Gehorsam gegenüber Wotan, dem alles niederhaltenden Vertreter staatlicher Ordnungsprinzipien, zur Freiheit der Liebe. Die freiheitliche Liebe, zu der Brünnhilde wie ihr Vorbild Antigone fähig ist, wird musikalisch mit ihrem plötzlichen Ausbruch aus der düsteren Todesverkündigung dargestellt (»Sieglinde lebe, — und Siegmund lebe mit ihr!«). 10 Aber Brünnhildes Entscheidung für Siegmunds Leben wird erst im 3. Akt Walküre im Dialog mit Wotan begründet. Hier ringt sich Brünnhilde zu der Erkenntnis ihrer Liebesfähigkeit durch: »Der diese Liebe ins Herz mir gehaucht, dem Willen, der dem Wälsung mich gesellt, ihm innig vertraut - trotzt ich deinem Gebot.«11 Ohne diese Erklärung würde nicht klar genug verständlich, daß es die Entscheidung zur Liebe ist, die den Zwang, unter dem Wotan leidet, durchbricht. Es ist also durchaus nicht so, daß Wagner mit Hilfe der verstärkten Motive, die über die Musik unmittelbar das »Gefühlsverständnis« ansprechen sollen, auskäme. Er bedarf der Dialoge, die das Geschehen erläutern. Seine Ursache hat dies u.a. in der rationalen Methode, mit der diese Dramen konstruiert wurden, mit der hier Mythen als moderne Artefakte künstlich erdacht wurden. Diejenigen Motive, die aus freien Entscheidungen der Figuren hervorgehen und die, anders als die Zaubertränke, optisch und musikalisch nicht unmittelbar sinnfällig sind, bedürfen der Erklärung. Sie haben jeweils in ausführlichen Dialogen ihr episches Pendant, eine genaue verbale Analyse des innerseelischen Vorgangs, der sie zustandebrachte. Damit ist nur ein Aspekt der Funktionen bezeichnet, die Erzählungen im Ring haben können. Es würde sich lohnen, nach weiteren zu suchen. Die Erzählungen im Ring sind zahlreich und sie haben unterschiedlichen 10
MD, 626. " MD, 645.
122
Charakter. Zusammenfassend möchte ich sie hier in einer Tabelle darstellen. Bei dieser Tabelle wurde unterschieden zwischen solchen Erzählungen, die Vorgeschichte enthalten und solchen, die bereits innerhalb der Dramen geschehene Geschichte rekapitulieren. Erzählungen im Ring des Nibelungen Erzählung von Korgechichte Rheingold:
Erzählung von Dramengeschichte
Bau Walhalls
Erzählung der Riesen Loges Erzählung
Walküre 1: Siegmunds Erzählung Sieglindes Erzählung 2: Wotan-Monolog 3:
Brünnhilde/Wotan
Siegfried 1: Mimes Erzählung Wissenswette Mime/Wanderer Fafners Erzählung Wanderer/Erda
2:
3:
Erzählte Inhalte
Wanderer/Siegfried Götterdämmerung V: Nomen-Szene
Raub des Rheingolds Geschichte der Weisungen Gechichte des Schwerts Nothung Wotans Rettungsplan Rettung Siegmunds Geburt Siegfrieds Gesamtgeschichte Riesenschicksal Gelingen des Wotanplans Siegfrieds Taten
Weltesche und Gesamtgeschichte Hagens Wachtgesang
Waltrauten-Erzählung 2:
Hagen/Alberich
3:
Siegfrieds Jugenderzählung
Hagens Plan Wotans Resignation Hintergrund der Hagen-Intrige Siegfrieds Taten
123
Exkurs 3 Von der Geschichte zum Mythos
Am Beispiel der Entstehung des Ring soll kurz gezeigt werden, wie Wagner über die Geschichte zur Erfindung seines dramatischen Mythos gelangt. Das Beispiel des Ring ist schon deshalb naheliegend, weil der Ring und Oper und Drama etwa zur gleichen Zeit entstehen. Das Drama Siegfrieds Tod entstand im November 1848, Oper und Drama im Winter 1850/51, Der junge Siegfried im Mai/ Juni 1851, die Entwürfe und Textbücher zu Walküre und Das Rheingold entstanden im November 1851 und Juni bis November 1852. Die Entstehungsgeschichte des Ring zeigt besonders in ihrer frühen Dresdener Phase (1846-1849), die Oper und Drama unmittelbar vorausging, daß Wagner ursprünglich geschichtliche Dramenpläne hatte und danach erst zur mythologischen Stoffgrundlage vorstieß. Die Mythologie verhalf dann auch dazu, die eigene Zeitgeschichte überzeitlich zu deuten, ihr eine mythische Dimension zu geben. Oper und Drama diente insofern nachträglich der Klärung und Rechtfertigung dieses Vorgangs. Am 31. Oktober 1846 entwirft Wagner ein Barbarossa-Drama »Friedrich I.«. Er verwirft das Konzept wieder, greift es aber 1848 während seiner Beschäftigung mit dem Nibelungenmythos wieder auf. 12 Daraufhin schreibt er »Die Wibelungen, Weltgeschichte aus der Sage«,13 eine komplizierte Erzählung, in der er Mythos und Geschichte zusammenschweißt. Mit Hilfe eines etymologischen Tricks versucht Wagner, Friedrich I. als einen Nachkommen des altheidnischen Siegfried zu deuten. Er leitet die Hohenstaufen von den Nibelungen ab. Die in der Lombardei zerstrittenen Parteien der Ghibellinen (nach der staufischen Burg Waiblingen) und Guelfen (d.h. 12
Gregor-Dellin, a.a.O., 245. Dazu schreibt Wagner in »Eine Mitteilung an meine Freunde«: »Zwei solcher Entwürfe, die mich bereits seit längerer Zeit beschäftigt hatten, stellten sich mir jetzt fast zugleich dar, wie sie der Eigentümlichkeit ihres Inhaltes nach mir überhaupt fast für eine galten. Noch während der musikalischen Ausführung des Lohengrin, bei der ich mich immer wie in einer Oase in der Wüste gefühlt hatte, bemächtigten sich beide Stoffe meiner dichterischen Phantasie: es waren dies Siegfried und Friedrich der Rotbart.«, WB VI, 288. 13 Richard Wagner, VA II, 115-155. 124
Weifen) 14 dienen dazu. Analog zum Wort Weifen lasse sich Ghibellinen auch Wibellinen aussprechen. Wibellinen heiße aber ursprünglich Wibelungen und gehe auf Nibelungen zurück. Durch dieses etymologische Spielchen wird Friedrich I. Barbarossa zu einem späten, geschichtlichen Nachkommen des Gottessohnes Siegfried, in ihm scheint der Mythos zur Geschichte geworden. Eine Remythologisierung der Geschichte stellt für Wagner nur die Wiederherstellung der ursprünglichen Wahrheit dar. 1 5 Natürlich ist die Grundlage für diese eigenartige Mischung aus Mythos und Geschichte ziemlich aus der Luft gegriffen. Gregor-Dellin weist darauf hin, daß Wagner hier - ganz ähnlich bereits wie Oswald Spengler — dazu neigt, mit einem geradezu feuilletonistischen Rundumschlag alles und jedes miteinander in Beziehung zu setzen. 16 Wagner geht nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern er leitet auch in die Gegenwart über. Er verfolgt das wort »Nibelung« über deutsche und fränkische Namen und denkt sich auch noch eine Beziehung zwischen Nibelung und Nabeion - Napoleon aus. Napoleon ist ein letzter Nibelung, der aus dem Süden auftauchte, um die Weltherrschaft zu ergreifen, so interpretiert Gregor-Dellin diese Gedankenspekulation Wagners. 17 Nach dieser eigenwilligen Verknüpfung von Mythos, Geschichte und Zeitgeschichte geht Wagner die historische Rechtfertigung seines mythischen Dramas auf. Er schreibt sofort nach dem Wibelungen-Aufsatz den ProsaEntwurf zur gesamten Ä/ngfabel »Der Nibelungenmythos, als Entwurf zu einem Drama« (4. Oktober 1848) und setzt sich mit einem Schlag über die gesamten Probleme seiner bisherigen geschichtlichen Dramenentwürfe hinweg, die ihn innerlich soweit belasten, daß er bereits Schauspiele statt Musikdramen schreiben will. 18 Die etymologischen Phantasien, die Wagner entwickelt, sind zwar abwegig, aber dennoch aufschlußreich, weil sie zeigen, wie wichtig ihm eine Verankerung des Mythos in Geschichte ist. Sie zeigen, daß er den Mythos nicht als zeitloses Abstraktum, sondern als eine Verallgemeinerung des konkret Historischen versteht. Das gilt auch für die Zeitgeschichte. Seine politischen Ideale sprechen hier eine deutliche Sprache. Eine zentrale Rolle 14
Karl Ploetz, Auszug aus der Geschichte, Würzburg 1956, 478. Gregor-Dellin, a.a.O., 177. " D e r s . , 246. 17 Ders., 247. 18 Wagner: »Nochmals, und zum letzten Male, stellten sich mir Mythos und Geschichte gegenüber, und drängten mich diesmal sogar zu der Entscheidung, ob ich ein musikalisches Drama, oder ein rezitiertes Schauspiel zu schreiben hätte.« WB VI, 289. 15
125
spielt für Wagner die Figur des revolutionären Erlösers, seine »Lieblingsidee«. 19 Siegfried ist dieser Erlöser und Revolutionär, ebenso aber auch Wagners Jesus in dem Entwurf »Jesus von Nazareth« (Januar 1849). Jesus wird hier als Sozialrevolutionär dargestellt, der sich für die Menschheit opfert - Wagner verquickt urchristliche, emanzipatorische und sozialutopische Vorstellungen und schafft ein wirres Konglomerat, dasselbe, welches Marx an den »wahren Sozialisten« kritisierte. 20 Der Idee des revolutionären Erlösers anhängend, entwickelt sich Wagner in seiner politischen Haltung ambivalent. Er ist durch ein Schwanken zwischen republikanischem und monarchistischem Denken geprägt, was dieser Idee völlig entspricht - ist doch der revolutionäre Erlöser Befreier, Volksheld und Machthaber in einem. Wagner ruft im unruhigen vorrevolutionären Dresden in allen politischen Lagern größten A u f r u h r hervor, als er am 15. Juni 1848 seinen Aufsatz »Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtum gegenüber« als Rede vor dem Vaterlandsverein hält. Die Forderung nach Aufhebung der ersten Kammer und Abschaffung der Aristokratie verbindet Wagner mit einer Apologie des Königshauses: dem König solle die Rolle eines Ersten unter Gleichen zugebilligt werden. Damit verärgert Wagner sowohl die Monarchisten als auch die Republikaner. 21 In Wagners Dramen geht der aus dieser ambivalenten politischen Haltung geborene Kerngedanke einer Revolution von oben ein. Wotan ist der Drahtzieher Siegfrieds, dieser der von oben kontrollierte Volksbefreier; der aufrührerische Walther von Stolzing tritt als eigensinniger und durchaus arroganter Aristokrat dem Nürnberger Bürgertum gegenüber, um es zur wahren Kunst zu bekehren; schließlich — der unwissende Parsifal muß erst lange von Gurnemanz belehrt werden, bevor er, ebenfalls von oben geleitet, zum Erlöser werden kann. In der Wirklichkeit überträgt Wagner die Rolle des revolutionären Erlösers folgerichtig auf die Herrscher der Zeit, auf Napoleon, auf den König von Sachsen, auf Ludwig II. von Bayern. 22 So konkret immerhin sind Beziehungen zwischen Geschichte und Mythos bei Wagner aufzuzeigen.
19
Gregor-Dellin, a.a.O., 254. Ebd. 21 Ebd., 139. 22 Ebd., 855. 20
126
Exkurs 4 D i e jüngere Inszenierungsgeschichte des Ring
Einige Bemerkungen von Regisseuren, die sich in jüngster Zeit mit dem Ring beschäftigt haben, sollen am Schluß stehen. In der Inszenierungsgeschichte ist es Günther Herz, der am deutlichsten die These vertritt, Wagners Ring sei von einem Sozialrevolutionären Ansatz bestimmt, seine Mythen seien parabolische Darstellungen vom Zusammenbruch bestimmter Ideologien, sie dienten zur allegorischen Darstellung der gesellschaftlichen Miseren der eigenen Zeit. Herz: Nach unserer Meinung ist der Ring des Nibelungen eine Parabel, die Bezug hat auf Wagners eigene Zeit. Belege dafür aus Wagners Briefen und Schriften haben wir häufig angeführt, ... 23 Und Herz beruft sich auf Tibor Kneif: Wagner amalgamierte ein Stück Weltgeschichte mit anschaulichen Phantasiegestalten, die einmal selber schon mythische Deutung von Geschichte waren. Was in solchem Verfahren allein entstehen konnte, ist Mythos aus der Retorte und als solcher gar keiner ... Die altgermanische Sage, zum synthetischen Mythos umgeformt, gibt darin das eigentümliche Mittel einer philosophischen Geschichtsdeutung ab ,.. 24 Herz schreibt weiter: Wagner zeigt den Zusammenbruch der Ideologien. Der Ideologie von >law and order< ... Den Zusammenbruch auch einer Ideologie des heldenhaften Einzelkämpfers, der ohne Kenntnis und Einsicht, krankhaft furchtlos, einer Umwelt nicht gewachsen sein kann, die längst mit ganz anderen Mitteln arbeitet. 25 Die Konkretion, mit der Herz hier die in Wagners Dramen aufgegriffenen Schwachpunkte der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts benennen kann, spricht für Wagners Wirklichkeitssinn.
23
Herz, 1978, 56. Kneif, 1970, 217. 25 Herz, a.a.O., 57. 24
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Einen anderen Ansatz als Herz hat Patrice Chereau, doch seine pessimistischer gestimmte Deutung des Ring beruht auf der gleichen Interpretation des Mythos als Bild von Zeitgeschichte: Was sonst sollte ein Theater-Regisseur tun, als allegorische Bilder zu schaffen, in denen sich die Menschen wiedererkennen und woraus sie ihre Todesängste, ihr Schicksal und ihre Furcht ablesen können. Wagner hat im Ring nichts anderes getan ... Man bringt Wagners Ring auf die Bühne, ... weil man glaubt, ... daß uns die Zuflucht zum Mythos, zum Märchen, zur deutschen Philosophie und gleichzeitig zum gemeinsamen Ursprung der indo-europäischen Fabeln hilft, von uns heute zu sprechen ... Letztlich liegt die wahre Aussage des Ring nicht so sehr in der Geburt ... freien Menschen, sondern sie ist vielmehr eine überwältigende Vision Wagners von der Macht, der politischen Macht, der Gesellschaft und dem modernen Staat. Der Ring ist eine Beschreibung der schrecklichen Perversion ... der Mechanismen eines starken Staates, ... der von Anfang an seine eigene Apokalypse programmiert hat, weil sich ihm nur das einzige Problem stellt: die Macht zu erhalten. 26 Wagner, so scheint es, hat weit vorausgedacht. Er kritisiert im Mythos nicht nur die eigene Zeitgeschichte, sondern auch die unsrige.
26
Chereau, 1978, 132-133. 128
Bibliographie
Aufsätze sind unter dem Namen des Autors in die Bibliographie aufgenommen. Aufsatzsammlungen, die hier nicht vollständig, sondern nur abgekürzt angegeben werden (Herausgeber, Titel, Jahreszahl), sind vollständig unter dem Namen des Herausgebers zu finden.
I. Selbstzeugnisse Wagner, Richard: Sämtliche Schriften und Dichtungen. 16 Bde., Leipzig o.J. (Volksausgabe 1911). — An Mathilde und Otto Wesendonck, Tagebuchblätter und Briefe. Hg. Julius Kapp, Leipzig o.J. (1915). — Die Musikdramen. Hg. Joachim Kaiser, München 1971. — Briefe. Hg. Hanjo Resting, München/Zürich 1983. — Dichtungen und Schriften. 10 Bde., Hg. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1983. — Mein Leben. Hg. Martin Gregor-Dellin, München 1983. — Oper und Drama. Hg. Klaus Kropfinger, Stuttgart 1984. Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1869-1877 und 1878-1883. 2 Bde., Hgg. Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, München/Zürich 1976.
II. Literatur Ackermann, Peter: Richard Wagners »Ring des Nibelungen« und die Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1981. Adam, Antoine: Histoire de la litterature francaise au XVII sifccle. 5 Bde. Bd. 1: L'Epoque d'Henri IV et de Louis XIII. Paris 1948. Adorno, Theodor W.: Versuch über Wagner. Berlin/Frankfurt a.M. 1964. Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart 1980. Aristoteles: Die Poetik. Hg. und Übers. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1986. Aust, Hugo: Literatur des Realismus. Stuttgart 1981. Barner, Wilfried: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. — Lessing. Epoche, Werk, Wirkung. München 1981. Bauer, Oswald Georg: Richard Wagner. Die Bühnenwerke von der Uraufführung bis heute. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1982. 129
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