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German Pages 323 [324] Year 1962
V O N STEIN, D I C H T U N G U N D M U S I K IM WERK R I C H A R D WAGNERS
DICHTLNGLNDMUSIIC IMWERIC RICHARD WAGNERN yon Hcrhcri vonSitin
MIT 169 N O T E N B E I S P I E L E N
WALTER DE G R U Y T E R & C O . V O R M A L S G. J. G Ö S C H E N - S C H E VE RL A G S H AN D LU N G J.GUTTENTAG VERLAGSBUCHHANDLUNG • GEORG REIMER KARL J . T R O B N E R • V E I T & C O M P .
BERLIN
1962
Gedrudtt mit Unterstützung der JOACHIM-JUNGIUS-GESELLSCHAFT der Wissenschaften e. V., Hamburg
© Copyright 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung / J . Guttentag Verlagsbuchhandlung / Georg Reimer / Karl J . Trübner / Veit & Comp., Berlin W 30 — Alle Redite, einsdiließlidi der Redite der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vom Verlag vorbehalten. — Printed in Germany. Ardiiv-Nr. 13 49 621. — Satz und Drudt: Thormann 6c Goetsdi, Berlin-Neukölln. Einbandentwurf: Johannes Boehland
VORWORT Das Urteil unserer Zeit über Ridiard Wagner ist durch Gegensätze gekennzeichnet, wie sie so sdiroff selbst im neunzehnten Jahrhundert einander kaum gegenübergestanden haben. Dabei hat es die Entwicklung der neueren Musik mit sich gebracht, daß namentlich in den Kreisen gewisser Fachleute die Zahl der Eiferer gegen Wagner größer geworden ist als die seiner einst ebenso übereifrigen Anhänger. Auf der andern Seite gründet sich manche Zustimmung zu Wagner auf einen Irrtum über Sinn und Ziele wahrer Kunst und ist darum vielfach nicht höher zu bewerten als die Einstellung derjenigen Kritiker, die aus einer oft nur ganz oberflächlichen Kenntnis des Werkes Richard Wagners urteilen und doch ohne weiteres zu einer ablehnenden Haltung berechtigt zu sein glauben — so daß ihnen gegenüber das Wort von den „Fachleuten" allerdings wieder zurückgenommen werden muß^. Es bleibt demgegenüber bestehen, daß eine Anzahl sehr bedeutender Musiker Wagner durchaus als einen der Ihrigen betrachtet haben. Für Künstler wie M a x Reger, Richard Strauß oder Hans Pfitzner stand Wagners Bedeutung so selbstverständlich fest wie diejenige Bachs, Mozarts und Beethovens. Anton Bruckner sah in dem über alles verehrten Vorbild seines eigenen Schaffens den „Meister aller Meister" und widmete ihm seine dritte Symphonie. Freilich tat er dies nach einem schönen Wort von Walter Wiora nicht so sehr als Anhänger von Wagners „Personal- und Parteistil, sondern als sein Weggenosse in stillern und großartigem Entwicklungszügen^". Eine ähnlidie Haltung ist überall dort zu finden, wo aus wirklicher Verantwortung heraus geurteilt wird — nicht also in den Kreisen derjenigen Kritiker, die die Arbeit des Alltags besorgen, wohl aber bei Beurteilern, deren Wort über den Tag hinaus gilt. Ein Ausspruch Furtwänglers wird in diesem Zusammenhang anzuführen sein. Aber selbst ein Musiker wie Paul Hindemith, der doch bewußt durchaus andere künstlerisdie Ziele verfolgt als Wagner, gelangt in seiner „Unterweisung im Tonsatz" dazu, unter ganz wenigen musikalischen Beispielen auch das Vorspiel von Tristan und Isolde zu analysieren und in seinem rein musikalischen Aufbau eingehend zu würdigen. Neben solchem Urteil aus wirklichem Verantwortungsbewußtsein ist hin und wieder eine Haltung anzutreffen, die — wie Nietzsche noch in seinen letzten Schriften — die äußersten Gegensätze von Bewunderung und Ablehnung in sich gleichsam zu vereinigen sucht; so, wenn etwa Spengler in ' Mit Recht tadelt Paul Loos, daß an maßgeblichen Stellen des „Kulturbetriebs" eine voreingenommene Wagnerfeindschaft herrsche, die „weitgehend kcnntnislos etwas Unbegriffenes verurteilt" (Paul Arthur Loos: Richard Wagner, München 1952, S. VIII). 2 „Die großen Deutsdien": Anton Bruckner (Berlin 1936, Bd. IV, S. 138).
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VORVORT
Tristan den „riesenhaften Sdilußstein" der abendländischen Kunst erblickt und dennoch keine Gelegenheit ungenutzt läßt, um Zweifel an Wagner zu äußern. Ähnlidi zwiespältige Ansichten finden sidi bei Thomas Mann und Paul Bekker. Solche Haltung läßt dann freilich oft auch die Ehrfurcht vermissen, die gegenüber bedeutender Kunst als der Offenbarung eines wahren Gotteswunders weit eher ziemt als eine allzusehr hervorgekehrte Überlegenheit des kritischen Urteilsvermögens — Ehrfurcht, wie sie als unverrüdcbare Grundlage künstlerischen Empfindens und Anschauens einem Albert Schweitzer oder Anton Bruckner zu eigen ist und beide über Wagner manches schöne und von Herzen kommende Wort finden läßt — Ehrfurcht und Achtung, wie sie auch für Wagner gegenüber seinen großen Vorgängern allezeit selbstverständlich war, so daß sie für den, der zu hören versteht, sehr vernehmlich gerade auch aus seinen eigenen Werken spricht. Damit wird nun freilich eine Seite von Wagners Wesen berührt, die dem herkömmlichen Bilde so sehr zu widersprechen scheint, daß man sie wohl als die am wenigsten bekannte bezeichnen darf. Sie zieht sich dennoch durch das ganze Schaffen des Dichters wie des Musikers — Demut des Dienens, wie sie sich in Kurwenal und Kundry verkörpert, still lädielndes Sichbescheiden entsagender Weisheit, der der DicJiter in Hans Sachs Ausdruck gegeben und dabei deutlich Züge seiner selbst verliehen hat. Vor allem der Begegnung mit dieser Seite seiner Kunst, die für die Augen allzu vieler durch die große Geste des Tragikers verdeckt worden ist, verdanken die folgenden Aufzeichnungen ihre Entstehung. Sie sind aus immer erneuter lebendiger Berührung mit einer Kunst erwachsen, die seit der Umgestaltung der Bayreuther Bühnenbilder durch Wieland und Wolfgang Wagner nicht nur von neuem bedeutungsvoll in den Vordergrund getreten ist, sondern zugleich ihre zeitlose Gültigkeit offenbart hat. In verändertem Gewände zum Gegenstand weltweiter Erörterungen geworden, ist das Werk Wagners durch diese jüngste Entwicklung gleichzeitig dem eingangs erwähnten Streite der Meinungen bis zu einem gewissen Grade entrückt worden. Sein vergänglichster Teil, die äußere Erscheinung auf der Bühne, ist von ihm abgefallen. Um so klarer tritt sein eigentlicher künstlerischer Gehalt hervor. Nicht eine „Weltanschauung" ist dabei das Entscheidende, sondern das Kunstwerk selbst. Indem es von wesensfremden Zutaten befreit wird, vermag es durch sich selbst zu wirken und damit wiederzugewinnen, was Willkür und Engherzigkeit zerstört haben: den Zusammenhang sowohl mit der Überlieferung wie mit der Gegenwart. Eine kunstgeschichtlich verhängnisvolle Lücke könnte dadurch geschlossen werden; denn wieweit immer die Ziele der heutigen Musik von Wagner entfernt sein mögen, so ist doch die musikgeschichtliche Entwicklung ohne die entscheidende T a t des Musikers, der den Tristan geschrieben hat, gar nicht denkbar. Wagner verleugnen oder — was noch bedenklicher ist — ihn nicht mehr kennen heißt eine Grundlage nicht wahrhaben wollen, auf der man dennoch unabänderlich fußt.
VORWORT
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Zwei Aufgaben sind damit vor allem gestellt: die Erfassung derjenigen Seite Wagners, die allem lauten Wesen seiner eigenen wie unserer heutigen Zeit von Grund auf abgewandt ist und ihn durchaus anders sein läßt, als er sidi der üblichen Auffassung darstellt, darüber hinaus aber die Einsicht in die Form seines Werkes. Hier sind Vorurteile und unzutreffende Meinungen womöglich nodi stärker verbreitet und haben das Bild des Künstlers, namentlich aber des Musikers, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Eine gründliche Darstellung der Tatsachen bedarf zunächst der Auseinandersetzung mit den landläufigen Einwänden. Das Wesentliche hierzu wird in dem einleitenden Abschnitt über den „Fall Wagner" gesagt. Gerade heute ist ferner eine Verständigung über diejenige Fähigkeit der Musik erforderlich, die von Nietzsche als ihr „Spradivermögen" bezeichnet worden ist. Im Einklang mit bestimmten Ergebnissen der Musikphilosophie wie der Ästhetik, aber auch der schöpferischen Musiker selbst sucht der zweite Abschnitt Grundlagen zu entwickeln, die ein unzureichend erforschtes Gebiet der Vorherrscäiafl allzu subjektiver Empfindungen entziehen und an ihre Stelle objektive Zusammenhänge setzen. Wird hierbei vor allem das Wesen der Thematik in Wagners Musik genauer untersucht, so ist dagegen der dritte Abschnitt dem Aufbau der Formen gewidmet, deren Wagner sich in den Werken seiner Reifezeit bedient, um die Erfordernisse des Dramas mit den Gesetzen der absoluten Musik in Einklang zu bringen. Grundlage der Darstellung sind die Entdeckungen von Alfred Lorenz'. Ergebnisse, die in ihrer rein wissenschaftlichen Form einer breitern Allgemeinheit unzugänglich bleiben müssen, werden hier in ihren wesentlichsten Zügen mitgeteilt, aber auch kritisch geprüft und durch die Behandlung von Fragen ergänzt, an denen Lorenz vorbeigegangen ist (vgl. hierzu namentlich S. 72 und 86 ff.). Der vierte Abschnitt, dem Werk des Dichters gewidmet, behandelt die Dramen Wagners im Zusammenhang mit den grundlegenden Einsichten, wie sie in „Oper und Drama" dargelegt werden. Wagners Wort von der zweifachen Art, in der der Mensch Dichter sei, nämlich „in der Anschauung und in der Mitteilung", ergibt eine natürliche Trennung nacJi allgemein dramatischer und rein sprachlicher Gestaltung. Anmerkungen zu den einzelnen Werken vom Fliegenden Holländer bis zu Parsifal fassen schließlich zusammen, was in den vorangegangenen Abschnitten getrennt behandelt worden ist. An die Stelle des Mosaiks, wie es sich aus der herkömmlichen Betrachtung der einzelnen Leitmotive ergibt, tritt dabei eine zusammenfassende Überschau. Der formale Aufbau der Musik, im dritten Abschnitt überwiegend theoretisch erfaßt, kann damit am lebendigen Einzelfall verdeutlicht werden. Größerer Raum als sonst gilt hierbei der Formung der Gesangsstimme. Darüber hinaus ' Alfred Lorenz: Das Geheimnis der Form bei Richard Wagner (vier Bände), Berlin 1924—1933.
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VORVORT
verbinden sidi mit der Betraditung des dramatisdien Ablaufs ganz von selbst Anmerkungen mannigfacher Art. Da sie der unmittelbaren Berührung mit dem Werke selbst entspringen, können sie der Gefahr verallgemeinernder Wertungen, wie sie gegenüber Wagner so sehr verbreitet sind, ohne Schwierigkeit begegnen. Ihr Gegenstand ist freilich in jedem Falle das Kunstwerk selbst und nicht die vermeintlich so maßgebende „Weltanschauung" Wagners, die bald um künstlerischer, bald um politischer Ziele willen mißbraucht wird. Einzig auf diesem Wege kann eine Kunst, die zwar die Grenzen ihres Jahrhunderts entscheidend überschritten, immer aber ihr Maß gewahrt hat, wirklich gewürdigt werden. Bevor die Darstellung sich von der hiermit gegebenen Übersicht ihrem eigentlichen Gegenstand zuwendet, habe ich all denen zu danken, die die Veröffentlidiung der vorliegenden Arbeit gefördert haben: an erster Stelle der JoachimJungius-Gesellschafl und ihrem Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Karl-Heinz Schäfer, Hamburg, für den Beitrag zu den Druckkosten, durch den das Erscheinen des Buches ermöglicht worden ist; des weiteren Herrn Prof. Dr. Otto Brunner, Hamburg, Herrn Prof. Dr. Georg von Dadelsen, Hamburg, Herrn Prof. Dr. Hans Joachim Moser, Berlin, und Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schöne, Hamburg, für Durchsicht und kritische Beurteilung des Manuskriptes wie für die damit verbundene Förderung aller auf den Druck bezüglichen Maßnahmen. Mein Dank gilt ebenso dem Verlag Walter de Gruyter für die von Beginn an bewiesene verständnisvolle und entgegenkommende Haltung, die meinen Wünschen in jeder Hinsicht gerecht geworden ist. Timmendorfer Strand, im Juni 1962
Herbert von Stein
Inhalt Vorwort I. Der „Fall Wagner« II. Die Sprache der Musik I I I . Die Form der Musik Wagners IV. Das Werk des Dichters V. Die einzelnen Werke 1. Der fliegende Holländer 2. Tannhäuser 3. Lohengrin
^ H 27 58 113 184 184 204
4. Das Rheingold
216
5. Die Walküre
228
6. Siegfried, erster und zweiter Aufzug
241
7. Tristan und Isolde
249
8. Die Meistersinger von Nürnberg
265
9. Siegfried, dritter Aufzug 10. Götterdämmerung 11. Parsifal
280 285 299
Schlußwort
313
Anhang Personenregister
315 319
Sachregister
321
I. DER „FALL WAGNER" „Was Redites je ich riet, andern dünkte es arg; was schlimm immer mir sdiien, andre gaben ihm Gunst." Wollte Wagner das Los bezeichnen, das seinen künstlerischen Bestrebungen zuteil werden sollte, dann konnte er es wohl nicht treffender tun als mit diesen Worten Siegmunds, des Verfolgten. „In Fehde fiel ich, wo ich mich fand", klagt Siegmund weiter; „Zorn traf mich, wohin ich zog." Nidit anders erfuhr Wagner es zeit seines Lebens. Alle äußere Anerkennung, ja Ehrung, konnte niclit darüber hinweghelfen, daß er im tiefsten unverstanden blieb, daß das „Rechte", das er riet, abgelehnt wurde, während man in unveränderter Gunst hochhielt, was er als verfehlt und schädlich erkannt hatte. Die Frage nach der Ursache soldier Spannungen drängt sich auf. Man darf nidit erwarten, sie in einer kurzen Formel zu finden. Zu mannigfaltig sind die Gründe endloser Mißverständnisse, zu neu aber war vor allem, was Wagner wollte, als daß es selbst heute, an hundert Jahre später, allgemein verstanden werden könnte. Wagner forderte dramatische Wahrheit, wo man in erster Linie nur nach Musik verlangte und das Drama höchstens als Zutat ansah. Aller Virtuosität abhold, stellte er seinen Sängern Aufgaben, wie es sie nie zuvor gegeben hatte. Zum Dienst am Gesamtkunstwerk berufen, mußten die Künstler, ob Sänger oder Orchestermusiker, auf jedwedes solistische Hervortreten verzichten, wenn das Drama die Gelegenheit hierzu nicht von sich aus bot. Der Zuhörer aber sollte das Wort des Dichters nicht mehr nur als Unterlage des Gesanges auffassen, sondern es als ebenbürtig mit der Musik ansehen und ihm nicht anders folgen, als wenn ihm ein gesprodienes Drama vorgeführt würde. Vielleicht war es gerade diese Forderung, die dem vollen Verständnis der Absichten Wagners schließlichi entscheidend im Wege stand. Zu solchen Schwierigkeiten, die im Grundsätzlichen liegen, da das Drama wie die Musik neuen Gesetzen unterworfen werden mußten, gesellte sich die Ungunst geschichtlicher Zufälle: die nachhaltige Gegnerschaft Hanslicks, aber auch das Zerwürfnis mit Nietzsdie. Es hatte sehr viel tiefere Ursachen, beruhte zuletzt aber auf ähnlidien Mißverständnissen. Erst die wissenschaftliche Arbeit von Jahrzehnten konnte hier ein wenig aufklärend wirken. Ihre Ergebnisse aber sind heute nodi längst nicht genügend in das Bewußtsein breiterer Kreise gedrungen, als daß man den „Fall Wagner" endgültig zu den Akten legen und die Kunst eines unserer großen Musiker und Dichter uneingeschränkt würdigen könnte. —
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DER „FALL
WAGNER"
In pOper und Drama" sdiildert Wagner einmal mit der ganzen Fülle seiner dichterisdien Anschaulidikeit das Verhältnis des Dichters zum Musiker im Zeitalter Spontinis: „Er blieb immer der Bereiter von Unterlagen für die ganz selbständigen Experimente des Komponisten. Fühlte dieser durdi gewonnene Erfolge sein Vermögen zu freierer Bewegung innerhalb dieser Form wachsen, so gab er dadurdi dem Dichter nur auf, ihn mit weniger Befangenheit und Ängstlichkeit bei Zuführung des Stoffes zu bedienen; er rief ihm gleichsam zu: ,Sieh, was ich vermag! Geniere didi nun nicht; vertraue meiner Fähigkeit, auch deine gewagtesten Kombinationen mit Haut und Haar in Musik aufzulösen!' — So ward der Dichter vom Musiker nur mit fortgerissen; er durfte sich sdiämen, seinem Herrn hölzerne Steckenpferde vorzuführen, wo dieser imstande war, ein wirkliches Roß zu besteigen, da er wußte, daß der Reiter die Zügel tüchtig zu handhaben verstand — diese musikalischen Zügel, die das Roß in der wohlgeebneten Opernreitbahn schulgerecht hin und her lenken sollten und ohne die weder Musiker noch Dichter es zu besteigen sich getrauten, aus Furcht, es setze hoch über die Einhegung hinweg und liefe in seine wilde, herrliche Naturheimat fort." Das sind Worte, die deutlich erkennen lassen, wie Wagner keineswegs daran dachte, die Fortschritte seiner Vorgänger in der Riditung auf das Dramatische etwa zu leugnen. Dann aber spricht er freilich von der „wilden, herrlichen Naturheimat", der die Opernmusik seiner Zeit so fern ist. Darin äußert sich die idealisierende Haltung, die in seinem Anruf der „heiligen Antigone" vielleicht am stärksten Ausdruck findet — dort, wo Kreon vor der Leiche seines Sohnes steht und wo mit ihm, „im Innersten verwundet", der Staat zusammenstürzt, „um im Tode Mensch zu werden" —, die Haltung Tassos gegenüber Antonio, an der Goethe, der Macht der Wirklichkeit wohl bewußt, den Dichter allerdings zuletzt auch scheitern läßt. Wagner ist nun freilich kein Tasso, und seine Gegner bleiben von der maßvollen Weisheit Antonios vollends weit entfernt; aber etwas von dem Zwiespalt zwischen den beiden, einem Gegensatz, in dem Goethe um seiner selbst willen sich wesentlich doch für Antonio entschieden hat, kehrt in dem Zwist zwischen Wagner und einer ewig feindseligen Umwelt ganz entschieden wieder; und wie an Tasso und Antonio die Geister sich immer von neuem scheiden werden, so wird es wohl auch hier für alle Zukunft geschehen müssen, es sei denn, daß die Einsicht in eine ganz andere Wirklichkeit des Wagnerschen Werkes an Stelle der dafür angesehenen sich endlich Bahn bricht. Die Einwände der Gegner Wagners haben sich im Laufe eines Jahrhunderts mannigfach gewandelt; aber um Ausflüchte ist man niemals verlegen gewesen. Und wenn das Neuartige seiner Musik heute nicht mehr verfängt, da unsere Ohren sidi längst schon an ganz anderes gewöhnt haben, so fordert man die „strenge Form" (wenigstens im zeitlichen Ablauf cier Musik, während man die Gesetze der Harmonik um so gründlicher mißachtet), oder man erhebt den
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R u f nadi einer objektiven, nidit mehr vom Gefühl getragenen Musik, nach einer Kunst, die darauf verzichtet, Ausdruck der großen Persönlichkeit zu sein (all das in einem Zeitalter, in dem man die Herrsdiafi: einer überwiegend verstandesmäßigen Haltung in der Naturwissenschaft und die Vermassung der Mensdiheit durch die Technik bekämpft). In der neuesten Zeit aber sucht man die Künstlerpersönlichkeit Wagners allein schon durdi die unbestreitbare Tatsache der herrschenden Meinungsverschiedenheiten in Frage zu stellen und so das Verdammungsurteil endgültig und unwiderruflich zu machen. Thomas Mann spricht in seinem Buche „Die Entstehung des Doktor Faustus" mit einer erstaunlichen Offenheit von der „Aufsässigkeit", die solcher Haltung der Widersacher Wagners zugrunde liegt: „Adorno gab mir damals seine sehr kluge Abhandlung über Wagner zu lesen, deren kritischer Gebrochenheit und nie ganz ins Negative abgleitender Aufsässigkeit es nicht an Verwandtschaft mit meinem eigenen Versuch ,Leiden und Größe Ridiard Wagners' fehlt. Es war wohl diese Lektüre, die mich eines Abends bestimmte, mir Aufnahmen von Elsas Traum mit dem magischen Einsatz der pp-Trompeten bei den Worten ,in lichter Waffen Scheine ein Ritter nahte da' und die Schlußszene von Rheingold mit ihren gehäuften Schönheiten und Sinnigkeiten wieder vorzuführen: dem ersten Aufbruch der Schwertidee, der wundervollen Manipulation des Walhallmotivs, Loges genial charakterisierenden Zwischenreden, diesem ,Glänzt nicht mehr euch Mädchen das Gold' und vor allem dem unbeschreiblich sentimental zu Herzen gehenden ,Traulich und treu ist's nur in der Tiefe' des Rheintöchterterzetts. ,Die Dreiklangwelt des Ringes', gesteht mein Tagebuch, ,ist im Grunde meine musikalische Heimat'." Allerdings ist hinzugefügt: „Und doch werde ich am Klavier des Tristanakkordes nicht satt." Es wäre verfehlt, wollte man aus diesen Worten ein Bekenntnis Thomas Manns zu Wagner herauslesen. Immer wieder melden sich bei ihm Bedenken und Vorbehalte, ja selbst die Frage, ob diese Musik überhaupt jemals „rein" gewesen sei, wird nicht unterdrückt. Bei der so ganz anders gerichteten geistigen Haltung Thomas Manns wäre ja auch das Gegenteil weit eher verwunderlich. Immerhin darf man ihm für das so offene Wort von der „Aufsässigkeit" dankbar sein. Neben solcher Kennzeichnung einer Gegnerschaft, der Thomas Mann sich ohne Zweifel nicht zurechnet, bleibt nun freilich sein Schwanken zwischen gefühlsmäßiger Bejahung Wagners und verstandesmäßiger Ablehnung — oder mindestens Anzweiflung — unleugbar bestehen. Nicht er allein ist in solcher Art an Wagner irre geworden, und wenn oben einige Gründe genannt worden sind, die es zu dem „Fall Wagner" haben kommen lassen, so dürfte eine Auseinandersetzung mit dem oft zu beobachtenden Zwiespalt, in den gegenüber Wagner Verstand und Gefühl so leicht zu geraten drohen, von nicht geringem Nutzen sein.
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DER „FALL WAGNER"
Es geht hier zunächst um Musik. Musik aber — und erfahrungsgemäß ganz besonders die Musik Wagners — hat eine außerordentlidie unmittelhare Macht. Alle bloß begrifflichen Vorstellungen über ihr Wesen, alle Meinungen, die sich bilden, wenn erst die Töne selbst zum Schweigen gekommen sind, alle Behauptungen, die dann aufgestellt werden, laufen immer wieder Gefahr, eben dieses eigentliche Wesen der Musik zu verfälschen, es aus der bloßen Erinnerung heraus zu etwas ganz anderem zu machen, als es seiner wahren Natur nach ist. So sagt Andre Coeuroy in seinem Buche „La Walkyrie" ganz richtig: „Unter denen, die Wagner lieben, sind viele geneigt, seinen Wert herabzusetzen, sobald sie von ihm sprechen. Wenn sie aber erst am Klavier sitzen und die letzten Szenen der Walküre spielen, sind sie ganz und gar wiedergewonnen. Es scheint ihnen, als maditen sie jedesmal eine neue Entdeckung. Welche Gewalt! denken sie; und aus jedem Piano machen sie ein Forte, weil sie man weiß nidit weldien Eifer sich ihrer bemächtigen fühlen. Eine Stunde später ist der Enthusiasmus vorbei. Aber er entsteht bei jeder Berührung von neuem." Hier ist eine der eigentümlichsten Erscheinungen in dem Streit um Wagner wirklich mit voller Klarheit gesehen: die Begeisterung, die sich aus der unmittelbaren Berührung mit dem Werk ergibt, die Ernüchterung, die ihr zu folgen droht, wenn man von Wagner nur spricht. Coeuroy will daraus freilich auf eine Art von zauberhafter Gewalt der Wagnersdien Musik schließen, deren Rausch verfliegt, sobald die Töne verklungen sind. Das Beispiel der letzten Walküreszenen mag ihm sogar bis zu gewissem Grade redit geben, sind hier doch die üblichen Einwände nicht durchaus unbegründet. Eben diese Auswahl aber ist für die Gefährlichkeit aller bloßen Vorstellungen über Wagnersche Musik so sehr bezeichnend. Es wird keineswegs an die unerschöpfliche Fülle alles dessen gedacht, was im Werke Wagners jedwedem Gefühlsrausch weltenfern ist, sondern jenes wenige hervorgeholt, das mit einigermaßen guten Gründen angefochten werden kann. So aber entsteht unvermeidbar ein völlig schiefes, ganz und gar verzerrtes Bild, ähnlidi demjenigen, das sich ergeben würde, wenn wir etwa Mozartsdie Musik vor allem nach gewissen Bravourarien beurteilten oder ihr Leichtfertigkeit vorwürfen, weil Mozart ab und zu audi solche Musik geschrieben hat. Zu der im Grunde richtigen, wenn auch anders gemeinten Beobachtung Coeuroys gesellt sich des weitern die Bemerkung, daß der Spieler dazu neige, aus jedem Piano ein Forte zu machen. Das entspricht für viele, wenn nicht die meisten, dem Bilde, das man sich ganz selbstverständlich von Wagnerscher Musik macht. Nun hat Coeuroy wenigstens bemerkt, daß bei Wagner sehr oft Piano vorgeschrieben steht, wo Klavierspieler oder Orchesterdirigenten sich unbekümmert in ein Forte oder gar Fortissimo hineinsteigern. Eben dies aber zeigt, daß man darum bemüht sein müßte, die Wirklidikeit des Wagnerschen Werkes genauestens kennenzulernen. Wer aus einem vorgeschriebenen Piano ein Forte macht, der verrät damit nur, daß er sogar in
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Beim ersten Auftreten des Gralsmotivs im Parsifalvorspiel (Nr. 23, S. 50) werden die aufsteigenden Sexten wiederholt, so daß das Thema in der Dominante schließt. In diesem Falle bildet der Anfangstakt den „Aufgesang" eines sogenannten Gegenbars mit den Sextengängen als „Nadistollen". Unter den Beispielen einer Themenaufstellung in Rondoform sei das Motiv Gutrunes im ersten Aufzug der Götterdämmerung erwähnt. Es erklingt dort, wo Gutrune dem Gaste das Trinkhorn mit dem Liebestrank reicht. Aus zwei Motiven Gutrunes aufgebaut (66), erscheint das Rondothema insgesamt vierD e r Abgesang tritt nach einer Pause v o n fünf Takten ein (vgl. oben). Er ist hier nur mit seinen drei ersten Takten notiert.
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mal. Die drei Zwisdiensätze gelten dem Trinksprudi Siegfrieds, seiner schnell aufflammenden Leidenschaft f ü r Gutrune und endlich seiner Werbung. Sie geben damit ein Beispiel für die früher erwähnte „dramatische" Bindung der Zwisdiensätze (vgl. S. 86). « elotct
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Ähnlich sind Siegfrieds Antworten geformt, als er am Fuße des Walkürenfelsens dem Wanderer gegenübertritt: sie stehen als freie Zwischensätze dem Refrainthema Wotans gegenüber (67). Die gelockerte Form entspricht dabei der besonderen Art des Gesprächs: Rede und Gegenrede folgen einander gleichsam Schlag auf Schlag. Verbindend wirken wiederholte und sehr deutliche Kadenzierungen der Singstimme oder des Orchesters vor der Wiederkehr des Refrains. Hier ist die Wirkung derjenigen eines klassischen Rondos durchaus zu vergleichen'". Weit mannigfacher noch als die Aufstellungen der Themen sind begreiflicherweise ihre Durchführungen. Die neue Art des Satzbaus, wie Wagner sie in die Musik eingeführt hat, wird hier überhaupt erst in ihrer ganzen Bedeutung ersichtlich. Begreiflicherweise kann sie wieder nur an wenigen, besonders bezeichnenden Beispielen erläutert werden. Weitergehende Einzelheiten lassen sich dem Anhang entnehmen. U n t e r den bereits betrachteten Themen sollen zunächst das Walhall- und das Kareolmotiv in ihrer Durchführung untersucht werden. Einen verwandten Ablauf in Frage und Antwort zeigt der Streit zwischen Alberich und Mime vor NeicJhöhle (Siegfried, 2. Aufzug). Die ungleich geschlossenere Form ist hier zum Teil dadurch bedingt, daß die beiden Zwerge in ihren Kundgebungen einander bis zum fast vollständigen Schwinden jegliches Gegensatzes ähneln; zum Teil macht sich aber bei der Begegnung Siegfrieds und des Wanderers unverkennbar auch eine Entwicklung Wagners in der Richtung auf eine größere formale Freiheit hin bemerkbar: während der zweite Aufzug des Siegfried noch vor Tristan und den Meistersingern komponiert ist, folgte der dritte erst zwölf Jahre später.
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DIE FORM DER MUSIK WAGNERS
Das Walhallthema bildet mit seiner Aufstellung in Form eines Reprisenbars (S. 89) den Hauptsatz eines Bogens. Mit dem Erwadien Frickas beginnt der Mittelsatz. Eingerahmt durdi je eine „Rüttelfigur" (Lorenz) zu Worten Frickas®', beruht er auf dem Rüigmotiv und dem Ausklang des Walhallmotivs zu Wotans halb im Traume gesprochenen Worten: „Der Wonne seligen Saal bewachen mir Tür und Tor: Mannesehre, ewige Madit, ragen zu endlosem Ruhm!" Während Wotan sich erhebt und sein Auge vom Anblick der Burg gefesselt wird, leitet ein Baßgang zur Reprise des Hauptsatzes über. Notengetreu begleitet das große Thema den Gesang des GottesS^. Der gesamte Bogen füllt die 4. Periode aus. Da Vordersatz und Reprise ihrerseits in Barform stehen, gehört der Satz zu den Beispielen „ineinandergefügter Formen" (Lorenz). Sind dagegen die Teile ebenso gebaut wie das Ganze, dann entsteht eine „potenzierte Form". Hierher rechnet z. B. das Thema Kareols, der heimatlidien Burg Tristans. Notenbeispiel 65 (S. 90) veranschaulicht die potenzierte Barform, in der das Thema (zusammen mit den unterbrechenden Takten Tristans) als Bar zweiten Grades aufgestellt wird. Die gesamte Anordnung (bis zu Kurwenals Worten „hütet er deine Herde") bildet nunmehr den Stollen eines Bars dritten Grades. Der zweite Stollen, in C-dur stehend, reidit von „Dein das Haus" bis „in fremde Land' zu ziehn", ist genau gleich lang und weicht nur in seinem Abgesang geringfügig ab. Nach einer neuerlichen Unterbrechung durch Tristan beginnt sehr kräftig mit dem Lied von Herrn Morold der Großabgesang (bis: „darin von Tod und Wunden du selig sollst gesunden"). Kadenzen, die ihn den Abgesängen mittlerer Größe nahebringen, machen ihn den Großstollen „ähnlich, doch nicht gleich". Sie führen über eine Wiederholung der Sechzehntelfiguren, die den Bar eingeleitet haben (Kurwenals Jubel über das Erwachen Tristans), zu einer Reprise des Hauptthemas. Die gesamte Form stellt also einen Reprisenbar dar, der zusammen mit den Unterbrechungen durch Tristan die 2. Periode des dritten Aufzugs ausfüllt. Während in diesem Falle die Unterglieder einfache Bare sind, gibt die 5. Periode des ersten Aufzugs, der Gesang Brangänes: „Welcher Wahn, welch eitles Zürnen!", das Beispiel eines potenzierten Reprisenbars. Melodisch wie namentlich in ihrer merkwürdig kühl wirkenden Harmonik eine der eigenartigsten Eingebungen Wagners, zeigt die ganze Periode formal eine außerordentliche Geschlossenheit. Brangänes einschmeichelndes Wesen und ihre lockenden Worte sind hier in eine Musik gebannt, die sich weit von allem Herkommen entfernt und selbst bei Wagner nicht ihresgleichen hat. Wer den bisherigen Erläuterungen gefolgt ist, erkennt sogleich einen barförmigen ersten Stollen von acht Takten (68). "
„Wotan, Gemahl, erwache!" und „Auf aus der Träume wonnigem T r u g ! "
"
N u r im 15. und 16. T a k t erfährt es eine geringfügige melodische Veränderung.
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(68)
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Anmerkung: Soweit die Singstimme sidi nicht mit der obersten Ordiesterstimme deckt, ist sie durdi kleinere N o t e n angedeutet.
Der zweite Stollen®® geht in einen durdiführungsartigen Abgesang über: „So dient' er treu dem edlen Ohm; dir gab er der Welt begehrlichsten Lx)hn, dem eig'nen Erbe, echt und edel, entsagt' er zu deinen Füßen, als Königin dich zu grüßen!", der zuletzt das Stollenthema wieder aufnimmt und durch eine Kadenz mit Doppelsdilag sowie drei Takte Nachspiel beendet wird (69). (69)
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Der so aufgestellte Reprisenbar wird nunmehr potenziert, d. h. als Großstollen aufgefaßt und daher (mit nur geringen Abwandlungen) in einem zweiten Großstollen von genau gleidier Länge wiederholt: „Und warb er Marke dir zum Gemahl, wie wolltest du die Wahl dodi schelten, muß er nicht wert dir gelten? Von edler Art und mildem Mut, wer gliche dem Mann an Madit und Glanz? Dem ein hehrster Held so treulich dient, wer mödite sein Glück nicht teilen, als Gattin bei ihm weilen?" Der Großabgesang beginnt mit Isoldes Antwort: „Ungeminnt den hehrsten Mann stets mir nah zu sehen, wie könnt' ich die Qual bestehen?", einem barförmigen Übergang, der mit Brangänes Erwiderung im Dreivierteltakt das abgewandelte Stollenthema von neuem aufnimmt: „Ungeminnt? Wo lebte der Mann, der dich nicht liebte? Der Isolden säh' und in Isolden selig nicht ganz verging?" usw. Selbst als Bar gebaut (mit zwei zwölftaktigen Stollen), fügt er dem Abgesang einen mehrmals wiederkehrenden Septimenabstieg hinzu, in dessen synkopierten Rhythmus Brangäne ihre ganze Überredungskunst hineinzulegen sucht. Endlich macht die Rückkehr des Stollenthemas auch diesen zweiten Teil des Großabgesangs zum Reprisenbar. Den angeführten potenzierten Barformen möge eine Übersidit über Brünnhildes Todesverkündigung und damit über eine der weiträumigsten Formungen Wagners hinzugefügt werden. Eine barförmige Einleitung aus zwei Stollen der „Schicksalsfrage" (Nr. 22, S. 50) und einer Abgesangsmelodie in fis-moll, die später vor allem Siegmund gilt (70), ist unmittelbar zu erkennen. Ihre Wiederholung klingt im Walhallmotiv aus (Nr. 23, S. 50). Dieses tritt hier freilich in rein musikalisdier Funktion auf, da erst Brünnhildes Worte „auf der Walstatt erschein' ich Edlen" es auch dichterisch redhitfertigen.
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Die ordiestrale Einleitung des Auftritts ist damit als ein zweistrophiger Großstollen aufgestellt'^. Brünnhildes Worte an Siegmund wiederholen die ganze Anordnung fast wörtlich (bis: „Wer mich gewahrt, zur Wal kor ich ihn mir!"). Der zugehörige Großabgesang beginnt nach einem einleitenden Baßgang bei Siegmunds Frage: „Der dir nun folgt, wohin führst du den Helden?" Läßt Lorenz bezeichnet ihn als vollständigen Bar mit dem Walhallmotiv als Abgesang, •was aber in den Längenverhältnissen durchaus nicht befriedigt.
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man freiere Symmetrien gelten, so kann seine Form ohne weiteres als Bar verstanden werden, dessen Stollen jeweils mit Fragen Siegmunds beginnen'®. Die Gleichheit ist freilich nicht mehr vollkommen, aber die Ähnlichkeit dodi bis hin zu dem leise anklingenden Walkürenmotiv am Ende der beiden Stollen und den völlig übereinstimmenden Anfängen groß genug. Ganz klar beginnt endlich der zugehörige Abgesang mit Siegmunds Worten: „Hehr bist du, und heilig gewahr ich das Wotanskind", so daß also die musikalische Gliederung dem Dichterwort aufs genaueste folgt und dennoch zugleich ihr eigenes Gesetz wahrt. Als aber Brünnhilde auf die Frage Siegmunds nach einem Wiedersehen mit seiner Schwester verneinend antwortet, da beginnt die Auseinandersetzung sich zuerst kaum merklich und endlich doch sehr bestimmt zu steigern. Die neuerlidi auftaudiende Schicksalsfrage leitet zu Siegmunds Weigerung („Zu ihnen folg' ich dir nicht!") mit einem entschiedenen Forte die nächste (elfte) Periode ein. Eine neue Entwicklung läßt, obgleich dramatisch weit bewegter als zuvor, dennoch die Motive vom Anfang der zehnten Periode in der ursprünglichen Anordnung wiederkehren. In diesem Sinne kann die elfte Periode als eine Variation der zehnten gelten. Beide Perioden werden damit zu „Überstollen" eines Bars, der drei volle Perioden umfaßt und in seinem „Überabgesang", der 13. Periode, das durchgehende „Abgesangsthema", die Melodie Siegmunds, in den mannigfachsten Durchführungen variiert. Er beginnt bei „So jung und schön erschimmerst du mir" und endet mit dem jubelnden Schlußsatz des Orchesters, als Brünnhilde, zur Rettung Siegmunds entschlossen, fortgestürmt ist. Gerade in dieser Variation darf man wirklich die von Lorenz vorgenommene Zusammenfassung der drei Perioden zu einem „Überbar" gerechtfertigt sehen, auch wenn die Gleichheit der beiden Überstollen sich im wesentlichen auf ihre Anfänge beschränkt. Sie bleibt damit immer noch in der Nachbarschaft so mancher symphonischen Reprise, sofern diese weniger auf einer unveränderten Wiederholung des Hauptsatzes beruht als vielmehr auf der Wiederkehr des Y{.z.\x^x.themas in seiner ursprünglichen Gestalt. — Alle bisher geschilderten Bare entwickeln sich jeweils aus einem einzigen Grundthema in den Stollen und nehmen höchstens im Abgesang andere Themen hinzu^«. Als Beispiel eines Bars, dessen Stollen selbst schon mehrthemig sind, in dieser Eigenschaft also dem Probelied Walter von Stolzings gleichen (vgl. S. 83), möge die vierte Periode des ersten Aufzugs von Tristan und Isolde " 1. Stollen: „Der ciir nun folgt" und „In Walhalls Saal Walvater find' idi allein?"; 2. Stollen: „Fand' ich in Walhall Wälse, den eigenen Vater?" und „Grüßt midi in Walhall froh eine Frau?" " Mehrthemig sind die beiden Stollen des barförmigen Großabgesangs Siegmunds und Brünnhildes (Fußnote 35). Beide Male ist die Reihenfolge der Themen: Siegmunds Melodie, Walhallmotiv, Siegmunds Melodie, Walkürenmotiv (im zweiten Stollen als Verbindung von Walküren- und Freiamotiv).
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betraditet werden, der Zornesausbruch Isoldes nadi ihrer Erzählung von Tantris. D i e Übersicht über den Verlauf der beiden Stollen ergibt sidi am besten aus einer Nebeneinanderstellung nach dem Vorbild von Lorenz. I. Stollen
2. Stollen
1. Affektive Figur in C, Melodie: „Er schwur mit tausend Eiden", zu einem Absdiluß in C geführt („Eide hält").
1. Dieselbe Figur in Des, dieselbe Melodie: „Da Friede, Sühn' und Freundsdiaft", zum Abschluß in Es geführt („Kummer sdiüf ").
2. Zornmotiv, 4 einleitende Takte, dann Bar 3 (Des) + 3 (D) + 11 Takte.
2. Fehlt im Text, musikalisch durdi vier Zornmotive im Orchester vertreten.
3. Melodie: „Da Morold lebte . . ." bis „um Irlands Krone zu werben".
3. Melodie: „O blinde Augen . . . " bis „was idi verschlossen hielt".
Die beiden Melodien sind nicht gleich, beginnen aber mit demselben Motiv, zeigen dann Neigung zu Sequenzen, übermäßigen Dreiklängen und chromatisch aufsteigenden Bässen (Länge 9 bzw. 10 Takte). 4. Durch das Zommotiv eingeleitete Melodie aus dem Tantrismotiv: „Ach wehe mir . . " bis „Nun dien' ich dem Vasallen!" Sdiluß in f-moll.
4. Durch das Zornmotiv beendete Melodie: „Die schweigend ihm das Leben gab . . b i s „mit ihr gab er es preis!" Schluß in E-dur.
Beiden Melodien ist außer der fallenden chromatischen Linie des Tantrismotivs rhythmisch die ostinate Triole auf dem zweiten Viertel gemeinsam. Die Länge der Stollen beträgt 15 + 21 + 9 + 19 Takte bzw. 14 + 4 + 10 + 17 Takte. Der 51 Takte lange Abgesang nimmt als Bereicherung den Tristanruf („Hei, unser Held Tristan!") in die sonst den Stollen ähnlichen Themen auf. Ein Mittelsatz aus dem Tantrismotiv, durdi eine spöttische Melodie Isoldes eingeleitet („Das wär' ein Schatz, mein Herr und Ohm: wie dünkt euch die zur Eh'?"), wird durch den Tristanruf bogenförmig eingerahmt. Den Abschluß bildet zu Isoldes Fluch über Tristan nach einer Überleitung aus dem Tantrismotiv (fortissimo) ein genau symmetrisch gebauter Bar aus dem Zornmotiv (1. Stollen; „Fludi dir. Verruchter!", 2. Stollen: „Fluch deinem Haupt!", Abgesang: „Rache! Tod uns beiden!"). Der hier beschriebenen vierten Periode'^, einer an Erregungen reiclien und dennoch schöngeformten Szene, folgt der Gesang Brangänes (vgl. S. 92—94). D i e sechste Periode mit dem Hinweis Brangänes auf die Zaubertränke, dem Auftritt Kurwenals und dem Befehl Isoldes an Brangäne, daß sie ihr und Tristan den Todestrank bereite, verläuft: gleichfalls in ebenmäßiger Gliederung. Dabei bilden die Vorgänge um den Zaubertrank die Außensätze eines Bogens, das Erscheinen Kurwenals seinen Mittelsatz'®. Die von Lorenz gegebene Übersicht ist hier verschiedentlich abgeändert worden. '8 Dieser beginnt in der Musik schon mit den Rufen der Matrosen hinter der Szene, nimmt also den Wechsel des Auftritts voraus.
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WAGNERS
Die Entsprediung zwischen Vordersatz und Reprise geht schon aus den Worten der Dichtung unmittelbar hervor: ein Bar Brangänes (1. Stollen: „Kennst du der Mutter Künste nicht", 2. Stollen: „Wähnst du, die alles klug erwägt", Abgesang: „Ohne Rat in fremdes Land hätt' sie mit dir mich entsandt?") wird in der Reprise von Isolde wörtlich wiederholt, nun aber nicht mehr in dem spielerisch-lockenden Sechsachteltakt Brangänes, sondern in einem ernsteren Vierviertelrhythmus. Ebenso entsprechen einander die beiden folgenden barförmigen Absdinitte mit dem chromatischen Hauptmotiv der Tristanmusik (Nr. 18, S. 49) als Stollenthema^' und dem Todesmotiv als Ausklang (71). Dagegen findet sidi das Seitenthema des Vordersatzes, das Motiv des Todestranks (72), im Schlußsatz vor dem Hauptthema, also in der spiegelnden Symmetrie des vollkommenen Bogens.
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Sache fUr den Verrat, Ruh' in der Not
(71)
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dem Herzen
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(72)
Mit den Rufen der Matrosen („Am Untermast die Segel ein!") beginnt der Mittelsatz. In seinem scherzoähnlichen ersten Teil führt er die Rufe und das Seemannsmotiv (Nr. 50, S. 77) durch. Der zweite Teil mit dem merkwürdig starren spruchähnlichen Thema Isoldes ist ein Gegenbar (Aufgesang: „Herrn Tristan bringe meinen Gruß und meld' ihm, was ich sage"; 1. Nadistollen: „Sollt' idi zur Seit' ihm gehen, vor König Marke zu stehen, nicht mödit' es nach Zucht und Fug geschehn, empfing' idi Sühne nicht zuvor für ungesühnte Schuld: drum such' er meine Huld"; 2. Nachstollen: „Nicht wollt' ich mich bereiten, ans Land ihn zu begleiten; nicht werd' ich zur Seit' ihm gehen, vor König Marke zu stehen, begehrte Vergessen und Vergeben nach Zucht und Fug er nicht zuvor für ungesühnte Schuld: die bot' ihm meine H u l d " " ) . Dieses ist ebenso das Stollenthema des ersten Bars. Abgesehen von der gesteigerten und dadurch etwas verlängerten zweiten Strophe geht die Übereinstimmung sogar noch weiter: beide Nadistollen sdiließen mit einer Figur In Sechzehnteltriolen. Diese begleitet das zweite Mal Kurwenals Antwort: „Sicher wißt, das sag' ich ihm; nun harrt, wie er midi h ö r t ! " ; beim ersten Mal drückt sich in ihr nur Kurwenals „trotzige Gebärde" aus. Dramatisdier Ablauf und musikalisdie Symmetrie gehen In einem fast wunderbar zu nennenden Gleichklang vor sich. 7
von Stein, Wagner
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Vergleichbar der hier gesdiilderten Bogenform mit ihrem szenisch wie tonartlidi abweichenden Mittelsatz ist die 16. Periode des ersten Meistersingeraktes. Walters Auftritt in B-dur mit der kontrapunktischen Durdiführung seines ritterlichen Motivs (Nr. 14, S. 47) bildet den Hauptsatz, Beckmessers Szene mit dem parodistisch entstellten Thema Walters, dem Merkermotiv (73), die Reprise, wobei das Thema Walters vereinzelt auch in Moll oder in seiner ursprünglichen Gestalt anklingt. Den ganzen Mittelteil nimmt der in D-dur stehende Bar ein, mit 'dem Walter sich als Sdiüler Waithers von der Vogelweide einführt („Am stillen Herd in Winterszeit"). Eine Parodie des Meistersingermotivs in d-moll, die außerhalb der genauen Symmetrie steht, leitet vom Mittelsatz zur Reprise über.
(73)
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Auch zu der eigenartigen Form des Kareolthemas mit seinen Unterbrechungen durch Tristans Fragen (vgl. S. 90 und 92) findet sidi in den Meistersingern ein Seitenstüdk, indem sich Walters Motive im Ordiester zwischen die Zeilen des Chorals schieben und damit dessen Fermaten ausfüllen. Für sich betrachtet, lassen sie einen vollkommenen Bogen erkennen, dessen Motive — eine Quartensequenz (74), ein triolisches Motiv (75) und ein Violoncellokontrapunkt — sidi symmetrisch um die Oboenmelodie aus dem Abgesang des Preisliedes als Mitte ordnen (76). Der Abschluß des Bogens fällt zum Teil in den Ausklang des Chorals oder folgt ihm als Naclispiel. Lorenz spridit mit
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Bezug auf diese merkwürdige Durchdringung zweier Formen, die jede für sich einen selbständigen Satz bilden, von einer „Polyphonie der Formen°j>
g e p r i e s ' n e r E n - g e l Got - t e s ,
der mei-nes
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Fortsetzung von (85)
und nidit zuletzt das trotzige c-moll — sehnt eine letzte Hoffnung, aus dunkler Tiefe zu machtvoller Höhe sich emporringend, den Tag des Gerichts, den Jüngsten Tag herbei. Mögen aus dieser Stelle audi die dämonischen Stimmen Kaspars und Pizarros herausklingen: in ihrer Größe und Leidenschaft bestätigen Musik und Worte von neuem, was dem Jahrhundert seit Wagner zum eigentlichen Wesen dieses seines Geistes geworden ist: die gewaltige, bis an die Grenzen des Irdischen ausgreifende Geste. Von ihr aber führt eine gerade Linie zu Nietzsches Wort, Wagners Charakter liebe „die großen Wände und die verwegene Wandmalerei" (vgl. S. 23). Im weitern Verlauf des ersten Aufzugs hat die „Oper" das Wort. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang ein g-moll-Arioso des Holländers: „Durdi Sturm und bösen Wind verschlagen, irr' auf den Wassern ich umher, wie lange, weiß ich nicht zu sagen, schon zähl' idi nicht die Jahre mehr." Das düster Dämonische des fluchbeladenen Seefahrers macht hier weidiern Empfindungen Platz. Endlich entwickelt sich („Allegro giusto") aius einem Sechsaditelmotiv Dalands („Wie? Hör' ich recht? Meine Tochter sein Weib?") ein Duett der beiden Männer, das nun ganz und gar ins alte Schema zurückfällt. Sowohl in dem Staccatomotiv Dalands, das durchaus vom Geiste Rossinischer Melodik erfüllt ist, wie in dem fast Weberschen Legatogesang des Holländers mit der parallel gehenden Stimme der Violinen herrscht das Gesetz der Oper, und auch der Dichter ist hier nichts als „Verfertiger von Operntexten" (vgl. S. 133). Nicht anders steht es um das anschließende Es-dur-Arioso Dalands. Auch ein zweites Duett (in G-dur) verkörpert mindestens mit seinem Eingangsthema, obgleich dieses sichtlich die Freude Dalands über die einträgliche Begegnung mit dem Fremden ausdrückt, idie Vorherrschaft der reinen Opernmelodie, die durch ihre rhythmische Prägung Aufmerksamkeit erregen und in einem Sinne, der mit wahrer Kunst nicht viel zu tun hat, „gefallen" soll. Damit beginnt dann allerdings das Reich jenes „sehr toleranten Theatergeschmacks" (Nietzsche), von dem angeblich Wagners Musik in Schutz genommen werden muß, soll sie nicht einfach „schlechte Musik" sein. Am Schluß des ersten wie am Anfang des zweiten Aufzugs steht das Lied des Steuermanns. Wagner wollte hierdurch eine pausenlose Aufführung des Werkes ermöglichen und hat deshalb einen ganz entsprechenden Übergang auch zwischen dem zweiten und dritten Aufzug geschaffen.
DER FLIEGENDE HOLLANDER
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Ein kleines Sekundmotlv aus dem Vorspiel bzw. dem Chor der Matrosen wird in das Lied der Mäddien übernommen und bildet, während eine ständig gleichbleibende Triolenfigur der tiefen Streicher das Surren der Spinnräder malt, einen hervorstedienden Teil der Melodie („Summ' und brumm', du gutes Rädchen"). Ein Text herkömmlicher Art kennzeichnet den leichten und frischen Sinn der Mädchen und macht ihren Gesang zum Hintergrund, gegen den Sentas träumerisch nadidenkliches Wesen sich abhebt, ohne daß es doch zwisdien ihr und den Mädchen von vornherein einen ernstlichen Gegensatz gäbe. Der balladenhafte Ton („Mein Schatz ist auf dem Meere draus', er denkt nach Haus ans fromme Kind; mein gutes Rädchen, saus' und braus'! Ach, gäbst du Wind, er kam' geschwind!") bereitet das spätere Lied Sentas vor und verbindet in Worten und Tönen volksliedhafle Sdilichtheit mit Anspielungen auf das Bild des Holländers, vor dem Senta sinnend verweilt. In den Zwischenspielen zwischen den Teilen der beiden Strophen geht die Handlung weiter. Senta wird durch Spottworte gereizt. Als die Mäddien gar mit einer dritten Strophe ihres Liedes beginnen — von der es da leicht auch dem Zuhörer zu viel werden könnte! —, fährt sie auf: „O, macht dem dummen Lied ein Ende, es brummt und summt nur vor dem Ohr! Wollt ihr, daß idi zu euch mich wende, so sucht was Besseres hervor!" Damit ist das Stichwort für die Ballade gegeben. Ganz von dem Schicksal des Unglücklichen erfüllt, das ihr wie Wirklidikeit vor der Seele steht, singt Senta das Lied. Zuerst vom Orchester vorgetragen, dann im Solo der Singstimme lang ausgesponnen, leitet der Ruf des Holländers als musikalisches Hauptthema des Werkes die Ballade ein. Eine merkwürdigunheimliche Kaidenz in g-moll weicht bis in die dritte Oberdominante aus. Tremolo der hohen Streicher, .ausgehaltene Bläserklänge und die chromatische Tonleiter des Sturmes in den tiefen Streichern begleiten einen rein deklamatorisdien Zwischensatz der in Oktaven springenden und endlich selbst chromatisch abfallenden Singstimme. Nach einer langen Fermate folgt als vollkommener Gegensatz das Thema Sentas (Nr. 83, S. 184) in B-dur: „Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden, fänd' er ein Weib, das bis in den Tod getreu ihm auf Erden!" Ihm schließt sich die harmonisch so eigenartige Variante des Themas (83) in derselben Anordnung wie im Vorspiel an (83 a): Sie leitet wie dort in die Haupttonart zurüdc und führt damit zum Einsatz der zweiten Strophe.
(83 a)
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Das Thema Sentas im zweiten Teil der Strophe ist diesmal nur mit seinen ersten acht Takten dem Solo-Sopran vorbehalten. Von der Eindringlidikeit des Gesanges ergriffen, stimmen die Mäddien leise in die fortsetzende Variante (83 a) ein und übernehmen in der dritten Strophe das Thema allein. Dann aber führt Senta selbst in einem „Allegro con fuoco" die dramatisdie Wendung herbei, mit der sie sidi zu dem Entsdiluß bekennt, den Unglüdclidien durdi ihre Treue zu erlösen. Erschrocken springen die Mädchen auf und beschwören den eben eintretenden Erik, er möge ihnen helfen, da Senta von Sinnen sei. Aber die Nadiridit von der bevorstehenden Ankunft Dalands verwandelt den Schrecken sogleich wieder in Freude und gibt Gelegenheit zu einem Ensemblesatz („Prestissimo possibile"), der einen Allerweltstext von wenigen Zeilen breit ausspinnt (Mary: „Halt! halt! Ihr bleibet fein im Haus! Das Schiffsvolk kommt mit leerem Magen; in Küch' und Keller! Säumet nidit! Laßt euch nur von der Neugier plagen — vor allem geht an eure Pflicht!" — Die Mädchen: „Ach! Wieviel hab' ich ihn zu fragen! Ich halte mich vor Neugier nidit. — Schon gut! Sobald nur aufgetragen, hält hier uns länger keine Pflicht!"). Eindringliche Worte Sentas über das „Sdireckenslos des Ärmsten" mahnen Erik an seinen Traum. In einer erstaunlichen formalen Geschlossenheit offenbart die Musik Möglichkeiten einer neuen, gleichzeitig vom Ausdruck bestimmten Kunst. Zu leisem Tremolo der Streicher, tiefen Horntönen und einem leicht hervortretenden Motiv des Violoncellos malt sie ein eigenartig zauberhaftes Bild des Traumes: von hohem Felsen erblidkt Erik das Meer, hört die Brandung! und sieht ein fremdes Schiff am nahen Strande, das ihn „seltsam, wunderbar" anmutet. Leise meldet sich in den Violoncelli und tiefen Bläsern der Ruf des Holländers (7). Zwei Männer nähern sidi dem Lande. In dem einen erkennt Erik den Vater Sentas, in dem andern den bleichen Seemann. Fortgesetztes Tremolo der Streicher hält die traumhafte Stimmung aufrecht, der Ruf des Holländers aber, von Ges über As nach A aufsteigend, scheint wie aus weiter Ferne an die Wirklichkeit zu mahnen. Zunehmende Erregung Eriks steigert die Bewegung. Er sieht Senta dem Vater entgegeneilen, dem Fremden zu Füßen stürzen, seine Knie umfangen und ihn endlich mit heißer Lust küssen. Das Motiv des Holländers, hier zum echten symphonischen Leitmotiv geworden und nun schon forte ertönend, treibt die Bewegung weiter, bis nach Sentas letzter Frage („Und dann?") alles in zwei langgehaltenen Terzen der Blechbläser erstarrt. Erik blickt Senta verwundert an: in seinem Traumbild hat er sie mit dem Holländer auf das Meer hinaus fliehen sehen. Was der junge Jäger im Traum erschaut hat, wird zur Wirklichkeit, als sich die Tür öffnet und Daland mit dem Fremden eintritt. Leise Paukenschläge geben die erwartungsvoll gespannte Stimmimg wieder und deuten damit aiuf > Die Einheitlichkeit der Stimmung duldet keinerlei Tonmalerei im einzelnen: daher nichts von „Brandung" und nidits von „der Wogen Wut".
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jene Beredsamkeit der Paxxse hin, in der sich späterhin Wagners Meistersdiaft so eindringlidi zeigt. Senta und der Holländer stehen einander schweigend gegenüber. Daland aber ergeht sich in einer Arie von unverfälsditem Opernstil. Die einleitende Melodie der Violinen ist echte Theatermusik, die biedere Weise der Singscimme von Sdiumannsciier Romantik und Sangesfreudigkeit erfüllt (86). Vollends als Oper gibt sich der Text mit seinen Fragen an Senta
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und den Holländer — denen schon deswegen keine Antwort zuteil werden kann, weil die Arie erst zu Ende gesungen werden muß. Nach langen Anpreisungen seiner Tochter kommt Daland endlidi dazu, seine Überflüssigkeit einzusehen: „Doch — keines spricht! — Sollt' ich hier lästig sein? So ist's. Am besten laß ich sie allein." Es müßte schon ein überaus arienfreudiger Zuhörer sein, der ihm hierin nicht von Herzen recht gäbe. Indessen bekommen Senta wie der Holländer auch dann noch einige Anpreisungen zu hören, ehe die einleitende Melodie der Violinen (86) dem Abgehenden nun wirklich das Geleit gibt — und selbst dann noch ruft ein Nachspiel des Orchesters Themen aus der Arie des redseligen Mannes ins Gedächtnis zurüch, so daß man sich versudit fühlt, in dem ganzen umständlichen Gehaben des Norwegers geradezu eine beabsichtigte Parodie auf die alte Oper zu erblicken. Das anschließende Duett macht deutlich, wie einzig die Sprache der Töne einen Vorgang wiederzugeben vermag, der sich gewissermaßen an der Grenzscheide von Traumbild und Wirklichkeit abspielt. Von der tief empfundenen
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ersten Melodie der unbegleiteten Singstimme, die der Ergriffenheit des nihelosen Seemanns Ausdrude gibt (87), bis zu Sentas Thema: „Er steht vor mir (87)
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wie aus der Perne langst vergangner Zeiten s p r i c h t dieses
mit leidenvollen Zügen" (88) vollzieht sich eine einzige, wohlausgewogene
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Steigerung — und zugleich klingt alle Sehnsucht des Mäddiens, alles Mitleid mit dem Los des Unglücklichen, der nun vor ihr steht und in dem sie den Ersehnten kaum zu erkennen wagt, aus der weit geschwungenen Linie ihres Gesanges. Noch fühlt Senta sich .der Umwelt des Alltags gleichsam entrückt — aber ihr Entschluß steht fest: stets will sie dem Vater gehorsam sein. Mögen Musik und Worte auch hier und weiterhin in einem „Molto piü mosso" vielfach durch das Herkommen der Oper bestimmt sein — die Wahrheit des Ausdrucks wie die Echtheit des Gefühls heben sie doch gleich Beethovens Fidelio hoch über die Alltagsoper des Zeitalters hinaus; einzig ein Codathema in E^dur ist Opernmelodie von jener gröbern Art, die durch den „Theatergeschmack" geschützt sein will. Nach einem Terzett, an dem auch Daland teilnimmt, beendet sie in stürmischem Schlußjubel den Aufzug. Am Beginn des dritten Aktes steht der Matrosenchor „Steuermann, laß die Wacht" (Nr. 84, S. 184). Die urwüchsig derbe Weise zeigt Wagners melodische Erfindung in hellstem Licht. Ihr gesellt sich die rhythmische Kraft des Chors. Haben zuvor motivisdie Beziehungen zu den übrigen Teilen des Werkes fast ganz geschwiegen, so wird nun die Brücke nach dem ersten Aufzug hinüber geschlagen. Weit bemerkenswerter noch ist indessen der nun folgende Auftritt. Während das Deck des norwegischen Schiffes hell erleuchtet ist, herrscht über
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dem andern unheimliche Finsternis. Weder das Lied der Matrosen noch die Zurufe der Mädchen wecken ein Lebenszeichen. Handelnde sind im folgenden einzig die beiden Gruppen der Seeleute und der Mädchen, so daß die Musik sich ganz auf dem Wechselgesang der beiden Chöre aufbaut. Damit beginnt ein merkwürdiges Gegeneinander der Themen. Während der Mädchenchor in frischem C-dur die Matrosen des Holländers aufzumuntern sucht und sie zum Tanze einlädt, übernehmen die Seeleute Dalands das zweite Motiv Sentas (Nr. 83 a, S. 187), dessen seltsamer Klang sie offenbar an das Lied vom Fliegenden Holländer erinnert, und spinnen seinen Balladenton in merkwürdig unheimlich gefärbten Moll-Zwiischensätzen weiter, um damit die fremden Gäste zu verspotten. Endlich vereinigen sich beide Chöre in einem lärmenden Anruf des Holländers, dem aber nach langem Schweigen wieder nur der zuvor schon vernommene leise Blechbläserakkord in völlig fremder Tonart erwidert. Nunmehr, da den Mädchen das Geschehen unheimlich zu werden beginnt, kehrt das Spiel sich um: das Moll der vorherigen Zwischensätze geht auf die Mädchen über, während die Matrosen immer ausgelassener werden und die lustigen Sätze in Dur übernehmen. Allmählich wird das Wechselspiel der Chöre bewegter, sie beginnen sich zu vereinigen, und endlich nehmen die Matrosen ihren Eingangschor wieder auf. Chromatische Zweiunddreißigstelläufe der Streicher und Bläser trüben diesmal jedoch die zuvor so klare Diatonik des Chors und führen damit den Liedeinsatz der Holländer herbei. Dieser wiederholt in seiner orchestralen Begleitung die Ouvertüre fast wörtlich und läßt die Gesangsstimmen in einer teilweise fast abenteuerlichen Chromatik verlaufen. Von Angst und Grauen gepackt, suchen die norwegischen Matrosen den Spuk zu übertönen, bis zuletzt das Lied der Holländer sich durchsetzt. Zwei Drittel des letzten Aufzugs sind damit in einer dramatisch-musikalischen Entwicklung von hinreißendem Schwünge durchgeführt, die ganz neue Möglichkeiten einer formal geschlossenen Darstellung lebhaft: bewegter Bühnenvorgänge gezeigt hat. Erst sehr viel später sollte Wagner wieder zu so vollendeter Einheit von Handlung und musikalischer Form gelangen. Mit dem letzten Drittel des Aufzugs tritt dann zunächst in der Gestalt Eriks die gewohnte Opernform in den Vordergrund. Für die Musik bringt dies immerhin den Vorteil einer Bereicherung ihrer Thematik, wie denn überhaupt das rein leitmotivische Verfahren unleugbar die Gefahr einer Verarmung des thematischen Bestandes in sich birgt, mindestens aber über dem Hervortreten weniger Hauptthemen den Eindruck erwecken kann, als reichte die musikalische Erfindung nicht wesentlich über eben diese Hauptthemen hinaus^. ' Hindemiths Abwenclung v o m „symphonisch-dramatisdien Musizieren" und damit die Rückkehr zu selbständiger thematischer Formung der einzelnen Teile in seinem „Cardillac" ist z. T. auch auf die zu weitgehende „Ausbeutung" der Motive zurückzuführen, wie sie, in den Anfängen auch schon bei Wagner bemerkbar, unter einigen seiner Nadifolger allzusehr um sich gegriffen hat.
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Erik sudit in einer Kavatine von sdiöner melodischer Formung seine Braut an frühere Tage zu erinnern. Als der Holländer sich unbemerkt nähert, vernimmt er Eriks Worte und glaubt sidi verraten. Über einem fortissdmo aufschreienden verminderten Septimenakkord, der als „dramatischer Akkord" auch weiterhin lausgiebig benutzt wird (vgl. S. 54), erklingen in aibstürzenden Oktaven die Verzweiflungsrufe (des Unglücklichen. Von da an ist die weitere Entwicklung völlig durch den Affekt beherrscht. Als nach einem länger ausgesponnenen Terzett der Holländer endlich allein das Wort hat, geschieht dies mit einem Rezitativ, in dem heftig bewegte Streicherfiguren, Fortissimoakkorde und sehr viel Tremolo eine große Rolle spielen. Ein guter Teil Theaterdonner ist bei alledem unverkennbar am Werk. Späterhin hat Wagner mehr und mehr auf Wirkungen solcher Art verzichtet — freilich, ohne daß man es stets auch bemerkt hätte. Am Ende aller Verwirrung — in der sich eigentlich nur die letzten Worte des Holländers aus aufgeregtem Oktaventremolo hoher Streicher mit voller Deutlichkeit abheben — steht ein Schlußensemble Marys, Eriks und Dalands sowie der Mädchen- und Matrosenchöre. Ihm folgt Sentas Bekenntnis ihrer Treue bis zum Tode. Die unbegleitete, nur durch zwei vereinzelte Akkorde unterbrochene Singstimme sciiwingt sich bLs zum hohen H empor — dann stürzt Senta sich von einem Felsenriff ins Meer. Eine fortissimo absteigende chromatische Tonleiter und heftige Akkorde des gesamten Orchesters leiten das Nachspiel ein. Das Hauptthema Sentas führt ähnlich wie am Ende der Ouvertüre zum Sdilußakkord. 2. TANNHÄUSER Paul Bekker hat auf die bedeutende Rolle des Liedes im Schaffen Ridiard Wagners hingewiesen. Die Chöre der Matrosen, Sentas Ballade, das Lied des Steuermanns, der Chor der Spinnerinnen und selbst noch die gespenstische Ballade der holländischen Seeleute bestätigen die Richtigkeit seiner Ansicht für die Musik des Fliegenden Holländers. In der Tannhäuserpartitur setzt diese Entwicklung sich deutlich fort, ja sie wird hier durch die Verbindung mit dem Sängerkrieg sogar besonders nahegelegt. Die Vorherrschaft breit angelegter und weit geschwungener Melodien ist daher schon in der Ouvertüre verspürbar. Gegenüber dem mehr herkömmlichen symphonischen Aufbau des Holländervorspiels, der im wesentlidien auf der Aufstellung und Durchführung zweier gegensätzlicher Themen (Nr. 7 und 83) beruht, zeigt die Tannhäuserouvertüre zum erstenmal die Symmetrie eines vollkommenen Bogens mit den Abschnitten: Pilgerdior, Venusbergmusik, Tannhäusers Lied, Melodie der Venus, Tannhäusers Lied, Venusbergmusik, Pilgerchor. Allerdings gilt diese Symmetrie nur für die ursprüngliche Fassung des Werkes, während die Umarbeitung von 1861 auf
TANNHAUSER
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den abschließenden Pilgerchor verzichtet und -die Venusbergmusik der zweiten Bogenhälfte bei offener Bühne unmittelbar in das Bacchanale übergehen läßt. In schlichtem Piano eröffnen Klarinetten, Hörner und Fagotte das Orchestervorspiel mit dem Thema des Pilgerchors. Der Ton einer innig empfundenen Frömmigkeit, die in choralhaften Kadenzen eine altvertraute Sprache spricht, wird damit schon in den ersten Akkorden angeschlagen, ohne daß die Musik doch ihre eigentliche geistige Heimat, das Theater, zu verleugnen
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sucht (89). Robert Schumann vermißte an ihr die „Choralgeschicklichkeit" und meinte, Wagner könne „nicht vier Takte schön, kaum gut hintereinander denken". Mancherlei harmonische Ausweichungen mußten ihn notwendigerweise befremden (vgl. oben bei NB.). Aber als er das Werk auf der Bühne erlebte, empfand er vieles wiederum ganz anders als beim Lesen der Partitur*. Der Gegensatz zwischen Wirklichkeit und bloßer Vorstellung, der dem Beurteiler Wagnerscher Musik so leicht verhängnisvoll werden kann (vgl. S. 14), wird aus diesem Erlebnis Schumanns bereits mit voller Klarheit ersichtlich. Mit dem Ende des schlichten Choralsatzes führt ein pathetischer Aufschwung zum Einsatz des Pilgerchorthemas in den Posaunen. „Sempre fortissimo" wird die Melodie in einer Art von Cantus firmus einstimmig durchgeführt und von Bläserakkorden und zuckenden Streicherfiguren begleitet. Die theatralische Gebärde bridit hier sehr stark durch, ja man könnte sich an Wagners eigenes Wort von den „beliebtesten Opernmelodien" erinnert fühlen, die erst dann eigentlich verstanden worden seien, wenn ein Orchester „in Konzerten und auf Wachtparaden" sie rein instrumental wiedergegeben habe (vgl. S. 69). Allerdings wird später die so sehr stark hervortretende Melodie durch eine entsprechende Stelle des dritten Aufzugs gerechtfertigt, als dem vierstimmig gesetzten Lobgesang auf die Heimat ein einstimmiger Chorsatz zum Preise Gottes folgt. Dem wiederkehrenden schlichten Choralsatz schließt sich nach seinem Verklingen als zweiter Abschnitt des Bogens mit einem Allegrothema der Bratschen ' „Idi muß manches zurücknehmen, was idi nach dem Lesen der Partitur darüber schrieb; von der Bühne her stellt sidi alles ganz anders dar. Ich bin von vielem ganz ergriffen gewesen." 13 von Stein, Wagner
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(90) und akkordisdien Sedizehntelfiguren der Violinen und Holzbläser die schwüle Zauberwelt des Venusberges an. Lodiende Triller und rufende Motive der Streicher, Hörner und Holzbläser (91) münden in ein absteigendes Sehnsuchtsmotiv der Violinen über dem Kontrapunkt chromatischer Tonleitern in den Violoncelli und beschwören damit zum erstenmal jene an Tristan anklingende Melodik herauf, die in der spätem Fassung der Venusbergmusik so stark hervortreten sollte (92). (90) f —
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Als dritter Abschnitt folgt in H-dur das Lied Tannhäusers (93). Die derbe Sinnlichkeit der rhythmisch festgefügten Melodie läßt den vergröbernden Einfluß der damaligen Theatermusik, vor allem der „großen Oper", deutlich JR
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verspüren. Mozart verstand es noch, durch die Reinheit seiner Kunst selbst die Welt eines Don Juan oder Figaro zu veredeln. Beethoven suchte den Gegenstand selbst in höhere Bereiche emporzuheben. Allerdings vermochte er dabei — wie später etwa Hans Pfitzner — den Forderungen der Bühne nicht vollkommen gerecht zu werden. Der junge Wagner aber erlag immer wieder den Versuchungen, die bei seinem übermächtigen Drang zum Theater nicht ganz ausbleiben konnten. — In starkem Gegensatz zu der klaren Rhythmik und Melodik des Liedes steht der etwas unvermittelte Übergang in die auflösende Chromatik der Venusbergmusik. Diese umrahmt hier die Mitte des Bogens, eine Melodie der Klarinette, die später bei Venus wiederkehrt: „Geliebter, komm, sieh dort die Grotte, von ros'gen Düflen mild durchwallt." Wie die Worte der Dichtung sinnliche Eindrücke unterschiedlicher Art miteinander vermischen, so ver-
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einigen sidi audi die Klang-„Farben" der Klarinette und des glitzernden Streidiertremolos zu einer betörenden Misdiung. Synkopierte Akkorde leiten das Lied Tannhäusers ebenso ein wie bei seinem ersten Erscheinen. „Molto vivace" folgt ihm die Rüdikehr der Musik des Venusbergs und damit für die Pariser Fassung das Ende der Ouvertüre. In der alten Gestalt des Werkes dagegen leiten einige etwas weitschweifige Reihen diromatisdi absinkender verminderter Septimenakkorde zur Wiederkehr des Pilgerchors als der letzten Reprise über (Cantus firmus mit kontrapunktierenden Streicherfiguren). Das folgende Bacchanal stützt sich musikalisch durchaus auf die Motive der Ouvertüre und bringt erst in dem fernher erklingenden A-cappella-Chor der Sirenen („Naht euch dem Strande, naht euch dem Lande"), dem ersten Einsatz der mensdilichen Stimme, ein neues Thema von eigentümlich fremdartigem Reiz. Die Pariser Fassung, harmonisch weit reicher, aber auch verwidtelter und überall die Nachbarschaft der Tristanmusik verratend, nimmt das Thema der Sirenen im Orchester voraus und läßt es bei seinem Choreinsatz von einer einzelnen Hornstimme, weiterhin dann von gebrochenen Akkorden einer Harfe aiuf der Bühne begleiten. Die eigentlidie Handlung beginnt mit dem Duett Venus-Tannhäuser. Nach einem einleitenden Rezitativ, in dem ein ausdrucksvolles Quartmotiv der Flöten und Oboen an den Klang der Glocken erinnert, den Tannhäuser so lange vermißt hat, gliedert sich die Musik wesentlidi um die drei Strophen des Liedes (93) mit seinem Refrain: „Aus deinem Reiche muß ich fliehn! O Königin! Göttin! Laß midi ziehn!" In den Zwischenspielen sudit Venus den Geliebten von neuem für sidi zu gewinnen (wobei die Pariser Fassung erkennen läßt, wie sehr die musikalische Spradie Wagners an Ausdrucksmöglichkeiten gewonnen hat). Endlich führt Tannhäusers Ausruf, daß sein Heil in Maria liege, die jähe Wendung zum dritten Auftritt herbei. Bühne und Musik sind mit einem Sddage vollständig verwandelt. Einzig die Gestalt Tannhäusers verbindet die beiden Szenen miteinander. Auf einem ßergvorsprung am Hange des Tales zwischen Wartburg und Hörselberg sitzt ein junger Hirt (Sopran) und bläst die Schalmei (Klarinette im Orchester, Englischhorn auf der Bühne). Seinem einfachen, unbegleiteten Lied („Frau Haida kam aus dem Berg hervor") folgt alsbald, von kleinen Zwischensätzchen des Englischhorns jeweils kurz unterbrochen, der A-cappella-Chor der ältern Pilger. Lied und Chor haben in der Harmonisierung manches Gemeinsame^, vor allem die häufige Verwendung der Unterdominante oder die bei Wagner ganz allgemein zu beobachtende Vorliebe für die sechste Stufe. Beide modulieren von G-dur nach H-dur bzw. h-moll. Damit entsteht eine Einheitlichkeit im harmonischen Aufbau, die die thematischen Gegensätze fast vergessen läßt ^ Liedbegleitung ad libitum. 13»
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und der Stimmimg des ganzen Auftritts m.usikalisdi eine schöne Geschlossenheit verleiht. Von dem Eindruck heftig erschüttert, ist Tannhäuser auf die Knie gesunken. Ein Fortissimo des vollen Orchesters begleitet seine Worte: „Allmächtiger, dir sei Preis! Groß sind die Wunder deiner Gnade!" Aber der Ausdruck dieser Ergriffenheit wirkt zugleich wie der Einbruch der theatralischen Geste in eine Welt stiller Andacht, die von solcher Leidenschaft: nichts weiß. Nach wenigen Takten setzt der Pilgerchor fort. Das Englischhorn fügt sich jetzt unmittelbar in die Schlüsse der Verszeilen ein. Chor und Soloinstrument werden von gleichmäßigen Achteln der gezupften Bratschen und Violoncelli kontrapunktiert, die in den Ablauf eine merkwürdige Unrast hineintragen. Dem Ausklang -des Pilgerchors, diesmal im Unisono des Glaubensbekenntnisses, schließt sich unvermittelt eine fröhliche Jagdmusik an, die abwechselnde Einsätze in F - und Es-dur harmonisch etwas befremdlich nebeneinanderstellt. Mit dem Auftritt des Landgrafen und seines Gefolges beginnt ein Finale in altem Opernstil mit sehr viel Ensemblegesang, einer liebenswürdigen Begrüßungsmelodie Wolfra,ms, die vom Orchester sogleich nachgesungen wird, und einem Arioso in D-dur zu Wolframs Worten: „War's Zauber, war es reine Macht, durch die solch Wunder du vollbracht?" Holzbläser wiederholen auch diese Melodie als Begleitung eines sechsstimmigen Ensemblesatzes. H a t Tannhäuser zu Beginn dem lebhaften Treiben nodi wie abwesend gegenübergestanden, so schließt er sich, als er von Elisabeth vernommen hat, mit dem Ausruf „Zu ihr, zu ihr!" den andern an. Siebenstimmig und mit reichlichen Textwiederholungen wird der Ensemblesatz zu Ende geführt und durch die wiederkehrende Jagdmusik (zwölf Waldhörner) wirkungsvoll abgeschlossen. In der Gesamtheit seines Ablaufs gesehen, enthält das erste „Finale" mit Ausnahme der Jagdmusik nichts, was sich von der landläufigen Opernmusik nennenswert unterscheidet. Das eigentliche „Sprachvermögen" der Musik Wagners, das mehrfach schon im Fliegenden Holländer wie in Rienzi bedeutungsvoll hervorgetreten ist, scheint nach den verheißungsvollen Anfängen der Venusbergmusik und des Pilgerchors wie verstummt. Ähnlich ist die nun folgende „Hallenarie" Elisabeths vor allem mit ihrer orchestralen Einleitung, nicht minder aber mit dem Jubel des zweiten Teils auf äußern Glanz angelegt. In ihrer Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit Tannhäuser nennt Elisabeth die Halle den „geliebten Raum". So verständlich eine solche Regung sein könnte, wenn man zuvor schon Gelegenheit gehabt hätte, die Wesensart der Nichte des Landgrafen kennenzulernen, so wenig läßt sich doch im Augenblick des ersten Auftritts der Eindruck verwischen, daß die Halle hier um einer Arie willen besungen wird. Damit geschieht genau das, wovon Wagner sich in seiner weitern Entwicitlung so entschieden abgewandt hat, weil es das Wesen — oder besser das Unwesen — der Oper viel deutlicher kenn-
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zeichnet als alle „Nummerneinteilung": es wird ein fast willkürlidi herausgegriffenes Stück der Dichtung, d. h. eben nur ein „Text", zum Gegenstand weitschweifiger musikalisdier Entwicklungen gemacht, und wo die Worte nicht reichen, müssen Wiederholungen die Lücke füllen. Ganz anders zeigt sich (demgegenüber der erste Teil der Arie. Nach wenigen einleitenden Worten gedenkt Elisabeth der Lieder Tannhäusers. Die ausdrucksvoll geführte Singstimme wird von lang gehaltenen Akkorden der tiefen Streidier begleitet und damit eine Stimmung der Nachdenklichkeit wachgerufen, die das folgende Duett zwischen Elisabeth und Tannhäuser vor allem in seinem ersten Teil beherrscht. Eine überraschende Wendung von G-dur nach Es-dur eröffnet den Auftritt. Wolfram geleitet Tannhäuser zu Elisabeth, verharrt dann aber im Hintergrunde. Eine liebliche Melodie der Klarinette, als Elisabeth sich dem vor ihr Knienden freundlich zuwendet und ihn aufstehen heißt, ist Ausdruck zart verhaltener Gefühle und gehört zugleich jener Welt höfischer Anmut und Reinheit an, von deren Verwirklichung im Trio des Einzugsmarsches der Gäste Pfitzner so ungemein entzückt war (vgl. S. 31 bzw. Beispiel 94).
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I
Elisabeths erste Frage gilt der langen Abwesenheit Tannhäusers. Seine Antwort läßt in nachdenklidi verhaltenen Tönen die weiten Fernen .aufklingen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegen. Lebhaft: bewegte SecJizehntel bezeichnen das „unbegreiflich hohe Wunder", das den Verschollenen zurückgeführt hat. Der Doppelschlag der Klarinettenmelodie (94) erscheint in einem Streichersatz wieder. Des „holden Spiels" der Sänger gedenkend, übernimmt Elisabeth ihn selbst. Ein „seltsam neues Leben" ist durch die Lieder Tannhäusers in ihr wachgerufen worden. Von neuem stockt die Bewegung bei dem Bekenntnis, daß Friede und Lust dahin gewesen seien, als Tannhäuser die Freunde verlassen habe. Über das kaum verhüllte Eingeständnis der Liebe aufs hödiste begeistert, erwidert Tannhäuser mit einem Allegrosatz, der bald in ein Duett von mehr herkömmlischer Art übergeht. Mehrfach tritt das Ansatzmotiv der Klarinettenmelodie (94) mit einem Doppelschlag nun audi in der Singstimme hervor, so daß das Duett wenigstens nicht außerhalb jegliches Zusammenhanges mit der übrigen Musik steht. Für wenige Takte tritt Wolframs Stimme hinzu: „So flieht für dieses Leben mir jeder Hoffnung Sdiein!" Elisabeths Liebe gehört dem andern. Ihm selbst, der den lange verschollenen Freund zuerst willkommen geheißen hat, bleibt nur der Verzicht. Endlich trennt Tannhäuser
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sich von Elisabeth. Dem Scheidenden klingt die Liebesmelodie der Klarinette in ihrer ursprünglichen Gestalt nach. Die kurze Begegnung zwischen Elisabeth und ihrem Oheim, ehe die Gäste erscheinen, ist dramatisch idie Vorbereitung des kommenden Sängerfestes und enthält musikalisch reiche Schönheiten, obgleich die Singstimme nirgends zu ariosem oder liedartigem Klange gelangt. Wenige Worte Elisabeths verraten das Gefühl, von dem sie bewegt ist. Der Landgraf, selbst von der Hoffnung auf eine Verbindung zwischen Tannhäuser und seiner Nichte erfüllt, antwortet mit einem sdiön geformten Andante, in dem der sonore Klang der Baßstimme, überwiegend von tiefen Streichern getragen, sich voll entfaltet und zugleich eine ungemein beruhigende, würdevolle Wirkung ausübt. Mit dem Einsatz der Bläser („bis du der Lösung mächtig bist") tritt zugleich jene Harmonik ein, die der Tannhäusermusik im besondem zu eigen ist— die „weltlich-fromme Festlichkeit", die nicht treffender als durch dieses Wort Pfitzners bezeichnet werden kann. Ihr folgt freilich sogleich eine Musik, die, von Trompeten im Hintergrunde eröffnet, einer andern, entschieden nur noch rein weltlichen Festlichkeit das Wort gibt. Die „Opernmelodie" herrscht hier durchaus vor. Während Eingangsthema in Streichern, Holzbläsern und Hörnern seine einem Chorsatz deutlich zu erkennen gibt, ist mindestens das thema (95) rein instrumental gedacht und läßt sich nur mit
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indessen das Herkunft aus erste MarschMühe einem
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Gesangstext unterlegen (Chor der Edelfrauen: „Freudig begrüßen wir die edle Halle"). Derb und keineswegs höfisch-leicht schreitet das Thema der Bässe einher (96). Als der Chor beendet ist und die Sänger auftreten, stimmen die Streicher (ohne Bässe) das schöne Triothema an, über das Pfitzner sich so ausführlich geäußert hat (97). Obgleich aus dem ersten Marschthema abgeleitet, zeigt es doch im Gegensatz zu dem vorher etwas vulgären Ton eine wahrhaft adelige Gebärde; ihr entspricht das schlichte und doch edle instrumentale Gewand. Landgraf Hermann richtet nunmehr das Wort an seine Gäste, um die Sänger zum Wettstreit aiufzurufen und ihnen das Thema wie den Lohn zu nennen, der dem Sänger der Liebe und ihres Wesens winkt.
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Man hat seine Ansprache schon um der thematischen Verwandtsdiaft willen mit der Rede Pogners vor den Meistersingern verglichen. Indessen könnte kaum irgend etwas die künstlerische Entwicklung Wagners deutlicher machen als gerade diese Gegenüberstellung. Während die Tannhäusermusik sidi durchaus in den gewohnten Bahnen des Rezitativs bewegt und dieses nur stellenweise mit einer instrumentalen Begleitung ergänzt, findet sich in den Meistersingern eine unerschöpfliche thematisdie Erfindungskraft am Werke, so daß Wagner sidi einmal geradezu zwingen muß, den Sänger durch das Orchester bloß akkordisdi begleiten zu lassen (zu den Worten: „In deutschen Landen viel gereist . . . " ) . Damit wird dort zu einem Ergebnis vollendeten musikalischen Könnens und abgeklärter künstlerisdier Weisheit, was hier, wenn nicht Verlegenheit, so doch mindestens geringere künstlerisdie Anstrengung bedeutet. Nach einer Reprise des Triothemas (97 in Es-dur) und einem A-cappellaEinsatz der vier Edelknaben eröffnet Wolfram von Esdienbadi, durdi das Los als erster bestimmt, den Wettstreit der Sänger. Begreiflicherweise konnte Wagner gar nicht daran denken, ein geschichtlich getreues musikalisches Abbild einstigen Minnesanges zu entwerfen. So sind es denn zunächst nur gebrochene Akkorde der Harfe, die den rezitativischen und doch auch hier schon deutlich melodischen Gesang begleiten. Ihnen gesellt sich bald in Bratschen und Violoncelli das Orchester. Indem Wolfram seine Seele andächtig in Gebet versinken fühlt, entwickelt sidi in Harfen und tiefen Streichern ein geschlossener Satz, der die Singstimme sich voll entfalten läßt. Sein Ausklang in einer weit geschwungenen akkordischen Kadenz („in Anbetung möcht' ich mich opfernd üben, vergießen froh mein letztes Herzensblut") ist wiederum von der besondern „Tannhäuserharmonik" getragen, deren Eigenart in Worten schwer zu umschreiben ist. Das Schlußwort endlich („Ihr Edlen mögt in diesen Worten lesen, wie ich erkenn' der Liebe reinstes Wesen") nimmt die rezitativische Form des Anfangs wieder auf. Durch einen kurzen, lebhaften Ensemblesatz bekundet der Chor seinen Beifall. In der Urfassung des Sängerkriegs ergreift darauf Tannhäuser das Wort zu einer Entgegnung, die sich weder musikalisch noch ihrem Gedankengang nach allzuweit von dem Vorbild Wolframs entfernt. Freilich kann Tannhäuser dem Quell der Liebe nicht nahen, „ohne Sehnsudit heiß zu fühlen". Noch aber äußert er sich zurückhaltend genug, daß Elisabeth glaubt, auch ihm
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Beifall bezeugen zu dürfen. Da indessen die andern sdiweigen, „hält sie sich schüchtern zurück". "Walther von der Vogelweide, in der Pariser Fassung seltsamerweise zum Schweigen verurteilt, weist Tannhäuser zurecht. Wolframs Art wird, wenn auch im Tempo gesteigert — da idie zunehmende Schärfe des Meinungskampfes sich abzuzeidinen beginnt — sinngemäß weitergeführt und gibt damit dem Wettstreit eine musikalische Geschlossenheit, für die die Pariser Fassung keinen Raum hat. Mit dem Eingreifen Biterolfs nähert sich der Streit sdinell seinem Höhepunkt. Auch der hohe Lobgesang, mit dem Wolfram nodi einmal einzugreifen sucht, vermag den Frieden nicht mehr zu retten. Tannhäuser springt jäh auf, und indem er das weiche Es-dur von Wolframs letztem Gesang schroff um einen halben Ton erhöht, stimmt er das Lied an, das er im Venusberg zum Preise der Liebesgöttin gesungen hat (Nr. 93, S. 194). Von „äußerster Verzückung" ergriffen, verliert er endlich jedes Maß: die geschlossene Melodie seines Liedes löst sidi in herausgestoßene Worte auf: „Zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein!" Entsetzen und allgemeiner Aufbruch folgen seinen Worten. Der größere Teil der nun eintretenden Ensembiemusik reicht freilich nicht wesentlich über den Ausdruck dramatischer Bewegtheit in unruhigen Achtelfi^ren und verminderten Septimenakkorden hinaus. Um so stärker wirkt ihm gegenüber das Andante in h-moll, mit dem Elisabeth für den Unglücklichen eintritt. In der Innigkeit seines Ausdrudis wie in der melodischen Schönheit der Klarinettenund Oboenstimmen kann es etwa mit Teilen der großen Arie Leonores in Beethovens „Fidelio" verglichen werden. Ein anschließendes Adagio in H-dur steigert die rührende Fürbitte in einem zarten Bläsermotiv, das im Vorspiel zum dritten Aufziug noch einmal wiederkehrt (98). Es liegt auch dem folgenden Ensemble zugrunde. Als der große Adagiosatz verklungen ist, nimmt der Landgraf mit einem „Maestoso" das Wort. Entschlossen schreitende Oktavengänge der Streicher leiten es ein. Aus dem Kreise der Sänger verstoßen, möge Tannhäuser sich den Pilgern anschließen, die zum Aufbruch nach Rom bereit seien'. ' Hier wiederholt sidi die Anordnung aus dem ersten Aufzug, bei der das Thema des Pilgerchors in den Holzbläsern durdi gleidimäßige Aditel der Violoncelli pizzicato begleitet wird (vgl. S. 196). Es bleibt diesmal freilidi bloßes Zitat, während die Aditel der Violoncelli sich ohne Unterbrechung fortsetzen und noch das folgende Ensemble begleiten. Bemerkenswert ist die Selbständigkeit, mit der die Streicher sowohl der Singstimme wie dem Kontrapunkt der Violoncelli gegenübertreten — eine Anordnung, die in den Arien Bachs noch durchaus üblich war. Im Zeitalter der Homophonie — das nun durch die neue Polyphonie Wagners abgelöst wird — hatte sich die reine Begleitung einer führenden Singstimme vollständig durdigesetzt.
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Das abschließende, sehr breit angelegte Ensemble bewegt sich bei mancher Schönheit im einzelnen doch überwiegend in der herkömmlichen Opernsprache und läßt das eigentliche Wesen der Kunst Wagners so gut wie ganz vermissen. Absolute Musik in reinen Bewegungsmotiven herrscht völlig vor. Ihr entsprechen die teilweise fast endlosen Textwiederholungen. — Mit dem Vorspiel zum dritten Aufzug hat Wagner die erste der so eigenartig besinnlichen Orchestereinleitungen geschaffen, wie sie später an derselben Stelle auch in Tristan, den Meistersingern und Parsifal erscheinen sollten. Erinnerungen an den Pilgerchor in Hörnern und Fagotten (Nr. 89, S. 193) wie an die Fürbitte Elisabeths (98) in den Holzbläsern leiten ein. Ihnen folgt ein eigentümliches Motiv der tiefen Streicher aus der spätem Erzählung Tannhäusers von seiner Fahrt nach Rom (99). Seinem Wesen nach kann es an dieser Stelle eben nur eine „Ahnung" in dem Sinne wachrufen, in dem Wagner in „Oper und D r a m a " das rein musikalische Orchestervorspiel zu rechtfertigen versucht hat. Ähnlich, aber deutlicher, spricht ein einprägsames Thema der Trompeten, Posaunen und Baßtuben (100). In ihm wird die Vorstellung prunkvoller katholischer Festlichkeit unmittelbar lebendig.
(99)
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^
(100)
Ist dem Vorspiel bis zu diesem Punkte etwas Rhapsodisches zu eigen gewesen, so entwickelt sich nun im Wechsel zwischen dem neuen Thema der Blechbläser (100) und einer Zweiunddreißigstelfigur der Violinen und Bratschen über einem Paukentremolo eine geschlossenere Form, bis eine letzte Wiederkehr des „römischen" Themas in vier gedämpften Violinen den Mittel-
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teil beendet und eine Reprise von (98) den Bogen des Vorspiels in einem etwas knapp geratenen Sdilußsatz rundet. Das Bühnenbild, nun herbstlich gewandelt, gleicht dem des ersten Aufzugs mit dem Tal zu Füßen der Wartburg. Wolfram kommt von der waldigen Höhe herab und erblidtt Elisabeth, wie sie, der heimkehrenden Pilger harrend, vor einem Muttergottesbild kniet. Sein ausdrucksvolles Rezitativ im Tonfall echter Tannhäuserharmonik und -melodik wird durdi den A-cappella-Chor der Pilger in der schon von der Ouvertüre bekannten Anordnung abgelöst. Halleluja-Rufe erweitern den Chor. Seinem Verklingen folgt nun aber nicht die Musik des Venusbergs, sondern in einem feierlichen, von Bläsern getragenen Lento das Gebet Elisabeths. Der sdilichte Satz ist Aiusdrudk einer reinen, innig empfundenen Frömmigkeit. N u r vereinzelt unterbricht eine Viertelbewegung der Baßklarinette den ruhigen Gang der halben und ganzen Noten. Harmonik und Instrumentation sind aus der Vorstellung des Orgelklanges entwickelt, die Thematik bleibt — wie in den lyrischen Teilen der Jugendwerke Wagners fast stets — von der übrigen Musik unabhängig. Ein „Piü lento" aber, das dem in Holzbläserakkorden langsam verschwebenden Schluß des Gebetes folgt, nimmt dennoch eine thematische Erinnerung auf: während Wolfram allein zurückbleibt und Elisabeth nachblickt, stimmt die Baßklarinette zu synkopierten Flötenakkorden die Melodie an, mit der Wolfram den Streit der Sänger zu besciiwichtigen gesudit hat: „Dir, hohe Liebe, töne begeistert mein Gesang." Um so selbständiger ist demgegenüber das nun folgende Lied an den Abendstern gestaltet — ganz und gar „lyrische Einlage" im Sinne der überlieferten Oper, also ohne eigentlidien Zusammenhang mit dem dramatischen Geschehen. Als Tannhäuser auftritt, gewinnt das Drama endgültig den Vorrang. Im Schaffen Wagners ist damit der bedeutsame Punkt erreidit, an dem sidi der herrschenden Anschauung zufolge der endgültige Durdibruch zum musikalischen Drama vollzieht. Obgleich indessen tatsädilich erst der Nibelungenring die neuen Bestrebungen seines Schöpfers voll verwirklicht und auch in Lohengrin nodi vieles von Wagners eigentlidiem Ideal beträchtlich weit entfernt bleibt, wird an dieser Stelle doch zweifellos ein entscheidender Schritt getan. Den Zeitgenossen Wagners soll die erhebliche Länge rein rezitativischer Teile aufgefallen sein. Aber bis zum Eintritt des Andantesatzes in a-moll, mit dem die Erzählung von Tannhäusers Pilgerfahrt beginnt, geschieht nichts, was sich nicht auch bei Wagners Vorgängern fände. Hier ist namentlich an Gluck zu denken, aber auch an Mozarts Zauberflöte, als Tamino in Sarastros Schloß dem Priester gegenübersteht. Darüber hinaus bildet die Gesangsstimme freilich keineswegs mehr eine Melodie der herkömmlichen Art, obwohl die thematisch klar gegliederte Orchesterbegleitung dies erwarten ließe. Tannhäusers Erzählung folgt vielmehr auch weiterhin einer sinngemäßen Deklamation, die hie und da den Eindruck erwecken mag, als wäre sie dem Orchestersatz nachträg-
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lidi hinzugefügt. Ohne Zweifel versdiiebt sich das Sdiwergewicht der musikalisdien Erfindung von nun an zugunsten des Orchesters und verwandelt die Oper in eine „Symphonie mit begleitenden Gesangsstimmen". Die Aufgabe, die dem Musiker damit gestellt war^, hat Wagner von da an viel beschäftigt und ihn für die Gestaltung der Singstimme immer neue Möglichkeiten finden lassen (vgl. S. 6 7 — 6 9 ) . Die Lösung gelang um so befriedigender, je vollkommener sich der dramatische Stoff überhaupt in Musik verwandeln ließ. Am stärksten widersetzten sidi dem zumeist die erzählenden Teile der Dramen. Es ist also nicht verwunderlich, wenn Wagners erster Versuch in dieser Richtung nidit sogleich vollkommen glückte. Thematisch beruht die Erzählung Tannhäusers im wesentlichen auf dem Andantemotiv (99) und dem Thema Roms (100). Eine Zweiunddreißigstelbewegung der Violinen trennt die Teile der refrainartigen Wiederkehr des E-ommotivs voneinander. Endlich gesellt sich noch ein düster-strenges Thema in liegenden Bläserstimmen zum begleitenden dramatischen Akkord hinzu, das in chromatisch aufsteigenden Sechzehnteln der Streicher unwirsch ausläuft und Tannhäusers Stimmung eindringlich kennzeichnet. Es hat die Rückkehr des einsamen Pilgers nicht nur eingeleitet, sondern steht ebenso am Ende seiner Erzählung, als er von dem Bannspruch des Papstes berichtet. In Vernichtung dumpf darniedergesunken, hat er hierauf noch einmal die frohen Gnadenlieder der andern Pilger vernommen. Pianissimo (mit dem Zusatz „possibile") singen die geteilten Flöten und Oboen das süß-fromme Thema (100). Ihn aber „ekelte der holde Sang!" Rasch zunehmende Bewegung, durchweg vom verminderten Septimenakkord getragen und doch in b-moll merkwürdig weich wirkend, führt die dramatische Wendung herbei, mit der Tannhäuser zu Venus zurückkehren will. J ä h werden die Motive der Venusbergmusik wieder lebendig. Tannhäuser selbst singt nun die lockende Melodie der Liebesgöttin, Wolfram aber reißt den Verblendeten mit dem Ausruf „Elisabeth!" im letzten Augenblick vom Abgrunde zurück. Ein männlich-ernster Chor- und Ensemblegesang, der die Tannhäuserharmonik seltsam eindrucksvoll abwandelt, als Elisabeth zu Grabe getragen wird, läßt den heidnischen Spuk mit einem Sdilage verschwinden. Tannhäuser aber sinkt mit den Worten: „Heilige Elisabeth, bitte für mich" über dem Sarge der Verratenen zusammen. Pochende Holzbläserakkorde zum Chor der jungem Pilger (Sopran und Alt) greifen anfangs noch einmal auf das Thema des Gnadenfestes in Rom zurück (100) und werden damit zum Ausdruck des Wunders, das sich in dem neu ergrünenden Pilgerstab Tannhäusers sichtbar kundgibt und auch seiner Seele Erlösung verheißt. Nur ganz allmählidi sinkt der freudig-helle Es-durKlang tiefer, bis er bei den Worten „Hoch über aller Welt ist G o t t " ohne * Ein bloßes Hineinkontrapunktieren
des Gesanges in einen fertigen
mußte unter allen Umständen vermieden werden.
Orchestersatz
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Ubergang nach Des-dur rückt — hierin dem Vorhilde Beethovens im Schlußteil des ersten Satzes der Eroica folgend: Ausdruck der erhabenen Macht, vor der im letzten Satz der Neunten Symphonie der Cherub steht. Endlich führt der Pilgerchor in seiner ursprünglichen Gestalt, wobei nun auch der Landgraf und die Sänger in sein Unisono einstimmen, den Schluß herbei. 3. L O H E N G R I N Tannhäuser und Lohengrin sind durch eine innere Verwandtschaft verbunden, wie sie uns im Sdiaffen Wagners sonst nicht begegnet (vgl. S. 139). Die Ähnlichkeit wirkt Zium Teil bis in die Musik hinein. Kann vom Fliegenden Holländer gesagt werden, daß seine Gestaltung nicht zuletzt auf der Dramatik beruht, die der absoluten Musik von Natur aus als Möglichkeit innewohnt und sie damit bis zu gewissem Grade ersetzen läßt, was dem Stoff selbst an Dramatik abgeht, so ist für Tannhäuser und Lohengrin durchaus nichts Ähnliches festzustellen. Ihr gemeinsames Gesetz liegt vielmehr im DramatiscJien selbst: dem Gegensatz zwischen christlich-frommem höfischem Wesen und der Welt des Heidentums. Während also die Keimzelle der Holländermusik, die Ballade Sentas, alle Spannungen des Dramas schon in sich selbst trägt, steht der Pilgerchor als Ausgangspunkt einer Harmonik besonderer Art abgeschlossen für sich. Seinem Gegensatz, der heidnischen Welt des Venusbergs mit ihrem Sinnenzauber, entspricht in Lohengrin das nächtliche Dunkel um den alten Götterglauben Ortruds — fis-moll als Gegenstück zu dem hellen A-dur des Grals, der parallelen Durtonart. Herrscht in der Tannhäusermusik die Besonderheit einer Harmonik von ganz bestimmter Eigenart, so steht in Lohengrin über dieses Harmonisdie hinaus eine eigentümliche Melodik deutlich im Vordergrund. Ihr gilt Wagners Aufmerksamkeit in so hohem Maße, daß er darüber den Rhythmus geradezu vernachlässigt. Man hat diese Merkwürdigkeit der Lohengrinmusik, den bei weitem vorherrschenden Viervierteltakt, frühzeitig bemerkt. Vielleicht darf man aber in dem Fehlen rhythmischen Lebens zugleich eine Abkehr von derjenigen Dramatik erblicken, die ihrerseits in der Holländermusik geradezu bestimmend gewesen ist. Es ist jedenfalls bezeichnend, daß dem Vorspiel zu Lohengrin das Gegeneinander feindlicher Kräfte vollständig fehlt. Seine musikalische Entwicklung gehört durchaus nur der lichten Welt des Grales an. Von höchsten Höhen im Pianissimo der geteilten Violinen und Flöten ausgehend, dann allein den Violinen anvertraut und in kontrapunktisch vollendeter Umspielung des Gralsmotivs (101) sehr allmählich abwärtssinkend, kehrt sie nadi einer kurzen Steigerung durdi ein Fortissimo der Trompeten und Posaunen in die lichten Höhen ides Anfangs zurück. Damit ist die undramatischeste Ouvertüre Gestalt geworden, die Wagner je geschaffen hat^. Von orchestralen Einleitungen (Rheingold) und Aktvorspielen ist hierbei abzusehen.
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Lohengrin ist der Bote einer fernen, fast jenseitigen Welt. Ihr steht das Diesseits um König Heinridi und seine Brabanter gegenüber. Mag -dem Dichter die glaubhafte Verbindung der beiden Welten nicht gelungen sein — der Musiker hat den Übergang vom Vorspiel zur Szene am U f e r der Sdielde jedenfalls aufs glüdclidiste bewältigt. Wenige lebhaft bewegte Takte in synkopisdien Akkorden führen vom A-dur des Grales zu dem kernigen C-dur der Fanfare des Heerrufers und zur Begrüßung des Königs durdi den Chor der Mannen. In der Gestalt König Heinridis lebt etwas von dem Volkskönigtum, für das Wagner als Revolutionär von 1848 schwärmte. Ein gewisser Zug von sciiliditer Einfalt — d e r König selbst gebraucht dieses Wort, als er im Angesicht des Gottesurteils menschliclie Weisheit als Einfalt bezeidinet — ist mit dieser Auffassung durchaus verträglidi. Ihr entspricht es, daß große Worte vermieden werden. Heinrich nennt die Ziele, die er verfolgt habe, „des Reidies Ehr' zu wahren". Seinem schmucklosen Bericht entspricht das einfache Rezitativ des Gesanges. Aber auch Telramunds Anklage gegen Elsa von Brabant überschreitet nirgends die Grenzen eines rein rezitativischen Gesanges. H a t t e bis zu Tannhäusers Erzählung von seiner Pilgerfahrt nadi R o m das einseitige Vorurteil zugunsten einer ariosen, gefühlvoll deklamierten oder gar „absolut" musikalischen Singstimme unvermindert bestehen können, weil es auch durch Wagner nodi nicht ernstlich angetastet worden war, so droht nun ein Umschlagen ins Gegenteil. In einer Art von Entdeckerfreude über die Möglichkeiten eines sinnvollen Sprechgesanges verfällt Wagner der Gefahr, dem Rezitativ übermäßig viel Raum zu gewähren, ohne es durch eine begleitende Ordiestersprache zu beleben. So läßt denn erst der Auftritt Elsas mit einem zarten, von as-moll seltsam nach A-dur (eigentlich Heses-dur) modulierenden Holzbläsermotiv (102) die Musik wieder zu Worte kommen, und es ist — wie in aller Vergansehtiari (102)
genheit der Operngeschichte — der lyrische Klang, der diese Wandlung herbeiführt. Er erfüllt in eindringlicher Sprache Elsas Worte von dem Gebet,
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mit dem sie „einsam in trüben Tagen" zu Gott gefleht hat, und besdiwört, als sie von den Gesichten ihres Traumes spricht, mit der Erinnerung an das Gralsmotiv (101) das Bild des Ritters, der ihr „in liditer Waffen Sdieine" erschienen sei (103). Zum ersternnal scheint sidi im Orchester mit dem Motiv Lohengrins
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(103) die Entwicklung zum symphonischen Leitmotiv anzubahnen. Elsas eigenes Thema (102) sdiließt sidi dem marsdiartigen, „immer gleichmäßig piano" vorzutragenden ritterlichen Thema Lohengrins an imd beherrsdit auch noch den ehoreinsatz der Mannen. Telramunds Erwiderung aber nimmt die Spradie des Rezitativs wieder auf und führt damit, indem sie an das Gebot der Stunde erinnen, gleichsam in die Wirklichkeit zurück. Das Ordiester ordnet sich ihr in Akkordschlägen und vorübergehenden Bewegungsmotiven unter und gelangt erst mit einem Unisonodiema der Posaunen und Tuben, einer Art Vorausnahme von Wotans Vertragsmotiv und auch dem Sinne nach ähnlich gemeint, zu selbständiger Äußerung. Die Fragen .des Königs an Telramund und Elsa, ob sie zum Gottesgeridit bereit seien, geben Gelegenheit zu schliditer Wiederholung von Wort und Gesang. Elsas Entschluß, daß sie sich dem Ritter ihres Traumgesichts anvertrauen und ihn zu ihrem Streiter erwählen wolle, wird nach dem einleitenden Thema (102) durch einen marschartigen Satz der Holzbläser bekräftigt, ohne daß es doch hier oder weiterhin im Wechsel der Handlung zu einer wirklich geschlossenen Satzbildung käme. Die „dramatisch" gewordene Musik verzichtet auf eine eigengesetzliche innere Ordnung und fügt sich dem Text. Sie erfüllt damit genau das, was auch heute noch allgemein als das Gesetz dramatischer Musik gilt — wobei der gelegentliche Zusatz „symphonisch" dazu bestimmt sein mag, die etwas dunkle Vorstellung von einer größern räumlichen Reichweite der Musik in Wagners späteren Werken einigermaßen zu umschreiben. Herrscht somit bis zu dieser Stelle zwar nicht mehr die Oper alten Stils, sondern statt ihrer das Gesetz eines sinngemäßen musikalischen Ausdrucks^, so ist damit doch noch keineswegs die neue Form Wirklichkeit geworden, die dem Werke Wagners schließlich sein endgültiges Gepräge geben sollte. Elsas Gebet aber, durch das Unisono der Singstimme und des Englischhorns ausdrucksvoll gesteigert und vom Chor der Frauen unterstützt, leitet eine musikalische Ent' Besonders eindrudtsvoll in der zweimaligen Melodie der Baßklarinette, aus der Elsas wachsende Angst spricht, als die W o r t e des Heerrufers ohne A n t w o r t verhallt sind.
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Wicklung ein, in der der leitmotivisdie Einsatz des ritterlidien Lohengrinthemas (103) und die wediselnden Chorainsätze der Männer eine dramatisdie Steigerung herbeiführen, wie es sie in dieser Form bis dahin nidit gegeben hat. Wie nie zuvor iät freilidi audi der Chor dazu aufgerufen, an der Handlung wirklidi teilzunehmen. Während im Orchester das Thema des Erwarteten eintritt und die Bemerkung „immer piano und zart" übereifrige Dirigenten zur Zurückhaltung mahnt, lösen sidi einzelne Gruppen aus dem Vordergrund, um selbst nachzusehen, was am Flusse geschieht. Mehr und mehr steigert sich die lebhafte Bewegung der Choreinsätze, bis endlidi ein langgehaltener, vom Tremolo der Streicher begleiteter A-dur-Akkord des vollen Orchesters dem Chor Einhalt gebietet. Das Erscheinen Lohengrins wirkt als Wunder in dem Sinne, in dem Wagner dieses dramatische Mittel späterhin in „Oper und Drama" erläutert hat. Der synkopische A-dur-Dreiklang der Flöten, der das volle Ordiester pianissimo ablöst, gibt das Wunderbare des Gesdiehens eindringlich wieder. Die erwartungsvoll gespannte Stimmung wird durdi den Eintritt des Gralsmotivs in den geteilten Streichern nochmals gesteigert (Nr. 101, S. 205). Neben den Grunddreiklang tritt nun sein Parallelklang in moll, in der Gemeinsamkeit zweier Töne ein Minimum an harmonischer Bewegung verwirklichend, wie es vom Grunddreiklang aus nur durch den Übergang zur dritten oder sechsten Stufe möglich ist. Auch Lohengrins Dank an den Sdiwan beruht fast ganz auf dem Wechsel von Tonika und sedister Stufe. Wagners Vorliebe für diese Verbindung ist unverkennbar'. Sie gehört hier freilidi durdiaus der Welt des Grals an und wird zuletzt in Oboen und Klarinetten zu einem Motiv des Sdiwans, das in der Parsifalmusik unverändert wiederkehrt. Ebendort gründet sich das Gralsmotiv auf das dreifadi wiederholte Fortsdireiten zur sechsten Stufe, indem der jeweils erreichte Akkord seinerseits als neue erste Stufe aufgefaßt wird (vgl. N r . 23, S. 50). Die besondere harmonische Vorstellung, die durch das Bild des Grals in Wagner erweckt worden ist, geht daraus eindeutig hervor. Ganz und gar aus der Empfindung des Wunderbaren heraus ist auch der Pianissimochor der Männer und Frauen gestaltet, der den Ankommenden begrüßt. Verwandte Thematik, in der der harmonische Gang des Gralsthemas immer erneut anklingt, beherrsdit ebenso die folgenden Ensemblesätze. Einzig das Thema des Frageverbots mit dem düstern as-moll seiner beiden Stollen und den fremdartigen harmonischen Ausweichungen des Abgesangs gehört einem andern Bereich an und hebt sich dadurch schon rein musikalisdi wirkungsvoll ab (104). ' Vgl. Walters Lied „Am stillen Herd zur Winterszeit" oder sein Preislied, aber audi das Motiv Parsifals und namentlidi dessen Abwandlung in der Melodie des Karfreitagszaubers.
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Nadi den Vorbereitungen zum Zweikampf (Nr. 15, S. 47) ruft der König in einem feierlichen Dreiviertelsatz Gott zum Zeugen des Kampfes an. Gegenüber dem so lange vernommenen Vierviertelrhythmus führt allein schon diese veränderte Bewegung eine erhöhte Spannung herbei. Das Zusammenwirken aller Stimmen im Ensemble verstärkt den Eindruck und schiebt zugleich die Entscheidung noch hinaus. Der Kampf selbst wird jedoch in aller Kürze abgetan. Die beiden ersten Schläge der Gegner fallen in eine Generalpause, dann nimmt das Orchester in einem sdinellen Satz die Rhythmik von (15) auf. Ähnlich wie im Zweikampf Don Juans und des Komthurs (Nr. 41, S. 60) lösen die beiden Hauptstimmen der Begleitung einander imitierend ab. Als Telramund fällt, beendet ein A-dur-Akkord die Zweistimmigkeit des Orchestersatzes. Mit einem fast klassisch anmutenden B-dur-Thema begrüßt Elsa in überströmendem Glücksgefühl Lohengrins Sieg: „ O fänd' ich Jubelweisen, deinem Ruhme gleich, dich würdig zu preisen, an hödistem Lobe reich" — Verse, deren merkwürdige rhythmische Unebenheiten von den Melismen der Singstimme völlig verdeckt werden. Die lang ausgesponnene Entwicklung führt mit den üblichen Textwiederholungen den ersten Aufzug zu einem regelrechten Opernschluß. In stärkstem Gegensatz zu der eben noch so konventionellen Musik steht die Einleitung des zweiten Aufzugs. Zwei Takte eines leisen Paukenwirbels auf dem Grundton Eis leiten eine lange, rein lineare Entwicklung des Violoncellos ein, die — wenn man dem Urteil gewisser Kritiker Wagners trauen will — in seinem Werk überhaupt nicht anzutreffen sein dürfte (105). Man hat gegen die angeblich allzusehr nur harmonische Bindung der Musik Wagners mit ihrer „wohlgefütterten Mittellage" sogar das Schaffen Hans Pfitzners
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ausgespielt^. Angesichts einer solchen Kritik ist es merkwürdig genug, daß gerade Wagner in seinen spätem Werken auffallend oft von einstimmigen Führungen Gebrauch macht. In Augenblicken der Besinnung — wie sie bei ihm so häufig sind — kann es leicht geschehen, daß die Orchestersprache fast verstummt und nur die einsame Linie eines tiefen Holzbläsers, vielleicht sogar nur noch ein leiser Paukenrhythmus zurückbleibt. Die traurige Weise des Hirten im dritten Aufzug des Tristan oder der unbegleitete Gesang des jungen Seemanns zu Beginn des ersten Aufzugs, das lange Solo der Violinen, als Siegfried die „selige Öde auf sonniger Höh'" erstiegen hat, der Abendmahlspruch in Parsifal und viele ähnliche Beispiele gehören nur zu den bemerkenswertesten. Ihnen allen liegt ein Ausdruckswille zugrunde, wie er sich im Beginn des zweiten Lohengrinaufzugs zu erkennen gibt.
Der lange, immer von neuem geheimnisvoll sich wandelnde Linienzug rückt die Zaubergestalt Ortruds hie und da bereits in die Nähe Kundrys (Nr. 82, S. 108) und Klingsors (Nr. 163, S. 303). Wie mahnende Erinnerung klingen zwischendurch die beiden Stollen des Frageverbots (104) und nach einer neuerlichen Entfaltung der einstimmigen Linie räumlich von ihnen völlig getrennt der Abgesang. Telramund und Ortrud haben sich in die nächtliche Stille des Burghofs vor dem Münster zurückgezogen. Wenige Akkorde jubelnder Festmusik erklingen aus dem Pallas. Elsas Motiv (102) schließt sich ihnen ohne Übergang an. Dann versinkt auch im Orchester alles wieder in das Dunkel der Nacht. Ortrud spinnt ihre Pläne weiter. Einem Arioso Telramunds („Durch dich mußt' ich verlieren mein' Ehr', all meinen Ruhm") über verminderten Septimenakkorden des Orchesters folgt nach einem zweiten Zwischenspiel der Festmusik in reinem Rezitativ seine Anklage gegen Ortrud. Streichertremolo begleitet die hastig hervorgestoßenen Worte, in denen an die Vorgeschichte und Ortruds Ränke erinnert wird. „Mäßig langsam" leitet hierauf eine Folge geheimnisvoll-zauberhaft klingender absteigender Akkorde, die harmonisch und instrumental wie eine Vorausnahme der Schlafakkorde Brünnhildes anmuten (vgl. Nr. 17, S. 49), Ortruds Antwort ein. Als der Auftritt in einem unisono gesungenen Racheduett zu Ende geht, wirkt der plötzliche Eintritt * So Erwin Kroll in seinem Buch über Hans Pfitzner (München, Dreimaskenverlag). 14
von Stein, Wagner
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lichter Holzbläserakkorde zum Ersdieinen Elsas auf dem Söller mit einer Madit, die die Musik hier fast zum sichtbaren Bilde werden läßt. Vernehmlich meldet sich nun freilich auch die schön gesungene oder von der Klarinette ausdrucksvoll vorgetragene Melodie zum Wort, in der die überlieferte Opernmelodie zugleich geläutert wird, aber auch eine Abwandlung erfährt, die angesichts der spätem Entwicklung Wagners als fragwürdig empfunden werden muß® (106). In der Aussprache zwisdien Elsa und Ortrud steigert
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sich diese Melodik zu mehreren Höhepunkten sdiönen Klanges; so schon in der absteigenden Tonleiter der Flöte, als Elsa den Burghof betritt, dann in dem echt Wagnerschen Doppelschlag zu den Worten „dort harre ich des Helden mein", in dem kleinen Motiv der Oboe, mit dem Elsa sich zur „Wonne reinster Treue" bekennt, vor allem aber in dem „sehr ruhigen" Streicherthema, das den gemeinsamen Schlußgesang Elsas und Ortruds begleitet und dem Abgang der beiden als instrumentales Nachspiel nochmals folgt. Das Morgenlied der Türmer, dessen zweistimmige Trompetenrufe von der Höhe herabschallen und aus der Ferne leise erwidert werden, entfaltet sich zu einer rein romantischen Auffassung des Mittelalters, die in ihrer Schlichtheit dennoch ungemein eindringlich wirkt. Sein Thema (107) wird von Hörnern
(107)
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und Fagotten, später von tiefen Streichern und endlicäi in seiner ursprünglichen Höhe von Holzbläsern ins Orchester übernommen. Trompeten auf der Bühne leiten nacJi C-dur zurück und führen zu einer rüstigen Achtelbewegung als Begleitung ausgedehnter Chöre der Mannen — Männerchormusik des neunzehnten Jahrhunderts, die den Stempel der Zeitgebundenheit trägt und namentlich in verwandten Chorsätzen Webers ihre Vorläufer hat. Dem achtstimmigen Satz stehen die deklamatorischen Zwischensätze des Heerrufers wirkungsvoll gegenüber. Im Vergleich zu Tannhäuser macht sich dabei das rein Opernhafte nicht mehr ganz so stark geltend. U m so mehr läßt freilich der äußere Auf' Im Sinne Nietzsdies wäre freilich gerade eine solche Melodie „de la mediterranisee".
musique
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wand an die „große Oper" denken: niemals treten die Hauptgestalten des Werkes okne großes Gefolge auf; audi Elsa wird, während das Orchester in einem langsamen und feierlichen Satz der hohen Bläser den ganzen Wohlklang echter „Lohengrinmusik" entfaltet, durch einen langen Zug von Frauen „in prächtigen Gewändern" begleitet®. Die frühere Klarinettenmelodie (106), in der Oboe wiederkehrend, läßt dennodi erkennen, wie wenig die Kompositionsweise Wagners selbst hier noch mit dem Gedanken des spätem Leitmotivs zu tun hat. Gibt es audi einzelne thematische Beziehungen, so sind sie dodi immer sehr lose gefügt. Sie besdiränken sich im wesentlichen auf eine vorübergehende Erinnerung an das Motiv Lohengrins bei seinem Erscheinen zu Beginn des fünften Auftritts und mehrere Erwähnungen von Ortruds Zaubermotiv (105). Telramunds Anklage gegen Lohengrin stützt sich aaif das Thema des Zweikampfes aus dem ersten Aufzug, ohne es doch symphonisch zu verwerten, und als Lohengrin die Antwort verweigert und sein Blick auf Elsa und ihren inneren Kampf fällt, werden Ortruds Motiv (105) und das Verbot der Frage (104) unmittelbar nebeneinandergestellt. Die übrige Entwicklung ist in den Gesangsstimmen wie im Orchester überwiegend von erregten Triolen- und Sechzehntelbewegungen beherrscht, bei denen der verminderte Septimenakkord eine große Rolle spielt. Von der Kunst des Musikdramatikers, die späterhin ofl fast jeden Takt in musikalische und dramatische Zusammenhänge einzubeziehen weiß, ist hier nicht das mindeste zu verspüren, ja man darf sagen, daß Wagners musikalische Erfindung niemals so gering gewesen ist wie in den beiden Auftritten, die den Gang zum Münster und den Streit der beiden Frauen zum Gegenstand haben. Mit der lebhaft bewegten Einleitung zum dritten Aufzug und dem anschließenden Chor, der Elsa und Lohengrin zum Brautgemach geleitet, bewegt Wagner sich nodi einmal in den Bahnen einer volkstümlichen Opernmusik. Nietzsches Wort von dem „toleranten Theatergeschmadc" (vgl. S. 186) scheint an dieser Stelle entschieden nicht unbegründet zu sein (während freilidi seine Verallgemeinerung völlig verfehlt ist). Der „etwas langsamere" Zwischensatz in D-dur mit dem A-cappella-Einsatz von je vier Sopran- und Altstimmen, in seiner Stimmführung und Akkordik an den höfischen Zauber des Triothemas aus Tannhäuser erinnernd (vgl. Nr. 97, S. 199), macht den Gegensatz deutlich fühlbar. Aber auch die Erinnerung an die ganz untheatralische Volkstümlichkeit des Matrosenchors im Fliegenden Holländer mag den starken Einfluß des Theaters gerade an dieser Stelle veranschaulichen. Mit dem Verklingen des Chors gewinnt die Melodik der Lohengrinmusik in einer Fülle immer neuer Einfälle die volle Herrschaft. Singstimme und Orchestermelodie bewegen sich teils im Einklang, teils im Duett, stets aber dem Gesetz des schönen Klanges Untertan und zugleich ausdrucksvoll. Die ® Einzig ihr Erscheinen auf dem Söller macht hiervon eine Ausnahme. 14»
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dramatische Entwicklung, die hier zuerst verhalten, dann immer stärker hervortretend, rasch dem Höhepunkte zutreibt, bedingt in der Musik eine Aneinanderreihung kürzerer Sätze in wediselnden Tonarten ähnlich den Finaleszenen Mozarts. Mitunter nimmt der Gesang dabei fast liedartige Züge an, ja für einen Augenblick ist im Ordiester (bei „Wie soll ich es nennen, dies Wort so unaussprechlich wonnevoll?") die klassische Liedbegleitung der Romantik, insbesondere Schumanns zu vernehmen. Immer wieder drängen Elsas Zweifel zum Ausdruck, mehrmals liegt die verbotene Frage ganz nahe oder ist im Grunde schon ausgesprochen: „Gönnst du des deinen holden Klang mir nicht?" Geheimnisvoll hält das Orchester zu den Worten von der „Liebesstille" zurück, von der Einsamkeit, in der „niemand wacht" und in der auch Elsa den Namen aussprechen dürfte. „Ruhig" erwidert eine sanfte Melodie Lohengrins über pochenden Holzbläserakkorden in Harmonisierungen, die den Zeitgenossen Wagners noch durchaus fremd und neuartig sein mußten. Immer leidenschaftlicher wirbt Elsa um Lohengrins Vertrauen und stellt die Frage nadi seiner Herkunft so deutlidi, daß Lohengrin „streng und ernst" einige Schritte zurücktritt. Eindrudcsvoll mahnen Oktaven der Posaunen in einem kurzen, ernsten und langsamen Zwischensatz. Zu einem bewegten A-durThema der Violinen sudit Lohengrin nodi einmal Elsas Liebe zu beschwören und ihre Zweifel zu beschwiditigen. In ritterlich-edlem Klange entfaltet sich „sehr ruhig" ein Triolenmotiv über gezupften Streicherakkorden als Begleitung der Gesangsstimme. Die Stille des Anfangs scheint in ihm noch einmal anzuklingen — bis Lohengrins Worte, daß er aus „Glanz und Wonne" herkomme, die tragische Wendung herbeiführen. In jähem Umsdiwunge der Stimmung greift Elsa auf das Motiv Ortruds zurück: „Hilf Gott! Was muß ich hören! Welch Zeugnis gab dein Mund?" Ortruds Zaubermotiv trägt die Entwicklung weiter — bis ein plötzlich abreißender Fortissimoakkord Elsa in heftiger Erregung zusammenzucken und dann wie mit angehaltenem Atem lauschen läßt. In Flöten und Oboen taudit die Erinnerung an den Schwan auf, Elsa wähnt ihn zu erblicken, und während die Bläser fortissimo das Verbot der Frage anstimmen (104), spricht sie die verhängnisvollen Worte aus. Oktaven der Streicher, Trompeten, Posaunen und Tuben stürmen empor, als Telramund in das Gemach eindringt und Elsa in äußerster Verzweiflung Lohengrin das Schwert reicht, mit dem er den Gegner niederstredst. Gleich darauf steht die abwärts gerichtete Gegenbewegung in einer Terz der Hörner still. Zwei Takte lang ausgehalten, mündet diese in die nachhallende Sekund eines hinzuzudenkenden Quintsextakkordes. Sein Grundton E wird von der Pauke übernommen. Es ist eine jener „sprechenden Pausen", die in Wagners späterem Werk so häufig auf jähe dramatisdie Wendungen folgen. Paukenschläge oder die Solostimme eines einzelnen, wie verloren zurückbleibenden Instruments — hier des Violoncellos — füllen in Augenblicken einer so stark gesteigerten Spannung
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das Sdiweigen des Ordiesters aus und verleihen seinem Verstummen eine oft sehr eindringliche Wirkung. Während Lohengrin sich zu Elsa hinabneigt, sie sanft aufhebt und auf das Lager bettet, erklingt im Ordiester gleidi einer Erinnerung an ein unwiderruflich zerstörtes Glück ganz zart und verhalten das Liebesmotiv vom Anfang des Auftritts (108). Zuerst von der Klarinette,
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dann von der Oboe angestimmt, verliert es sich, als Elsa matt die Augen aufschlägt und sich mit einem Male des Geschehenen bewußt wird, in einem alterierten Terzquartakkord. Auf ein Zeidien Lohengrins erheben sidi die vier Edlen, die zusammen mit Telramund in das Gemach eingedrungen sind, und tragen seinen Leichnam hinaus. Synkopen des Violoncellos begleiten die höfisch gemessenen Worte, die Lohengrin an die beiden eingetretenen Frauen richtet: „Sie vor den König zu geleiten, schmückt Elsa, meine süße Frau! Dort will ich Antwort ihr bereiten, daß sie des Gatten Art ersdiau'!" Eine Melodie der Violinen gesellt sich dem pochenden E des Grundtons gleich einer letzten Erinnerung an die verratene Liebe, dann lassen die Holzbläser in ernster Feierlichkeit den Abgesang des Frageverbots erklingen, und als die Synkopen des Violoncellos zurückkehren, werden, zuerst in Oboen und Klarinetten, dann in Englischhörnern und Baßklarinetten, auch die beiden Stollen dieses Motivs angestimmt. Eine Trompetenfanfare, „tief, wie aus dem Burghof vernehmbar", und das Gralsmotiv in den Posaunen (von der Bühne aus) beenden den Auftritt. Lebhaft bewegt leitet ein Ordiestersatz mit Trompeten auf der Bühne, die sich von redits her nähern, den letzten Auftritt ein. Grafen mit ihrem Heergefolge ziehen auf und beleben die Bühne mit farbenprächtigem Treiben. Wirkungsvoll bezeichnet der Wechsel der Tonarten die einzelnen Gefolge. Ein mehrfach wiederkehrendes Marschthema gibt dem Fanfarengeschmetter festen Zusammenhalt. Der Eindruck eines allzu großen Gepränges ist freilidi nicht ganz zu bannen: die Ansprache des Königs, der Auftritt der vier Edlen, die auf einer Bahre die Leiche Friedridis mit sich führen, das Erscheinen Elsas mit ihrem Gefolge und endlich der Chor, der Lohengrins Kommen ankündigt, ja auch noch dessen anklagende Worte gegen Telramund — all das ist im Grunde große Oper und musikalisdi wie dramatisch nicht viel mehr als spannende Vorbereitung auf den Höhepunkt der Gralserzählung. Ein Vergleich mit dem dritten Aufzug der Meistersinger, wo auf der Festwiese die allgemeine Erwartung gleichfalls auf ein ganz bestimmtes Ereignis gerichtet ist, liegt nahe. Gralserzählung und Preislied bezeidmen also
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in gleidier Weise Höhepunkte, die dem Hörer in ihrer Bedeutung sdion zuvor durchaus bewußt sind. Einen Vergleich beider ins Auge fassen heißt freilich zugleidi die ganze künstlerische Entwicklung ermessen, die Wagner seit dem Lohengrin genommen hat — so daß es auf der Festwiese nirgends auch nur für einen Augenblick Anzeichen irgendeines Leerlaufs gibt, während die Lohengrinpartitur von soldien Mängeln keineswegs freigesprochen werden kann. — Musikalisch greift die Gralserzählung zunächst auf das Vorspiel zurück. Dessen verklärende Streicher- und Holzbläserklänge in hohen und hödisten Lagen stehen am Beginn. Lang ausgehalten setzt ein A-dur-Dreiklang der Violinen als Begleitung des einleitenden Rezitativs fermatenartig fort. Lohengrin nennt die Burg, die „in fernem Land" gelegen ist. Als er von dem lichten Tempel spricht, geht der Dreiklang in glitzerndes Tremolo über. Dann erst kommt das Gralsmotiv selbst zu Worte (Nr. 101, S. 205). Seine symphonische Entwidmung verläuft gegenüber dem Vorspiel abgekürzt. Mehrfach geht die Gesangsstimme mit dem Orchester parallel. Wo sie eigene Wege einschlägt, verharrt sie in den Bereichen einer ausdrucksvollen rezitativischen Deklamation. Gegen das Ende hin bestimmt sie ihrerseits die Entwicklung und zwingt das Orchester in eine synkopische Akkordbegleitung, in der sidi die zunehmende dramatisdie Steigerung ausdrückt. Die Nennung des Namens („sein Ritter — ich — bin Lohengrin genannt") gesdiieht mit einer energischen Schlußkadenz, der das Orchester das Thema Lohengrins unmittelbar folgen läßt. Was der Erzählung vom Gral an melodisdier Entfaltung der Singstimme fehlt, wird durch den ansdiließenden Chor reichlich ersetzt. Rein instrumental schon am Schluß des ersten Vorspiels aufgetreten, macht er deutlich, wiesehr in der Lohengrinmusik der Zwiespalt zwisdien Dramatik und Lyrik mindestens auf die Singstimme einwirkt. Drama und Rezitativ, Lyrik und Melodie lassen sidi miteinander geradezu gleichsetzen. Nur an wenigen Stellen außerhalb der Chöre und Ensemblesätze gelingt der vermittelnde Übergang, der in den spätem Werken Wagners die Gegensätze so selbstverständlidi in einer höhern Einheit aufhebt. Der dramatische Schluß des Werkes stützt sich ähnlich wie die letzte Szene des zweiten Aufzugs vor allem auf Bewegungsmotive des Ordiesters und heftige deklamatorische Akzente der Singstimme, ohne die Musik thematisch wesentlidi zu bereichern. Mit der Wiederkehr des Sdiwans treten noch einmal die entsprechenden Motive auf. Als Ortrud unvorsichtig genug ihr Geheimnis der Verzauberung Gottfrieds verrät — dessen Wiederkehr nach Jahresfrist Lohengrin schon zuvor angekündigt hat — , stellt sich in rollenden Triolen das fis-moll wieder ein, das im zweiten Aufzug die Anrufung Wodans und Freias, der „entweihten Götter", begleitet hat. Zuerst pianissimo, dann im vollen Orchester zum Fortissimo anschwellend, erwidert „sehr langsam" das Gralsmotiv. Während es zu neuerlidiem Pianissimo gedämpft wird, sinkt
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Lohengrin auf die Knie und ruft in stummem Gebet die Macht des Grals an. Als er die weiße Taube als Botin herabsdiweben sieht, löst er die Kette, an der der Schwan den Nachen gezagen hat: Gottfried erscheint an Stelle des Schwans zum Zeichen des Sieges, den der Gral über die heidnische Welt Ortruds errungen hat — womit dann freilich die Folge reichlich unwahrscheinlicher Zusammenhänge, die der übersteigerten Romantik des Werkes zu eigen sind, in einem nur sdiwer zu durchschauenden Vorgange gekrönt wird. Ein Nachspiel des Orchesters mit der symphonisdien Durchführung des Lohengrinthemas in der Form des Beispiels 103 (S. 206) führt, während zuerst Elsa, dann mit ihr zusammen der König und der gesamte Chor dem Scheidenden ein letztes „Wehe!" nachrufen, mit einer nochmaligen Wendung von der Tonika in die sediste Stufe (Gralsmotiv) über die Unterdominante ähnlich wie im Vorspiel zum Schlußakkord. — Spengler hat gegen Wagner den „Einwand" erhoben, „daß der Kreis der Wagnerianer allzu weit werden konnte, daß allzu wenig von seiner Musik nur dem gewiegten Musiker zugänglich bleibt" (vgl. S. 16). Sosehr dieses Urteil in seiner Verallgemeinerung fehlgeht, so wenig kann man ihm dodi in bezug auf „Lohengrin" und ein von diesem Werk bestimmtes Theaterpublikum eine gewisse Richtigkeit absprechen. Vorbehalte und Bedenken gegen den künstlerisdien Rang des Werkes sind, wie die vorliegende Darstellung gezeigt hat, nicht von der Hand zu weisen, und wenn Kapp in seinem Vergleich zwischen der Urschrift des Lohengrin und der endgültigen Fassung' findet, daß „vieles Opemhafte, ja Banale" später getilgt worden sei, so ist dieser Vorgang einer Reinigung des Textes dodi nur auf Einzelheiten beschränkt geblieben. Die Streichung des bereits komponierten zweiten Teils der Gralserzählung hat der dramatischen Klarheit und Folgerichtigkeit sogar entsdiieden geschadet. Lohengrin erklärt darin, wie „der Klage Rufen" zum Gral gedrungen sei und ihn zu seiner Fahrt veranlaßt habe. Er spridit von seiner sdinell entbrannten Liebe zu Elsa. Sie habe sein Herz „des Grales keuschem Dienst entwandt". Es folgen die Worte: „Nun muß ich ewig Reu' und Buße tragen, weil ich von Gott zu dir mich hingesehnt, denn ach, der Sünde muß ich mich verklagen, daß Weibeslieb' ich göttlich rein gewähnt!" Sein Verhältnis zu Elsa erscheint damit in einem ganz anderen Liclit, und wenn er ihr verzeiht, so verbindet sidi dies mit einer Klage über „der Menschheit Los" und der Frage: „Wie lange noch sollt ihr des Heils entbehren, da wahres Glück dem Zweifel ferne bleibt, könnt' ihn dies keusche reinste Herz nicht wehren, das unstet mich nun weit von dannen treibt." Stellt man diesem Schluß die endgültige Fassung gegenüber, so zeigt sich im Vergleich zum dramatisch Motivierten eine bedenkliche Veränderung in der Richtung auf das opernhaft Unwahrscheinliche. Die Annahme, daß manches Vorurteil gegen Wagner auf die dramatisdke und musikalische Zwiespältigkeit ^ Gesammelte Sdiriften, Bd. 3, S. 239—244.
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seiner Jugendwerke, namentlidi aber des Lohengrin zurüdkgeht, liegt nahe. Die Verbundenheit dieser Werke mit der Wirklichkeit des Theaters ist zweifellos so eng, daß sie des besonderen Rahmens der Bayreuther Festspiele jedenfalls nidit bedarf. 4. DAS R H E I N G O L D Lohengrin und Rheingold sind durch die sdiöpferisdie Pause voneinander getrennt, in (der nicht nur das Nibelungenwerk von seinen Anfängen (Siegfrieds Tod, Der junge Siegfried) dichterisch bis zur endgültigen Gestalt reifte, sondern darüber hinaus eine Reihe theoretischer Schriften entstand, durch die Wagner seine künstlerischen Absichten sich selbst und seinen Zeitgenossen zu erläutern und zu klären suchte. Erst im November 1853, fünfeinhalb Jahre nach der Vollendung der Lohengrinpartitur, begann er die Komposition des Rheingolds. Schon dieser zeitliche Abstand mag die künstlerische Entwicklung deutlich machen, die sich in den Jahren der Unterbrechung des kompositorischen Schaffens vollzog. Weit stärker ist aber in der Musik wie in der Dichtung des Nibelungenringes das Ergebnis von Wagners theoretischen Einsichten bemerkbar, ja man darf Rheingold und Walküre — in etwas geringerem Grade dann die beiden ersten Aufzüge des Siegfried — geradezu als die Verwirklichung der „Worttonsprache" bezeichnen, die dem Verfasser von „Oper und Drama" als das eigentliche Ziel seines musikdramatischen Schaffens vorschwebte. Mit dieser besondern Kennzeichnung seiner beiden ersten Nibelungenwerke soll durchaus nicht behauptet werden, daß Wagner sich im weitern Verlaufe seines Schaffens von den ursprünglichen Idealen wieder abgewandt und etwa völlig andere Wege eingeschlagen habe. Aber der Übergang von der bloßen Theorie zur Wirklichkeit seiner Werke mußte ihn notwendigerweise neue Möglichkeiten lehren, deren er sich keineswegs von Beginn an bewußt sein konnte. So zeigt denn nicht nur seine Orchestersprache in ihrer zunehmend symphonischen Ausgestaltung eine deutliche Weiterentwicklung^, sondern es macht sich auch in der Behandlung der Singstimme ein allmählicher Wandel bemerkbar. Das Übermaß von Aufmerksamkeit aber, das man der Sprache des Orchesters und hier wiederum dem Leitmotiv in seiner dichterisch-musikalischen Funktion zuwandte, hat deren Betrachtung bis heute allzusehr in den Hintergrund treten lassen. Für den symphonischen Aufbau der Rheingoldmusik ist das starke Überwiegen der Bogenform kennzeichnend, während die später so wichtige Barform mit einziger Ausnahme der Erdaszene auf Untergliederungen beschränkt bleibt ' Einzig das leitmotivische Verfahren stand in seiner neuen Gestalt von Anfang an fest und wurde über den Nibelungenring hinaus bis zum Abschluß des Parsifal unverändert beibehalten.
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(vgl. hierzu den Reprisenbar des Walhallmotivs S. 89). Nicht zu übersehen ist ferner eine gewisse Vorherrschaft des dramatischen Geschehens über die Musik in der zweiten und vierten Szene (freie Gegend auf Bergeshöhen), die besonders bei der ersten Zusammenkunft der Götter dem Ablauf der Musik einigen Zwang antut, dafür aber freilich auch die neue Worttonspradie um so eindringlicher zu ihrem Redit kommen läßt. Dagegen findet Wagner für die elementare Naturwelt der Rheintöchter und der Nibelungen von Beginn an eine musikalische Sprache, die dramatischen Ausdruck und symphonische Form in vollendeter Harmonie miteinander vereinigt. Durchaus absolut-musikalisch ist in diesem Sinne sclion das Orchestervorspiel des Rheingolds als Variationensatz zu erfassen. Mit der üblidien Ouvertüre hat es nicht das mindeste mehr gemeinsam. Als „Urelement" aller Musik steht der einzelne Ton, hier das tiefe Es der Kontrabässe, am Beginn. Ihm gesellt sicli im fünften Takt die Quinte B der Fagotte, im 17. Takt fügen die Hörner den aufsteigenden gebrochenen Dreiklang so hinzu, daß im 18. und 20. Takt zum erstenmal auch die Terz G miterklingt (109). Bis zum
T? Ende des 48. Taktes, mithin in streng vier- und achttaktiger Gliederung, bleibt es bei der geschilderten, alsbald in Engführungen sich steigernden Wiedergabe des Grunddreiklangs als des einfachsten Themas einer Variation. Im 49. Takt (erste Variation) setzen die Violoncelli mit einer Wellenfigur ein, die nun audi die Dominantharmonie berührt (vgl. N r . 110 bei N B . ) ,
(110)
Trr während die Unterdominante dem Einsatz der Gesangsstimme aufgespart bleibt (Nr. I I I , S. 218). Nach weitern 32 Takten folgt in Sechzehntelbewegung die zweite und endlich nacäi abermals 32 Takten „immer anmutig und zart" die sedizehn Takte lange dritte Variation. Acht Übergangstakte in aufsteigenden Tonleitern schließen das Vorspiel ab. Ihnen folgt unmittelbar die Melodie der drei Rheintöditer über dem gebrochenen Quartsextakkord der Unterdominante ( I I I ) .
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tl Wa - gal Woge du Wel-le,waX-le ziir Wie-getwa-ga-la wei-al
(III) Für eine programmatische Deutung der Ordiestereinleicung liegt der Gedanke einer Tonmalerei wogender Wässer in der Tiefe 'des Rheins entschieden nahe. Indessen würde damit das eigentliche Wesen dieser Musik doch nur sehr äußerlich erfaßt. Dem allmählichen Übergang vom Grundton über die Quint und Terz zum Tonikadreiklang, hierauf mittels der Sechsachtelfigur zur Dominante und endlidi auf dem Wege über die Tonleiter zur vollständigen Erfassung des diatonischen Klangraumes liegt vielmehr ein Sinnbild jenes größeren Werdens zugrunde, das sich im Drama selbst von dem ersten Geschehen im Urelement des Wassers bis hin zur Götterdämmerung vollzieht (ohne daß jedoch irgendwie schon an eine Vorausnahme der Handlung zu denken wäre). Hierbei ist das Naturhafle des Dreiklangs (vgl. S. 48) nicht nur seiner instrumentalen Erscheinung zu eigen, sondern ebenso auch den Stimmen der drei Rheintöchter. Namentlich zu Beginn ergeht sich ihr Gesang in einer Melodik, die sich überwiegend auf die Stufen des Draiklangs stützt oder aus der Sexte als Vorhaltton entwickelt wird (vgl. Nr. I I I ) : nicht nur das Orchester, sondern auch die Singstimme, ja in den ersten schallnachahmenden Worten die Sprache selbst greifen gewissermaßen auf die Urgründe ihrer Entstehung zurück. Das musikalische Gleichnis eines Werdens aus ursprünglichsten Anfängen wird noch einige Schritte weitergeführt: elf subdominantiscJien Takten mit hinzugefügter Sext folgt nach einem zweitaktigen Zwischenspiel die Wiederkehr des Hauptthemas (110) in der Tonika, dann zu Floßhildes Warnung die Paralleltonart c-moll und endlich, wiederum mit dem Hauptthema, die Doppeldominante B-dur in einem rein orchestralen Teil von sedizehn Takten. Endlich trägt die Mollparallele der Dominante (g-moll) mit dem tiefen A der Bässe im Staccato die erste wirkliche Dissonanz in die Welt der reinen Harmonie hinein: Alberich taucht auf dem Grunde des Gewässers auf und lugt lüstern nach den drei Mädchen. Rede und Gegenrede wird das neckische Spiel Ein e-moll-Intermezzo, „feuchtes N a ß " ihm die monischen Schroffheiten,
folgen einander in raschem Wechsel. Im Orchester von Abwandlungen der Wellenfigur (110) begleitet. als Alberich den Nixen nachzuklettern sucht und Nase füllt, versteigt sich in seiner Drastik zu harwie Wagner sie später kaum jemals wieder gewagt
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hat". Der Spott, den die drei Mädchen mit dem verliebten Zwerg treiben, führt in Worten und Tönen zu schönen Symmetrien und veranschaulicht damit die neuen Möglichkeiten musikdramatischer Dichtung: während Woglinde sich dem Verfolger mit wenigen Worten entzieht („Willst du midi frei'n, so freie midi hier!"), hält Wellgunde ihn sdion länger hin: „Heia, du Holder! Hörst du mich nicht?" — dann aber stößt sie ihn mit Abscheu von sich: „Pfui, du haariger, höckriger Geck! . . F l o ß h i l d e vollends lockt den Zwerg mit einem parodistischen Arioso, taucht zu ihm hinab, schmiegt sidi in seine Arme, lobt spöttisch seinen „stechenden Blick", seinen „struppigen Bart" — und vereint sich „am Ende vom Lied" doch wieder ladiend mit den beiden Schwestern. Ihr Gesang hat die Haupttonart der Periode, Es-dur, wiederhergestellt. Auf Alberichs Weheruf mit dem in der Singstimme eintretenden „Fluchtmotiv" („O Schmerz! o Schmerz! Die dritte, so traut, betrog sie mich auch?") folgt das Terzett der drei Mädchen, thematisch an idas Rheintöchtermotiv im Ordiester angelehnt®. Durchführungsartig schließt sich ein letzter Versuch Alberichs an, mit dem er, hastig über Riffe und Felsen kletternd, endlich doch noch eine der Nixen zu erhaschen sucht; unmittelbar darauf folgt in C-dur der Beginn von Periode 2 mit dem Aufleuchten des Rheingolds.
Musikalisch und im Bühnenbild ist der Einschnitt so deutlich, daß an ihm — wie an unzähligen verwandten Beispielen — die neue Formbildung Wagners längst schon hätte erkannt werden müssen, wäre der Blick nicht so einseitig auf das Leitmotiv und die „unendliche Melodie" als die Verkörperung des durchkomponierten Musikdramas geriditet gewesen. Freilich hat die neue ' Zu nennen wäre etwa der Streit Mimes und Alberichs um die erhoffte Beute, als Siegfried Fafner getötet hat. ® Zum „Fluditmotiv" vgl. Beispiel 112 und N r . 52, S. 77. Seinen N a m e n leitet es v o n dem ersten Auftritt Frelas ab (Periode 6, e-moll), w o es zu der Flucht der Göttin vor den beiden Riesen erscheint. Lorenz legt der melodischen Linie des Themas den Tonfall der Worte „Wehe, warum?" zugrunde. Ihr Rhythmus findet sich in Alberichs Klageruf deutlidi wieder: „(Die) dritte, so traut, (be)trog sie mich audi?"
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DIE EINZELNEN WERKE
Form der Gliederung in diditerisdi-musikalisdie Perioden nichts mit „Nummern" im Sinne der alten Oper zu tun: an die Stelle einer Einteilung, die mit Arien, Ensemblesätzen und Chören wesentlich von dem Zufall der jeweiligen Anzahl handelnder Personen abhängt, tritt eine Folge geschlossener, durch den Eintritt eines neuen Themas oder einer Themengr»ppe gekennzeichneter Formen. Der Anlaß zum Wedisel der Thematik liegt dabei im Drama selbst, sei es, daß neue Personen auftreten, sei es, daß — wie in dem vorliegenden Beispiel — ein bemerkenswerter Vorgang die Veränderung mit sich bringt. Als erstes Thema der 2. Periode erscheint nach einem vorbereitenden Ruf der Baßtrompete die leise erklingende Rheingoldfanfare in den Hörnern (Nr. 5, S. 44) zu einer triolischen Begleitfigur der Streicher. Ihr folgt der jubelnde „Rheingold"-Ruf der drei Schwestern als zweites Hauptthema (Nr. 20, S. 50), und zwar in einer vollkommenen Bogenform von höchster Symmetrie*. Auf die wegwerfende Bemerkung Alberichs, daß das Gold ihm wenig gelte, wenn es nur dem „Taucherspiele" der Mädchen tauge, erwidert ein modulierender Zwischensatz mit dem Ringmotiv (Nr. 29, S. 51). In der Mitte des Zwischensatzes singt Woglinde von der Liebesentsagung, die allein die Macht zum Schmieden des Ringes verleihe. Aber die leichtsinnigen Schwestern sind unbesorgt, sehen sie doch, wie Alberich „vor Liebesgier" fast vergeht. In E-dur, durch ihr eigenes Thema (III) eingeleitet, setzt die Reprise des Terzetts ein. Der Rheingoldruf kehrt diesmal erst am Ende imd nur im Orchester wieder. In Sinnen versiunken, starrt Alberich auf das Gold. Dann faßt er jäh den Entschluß, es zu rauben und um den Preis der Minne den Eing zu schmieden. In düsterem, dramatisch schnell sich steigerndem c-moll folgt die 3. Periode. Ringmotiv und Liebesfluch werden, während didite Nacht hereinbricht, in einem Orchesterzwischenspiel durchgeführt. Allmählich hellt sich die dämmernde Beleuciitung wieder auf, im Wechsel mit dem Ringmotiv steigt, zuletzt von den Harfen übernommen, eine Triolenfigur zair Höhe empor. Ein letztes Mal erklingt das Ringmotiv im äußersten Pianlssimo und sehr breit ausgesponnen, dann wird eine freie Gegend auf Bergeshöhen sichtbar. Wotan und Fricka liegen schlafend auf blumigem Grunde, das Orchester aber stimmt in Des-dur das Thema der 4. Periode, das Walhall- oder Wotansthema, an (vgl. Nr. 19, S. 50, ferner S. 89 und 92). Mit dem Augenblick, da Fricka am Beginn der 5. Periode (d-moll) das Wort ergreift, tritt die neue Worttonsprache bedeutungsvoll in den Vordergrund. Die Spradie des Dramas erlangt nun den Vorrang und drängt das * Ihre sieben Teile ordnen sidi folgendermaßen: 1. „Heia-Ja-heia!" (4 Takte), 2. Rheingoldruf (2 Takte), 3. Durdiführung („Leuditende Lust" usw.; 6 Takte), 4. Mittelteil in Moll: „Wadie Freund, wadie froh" (2 Takte), 5. ( = 3.) Durdiführung („Wonnige Spiele" usw.; 6 Takte), 6. ( = 2.) Rheingoldruf (2 Takte), 7. ( = 1.) ,Heia-ja,heia" und Schlußakkord (4 Takte).
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DAS RHEINGOLD
Orchester in die bloße Begleitung zurück. Das schöne Gleidigewidit der ersten Szene ist damit zerstört. Aber in der neuen Abwandlung drückt sich nicht nur die Vorherrschaft der dramatischen Idee in dem Sinne aus, in dem nach Wagners Wort „gerade die Musik die Fähigkeit besitzt, ohne gänzlich zu schweigen, dem gedankenvollen Elemente der Sprache sich so unmerklich anzuschmiegen, daß sie diese fast allein gewähren läßt, während sie dennoch sie unterstützt" (vgl. S. 86), vielmehr wird damit zugleich auch das prosaischnüchterne Wesen Frickas gekennzeichnet (und ähnlidi ihr Auftritt im zweiten Akt der „Walküre" behandelt). Für die symphonische Gestaltung der Orchestersprache hat dieses Verfahren freilich den Nachteil, daß es die formale Bindung der Themen auflockert (vgl. S. 86). Immerhin läßt es nicht nur die Aufstellung eines neuen Hauptthemas zu, des Vertragsmotivs (Nr. 2, S. 43), sondern gibt darüber hinaus einem Arioso Frickas Raum, in dem die Göttin von ihrer Sorge um die Treue des Gatten spricht und aus der Singstimme bei den Worten „herrliche Wohnung, wonniger Hausrat" das neue Thema der Liebesfesselung entsteht (113).
(113) H e r r - I i - O h e *oh-n\mg, w o n - n i - g e r
Hatis-rat
Formal geschlossener und daher audi in der Ordiesterspradie deutlich bereichert, entwickelt sich Periode 6 (e-moll), als Freia, vor den Riesen flüchtend, bei Wotan und Fricka Schutz sucht (vgl. Anhang Nr. 2). „Sehr wuchtig und zurückhaltend im Zeitmaß" eröffnet unmittelbar anschließend das Riesenmotiv als Hauptthema (Nr. 60, S. 87) die 7. Periode (F-dur und ein Mittelteil in f-moll). Die Symmetrie in der Aufeinanderfolge der Themen ist erstaunlich vollkommen, obwohl die dramatische Sprache von solchen Möglichkeiten nichts anzudeuten scheint. Das Riesenmotiv als Hauptthema, Wotans Vertragsmotiv (2) oder an seiner Stelle das im Tonfall verwandte Entsagungsmotiv und das Motiv des Riesenvertrags (Nr. 3, S. 43) als Nebenthemen in spiegelnder Anordnung um die f-moll-Melodie Fasolts als Mitte lösen einander wiederholt ab. Darüber hinaus aber fehlt nicht einmal die Reprise des Freiamotivs (Nr. 114) im Nachsatz®.
(114)
» Im Vordersatz zu Fasolts Worten „Freia, die H o l d e " , im N a d i s a t z bei „ein Weib zu gewinnen".
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DIE EINZELNEN WERKE
Fonnal freier und mehr einer Durchführung ähnlich -v erläuft die 8. Periode (D-dur) mit dem neuen Thema der Jugend, hier der goldenen Äpfel, deren Genuß die Götter niemals altern läßt. Fafner rät seinem Bruder zur Entführung der Göttin, als jedoch die beiden Riesen auf Freia eindringen, stellt Froh sich schützend vor seine Schwester. Donner droht den Fordernden mit seinem Hammer, Wotan aber hält seinen Speer dazwischen: „Halt, du Wilder! Nichts durch Gewalt!" Mächtig schreitet das Vertragsmotiv (Nr. 2, S. 43) im Fortissimo der Posaunen und Kontrabässe abwärts. Freia fühlt sidi verlassen, Fricka klagt um den „unbegreiflidi grausamen Mann" — da erscheint endlich Loge, der lange Erwartete. Sein chromatisdies Thema (Nr. 9 und 9 a, S. 45) leitet die 9. Periode ein (fis-moll), einen dramatisch lebhaft bewegten Abschnitt, der in der Musik fünf bogenförmig angeordnete Teile erkennen läßt. Obgleidx die Symmetrie keineswegs bis in jede Einzelheit vollkommen ist, macht sie doch deutlich, daß die Musik auch gegenüber der Gestalt Loges nicht etwa nur die Aufgabe hat, sein flackerndes Wesen nachzuzeichnen und ihm in jeder seiner Gebärden zu folgen, sondern daß sie zugleich mit dem Bühnengeschehen ihre Eigengesetzlichkeit wahrt und so von der gelockerten Form des klassischen Rezitativs weit entfernt bleibt®. Ähnlidien Gesetzen unterliegt schließlich auch der lange Auftritt, der alle Handelnden in gemeinsamem Wirken zeigt. Loge berichtet von seiner vergeblichen Suche naci Ersatz für Freia und erzählt von den Rheintöditern, denen Alberich das Gold geraubt habe. Die Musik vereinigt die wichtigsten der bisherigen Motive in einer etwas loseren Aneinanderreihung, die der üblichen Vorstellung von der Aufgabe der Leitmotive einigermaßen nahe kommt, ohne darum doch aiuf jegliche Ordnung zu verzichten. Als Hauptthemen stehen der Rheingoldruf (Nr. 20, S. 50) und das Ringmotiv (Nr. 29 a, S. 52) stark im Vordergrund, alles aber ist von der Naturhaftigkeit des Klanges erfüllt, wie sie für die Rheingoldharmonik überhaupt so sehr bezeichnend ist. Mit dem Augenblick, da Freia entführt wird, weil Wotan sich geweigert hat, das Gold für ihre Einlösung zu gewinnen, nähert sicJi der Auftritt seinem Ende. PocJiende Rhythmen begleiten die abgehenden Riesen, dann hat Loge, während die Götter in aufsteigendem fahlem Nebel ältlich auszusehen be® D e m Hauptsatz (Loge- und Feuerzaubermotiv in zwei elftaktigen Strophen) folgt eine parodistisdie Verkleinerung des Walhallmotivs, vermischt mit der Logediromatik (19 Takte), hierauf ein Mittelsatz in Des-dur, der dem Lob Fasolts und Fafners gilt und das Walhallmotiv in seiner ursprünglichen Gestalt bringt (12 Takte). D e r vierte Abschnitt als das Gegenstück des zweiten hat mit ihm die Chromatik des Logemotivs gemeinsam und einen verwandten parodistischen Zug, ist aber wesentlich länger und ersetzt das Walhallmotiv durch ein Zitat des Vertragsmotivs (37 Takte). Fast notengetreu und nur durch Zwischentakte der Singstimme verlängert, folgt nach Wotans „zu lösen das hehre Pfand" die Reprise des Hauptsatzes (endend bei „Ihre Schmach zu decken schmähen midi Dumme!").
DAS RHEINGOLD
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ginnen und nur er, der „halb so echte", verschont bleibt, allein das Wort (12. Periode, e-moll). Das Thema der goldenen Äpfel, in einem einleitenden Teil zugleich mit dem Freiamotiv (114) harmonisch eigenartig verdüstert, kehrt im Mittelsatz zu seiner ursprünglichen Melodik zurück, dann aber greift mit der Chromatik des Logemotivs neue Verdüsterung um sich, bis Fricka in einer rein melodischen Gesangslinie Wotan ob seines Leichtsimis anklagt und damit den Entschluß des Gottes zur Fahrt nadi Nibelheim herbeiführt. Von neuem hüllen Nebel die Szene ein, schwarzes Gewölk steigt von unten nach oben und erwedct damit nach der Bühnenanweisung den Ansdiein, „als sänke die Szene immer tiefer in die Erde hinab". Ein Ordiesternadispiel führt die chromatischen Motive Loges im Wechsel mit den klagend herabsinkenden Terzen des Entsagungsmotivs (115) symphonisch durch und leitet so zum (115)
(neue Torrn)
fc^i '
(frühere Torrn)
n'r
1
Vorspiel der 13. Periode über. Dieses beginnt seinerseits mit dem Fronmotiv^ und einer rhythmischen Abwandlung des Fluchtmotivs (vgl. Nr. 114, 2. und 3. Takt). Zu ihnen gesellt sich das Ringmotiv und im 23. Takt eine zweistimmige Variante des Schmiedemotivs als Kontrapunkt des gleichzeitig erklingenden Fluchtmotivs, das in Trompeten, tiefen Bläsern und Streichern wie ein weithin hallender Klagelaut durch die unerbittliche Rhythmik des Schmiedemotivs hindurch aufseufzt. Die Tonart der Nibelungenwelt, b-moll, steht als Paralleltonart zum Desdur der Götter in demselben Verhältnis wie das fis-moll der heidnischen Welt Ortruds zum A-dur des Grals. Das Schmiedemotiv, nun endlich in seiner wahren Gestalt auftretend (Nr. 16, S. 47) und vorübergehend rein rhythmisch durch das Hämmern auf wirklichen Ambossen wiedergegeben, ist nicht nur das Hauptthema der 13. Periode, sondern der Nibelungen weit überhaupt. Es verleiht damit der Orchestersprache eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit, die derjenigen der Rheintöchterszene zu vergleichen ist, ja sie womöglich noch übertrifft. Im Gegensatz zu der Vielfalt, aber auch der Zerrissenheit der Götterwelt mit ihren schroffen Gegensätzen untersdiiedlicher Persönlichkeiten sind Rheintöchter und Nibelungen elementare Naturwesen, die in der formalen Geschlossenheit der Musik ihr Spiegelbild finden. ' Dieses Motiv entspricht dem verdüsterten Rheingoldruf (Nr. 25, S. 50) bzw. den Anfangstakten von N r . 112, S. 219.
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Dramatisdie Gegensätze werden dadurch nicht aiisgesdilossen, ja sie kommen in dem Zwiespalt zwischen Mime und Alberich höchst drastisch zum Ausdruck. Als die unterirdische Welt Nibelheims sich vor dem Zuschauer öfFnet, zerrt Alberich seinen kreischenden Bruder gerade aus einer Seitenschlucht herbei. Vor Schreck läßt Mime ein metallenes Gewirk fallen, das er auf Befehl Alberichs gesdimiedet hat, ohne doch den Zauber zu kennen, der ihm innewohnt. Es ist der Tarnhelm, das sinnreich erdachte Mittel, mit dem Alberich sich selbst und seinen Ring vor der Habgier anderer zu schützen gedenkt. Sehr leise ertönen seine geheimnisvollen Harmonien in den gedämpften Hörnern (Nr. 21, S. 50). Als Alberich sich unsichtbar gemacht hat und unter dem Triumphgeheul von Fron- und Schmiedemotiv die Nibelungen zur Arbeit treibt, kehren die Hauptthemen der orchestralen Einleitung wieder und schließen damit die Bogenform des ersten Satzes von Periode 13 mit einer Reprise, deren symphonisches Nachspiel der Einleitung vollkommen entspricht®. Mit der Ankunft Wotans und Loges kommt Mime zu Wort, und zwar zunächst mit den Terzen seines Grübelns (Nr. 33, S. 54). „Sehr gemächlich" folgt eine scherzoartige Umformung des Schmiedemotivs im Sechsachteltakt mit einem schönen Kontrapunkt der Singstimme, als Mime den Göttern sein Leid klagt®. Eine allmähliche Steigerung mündet zunächst in das Fronmotiv (Nr. 25, S. 50) .und läßt dessen Herkunft aus dem Rheingoldruf deutlich erkennen. Mit der Erinnerung an Alberidis Zorn ist auch das Ringmotiv wieder zur Stelle. Auf Loges Frage, ob Mime wohl zu träge gewesen sei, berichtet der Zwerg vom Tarnhelm xxnd läßt dessen Thematik sich breit entfalten. Die Rückkehr Alberichs beendet den Mittelteil der potenzierten Bogenfonn und führt mit Schmiede- und Fronmotiv die Thematik des ersten Teils herauf^". Abermals steht, als nach dem Herrscherruf Alberichs (25) die Nibelungen heulend und kreischend nach allen Seiten auseinanderstieben, ein symphonisches Nachspiel aus Ring- und Schmiedemotiv am Ende. Das Gespräch zwischen Alberich und den Göttern ist Gegenstand der 14. und 15. Periode (a-moll bzw. A-dur). Während Nr. 14 mehr Durchführungscharakter hat und vor allem eine Variante des Logemotivs verarbeitet (Nr. 9 a, S. 45), zeigt die folgende Periode eine überaus reiche symphonische Gestaltung. Zu einer wiederum neuen Abwandlung des Logemotivs, die im Staccato ihrer ' Den Mittelsatz bildet das Thema des Tarnhelms in einer ebenfalls bogenförmigen Entwicklung. In sich selbst ist es barförmig gegliedert. • In der alten Oper wäre hier ein Chor der Nibelungen fällig gewesen, und es hätte sidi damit der Wunsch eines zeitgenössischen Kritikers erfüllen lassen (vgl. S. 18). Tatsächlich würde sich das neckische Gegeneinander von Singstimme und Orchester ausgezeichnet zur Parodierung eines Opernchors eignen. Der früheren Bogenmitte (Tarnhelmmotiv) enstpricht ein Zwischensatz in ver"wandter Harmonik bei Alberichs Frage: „He! wer ist dort, wer drang hier ein?" usw.
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Sequenzen fast wie ein Sonatenthema wirkt, gesellt sich bald ein neues, aus der Tiefe schrittweise aufsteigendes Baßmotiv des Nibelungenhortes. Hauptthema bleibt indessen idas Motiv Loges, der hier als Handelnder durchaus im Vordergrunde steht und der Prahlsuciit und Gesdiwätzigkeit Alberichs sdilau zu entlocken weiß, was er brauclit, um ihn zu überlisten. Wotan hält sidi abseits und wirft nur gelegentlidi eine Frage dazwisdien. Einzig, als Alberich in einem Des-dur-Zwischensatz mit dem Walhallthema die Götter verspottet und zu dem mächtig empordrängenden Motiv des Hortes mit dem „näditlichen H e e r " droht, das Männer und Frauen bezwingen werde, begehrt Wotan plötzlich auf. Aber Loge tritt sogleich dazwischen und lenkt mit der Reprise seines A^dur-Motivs das Gesprädi in die anfänglichen Bahnen zurück. Zum Schein stellt er sich, als glaubte er nicht an die Macht des Tarnhelms; Alberidi wird dadurdi veranlaßt, zuerst als Riesenwurm zu ersdieinen (Nr. 77, S. 100), dann sidi zur Kröte umzuwandeln. Jedesmal begleitet das Tarnhelmmotiv den Vorgang. Mit der Fesselung des Zwerges ist der Augenblidc gekommen, der die Nibelungenwelt unter die Gewalt der Götter zwingt. Eine thematische Verbindung aus dem parodistisch umgeformten Nachsatz des Walhallmotivs in der Form, die zuerst Loge ihm gegeben hat (vgl. S. 222, Fußnote), mit den flackernden Quinten und Septimen des Logemotivs leitet die Verwandlungsmusik ein^i. Ihr symphonischer Aufbau ist von vollendeter Einfachheit und Klarheit. Die streng vier- und achttaktige Gliederung bleibt unverkennbar auch während der nun folgenden 16. Periode bestehen — der einzigen des ganzen Nibelungenringes, für die Lorenz eine Vorherrsdiaft des rezitativischen Musikstils zuzugeben bereit ist. Mag in diesem Sinne dem Nacheinander kleinerer Abschnitte kein übergeordnetes Formgesetz entsprechen, so bleibt doch eine durchgehende Formung im einzelnen bestehen, die vor allem auch rhythmisch völlig befriedigt und mit der lockern Gestalt des alten Rezitativs jedenfalls nichts gemeinsam hat. Man unterscheidet vielmehr deutlich eine sdierzoartige Einleitung Loges, deren kleiner Rahmensatz sich nach einem deklama-
"
Sie ist als musikalisches Symbol des Maditrausdies zum erstenmal aufgetreten, als
Loge spöttisch äußert, er müsse Alberich als den Mächtigsten rühmen, wenn seiner herrlichen List gelinge, was er mit dem H o r t vorhabe. Eine rhythmische
Variante
des Ringmotivs setzt fort und mündet über die K a d e n z des Entsagungsmotivs
(115)
in das Schmiedemotiv. Die Entwicklung verläuft nun umgekehrt wie im Vorspiel der Nibelheimszene und zugleich abgekürzt. Ambosse übernehmen den Schmiederhythmus, H ö r n e r und Tuben lassen das Fluchtmotiv ( 1 1 4 ) erklingen. „Mäßig bewegt" erscheint in C - d u r , dann als zweiter Stollen eines Bars in D - d u r über dem B a ß des Riesenmotivs die thematische Verbindung v o n Walhall- und Logemotiv in H ö r n e r n
und
Holzbläsern. D e r Abgesang verknüpft Riesenrhythmus und Schmiedemotiv und mündet in eine symphonische Durchführung des Themas der goldenen Äpfel, des Rheingoldrufs und der Logequinten. 15
von Stein, Wagner
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torisdien Zwisdienteil wiederholt, eine melodisdi-razitativisdie Entwicklung Alberidis zum begleitenden Ringmotiv, dann einen gesdilossenen Satz in b-moll, der zur Besdiwörung der Nibelungen und ihres Hortes das Sdmiiedemotiv breit entfaltet und durch Alberichs Herrscherruf (25) eingeleitet und beendet wird. Lockerer gefügt ist die kurze Auseinandersetzung um Tarnhelm und Ring. Sie verdichtet sich indessen zu einer wahrhaft meisterlichen Durchführung der neuen Worttonsprache, als Wotan mit harten Worten aufbegehrt: „Dein Eigen nennst du den Ring? Rasest du, schamloser Albe?" Frage und Antwort sind im melodischen Tonfall der Singstimme wie im rhythmischen Ablauf der Orchesterbegleitung so kunstvoll geformt, daß auf die Symmetrien der Bogen-, Bar- und Refrainformen füglicJi verzichtet werden kann. Nach dem Raub des Ringes (mit einem eigenen, später nie mehr wiederkehrenden Motiv) folgt rals Höhepunkt der Rheingoldhandlung Alberichs Flucäi mit dem Thema des Hasses und der Vernichtungsarbeit der Nibelungen (Nr. 11, S. 46) und als Ausldang, das C-dur des Anfangs wieder aufnehmend, der sanfte Streichersatz, der über dem leise pochenden Rhythmus des Riesenmotivs in den Pauken die Rückkehr Freias schildert. Er geht zuletzt in einen kunstvollen Kanon aus dem Thema der goldenen Äpfel über, worauf ein Arioso von Froh die Periode beendet. Ein kleiner Bar der Singstimme Fasolts leitet die 17. Periode ein'^. In seinen Abgesang klingt bereits das Hauptthema der Periode hinein, das Motiv des Riesenvertrags (Nr. 3, S. 43). Der marscliartige Satz begleitet die Aufschichtung des Goldes um Freia und fließt in schönstem Ebenmaß ,dahin. Die aufsteigenden Sequenzen des Hortes führen die symphonische Entwicklung weiter. Wiederholt klingt, einer kleinen instrumentalen Solokadenz vergleichbar, die melodische Linie des Freiamotivs auf (Nr. 114, S. 221, erster Takt). Vorübergehend erlangt aucäi eine aus dem Fliuditmotiv entwickelte Figur der Singstimme motivische Bedautungi'. Als endlich zu einer marschartigen Durchführung des Ringmotivs in Hörnern, Fagotten und Posaunen der Streit um das Gold von neuem losbricht (und der wütende Fosolt Freia hinter dem Hort hervorzerrt, verdunkelt sich die Bühne: in bläulichem Schein wird Erda siclitbar. Nach cis-moll gewendet und damit jeder ursprünglich etwa tonmalerisdien Deutung entzogen, begleitet das Motiv des Werdens (116) ihre Erscheinung. Erster Stollen: „Auf Riesenheims ragender Mark rasteten wir", zweiter Stollen: „Mit treuem Mut des Vertrages Pfand pflegten wir", Abgesang: „So sehr mich's reut, zurüdc doch bring' ich's, erlegt uns Brüdern die Lösung ihr." Sie wird v o n Wotan zweimal verwendet, und zwar bei „Eilt mit dem Werk, widerlidi ist mir's" und „Tief in der Brust brennt mir die Schmach", ferner v o n Froh: „Freias Schmach eil' ich zu enden" und von Fricka: „Sieh, wie in Scham schmählich die Edle steht!"
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DAS RHEINGOLD
Mit ihrer Antwort auf Wotans Frage, wer sie sei, beginnt ein elftaktiger Stollen in ds-moll. Bei der Erwähnung der drei Nomen folgt in E-dur ein zweiter Stollen (9 Takte lang) und hierauf der Abgesang mit dem überleitenden Thema des Hasses der Nibelungen (Nr. 11, S. 46). Die Rückkehr des Hauptthemas mündet in seme Umkehrung, das Thema des Vergehens und damit des „düstern Tages", der den Göttern dämmert (117). Erdamotiv
(116)
.III j>
Motiv
des Werdens
(vgl.
a\i auoh Ur.
' T l
(Vorspiel)
^ 110)
(117)
Durchaus einfadhi und übersichtlich ist die symphonische Gestalt der beiden letzten Perioden, der 18. in B-dur mit Donners Gewitterzauber und der 19. (Des-dur), die subdominantisdi in Ges-'dur mit der Melodie des Regenbogens beginnt. Hier wird die Musik nun freilich ganz offenkundig zur tonmalerischen Wiedergabe des Bühnenbildes. Harfenklänge umspielen das Thema der Burg, als sie, nach hartem Ringen endgültig gewonnen, im Schein der Abendsonne vor den Göttern liegt. Eine stark erweiterte Durchführung eint sidi ähnlidi wie schon bei der ersten Begrüßung harmonisch mit Wotans Singstimme. Das Ringmotiv und nahe dem Ende des Bogens der Klagegesang der Rheintöchter bilden die wichtigsten unter den weitern thematischen Bestandteilen. In der Mitte des Bogens tritt, selbst bogenförmig angeordnet, zum erstenmal die Schwertfanfare auf (Nr. 6, S. 44). „Wie von einem großen Gedanken ergriffen", begrüßt Wotan die Burg. Wagner empfand indessen alsbald, daß der Musik damit eine unlösbare programmatische Aufgabe zugemutet wurde, wenn sie von sich aus den Gedanken des Einsatzes eines Siegschwerts verdeutlichen sollte. Er ordnete deshalb bei den Bayreuther Bühnenproben im Jahre 1876 an, daß Wotan ein von Eafner zurückgelassenes Sciiwert ergreifen und emporsdiwingen solle. Obgleich die entsprechende Anweisung nicht mehr in die Veröffentlidiung seiner Dichtungen eingegangen ist, wird sie doch auch heute noch zumeist befolgt. Anders als im zweiten Bild ist die Götterwelt diesmal harmonisch geeint. Einzig Loge verfolgt seine eigenen Ziele (vgl. S. 155—156). So trägt denn nodi zuletzt sein flackerndes und züngelndes Motiv in den harmonischen Ausklang eine gewisse Unruhe hinein und stört die Symmetrie des symphonischen 15»
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Aufbaus". Erst mit dem Ende der zweiten Strophe der Rheintöditer — in der ihr Rheingoldruf sidi seltsam abwandelt und zur Unterdominante von Ges-dur wird — ist die abschließende Lösung vollends erreidit. In der entgegengesetzten Anordnung wie zu Beginn der Periode stehen das Walhallmotiv oind die Melodie des Regenbogens an ihrem Ende. 5. D I E WALKÜRE Ein längeres Ordiestervorspiel leitet die Handlung ein. Ähnlich dem Vorspiel zu Rheingold ist es nicht als Ouvertüre anzusehen, sondern als thematische Vorbereitung auf das unmittelbar folgende Bühnengesdiehen. Sturm und Gewitter begleiten den flüchtenden Siegmund, bevor er in Hundings Hütte vor seinen Verfolgern Sdiutz findet. „Stürmisch" beginnt demgemäß auch die Orchestereinleitung. Aber durcliaus im Gegensatz zu der programmatischen Aufgabe, die der Musik damit gestellt zu sein scheint, erweist sich die Tempobezeiclinung zunächst nur als Vorschrift für das anzuwendende Zeitmaß. Es bricht also keineswegs sogleich ein Orchestersturm los wie etwa zu Beginn des Fliegenden Holländers, vielmehr ist das einleitende Thema des Gewitters ausschließlich den Violoncelli und Kontrabässen anvertraut, während Bratschen und zweite Violinen in einem unentwegt festgehaltenen D ein Abbild des einförmigen Regens geben (118). Bläser fehlen fürs erste völlig. Zwei barförmige Strophen führen das Thema durch. Ein nun beginnender Anstieg bezieht mit einem in Oktaven emporspringenden E auch Bläser ein und schafft damit einen ersten Höhepunkt. Dieser wird jedoch sogleich durch reinen Streichersatz abgelöst. Tiefer hinabsinkend, führt Thema 118 in das anfängliche Piano zurück. In den letzten sechs Takten setzt es zu einer neuen Steigerung an und leitet damit einen zweiten Höhepunkt ein'. Nach dem Gewitterruf Donners (Nr. 8, S. 44) führt genau wie in Rheingold ein chromatischer Anstieg des vollen Orchesters zum Höhepunkte des Gewitters. Da das Hauptthema seine Gegenbewegung gleichzeitig unverändert fortsetzt, geht es nun wirklich „stürmisch" zu. Ein Forcissimo-Wirbel der Pauken entspricht dem Augenblick, da ursprünglich Donners Hammer auf den Felsen geschlagen hat: die in mythiLorenz bezeichnet die Stelle als die erste Unterbrechung der Reprise (Beginn der Reprise nach Wotans Worten: „Folge mir, Frau, in Walhall wohne mit mir"). Die beiden Strophen der Rheintöditer bilden die zweite und dritte Unterbrechung. Nach ihnen kehrt das Hauptthema zwar jedesmal wieder, aber in keinem Falle mit seinem ersten Takt; dieser wird bis zum Schluß nidit mehr wieder aufgenommen. ' Zu Engführungen des Hauptthemas, die durch Terzengänge bereichert werden, ertönt viermal der Gewitterruf Donners — eine der kontrapunktischen Verknüpfungen verschiedener Themen, wie Wagner sie in seinen spätem Werken mit Vorliebe anwendet. Sie lassen erkennen, wie wenig der Vorwurf einer „Siheinpolyphonie" begründet ist.
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sehen Gottheiten verkörperten Naturgewalten der Rheingoldwelt sind am Werk. Aber in den niederzuckenden Akkorden heftiger Blitze ebbt die Bewegung sehr schnell wieder ab^. Immer schwächer und endlich pianissimo verhallt ein letzter Paukenwirbel. Die Reprise der Einleitung, nun wieder allein von den Streichern getragen, geht mit dem matt absinkenden Thema Siegmunds (119) in die 1. Periode über. Das Orchester begleitet bei aufgehendem Vorhang die Ankunft des Verfolgten in Hundings Hütte und schließt nach seinen ersten Worten („Wes Herd dies auch sei, hier muß ich rasten") mit einer reinen Legatoform des Gewitterthemas im äußersten Pianissimo die Szene ab.
r r n j n (118)
.zdJL r f r f V r f r r fj'
(119)
Sieglinde tritt aus dem benachbarten Gemach und erblickt den Fremden am Herd. Indem sie sich zu ihm hinabneigt und seinem Atem lauscht, beginnt die 2. Periode (vgl. hierzu die Erläuterungen der zweiten bis 4. Periode S. 1 0 1 — 102). Bemerkenswert ist hier nicht nur das Überwiegen der Streicher im Orchestersatz, sondern mehr noch die Verhaltenheit der Musik während der ganzen Dauer dieses und des folgenden Auftritts. Nicht mit Unrecht hat man in diesem Zusammenhang d.as Orchester mit dem Chor des griechischen Dramas verglichen, zugleich aber seiner wortlosen Sprache eine womöglich noch größere Eindringlichkeit nadigerühmt. Auch die Ankunft Hundings (5. Periode, vgl. S. 88 und Thema N r . 44, S. 70) läßt die Stimmung zögernder Zurückhaltung unberührt. Mißtrauisch stehen die beiden Männer einander gegenüber. Siegmund verschweigt seinen wahren Namen. Seinen Vater nennt er „Wolfe" (statt „Wälse"), sich selbst „Wehwalt, den Wölfing". Erst durch Sieglindes Anteilnahme ist er zu einem Bericht über seine Herkunft zu bewegen. Wie Frage und Antwort sich auf halbe Andeutungen beschränken, so gibt auch das Orchester nur versteckte Anspielungen: als Hunding den Gast mit Sieglinde vergleicht, erklingt Wotans Speermotiv (Nr. 2, S. 43) pianissimo als Zeichen der wahren Herkunft Siegmunds (und damit zugleicJi als thematisches Urbild des Siegmundmotivs 119); in dem Augenblick aber, da der Wölfing seines Vaters Spur verloren hat und im Walde nichts als das leere Fell eines ' Bemerkenswert ist hier besonders der neapolitanische Sextakkord der Dominanttonart a-moll.
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Wolfes vorfindet, erinnert im äußersten Pianissimo (der Posaunen das Walhallmotiv an den Vermißten (Nr. 19, S. 50). Siegmunds Erzählung wandelt die Worttonsprache in unerschöpflich neuen Bildungen ab und verleiht ihr vor allem eine bemerkenswerte rhythmische Kraft. Nicht minder reidi zeigt sich indessen Wagners melodische Erfindung. Ähnlich der leitmotivischen Sprache des Orchesters neigt sie dabei zu gewissen Wiederholungen, in denen nun auch die Singstimme eine Art motivisclier Zusammenhänge gewinnt'. Es erweist sich, daß sie nicht etwa einem schon fertigen Orchestersatz hinzugefügt ist — wie die Auffassung von Wagners Werk als einer Symphonie mit begleitendem Gesang es behauptet —, sondern claß (nach einem Wort Paul Bekkers) zwischen Singstimme und Orchester das Verhältnis eines editen Duetts besteht. Das schließt natürlich eine gelegentliche Vorherrsdiafl des Ordiesters keineswegs aus. Sie wird am (deutlichsten in der wiederholt ersdieinenden Verbindung zwischen dem symphonisch durchgeführten Thema Wotans und der Gesangsstimme, bei der die „Erstgeburt" des Instrumentalen Satzes natürlich nicht zweifelhaft sein kann. Aber selbst da weiß Wagner den Gesang immer neu zu gestalten^. Hunding hat in seinem Gast den Feind erkannt, der vor den Seinen gefiüditet ist. Zu einer Durchführung seines Motivs (Nr. 44, S. 70) kündigt er ihm Kampf an und weist Sieglinde aus dem Saal (10. Periode, c-moll). Ein langsamer Mittelsatz begleitet die stumme Szene mit den Themen der beiden Gesdiwister (Nr. 32, S. 53 und Nr. 62, S. 88). Sieglinde bereitet für Hunding den Nachttrunk vor. Ehe sie den Raum verläßt, fällt ihr Blick bedeutungsvoll ' Schon Siegmunds erste Worte („kühlende Labung gab mir der Quell, des Müden Last machte er leidit") übernehmen sein eigenes Motiv in die Gesangsstimme. Ähnlich folgt Sieglinde der aufsteigenden Linie ihres Motivs, als sie dem Gast das H o r n reidit. Hundings erste Melodie („Heilig ist mein Herd, heilig sei dir mein Haus") kehrt später unverändert wieder: „Froh nicht grüßt didi der Mann, dem fremd als Gast du nahst." Endlich wird sie (zuerst durch Fricka) zum selbständigen Ordiestermotiv. A m bemerkenswertesten aber ist der wiederholte Tonleiterabstieg der Singstimme, und zwar meist im U m f a n g e einer Quint. Zuerst bei Sieglinde auftretend („das Auge nur sdiloß er"), dann in den oben erwähnten Worten Siegmunds wiederkehrend und damit seine Herkunft aus dem Siegmundmotiv (119) verratend, findet er sich weiterhin sehr häufig: als Sequenz dreimal hintereinander bei „Waffenlos bin Idi: dem wunden Gast wird dein Gatte nicht wehren", hierauf In Hundings „heilig sei dir mein Haus" und zur Sext erweitert bei „kaum hab' Idi je sie gekannt" oder „der Elche blühender Stamm", abermals Im U m f a n g e der Quint bei „verschwunden in Gluten", „leer lag das vor mir", „Unheil lag auf mir", »In Fehde fiel Idi, w o Ich mich fand" und wiederum als Sequenz bei „vermählen wollte der Magen Sippe". Wiewelt Wagner hierbei mit bewußter Absicht verfuhr, Ist natürlich nicht zu entscheiden. * Ein solcher Vorgang Ist In Oper und Oratorium nichts Ungewöhnlldies. Man denke etwa an die Kontrapunktierung v o n Leporellos Baß zum Thema des Menuetts in Mozarts D o n Juan.
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auf den Stamm der Esdie in der Mitte des Saales. Leise ertönt in der B a ß trompete die Schwertfanfare (Nr. 6, S. 44) zum Tremolo der Streicher, in Moll folgt ihr die Oboe. Dann kehrt, während Hunding seine Waffen aufnimmt, der Hauptsatz wieder. Als Siegmund allein zurückbleibt, klingt, aus einem feierlich-dunklen Akkord der Tuben sich loslösend, der Rhythmus des Hundingmotivs in Pauken und Hörnern leise nach. Der achttaktige Stollen wiederholt sich und geht dann in einen Abgesang über, der den Hundingrhythmus immer weiter steigert, bis Siegmund endlidi in den R u f „Wälse, Wälse!" ausbricht. Forte, dann aber sogleich wieder zum Piano abgedämpft, setzt die Sdiwertfanfare in C-dur als Thema einer Refrainform ein, in der sich die Singstimme liedartig entwickelt'. Nach einem letzten Pianissimoeinsatz des Schwertmotivs verklingt die Periode, während der Schein des Herdfeuers verlisdit, im Hundingrhythmus der Pauken. Mit dem Eintritt Sieglindes wandelt sich die bisher dramatisch bedingte Tonspradie zur lyrischen Gesangsmelodie. Nur wenige deklamatorisdie Stellen Sieglindes — zweimal rezitativisches e-moll zum Bericht von ihrer Hochzeit mit Hunding, zweimal die Verbindung der tief hinabsteigenden Sopranstimme mit dem Einsatz des Walhallthemas in E-dur — erinnern an den ersten Teil des Aufzugs. Sehr sdinell steigert sich das Entzücken der Liebenden zu einer schwungvollen melodischen Linie. Man könnte sidi versucht fühlen, an ein Opernduett herkömmlicher Art zu denken, bestünde nicht eine ununterbrochene thematische Beziehung zum Ganzen. Sie ist ebenso in den Orchestermotiven der beiden Geschwister wirksam wie in der Übernahme des Liebes- und Fluchtmotivs (S. 77, N r . 52) in die Singstimme®. Als die Tür aufspringt, umspielen Holzbläser und Harfen eine Legato-Umformung des Gewittermotivs (Nr. 118, ' Bei „Selig schien mir der Sonne Licht" nimmt sie eine Wendung aus Wotans Absdiiedsgesang voraus, doch dürfte es sidi dabei um einen zufälligen Anklang handeln. • Das Liebesmotiv (Nr. 52, 5. und 6. Takt) zu Sieglindes: „Dich grüßte mein H e r z mit heiligem Grau'n" und „als mein Auge dich sah" sowie zu Siegmunds: „Was mich berückt, errat' ich nun leicht" und „Laute, denen ich lausche", das Fluchtmotiv (Nr. 52, 1. bis 4. Takt) zu Siegmunds: „Zu seiner Schwester schwang er sich her" und „Du bist das Bild, das ich in mir barg" sowie zu Sieglindes: „Du bist der Lenz". Siegmunds Lied ist ein potenzierter Bar, dessen Stollen mit den Worten: „Winterstürme wichen dem Wonnemond" und „Aus sel'ger Vöglein Sange süß er tönt" beginnen. Abgesang: „Zu seiner Schwester" bis „vereint sind Liebe und Lenz!" Von den beiden Stollen ist jedoch nur der zweite barförmig (1. Stollen: „Aus sel'ger Vöglein" bis „haucht er aus", 2. Stollen: „Seinem warmen Blut" bis „entspringt seiner K r a f t " ; Abgesang — selbst barförmig — : „Mit zarter Waffen Zier" bis „uns trennte von ihm"). Dagegen hat der erste Stollen die im Nibelungenring äußerst seltene Form des Gegenbars. Dessen Aufgesang reicht von „Winterstürme" bis „leuchtet der L e n z " ; ihm folgen zwei gleiche Nachstollen: „Auf linden Lüften" bis „er sich wiegt" und „durch W a l d und Auen" bis „lacht sein Aug'".
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S. 229) als Ausdruck der besänftigten Winterstürme. Siegmunds Lied sdieint zunächst thematisch für sich zu stehen, aber es kehrt nicht nur später als Erinnerungsmotiv mehrfach wieder, sondern verbindet sich schon hier mit dem Liebesmotiv der beiden Geschwister. Ohne es zu ahnen, nimmt Sdegmund hierbei in dem Gleichnis vom Lenz, der in der Liebe seine „bräutliche Schwester" aus winterlichen Fesseln befreit, das Schicksal voraus, das ihm und Sieglinde bestimmt ist: „Zertrümmert liegt, was je sie getrennt, jauchzend grüßt sich das junge Paar." Ausdruck der Verzückung, die die Liebenden ergriffen hat, ist das chromatische Motiv, das sich ,aus einem Sextansprung der Singstimme entwickelt (Siegmund: „ O süßeste Wonne!"), Dem chromatischen Sehnsuchtsmotiv Tristans und Isoldes im Keime verwandt (Nr. 18, S. 49), jedoch rhythmisch ganz anders geformt, kommt es nicht über den ersten, ekstatisch emporschnellenden Halbton hinaus: bezeichnender Ausdruck eines jäh gesteigerten sinnlichen Entzückens, das nach Erfüllung drängt, steht es durchaus in Gegensatz zu dem unerfüllbaren, ins Unendliche weisenden Liebesverlangen und der Todessehnsucht Isoldes und Tristans (vgl. Beispiel 120).
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Wie nie zuvor hat Wagner in der Begegnung Siegmunds und Sieglindes die sinnliche Liebe besungen, ja ihr einen geradezu orgiastischen Ausdruck verliehen, der sich von dem erloschenen Verlangen Tannhäusers und den sinnlos gewordenen Verlockungen des Venusberges deutlich unterscheidet. Damit wird freilich der Auffassung derjenigen, die Wagner des Hanges zur Darstellung schwüler Sinnlichkeit beschuldigen, zu scheinbarem Recht verholfen. Namentlich der letzten Steigerung des Aufzugs ist — bei aller künstlerischen Wahrheit —eine gewisse Fragwürdigkeit nicht abzusprechen. Im Zusammenhange des Ganzen bleibt die große Szene freilich ein wesentlicher Bestandteil, der sich nicht umgehen ließ, und wo es irgend anging, sind die Akzente gemildert worden; so in der Verhaltenheit, die Sieglindes Klage begleitet: „Fremdes nur sah ich von je, freundlos war mir das N a h e ' " , in ihrer beseligenden Erinnerung an Wotan, den „Greis im grauen Gewand", in Siegmunds „Minnetraum" und dem Lauschen Sieglindes, als sie in der Stimme des Bruders ihre eigene wiedererkennt. Ebenso führt die Anrufung des Schwertes mit dem leise einleitenden Entsagungsmotiv (Nr. 115, S. 223) und den anschließenden „Notung"-Rufen (Nr. 36, S. 56) — bei denen die wiederholte Bezeichnung f p ebenfalls zur Zurückhaltung mahnt — aus übersteigerter Sinnlichkeit heraus. ' Auch hier findet sich der Tonleiterabstieg der Singstimme.
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In heftiger Bewegung beginnt auch das Vorspiel ides zweiten Aufzugs mit einer Abwandlung der Sdiwertfanfare in den Trompeten, einer weit ausgesponnenen Engführung des Fluchtmotivs in Violinen und Flöten und wiederholten übermäßigen Dreiklängen. Ein kurzer Zwischensatz (piano) bezieht auch das Motiv des Liebesentzüdiens ein (120). Im Sechsachteltakt dem Speermotiv Wotans angeglidien, eröffnet der Tonleiterabstieg (vgl. S. 230, Fußnote 3) in Orchester und Singstimme das Gespräch zwischen Brünnhilde und Wotan. Die große Gebärde des Musikdramas tritt in den „Hojotoho"-Rufen der Walküre machtvoll hervor (Nr. 37, S. 56). Paul Bekker spricht in diesem Zusammenhange von der Höhenlinie des ersten Aufzugs, die sich damit zunächst noch fortsetze, dann aber in der Auseinandersetzung zwischen Wotan und Fricka der „Rhetorik des Wort-Ton-Kunstwerkes" weidie und nur durch den unmittelbaren Übergang zur Flucht Siegmunds und Sieglindes zu wahren gewesen sei. Es spricht — auch nach der Ansicht Paul Bekkers — für den Dramatiker Wagner, daß er sich entschloß, die große Szene beizubehalten, obwohl auch ihn zuzeiten Zweifel bedrängten und er sich schließlich zu einer letzten, unwiderruflichen Entscheidung durchringen mußte, indem er sich den Zusammenhang des Ganzen noch einmal mit dem angemessenen Ausdruck für jede Einzelheit selbst vorführte®. Wieweit unter diesen einengenden Bedingungen in der Musik nodi von formalen Symmetrien gesprochen werden kann, ist an seiner Stelle erörtert worden (vgl. S. 86—87). Trotz der Vorherrschaft des Wortes gibt es jedenfalls im einzelnen allenthalben musikalische Schönheiten. Immer wieder erhebt sich die menschliche Stimme aus rezitativischer Formung zur melodischen Gesangslinie. Dreimal gelangt auch Fricka zu schön geformter gesanglicher Entfaltung. Bemerkenswert sind dabei verschiedentliche kontrapunktische Verknüpfungen von Gesangs- und Orchesterthemen». Die Aussprache zwischen Wotan und Brünnhilde drängt die Musik — vor allem im Beginn — zugunsten des Wortes bis zu einem äußersten Tiefpunkt ' Schon bei der Komposition hatte er die Dichtung gekürzt und von ursprünglichen 324 Versen 93 gestrichen. " Melodisch selbständig ist vor allem das Arioso: „O, was klag' ich um Ehe und Eid", dann: „Mit Unfreien streitet kein Edler . . u n d der Schlußgesang: „Deiner ewigen Gattin heilige Ehre beschirme heut ihr Schild". Kontrapunktische Verknüpfungen finden sich u. a. zwischen Frickas Gesang und der mehrfach wiederkehrenden Melodie von Hundings heiligem Herd in Hörnern und Fagotten oder beim ersten Auftreten von "Wotans Unmutmotiv (Nr. 59, S. 87) Frickas Gegenstimme: „Du schufst ihm die Not wie das neidliche Schwert" bis „willst du es leugnen, daß nur deine List ihn lockte, wo er es fand'?" Endlich finden sich Wendungen der Gesangsstimme, die rhythmisch ausgezeichnet sind und von synkopierten Schlägen des Orchesters begleitet werden, z.B. „Hin wirfst du alles, was einst du geachtet, zerreißest die Bande, die selbst du gebunden, lösest lachend des Himmels Haft!"
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der Ordiesterspradie zurück, wie er in Wagners Werk weder vorher noch nachher je erreicht worden ist. Indessen gibt es auch hier Stellen, an denen das Orchester sich stärker entfaltet, so etwa bei Wotans erstem Zornesausbruch („O heilige Schmach! O schmählicher Harm! Götternot! Endloser Grimm!"), als aus einer emporstürmenden Linie der Fagotte und Violoncelli Alberichs Fluch hervorbricht, (xler in dem „Segen", den Wotan im Ekel über den Nibelungensohn ausspricht und bei dem sidi das Walhallmotiv in Tuben-, Posaunenund Trompetenakkorden unheimlidi verdüstert (Nr. 42, S. 67). Als Brünnhilde sich weigert, nach dem „zwiespältigen Wort" zu handeln, bricht Wotans Zorn nodi einmal mit furchtbarer Gewalt hervor. Wie später im dritten Aufzug ist die geballte Kraft des gesungenen Wortes zunächst ganz in eine rhythmisdie Bildung mit synkopierten Orchesterschlägen hineingezwungen, dann leitet das mächtig gebietende Speermotiv (Nr. 2, S. 43) in Hörnern, Fagotten und Violoncelli einen Ordiestersatz ein, der in lebhaften Triolen und Sechzehnteln die energisdi weiterschreitende, bis zu Nonensprüngen sich steigernde Singstimme begleitet und sich auch noch fortsetzt, als Wotan nach einem letzten Maditwort ins Gebirge fortgestürmt ist. In seinen Ausklang mischen sich Akkordschläge des vollen Orchesters, in denen der Unmut des Erzürnten rhythmisch wie harmonisch mit einer unheimlichen Gewalt zum Ausdruck kommt (121).
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Ein Zwischensatz in a-moll (8. Periode) mit dem einleitenden Unmutmotiv Wotans in den Streidiern (Nr. 59, S. 87), einer Variation des Walkürenmotivs in Baßtrompeten und Hörnern (Nr. 12, S. 46) und endlich einem Kanon aus dem zuvor aufgetretenen Thema der Götternoti" (122), in dem das Englischhorn wehmütig-einsam klagt, gibt die Stimmung der verlassenen Brünnhilde wieder. Betrübt nimmt sie ihre Waffen auf und wendet sidi langsam dem Hintergrunde zu. Leise und verhalten wie der ganze innig-stille Satz klingen ihre Worte. Als sie auf dem Bergjoch angelangt ist, erblickt sie Siegmund und Sieglinde. Die eben noch zurückhaltende Bewegung des Ordiesters wird mit dem Einsatz des Fluchtmotivs (9. Periode, f-moll) sogleidi wieder lebhafter. Engführungen des Fluchtmotivs, das Liebesentzücken der beiden Geschwister (120) und weiterhin musikalische Erinnerungen an Hunding und Notung sind Es ersdieint zum erstenmal bei Wotans Worten: Knedit".
den Verträgen bin ich nun
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die wesentlichsten thematischen Bestandteile. Gesang und Ordiester bilden eine so vollkommene Einheit, daß selbst die Sdireckgesichte Sieglindes in ihrer stärksten Steigerung nur als ganz natürlicher Einsdinitt wirken.
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Eine feierlich-ernste Stimmung liegt über den getragenen Akkorden und Melodien der Todesverkündung. Hier, wo noch Paul Bekker nichts als die einfache „Reihung" von Motiven zu erblicken vermochte, herrscht in Wahrheit die weitest gespannte Form. Im Pianissimo der tiefen Bledibläser — das den Orchestersatz des zweiten Aufzugs überhaupt so sehr kennzeidinend beherrsdit — hebt die Entwicklung an (Nr. 22, S. 50 und Nr. 70, S. 94). Wie die Barform hierbei immer von neuem potenziert wird und endlidi ganze Perioden umfaßt (10 bis 12, sämtlidi in fis-moll), ist bereits erläutert worden (vgl. S. 94—95). Aber auch die dramatischen Vorgänge des letzten Auftritts werden durch das Gesetz einer Barform erfaßt (13. Periode, d-moll). Zwischen dem Beginn der Szene, als Siegmund nadi Brünnhildes Abgang seine Schwester noch einmal sanft bettet, und dem unruhigen Schlaf der allein zurückbleibenden Sieglinde besteht eine deutliche Übereinstimmung. Beide beginnen pianissimo mit traumhaften, der Gegenwart entrückten Erinnerungen und steigern sich dann mit dem Eintritt des Hundingmotivs oder des Hornrufs Hundings zu einem zweiten Teil, der von Kampfstimmung erfüllt ist lund die Harmonien der zuckenden Blitze des Vorspiels sowie die schmetternde Schwertfanfare einbezieht. Beide Abschnitte stehen also zueinander im Verhältnis der freien Symmetrie und können insofern mit zwei Stollen von 65 und 60 Takten verglichen werden. Ihnen folgt der Kampf selbst mit einer Länge von 88 Takten als Abgesang. Das Walkürenmotiv Brünnhildes (Nr. 12, S. 46), das Speermotiv (2) und unter den Zornmotiven Wotans zuletzt Thema 121 sind die wichtigsten Bestandteile des lebhaft bewegten Satzes. In der Einleitung des dritten Aufzugs mit dem ansdiließenden Oktett der Walküren finden die Hojotoho-Rufe und das Walkürenthema des zweiten Aufzugs (Nr. 12 und Nr. 37) ihre volle Erfüllung in einer reichhaltigen symphonisdien Durchführung (1. Periode, h-moll). Läufe der Violinen, Triller der Holzbläser, ein Sechsachtelmotiv der Hörner imd Violoncelli sowie eine unterdominantische Variante des Walkürenthemas geben zusammen mit den beiden Hauptthemen ein eindringliches Bild der reitenden Schlachtjungfrauen. Neben ihren Rufen und den chromatischen Sexten ihres Lachens gehen auch Teilmotive des Walkürenthemas in die Singstimme über. Hierbei beschränkt sich
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das Orchester für Augenblicke, /um die Worte deutlicher hervortreten zu lassen, auf -wenige begleitende Akkorde, ohne doch von dem durchgehenden Neunachtelrhythmus abzugehenii. Mit dem Auftritt Brünnhildes und Sieglindes beginnt, völlig von der bisherigen Thematik unterschieden und im wesentlichen auf dem unruhig vor•wärtstreibenden Thema der Götternot (122) beruhend, die 2. Periode (d-moll). Von Walvater verfolgt, fleht Brünnhilde die Schwestern um Schutz für Sieglinde und sich selbst an. Wagners Kunst in der Behandlung der Singstimme zeigt sidi besonders eindringlich, als Brünnhilde „in Eile" von Sieglindes Schicksal berichtet, noch mehr aber, als sie atemlos um ein Roß bittet, auf dem sie flüchten könnte, und synkopische Akkordsdiläge ihrer Angst wie ihrer jagenden Hast beredten AusdrucJi verleihen. Dieselbe dramatisdfie Bewegtheit beherrscht nach einem kurzen, langsameren Zwisdiensatz, in dem Sieglinde bittet, Siegmund in den Tod folgen zu dürfen, auch die Verkündigung Siegfrieds durch Brünnhilde (3. Periode, Gndur). In jähem Gefühlsausbruch fleht Sieglinde nun um Rettung, immer drängender droht im Baß das Thema der Götternot (122) als Zeichen des herannahenden Gottes — da kehren für wenige Augenblicke, als Siegrune den Wald im Osten schildert, wie Erinnerung an einen fremd gewordenen Bereich die ganz andern Motive des Ringes (Nr. 29 a, S. 52) und des Riesenwurmes (Nr. 77, S. 100) als Themen eines Zwischensatzes wieder. „Sehr lebhaft und schnell" beschließt ein Bar die Periode»^. Sein Abgesang beginnt mit einer überschwenglichen Melodie Sieglindes, einer Weise hödister Verzückung, die erst am Schlüsse der Götterdämmerung wiederkehrt, als die erlösende Macht von Brünnhildes Liebe über den Untergang der alten Götterwelt obsiegt (123). Nie hat Wagners Musik der italienisdien Gesangsmelodie so nahegestanden wie in diesen wenigen Takten, in denen ein überströmendes Gefühl alle Hemmungen überwindet: Sieglindes Schicksal ist erfüllt, in Siegfried, dem freien Helden, soll sie weiterleben. Mit der Ankunft Wotans (4. Periode, d-moll) steigert sich die Bewegung noch weiter. „Stürmisch" leitet eine ansteigende, dann wieder abfallende Baßfigur die Auseinandersetzung zwisdien dem erzürnten Gott und den Walküren ein. Ausdruck des Zusammenpralls der Gegensätze ist auch hier noch vielfach der „dramatische" Akkord (vgl. S. 54), aber doch nur gleidizeitig mit andern " Besonders eindrucksvoll wirkt gegen den Sdiluß des Satzes das Walhallmotiv in dem „sempre piano" geführten Gespräch zwisdien Sdiwertleite und dreien ihrer Schwestern. (Schwertleite: „Wart' ihr Kühnen zu zwei?" Grimgerde: „Getrennt ritten wir und trafen uns heut." Roßweiße: „Sind wir alle versammelt, so säumt nicht lange: nach Walhall bredien wir auf, Wotan zu bringen die Wal." Helmwige: „Acht sind wir erst: eine noch fehlt.") In der ersten Hälfte seiner zweithemigen Stollen begleitet das Orchester die Singstimme durdi Akkordschläge in Sedizehnteln und Vierteln, während in der zweiten das Siegfriedmotiv zugleich im Gesang und in der Begleitung erscheint.
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harmonischen Bildungen und immer von neuem durdi kontrapunktisdie Stimmführungen bereichert'®. Wagner entfernt sich hier weit von den homophonen
(123)
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Ensemblesätzen der Klassiker. Das Drängen der dramatischen Musik zur Mehrstimmigkeit wird in solchen Augenblicken besonders deutlich (vgl. hierzu auch das Beispiel Mozarts S. 60). Diesem Befund widerspricht es übrigens keineswegs, wenn in der nun folgenden 5. Periode (g-moll) das gerade Gegenteil eintritt: eine Vorherrschaft der einzelnen Linie, die der angeblich so durchaus harmonisch empfundenen Musik im Grunde noch stärker zuwiderläuft (vgl. S. 208). Der dramatische Gegensatz ist hier insofern aufgehoben, als Wotan seinen Töchtern als der Gebietende gegenübersteht, gegen dessen Wort es kein Aufbegehren gibt. Ausdruck dieses Verhältnisses ist das Hauptthema, eine Erweiterung von Wotans Unmutmotiv (Nr. 59, S. 87), das seinerseits aus dem gebieterisch abwärtsschreitenden Speermotiv (2) entwickelt ist. Meist als Motiv des Strafgebots bezeichnet, löst das im Fortissimo der Streicher einsetzende und bei seiner Erweiterung von den Posaunen unterstützte Thema mit seinem Unisono dreier Oktaven in wiederholtem Wechsel die unbegleitete Singstimme " Außerordentlich kunstvoll ist das Gefüge der Stimmen in den Gesängen der W a l küren mit der rhythmisdien Vielfalt der Einsätze und den mannigfadien Ü b e r sdineidungen der Stimmführung. In der ersten A n t w o r t auf Wotans Frage nach Brünnhilde nodi verhältnismäßig einfach angeordnet, steigert sich die Polyphonie zu einem Nebeneinander versdiiedenster Bewegungen, als die Verzagenden für ihre Schwester bitten und den Zorn Wotans zu besänftigen suchen.
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Wotans ab, während die Walküren furchtsam schweigen. Bei den Worten „Hörst du mich Klage erheben?" ertönt im Einklang von Gesang und Orchesterunisono eine neue Abwandlung, die auch nodi in der anschließenden 7. Periode die Pausen des Gesanges mit allem Nachdruck ausfüllt und mit Teilmotiven in die Singstimme übergeht (124) (z. B. bei „gegen mich doch hast du gewünscht", „gegen mich doch hobst du den Schild", „gegen mich doch kiestest du Lose", „gegen mich dodi reiztest du Helden"). (124)
/
Hörst du mich Kla-ge e r - h e - b e n und t i r g s t d i c h tan© dem K l ä g e r ?
Ein h-moll-Satz mit den Walkürenthemen des Anfangs rundet die erste Hälfte des Aufzugs zur geschlossenen Einheit ab und leitet mit einem Sequenzenthema aus Siegmunds Melodie (Nr. 70, S. 94) zum letzten Auftritt über, der Rechtfertigung Brünnhildes und dem Abschied Wotans. Der thematische Zusammenhang wird hier in der neuerlichen Abwandlung des Unmutmotivs (59) noch deutlicher als zuvor. Ganz allmählich geht das Thema des langsam ausklingenden Orchestersatzes in Brünnhilds unbegleitete Melodie über (125). (125)
I 1
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schmählich du b e s t r ä f i t ?
Wotans Vertragsmotiv, ursprünglich rein abwärts gerichtet, dann im Motiv seines Unmuts (59) durch aufwärts gerichtete Intervalle unterbrochen, als Thema des Strafgebots endlich in der abschließenden Sext noch entschiedener nach oben gewandt, wird nun durch aufsteigende Sexten, Septimen und Oktaven zum Thema des Rechtfertigungsgesanges. Wie die Verstoßene das Haupt langsam ein wenig erhebt, sich dann mehr und mehr aufrichtet und endlich kniet, so ist in der Musik die melodische Linie zugleich Ausdrude ihrer Gebärde hingebender Demut, aber auch des Bewußtseins, daß sie nichts Unrechtes getan hat. Gedankliche Beziehungen verbinden sich mit der Sprache eines zutiefst erregten Gefühls in dem akkordisdien Ausklang, den das Orchester der unbegleiteten Gesangsstimme hinzufügt. Damit aber kehren Handlung und Musik nadi dem „philosophischen" zweiten Aufzug und den
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Erregungen der ersten Hälfte des dritten in die Bereidie zurüdc, von denen mit der ersten Begegnung der Geschwister das Gesdiehen seinen Ausgang genommen hat: eine lyrisdie Grundhaltung bleibt bis zum Ende des Aufzugs bestimmend. Ordiester und Singstimme stehen einander nicht mehr als zwei Teile gegenüber, die sidi gegenseitig ergänzen, sondern werden zur vollständigen Einheit. Neben die Refrainform der neunten Periode, die Brünnhildes Melodie (125) gleich einer Mahnung an Wotans Gewissen immer wieder aufklingen und sie endlich in eine noch mehr von Gefühl gesättigte Durvariante übergehen läßt, treten in Zwischensätzen mehr und mehr variierende Orchesterfiguren aus Wotans Unmutmotiv, die auch noch die folgende as-moll-Periode (Wotans Antwort) beherrschen, hier aber in der Reprise des bogenförmigen Satzes allmählich zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurüciikehren und sie in einem Unisono dreier Oktaven sehr nachdrücklich abschließen. Figürlidie Variation von Themen findet sich in Wagners späteren Werken nur selten, am stärksten wohl in Tristans und Isoldes „Tagesgespräch". Die letzte Zwiesprache zwischen Wotan und Brünnhilde gewährt ihr breiten Raum, ja es geschieht das Ungewöhnliche, daß Brünnhildes Schlummermotiv (126) zuerst in Form einer Variation auftritt (126 a), und zwar bei: „Dies eine mußt du erhören, was heil'ge Angst zu dir f l e h t " " .
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In Sequenzen gesteigert, treibt das neue Motiv (126 a) die Bewegung vorwärts. Brünnhilde hat Wotans Knie umfaßt und bittet ihn, er möge sie niemals der gräßlichen Schmach preisgeben, die ihr drohe, wenn sie wehrlos dem herrischen Manne folgen müsse. Mit dem wiederkehrenden Hauptsatz (D-dur) führt der Einsatz des Walkürenmotivs (Nr. 12, S. 46) einen neuen Höhepunkt herbei: das Feuerzaubermotiv Loges, von Streichern umspielt, zu Brünnhildes Worten: „Auf dein Gebot entbrenne ein Feuer, den Felsen umglühe lodernde Glut!" Die Ausdrucksgewalt der Tonsprache erreicht hier einen der Gipfelpunkte, die in den Augen der Zeitgenossen wie ebenso noch der meisten unter den Heutigen Wagner als den Musiker des rauschhaften Überschwanges erscheinen lassen — obwohl er Steigerungen solcher Art so sparsam verwendete, als es sich mit seinen dichterischen Absichten eben noch vertrug: einige Stellen der Venusbergmusik, der Schluß des ersten Aufzugs der Walküre, Wotans Abschied Seine Durchführung läßt einen Zusammenhang mit der Variationsfigur der 9. und 10. Periode erkennen, der schwerlich auf diditerisch-dramatisdie Beziehungen zurückgeführt werden könnte; vielmehr ist in solchen Abwandlungen wesentlich der absolute Musiker am Werke.
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von Brünnhilde und ihr Erwadien, als sie von Siegfried erweckt wird, der Untergang der Götter, Tristans und Isoldes Begegnung im nächtlichen Park und Isoldes Liebestod erschöpfen den Bereich dessen, was hier etwa zu nennen wäre. Ganze Werke — so der Fliegende Holländer, Lohengrin, die Meistersinger, Rheingold und Parsifal — bleiben überhaupt außerhalb dessen, was Nietzsche als das Dionysische bezeichnet hat. N u r eine optische Täuschung von ungewöhnlichem Ausmaß konnte diesen Sachverhalt in sein genaues Gegenteil verkehren (vgl. S. 17). Ein anderer Stein des Anstoßes ist indessen nicht ebenso leicht zu beseitigen, ja im Grunde überhaupt nicht aus der "Welt zu schaffen: das Übermaß eines Gefühlsausdruckes, wie es nicht nur hier zu verspüren ist, sondern als verborgene Gefahr schon am Beginn des Werkes droht. Nicht überall ist Wagner der Verführung, die darin lag, wirksam genug begegnet. Etwas von dem „Zauberer", der nach einem Worte Thomas Manns „auch die Unmusikalischen zur Musik überredet"", ist dem Künstler, der den Schluß der Walküre mit seinen Stürmen widerstreitender Gefühle in Wotans Brust und dem großartig-prophetischen Anruf Siegfrieds geschaffen hat, wirklidi zu eigen; und wenn Wagner die Oper aus den niederen Bereichen bloßen Genusses zu geläuterten Höhen emporführen wollte, so ist er hier selbst noch der Gefahr verfallen, die er zu bannen suchte^«. Wer dies erkennt, sollte sich freilich zugleidi auch des Gegenteils bewußt sein und einen Blick für das zu gewinnen suchen, was Wagner seinem eigentlichen Wesen nach ist. Um einer solchen Forderung zu genügen, muß man den Künstler abseits aller Volkstümlichkeit aufsuchen. Was den Musikdramaciker kennzeichnet, ist der Vorrang des Ganzen vor jeder noch so sehr hervortretenden Einzelheit. Erst darin verwirklicht sich das übergeordnete Gesetz, das die Oper alten Stils abgelöst und der bloßen Aneinanderreihung von Einzelteilen eine größere Form gegenübergestellt hat. In diesem Zusammenhange aber bedeutet selbst der sogenannte Feuerzauber keineswegs nur einen Schlußeffekt, den der Musiker sich wohlweislich aufgespart hat. Sein Hauptthema ist viel-
(127)
13 Leiden und Größe Richard Wagners Geistes", S. 409).
(Stockholmer
Gesamtausgabe,
„Adel
des
" Manches, was Musiker seit Wagner geschrieben haben, ohne dabei allzu wählerisch zu sein, ist etwa aus Brünnhildes E-dur-Melodie herzuleiten, namentlich in der Fassung, in der das Thema nach der Dominante der Paralleltonart cis-moll kadenziert (als Brünnhilde „gerührt und begeistert" an Wotans Brust sinkt), wobei es sich dem Ohr auf eine immerhin anfechtbare Art einschmeichelt.
SIEGFRIED, ERSTER UND ZWEITER AUFZUG
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mehr schon beim ersten Auftritt Loges in Rheingold erklungen (127), gehört also gleich den meisten Themen des Nibelungenringes größeren Zusammenhängen an und darf durchaus nicht nur als illustrierende, rein tonmalerische Musik aufgefaßt werden. Wenn nach Wagners berühmt gewordenem Worte Effekt als „Wirkung ohne Ursache" definiert wird, so läßt sich dagegen hier die zugrunde liegende Ursache sowohl dramatisch wie rein musikalisdi klar erkennen. Nicht irgendwelche „Bühnenwirksamkeit" also gilt als das eigentliche Ziel, sondern immer nur das Drama. Mit seinem Ausklang an dieser Stelle findet zugleich auch die Spannung der großen Absdiiedsszene ihre Lösung: während dem sdieidenden Gotte der Abgesang seines Grußes an Brünnhilde nadiklingt'^ und er sich zum Gehen wendet, wird die Bewegung des Ordiesters immer sanfter und zurückhaltender; das Sdilummermotiv Brünnhildes (126) verklingt, bis, von Triangelschlägen begleitet, nur noch die Sexte und Quinte seines Anfangs zurückbleiben. Endlich löst sich die zarte Bewegung der Streidier und Holzbläser im äußersten Pianissimo des Schlußakkordes auf. 6. S I E G F R I E D , E R S T E R U N D Z W E I T E R A U F Z U G Mit dem „heroischen Lustspiel" vom jungen Siegfried wird in der weit gespannten Nibelungenhandlung eine neue Note angeschlagen. An die Stelle der Tragik des Wälsungenpaars mit ihrem Gefühlston des Rührenden tritt die Lebens- und Tatenlust des jungen Helden, der im Walde lebt und die „Welt" — alles, was außerhalb des Waldes liegt — nur vom Hörensagen kennt. Seinem Tatendrang steht die grämliche Art seines Erziehers Mime gegenüber. Aus dem Widerstreit so unterschiedlicher Naturen — die dennoch aufeinander angewiesen sind — gewinnt die Handlung des ersten Aufzugs ihre eigenartig ursprüngliche Kraft. Wie in Rheingold und Walküre so steht auch hier ein längeres Orchestervorspiel am Beginn. Thematisch dem ersten Auftritt Mimes zugeordnet und daher unaufhörlidi um die wenigen Motive kreisend, in denen das Sinnen des Nibelungen sich einzig zu erschöpfen vermag, entfernt es sich zugleich derart weit von aller Überlieferung, daß man Wagners Bedenken gegen eine Aufführung seiner Werke auf den Opernbühnen des neunzehnten Jahrhunderts sehr wohl begreifen kann. Schon der kaum wahrnehmbare Paukenwirbel auf dem Kontra-F bedeutet als Einleitung eines Bühnenstücks etwas geradezu Unerhörtes. Mimes Terzen in den Fagotten (Nr. 33, S. 54), anfangs durch lange Pausen getrennt, dann in einer kurzen Durchführung zum Thema
"
I.Stollen:
„Der
Augen
leuchtendes
Paar"
bis
„von
holden
Lippen
dir
floß",
2 . Stollen: „Dieser Augen strahlendes P a a r " bis „wild webendem Bangen", Abgesang: „Zum letzten Mal letz' es mich heut'" bis „muß es scheidend sidi sdiließen" bzw. ( C o d a ) : „Denn so kehrt der Gott sich dir ab, so küßt er die Gottheit von dir." 16 von Stein, Wagner
242
DIE EINZELNEN WERKE
des Nibelungenhortes in der Kontrabaßiuba überleitend, bewegen sich in den äußersten Tiefen. Als nach 46 Takten der Paukenwirbel schweigt, meldet sidi pianissimo das Sdimiedemotiv (Nr. 16, S. 47) in Bratschen und Violoncelli zu einer breiten Entwicklung, ohne daß sicii die dunkeln Ordiesterfarben auch nur im geringsten aufhellen. Eine Verknüpfung des unentwegt pochenden Sdimiedemotivs mit den seufzenden Sekunden des Fronmotivs, den aufsteigenden Sequenzen des Nibelungenhortes und zuletzt dem Herrscherruf Alberichs (Nr. 25, S. 50) zeigt zwar den Kontrapunktiker am Werke, aber die Bereiche der Musik, durch die er seine Hörer führt, sind allem Gewohnten weltenfern. Der aus ihnen spricht, ist im Grunde der Erzähler, der die unterirdische Welt der Nibelungen in Töne gebannt hat und sie nun, unbekümmert um alle Überlieferung und Theatergewohnheit, vor dem Ohr ausbreitet. Ihm und denen, die ihm auf seinen musikalisdi-dramatischen Wegen bis hierher gefolgt sind, geht es längst nicht mehr um Herkömmliches, sondern nur noch um den Gegenstand selbst und die künstlerische Wahrheit seiner Darstellung. Ouvertüren, Arien und Ensemblegesänge, ja selbst musikdramatische Formen, die ihnen äußerlich noch irgendwie ähneln, sind vergessen und abgetan — von einem „Libretto" ganz und gar zu sdiweigen. Siegfried, Mime und der Wanderer füllen eine Handlung von anderthalb Stunden aus, ohne daß dem Zuschauer diese seltsame und durchaus unvergleichliche Enge des äußern Rahmens irgendwie bewußt würde'. H a t sich der Schöpfer der Walküre namentlich am Ende seines Werkes noch einmal in die fast bedrohliche Nähe des Theaterpublikums begeben, ja, es „hinzureißen" verstanden, so ist er nun aller Zugeständnisse an die Toleranz des Theatergeschmacks ledig und schafft einzig noch als Dramatiker, d. h. sehr fern dem „Schauspieler" Nietzsches. — Während in der Dreiklangswelt des Rheingolds das Naturhafte, in dem harmonisch-melodisdien Reichtum der Walküre der Gefühlsausdruck der Musik im Vordergrunde steht, findet die jugendliche Tatkraft Siegfrieds, aber audi die Emsigkeit Mimes ihren Ausdruck in einem deutlichen Vorherrschen des Rhythmus. Hierfür zeugt nicht nur das Vorspiel, sondern auch die bei Wagner sonst minder streng beachtete Gliederung in vier- und achttaktige Perioden. Gelegentliche Abweichungen werden sogar ausdrücklich vermerkt. Die Symmetrien des formalen Aufbaues erreichen damit ein Ebenmaß, in dem die Musik von der Handlung fast unabhängig zu werden scheint und dodi allezeit ihr treues Spiegelbild bleibt. Die vollkommene Bogenform der ersten Periode (b-moll) ist — ein ganz ungewöhnlicher Fall — schon in den Worten der Dichtung vorgezeichnet. Mimes Klage um die „zwangvolle Plage" und die „Müh' ohne Zweck" wiederholt sich am Ende des Abschnitts wörtlich und demgemäß auch als musi' N u r so konnte Nietzsche „vergessen", daß es bei Wagner wirklich einen ganzen und noch dazu so ausgiebigen „Akt ohne Weiberstimme" gibt (vgl. S. 18).
SIEGFRIED, ERSTER UND Z'W'EITER AUFZUG
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kalisdie Reprise. Siegfrieds Auftritt (2. Periode, G-dur) ist mit der Aufstellung und Durchführung seines Hornrufs in Form eines Reprisenbars verbunden (vgl. S. 89). Ein liedartiger Mittelteil („Nach beßrem Gesellen sucht' ich, als daheim mir einer sitzt") hebt sich deutlich ab. Außerordentlich weitgespannt ist die Form der dritten Periode (g-moll) von „Da hast du die Stücken, schändlicher Stümper" bis „die Waffe gewinn' ich noch heut'" (840 Takte). Ihr Ebenmaß beruht einerseits auf der szenischen Einheitlichkeit — nur Siegfried und Mime sind auf der Bühne —, anderseits auf den Anregungen, die die Nibelungenwelt dem Musiker unerschöpflich eingegeben hat. Wie Siegfried in Gedanken immer wieder zu der Natur zurückkehrt, die ihn im Walde imigibt und deren Leben und Weben ihn nach seiner eigenen Herkunft fragen läßt, während Mime ebenso beharrlich seine Verdienste um die Erziehung des Kindes herausstreicht, so läßt ein lebhaft bewegter Hauptsatz in g-moll Motive der beiden miteinander abwechseln, ist also Ausdruck ihrer gegenwärtigen Gemeinsamkeit, wogegen in den Zwischensätzen Erinnerungen wach werden. Diese bestehen für Mime (erster Zwischensatz) in seinem „Starenlied": „Als zullendes Kind zog ich dich auf . . . " (Teile davon gehen in Siegfrieds Antwort über, als er Mime mit dessen eigenen Worten und Tönen verspottet; aber immer wieder unterbricht sein g-moll-Motiv unwirsch die täppische Melodie.) Siegfrieds Erinnerungen (zweiter Zwischensatz) führen als neues Thema die Melodie seiner Liebe zur Natur ein (128). Ehe sich diese indessen voll entfalten kann, singt Mime zwei Strophenpaare, in denen er von neuem auf seine Fürsorge für das Kind zurückkommt. Dann erst erzählt Siegfried vom Leben der Tiere, und „wie die Jungen den Alten gleichen", so daß Mime nidit sein Vater sein könne. Stürmisch verlangt er (mit dem wiederkehrenden Hauptsatz im Orchester) nach Auskunft über seine Eltern.
(128)
Ein dritter Zwischensatz, gleich dem ersten von einer absteigenden Akkordfolge eingeleitet, die aus Mimes plärrenden Klagen stammt, gilt der Erzählung des Zwerges von Sieglinde und ihrer Not. Gründlich am Ohr gezaust, berichtet Mime in einem Bar von der letzten Stunde der Einsamen und der Geburt Siegfrieds. Die beiden Stollen — des Leides der Wälsungen (Nr. 63, S. 89) und Sieglindes (Nr. 32, S. 53) — erklingen in veränderten Intervallen, traurig verdüstert gleich einer fernen und fast schon verwehten Erinnerung. Erst im Abgesang blüht die Liebesmelodie der beiden Geschwister (Nr. 52, S. 77) in 16*
244
DIE EINZELNEN WERKE
ihrer ursprünglichen Klarheit auf. Mimes Singstimme aber nimmt den T o n leiterabstieg auf, der für den ersten Aufzug der Walküre so bezeidinend gewesen ist (vgl. S. 2 3 0 , Fußnote). Während
Siegfried
sinnend
steht
und
im
Ordiester
das
Thema
des
Wälsungenleids (63) ganz leise in seiner ursprünglidien Form erklingt^, kehrt Mime zu seinem Liede zurüdc. H a t er sidi dabei im ersten Zwisdiensatz Siegfrieds Bemerkungen über seinen Abscheu vor ihm anhören müssen, so wird er nun durch die wiederholten Fragen des Knaben abermals stets aufs neue unterbrochen und kann sein Lied immer nur im Wechsel mit dem Hauptthema (63) weiterführen. Endlidi macht Siegfried unwillig Schluß („Still mit dem alten Starenlied!") und führt damit die letzte Reprise des Hauptsatzes herbei'. Sein Lied („Aus dem W a l d fort in die W e l t zieh'n", 4. Periode, B - d u r ) ist in seiner straffen
Rhythmik
wie in
der kontrapunktischen
Führung
der
Orchesterstimmen ein Beispiel klarster Formung. Während das Teilmotiv zu den Worten „flieg' ich von hier, flute davon" später mehrfach wiederkehrt, bleibt das Kopfthema auf diese Stelle und die Rückkehr Siegfrieds aus dem W a l d e beschränkt, ohne doch irgendwie als Fremdkörper empfunden zu werden, da seine Verbindung mit der übrigen Thematik schon aus den Quartensequenzen ersichtlich wird*. D e r allein zurückbleibende Mime aber kreist mit seinen Gedanken um die alten Vorstellungen. R i n g -
und Fronmotiv,
Baßlinie
am
des Riesenwurms,
vertretung des Ringmotivs
das
Schmiedemotiv
die absteigenden
und
Terzen
des
Ende
als
die
Stell-
Entsagungsmotivs
( N r . 115, S. 2 2 3 ) bilden die Bestandteile einer fünfgliedrigen Bogenform
in
b-moll (5. Periode), die m i t der 1. Periode manche Ähnlichkeit hat. M i t dem Auftritt des Wanderers ist ein neues Thema zur Stelle ( N r . 24, S. 50). Es wird in Strophenform
aufgestellt, wobei Mime die W o r t e des
Wanderers von Strophe zu Strophe mit seinen Einwänden unterbridit. Das fortissimo absteigende Vertragsmotiv ( N r . 2 S. 4 3 ) leitet zu der berühmten Wissenswette über. Diese f a ß t dramatisch das bisherige Geschehen vom Rheingold an kurz zusammen. Musikalisch entwickelt sie sich in einer reich gegliederten Folge wechselnder H a u p t - und Zwischensätze mit entsprechenden M o t i v wiederholungen. Wandererakkorde (24) und Vertragsmotiv (2) bilden den dreimal erscheinenden „äußeren" Hauptsatz einer Rondoform, der dem ganzen ® Es wird von hier an stets um eine kleine Kadenz verlängert. ' Das g-moll-Thema Siegfrieds wird durdi die Melodie seiner Naturliebe vertreten, Mimes Motiv (Sdimiedemotiv im Zweivierteltakt, oft mit vergrößertem Anfangsintervall) durch das Sdimiedemotiv in seiner ursprünglichen Form. * Die Symmetrie der Bogenform mit einem Mittelsatz fried davonstürmt, und der rein orchestralen Reprise deutlich. Die Freude des absoluten Musikers aber am darin, daß er die sechs Sdilußtakte des Hauptsatzes stellt, obgleich er hierzu durch nichts genötigt wird.
aus Akkordschlägen, als Siegseines Liedes ist unmittelbar reinen Formenspiel zeigt sidi an den Beginn der Reprise
SIEGFRIED, ERSTER UND ZWEITER AUFZUG
245
Auftritt (6. und 7. Periode) gemeinsam ist, während Mimes Fragen in der ersten Hälfte als „innerer Hauptsatz" erscheinen, und zwar ebenfalls dreimal«. Es handelt sidi also um eine potenzierte Rondoform. Wotans Antworten als Zwischensätze des innern Hauptsatzes rufen nacheinander die Motive der Nibelungen, der Riesen® und der Götter zurück. Nach der Wiederkehr der Wandererakkorde als des eigentlichen H a u p t satzes am Ende der letzten Antwort Wotans kehrt sich das Verhältnis von Frage und Antwort um. Die inneren Hauptsätze zu Wotans Fragen bestehen aus einem neuen Motiv Mimes und dem unvermeidlichen Schmiedemotiv, die Zwischensätze (Mimes Antworten) aus dem Wälsungenthema (Nr. 27, S. 51) und dem Siegfriedmotiv (Nr. 49, S. 76), dann der Schwertfanfare (Nr. 6, S. 43) und endlich, als Mime keine Antwort weiß, aus dem H a u p t - und Seitenthema der dritten Periode desselben Aufzugs. Der äußere Hauptsatz mit den Wandererakkorden, dem Vertragsmotiv und in der Coda dem neuen Thema dessen, „der das Fürchten nie erfuhr", schließt den formal überaus kunstvollen Bau gewaltig ab. Absolute Musik (in den wiederkehrenden Hauptsätzen mit ihrem Vorrang ganz bestimmter Themen) und Drama (in Gestalt der Zwisdiensätze, die sich motivisch auf den jeweiligen Inhalt beziehen) halten einander vollkommen die Waage (vgl. hierzu auch S. 86). Der Zusammenklang von Handlung und symphonisch begleitendem Orchester in der Geschlossenheit einer zugleich absolut-musikalischen Thematik setzt sich nach dem Abgang des Wanderers bis zum Schluß des Aufzugs unverändert fort. Das zweimalige Erscheinen der variierten Logechromatik (Nr. 35, S. 55) bzw. des Feuerzaubers, Siegfrieds Vorbereitungen zum Schmieden des Schwertes — wobei die symphonische Durchführung seines Hornrufs (Nr. 39, S. 56) und des Ansatzmotivs (39 a) nur noch dem ersten Satz von Beethovens c-moll-Symphonie an die Seite gestellt werden kann—, endlich die Strophen seiner beiden Lieder sind rein musikalisch ohne weiteres verständlich, zugleich aber dem dramatischen Zusammenhang vollkommen eingefügt. Dies gilt namentlich auch von den Liedtexten. Mit der lyrischen Einlage von einst, wie sie sich bei Wagner selbst noch etwa in Wolframs Lied an den Abendstern findet, haben diese Gesänge nicht das mindeste mehr zu tun. — „Träg und schleppend" beginnt das Vorspiel zum zweiten Aufzug als Einleitung des Auftritts vor Neidhöhle mit einer nächtlich finstern Musik, die mit den üblichen Begriffen von Oper und Theater womöglich noch weniger zu tun hat als alles bisher Vernommene. Von dem romantischen Spuk der WolfsSchlucht in Webers Freischütz dadurch weit entfernt, daß sie im Hörer keineswegs irgendwelche Schauer erregen soll, ist sie durchaus nichts anderes als eine ° Eine kontrapunktische Verbindung des Schmiedemotivs mit Engführungen Vertragsmotivs, Mimes Terzen, Sextakkordfolge der Frage. ® Hier das Riesenmotiv noch einmal in seiner vollen Gestalt (Nr. 60, S. 87).
des
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DIE EINZELNEN WERKE
realistisdi-objektive Darstellung des Bühnengeschehens in Tönen. Zum widitigsten Hilfsmittel einer soldien Objektivierung wird der abgewandelte Ansatz des Riesenmotivs in Kontrabässen und Pauken über dem Untergrund des tiefen Tremolos der Bratschen und Violoncelli (Nr. 78, S. 100). Die ursprüngliche Quart des Riesenmotivs (Nr. 60, S. 87) erweitert sich dabei zum Tritonusintervall und rüdit das neue Thema in die Nachbarschaft des Dradienmotivs aus dem Rheingold (Nr. 77, S. 100), das dort im fünften Takt ebenfalls zum Tritonus, im sechsten sogar zur abstürzenden großen Septime gesteigert wird. Wie Fafner seit dem Mord an seinem Bruder Fasolt in Dradiengestalt den Nibelungenhort hütet, so verbindet die Musik sein Motiv mit demjenigen des Riesenwurms^. Die sehr eigenartige Stimmung, die über der Begegnung zwischen Alberidi und dem Wanderer liegt und ähnlich der Anrufung Erdas im dritten Aufzug zugrunde liegt, aber auch der Nornenszene der Götterdämmerung, dem nächtlidien Zwiegespräch Hagens und Alberichs und zuletzt noch der Beschwörung Kundrys durdi KlLngsor — eine Stimmung nächtlidi-dunkler, unterirdisdihintergründiger Welten — findet in einer Tonsprache von eigentümlicher Mannigfaltigkeit Ausdruck. Die formale Analyse stößt dabei auf Schwierigkeiten (vgl. S. 103). Der mosaikartige Aufbau, wie er der Musik Wagners vielfach zugeschrieben wird, sdieint in der Dramatik solcher Szenen am ehesten Wirklidikeit zu werden. Wesentlich von einer sinnvollen Deklamation her zu verstehen, läßt er die Gesangsstimme Wotans einmal in einen merkwürdig leichten und gelodcerten Rezitativton verfallen: „Mit mir nicht, hadre mit Mime; dein Bruder bringt dir G e f a h r . . B e i der Erwedcung Fafners gesdiieht etwas seit dem Holländer Unerhörtes: Wagner setzt sich über die natürliche Wortbetonung hinweg und gibt bei „sdiarf schneidet sein Schwert" der zweiten Silbe des Wortes „schneidet" den stärkern Ton — als müßte die Lässigkeit des Wanderers auch darin ihren Ausdruck finden. Zuletzt erscheint '
Indem dabei der Tonleiteranstieg des Riesenmotivs um einen Halbton verlängert
wird, ergibt sich zugleich eine Annäherung an das Thema des Hasses der Nibelungen ( N r . 11, S. 46)
und damit nidit nur an den Abgesang des barförmigen
Vorspiels
(potenzierter B a r : nadi fünf einleitenden Takten barförmiger Großstollen aus den Motiven des Wurmes und Fafners — sedis Takte, dann dasselbe einen T o n höher und elf Takte Fortspinnung als Abgesang — , zweiter Großstollen über demselben Baßthema und ebenso gegliedert, aber mit Mimes Terzen und Ringmotiv, barförmiger Großabgesang: 1. Stollen Alberiths Fluch und Fafnermotiv, 2. Stollen Alberidis Fludi und Nibelungenhaß, Abgesang: Bogen aus Ringmotiv, Alberichs Fluch und Fafnermotiv), sondern auch an den Hauptsatz der bogenförmigen ersten Periode (h-moll), die bis zum Erscheinen des Wanderers reicht (Umrahmung durch zwei melodisch und harmonisdi verwandte Fragen Alberidis:
„Banger Tag, bebst du sdion auf . . . ?"
und „ N a h t schon des Wurmes "Würger . . . ? " ; näditlidien Wald).
Mittelsatz:
Wotans R i t t durdi den
SIEGFRIED, ERSTER U N D ZWEITER AUFZUG
247
— in diesem Zusammenhang etwas rätselhaft — die Melodie seines Abschieds von Brünnhilde in Trompete und Englischhorn. Der Partiturvermerk „espressivo" sollte über ihren Sinn zwar keinen Zweifel aufkommen lassen — aber schon nadi vier Takten weidit sie ohne erkennbaren musikalischen Grund den Wandererakkorden. Zu Alberichs Worten von dem „leichtsinnigen, lustgierigen Göttergelichter" will sie sich vollends nicht fügen. Wäre nicht Wotans ernste Mahnung an Alberich vorangegangen („Alles ist nach seiner Art, an ihr wirst du nichts ändern") — wobei das Ordiester geheimnisvoll das Urmotiv des Werdens in Es-dur anstimmt (Nr. 116, S.227) —, so könnte man angesichts des gescheiterten Versuches mit Eafner fast an eine parodistische Absidit Wagners glauben (vgl. S. 154). Ein gewisser Scherzandoton liegt in Diditung und Musik audi über dem Auftritt Siegfrieds und Mimes. Erinnerungen an Siegfrieds Schmelzlied begleiten das Erscheinen der beiden auf der Bühne. Mime schildert den Wurm. Das Ordiester beschränkt sich auf einfache motivisdie Bildungen mit Tritonusintervallen und übermäßigen Dreiklängen. Zu Siegfrieds Antworten hat es meist nur Akkordsdiläge: alle Mühe des Nibelungen kann den Knaben nicht aus seiner Ruhe bringen. In Mimes letzte Sdiilderungen (6. Periode, d-moll) klingt bereits vernehmlidi die Achtelbewegung des Waldwebens hinein (129). Das neue Thema wird als Hauptsatz einer Rondoform aufgefaßt, die zunächst bis zum Erscheinen Fafners reicht. Siegfrieds Betraditungen über Mime (Schmiedemotiv in sehr dissonanter Steigerung), dann über seine Mutter (Thema des Wälsungenleids — Nr. 63, S. 89 —, Naturmelodie — Nr. 128, S. 243 —, Freiamotiv — Nr. 114, S. 221 — und die triolische Figur aus Loges Erzählung sehr still und zurückhaltend in vollendetem Wohlklang), endlich sein Versuch mit dem Rohr, auf dem er die Weise des Waldvogels nachahmen will, bilden die drei Zwischensätze. Selbstverständlich wird auch die Stimme des Waldvogels nicht etwa rein tonmalerisch, sondern thematisch behandelt (130 a — c). Die gesamte Periode aber ist nunmehr selbst Glied einer weit größeren Rondoform, die den zweiten Aufzug bis zu seinem Ende ausfüllt. Ihre Zwischensätze — Siegfrieds Kampf mit dem Drachen (8. und 9. Periode), der Streit zwischen Mime und Alberich (11. Periode) und endlich Mimes Mordversuch, als er Siegfried den Gifltrank reicht (13. und 14. Periode) — erweitern sich hierbei ihrerseits zu ganzen Perioden mit eigenem Satzbau. Zwischen ihnen erscheint das Waldweben als Rondothema zweimal zusammen mit der Sopranstimme des Waldvogels (10. und 12. Periode). Durch deren Wiederkehr ist schon in den Worten der Dichtung eine rondoartige Symmetrie vorgezeichnet, zugleich aber wird mit ihr das Beispiel einer streng thematischen Durchführung der Singstimme gegeben (Melodie 130 c). In der letzten Periode (Nr. 16, E-dur) bildet das Waldweben gemeinsam mit einem neuen Motiv Siegfrieds die beiden Stollen und den Abgesang eines Bars von 84 Takten.
248
DIE EINZELNEN -WERKE
(129) sempre.
(130 a)
pp
r' T^nimui
(130 b)
(130 c)
T Von den Zwischenspielen zeichnet sich die neunte Periode (f-moll), das Gespräch des sterbenden Fafner mit Siegfried, als vollkommener Bogen durch ein besonderes Ebenmaß der Form aus. Zum letztenmal, von einer eigentümlich dunkeln Abschiedsstimmung getragen, erklingt am Beginn des Mittelsatzes das Riesenmotiv mit seiner ursprünglichen, also reinen Quart. In der Mitte des Hauptsatzes und seiner Reprise kommt es zu der früher erwähnten Annäherung des Siegfriedmotivs an Alberichs Fluch (vgl. 5. 76). Als vollendetes Scherzo mit eigenem, nur in der 15. Periode noch einmal berührtem Hauptthema (131) gibt sidi die dreizehnte Periode (D-dur). Mime hat seinen Gifttrank bereitet und sucht nun Siegfried zu bereden. Die Scherzandofigur der Bratschen mit ihrem Vorschlag und dem an eine Verbeugung erinnernden Septimenabsprung beherrscht den ausgedehnten Hauptsatz" und die etwas kurze Reprise® in den mannigfadisten Fortspinnungen und kontrapunktischen Verknüpfungen mit der warnenden Stimme des Waldvogels in den Holzbläsern, während der Mittelsatz auf Mimes „Starenlied" und andere seiner Melodien aus dem ersten Aufzug zurückgreift. Die letzten Takte (als Mime den Saft in das Trinkhorn gießt) führen zu Härten der Stimmführung, die an Reger und Hindemith gemahnen und sich weit von aller „romantischen Gefühlsmusik" entfernen. Was indessen hier nur episodisch erscheint, füllt die elfte Periode (b-moll), den Zank der beiden Zwerge, ihrem ganzen Umfange • Bis zu Mimes: „Das sagt' ich dodi nidht? Du verstehst mich ja falsch!" • Von „Nun mein Wälsung" bis zu Mimes Tod.
SIEGFRIED, ERSTER UND ZWEITER AUFZUG
(131)
249
T
nadi aus: eine realistische Musik, wie sie sich in vergleichbarer Art sdion am Ende des ersten Aufzugs zum Faudien des Blasebalgs und dem Zischen des Dampfes entwickelt hat. Aucli Siegfrieds Mühe um den toten Fafner und den Leichnam Mimes (14. Periode, h-moll) findet in mancherlei harmonischen Härten Ausdruck'®. Die Herbheit dieser Klänge löst sich erst mit dem Übergang zur vorletzten Pericxie (e-moll) wie wahrhaft „linde Kühlung" wohlig auf: Siegfried gedenkt seiner Einsamkeit und möchte dem Sange des Vögleins nodi einmal lauschen. In Tönen, deren Wohllaut an die edelsten Vorbilder klassischer Musik gemahnt, kehrt die Stimmung versonnenen Schweigens und Lauschens unter der Linde nochmals wieder. Erst das E-dur der letzten (sechzehnten) Periode gibt dem zweiten Aufzug in einem lebhaft beschwingten Orchesternadispiel seinen heitern Abschluß. 7. T R I S T A N U N D ISOLDE Das innere „Gesetz" — für den Fliegenden Holländer vor allem die Dramatik der absoluten Musik selbst, für Tannhäuser und Lohengrin eine christlich-romantische Harmonik, in den ersten Teilen des Nibelungenringes aber Wagners neue Worttonsprache und mit ihr zugleich eine immer vollkommenere Erfassung jegliches Geschehens in der klaren Gestalt motivischer Bildungen — besteht für Tristan ganz offensichtlich in der Chromatik. Mag auch, namentlich in der Gestalt Kurwenals, wiederholt eine kräftige Diatonik zum Vorschein kommen — in weiten Teilen des Werkes herrschen chromatische Bildungen bis hin zu einer beginnenden Auflösung der Tonalität so deutlich vor, daß sie nicht nur die Aufmerksamkeit von Wagners Zeitgenossen erregt haben, sondern weit über die Grenzen hinaus, die Wagner selbst seiner neuen Harmonik gesetzt hat, für die Entwicklung der Musik bestimmend geworden sind. — In seinem Buche „Leiden und Größe Richard Wagners" weist Thomas Mann auf das „Keltische" in Tristan und Isolde hin: eine „englisch-normannisch-französische Atmosphäre", die Wagner „in den Wort-Ton-Komplex aufzunehmen", ja mit der er ihn „zu durdbdringen weiß — mit einer Einfühlung, die zu erkennen gibt, wie sehr und eigentlich die Wagnerische Seele in einer vornationalstaatlichen europäischen Sphäre beheimatet ist". Dem" Fis des ostinaten Schmiedemotivs gegen den neapolitanischen Sextakkord von h-moll oder den verminderten Septimenakkord ais-cis-e-g.
250
DIE EINZELNEN WERKE
gegenüber wird freilidi auch die „bewußte Entfärbung vom Historisdien" erwähnt, die „Enthistorisierung und freie Vermenschlichung", die im Gedanklich-Spekulativen herrsche — die aber auch nur dort zu finden sei und bewunderungswürdigerweise „mit der intensivsten landschafllich-rassemäßigkulturellen Koloristik" zusammengehe^. Nun ist freilich Koloristik im Sinne einer nur gelegentlichen Farbgebung keineswegs Wagners Sache. Weit mehr trifft hier das Wort von der „Durchdringung" zu: nicht nur einzelne Teile, sondern durchaus die gesamten Werke Wagners beruhen auf dem, was Hans Pfitzner als einen Zusammenhang „von der aufregendsten Deutlichkeit, der Bestimmtheit eines Erlebnisses" empfand (vgl. S. 28). Einzig gewisse lyrische Teile seiner Jugendwerke sind davon deutlich ausgenommen. Vom Ring des Nibelungen an haben auch dramatische Auftritte, die nach einem etwas banalen Ausdruck des Operntheaters als „Liebesduette" bezeichnet werden, jeweils ihre durchaus eigene Prägung und sind voneinander nicht nur unverwechselbar unterschieden, sondern zugleich in jeder Hinsicht dem Ganzen zugehörig. Das eigentümlich Germanische ist also dem jugendlichen Feuer Siegfrieds ebenso deutlich zu eigen wie der reiferen Männlichkeit seines Vaters Siegmund. Morgenländische Farbigkeit, von der sich in Wagners Werken zuvor nicht die mindeste Andeutung gezeigt hat, liegt über der Erzählung Kundrys von Gamuret und Herzeleide, und mit derselben Klarheit zeichnet sich in der Wesensart der Bürgersiochter Eva und ihres ritterlich-feurigen Liebhabers die meistersingerliche Welt Nürnbergs ab. Solchem Einssein von Umwelt und seelisdiem Erleben steht die ganz nach innen gewandte Dramatik von Tristan und Isolde als etwas vollkommen anderes gegenüber. Zwar will Thomas Mann die „Entfärbung vom Historischen" auf das Geistig-Philosophische beschränkt wissen, aber in demselben Maße, indem neben dem Innenleben der beiden Liebenden alles Äußerlich-Zufällige ins Wesenslose entsdiwindet, verengt sich auch der Raum, der für irgendwelches historische Kolorit noch übrig bleibt. Wenn also überhaupt etwas wesenhaft Keltisches in Tönen erfaßt sein könnte, dann wäre neben dem rein Skizzenhaften einer Umwelt, wie es sich etwa in den Klängen der nächtlichen Jagdmusik oder einigen kleinen Motiven während der festlichen Ankunft des Schiffes in Kornwall kundgibt, einzig noch der Beginn des dritten Aufzugs zu nennen. Aber die Diatonik des Kareolthemas hat in ihrer volkstümlichen Behaglichkeit gewiß nichts an sich, was irgendwie an eine fremde und nun gar keltische Welt denken ließe. Ebensowenig vermag die impressionistische Stimmung der aufsteigenden Terzen und Quarten in solchem Sinne zu wirken (Nr. 30, S. 52). So bleibt denn zuletzt für die Koloristik, wie Thomas Mann sie zu finden meint — sofern sie überhaupt in irgendwelchen bestimmten Einzelheiten gesudit werden darf —, ' Leiden und Größe Richard Wagners (Stociholmer Gesamtausgabe, „Adel des Geistes", S. 432—433).
T R I S T A N U N D ISOLDE
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allein die traurige Weise des Hirten mit ihrem seltsam klagenden und zugleich doch auch spielerischen Tonfall. Alles andere, namentlich auch die rein klassische Fassung der „lustigen Weise" des Hirten, gehört dem Bereich einer „freien Vermenschlichung" an und läßt die Tristanmusik auf eine sehr eigenartige Weise zugleich moderner und klassischer wirken als irgendeines der andern Werke Wagners. Zeichen dieser merkwürdigen und überraschenden Stilwandlung ist die veränderte Stellung des Leitmotivs: nur wenige Themen und Motive lassen sich so klar und eindeutig mit Namen belegen wie in den andern Werken. Um so strenger vermochte Wagner, indem er sidi von allen äußern Abhängigkeiten frei machte, die symphonische Form zu wahren. So wurde denn die Tristanmusik gleich ihren klassischen Vorbildern zum Ausdruck eines rein innern Gesdiehens. Im Verzicht auf alles Historische lag zugleich aber auch die Möglichkeit einer „modernen" Haltung beschlossen, die ihrerseits zur Chromatik führte. Wie sich in wahrhaft epochemachenden Werken früherer Zeiten jeweils eine neue Welt erschloß, so eröffnete diese Musik in gesteigertem Maße nie zuvor geahnte Ausblicke in unbetretenes Neuland. Der formale Aufbau des Vorspiels läßt die Aufstellung des chromatischen Hauptthemas (Nr. 18, S. 49) in Barform unmittelbar erkennen^. Nicht minder deutlich ist das diatonische Seitenthema der Violoncelli (132) sowohl als Abschluß des Hauptsatzes wie — in Varianten — als Thema des Mittelsatzes
(132)
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erkennbar, während das Hauptthema schweigt und erst am Beginn der Reprise wiedererscheint. Deren äußeres Bild wird freilich durch Begleitfiguren der Streicher sehr stark verändert, so daß die Deutung, erst der Schlußteil („allmählich etwas zurückhaltend") entspreche dem Vordersatz, mindestens begreiflich ist, so wenig sie der genauem Analyse standhalten kann. In Wahrheit handelt es sich hier um eine Coda mit anschließendem Übergang, die noch ^ Im dritten Takt erscheint hier der „Tristanakkord", eine Harmonie, zu der beispielsweise auch Beethoven in seiner Klaviersonate op. 31 Nr. 3 im 36. Takt des ersten Satzes ohne weiteres gelangt, die dort aber als Umkehrung der Mollsubdominante mit hinzugefügter Sext eine ganz andere Bedeutung hat und eine entsprechend andere Fortschreitung verlangt. Auf dem Höhepunkte der Einleitung gelangt indessen Wagner selbst zu dieser Deutung und notiert den Akkord demgemäß mit F-Ces-Es-As (statt des ursprünglichen F-H-Dis-Gis). Für einen Augenblick herrscht damit die Mollsubdominante von Es-dur. Aber schon im nädisten Takt kehrt die herbere Fassung in der Grundtonart a-moll zurück.
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einmal auf das Haupt- uad Seitenthema zurückgreift. Man könnte also dem thematischen Bogen (25 + 38 + 22 Takte mit 27 Takten Coda und Übergang) einen dynamischen Bogen von abweichender Gliederung gegenüberstellen (25 + 60 + 27 Takte), der seinerseits „einen dramatischen Konflikt schon ins rein musikalische Geschehen trägt®". Auf keinen Fall aber kann von irgendwelcher uferlosen Schwelgerei in Klängen einer brennenden, durdi nichts zu stillenden Sehnsucht gesprochen werden. Vielmehr erweist sich gerade angesichts des Tristanvorspiels die Vermutung als gerechtfertigt, die Thomas Mann in seinem Züricher Vortrag über den Nibelungenring ausgesprochen hat: daß man sidi nidit unbedingt auf Versicherungen Wagners stützen dürfe, „ihm sei das Gefühl alles, der Verstand nichts; seine Kunst wende sich nur an jenes, dieser dürfe nicht mitreden". Mann hebt hervor, daß es geradezu „Selbstmißverständnisse der Künstler" gebe, und führt hierzu Wagners eigenes Wort an: „Schlagen wir die Kraft der Reflexion nicht zu gering an. Das bewußtlos produzierte Kunstwerk gehört Perioden an, die von der unsern fernab liegen; das Kunstwerk der höchsten Bildungsperiode kann nicht anders als im Bewußtsein produziert werden^." Mit dem Aufgehen des Vorhangs („zeltartiges Gemach auf dem Vorderdeck eines Seeschiffes") ist von der Höhe das Lied eines jungen Seemanns zu hören (Nr. 50, S. 77). Isolde vernimmt die Worte. „Lebhaft" setzt am Ende des unbegleiteten Gesanges das Orchester ein. Wenigen Worten Isoldes erwidert zum „Seemannsmotiv" (50) im Orchester der ruhige Es-dur-Satz Brangänes, zugleich eines der schönsten Duette zwischen Singstimme und Orchester, die Wagner jemals geschrieben hat. Isoldes Zornesausbruch aber wandelt das Motiv von neuem ab. Die zuvor nur mit Mühe verhaltene Erregung bricht sich nun gewaltsam Bahn und bewirkt damit eine Steigerung, wie sie sich in einem so frühen Zeitpunkte des Geschehens bei Wagner sonst nicht findet®. Den Abschluß der insgesamt achtteiligen bogenförmigen Gliederung bildet nach der Wiederkehr des Seemannsliedes eine Coda, die das Todesmotiv aufstellt (Nr. 71, S. 97). Gegenstand der zweiten Periode (F-dur bzw. d-moll) ist die Aufforderung Isoldes an Tristan. Frage und Antwort sind in eine rezitativische Sprache von vollendeter Form gekleidet, namentlich, als nach einem Zwischensatz des '
Lorenz, Tristan und Isolde, S. 24.
* A. a. O., S. 479. ' Angesidits der besonderen musikgeschiditlichen Stellung des Tristan Ist die Vermutung nicht v o n der H a n d zu weisen, daß das hier gegebene Beispiel einer übersteigerten musikdramatischen Ekstatik bei Wagners Nadifolgern Schule gemacht und schließlich zu dem Übermaß orchestralen Aufwandes geführt habe, der die weitere Entwicklung angefangen v o n Richard Strauß (Salome und Elektra) bis zu Sdiönberg (Moses und Aaron) kennzeichnet.
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Orchesters Brangäne vor Tristan ersdieint und ihm Isoldes Botsdiaft überbringt. Die rein musikalischen Symmetrien im einzelnen wie der durchgehende Ton höfisdier Zurückhaltung in der steten Wiederkehr bestimmter melodischer Wendungen werden dabei ohne weiteres deutlich. Kurwenals Antwort gibt in klarem Volksliedton den Abschluß. Ein Übergang, der gewisse Wendungen des Gesprächs in Wort und Melodie wiederholt und damit die selbständige Stellung der Gesangsstimme womöglich nodi stärker hervorkehrt, führt zur Erzählung von Tantris und damit zur dritten Periode (e-moll). Ein Hauptthema (133) in „stürmischer" und „milder" Form (Lorenz) beherrscht als Umkehrung des chromatischen Sehnsuchtsmotivs (18) und damit als Ausdruck der Mattigkeit und Schwädie des siechen Tristan den vollkommenen Bogen. Als dann der Zorn Isoldes von neuem ausbricht,
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folgt als 4. Periode (C-dur) ein Bar mit zwei vierthemigen Stollen (vgl. S. 96). Vollkommenes Ebenmaß schönster Formung der Gesangsmelodie herrscht in Brangänes Antwort (5. Periode, Es-dur; vgl. S. 92—94) und ähnlich in der 6. Periode, einem Bogen, dessen Außensätze von den Zaubertränken handeln, während der Mittelsatz den Chorrufen der Matrosen und dem Erscheinen Kurwenals im Zelt Isoldes gilt (vgl. S. 96—97). Alles aber ist in Dichtung und Musik von einem Adel des Stils beherrscht, in dem sich die,gemessene Form höfischen Wesens auf das vollkommenste ausdrückt. Sehr unmittelbar liegt in solcher Formung etwas von dem, was Thomas Mann als die „vornationalstaatliche europäische Sphäre" empfindet, in der Wagners Seele beheimatet ist. Manche Wendimg der Singstimme, manche eben nur noch andeutende Begleitung des Orchesters in wenigen ergänzenden Akkorden gehört weit mehr dem Bereich des Kammermusikalischen an als der musikdramatischen Symphonik, wie Wagner sie im Nibelungenring entwidielt hat. Gleich den beiden ersten Aufzügen des Siegfried und doch wiederum aus ganz andern Gründen bleibt so die Musik des Tristan weit vom herkömmlichen Operntheater entfernt. Tristans Auftritt steigert die verhaltene Spannung des Geschehens bis zu ihrem äußersten Grade. Unerbittlich hart erklingt zu strenger Rhythmik nachdrüdclidi betonter Streicherakkorde die herbe Melodie der Bläser als Ausdruck des unabwendbaren Schicksals (Nr. 45, S. 70). Sehr gemessen fragt Tristan nach den Wünschen seiner Herrin — und während das Hauptthema (45) sich in der
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Gestalt eines potenzierten Bars immer weiter fortsetzt®, erwidert er Isoldes Vorwürfen wie dem leisen Hohn ihrer Fragen mit kurzen und bestimmten Antworten. Die Erinnerung an Tantris läßt dessen Thema wiederkehren (133), freilich nicht als flüchtige Erwähnung, sondern als Hauptthema einer besondern 8. Periode (Fis-dur). Mit dem neuerlichen Eintreten des „Verhängnismotivs" (45) kehrt das h-moll des Anfangs zurück (9. Periode). „Radie für Morold" ist Isoldes Sdiwur. In neuen Verbindungen, denen sich eine Variante des Tantrismotivs (133) als Nebenthema hinzugesellt, bleibt das Hauptthema (45) weiterhin bestimmend. Zugleich aber tritt die Formung der Singstimme immer bedeutungsvoller hervor. Wendungen wie Isoldes Frage: „Was würde König Marke sagen, erschlüg' idi ihm den besten Knecht?" und gleidi darauf: „Dünkt didi so wenig, was er dir dankt, bringst du die Irin ihm als Braut" oder später die Worte, die Isolde spöttisch ihrem Gegner in den Mund legt: „Mein Herr und Ohm, sieh die dir an: ein sanftres Weib gewännst du n i e . . . " — sie alle reihen sidi den mannigfaltigen Beispielen an, an denen der erste Aufzug sdion zuvor so reich gewesen ist^. Thematisdi meist völlig selbständig und melodisch zum Teil von einer Schlichtheit, die die Stärke des Eindrucks wie ein unerklärliches Wunder wirken läßt, sind sie doch immer von der Besonderheit des dramatischen Vorwurfs durdidrungen — während der zweite Aufzug im Raunen der Naturlaute, die den nächtlichen Park erfüllen, mehr und mehr auch den Gesang des Menschen zu einem Teil des Gesamtklanges werden läßt und ihn auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, dem Wachtgesang Brangänes, mit dem Orchester zu vollkommener Einheit verbindet. Angesichts der so ganz andern Art des ersten Aufzugs könnte man hier an einen stilistischen Bruch denken; aber was in der klaren Wortgestalt der selbständig geführten Singstimme erlebt wird, ist zugleich Ausdruck der Welt des „Tages", in der das helle Licht der Sonne den Erscheinungen ihre deutlichen Umrisse verleiht. Wo auch im zweiten Aufzug der „öde Tag" wiederkehrt, da spricht in den Worten Markes wiederum die selbständig gestaltete Singstimme. — Auch die wiederholten Choreinsätze der Seeleute hinter der Bühne erinnern stets von neuem an die Wirklichkeit, der das einsame Paar in seinem Todestrotz entrückt ist. Immer drängender treibt in ihnen zugleich das unaufhaltsame Geschehen vorwärts. Auf dem Höhepunkte entreißt Tristan den Händen Isoldes die Schale mit dem vermeintlichen Todestrank. Ein „Sühxieeid" erwidert ihrem Spott in schwungvoller Deklamation und zugleich streng ' Erster Stollen Bar aus 6 + 6 + 6 Takten, zweiter Stollen Bar aus 3 + 3 + 8 Takten, um das Motiv des Todestrankes bereichert (Nr. 72, S. 97), Abgesang Bar aus 12 + 10 + 28 Takten. ' Isoldes: „Die schweigend ihm das Leben gab, v o r Feindes Rache ihn schweigend barg" und — den letzten Worten an Marke sehr verwandt — : „Das w a r ' ein Schatz, mein H e r r und O h m : wie dünkt euch die zur E h ' ? " , dann die Antwort an Kurwenal (vgl. S. 97), Brangänes und Isoldes: „Kennst du der Mutter Künste nicht . . . ? " usw.
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barförmiger Gliederung (Motiv des Verhängnisses — 45 — im Einklang von Orchester und Singstimme). Als Coda ist ihm das Todesmotiv (71) angefügt: „Vergessens güt'ger Trank, didi trink' ich sonder W a n k ! " Im Sturme der Erregung entwindet Isolde mit den Worten „Mein die Hälfte!" dem Trinkenden nun ihrerseits den Becher. Die Musik leitet mit dem jäh aufschreienden Seitenthema des Vorspiels (Nr. 132, S. 251) und dem fortissimo ertönenden Tristanakkord nadi a-moll und damit zur Reprise der Vorspielmusik über. Ein abwärts sinkendes Tremolo der Violoncelli, als Isolde die Schale zu Boden fallen läßt, tritt als Variation des ursprünglichen Themas hinzu und füllt die Pause zwischen dem ersten und zweiten Stollen des Hauptthemas aus. Ähnlidi folgt bei „Etwas bewegt" (Dreivierteltakt) eine Figur der Violinen und Holzbläser zwischen dem zweiten Stollen und dem Abgesang als Ausdruck der Gebärde, mit der Isolde und Tristan sich „krampfhaft an das Herz fassen" (134). Der thematische Verlauf der Vorspielmusik setzt sich über diese Einsdinitte hinweg unverändert fort und mündet schließlich, um einen Einsatz der Harfe bereichert, in das Seitenthema (132). Nun erst finden die Liebenden Worte, und während von draußen Chorrufe zur Begrüßung des Königs erklingen, zugleich aber auch Brangänes Klage über die „unabwendbar ew'ge N o t " , setzt das Orchester die symphonische Entwicklung des Vorspiels in allen ihren wesentlichen Zügen fort. Die Gesangsstimmen aber vereinigen sich nunmehr im Duett, ohne daß auch nur für einen Augenblick eine opernhafte Wirkung im überkommenen Sinne des Wortes zu verspüren wäre
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In schroffem Gegensatz zu der hymnischen Chromatik des Liebesgesanges setzt sidi eine diatonische Musik von einfachster Art durch, sobald die Vorhänge des Zeltes geöffnet werden und man Ritter und Schiffsvolk, zur Begrüßung des Königs versammelt, erblickt. Zu dem nunmehr akkordisch gestalteten R u f des Schiffsvolkes gesellen sidi Oktaven- und Terzengänge einer Festmusik, die, äußerlich stark betont, im Rahmen des Ganzen dodi nur wie eine flüchtig hingeworfene Zeichnung der Wirklichkeit anmutet. Die volle Tragik des Zwiespalts aber, in den die beiden Liebenden geworfen sind, klingt aus dem schmerzlich-herben a-moll der letzten Worte Tristans: „O Wonne voller Tücke! O truggeweihtes Glücke!" Rauschend beschließen Fanfaren der Trompeten und Posaunen zu lebhaften Sechzehnteln der Bässe in C-dur den Aufzug.
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Einem drohenden Zeichen gleich eröffnet der dissonante Aufschrei des „Tagesmotivs", einer Abwandlung von Kurwenals Ruf „Hei! unser Held Tristan!", die Einleitung des zweiten Aufzugs (135). Die „Bedeiucung" des Motivs liegt also nicht in ihm selbst, sondern wird im folgenden mehr assoziativ erfühlt. Zwar mag der erete schrille Ruf immerhin noch als unmittelbarer Ausdruck der grellen Härte gelten, mit der das Licht des Tageis die Liebenden einander bis zu diesem Augenblick entfremdet hat, und ähnlich kann die später so häufige Wiederholung des verkleinerten Motivs in raschen Sequenzen empfunden werden — in der Hauptsache bleibt es doch ein symphonisdies Motiv, das dazu bestimmt ist, mit immer neuen Abwandlungen vor allem das sogenannte Tagesgespräch zu begleiten, während es nach den drei einleitenden Takten weder im Vorspiel noch in der langen Ausspräche zwischen Isolde und Brangäne wiederkehrt. A' (135)
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Eine unruhevolle Erwartung liegt über dem Thema der Baßklarinetten, das zu synkopierten Triolen der Violinen und Bratschen aus der Tiefe aufsteigt. Es ersdieint nur hier und am Ende des Auftritts, ist also kaum als Leitmotiv im herkömmlichen Sinne anzusehen®. Um so größere Bedeutung kommt dem zweiten Thema zu, einer eigentümlich harmonisierten, chromatisch fallenden, dann wieder aufwärts sequenzierenden Linie der Holzbläser (136). Unter den
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bisher vernommenen Themen Wagners vielleicht das „modernste", entzieht es sich jeglicher Benennung. In der Besonderheit seiner Klangfarbe liegt etwas wie eine fast tonmalerische Beziehung zu dem durch die Nadit schimmernden Lichte der Fackel, deren Sdiein Tristan warnen soll. Daß eine Gedankenverbindung ähnlicher Art dem Musiker vorgeschwebt haben mag, geht aus der mehrfach wiederkehrenden Verbindung mit entsprechenden Worten der Dichtung hervor, so z. B. bei Isoldes Verlangen, daß Brangäne die Flamme löschen ® In stark veränderter Gestalt findet es sldi für wenige Takte, als Tristan und Isolde v o n Marke und seinem Gefolge überrascht werden.
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und damit für Tristan das Zeiidien geben solle, ebenso aber auch, als Isolde endlich selbst die Fackel ergreift und zur Erde wirft. In der folgenden Szene erscheint das Thema bei Tristans Klage: „Das Licht! Das Licht! O dieses Licht, wie lang verlosdi es nicht!" Im Fiebertraum auf Burg Kareol erinnert Tristan sich der Leuchte, die ihn selbst noch nachts von Isolde ferngehalten habe. Sterbend vernimmt er Isoldes Ruf, und mit den Worten „Wie, hör' ich das Licht? die Leuchte, ha!" taumelt er der atemlos Hereineilenden entgegen. Im Augenblick der äußersten Steigerung verschmelzen die Sinnesempfindungen miteinander. — Eine herbe Harmonik kennzeichnet das dritte Thema der Einleitung (137): eine Gebärde stürmisch-leidenschaftlicher Umarmung, die sich am Ende des Aufzugs zu einem Adagiothema von inniger Hingabe verklärt.
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Mit dem Aufgehen des Vorhangs erklingt hinter der Bühne eine Jagdmusik in Moll. Aus weiter Ferne tönen Signale in F und C durcheinander. Immer weiter nach dem Hintergrunde entschwindend, klingen sie ab lund zu noch in die leise raunenden Stimmen des Orchesters hinein. Zum Lauschen Isoldes leiten Tremoloakkorde der Streicher am Steg und ein Solo der Klarinette den weitgeschwungenen Bogen der 2. Periode ein. Einer träumerisch ungewissen Naturstimme gleich und doch auch von dem Empfinden der beiden Liebenden durchdrungen, wird das chromatische Motiv der Holzbläser (136) nun zum Hauptthema. Brangänes Warnung vor Melot bildet als rhythmisch-melcxiisches Rezitativ den Mittelsatz. Noch einmal tritt damit die menschliche Stimme dem Orchester selbständig gegenüber: in Brangänes mahnenden Worten wird die Welt des Tages vernehmbar, der Isolde sich schon entrückt wähnt. Auch in der 3. Periode (A-dur) stellt sich, als Brangäne den „unseligen Trank" beklagt, der deklamatorische Tonfall ihrer Worte der symphonischen Orchestersprache entgegen. Isolde aber widerspricht der „tör'gen Magd": „Frau Minne kenntest du nicht? Nicht :ihres Zaubers Macht?" In einer Wendung von wahrhaft berückender Schönheit leitet das chromatische Hauptthema (Nr. 18, S. 49) aus dem Tristanakkord zu einem Preisgesang der Minne über: „Des kühnsten Mutes Königin, des Weltenwerdens Walterin, Leben und Tod sind Untertan i h r . . . " Die leicht sich emporschwingende Singstimme erinnert fast an ein 17
von Stein, Wagner
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Arioso. Chromatisdies Hauptthema (18) und Todesmotiv (Nr. 71, S. 97) werden um eine seltsam lodkende Triole bereichert. Als Isolde die Fackel zu Boden wirft, tritt das Todesmotiv im Fortissimo der Blechbläser sdiidcsalhaft drohend hervor, während gleichzeitig Thema 136 in den Holzbläsern abwärts sinkt. In B-dur (5. Periode) setzt die Musik der Einleitung notengetreu ein. Im 20. Takt gesellt sich ein Bewegungsmotiv der Holzbläser hinzu, das sidi als Ausdruck der Gebärde des Winkens, mit der Isolde den Gellebten herbeiruft, von Sekojnden sehr sdinell zu Terzen und Quarten steigert. Eine Sequenz, die dem dritten Hauptthema (der Einleitung (137) verwandt ist, wird in mächtiger „Tristansteigerung®" und zuletzt „sempre fortissimo" zu einem äußersten Höhepunkt der Ekstase emporgeführt. Die ungeheure Anspanming vermag sich einzig in einem jähen Herausbrechen aus dem Wirbel der hemmungslosen Bewegung zu lösen: (atemlos begrüßen die beiden Liebenden einander in einem jagenden Zweiviertelsatz; Frage lund Antwort finden kaum noch Zeit, einander abzulösen, endlich aber einen sich die Stimmen zu einem jauchzenden Zwiegesang in C-dur, der die Tristansteigerung des Hauptthemas in Beethovensdier Freudeekstatik fortsetzt^®. Ein zuerst kaum merklicher Übergang (7. Periode, C-dur) löst (den Zusammenklang der Singstimmen wieder in das dramatische Nacheinander auf und führt, indem er frühere Themen wiederkehren läßt (136 und 135), zu dem großen Variationensatz des Tagesgesprächs (8. bis 11. Periode). Die Grenzen sind hier (im einzelnen derart fließend, und zugleich erweist sich das Tagesmotiv (135) als so unerschöpflich wandlungsfähig, (daß die Herrschaft der „unendlidien Melodie" und mit ihr die Abwesenheit jeglicher formialen Gliederung allerdings besiegelt zu sein scheint. Dieser Eindruck kann gewiß (auch dadurch nicht behoben werden, daß die formale Untersuchung im einzelnen dennoch Grenzen und Einschnitte nachweist. Ebenso deutlich schließt freilich der rein lyrische Charakter des Gesprächs alle Zufälligkeiten im Motivischen aus (vgl. hierzu auch S. 78). Der übliche Bühnenbrauch läßt auf den letzten Takt der 7. Periode (Isolde: .. bot ich dem Tage Tratz") sogleich den zweiten Teil aus dem Abgesang der 11. Periode folgen („Doch es rächte sich der verscheuchte Tag"). Damit entfällt das Tagesgespräch bis auf einen geringen Rest. Seine Grundstimmung wirkt immerhin nodi in der anschließenden 12. Periode nach und erreicht hier im Zusammenklang von Singstimme ujid Orchester sogar einen ausgesprochenen Höhepunkt. Bei den Worten „das Sehnen hin zur heil'gen ' Dieser Ausdruck stammt von Ernst Kurth („Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan", S. 568) und bezeidinet die Tedinik pausenloser, sehr allmählich höher steigender Sequenzen. Lorenz leitet das Verfahren der „Tristansteigerung" aus Beethovens Siebenter Symphonie ab.
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Nacht" nimmt das Todesmotiv eine neue, strenger klingende harmonische Gestalt an. Dann leitet ein Übergang von zwanzig Takten mit einer aufs äußerste verlangsamten Umformung des Themas 137 zu der unvergleichlichen Beruhigung des Tagesmotivs über, die dem Nocturno des großen As-durDuetts vorangeht. An keiner Stelle seiner spätem "Werke hat Wagner eine orchestrale Einleitung geschrieben, deren Aufgabe sich so ganz und gar darin erschöpf!:, eine musikalische Stimmung vorzubereiten. Das Lied „Träume" zu Worten von Mathilde Wesendonk, als Studie zu Tristan entstanden und dem Duett teilweise zugrunde liegend, mochte schon um seiner Sonderstellung willen eine solche Vorbereitung erfordern. Anders als im Tagesgespräch sind nun auch die Umrisse der folgenden Abschnitte vollkommen deutlich erkennbar, obgleich sie sich nicht in allen Fällen mit den tonalen Perioden decken: die beiden Strophen des As-diur-Duetts, Brangänes Wachtgesang mit seinem Ausklang in einer ungemein sanften Codamelodie der Violinen, ein Abschnitt in Ges-dur, dessen träumend zartes Hauptthema (Nr. 55, S. 79) zuvor schon in Brangänes Gesang einstimmig erklungen ist, das nun aber in seiner vollen harmonischen Gestalt die raunenden Stimmen der Sommernacdit noch einmal in einem musikalischen Bilde von höchster Vollendung zusammenzufassen scheint, hierauf am Ende einer langen DurcJiführung die Weise des Liebestcxles: „So stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End, ohn' Erwachen, ohn' Erbangen, namenlos in Lieb' umfangen, ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu
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gesang in die Codamelodie der Violinen aus und lassen Thema 55 nunmehr eine halbe Stufe höher in G-dur folgen. Endlich wird bei „Lebhaft, mit Steigerung" ein H-dur-Absdinitt erreicht (18. und 19. Periode), der den Zusammenklang der Gesangsstimmen fortsetzt und in einer Gliederung von klassischem Ebenmaß zuerst die neue Form des Todesmotivs, hierauf die Melodie des Liebestodes (138) als Hauptchemen durchführt. Ihnen gesellt sidi eine Verklärungsfigur, die gegen den Schluß hin immer stärker vorwärtsdrängt — bis eine „Tristansteigerung" von Thema 137, in der die Liebenden ihrer Umgebung völlig vergessen, die jähe Wendung herbeiführt, mit der ihr Traum zerbricht: von Melot geführt, erscheint Marke mit seinem Gefolge. Eine Anzahl kürzerer Sätze, in denen Erinnerungen an die Jagdmiusik, an das Vorspiel des zweiten Aufzugs, aber audi an die Melodie des Liebestodes im Orchester sdiattenhafl-gespenstisdi vorbeiziehen, stellt zusammen mit den Worten Melots den Übergang zur 20. Periode dar, der großen Szene König Markes. In lang ausgesponnener Deklamation greift Wagner auf die Form des Wort-Ton-Dramas zurück, wie sie in Rheingold und Walküre weithin geherrscht hat. Eine schmerzlidi abwärtssinkende Figur der Baßklarinette sowie die kleine Septime von Markes eigenem Motiv treten vielfadi auch in der Singstimme auf. Stärker nodi als die rein musikalische Symmetrie der Bogenform'^ macht sich dabei die stilistische Einheitlidikeit geltend. Aus der Fülle schöner Einzelheiten sei der D-dur-Abgesang des Mittelsatzes hervorgehoben („Dies wundervolle Weib, das mir dein Mut gewann" bis „die fürstliche Braut braditest du mir dar"), ein Adagiosatz, in dem zuerst das Englischhorn, dann die Oboe das Markemotiv anstimmt, während die Singstimme zu den beiden Stollen wie zu der anschließenden Achtelbewegung einen kunstvollen Kontrapunkt bildet. Dem letzten, sdmierzlidien Ausbruch des Königs folgt zu der wiederkehrenden Einleitungsmusik des ersten Aufzugs Tristans Antwort: „O König, das kann ich dir nicht sagen; und was du fragst, das kannst du nie erfahren." Statt des Seitenthemas der Violoncelli (Nr. 132, S. 251) setzt in As-dur mit Thema 55 (S. 79) der tief-tragische Abschiedsgesang ein, mit dem Tristan sich noch einmal an Isolde wendet, um ihr in das Land voranzugehen, in dem „der Sonne Licht nidit scheint", das „dunkel-nächt'ge Land", aus dem die Mutter ihn entsandt hat. Klänge, wie sie in einer so todessehnsüchtigen Dunkelheit nie zuvor möglich gewesen wären, entrücken die Musik allem, was irgend noch an die Wirklichkeit des Operntheaters erinnern könnte. Isoldes Antwort wiederholt Tristans zweite S t r o p h e ^ ^ u i j , ^ verklingt in einem „dolcisVorderer Rahmensatz von Markes ersten Worten bis „da Tristan midi verriet", schließender Rahmensatz
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bis zu Markes letzten
Mittelsatz potenzierter Bar über das Markemotiv mit Abgesang in D-dur. Tristans erste Strophe wird dadurdi zum Aufgesang eines Gegenbars.
Worten,
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simo" ertönenden Solo der Oboe (Nr. 137, S. 257); ihm sdiließt sidi die Verklärungsfigur aus dem letzten Duett im Pianissimo der gedämpften Violinen an. Der dramatisdie Sdiluß des Aktes, durdi Melots Aufbegehren eingeleitet, führt, während Tristan sein Sdiwert zieht, es dann aber fallen läßt und von Melot verwundet wird, ein Triolenmotiv in lebhaftem Zeitmaß durdi. Ähnlich wie am Ende des zweiten Aufzugs der Walküre und in derselben Tonart (d-moll) drängt sidi damit das so lange aufgehaltene Gesdiehen in wenige Takte zusammen. Eine Kadenz aus dem Beginn des Markemotivs mündet als Coda in den Sdilußakkord. — Hödiste Steigerung der Chromatik, daneben freilich als gesunder Gegensatz zuweilen auch die schlichteste Diatonik, ist das Kennzeichen des dritten Aufzugs. Beim Umgang mit den Korrekturen des zweiten hatte Wagner seinem eigenen Zeugnis zufolge das Bewußtsein gewonnen, das „Allergewagteste und Fremdartigste", das er je geschrieben hatte, gerade in diesem Werk niedergelegt Z.U haben. Hierbei und während der Komposition des „so ekstatischen dritten Aktes" war er sich auch der „sonderbar irrigen Annahme" bewußt geworden, di« darin lag, daß er den Tristan als „leidit zu igebend" angesehen hatte. „Während ich an der großen Szene des Tristan arbeitete", so schreibt er in seiner Selbstbiographie weiter, „mußte ich mich lunwillkürlidi öfter fragen, ob ich denn nicht wahnsinnig sei, soldies einem Verleger zum Druck für die Theater übergeben zu wollen. Nidit einen Schmerzensakzent hätte ich aber aufopfern mögen, obwohl alles midi selbst auf das äußerste quälte." Das Bekenntnis ist für den Künstler bezeichnend. Von den Zeugnissen einer Überlieferung umgeben, in der sidi noch nirgends der Zug zu wahrhaft Neuem bemerkbar machte, mußte er des Wagnisses inne werden und es dennoch um der künstlerischen Wahrheit willen bewußt auf sich nehmen, .auch wenn es ihn in die „größten Nöte" versetzte. Niemals aber hätte er eben dieses Neue um seiner selbst willen geschaffen — ein Charakterzug, der ihn von den in der Kunst der Gegenwart herrschenden Strömungen allerdings grundlegend scheidet. Bis zu weldier Höhe Wagner die Form des symphonischen Orchestersatzes auf dieser Stufe seiner künstlerischen Entwicklung gesteigert hat, kann durch einen Vergleich der einleitenden f-moll-Periode des dritten Aufzugs mit der Themenaufstellung im ersten Satz von Beethovens Eroica verdeutlicht werden (vgl. Anhang Nr. 3). Freilidi sagt eine solche formale Untersuchung nichts über die Zusammenhänge im musikdramatischen Sinne aus. Alfred Lorenz betont in einer Betrachtung über diese Frage'® den Vorrang des musikalischen Formgefühls und weist darauf hin, daß sich die Grundstimmung aus der " Alfred Lorenz: Tristan und Isolde, S. 136.
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bogenförmigen Symmetrie und damit aus der Wiederholung der ganzen Vorspielmusik zu den Worten Kurwenals und des Hirten ergebe, mithin keineswegs einfach aus der Bühnendramatik komme. Wer das Gegenteil annehme, solle sich ausmalen, „wie die Szene zwischen Kurwenal und dem Hirten aussehen mülke, wenn jemand bei ihrer Komposition vom rein dramatisdidiarakteristisdien Vorgang ausgehen wollte". Hierzu möge man sich zunächst ohne Musik vorstellen, auf welche Art etWra Shakespeare „eine Szene zwischen einem Hirten und einem Leibeigenen charakterisiert hätte!" N i d i t ganz zu Unrecht vermutet Lorenz hier die Möglichkeit eines Herabziehens „bis zur Clowniade". Auf keinen Fall hätten aber Kurwenal imd der H i r t diejenigen Züge angenommen, die nun zur Reprise des Vorspiels „nur die allerfeinsten Ausbiegungen aus der Grundstimmung" zulassen. Eben hierin liegt, wie schon früher gezeigt worden ist, der gerade nur angedeutete Hintergrund einer Umwelt, der Tristan und Isolde in Wahrheit nicht mehr angehören (vgl. S. 159). Wie schattenhaft alles äußere Sein in Tristans Seele weiterlebt, wird musikalisch und dichterisch aus dem Ineinander zweier grundverschiedener Stimmungen in der nächsten Periode ersichtlich. Der Gegensatz ist freilich überwiegend bloßer Schein. Denn bei aller Freude Kurwenals über das Erwachen Tristans spricht zugleich doch aus jedem seiner Worte die Anteilnahme am Schicksal seines Herrn. Ein Ton der Herzlichkeit, der den treuen Diener Tristans im weitern Verlaufe des Aufzugs immer deutlicher von der schmeichlerisch-kühlen Art Brangänes unterscheidet, rückt ihn ein wenig in die Nähe von Hans Sachs — so daß endlich auch seine Sprache unverkennbar meistersingerliche Züge annimmt und die Nachbarschaft von Wagners nächster Dichtung verspürbar wird. Niedergeschlagen antwortet er der ersten Vision Tristans von der Ankunft des Schiffes (7. Periode, As-dur): „Noch ist kein Schiff zu sehn." Von neuem kehrt zugleich die traurige Weise des Englischhorns auf der Bühne wieder, die „alte, ernste Weise", wie Tristan sie nennt — nun über eine lange Entwicklung hinweg das unerschöpflich wandelbare H a u p t -
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thema des Orchesters zum Kontrapunkt der Singstimme (Nr. 139, S. 262)^*. Sie schweigt erst mit dem Augenblick, da Tristan in einen Fluch über den Trank ausbricht. Zum Fortissimoeinsatz des Tristanakkordes tritt ein neues, wild bewegtes Thema ein, das in seiner rhythmischen Zerklüftung bei Wagner kaum seinesgleichen hat, als es „schnell und heftig" den Aufschrei Kurwenals begleitet: Tristan ist in Ohnmacht gesunken und dem „schrecklichen Zauber" erlegen, den Kurwenal nun vergebens beklagt. In größtem Gegensatz zu diesem ungeheuerlichen Atisbruch leitet eine Verlangsamung „sehr gedehnt" in den langen E-dur-Satz der 11. Periode über, ein Adagio, das von der beseligenden Ruhe eines vollkommenen Glücksgefühls erfüllt ist. Leise pochend bereitet der Tristanakkord in synkopischen Rhythmen das Traumbild vor, in dem Tristan zu einer zart verklärenden Abwandlung des chromatischen Hauptthemas (Nr. 18, S. 49) das Nahen Isoldes erblickt. Zu äußerstem Pianissimo gedämpft, setzt in den Hörnern als Begleitung einer immer seliger sich aussingenden Gesangsstimme das Nocturnothema aus Brangänes Wachtgesang ein (Nr. 55, S. 79), nun aber aus dunklem Ges zu lichtem E-dur gewandelt. Dann hebt sehr allmählich zu empordrängenden Bässen^® eine gesteigerte Bewegung an, die das Traumbild Tristans in die Wirklichkeit des nahenden Sdiiffes verwandelt. Zuletzt stimmt auf der Bühne das Englisdihorn die lang ersehnte lustige Weise an (140), ein Thema, das in seiner wahrhaft klassisdien Einfachheit bei Wagner völlig vereinzelt dasteht. Ebenso „klassisdi" wirkt auch die Achtelvariation, die den zweiten Soloeinsatz ausfüllt und von ihm sogleich ins Ordiester übergeht (140 a). Die spätere Trübung nach cäsnmoll, als das Schiff hinter einem Felsen verschwindet und die
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„wütende Brandung" einzig in dieser geringfügigen Veränderung Ausdruck findet, entspricht gleichfalls klassischen Vorstellungen. Ganz natürlich bezieht Wagner läßt die weit ausgesponnene Melodie zum erstenmal im 5 2 . T a k t des V o r spiels mit dem f ihres Anfangs einsetzen, dagegen beim Abgang des Hirten mit dem g vor dem Oktavenmotiv, nach Tristans Vision mit dem Ges des 3 0 . Taktes usw. E r s t der sechste Einsatz kehrt zum anfänglidien Beginn zurück: ein offenbar absolutmusikalisdies, „dramatisch" nidit zu begründendes Formenspiel. " E s handelt sich dabei um die Melodie „Barg im Busen uns sich die Sonne" am Beginn der zweiten Strophe des As-dur-Duetts im zweiten Aufzug.
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sich die Reprise mit dem Solothema in seiner ursprünglichen Gestalt (140) auf den Augenblick, da das Schiff wieder zum Vorschein kommt, so daß der Gleichklang des dramatischen Gesdiehens mit der Folge Thema—Durchführung —Reprise -vollkommen ist. Dem Vorherrschen strenger Rhythmik folgt, als Tristan allein zurückbleibt und im Fieberwahn seine Wunde aufreißt, unruhiger Taktwechsel. Die vorher aufgetretene Baßmelodie (vgl. S. 263, Fußnote 15) und Thema 55, z. T. forte und von den Bässen einstimmig weitergeführt, geben zusammen mit Erinnerungen an das Liebesduett des ersten Aufzugs der neuen Periode (Nr. 13, C-dur) etwas Durchführungsartiges. Als Isolde atemlos herbeieilt, klingen die Melodie der verlöschenden Leuchte (Nr. 136, S. 256), das Todesmotiv (Nr. 71, S. 97) und eine Gegenstimme der Violinen, Klarinetten und Hörner (die oben erwähnte Baßmelodie rhythmisch verändert) fortissimo ineinander, so daß für einen Augenblick die Tonalität nahezu aufgehoben ist. Sterbend sinkt Tristan in Isoldes Armen zu Boden. Ein neues Thema, tragischer Ausdruck des „ewig-kurzen, letzten Weltenglücks" beherrscht neben der Verklärungsfigur (vgl. S. 260) den Abschied Isoldes von dem Toten. Als sie bewußtlos über Tristans Leiche zusammensinkt, stimmt das Orchester bereits die Weise ihres Liebestodes an (Nr. 138, S. 259). Aber eine neue Wendung läßt das Thema plötzlich abbrechen. Gemurmel und Waffengeklirr aus der Tiefe kündigt das Gefolge König Markes an. Die Wiederkehr der traurigen Weise läßt Unheil ahnen. Mit dem nun beginnenden dramatisdnen Ablauf der Ereignisse (zur Musik vgl. S. 99—100) scheint nach dem Klassiker der Musik in einer eigenartigen Parallele der Klassiker des Dramas zu Worte zu kommen, sofern Katastrophen von solcher Art — bei denen Menschenleben mitunter etwas allzu unbedenklich geopfert werden — als Eigentümliciikeit des klassischen Dramas bis hin zu Shakespeare gelten dürfen. Als Marke und Brangäne schließlich allein zurückbleiben, kehren ihre Themen als Erinnerungsmotive wieder. Isolde aber hat „nichts um sie her vernommen". Sie erhebt sich langsam. „Sehr mäßig beginnend" ertönt die Weise, in der ihr der Abgeschiedene noch einmal lebend erscheint (138). Von ihr getragen und in der Verklärungsfigur alles Glüds der Vereinigung jenseits des täusdienden Tages verkündend, hebt sich die Singstimme, „Wonne klagend, alles sagend, mild versöhnend", empor zu den Bereidien des reinen Klanges, zu „des Weltatems wehendem All", in dem die Todessehnsucht sicJi erfüllt. Für einen Augenblick: wird die getragene Melodie beseligender Umarmung (137) dem E-dur-Thema Brünnhildes und ihres Abschieds von Wotan verwandt, als wären dort, wo einzig nocJi die Sprache des reinen Gefühls erklingt, alle Unterschiede irdischen Seins aufgehoben. Aber schon in den nächstfolgenden Takten kehrt das Thema, von Harfen umspielt, zu seiner eigentlichen Gestalt zurück und geht endlich, zu Vierteln vergrößert, in den allerletzten
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Ausklang des diromatisdien Hauptthemas (18) über. Lang ausgehalten, steht der H-dur-Dredklang erlösend am Ende. 8. D I E MEISTERSINGER V O N NÜRNBERG Mit der Chromatik des Tristan ist Wagner wider Willen zum Urheber neuer Entwidilungen geworden, in denen, was ihm selbst nur Mittel zum Zweck sein konnte, nunmehr zum Selbstzweck erhoben wurde. Die Meistersinger aber fügen sich mit ihrer klaren Diesseitigkeit nicht im mindesten dem Bilde des Romantikers, der in Tristan die Weltanschauung der Todessehnsucht gestaltet haben soll. Musikalisch ist darum alles, was eben noch als „endgültige Überwindung" alles Bestehenden angesehen werden konnte, mit einem Male wieder aufgehoben — keineswegs freilich, wie man sehr deutlich empfindet, im Sinne einer Umkehr, denn die Vollendung des Nibelungenringes geht danach unverändert weiter und folgt siditlich den zuvor angewandten Grundsätzen. Schließlich nimmt Parsifal die Chroniatik des Tristan abermals auf, stellt ihr zugleich aber eine ungebrochene, zuletzt sogar vollkommen allein herrschende Diatonik gegenüber. Alle Zweifel über Wagners eigentliche Absichten lösen sich indessen von selbst in der Einsicht, daß er nicht schuf, wie er wollte, sondern durchaus nur, wie er, dem obersten Gebote d.er allezeit ihm heiligen Kunst gehordiend, schaffen mußte. Noch mehr aber gilt von ihm Hans Sachsens Wort unter dem Flieder: „Und wie er mußt', so könnt' er's." Mit erstaunlicher, ja fast ans Wunderbare grenzender Sicherheit ging Wagner in Worten und Tönen den neuen Weg, als hätte er nie etwas anderes geschrieben. Aus solcher Unbeirrbarkeit des Schaffens heraus wurden die Meistersinger zu dem, was ihnen ihre einzigartige Stellung verleiht: zu einem Werk, das in sidi alle Vorzüge der Oper vereinigt — ihre Vielgestaltigkeit, die Lebendigkeit des Theaters, namentlich aber die Musizierfreudigkeit —, das zugleich aber alle Nachteile einer Form vermeidet, in der das bloße Mittel der Musik gegenüber dem Drama zum Zweck erhoben wird. Diese Haltung führt zu einer neuen Polyphonie, die sich im Gegensatz zu der vielstimmigen Chromatik des Tristan und deren geringerer harmonischer Bindung deutlich der ältem Überlieferung nähert, ja sidi von ihr mitunter bis ins einzelne bestimmen läßt, ohne doch auf die Freiheiten zu verzichten, wie die musikalische Gestaltung des Gesdiehens sie erfordert. Auch dort, wo Wagner sidi einer mehr homophonen Schreibweise bedient, bleibt seine Thematik ebensosehr vom Stil der polyphonen Musik geformt wie von ihrem Geiste erfüllt. Sie ist sozusagen immer bereit, in wirkliche Polyphonie überzugehen, und nimmt hierzu jede Gelegenheit wahr, die sidi ungezwungen bietet*. ' Es kann also keineswegs nur von einer „Stheinpolyphonie" gesprochen werden, wie
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Für die polyphone Kunst Wagners zeugt sogleich das Vorspiel. „Sehr mäßig bewegt" eröffnet das erste Hauptthema der Meistersinger (Nr. 1, S. 42) mit Gegenbewegungen des Basses und der Oberstimmen einen 13taktigen Stollen in C-dur. Nadi der Unterdominante versetzt, wandelt der zweite Stollen das Achtelmotiv des zweiten Taktes in Imitationen um. Sein 13. Takt leitet mit Trillern in die Quartensequenzen Walters über und damit in den Abgesang (Nr. 74, S. 98). Dieser thematischen Entwicklung folgt nadi einem Sechzehntellauf der Violinen als einziger rein homophoner Absdinitt des Vorspiels das marschartige zweite Hauptthema der Meistersinger. Aus dem „Langen Ton" Heinridi Müglins hervorgegangen, schreitet es in festlidien Bläserakkorden empor. Sein zweitaktiger Stollen (141) wird unverändert wiederholt. Zusammen mit einem Abgesang von vier Takten (Durchführung von 141) entsteht so der erste Großstollen einer potenzierten Barform, in deren Abgesang Thema (1) abgewandelt und durch Imitationen gesteigert wiedererscheint (142). (Beim Aufzug der Meistersinger im dritten Akt — wo
(141)
(142)
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die Themen Walters nun nidit mehr am Platze wären — übernimmt zweite Hauptthema (141) selbst die Rolle des Abgesanges, (142) erscheint noch mit einem Ansatz und leitet in die Schlußkadenz über.) In der Reprise des Vorspiels wird auch Thema (141) nicht mehr homophon behandelt, sondern durch einen Kontrapunkt der Violoncelli
das nur rein und
dies bei denjenigen üblich geworden ist, die ihrerseits Bach erst wiederentdeckt zu haben glauben und die Nachbarschaft der Meistersinger allein schon deswegen als unbequem empfinden, weil sie Wagner für den vollständigen künstlerischen Gegensatz Bachs halten. Immerhin d a r f ein „Ansdiein", der über unzählige Partiturseiten hinweg so folgerichtig gewahrt wird, getrost als bare Münze genommen werden. M a n fühlt sich bei der etwas gekünstelten Leugnung jeder echten Polyphonie in der Musik Wagners an Christian Morgensterns unvergängliches W o r t in „Palmström" erinnert, nach dem „nidit sein kann, was nicht sein d a r f .
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Bässe bereichert, dessen Aditelbewegung sidi bei der „sehr gewiditigen" Wiederholung des Großstollens zu einer Sedizehntelfigur steigert. Reich an kontrapunktischer Bewegung sind die Themen Walters. Eines von ihnen (Nr. 75, S. 98) wechselt in einem leicht parodistisch gefärbten Es-dur-Satz im Staccato der Holzbläser mit dem verkleinerten Thema 1 ab. Das Stimmgewebe erreicht seinen Gipfel in dem doppelten Kontrapunkt, der (1) in den Holzbläsern mit dem Thema des späteren Spottdiors („Scheint mir nicht der Rechte") in den Violoncelli verbindet und die beiden Themen in einen Kampf verwickelt, aus dem das immer höher aufsteigende Spottmotiv schließlich siegreich hervorgeht, während das Meistersingermotiv in die untern Bereidie der Violoncelli und Fagotte hinabsinkt. Hierbei geht es begreiflicherweise nicht ohne harmonische Härten ab. Ein wenig sdiroff mutet auch die anschließende Wiederkehr des Hauptthemas (1) in Posaunen und Trompeten an. Scheinbar schon als Reprise anzusehen, bereitet das Thema deren Eintritt in Wahrheit nur vor. Im eigentlidien Sinne liegt die Wiederaufnahme des Hauptsatzes in der berühmten Dreithemenstelle, die Walters Melodie (76) im Sopran (erste Violinen und Klarinetten, Violoncelli und erstes Horn) mit dem Baß des Meistersingermotivs (1) verbindet (Baßtuben, Fagotte und Kontrabässe), während in der Mitte von Holzbläsern, drei Hörnern, zweiten Violinen und Bratschen das verkleinerte Thema des Langen Tons (141) angestimmt wird. Die breit durchgeführte Entwicklung zeigt die Gegensätze harmonisch vereint. Sie liegt ganz ähnlich auch dem Schluß des dritten Aufzugs zugmnde, als Walter in die Zunft der Meister aufgenommen ist und Hans Sachs den eben noch Widerstrebenden bei der Hand nimmt, um ihn durch das Lob der Kunst mit den vermeintlichen Gegnern zu versöhnen. Nach dem einleitenden Choral (vgl. S. 9 8 — 9 9 ) beginnt die eigentliche Handlung zwisdien Walter, Magdalene und Eva mit einem Parlando der Singstimmen, zu dem das lebhaft bewegte Orchester in leichtem Lustspielton plaudert. Zweimal weiß Eva ihre Begleiterin wegzuschidcen, weil Walter mit ihr allein zu sprechen wünscht, beidemale fällt nach überschwenglichen Reden des Ritters das Reimwort zu „Braut", Magdalene hat nun gar selbst ihr Buch vergessen und verschwindet zum drittenmal in den Hintergrund, aber auch dann wagt Walter erst nach mancherlei Vorbereitungen — und fast wieder zu spät — die entscheidende Frage: „Mein Fräulein sagt, seid ihr schon Braut?" Musikalisch entspricht das zwei sehr frei gestalteten Stollen, die mit Worten Magdalenes beginnen („Nun heißt es: such'" und „Hier ist das Tuch"), während Walters letzte Worte und Magdalenes Ansprache den Abgesang bilden. In der 2. Periode (C-dur) wird die wichtige Frage der Freiung abgehandelt. Die polyphone Führung des verkleinerten Meistersingermotivs im Orchester wird zum Ausdruck meistersingerlicher Ordnung und Gelehrsamkeit. Sie wirkt sogar auf das Motiv Davids ein, indem sie den sdierzando abwärts hüpfenden Sexten der Holzbläser eine Gegenbewegung im Violoncello hinzu-
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fügt. Hier wie später im Gespräch zwischen David und Walter wird das verkleinerte Thema des Langen Tons (141) gern zu abschließenden Kadenzierungen der Singstimme herangezogen. Sehr energisch beendet es so audi die dritte Periode mit einem langgezogenen Triller Magdalenes („wird hier der Junker heut Meister"). Ein kurzes Terzett in C-dur bildet die 4. Periode. Einer kleinen Erinnerung an die alte Oper gleichend, scheint es ebenso wie zuvor der aibschließende Triller der Singstimme die Grundsätze von „Oper und Drama" zu verleugnen. Aber übergroße Strenge der Theorie ist weder Sache des Künstlers noch gar derjenigen unter seinen Gestalten, die sich halb spielerisch, halb im Ernst ihrem Gefühl überlassen. Wie selbstverständlich stimmt danmi Eva in Walters Melodie ein! Von ihm, dem schnell Erkorenen, geführt, folgt sie zugleich der Stimme ihres Herzens: ganz natürlich ergibt sich dadurch eine Engführung als Schlußkadenz des Gesanges. David äußert dazu freilich seine Zweifel. Aber da niemand auf ihn hört — Magdalene zieht Eva mit sich fort, Walter wirft sich in einen Lehnstuhl, lum die Meister zu erwarten —, bleibt das Nachwort dem Orchester allein vorbehalten. Mit der Abgesangsmelodie des Ritters (76) in den Violinen wird es breit zu Ende geführt und durch zwei Echotakte der Klarinetten und Hörner abgeschlossen. Der lustspielhafle Ton des ersten Auftritts wird in dem Gespräch zwischen Walter und David fortgesetzt. Die Lehrbuben sind mit den Vorbereitungen für die Sitzung der Zunfl beschäftigt. Ihre Spottchöre über David gliedern die Aussprache mannigfaltig, immer aber ist zugleich dafür gesorgt, daß alle Handelnden etwas zu tun haben und weder etwa müßig auf der Bühne herumziustehen brauchen noch gar verschwinden müssen, solange die Arie des Helden im Gange und die Anwesenheit des Chors unerwünscht ist. Neben einfadi rezitativischen Abschnitten finden sich melodische Entwicklungen wie Davids Aufzählung der Meisterweisen oder seine Anweisungen über den richtigen Gesang. Sehr viel öfter als sonst verwendet Wagner zum Ausdruck des Spielerischen Triller. Formale Symmetrien treten bei solcher fortgesetzten Bewegtheit und Lebendigkeit zurück oder sind nur in den kleinern Ausmaßen der einzelnen Teile verspürbar, so besonders in dem Spottchor am Beginn der 9. Pericxie (G-dur), der das Motiv Davids in straffer Rhythmik durchführt („Aller End' ist dodi David der allergescheit'st!"). Ein nachfolgender Zwischensatz handelt vom Merker, endlich gibt David mit zwei „breit und derb" vorgetragenen Stollen (Nr. 64, S. 89) den Auftakt zum letzten Lehrbubenchor, einer besdiwingten Durdiführung der Blumenkränzleinweise. Nach der eben noch etwas gelockerten Form beginnt mit dem Auftritt Pogners und Beckmessers sehr gegensätzlich ein wahrhaft meisterliches Ebenmaß der symphonisdien Gestaltung. In ganz natürlichem Einklang mit der zunehmenden Zahl der sich versammelnden Meister steigert sich das Thema der
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Zunftversammlung (Nr. 46, S. 70) zu immer kunstvollem Versdillngungen (10. Periode, F-dur, vgl. Anhang N r . 4). Ein Mittelsatz in A-dur führt zunächst als weitere Meister Kunz Vogelgesang und Konrad Naditigall ein. Mit Walters Wunsch nach Zugehörigkeit zu den Meistern beginnt in F-dur die Reprise des Hauptsatzes. Wiederholt geht dabei die Motivik des Orchesters in die Gesangsstimmen über und führt dadurch zu Melismen, in denen die Linie des Gesanges fast instrumental behandelt wird. Nadi dem Aufruf der Meister durch Kothner leitet die kurze 11. Periode (C-dur) zu Pogners Ansprache an die Meister über (12. Periode, F-dur). Ihre geschlossene Form^ ist frühzeitig bemerkt worden (vgl. S. 73), doch läßt der rein melodisdie Fluß der Singstimme in seiner engen Verbindung mit der polyphonen Orchestersprache in keiner Weise an eine Arie denken. Als dann Hans Sadis für das Urteil des Volkes eintritt, wird die Thematik zunächst etwas freier. Eine neue Melodie, aus dem Meistersingermotiv entwickelt und in Staccatosechzehnteln der Violinen sich zwischen Akkordschlägen des übrigen Orchesters und einer Gegenstimme der Oboe hindurchschlingend, gilt der Stimme des Volkes. Später tritt an ihre Stelle mehr und mehr die Verkleinerung des Kunstthemas (Nr. 142, S. 266) als Ausdruck der Regeln, die die Zunft bewahren soll, von denen Sachs indessen meint, einmal im Jahre wäre es „weise, daß man die Regeln selbst probier'". Sein Vorschlag wie die Zwischenrufe der Meister lassen die Bewegung dennodi nirgends stocken. Erst der Auftritt Walters bringt einen veränderten Ton mit sich. Sein persönliches Motiv (Nr. 14, S. 47) als Hauptthema der 16. Periode (B-dur) ist in seinem kontrapunktischen Aufbau dennoch ganz und gar von meistersingerlichem Geiste erfüllt. Es erscheint an dieser Stelle zum erstenmal, obwohl Walter sich seit dem Beginn des ersten Aufzugs auf der Bühne befindet®. Die nun folgenden Antworten auf die Fragen Kothners wie das Probelied in F-dur sind hinsichtlich ihrer Barform bereits erläutert worden (vgl. S. 83, namentlich aber — hinsiditlich des gesamten Zusammenhanges der 16. Periode — S. 98). Der Tumult am Ende des Aufzugs mit dem großen Ensemble der Meister hat äußerlidi Verwandtschaft mit dem üblichen Opernfinale, besonders, als sich auch noch die Lehrbuben hinziugesellen und mit der Weise vom Blumenkränzlein das Gemerk im Reigen umtanzen. Aber schon die einleitende Auseinandersetzung, als Hans Sadis zu einem freundschaftlich-gemütvollen Thema für den Junker eintritt (Nr. 51, S. 77) und dem gallig dazwischenfahrenden " Reprisenbar: 1. Stollen „Das schöne Fest . . . freut sich, wie er m a g " ; 2. Stollen „Die Singsdiul' e r n s t . . . mit L a i e n o h r " ; Abgesang: „Zu einem W e r b - und W e t t g e s a n g . . . E v a , mein einzig Kind, zur E h ' " mit Reprise bei „Dem Singer, der im Kunstgesang". ' Wenn m a n sich an das erinnert, was W a l t e r rein musikalisch audi sonst zu sagen hat, dann erkennt man v o n neuem, was es mit dem angeblichen „Monothematiker" W a g n e r auf sich hat (vgl. S. 75).
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Merker (Nr. 79, S. 105) mit dem leidit ironisch zugespitzten Meistersingermotiv antwortet („Der Merker werde so bestellt, daß weder Haß noch Lieben das Urteil trübe, das er fällt") — worauf Beckmesser in einem selbständigen Sechsachtelsatz auf die Schuhe zu sdiimpfen beginnt, idie Sachs ihm gemadit habe —, ist jeglicher „Oper" völlig fern. Streidier und Fagotte begleiten mit dem Baß der Knieriemenschlagweise (Nr. 10, S. 46) zu Akkorden der Bläser die beginnende Auseinandersetzung. Ganz von selbst klingen damit audi die „hohlen Stimmen" an, durch die Walter sich an den heisern Chor der Raben und die krächzenden Stimmen der Elstern, Krähen und Dohlen erinnert fühlt — ein Bild, das im Ensemble der Meister sein leibhaftiges Gegenstück findet. Damit wird das Geschahen in einen zugleich dichterischen und musikalischthematisdien Zusammenhang eingeordnet, wie ihn die frühere Oper diurdiaus nicht gekannt hat. Völlig fern dem überlieferten Operntheater ist endlich der besinnliche Ausklang des Aufzugs. Sadis bleibt allein zurück. Im Orchester stimmt die Oboe zu akkordisdier Begleitung von Hörnern und Klarinetten für drei Takte ein Motiv aus Walters Lied an, das den Meister ins Herz getroffen hat (143).
(143)
Während er gedankenvoll nach dem leeren Singstuhl blickt, erfassen die Lehrbuben auch diesen und tragen ihn weg. „Mit humoristischiunmutiger Gebärde" wendet Sachs sich ab. In Fagotten und gezupften Streichern setzt das Meistersingerthema (1) einstimmig ein, wird mit der beginnenden Sequenz von den Hörnern, hierauf von Takt zu Takt von den Klarinetten, Oboen und Violinen übernommen und mündet endlich in einige kräftige Sdilußakkorde der Bläser und Streicher. Mehr noch als der erste Aufzug verbindet der zweite thematisdien Reiditum mit volkstümlidier Melodik. In schlichten Weisen und zugleidi doch mannigfaltiger Stimmführung singen die Lehrbuben vom Johannistag, verspotten David in lustigen Imitationen, als er Magdalenes Ruf nicht erkennt, und wünschen ihm zur Ehe Glück: „Der er sein Herz geweiht, für die er läßt sein Leben, die hat ihm den Korb nicht gageben!" Zwei Motive Magdalenes, deren eines schon im ersten Aufzug vorgekommen ist, sind ebenfalls von echt meistersingerlichem Geiste erfüllt. Als David von Sachs ins Haus gewiesen wird, wiederholt das Orchester einen 18 Takte langen Abschnitt aus seinem Auftritt mit Walter, der die sogenannte „Schülerkadenz" enthält, eine
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später noch mehrfach wiederkehrende gemütvoll-zopfige Sequenz. Was zu Davids Worten ursprünglich in spielerisdien sechs Achteln erklungen ist^, wird bei Sadis zum Zweivierteltakt u n d wirkt demgemäß strenger u n d ernster. Noch härter aber f ä h r t die Knieriemenschlagweise (10) drein, eines der H a u p t themen dieses a n Realismen reichen Aufzugs. Sie steht zunächst am Anfang u n d Ende der kleinen G-dur-Periode, die mit dem A u f t r i t t von H a n s Sadis beginnt und bis zur Heimkehr Pogners und Evas vom abendlidien Spaziergange reidit. Friedvolle Feierabendstimmung herrscht in der anschließenden B-durPeriode, in der nach einer langen, motivisch völlig frei geformten Einleitung mit dem Augenblick, d a Pogner und Eva sidi auf der Bank vor dem Hause niederlassen, das N ü m b e r g m o t i v aufgestellt wird (Nr. 56, S. 80). Seine fallenden Quartensequenzen geben die Stimmung des lauen Sommerabends merkwürdig eindringlich wieder; d a ß sie sich auf „Nürenberg, die ganze Stadt, mit Bürgern und Gemeinen" beziehen, bleibt f ü r den Augenblidc unwesentlich. Wohl klingt in Worten und Tönen etwas Festlidies an, das immer deutlidier wird, je mehr die Sequenzen sich steigern. Aber alles begrifflich Erfaßbare tritt fürs erste hinter dem Eindruck der Abendstunde zurück, in deren Dämmerung die Stadt langsam versinkt. Mehr und mehr werden geheimnisvolle Naturstimmen vernehmbar, u n d selbst in dem wiederkehrenden Sechzehntelmotiv Magdalenes, als sie an der Tür erscheint und nach Eva winkt, scheint ganz leise etwas koboldhafl Geisterndes mitzuschwingen, das in diesem Augenblick jedenfalls ganz u n d gar nicht an Magdalene denken läßt. Vollends aber lebt der Zauber der zur Ruhe gehenden N a t u r in dem Streichertremolo am Beginn von H a n s Sachsens Selbstgespräch unter dem Flieder, über dessen Septimen und Nonen „sehr weich" die Terzen aus Walters Frühlingslied in den H ö r n e r n erklingen. Seiner T o n a r t nach immer noch dem vorangegangenen G-dur angehörend und von dem sehr gedehnten Liedthema (143) eingerahmt, füllt es dennoch nur den ersten Teil des folgenden Auftrittes aus, der Fliedermonolog stellt also überraschenderweise keine einheitliche Form dar, sondern f ü h r t mit einem rezitativischen Übergang zur nächsten Periode in F-dur, als H a n s Sadis „heftig und geräuschvoll" seine Schusterarbeit wieder aufnimmt. Die bisher sehr lose gefügten Formen beginnen sich nun zu festigen®. D a sich Wagner indessen in den Meistersingern wie in Parsifal vielfach des Gegen* D a v i d berichtet v o n H a n s Sachs: „Schon v o l l ein Jahr mich unterweist er, daß ich als Schüler wachs'. Schuhmacherei und Poeterei, die lern' ich da all' einerlei; hab' ich das Leder glatt geschlagen, lern' ich Vokal und Konsonant sagen; wichst' ich den Draht erst fest und steif, was sich dann reimt, ich wohl begreif." ' Nach der einleitenden Knieriemenweise (10) und dem Refrain des spätem Schusterliedes bildet Walters Liedmotiv (143) im zartesten Pianissimo der einander ablösenden Violinen, Oboen und Klarinetten zusammen mit einer Fortspinnung zwei barförmige Stollen v o n 13 und 16 Takten. Ihnen folgt als Abgesang „sehr breit" das Liedthema:
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bars bedient, wird die Gliederung im einzelnen hie und da minder übersichtHdi. Um so klarer läßt sich der thematisdie Aufbau im großen erkennen. Während des Gesprächs zwischen Hans Sachs und Eva fußt die Entwicklung ganz und gar auf zwei Themen Evas, selbst dort, wo in einem Mittelsatz von Beckmesser gesprochen wird®. Evchens Angst um Walter findet in der 8. Periode (G-dur) Ausdruck. Thema des Hauptsatzes ist hier ein Motiv von Hans Sachs, das der Sorge des Meisters um den Ritter gilt und schon im ersten Aufzug erschienen ist, als Sachs die Meister vor einem übereilten Riditspruch gewarnt hat. Die Reprise beginnt, als Magdalene aus dem Hause kommt und leise nach Evchen ruft; der Zwischensatz handelt vom Streit der Meister und nimmt Themen Walters (Nr. 14, S. 47), Bedimessers (Nr. 79, S. 105) und Evas auf. Die Gestalt des Merkers tritt nun immer mehr hervor (9. Periode, B-dur, Beginn bei „So sagt mir noch an") und erreicht in dem Staccato der Bläser und gezupften Streicher, die den boshaften Junggesellen greifbar deutlich vor Augen stellen, einen neuen Höhepunkt (79). Von äußerstem Zorn erfaßt, nimmt Eva in der Reprise des Bogens^ selbst das Motiv Beckmessers auf und läßt ihm die Knieriemenweise folgen (Nr. 10, S. 46): „Da riecht's nach Pedi, daß Gott erbarm'!" Vier absdiließende Takte verknüpfen beide Motive miteinander. In ihrer Realistik geht die Musik von da an Wege, die an die beiden ersten Aufzüge des Siegfried gemahnen. Selbst die Liebesszene zwischen Walter und Eva wird davon erfaßt: von äußerstem Sturm und Drang erfüllt, hat sie für schmaditende Ergüsse keinen Raum (vgl. S. 162). Walter kennt nichts als Zorn gegen die Meister. Dem stürmisdien Gesang Evas, in dem sie ihn als Helden des Preises und einzigen Freund begrüßt, erwidert er mit Anklagen gegen diejenigen, bei denen sein Begeistern nur Verachten gefunden hat. Evas Bekenntnis und seine Antwort formen zwei doppelthemige Stollen, die mit Sequenzen aus Evas Motiv beginnen und in Kadenzen der Singstimme enden®. Der Abgesang beginnt mit Walters Kadenz: „Doch diese Meister!" Den Stollen insofern ähnlich, als ein erster Teil® den Rhythmus von Triolen und „Lenzes Gebot, die süße N o t " und die Weise "Walthers von der Vogelweide (Nr. 61, S. 88) mit der sdiönen Sdilußkadenz: „Dem Vogel, der heut' sang, dem war der Sdinabel hold gewadisen". Eine Coda, die ebenfalls aus Walters erstem Lied stammt, leitet zur 7. Periode über, dem Gesprädi zwisdien Sachs und Evdien. • Mittelsatz der Bogenform v o n : „Mit Wachs stridi ich" bis „deren wenig dort zur Stell'", hierauf sehr deutlich die Reprise. ' Mittelsatz: „ . . . dabei laßt uns in Ruh' verschnaufen, hier renn' er uns nichts übern Haufen; sein Glück ihm anderswo erblüh'!" ' Walter bezieht in seine zweite Antwort das Meistersingerthema ein, wodurch der zweite Stollen sidi etwas verlängert. • Ein Gegenbar: sein Aufgesang reidit bis zum letzten a-moll-Takt, dann folgen zwei Nachstollen der Singstimme von je neun Takten.
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Sedizehnteln fortsetzt, beschwört er in der zweiten Hälfte das Bild der Meister, die Walter um sidi zu erblicken meint. Die Musik steigert sich hier in den Motiven Beckmessers (Hörner und Holzbläser) sowie der Meisterkunst (Nr. 142, S. 266 verkleinert in den Violinen) über dem Kontrapunkt gezupfter Streicher zu einer Darstellung von vollkommener Deutlichkeit und Schärfe. Das romantische H-dur-Zwischenspiel des Themas der Johannisnadit (144) — der einzigen Stelle, die die Chromatik der Tristanmusik wiederkehren läßt und das Bild der mittelalterlichen Stadt in eine seltsam zwielichtige Beleuchtung rückt — umschließt den Gesang des Nachtwächters als ersten Zwischensatz einer Rondoform, während der zweite Zwischensatz das Abgesangsthema aus Walters Preislied (Nr. 76, S. 98) als musikalische Liebeserklärung durchführt^®. Eva ist in Magdalenes Kleidern aus dem Hause zurückgekehrt und (144)
hat sieh dem ungeduldig Harrenden „heiter an die Brust" geworfen. Hans Sachsens Knieriemenweise (Nr. 10, S . 4 6 ) leitet zum grellen Schein des Lichtes, das über die Straße fällt und die geplante Flucht vereitelt, zur zweiten Wiederkehr des Johannisnachtsthemas über. Tremolo der Streicher zu einer Gegenstimme der Horner kündet diesmal Unheil an: Beckmesser ist dem Nachtwächter nachgeschlichen und bereitet sich auf sein Ständchen vor, indem er zunächst die Laute stimmt. Zu fortgesetztem Streichertremolo besprechen Eva und Walter sidi flüsternd in raschem Parlando^^. Gleich darauf beginnt sehr geräuschvoll, aber mit der eigentlichen Liedmelodie sofort wieder in das Wagnersche Piano zurückkehrend, das dreistrophige Lied des Schusters. Voll von versteckten Anspielungen ruft es die aus dem Paradies verstoßene Eva an, für die der Engel des Herrn Schuhe machen muß, damit der harte Kies ihrem bloßen Fuß keinen Schmerz bereite. Auch Adam soll mit Stiefeln bedacht werden, um seine Zehe nicht an den Steinen zu stoßen. Evchen sagt von dem Lied: „Ich hört' es schon; 's geht nicht auf mich: doch eine Bosheit steckt darin" — und auf Walters zweite Frage, ob Sachs ihnen beiden cxler dem Merker den Streich spiele, erwidert sie ahnungsvoll: „Ich fürdit', uns dreien gilt er gleich." Beckmesser sucht zwischen den einzelnen Strophen zu Die erste Reprise verknüpft das neue T h e m a ( 1 4 4 ) in H ö r n e r n und Fagotten mit dem B a ß der Knieriemenweise (10) in den Violoncelli — eine Verbindung, wie sie einzig bei echter Polyphonie möglidi ist. " Keine Stelle in Wagners W e r k k o m m t dem alten Seccoreziativ derart nahe; zugleich w a h r t sie dennoch den echten meistersingerlichen Tonfall. 18 von Stein, Wagner
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Worte zu kommen, wird aber von Sachs mit kräftigen Spriidien abgefertigt. Mit dem Einsatz der dritten Strophe ertönt in den Bläsern ein einstimmiges Thema (Nr. 53, S. 77), das dem scheinbaren Humor des Liedes einen Ton schmerzlicher Klage hinzufügt. Erst das Vorspiel zum dritten Aufzug und noch mehr der große Wahnmonolog machen deutlich, was mit der „weichen, tief-melancholisdien Passage" gemeint ist, als die Wagner selbst sie in einem Brief an Mathilde Wesendonk bezeichnet hat: eine Melodie des Verzichts, die sich aus anfänglicher Klage mehr und mehr zu ei-gebungsvoller Entsagung abklärt. Ganz leise deuten Verlangsamungen vor dem Schluß der dritten Strophe auf dieselbe Stimmung hin: „Gäb' nicht ein Engel Trost, der gleiches Werk erlost, und rief mich oft ins Paradies, wie ich da Schuh und Stiefeln ließ! Doch wenn mich der im Himmel hält, dann liegt zu Füßen mir die Welt, und bin in Ruh' Hans Sachs, ein Schuh- macher und Poet dazu!" Beckmesser sudit den Sdiuster zu beschwichtigen (vgl. hierzu S. 104—106). Als alles vergeblich bleibt, findet er in seinem Zorn neue Töne von sprechender Drastik: motivische Bildungen der Singstimme und des Orchesters, die über den Streit der beiden Meister nicht hinausreichen und an ihrem Platz doch genau so sicher stehen, als handelte es sich um regelrechte Leitmotive. Schließlich macht Sachs einen Vorschlag, der das Bild der Musik mit einem Male völlig wandelt: Beckmesser soll singen, er selbst will der Merker sein. Friedlidi wird das verkleinerte Kunstthema (Nr. 142, S. 266) in den zweiten Violinen zum Kontrapunkt der tiefern Streicher in einem E-dur-Satz durchgeführt, an dessen Ende Beckmesser freilich die harte Wahrheit erfährt: nicht mit Kreide will Hans Sachs die Fehler anmerken, sondern „mit dem Hammer auf den Leisten". Ärgerlich gibt der Merker nach. Die eben noch so friedfertig klingende Themenanordnung hört sicJi nun schon wesentlich anders an. Aber die Zeit drängt: so mag Sachs sich denn „als Merker erdreisten". Merkwürdig genug folgt nun in einem Augenblick höchster Spannung noch einmal die Musik der Johannisnacht (16. Periode, H-dur) mit einem kurzen Ensemblesatz, der die Stimmen Walters und Evas zum Teil gleichzeitig mit denen von Beckmesser und Hans Sachs zusammenklingen läßt. Beckmessers erste Strophe (Nr. 58, S. 84) wird durch allerlei kleine Einwürfe des Orchesters im Kontrapunkt zu der durchgehenden Lautenbegleitung belebt. Mit dem Beginn der zweiten Strophe stimmen die Bratschen in die Gesangsmelodie ein und rufen damit schon hier den Eindruck wachsender Unruhe hervor, da zugleich lauch die übrige Orchesterbegleitung immer zusammenhängender wird. Die dritte Strophe endlich steigert sicJi mit dem Triumph des Schusters über seine glücklich vollendeten „Merkerschuhe" zu einem vollständigen Duett. Beckmesser singt atemlos und ohne jede Pause weiter. Endlich weckt er damit die Meister aus ihrem nächtlichen Schlafe. Als David seinen vermeintlichen Gegner von hinten anschleicht und ihn zu
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verprügeln beginnt, ist das Zeichen zu allgemeiner Keilerei gegeben. In vollendeter kontrapunktisdier Verfleditung, aber ohne jede tonmalerisdie Aussdimückung von Einzelheiten wird das neue „Prügelmotiv" (145) mit seinen hämmernden Quarten und medsernden Sequenzen zum Thema eines Fugatos*^ dem sidi später die Ständchenmelodie im Chor der Meister als Baß hinzugesellt.
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Der Fortissimoeinsatz des Johannisnachtsthemas (144) beendet den Spuk. Alles flüchtet vor dem Klang des Nachtwäditerhorns in die Häuser, Sachs bringt Eva an die Haustür und nimmt Walter an der Hand, während er gleichzeitig mit dem Knieriemen David einen Hieb versetzt und ihn dann mit sich zieht. Als der Naditwächter erscheint und etwas ängstlich seinen Gesang anstimmt, ist es auf der Bühne nach allem Tumult genau so still wie am Schluß des ersten Aufzugs. „Sehr ruhig im Zeitmaß" führt ein kunstvolles Ineinander des Prügelmotivs in den Flöten, der Johannisnachtsweise in den Streidiern und schließlich der Ständchenmelodie in den Klarinetten pianissimo zum Ausklang. Ein letztes Nachwort der Ständchenweise in den Fagotten wird durch einen Fortissimoakkord des vollen Orchesters abgeschnitten. — Auf den romantischen Mondscheinzauber der Johannisnacht folgt die feierlich-ernste Sonntagmorgenstimmung des dritten Aufzugs. Am Beginn steht einsam die „weiche, tief-melancholische Passage" der Violoncelli (vgl. S. 274). Zögernd folgen die andern Streicher in imitatorischen Einsätzen. Andacht bleibt die Grundstimmung der Musik, als die Posaunen „sehr feierlich" die erste Strophe des Chorals von der „Wittenbergisch Naditigall" anstimmen und ihrem Ausklang „etwas zögernd" in den Streichern eine selig verklärende Erinnerung an Teile des Sdiusterliedes folgt. Flöten, Klarinetten und Violinen leiten eine Fortspinnung immer höher empor, ganz zart ertönen übermäßige Dreiklänge, und als die Stimmen sehr allmählich wieder tiefer sinken, führen Imitationen ein Motiv Walters (Nr. 75, S. 98) durch, bis in Einsatz des Hauptthemas nadieinander in der Quint (D-dur), dann im Grundton (G-dur), in der Sext und mit dem Einsatz der Gesellen wieder in der anfänglidien Quint. Prügelmotiv und Ständchenmelodie lösen einander nidit nur ab, sondern überschneiden sich. Beetmessers Abgesangsmelodie ( „ W e r sidi getrau', der komm' und sdiau'") bildet einen vollständigen Kontrapunkt zum Prügelmotiv.
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den Bläsern die zweite Strophe des Chorals einsetzt. Nadi der Reprise des Wahnthemas (Nr. 53, S. 77) leitet „molto rallentando" die „Sdiülerkadenz" als letzte und äußerste Verklärung der andäditig-feierlichen Stimmung in das Scherzo des ersten Auftritts über. Als Hauptthema hat hier das Motiv Davids das Wort. Mit ihm beginnt die 2. Periode (D-dur). Die Einheitlichkeit der Musik ist hier ohne weiteres deutlich — .auch dort, wo vorübergehend fremde Motive berührt werden (Beckmessers Ständchen, Prügelmotiv). Davids Lied von Johannes dem Täufer, eine Erinnerung an den Taufchoral des ersten Aufzugs und in seiner volkstümlichen Schlichtheit ein Meisterwerk vollendeter Kunst, steht nicht gesondert für sich, sondern gehört dem Abgesang der barförmig aufgebauten Periode an (vgl. Anhang Nr. 5). Sehr reizvoll nimmt sich auch die Erweiterung des Langen Tons (Nr. 141, S. 266) zu einer Sdierzoweise aus, wie sie hier (und ein zweites Mal in der Auseinandersetzung zwisdien Sachs und Beckmesser) auftritti®. Der ansdiließende Wahnmonolog (3. Periode, C-dur, Beginn subdominantisch) stellt sich mit seinen Erinnerungen an den vergangenen Abend als Folge kürzerer Sätze dar. Hauptthemen sind nacheinander das Wahnmotiv (Nr. 53, S. 77), das Thema Nürnbergs in geschlossener Form (Nr. 56, S. 80) und danach in einer Durdiführung, die in die Quarten des Prügelmotivs übergeht, hierauf das Thema der Johannisnacht (Nr. 144, S. 273) mit dem sdierzando verklärten Prügelmotiv (Nr. 145, S. 275), endlich in C-dur das Motiv des Johannistags (Nr. 48, S. 73) in polyphoner Verbindung mit dem Nürnbergmotiv und zwei Themen Walters (Nr. 74 und 76, S. 98). Sehr viel einheitlidier verläuft das Gespräch zwischen Hans Sachs und Walter. Es beruht im wesentlidien auf dem Motiv der Freundschaft des Schusters zu dem jungen Ritter (Nr. 51, S. 77), das in vielfacher Verflechtung wiederholt auch in die Singstimme übergeht (4. Periode, Es-dur). Ein wenig an die lyrische Einlage alten Stils erinnert die 5. Periode (B-dur) mit einem von Bratschen zart eingeleiteten Arioso: „Mein Freund, in holder Jugendzeit^''". Die 6. Periode (Es-dur) verbindet die Themen der beiden vorangegangenen miteinander und läßt sie mehrfadi zugleidi erklingen. Walter wird von Sachs ermuntert, ihm seinen Morgentraum zu erzählen und damit die Meisterregeln „neu zu erklären". In C^dur bringt die 7. Periode die Entstehung des Preisliedes in der bereits erläuterten Form (vgl. S. 82—83). Mit der wiederkehrenden Haupttonart Es-dur (der 4. und 6. Periode) wird das Freundschaftsthema in der 8. Periode von neuem aufgenommen, nun aber am Ende des Auftritts durch das " Zu Davids W o r t e n : „SoUt' idi nidit lieber Brautführer sein? Meister, adi Meister, ihr müßt wieder frei'n!" Sachs: „Hätt'st wohl gern eine Meist'rin im Haus?" " Sein Thema klingt an Nicolais „Lustige Weiber" an, bleibt aber mit seiner Quartensequenz und der ganz andern Weiterführung doch über alle „Reminiszenz" hinaus vollkommen meistersingerlidi.
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Nümbergmotiv und Walters ritterliches Thema (Nr. 14, S. 47) codaartig bereichert (vgl. hierzu auch S. 80). Mit deim Auftritt Beckmessers (9. Periode, d-moll) beginnt eine stumme Szene, die in Wagners Werk nirgends ihresgleichen hat. Zwar findet sich die Sprache stummer Gebärden oder •wortloser Andacht auch an andern Stellen (Abgang Sieglindes, als Hunding sie ins Sdilafgemach weist imd sie längere Zeit verweilt, um Siegmund mit einem bedeutungsvollen Blick auf das rettende Schwert hinzuweisen; Erscheinen Siegfrieds auf dem Walkürenfelsen; Dienst Kundrys an Parsifal im dritten Aufzug). Nirgends aber wird die Gebärde so wie hier zur Pantomime und kann damit von einer Orchesterspradie begleitet werden, deren Deutlichkeit nach allem Vorangegangenen derjenigen der Wortsprache vollständig gleichkommt''. In diesem Zusammenhange verdient auch erwähnt zu werden, daß das „Merkermotiv" (Nr. 73, S. 98) hier zum erstenmal wiedererscheint, nachdem es zuletzt (und nur mit einer Andeutung seines Nachsatzes) im Beginn des ersten Finales aufgetreten ist. Während des ganzen zweiten Aufzugs konnte der „Monothematiker" (vgl. S. 75) sogar dort, wo ganz ausdrücklich von der Tätigkeit des Merkers gesprochen wird, auf das Motiv verzichten und damit zugleich ein Beispiel für die Möglichkeit des „Fehlens" eines Leitmotivs geben (vgl. hierzu S. 72). Dem thematisch selbständigen Wutausbrudi Beckmessers'® antwortet Sachs ironisch-überlegen. H a t schon zuvor die Drastik von Beckmessers Gesang der Worttonsprache eine ganz neue Note gegeben, so zeigt das Zueinander von Orchester und Gesang nun abermals neue Seiten. Zum Teil lösen sich Instrumente und Singstimme eben nur ab und schaffen damit Spannungspausen, deren Wirkung unmittelbar an das rein gesprochene Drama heranreicht, ohne daß die Gesangsstimme zu bloßer Deklamation gezwungen würde. Der thematischen Erfindung bleibt vielmehr freier Spielraum. Als Beckmesser das Lied geschenkt erhält und Sachs ihm obendrein noch schwört, nie sich rühmen zu wollen, daß es von ihm sei, gesellt sich die Wirkung eines lebhaft wechselnden, immer aber ausdrucksvollen Rhythmus hinzu, der sich bis zu einer Art von Walzer im Dreiachteltakt steigert. Seine Daktylen sind in der Dichtung vorgezeichnet: „Dank' ich euch inniglich, weil ihr so minniglich; für euch nur stimme ich, kauf eure Werke gleich, mache z;jm Merker euch, doch fein mit Kreide weich, nicht mit dem Hammerstreich!" Tanzend nimmt Beckmesser von Sachs Abschied. Staccato geleitet ihn in den Bläsern die Weise vom Blumenkränzlein aus der Schusterstube hinaus. " Das Eindringen in die thematischen Zusammenhänge kommt für den Hörer einem regelrechten „Erlernen" der musikalischen Sprache gleidi und damit einem Vorgang, zu dem es in der frühern Musik schon deshalb kein Seitenstüdi gibt, weil thematische Zusammenhänge — und damit ein Sprachvermögen — objektiv nidit vorhanden sind. " „O Sdiuster voll v o n Ränken und pöbelhaften Sdiwänken! D u warst mein Feind v o n je, nun hör', ob hell ich seh'!" usw.
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Die Fülle der Beziehungen zwischen Diditung und Musik, aber auch — in allerlei versteckten Anspielungen — der Dichtung zu sich selbst steigert sich nun immer weiter, ganz gleich, ob Eva nun klagt, daß der Schaih sie drückt, oder ob Sachs, als Walter die Stube betritt und Eva leise aufschreit, den „Fall" zu begreifen vorgibt: „Kind, du hast redit, 's stak in der Naht." Walter findet angesichts der geliebten Freundin die Deutung seines Traumes und damit die dritte Strophe seines Liedes: „Weilten die Sterne im lieblidien Tanz?" Heftig weinend sinkt Eva am Ende des Liedes Hans Sachs an die Brust, er aber reißt sich wie unmutig los und singt sich in einer Variante seines Schusterliedes allen Kummer und Zorn vom Herzen. Selbst die „jüngsten Mädchen" bekommen es zu hören: „Versteht er sie, versteht er sie nicht, all eins, ob ja, ob nein er spricht, am End' riecht er doch nach Pech und gilt für dumm, tückisch und frech." Derb schlägt die Knieriemenweise mit ihrem übermäßigen Dreiklang drein, wie sie es bei Evas Zornesausbruch im zweiten Aufzug getan hat. Aber die, der die Anklage gilt, wendet sich mit einem Bekenntnis ihrer Liebe an den väterlichen Freund — einer Liebe, die nun erst zur Einsicht in den rechten Weg gereift ist. Immer ähnlicher wird die melodische Linie der Oboen und Klarinetten dem Thema der Sehnsucht Tristans und Isoldes, immer leidenschaftlicher schwingt sich die Singstimme empor: „Doch nun hat's mich gewählt zu nie gekannter Qual; und werd' ich heut' vermählt, so war's ohn' alle Wahl: das war ein Müssen, war ein Zwang!" Dann aber wendet die Melodie sich demütig abwärts: „Euch selbst, mein Meister, wurde bang." In diesem Augenblick, da Hans Sachs sich an sein eigenes Gedicht von Tristan und Isolde erinnert, an „ein traurig Stück", das ihn Klugheit gelehrt habe, so daß er „nichts von Herrn Markes Glück" begehre, öffnet sich noch einmal der Ausblick in eine längst versunkene andere Welt: aus dem Tristanakkord löst sich das einsame Thema der Oboe, steigt wie eine leise klagende Frage empor, wird von der Klarinette weitergeführt und mündet in einen Streichersatz, der in das Motiv König Markes übergeht. Hans Sachs aber reißt sich abermals los und leitet mit einer energischen Kadenz („'s war Zeit, daß ich den Rechten fand, wär' sonst am End' doch hineingerannt!") zur Taufe der neuen Weise Walters über, der „Morgentraumdeutweise". Sinnig bedient er sich hierzu in der Einleitung des Taufchorals, im Hauptteil aber der Tabulaturregeln, wie Kothner sie in der Kirche vorgebracht hat. An die Stelle der zopfigen Kadenzen der Singstimme setzt er indessen die Melodie des Chorals. Ganz von selbst entsteht so ein Bar, in dessen Abgesang David zum Gesellen gemacht wird und zunftgerecht seine Ohrfeige empfängt. Einzig die Traumakkorde gehören einer mehr romantischen Welt an, Ausdruck des „Morgentraums", nicht aber der Weise selbst. Erst das Quintett, lyrischer Ausklang einer langen Folge lebhaft bewegter Auftritte, läßt in Ges-dur die Melodie Walters wiederkehren.
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Steht im Beginn das Stollenthema voran, so tritt dagegen am Ende des Quintetts der Abgesang hervor und bildet danadi den Übergang zum Aufzug der Zünfte. Meistersingerliche Festlidikeit ist hier auf ihrem Höhepunkte angelangt. "Was das Ordiester vorausverkündet, steht in vollkommener Deutlidikeit vor Augen, nodi ehe der Vorhang sich öifnet — namentlich, sobald sich in Violoncelli, Kontrabässen und Fagotten das Meistersingerthema als tragender Untergrund alles dramatisdien und musikalisdien Geschehens meldet, während darüber in Violinen und Bratsdien der Aufschwung des Johannistagsmotivs und mit ihm verkettet die Fanfare der Trompeten erklingt. Die Lieder der Schuster, Schneider und Bäcker bereichern die Thematik um eine Anzahl volkstümlicher Weisen. Vollends von ursprünglidier Echtheit ist aber die Musik des Tanzes, zu der die Lehrbuben die „Mädel von Fürth" im Reigen herumschwenken und sie den zugreifenden Gesellen immer wieder vor der Nase entführen. Dem festlichen Aufzug der Meistersinger mit der vollständigen Reprise des Hauptsatzes der Vorspielmusik, jedoch ohne die Themen Walters, so daß dem abschließenden Triller des Hauptthemas sogleich der „Lange T o n " angefügt wird, folgen Silentium-Chorrufe der Lehrbuben und der feierliche „Wach-auf"-Ghor als Gruß an Hans Sadis. „Unbeweglich, wie geistesabwesend" vernimmt der Meister die Huldigung, und als die Rufe des Volkes im Einsatz des Wahnmotivs „sehr mäßig und zögernd" verklungen sind, umgibt ihn andachtsvolle Stille. Unmerklidi geht der Nachsatz des Wahnmotivs (53) in das Thema der Freundschaft zu Walter über (51) und führt damit die Reprise der Musik herbei, die ehedem die Zunftversammlung eingeleitet hat (46). Nur sehr allmählich steigert sich der Kontrapunkt von Orchester und Singstimme zu einem Loblied der Kunst und des Preises, der ihr hier geworden ist. Gerührt drückt Pogner seinem Freunde Sachs die Hand. Dann aber bringt das Motiv des Merkers (73) eine Trübung: Bedimesser macht sich zum Gesang bereit, obwohl er aus dem Liedtext Walters nicht klug geworden ist. Ähnlich wie im Vorspiel wiederholen sich nun der Es-dur-Satz mit dem verkleinerten Meistersingerthema und der doppelte Kontrapunkt, der den Spottchor des Volkes über die Meistersinger siegen läßt (vgl. S. 267). Beckmessers Lied wahrt natürlich die strenge Barform. D a dem Merker nichts Neues eingefallen ist, greift er auf die Ständchenweise (58) zurüdc. Als er endgültig durchgefallen ist und wütend über den Schuster herfällt, weil der ihm sein „schlechtes Lied" aufgehängt habe, rechtfertigt Hans Sachs sich zu einer Engführung seines Freundschaftsthemas (51) und gibt das Stichwort für Walters Preislied. Um wesentliche Teile bereichert und dennodi den Rahmen des Traumliedes nirgends überschreitend, erklingt nun vor allem Volk die Weise, die Walters Triumph besiegelt. Als aber Pogner den jungen Ritter, „geschmückt mit König Davids Bild", in die Zunft aufnehmen will und der Lange Ton anders
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als sonst in seiner ursprünglichen Form und Tonart erscheint, da weigert sidi Walter: „Nicht Meister! Nein! Will ohne Meister selig sein!" Für einen Augenblick taucht im Orchester die Weise des Quintetts auf. Sachs aber schreitet auf Walter zu und leitet mit dem einstimmig erklingenden Meistersingerthema (1) den großen Schlußgesang auf die deutsche Kunst ein. Bei seiner Warnung vor idem Zerfall des Reiches erinnert Tremolo der Streicher für wenige Takte an die dramatische Sprache des Nibelungenringes, dann aber besiegelt die große Dreithemenverbindung (vgl. S. 267) den harmonischen, im Chor nachdrücklich gesteigerten Ausklang. 9. SIEGFRIED, DRITTER AUFZUG In Tristan und Isolde hat Wagner die „Kunst des Überganges" zu hoher Vollkommenheit entwickelt. Seine letzten Werke steigern die neugewonnenen Möglichkeiten hie und da zu einer Art von musikalischer Prosakunst, bei der sich der thematisdie Aufbau dem DicJiterwort aufs engste anschmiegt, indem er die Übergänge nicht mehr — wie noch in Tristan — nur zwischen die einzelnen Perioden setzt, sondern sie nun auch innerhalb der Perioden selbst wirksam werden läßt. Damit verliert freilich das rhythmische Gefüge hie und da an Übersichtlichkeit. Was insbesondere für den ersten Aufzug des Siegfried oberstes Gesetz gewesen ist und der klassischen vier- und achttaktigen Periode zu erneuter Geltimg verholfen hat, tritt nunmehr wieder in den Hintergrund und weicht einer Gliederung, die sich dem Worte des Dichters stellenweise deutlich unterordnet. Im Vorspiel zum dritten Aufzug des Siegfried herrscht freilich klarste Rhythmik. Die Themen der Götternot (Nr. 122, S. 235) in Tuben, Posaunen und Bässen sowie des Speers (Nr. 2, S. 43), dieses in Engführungen der Blechbläser, formen über dem aufsteigenden Motiv Erdas in Dur (Nr. 116, 5.227) zusammen mit den Wandererakkorden der Trompeten und Posaunen (Nr. 24, S. 50) einen symphonischen Satz einfachster Bauart. Von dem durchgehenden Rhythmus punktierter zwölf Achtel getragen („Ritt"-Motiv), mündet dieser in die absteigenden Harmonien der Schlafakkorde (Nr. 17, S. 49), die hier und im folgenden Auftritt aus der liditen Welt der schlummernden Walküre in die dunkle Tiefe der unterirdischen Welt Erdas übertragen werden. Wotans Zwiesprache mit der Wala steht im Zeichen der dichterischen und musikalischen Dramatik, die Wagner im Nibelungenring zu einer Tonsprache von besonderer Eigenart entwickelt hat. Das immer erneute 2^rückgreifen auf frühere Leitmotive verleiht ihr dabei die unvergleichliche Deutlichkeit, wie sie in diesem Zusammenhang schon der Musik zur Pantomime Beckmessers nachgerühmt werden konnte (vgl. S. 277, namentlich Fußnote 15). Darüber hinaus aber wird sie neben Tristan insofern mehr und mehr zu Wagners persönlichster Leistung, als der Musiker sich hier seine Tonwelt im wahrsten Sinne des
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Wortes erst erschaffen mußte. Während von Kirdienmusik und vierstimmigem Choralsatz Wege zu Tannhäuser und Lohengrin, später auch zu Parsifal führen und sich der Fliegende Holländer auf überlieferte Formen des Liedes und der Ballade, die Meistersinger aber auf die polyphone Kunst früherer Jahrhunderte zurüdiführen lassen, nehmen Tristan und der Ring des Nibelungen eine durchaus andere Stellung ein. In beiden entsteht etwas von Grund auf Neues: eine Musik, die sich, abgesehen von den unabänderlichen Grundlagen des Harmonischen, Melodischen und Rhythmischen, in gar keiner Weise auf fertig Vorgefundenes stützen kann. Hierbei aber bleibt die Musik zum Nibelungenring — anders als die mehr „klassische" des Tristan — keineswegs nur Ausdruck einer inneren Dramatik (vgl. S. 250), sondern wird zur D a r stellung einer mythischen Welt, wie sie nie zuvor in Tönen Gestalt gefunden hat. Ähnlich der Wissenswette zwischen Mime und dem Wanderer dient die Anrufung Erdas vor allem einer Überschau über Vergangenes. Die Musik beruht daher fast ganz auf früheren Motiven namentlich Erdas und Brünnhildes. Erst als Wotans Blick sich dem kommenden Geschehen zuwendet, erscheint in As-dur als neues Thema eine feierliche Linie (146), die den trochäischen Quartenabstieg des Meistersingerthemas zur Sexte erweitert, dann aber den gleichen Tonleiteraufstieg zeigt. Die Erwartung einer Weiterentwicklung, die dem bedeutungsvollen Ansatz entsprechen würde, wird jedoch enttäuscht. D i e aufsteigende Linie endet in der Dominante und bleibt damit nicht nur unabgeschlossen, sondern ermangelt zugleich jeder weiterweisenden Tendenz. Lorenz behandelt das Thema um dieser Eigenheit willen als eine Art von Codagedanken. Aber auch bei seinem spätem Auftreten — wobei es hie und da um einen T a k t erweitert wird (vgl. 146 a) — scheint es dennoch stets wie ins Leere zu verlaufen^. Es wird damit nicht nur zu einem vermutlich ungewollten Sinnbild für den Verzicht Wotans auf die Weltherrschaft, indem sein fragender Ausklang die Nichtigkeit alles fernem Tuns des Gottes in sich zu schließen scheint, sondern, rein musikalisch igesehen, auch zum Ausdruck der etwas gelocicerten Prosaform, von der Wagners Tonsprache hier und im ersten Aufzug der Götterdämmerung besonders fühlbar beherrscht wird.
(146)
' Besonders stark wird dieser Eindrudc im ersten Aufzug der Götterdämmerung, als Brünnhilde Siegfried umarmt.
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Als musikalisdie Coda wirkt deutlidi audi die Reprise verschiedener Wälsungenthemen, während mit dem Übergang zum zweiten Auftritt und damit der fünften Periode (Es-dur) sich neues Leben zu regen beginnt. Ist es zuerst nur der Rhythmus des Waldvogels, der das Nahen Siegfrieds ankündigt, so meldet sidi bald audi das Thema selbst (Nr. 130 b, c, S. 248), zuletzt sogar dreistimmig^. Die Rondoform der Periode mit dem ständig wiederkehrenden neuen Thema Wotans (Nr. 67, S. 91), einer nur hier vorkommenden Abwandlung seines Hauptthemas, ist Ausdruck der Zwiesprache zwischen dem Wanderer und Siegfried (vgl. S. 91). An ihrem Ende steht der beginnende Streit der beiden. Eine durdiführungsartige 6. Periode leitet mit einer langen Entwicklung von Wotans Unmutmotiv (Nr. 59, S. 87) und der Musik des Feuerzaubers als Mittelsatz der Bogenform zu dem verhängnisvollen Abschluß, dem Augenblidk, da Wotans Speer durch Siegfried in Stücke geschlagen wird und das Thema zerbricht (vgl. S. 43). Der Weg zu Brünnhilde ist frei. In einer neuen Umformung verbindet sich der Feuerzauber mit Siegfrieds Hornruf. Anders als am Sdiluß der Walküre wirkt er damit merklich weniger gefühlsbetont und gleichsam objektiver. Erst der Ausklang im Sdilummermotiv Brünnhildes (Nr. 126, S. 239) läßt die Stimmung von Wotans Abschied wiederkehren. Aus der verklingenden Sdiicksalsfrage (Nr. 22, S. 50) löst sich mit den letzten Harfenakkorden ein langes Solo der Violinen, steigt in den Triolen und Achteln des Freiamotivs (Nr. 114, S. 221) immer höher empor und senkt sich dann nach einer einsam ertönenden Schicksalsfrage des übrigen Orchesters im Schlummermotiv Brünnhildes langsam wieder abwärts, bis zuletzt ein wiederkehrender Ansatz des Freiamotivs den Bogen dieser Linie durdi eine Reprise rundet. Musik und Diditxmg stehen von hier an ganz im Banne zartester Empfindungen und gehören einer Welt des Lichtes und der Schönheit an, wie sie selbst in Wagners Werk wenige Seiten stücke aufzuweisen hat. Frickas Melodie aus dem Rheingold („Herrliche Wohnung, wonniger Hausrat") kehrt in Klarinetten und Oboen wieder, leise stimmt das Horn in einem Mittelsatz die Abgesangsmelodie aus Wotans Abschied an, und während Siegfried, in Brünnhildes Anblick versunken, stehen bleibt, verklingt die Reprise der Melodie Frikkas in denselben Synkopen, die sdion den Hauptsatz abgeschlossen haben. Das Ineinander von dramatischer und absoluter Musik wird aus der eigentümlichen Stellung ersichtlich, die gleich darauf der Schwertfanfare zukommt ' Dagegen ist an dieser Stelle kein einziges der Themen Siegfrieds zu vernehmen (vgl. die „fehlenden Leitmotive" S. 72).
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(Nr. 6, S. 44). Poco forte in F-dur ertönend und in Terzenparallelen der Klarinetten übergehend (Nr. 31, S. 53), erscheint sie in dem Augenblick, da Siegfried mit seinem Sdiwert die Panzerringe an Brünnhildes Rüstung durchschneidet. Zugleidi trennt sie damit aber auch den Zwischensatz der potenzierten Bogenform („Sehr lebhaft") mit seiner Abwandlung des Wälsungeeleides (Nr. 63, S. 89) — oft auch Motiv der Liebesverwirrung genannt — vom Hauptsatz. Dementsprechend tritt sie vor dessen Reprise wieder aaif, also nadi den Worten: „ . . . muß die Maid ich erwecken", nun aber, da weder die Handlung noch die Worte der Dichtung sidi irgendwie auf das Sdiwert beziehen, offenbar in rein musikalischer Funktion®. Brünnhildes Erwachen leitet in feierlichem C-dur die sehr ebenmäßig gebaute 8. Periode ein. Die Barform der instrumentalen Einleitung ist hier ohne weiteres deutlich, ebenso ihre abgekürzte Wiederholung zu Brünnhildes ersten Worten. Ein neues Thema, Siegfrieds Liebesgruß (147), klingt mit Brünnhildes Stimme in einem ausdrucksvollen Duett zusammen und schließt gleidizeitig .die Periode ab. Sehr eindringlich steht am Beginn der nächsten C-dur-Periode eine musikalische Gebärde des Entzückens, die bei ihrem ersten Erscheinen allerdings kaum als Einschnitt, sondern eher als Steigerung des Vorangegangenen empfunden wird (148). Siegfried und Brünnhilde stehen einander in heroischer Größe gegenüber. Gewaltig ausladend verkünden Wort und Ton die Wendung des Geschehens. Aber der strahlende Glanz ihrer ersten
(147)
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0 Heil der Mutter,
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IMti isih.
Begegnung weidit alsbald verhalteneren Empfindungen. Brünnhildes Bekenntnis ihrer Liebe zu Siegfried und die schüditern erwidernde Frage des Knaben: „So starb nicht meine Mutter? Schlief die minnige nur?" geben den Themen des Liebesgrußes wie des Entzückens der beiden weichere Umrisse, und als die Walküre sich ihres Rosses Grane und der Waffen erinnert, deren Schutz sie nun nicht mehr beschirmt, gerät die Bewegung ins Stocken. Ein Quarten' Die Reprise ist eine ziemlich freie Abwandlung des Hauptsatzes; sie wird im wesentlidien durch die Wiederkehr der Melodie Frickas und Erinnerungen an Freia gekennzeichnet.
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Sprung und ein seltsam starres, von einem triolisdien Vorschlag eingeleitetes Motiv beherrschen die folgende Entwicklung, und als Siegfried immer drängender begehrt, springt Brünnhilde auf, „wehrt ihm mit höchster Krafl der Angst und entflieht nach der andern Seite". Ein leidenschaftlicher Aufschwung der unbegleiteten Singstimme („Kein Gott nahte mir je") besänftigt sich doch sogleidi und klingt in dem weidben Codamotiv des Walhallthemas aus: „Der Jungfrau neigten scheu sich die Helden, heilig schied sie aus "Walhall." Dann aber tauchen im Orchester Erinnerungen an Wotans Zornesausbruch nach dem Abgang Frickas auf („O heilige Schmach! O schmählicher Harm!"; vgl. S. 234), als Brünmhilde vor sich hinstarrt und „trauriges Dunkel" ihren Blick trübt. Wie hie und da schon in den Meistersingern, in geringerem Maße auch in Tristan, neigt Wagner nun dazu, statt einfadier Motive oder Themen ganze Abschnitte zu wiederholen und sie damit gleichsam zum Zitat zu machen^. Lorenz bezeichnet den Inhalt dieser (zwölften) Periode als Reprise der Motivverbindung „tragische Schiuld®". Indessen folgt dem Zurückgreifen auf geschlossene Formen früherer Musik gleich darauf die sehr selbständige 13. Periode in E-dur mit der nur hier erscheinenden Melodie Brünnhildes „Ewig war ich, ewig bin ich", dem Hauptthema des später komponierten SiegfriedIdylls. Ihr zweites Thema, eine strahlend sich steigernde Harmonienfolge (149) als Ausdruck der Herrlichkeit Siegfrieds, des „lachenden Helden", findet sich ab und zu auch noch in der Götterdämmerung. (Im Siegfriedidyll wird es außerdem kontrapunktisch mit der Melodie Brünrahildes verknüpft, während sich in der Musik des Ringes diese Verbindung nirgends findet.)
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0
Siegfried,
HerrlicherI
Hort d e r W e l t l
iiij, Wie stets in den Werken der Reifezeit Wagners vermag die thematische Selbständigkeit den Zusammenhang des Ganzen nicht im mindesten zu Hierher gehören Bedemessers „Seit mein Schuster ein großer P o e t " und seine Wiederholung durch Hans Sachs im zweiten Aufzug, Davids „Schon voll ein Jahr mich unterweist er" (ebenfalls im zweiten Aufzug wiederkehrend; vgl. Fußnote 4 zu S. 271), Isoldes wörtliche Wiederholung von Brangänes „Kennst du der Mutter Künste nicht?", Tristans Erinnerung an das Land, „dem der Sonne Licht nicht scheint", als er zu Kurwenal vom „weiten Reich der Weltennacht" spricht, u. a. ® Ihre Thematik geht zum Teil auf Frickas Arioso zurück: „O, was klag' ich um Ehe und Eid?"
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beeinträditlgen. Wirkt die 13. Periode in ihrer vollkommenen Bogenform als vorübergehende lyrisdie Beruhigung®, so steigert sidi die vorletzte, 14. Periode (As-dur), mit einer triolisdien Figur, die als ausgesprochenes Bewegungsmotiv wirkt, rasch dem Ende des Aufzugs entgegen. Übergänge verwisdien die sonst so deutlichen Einschnitte. Indessen ist mit der Wiederkehr des ursprünglichen C-dur (a tempo, Thema 146) die sdiließende 15. Periode, eine gewaltige Coda aus früheren Themen Siegfrieds und Brünnhildes, endgültig erreicht. Inmitten der rasch wechselnden Thematik taucht vorübergehend sogar die Baßlinie des Drachenmotivs auf (Nr. 77, S. 100), an dieser Stelle freilich eine etwas seltsame Anspielung auf die Furchtlosigkeit Siegfrieds. Zuletzt erscheinen auf dem Gipfelpunkt einer Musik, die hier eine opernhafle Spradie neuen Stils spricht, die kraftvoll absteigenden Quartensequenzen des Liebesentschlusses (150). Ursprünglich als Thema der fröhlichen Weise des Hirten im dritten
(150)
Aufzug des Tristan gedacht, dort aber durdi Thema 140 (S. 263) ersetzt, wirken sie nun als eine merkwürdig unzeitgemäße Erinnerung an Walter von Stolzing und stellen damit eine dreifaclie Verbindung her, wie sie in Wagners Werk sonst nirgends vorkommt. Brünnhilde und Siegfried aber stürzen einander im Überschwange eines Gefühls, das alle Widerstände besiegt, in die Arme. Ein großes Schlußduett führt ihre Stimmen zusammen und gibt dem Aufzug seinen machtvollen, von der Sdilichtheit der beiden ersten Akte freilich weit entfernten sieghaften Absdiluß. 10. G Ö T T E R D Ä M M E R U N G Mit den es-moll-Akkorden der erwachenden Brünnhilde am Beginn des kurzen Vorspiels schöpft der Musiker aus der Fülle des thematischen Bestandes, ohne irgendweldier weitern Vorbereitung zu bedürfen. Aber der eigentümlich tragisch wirkende Aufschrei der beiden Akkorde mündet nicht mehr in verklärende Harfenklänge: einer düstern Vorahnung gleich steigen aus der Tiefe die Harmonien des Werdens empor, getragen von der Wellenfigur (Nr. 110, S. 217), die das erste Erscheinen des Themas am Beginn des Rheingolds begleitet hat. • Erstes T h e m a (Melodie Brünnhildes orchestral in E - d u r , dann gesungen in e-moll) und zweites Thema ( 1 4 9 ) sind spiegelnd um einen Mittelsatz angeordnet („Sahst du dein Bild im klaren Bach?" bis „nur der Welle schwankend G e w o g ' " ) , der beide Themen sowie das Schlummermotiv Brünnhildes und Siegfrieds Liebesverwirrung durchführt.
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Dunkle Farben bleiben während der ganzen Nornenszene vorherrsdiend. Ein geheimnisvolles Leuditen scheint freilich über dem neuen Thema zu liegen, das mit dem Abgesang des einleitenden Bars auftritt: einer sehr gleichmäßigen Aditelbewegung, die, aus der Wellenfigur abgeleitet, in ihrem sequenzierenden Abstieg Parallel- und Gegenbewegungen miteinander mischt und neben verminderten Septimen- und Nonenakkorden leise auch den „mystischen Akkord" anklingen läßt (vgl. NB. in Beispiel 151).
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Dem Dreigespräch der Nornen mit der mehrfach wiederkehrenden Frage: „Weißt du, wie das wird?" entspricht die Refrainform der Periode. Aber neben den „Fragerefrain" (Lorenz), die tragische Ahgesangsmelodie Siegmunds aus der Todesverkündigung (Nr. 70, S. 94), treten als übergeordnete Gliederung die Akkorde des „Spinnrefrains", eine Verbindung von N r . 151 und Nr. 34 (S. 55), zum erstenmal bei den Worten: „Wollen wir spinnen und singen, woran spannst du das Seil?", später am Sdilusse jedes Gesanges: „Singe, Schwester, dir werf ich's zu" oder „Spinne, Schwester, und singe!" Alles andere vollzieht sidi als Durdiführung früherer Themen (Motive Loges, Wotans, der Göttermacht und schließlich des Ringes) in Zwischensätzen. Es ergibt sidi so eine musikalische Periode von stärkster Ausdruckskraft und schönem formalem Ebenmaß. Mit dem Zerreißen des Seils geht die Szene zu Ende. Düster verklingt das Terzett der drei Schwestern in Alberichs Fluch: „Zu End' ewiges Wissen! Der Welt melden Weise nichts mehr." Eine lang ausgesponnene, allein durdi ihre Klangfarbe wirkende Melodie der Violoncelli über gehaltenen, nächtlich dunkeln Akkorden leitet als Bild des beginnenden Tagesgrauens die zweite Periode ein. Am Ende des 10 Takte langen Stollens wirkt eine neue, akkordisclie Form von Siegfrieds Hornruf (152) wie ein erstes Zeichen sidi regenden Lebens. Am Schluß des zweiten Stollens wiederkehrend, findet sie ihre Fortsetzung in einem Abgesang, der das neue Motiv Brünnhildes aufstellt und in Engführungen zum Höhepunkte des Zwischenspiels mit dem Aufgang der Sonne emporsteigert (153). H a t der Musiker eben nodi die bloße Klangfarbe rein tonmalerisch wirken lassen, so kehrt er mit dem Thema Brünnhildes aus den Bereichen nächtlichen Naturwebens in die Welt der Menschen zurück.
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GÖTTERDÄMMERUNG
Töne einer innigen Fraulidikeit, in denen nur noch der Doppelschlag an das erhabene Pathos der Götterwelt erinnert und zugleidi doch — wie manche Züge auch der Handlung — eine Brücke zu Wagners Jugendwerken hinüber schlägt, klingen aus Brünnhildes Motiv wie aus ihrem Gesang. Eine in Triolen sich emporschwingende, dann abwärts kadenzierende akkordische Figur gilt dem gemeinsamen Entzücken der beiden Liebenden (154). Sie bereichert den
(152)
O
-—
(153)
(154)
f thematisdien Bestand und erfüllt hierin eine Funktion, die die Musik der Götterdämmerung an entscheidenden Stellen immer wieder über die Thematik der drei vorangegangenen Werke hinausführt. Aber ähnlich dem Thema, mit dem Wotan sein Erbe dem Wälsungensohn angewiesen hat (Nr. 146, S. 281), ermangelt das neue Motiv der weiterweisenden Kraft und verspricht mehr, als es zu halten vermag. Für die Symphonik des folgenden Auftritts ist diese Eigenart bezeichnend. Das lebhaft geführte Wechselgespräch läßt manche verheißungsvolle Kadenz unvermittelt abbrechen oder führt im Spiel der Motive zu sdiroffem Nebeneinander thematischer Gegensätze, ohne daß ein vermittelnder Übergang auch nur versucht würde. Eine Entwidmung, die sich schon im letzten Aufzug des Siegfried angebahnt hat, wird damit fortgesetzt und verwandelt die Musik nodi mehr als zuvor in eine Prosa mit deutlich zu verspürenden Nahtstellen. Ihr folgt freilich in der dritten Periode, der Rheinfahrt Siegfrieds, ein Orchestersatz von durchaus entgegengesetzter Art. Nadi den einleitenden Quartensequenzen Siegfrieds (Nr. 150, S. 285) geht sein Hornruf (Nr. 39, S. 56), zu Vierteln vergrößert, mit den Quinten Logas eine kontrapunktische Verbindung von vollendeter Kunst ein. In spielerischer
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Leichtigkeit hüpfen die Staccatotöne der beiden Themen munter dahin, allmählich mischen sich kräftigere Betonungen darunter, rüstig im Baß vorwärtsschreitend kehren die Quartensequenzen der Einleitung wieder — mit einem Male aber wendet sich die Tonart eine Terz hoher nach A-dur, und in glanzvoller Instrumentierung ersdieint das erste Thema aus dem Rheingold zusammen mit der begleitenden Wellenfigur. Es gibt in Wagners gesamtem Werk keine zweite Stelle, die der tonmalerischen Programm-Musik seiner Zeitgenossen und Nachfolger so nahe kommt wie diese Umdeutung eines ursprünglich ganz anders aufgefaßten Themas zum Klangbild des Rheins. Kaum irgend etwas anderes hat denn auch in vergleidibarem Maße — und leider auf eine künstlerisdi so sehr anfechtbare Weise — Schule gemacht. Die unmittelbar zwingende Bildhaftigkeit der Töne nimmt sidi wie eine Vorahnung alles dessen aus, was im Zeitalter des Films seither bis zum Überdruß wiederholt worden ist. Aber indem sie diese Möglichkeit in sich schließt, vermag sie sich dem Vorwurf einer Herabwertung der Musik zum Mittel bloßer Illustration nicht völlig zu entziehen^. Auch die vollständige orchestrale Reprise des Rheintöchterterzetts liegt im wesentlichen auf derselben Linie einer überwiegend programm-imusikalischen Entwicklung. Sie macht dem Hörer freilidi audi bewußt, daß die mychisdie Welt der Götter, Riesen imd Zwerge verlassen worden ist und er im Begriffe steht, gemeinsam mit Siegfried in die durdiaus irdische Welt um Gunther und den Gibichungenhof einzutreten. Nicht ganz ohne Grund geht also in der Musik eine Art von Säkularisierung vor sich. Sehr deutlidie Anzeichen dieser Veränderung sind späterhin noch mehrfadi anzutreffen. Als der Vorhang aufgeht, setzt sogleidi das neue Thema der Gibichungen ein (Nr. 47, S. 70), eine ritterlich klangvolle Musik, an deren Beginn abwärts gerichtete Intervallsprünge auf die Gestalt Hagens hindeuten. Mit ihr beginnt die Vertonung des deutsdien Nibelungenliedes — im Zusammenhang des ganzen Werkes etwas durdiaus Neues; aber die Aufgabe, die damit der Musik gestellt ist, wird von Wagner mit derselben Sicherheit gelöst, die ihn in allem Wesentlichen seit dem Beginn seiner Arbeit am Nibelungenring niemals vom riditigen Wege hat abirren lassen. Klar gezeidhnet und zugleich keiner seiner frühern Gestalten vergleichbar, stehen Gunther, Gutrune und Hagen auch in ihrem musikalischen Bilde vor dem Hörer — Menschen einer fast sdion gesdiiditlidi zu nennenden Welt, die sidi von der noch durchaus mythisch aufgefaßten Umgebung Hundings und seiner Neidinge, der ersten Vertreter des Menschengeschledites in der Handlung des Nibeluugenringes, sehr deutlidi unterscheiden. ' Vergleichsweise sei auf die Alpensymphonie von Strauß hingewiesen, von der einmal gesagt worden ist, sie stelle das Erlebnis des Gebirges so dar, wie es sich dem Touristen mit Fernglas und K a m e r a biete.
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Zwei getrennte Perioden in h-moU führen in den neuen musikalisdien Bereich hinein. Während die erste das Gibidiungenthema aufstellt, hat die zweite eine Baßmelodie von vorübergehender Bedeutung zum Gegenstand, Hagens „In sommerlich reifer Stärke seh' ich Gibichs Stamm", vom Motiv Freias bogenförmig umschlossen. Mit der Erwähnung Brünnhildes beginnt in H-.dur die sehr kurze dritte Periode des ersten Aufzugs, eine Reprise des Feuerzaubers, des Walkürenmotivs und der Stimme des Waldvogels. In der neuen Umgebung wirkt diese Erinnerung an die mythische Welt der vorangegangenen Werke etwas fremdartig. Sie vermag den Eindruck, daß hier um des Leitmotivs willen die thematische Entwicklung allzu gewaltsam unterbrochen wird, nicht ganz zu unterdrücken. Allerdings wird der Gegensatz durch die zurückhaltende Orchestersprache (meist piano und nur ganz zuletzt poco forte) gemildert. Auch Hagens Gesang erhebt sich kaum über eine eben nur andeutende Mittellage hinaus. Ein ähnlicher Wechsel neuer Themen und früherer Motive herrscht weiterhin, doch werden die Gegensätze einander allmählich angeglichen, indem die Gestalt Gutrunes nun auch rein musikalisch immer mehr hervortritt. In zunehmendem Maße wird damit die Thematik der Sagenwelt zu einem Bestandteil auch der gegenwärtigen Handlung. Freilich setzt sich die Umdeutung der einstigen Motive unleugbar in dem Sinne fort, der für Paul Bekker den Abschluß des Nibelungenwerkes stilistisch vollständig umwandelt, indem die einstige Handlung zum reinen Spiel wird und die Handelnden zugleich mit ihren Motiven nur noch „Masken" sind (vgl. S. 127). So wird Siegfried zu Beginn der 6. Periode (B-dur) durch den unheilverheißenden Fludi Alberichs in der Baßtrompete angekündigt. Weiterhin herrscht dann zwar sein Hornruf vor^, als aber Hagen ans Ufer tritt, um nach dem Ankommenden zu spähen, wird die Musik der Rheintöditer noch mehr als im Zwischenspiel von Siegfrieds Rheinfahrt zum Sinnbild des Flusses selbst. Gleichzeitig entfernt sie sich allerdings auch wieder von der rein tonmalerischen Auffassung. Siedfrieds Auftritt stellt sein Hauptthema (Nr. 49, S. 76) in einer mehr akkordisdien Form an die Spitze. Die Stimmung erwartungsvoller Spannung, verbunden mit dem Ton einer gewissen Förmlichkeit in der Begegnung, findet in dem „gemessenen" Zeitmaß treffend Ausdruck. Als Siegfried sich an Hagen wendet» erscheint im Orchester abermals Alberichs Fluch und gleich darauf sein eigenes Motiv in der von früher bekannten harmonischen Verdüsterung, die es dem Fluch Alberichs annähert (vgl. S. 76 und 248). ' Eigenartig wirkt die Übernahme des Rufes in Hagens Singstimme. ' Lorenz behandelt diesen Abschnitt als bloßen „Übergang" von 41 Takten Länge zwisdien der 6. und 7. Periode. 19
von Stein, Wagner
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Dem baritonalen Stiminklang von Gunthers Gruß an den Gast mit den vollstimmig gesetzten Begleitakkorden des Orchesters („Begrüße froh, o Held, die Halle meines Vaters") entspricht aiudi das sogenannte Freundsdiaftsthema Gunthers (155) als Hauptthema eines Reprisenhars (7. Periode, B-dur). Von einer Stimmung des Wohlwollens gegenüber idem Gast erfüllt, gemahnt es doch mit seinen abwärts gerichteten Intervallsprüngen zugleich an Hagen, den offenen cxler heimlichen Lenker des Geschehens. Auch das Rondothema Gutrunes (Nr. 66, S. 91), das Hauptthema der 8. Periode, zeigt in der Gegenbewegung seiner Terzenparallelen zunächst den einleitenden Intervallsprung, im übrigen aber einen deutlichen Anklang an die Führung der Terzengänge in Alberidis Herrschermf (Nr. 25, S. 50), eine Variante .des Liedes der Rheintöchter (S. 50, Nr. 20). Da es später in den sogenannten Hochzeitsruf umgebildet wird (156), ergibt sich somit eine Folge thematischer Beziehungen, die das nächtlich-dunkle Geschlecht der Alben auch rein musikalisch mit den beiden Gibichungen, den Halbgeschwistern Hagens, verknüpft. Das thematische Geschehen im Orchester gewinnt diurdi solche versteckten Anspielungen eine Hintergründigkeit, wie sie der Wortsprache nur auf dem Umweg über rein gedankliche Verknüpfungen möglich ist.
(155)
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Als Siegfried und Gunther Blutbrüderschaft trinken (10. Periode, B-dur), erreicht die Umdeutung früherer Themen einen Höhepunkt. Die Sexten und Quinten Loges, durdi die Erwähnung des Feuers veranlaßt, das Siegfried für Gunther durchschreiten will, um ihm Brünnhilde und damit sich selbst Gutrune zu gewinnen, werden hier und vollends nach dem Trank in ihrer breiten symphonischen Entwicklung zum Ausdruck der Geschäftigkeit Siegfrieds. Als aber Hagen ein Trinkhorn füllt, um es Gunther und Siegfried zu reidien, da wandelt sich das Vertragsmotiv der forte abwärtssdireitenden Posaunen zum musikalischen Symbol irdischer Verträge. Nichts könnte die Ablösung der Götterherrschafl durdi Menschen in ihrer Tragik deutlicher machen als diese Erinnerung an das Thema Wotans und seiner Macht über alle Geschöpfe. Siegfrieds und Gunthers Duett mit den einander ablösenden cxler in Terzenparallelen sich ergänzenden Singstimmen hat seinen Ursprung vor
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allem im Gesang. Triolen, wie sie sidi in dieser Form bei Wagner sonst nirgends finden, erinnern geradezu an die italienisdie Gesangsmelodie^. Das symphonisdie Orchester füllt im wesentlichen nur die Pausen des Gesanges aus. Hagens Wachtgesang (11. Periode, es-moll) leitet in die Welt der Götter zurück. Von stärkster Nibelungenstimmung erfüllt, verknüpft seine Barform in einem ersten Stollen synkopische Akkorde mit dem Tritonussprung Hagens und einer verdüsterten Variante von Siegfrieds Hornruf®. Zugleich wird diese thematische Verbindung harmonisch den Tarnhelmakkorden untergeordnet (Nr. 21, S. 50): Siegfried steht im Begriff, sich durch den Zauber des Helms zu verwandeln und in Gunthers Gestalt vor Brünnhilde zu erscheinen. Eine gespenstische Abwandlung des Rufes der Rheintöchter (Nr. 43, S. 67) macht das nächtlich-dunkle Bild noch eindringlicher, vier ansdiließende Takte in triolischem Rhythmus runden den Stollen ab. Ihm folgt mit der oben geschilderten Themenverbindung der zweite Stollen. Die Harmonien des Tarnhelms münden diesmal in das Siegfriedmotiv aus. Nach einer Kadenz des Entsagungsmotivs leitet die dämonisdi-finstere Linie von Hagens Gesang („Ihr freien Söhne, frohe Gesellen" usw.) den Abgesang ein. E r klingt in Wotans Segen über den Nibelungensohn aus (Nr. 42, S. 67). Was einst in den Worten des Gottes verzweiflungsvolle Vorahnung einer unabwendbaren Zukunft gewesen ist, wird nunmehr Wirklichkeit: „Dünkt er euch niedrig, ihr dient ihm dodi, des Niblungen Sohn." Sehr allmählich leitet eine rein orchestrale Reprise der eben vernommenen Musik® zu Brünnhilde über. In die Wiederkehr ihres Motivs (Nr. 153, S. 287) misdit sich zweimal Alberichs Fluch, dann aber steigen die Terzen des Ringmotivs in beseligender Erinnerung an Siegfried immer höher, und endlich führen die geheimnisvollen Akkorde des Vergessenheitstrankes zusammen mit Thema 149 (S. 284) in den neuen Auftritt hinüber. Brünnhildes lange Aussprache mit Waltraute, durch ein mehrfach wiederkehrendes Motiv der Singstimme eingeleitet („fehlend, ich weiß es"), entwickelt sich mit dem Beginn von Waltrautes Erzählung (14. Periode, fis-moll) zu einem Bar von gewaltigen Ausmaßen, dessen vierthemige Stollen' im * Siegfried: Blut."
„...träufelt'
idi in den T r a n k " ,
Gunther:
„...blüh'
im T r a n k
unser
® D e r zweimalige Ansatz macht den Stollen zum B a r , potenziert also die F o r m . ® Tritonus,
Synkopen
und H o r n r u f wie vorher, dazu Ring-
und
Siegfriedmotiv;
Melodie „Ihr freien Söhne" bis „segelt nur lustig dahin" wie zuvor als Thema des Abgesanges. ' Die Themen der Götternot, Walhalls (an das Motiv des Tarnhelms angeglichen), der Göttermacht und eine breite Entfaltung des Walhallthemas (ähnlich wie am S A l u ß des dritten Aufzugs) werden bei ihrer Wiederkehr im zweiten Stollen zum Teil umgestellt. 19»
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Codamotiv des Walhallmotivs breit ausklingen. Es ist eine Adagiomusik, wie in solcher Weite sie eigentlich nur Wagner zu schreiben weiß — eine Musik des Hineinhorchens in den Klang, die gleichzeitig den fernsten Erinnerungen nachsinnt und längst verwehte Töne in verwandelter Gestalt von neuem beschwört. In Brünnhildes Herzen aber vermag sie keine Teilnahme mehr zu erwecken. Der von Wotan Geschiedenen sind all dies nur noch „banger Träume Mären": „Der Götter heiligem Himmelsnebel bin ich Törin enttaudit; nicht faß' ich, was ich erfahre. Wirr und wüst scheint -mir dein Sinn: in deinem Aug', so übermüde, glänzt flackernde Glut. Mit blasser Wange, du bleiche Schwester, was willst du Wilde von mir?" In schnell zunehmender Steigerung führt der Abgesang schließlich zur Weigerung Brünnhildes: „Geh hin zu der Götter heiligem Rat! Von meinem Ringe raune ihnen zu: die Liebe ließe ich nie." Noch einmal — seit dem Schluß der Walküre so nicht mehr vernommen — erklingt das Entsagungsmotiv in seiner ursprünglichen Form (Nr. 115, S. 223), und während Waltraute enttäuscht davoneilt, kündigt die Musik des Feuerzaubers das Kommen Siegfrieds an. Als indessen Brünnhilde in höchstem Entzücken dem Zurückkehrenden entgegeneilen will, erscheint eine fremde Gestalt. Fortissimo aufschreiend und dann lange gehalten, endlidi in das Motiv des Tarnhelms übergehend, ertönt der mystische Akkord. Die Tragik des Geschehens hat ihren Höhepunkt erreicht und eine dramatische Lage herbeigeführt, die sich — ähnlich wie in den entsprechenden Vorgängen des zweiten Aufzugs — der Vertonung im Grunde widersetzt. Aber die Meisterschaft des Symphonikers vermag auch über diesen Abgrund der Unmenschlichkeit hinweg vermittelnde Brücken zu schlagen, ja zuletzt, als Brünnhilde nach verlorenem Kampfe tief gebeugt in ihr Felsengemach geht, klingen die kraftvollen Oktavsprünge, mit denen Siegfried sein Schwert zieht, „die Treue wahrend dem Bruder", nach all den Schaudern der Täusdiung fast wie Erlösung. Schwertfanfare und Speermotiv treffen gleichzeitig zusammen und münden in den seltsam traulichen Sextenabstieg der Streicher, der an der entsprechenden Stelle nach dem Schwur der Blutbrüderschaft schon einmal aufgetreten ist. Sehr lebhaft beendet hierauf ein Orchesternachspiel in h-moll den Aufzug. Düsteres b-moll eröffnet mit einer nachtschwarzen Musik den zweiten Akt. Wieder herrscht der Rhythmus des Hasses der Nibelungen (Nr. 11, S. 46) und das fahle Licht der beiden Akkorde, die aus dem Herrscherruf Alberichs stammen (Nr. 43, S. 67). Ihnen gesellt sich eine dunkle Baßmelodie, die den spätem Gesang Hagens („Gab mir die Mutter Mut . . . " ) in Bässen, Tuben und Fagotten instrumental vorausnimmt. Am Schluß der Einleitung kehrt ebenso wie schon im Nachspiel zu Hagens Wachtgesang die Melodie „Ihr freien Söhne, frohe Gesellen" in den Trompeten wieder: es sind Erinnerungen an den Ursprung des Leitmotivs aus Gesangsthemen, die seinen Sinn durch die begleitenden Worte der Dichtung unmittelbar deutlich machen (vgl. S. 62).
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Die nächtliche Zwiesprache zwischen Alberich und Hagen wird durch einen Refrain gegliedert, Alberichs Frage: „Schläfst du, Hagen, mein Sohn?" Der regelmäßige Wechsel lebhafter Bewegung zu den Worten Alberichs und langsamen Zeitmaßes bei wiederkehrender Haupttonart, wenn Hagen, scheinbar schlafend, und ohne sich zu rühren, den Einflüsterungen des Alben erwidert, kleidet den Auftritt in eine rondoähnliche Form mit dem Rhythmus des Hasses der Nibelungen als Hauptthema. Alberichs Äußerungen werden zu Zwischensätzen, in denen der Symphoniker auch ferner liegende Themen wie etwa (in g-moll) die Melodie der Rechtfertigung Brünnhildes (Nr. 125, S. 238) oder — seit dem Rheingold zum erstenmal wiederkehrend — den Gesang der Rheintöchter (Nr. I I I , S. 218) einbezieht, freilich nur in Gestalt von Erwähnungen, die die Aufmerksamkeit des Hörers nicht eigentlich auf sich lenken sollen, sondern einzig dazu bestimmt sind, im Zusammenhange des Ganzen auch der scheinbar nebensächlichen Einzelheit ihren Anteil einzuräumen. Die künstlerische Wahrheit der Musik Wagners beruht zu einem wesentlichen Teil auf diesem Gleichgewicht von übergeordneter symphonischer Form und motivischer Kleinarbeit, die die polyphone Verknüpfung thematischer Gegensätze nicht scheut. — GleicJi der Nornenszene (aber auch der Erzählung Wotans im zweiten Aufzug der Walküre, der Wissenswette zwischen Mime und dem Wanderer, der Begegnung Wotans und Erdas am Fuße des Walkürenfelsens) weist die Aussprache zwischen Alberich und Hagen auf vergangenes Gescheihen hin und faßt damit den weitläufigen Stoff zusammen. Abermals wird hierauf das nächtliche Dunkel durch den heraufdämmernden Morgen abgelöst, und ähnlich wie im Vorspiel zum ersten Aufzug steigt aus verlöschenden Klängen dunkler Akkorde eine einzelne Stimme empor, diesmal nicht im Violoncello, sondern in der Baßklarinette. Schneller als früher jedocJi wandelt sich die tonmalerisciie Wirkung bloßer Klangfarben mit dem Beginn dieser zweiten Morgendämmerung zu neuer thematischer Formung. Den kanonartigen Engführungen des Briinnhildemotivs im Morgenlichte des ersten Tages entspricht wiederum ein Kanon: acht Hörner lassen die neue Weise, eine Abwandlung des Hagenmotivs und zusammen mit dem Hodizeitsruf (Nr. 156, S. 290) klangliches Bild des heraufkommenden Tages, in polyphonem Spiel ertönen (2. Periode, B-dur; vgl. Notenbeispiel 157). Hagenmotiv und Tarnhelmakkorde stehen am Übergang zur nächsten Periode, der Begrüßung Gutrunes durch Siegfried. Für die Mannigfaltigkeit in der Einheit, wie sie sich nun immer deutlicher als besondere Eigenart der Götterdämmerungsmusik abzeichnet, stellt die . tr
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neue Periode eines der schönsten Beispiele dar. Dem plötzlichen Erscheinen Siegfrieds entspricht der unerwartete Eintritt seines Hornrufs (vgl. S. 143 bis 144), und ganz ebenso beginnt die Reprise des Hauptsatzes im Einklang mit Siegfrieds Worten: „Durch des Geschmeides Tugend wünscht' ich mich schnell hierher." In beiden Fällen führt das Thema des Hochzeitstages die symphonische Bewegung weiter und läßt die flackernden Sequenzen Loges und Motive Siegfrieds (Hornmf und „Abenteuerlust") folgen. Gutrune wird zunächst durch ihr Thema (Nr. 66, S. 91) eingeführt, dann aber auch durch eine liebenswürdige Figur der Holzbläser und der Singstimme, die nur hier und in der Reprise auftritt. Ihre Fragen nach Siegfrieds nächtlichem Verweilen bei Brünnhilde bilden den Mittelsatz mit fünf Variationen des Tarnhelmthemas. Die vorherrschende Sechzehntelbewegung, die unter anderm auch das Motiv Loges mit den Harmonien des Tarnhelmmotivs verbindet, erfaßt einmal sogar Siegfrieds Stimme in einer Form, die durch die Grundsätze von „Oper und Drama" schwerlich zu rechtfertigen wäre (bei „Frei und hold sei nun mir Frohem! Zum Weib gewann ich dich heut!"). Ähnliches ist freilich schon bei Walter von Stolzing vorgekommen (vgl. S. 268 und 269). Aber mit Hans Sachs kann Wagner hier geltend machen, wie „der Regel Güte daraus man erwägt, daß sie auch 'mal 'ne Ausnahm' verträgt". Hagens Anruf der Mannen (4. Periode, C-dur, und 5. Periode, B-dur) ist in der Einheitlichkeit seiner Form vollkommen durchsichtig. Die Chöre der Mannen beruhen zunächst auf einem eilfertig hastenden Bewegungsmotiv und gewinnen erst später strophisch-chorischen Zusammenhalt, bleiben aber auch dann von der Männerchormusik, wie sie noch in Lohengrin aufgetreten ist, genügend weit entfernt. Hagens Äußerungen sind fast durchweg rein parodistisch: dem Albensohn ist die Welt der Götter bedeutungslos geworden und nur noch Gegenstand seines Spottes. So bedeutet denn das Zitat des Themas der Götterdämmerung (Nr. 117, S. 227) zu den Worten von der „Not", die angeblich gekommen sei und „starke Waffen, scharf zum Streit" erfordere, die äußerste Erniedrigung Wotans und der Lichtalben, die in der Musik irgend möglich ist. Noch etwas weiter aber geht der parodistische Ton in den Melismen der Kadenz: „Alles den Göttern zu Ehren, daß gute Ehe sie geben!" Hier wird das Wort „Ehe" über zweieinhalb Takte ausgesponnen. Der Gedanke an eine beabsichtigte Parodierung des klassischen Kantatenund Oratorienstils läßt sich dabei nicht ganz abweisen. Mit der Ankunft Gunthers und Brünnhildes beginnt in schlichter Harmonisierung ein Marsch (6. Periode, B-dur) mit einem Chorsatz über das Thema der Gibichungen (Nr. 47, S. 70). Gunthers Solo füllt den Mittelsatz und die beginnende Reprise aus. Für wenige Takte klingt eine Erinnerung an Brünnhildes Zagen vor Siegfrieds Werbung an, im übrigen aber bleibt diese Periode die vordergründigste der ganzen Götterdämmerung, ja wohl des gesamten
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Nibelungenringes überhaupt: eine Erinnerung an alte Opernmärsche und -diöre, hinter der man eigentlich nur eine gewollte Alltäglichkeit vermuten kann. Gunthers Gruß an die versammelten Männer und Frauen nennt zuerst die Namen Brünnhildes und seiner selbst, dann das andere der beiden „seligen Paare", Gutrune und Siegfried. Das Verhängnis von Siegfrieds Verrat bleibt so bis zum letzten Augenblidi aufgespart. Brünnhildes jähes Erschrecken läßt den eben noch mannigfach bewegten Orchesterklang in einem plötzlichen Akkordsprung erstarren. Nur ganz allmählich löst sich aus dem drei Takte lang gehaltenen Rallentando die Schicksalsfrage und das Tarnhelmmotiv los (zu den Worten des Chores: „Was ist ihr? Ist sie entrückt?"). Der nun folgende Streit um den Ring und Siegfrieds Untreue findet den Symphoniker zwar ununterbrochen am Werke und läßt nirgends die Lücken verspüren, die sich besonders im zweiten Aufzug der Walküre noch etwas störend bemerkbar gemadit haben, aber Nietzsches Kritik der formalen Zerrissenheit scheint keineswegs durchaus unbegründet zu sein. Lorenz selbst findet innerhalb einer Gliederung, die ohnehin nidit durchaus zu überzeugen vermag, vor allem für die 9. Periode (c-moll, Wutausbruch Brünnhildes) eine nur nodi rhythmiscii zu erfühlende Barform, deren beide Stollen „absolut nichts gemeinsam haben als die dramatische Bedeutung, daß von den beiden Männern, welche hier Brünnhilde den Widerpart halten, jeder seine Stellungnahme festlegt zu Brünnhildes blitzartiger Erleuchtung ,Ha, dieser war es, der mir den Ring entriß'". Der Mittelsatz des bogenförmigen „Abgesanges" legt den Ausdrudi ganz in die Gesangsstimme: „Rauntet ihr dies in eurem Rat? Lehrt ihr mich Leiden, wie keiner sie litt? Schuft ihr mir Schmach, wie nie sie geschmerzt?" Eine sehr deutliche Kadenz schließt Brünnhildes Worte dramatisch ab: „Wisset denn alle: nicht ihm — dem Manne dort bin idi vermählt." Klangwirkungen, von denen später die veristische Oper ausgiebig gezehrt hat, sind hier vorweggenommen. Audi der Schwur Siegfrieds auf die Spitze von Hagens Speer, Hauptthema der 12. Periode („Helle Wehr, heilige Waffe"), lebt musikalisch vor allem aus der Entfaltung der Singstimme. Brünnhilde wiederholt ihn sofort, zunächst wörtlich, dann sinngemäß abgewandelt. In ihrer Erregung verkleinert sie die einzelnen Motive, so daß es im Orchester zu regelrechten Echowirkungen kommt: was Siegfrieds Schwur verhöhnen soll, wird in instrumentalen Zwischenrufen selbst verhöhnt. Nichts könnte die Entzweiung der Liebenden wie ihre Erniedrigung vor den Augen einer neuigkeitslüsternen Umwelt stärker ausdrücicen. Die letzte Periode des Aufzugs, das Gespräch Brünnhildes, Gunthers und Hagens, wird durch das Thema ihres Rachebundes (158) in sechs Abschnitte geteilt, von denen jeder einzelne seine bestimmte dramatische Aufgabe hat: in der Einteilung von Lorenz sind dies A) Brünnhildes Jammer, B) Ver-
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bindung Brünnhildes mit Hagen, C) Verzweiflung Gunthers, D ) Gewinnung Gunthers für den Mord an Siegfried, E) Verscheuchung der Gedanken an Gutrune, F) Racheschwur (als vollständiges Terzett) und zuletzt die Reprise der Hodizeitsmusik in C-dur, nachdem eine dominantische Einleitung mit Gunthers ersten Begrüßungsworten an das Volk sie schon am Ende der 6. Periode vorbereitet hat. Dramatische und symphonische Entwicklung verbinden sich auch hier eng miteinander. Berücksiditigt man die oft sehr deutliche Gliederung der Kleinformen, so scheint sidi als Sdilußfolgerung zu ergeben, daß Nietzsches Kritik weniger durch formale Mängel gerechtfertigt ist als vielmehr durdi eine allzu weitgehende rhythmische Unruhe und eine übersteigerte Harmonik, die in ihrem Dissonanzenreiditum mindestens für die Zeitgenossen Wagners etwas völlig Neues bedeutete®. Mitunter mag sidi hierzu auch noch ein Übermaß orchestralen Aufwands gesellen. Nirgends wird jedenfalls das Wagnersche Piano so häufig und nachhaltig unterbrochen wie in diesem musikalisch so problematischen Auftritt.
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Völlig entgegengesetzt beginnt der dritte Akt nach einem kurzen Orchestervorspiel mit dem Terzett der drei Rheintöchter. Während das einleitende F-dur des achtstimmigen Kanons der Hörner nodi einmal die Thematik des allerersten Anfangs aufnimmt, das Urmotiv des Werdens aus dem RheingoLd — hier als Ausdruck des Naturidylls um das wilde Wald- und Felsental am Rhein —, beruht das Terzett selbst auf neuen Motiven. Nach der düster lastenden Stimmung des zweiten Aufzugs geht es durdi die Musik wie leichtes Aufatmen. Die strophische Gliederung der Gesänge wie der instrumentalen Zwischen- und Nachspiele ist von vollkommener Übersichtlichkeit. Mit dem Auftritt Siegfrieds kommt in die vorher gleichbleibende Tonart einiger Wechsel. Der Rheingoldruf (in einer neuen Harmonisierung) und das Ringmotiv werden flüchtig berührt. Als Siegfried sich weigert, „für eines schlechten Bären Tatzen" den Ring herzugeben, wird ihm der Spott der drei Nixen zuteil. Aber das Unheil, das Floßhilde ihm verkündet, sdireckt ihn nicht. Gelassen steckt er den Ring an den Finger, um dann zu vernehmen, was die Mädchen ihm zu sagen haben. Der dreimal angestimmte Ruf „Siegfried!" harmonisiert den Rheingoldruf nach dem Vorbild von Hagens Wachtgesang (Nr. 43, S. 67) und leitet zur zweiten Pericxle über (f-moll). Das Ringmotiv (in b-moll), Alberichs Fluch ' Sie führt zu so gewagten Verbindungen wie derjenigen des Fafnertritonus mit dem Rheintöchtergesang zu Siegfrieds Erinnerung an den K a m p f vor Neidhöhle.
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Im Einklang der drei Sopranstimmen, das Thema des Radiebundes (158), aber auch die Wellenfigur der Nomen (Nr. 151, S. 286) fügen sich wie selbstverständlidi in den Ablauf der Musik. Endlidi schließt die Reprise des Terzetts den Auftritt ab und verklingt in einem langen Ordiesternachspiel. Siegfried ist allein zurückgeblieben. Aus dem Hintergrunde ertönen der Hodizeitsruf (Nr. 156, S. 290) und Hagens Stimme. Siegfrieds eigener Hornruf antwortet zunächst im Orchester und wandelt sich dann zusammen mit einer instrumentalen Erinnerung an den Gesang der Mädchen zum Hauptthema der 3. Periode in A-dur um. In die kontrapunktische Verknüpfung wird auch der Hochzeitsruf einbezogen. Die anheimelnde Stimmung der behaglich lagernden Jagdgesellschaft findet in dieser Verbindung, besonders aber in einem gemütlichen, marschartigen Thema, das hier ganz vorübergehend auftritt, vollendeten Ausdruck. Erst das Motiv des Rachebundes (158) als Übergang zur vierten Periode (D-dur) läßt düstere Vorahnungen aufkommen. Mehrfach erscheint die Stimme des Waldvogels in der Klarinette als Andeutung der kommenden Dinge, endlich führt Siegfrieds Erzählung aus „jungen Tagen" noch einmal in die schon lange verlassene Welt seiner frühen Jugend zurück (5. Periode, g-moll). „Etwas breit" steht Mimes unvermeidliches Schmiedemotiv am Beginn. Rasch wechselnde Erinnerungen (an Mimes „Starenlied", die Schwertfanfare, das Thema Notungs, Mimes Terzen, die Baßfigur des Riesenwurms) verbinden sich untereinander und mit der Singstimme völlig ungezwungen. Arpeggien der Streicher auf dem übermäßigen Dreiklang leiten zusammen mit dem Thema des Wälsungenleids (Nr. 63, S. 89) sehr zart zur Reprise des Waldwebens und damit zweier Strophen des Waldvogels über, wobei Siegfrieds Gesang das Thema wie die zugehörigen Worte fast unverändert übernimmt. Die dritte Strophe gehört bereits der 6. Perlode an (A-dur). Durch Hagens Zaubertrank nun wieder seiner Erinnerung mächtig, verliert Siegfried sich in Gedanken an die Braut, für die er durch das Feuer geschritten ist und die er schlafend auf hohem Felsen gefunden hat. Der dreimalige Einsatz des Frelamotivs (Nr. 114, S. 221) führt zu dem sehr zart in A-dur erklingenden Schlummermotiv Brünnhildes (Nr. 126, S. 239) und damit zu dem Bekenntnis dessen, was der Vergessenheitstrank ausgelöscht hat. Rasch aufsteigende chromatische Gänge gehen In Alberichs Fluch über, und während Hagen seinen Speer In Siegfrieds Rücken stößt, schreit im Orchester der Ansatz des Siegfriedmotivs mit furchtbarer Gewalt auf. Der tödlich Getroffene schwingt seinen Schild empor, bricht aber gleich darauf zusammen. Heftige Akkordschläge der Bläser, von Sechzehnteltriolen der Streicher abgelöst, geben die stumme Erschütterung der Umstehenden wieder. Unheimlich klingen Ihre Fragen nach Hagens Tun in die Pausen des Orchesters hinein. Aber der wiederkehrenden Erinnerung an das Thema der Blutbrüderschaft antwortet nur Hagens Trotz: „Meineid rächt' ich!" — Noch einmal erblickt der sterbende Siegfried Brünnhilde vor sich. Die
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Akkorde ihres Erwadiens leiten eine kaum veränderte Wiederholung der entsprechenden Stelle im dritten Aufzug des Siegfried ein. Die Musik wird nun vollends zum Epilog. Machtvoller Ausdruck dessen ist, vom Heroenthema der Wälsungen eingeleitet (Nr. 27, S. 51), die große Trauermusik, ein symphonischer Satz, dessen Gliederung d.urch den Refrain der Sedizehnteltriolen und Akkordschläge sich dem Hörer unmittelbar erschließt. Sehr allmählich leitet sein Ausklang mit dem Motiv Brünnhildes und idem nach c-moll veränderten Hornruf Siegfrieds in die 8. Periode über, einen kurzen Zwischensatz von stärkster Stimmung. E r verleiht den Motiven Gutrunes wie dem Herrscherruf Alberichs und dem Hornruf Siegfrieds ein nächtlich-gespenstisches Wesen, wie es nie zuvor in Tönen AusdrucJi gefunden hat. Das dramatische Geschehen, das in vier Abenden alle Höhen und Tiefen einer mythischen Menschen- und Götterwelt durchmessen hat, geht seinem Ende entgegen. Seine ungeheuere Weite erlaubt in diesem Augenblick nur noch die Rückschau. Der kurze Kampf zwischen Gunther und Hagen um das Erbe des Ringes ist wie ein letztes Aufflackern. Als Gunther, von einem Streiche Hagens tödlich getroffen, zu Boden stürzt, geht Alberichs Herrscherruf in einer unheimlich fremdartigen Modulation aus b-moll nach D-dur und damit in die Schwertfanfare über: Siegfrieds Hand hat sich drohend erhoben. Zugleich schreitet Brünnhilde aus dem Hintergrunde feierlich nach vorn. Das pianissimo absteigende Thema der Götterdämmerung (Nr. 117, S. 227) leitet ihr Schlußwort ein (10. Periode, Des-dur). Aber ihre Klage um den „höchsten Helden" wird durch Worte Gutrunes und damit eine Rückkehr der 9. Periode (c-moll) noch einmal unterbrochen. Wie in Beethovens Fünfler Symphonie der dritte und vierte Satz sich ineinander verschlingen, so durchdringen an dieser einzigen Stelle in Wagners Werk zwei Perioden einander gegenseitig. Aber Gutrunes Aufbegehren gegen Brünnhilde bleibt vergeblich. Ihr Fluch über Hagen ist ein Ausbruch letzter Verzweiflung. Von dem Augenblidc an, da sie sich über Siegfrieds Leiche beugt, verharrt sie „regungslos bis zum Schlüsse". „Sehr breit und langsamer als zuvor" setzt das Thema der Göttermacht in einer seltsam unheilvollen Abwandlung die 10. Periode fort: auf Brünnhildes Geheiß errichten die Mannen einen Scheiterhaufen für Siegfrieds Leiche. Es ist der Beginn einer ungeheueren Steigerung, in der die symphonische Orchestersprache in einem freisymmetrischen Bogen noch einmal eine Anzahl von Hauptthemen des Werkes vorbeiziehen läßt. Als Brünnhilde den Brand in den Holzstoß schleudert, beginnt, vom Walkürenmotiv getragen, eine gewaltige Coda®. Ursprünglich hatte hier die große Verkündigung der Liebe ® Musikalisch wird die entscheidende Wendung noch vor dem Eintritt der C o d a in dem Augenblick, da Brünnhilde einem der Mannen die Fackel entreißt, durch ein fortissimo ertönendes Vertragsmotiv (2) eingeleitet. Dieses steht hier völlig vereinzelt. Durch seinen energischen Abstieg den Entschluß Brünnhildes symbolisierend, weist es auf das unabwendbar herankommende Ende hin.
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Stehen sollen. Nun aber grüßt Brünnhilde ihr Streitroß Grane zum letzten Abschied. Die Weise der Liebeserlösung, die einst aus Sieglindes Mund erklungen ist, erscheint an dieser Stelle wieder (Nr. 123, S. 237). In dem rein orchestralen Nachspiel (11. Periode, Des-dur) vereinigt sie sidi mit den Motiven Walhalls und der Rheintöcher zu einem krönenden Aufschwung, in dem die Musik des Wortes nidit mehr bedarf. Ein letzter Anstieg des Siegfriadmotivs und ihm folgend das düster leuchtende D-dur der Götterdämmerungsakkorde verklingen in der Melodie der Liebeserlösung und dem von Harfen umspielten Schlußakkord. 11. PARSIFAL Indem Wagner seine letzte Schöpfung als „Bühnenweihfestspiel" bezeichnete, verlieh er ihr einen besondern Rang. Er hat sie dadurch dem Theateralltag so sehr entrückt, daß ihm eine Wiedergabe auf der Opernbühne seiner Zeit unmöglich schien. Aufführungen des Parsifal sollten darum nach seinem Willen für alle Zukunft einzig dem Festspielhaus in Bayreuth vorbehalten bleiben. Die geschichtliche Entwicklung ist über diese Absicht Wagners hinweggegangen und hat auch den Parsifal in den Spielplan der Operntheater eingereiht. FreilicJi ist ihm dabei seine Sonderstellung im wesentlichen gewahrt geblieben: nur selten finden sich Aufführungen außerhalb der Karwoche und auch dann einzig innerhalb besonderer Festspielveranstaltungen. Die stoffliche Grundlage des Werkes legt für die Diditung, noch mehr aber für die Musik Vergleiche mit der sakralen Kunst früherer Jahrhunderte nahe. Aber gewisse Anklänge an den Gegenstand wie an die Thematik und Kompositionsform kirchlicher Musik sollten doch nie vergessen lassen, daß Wagners Kunst nidit als unmittelbarer Ausdruck religiösen Erlebens verstanden werden darf, sondern in erster Linie dramatisch aufzufassen ist, d. h. als Widerspiegelung des religiösen Erlebens und Empfindens von Menschen, die ihrerseits durch Wort und Ton als lebendig handelnde Personen dargestellt werden. Alle Vergleiche etwa mit den Passionen oder Messen Bachs müssen darum notwendigerweise schief ausfallen; und wenn Nietzsche in der Musik des Parsifal „Roms Glauben ohne Worte" wiederfindet (vgl. S. 22), so verkennt er, daß Wagners künstlerische Darstellung bei aller Anwendung moderner Mittel dennoch (ähnlich derjenigen seines Tristan) im Sagenkreis der ursprünglichen Parzivaldichcung beheimatet bleiben muß, damit aber in einer Welt katholischer Gläubigkeit, in der für eine protestantische Haltung — anders als bei den gottesdienstlidien Sdiöpfungen Bachs — kein Raum vorhanden ist. Wer in Wagners Werk die Töne der Reformation vernehmen will, findet sie deutlich genug in den Meistersingern. Im Gegensatz zu Lohengrin und Tannhäuser zeigt die Parsifalmusik einen
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Abstand vom Theater, der dem jugendlichen Wagner unerreidibar war. Kennzeichen der Veränderung ist das Fehlen des „Operngebets". Gurnemanz mit seinen beiden Knappen und ebenso Parsifal, als er vor dem Speer niederkniet, verharren in stummer Andacht. Ausdruck ihres Erlebnisses ist allein die Musik: beim Morgengebet in den gedämpften Streidiern sehr leise die Sequenzen des Glaubensmotivs anstimmend, findet sie für Parsifal Töne einer starken Ergriffenheit und bleibt doch auch hier so sehr in sich geschlossen, daß die wenigen Worte, die Gurnemanz an Kundry richtet, das Gebet Parsifals nicht zu stören vermögen. Wie im dritten Aufzug des Siegfried und in weiten Teilen der Götterdämmerung so zeigt auch in Parsifal Wagners Musik die Neigung zu sehr erheblidien formalen Gegensätzen. Neben thematischen Verbindungen von sehr verwickeltem Aufbau finden sidi in gleichem Maße auch Formbildungen von vollkommener Durchsiditigkeit. Allen voran ist hier das Vorspiel zu nennen, eine Adagio-Einleitung, die die Welt des Grals in Töne einer feierlichen Erhabenheit bannt. An ihrer Spitze steht die einstimmige Linie des Abendmahlspruchs in Holzbläsern und Streichern (Nr. 26, S. 50): „Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut um unsrer Liebe willen!" Akkordische Triolen der Flöten und Klarinetten zusammen mit Arpeggien der Streicher umspielen die Wiederholung des Themas in den Oboen, Trompeten und ersten Violinen und klingen in einem verschwebenden Akkord der Flöten aus. Der zweite Stollen, eine Terz höher einsetzend und den schmerzlichen Akzent des Themas bei der Modulation von c-moll nadi e-moll zu äußerst herbem Ausdruck steigernd, verläuft genau entsprechend (159). (159)
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fest dahinsdireitende Linie, die in einem Bledibläserakkord ausklingt (160). Ein Paukenwirbel unterstreicht die Kadenzwirkung'. Seinerseits ebenfalls barförmig gegliedert^, beherrscht das Glaubensthema (160) nadi einem nodimaligen Einsatz des Gralsmotivs im sanfteren Register des Streichorchesters den Abgesang vollständig, und zwar nicht nur in einer hinzukommenden Legatoform der Holzbläser und Hörner, deren Sequenzen und Imitationen dem Kreise der sakralen Musik entstammen, sondern endlidi auch in einer bis zum fortissimo gehenden Sdilußsteigerung, deren Neunvierteltakt gleidifalls an alte Formen kirchenmusikalischer Rhythmik gemahnt. Der reinen Welt des Glaubens und der Verheißung, die in diesem ersten Teil des Vorspiels zum Klang wird, folgt mit einem Tremolo der Violoncelli und Kontrabässe sowie einem leisen Wirbel der Pauke eine Trübung nadi f-moll®. Wiederholte Einsätze des fast angstvoll verzerrten Abendmahlsprudis und endlich die erst später hier eingefügte sogenannte Heilandsklage stellen der reinen Diatonik des ersten Teils die Zerrissenheit der Chromatik gegenüber: in die reine Welt des Grals ist durch Amfortas die Sünde hineingetragen worden. Damit werden die beiden Pole des Geschehens schon an dieser Stelle sichtbar. Während das Lohengrinvorspiel in seinem Fehlen jeder Dramatik auf einen Bereich hinweist, der allzusehr abseits der Wirklichkeit liegt, als daß er der Berührung mit ihr standhalten könnte, wird dagegen hier der Zwiespalt von Beginn an offenbar. Das Nebeneinander gegensätzlicher Bereiche zeigt sich noch deutlicher beim ersten Auftritt Kundrys. Obgleich dem Morgengebet von Gurnemanz mit der Pianissimodurchführung des Glaubensthemas in den gedämpften Streichern^ eine Wendung zum Tagewerk hin gefolgt ist („Jetzt auf, ihr Knaben! Seht nadi dem Bad!"), der nicht nur der Einsatz des Amfortasmotivs Ausdruck gibt (Nr. 40, S. 57), sondern mindestens ebensosehr das fast reine Rezitativ der folgenden Gesprädie mit den beiden Rittern, mutet das Auftreten Kundrys zunächst mit ihrem Rittmotiv (Nr. 13, S. 47), dann mit dem schrillen Absturz ihres Hauptthemas (Nr. 81, S. 107) wie der gewaltsame Einbruch einer durchaus fremden Macht an. Der Aufruhr verklingt zwar ebenso schnell, wie er gekommen ist, aber seine Gegensätzlichkeit zu der vorangegangenen Musik wie zu der nun folgenden 4. Periode in F-dur, dem Erscheinen des Amfortas (Nr. 40, S. 57 und Nr. 80, S. 107), wird dadurch eher unterstrichen. Zugleich erinnert er daran, daß die Gemeinschaft der Gralsritter nicht nur dem Dienste ' D e r Ausklang in der Dominante statt der sonst bei Wagner häufigen Modulation in die Dominante der eine Terz höher gelegenen Molltonart hebt den reinen DurCharakter hervor. ' D e r zweite Stollen ist eine kleine Terz erhöht, der Abgesang führt das Thema durch. ' V o n Lorenz wird auch dieser Abschnitt nodi dem Abgesang zugeredinet, so daß dann 108 Takte gegen zweimal 19 Takte der beiden Stollen stehen; er ist daher richtiger als selbständiger zweiter Teil anzusehen. * Wagner verwendet hier auch das Mittel der Umkehrung des Themas.
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am Heiligtum auf Monsalvat geweiht ist, sondern ebenso dem Kampfe für den reinen Glauben bis hin in „fernste Länder". Das Widerspiel der beiden feindlichen Welten, Klingsors und des Grals, durdizieht audi die folgenden sechs Perioden, vor allem die Erzählung des Gurnemanz vom Verluste des Speers®. In Kundrys Zauberthema (Nr. 82, S. 108) finden sidi die Gegensätze sogar geradezu miteinander verbunden (vgl. S. 108). Nach der Verheißung des reinen Toren aber, dem allein die Heilung des Amfortas gelingen kann (10. Periode, d-nioll), führt der Auftritt Parsifals einen neuerlidien Aufruhr herbei. Dem edlen Klang des Torenspruchs (161) folgt unmittelbar das Hauptthema Parsifals (162) als Einleitung der 11. Periode (b-moll). (161) T
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Die Erregung der Gralsritter über den Frevler, dessen Pfeil den Sdiwaa getroffen hat, äußert sich in einigen kurzen, dramatisch bewegten Chorsätzen. Sie beruhigt sich erst, als Gurnemanz in einem zweistrophigen Zwischensatz (Glaubensmotiv bzw. die Akkorde des Schwans) dem Eindringling seine Tat vor Augen führt. Hauptthema der Rondoform bleibt das Motiv Parsifals. Auch in der anschließenden 12. Periode (h-moll), die von Parsifals Jugend und. seiner Mutter Herzeleide handelt, kehrt das Rondothema mehrmals wieder. Versöhnung mit der Welt des Grals findet sich erst in der 13. Periode (As-dur) mit einer Abwandlung des Gralsmotivs, als Kundry dem versdimachtenden Parsifal Wasser reicht. Im zweiten Teil der übergangsartigen Musik treten noch einmal, doch zurückhaltend gedämpft, die Themen Kundrys und Klingsors auf (Nr. 81, S. 107 und 82, S. 108 bzw. Nr. 163). Den letzten verklingenden Tönen der Singstimme („Schlafen — schlafen: — ich muß") und des Orchesters. ® Z u den Perioden 5 bis 7 vgl. S. 106—108.
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(Baßklarinette) folgt sogleich der Einsatz der Verwanidlungsmusik (Nr. 28, S. 51). Quartensequenzen bereiten das Thema der Gralsglocken vor. Ihr
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ruhevolles Schreiten ist von einer außerordentlidien Würde und Feierlichkeit erfüllt und den Worten von Gurnemanz vollkommen angemessen: „Mich dünkt, daß idi dich recht erkannt: kein Weg führt zu ihm durch das Land, und niemand könnte ihn beschreiten, den er nicht selber möcht' geleiten." „Ich scäireite kaum", erwidert Parsifal, „doch wähn' ich mich schon weit." Das Gleichmaß der Bewegung, vorher nur ein einzigesmal durch die Frage Parsifals nach dem Gral unterbrochen, ist Ausdruck eines Geschehens, für dessen geheimnisvolle Art Gurnemanz die rechte Deutung findet: „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit." Zugleich mit der allmählichen Verwandlung der Bühne nimmt die Thematik einen herberen Zug an. Das variierte und verkleinerte Glaubensthema (Nr. 160, S. 301) leitet in dissonanten Überschneidungen der Stimmführung zu einer Chromatik über, die an die Heilandsklage anklingt: idie zerstörende Gewalt der Sünde hat auch vor dem Gral nicht haltgemacht. Nach dem einleitenden Unisonochor der Ritter („Zum letzten Liebesmahle gerüstet Tag für Tag", 15. Periode, C-dur) mit seiner einfadien Harmonik über dem Baß der Gralsglodken erscheint im Chor der Jünglinge (16. Periode, es-moll) das Thema wieder: „Den sündigen Welten, mit tausend Schmerzen, wie einst sein Blut geflossen, dem Erlösung&helden sei nun mit freudigem Herzen mein Blut vergossen." Ihm steht die vollkommene Reinheit des A-cappella-Chors in As-dur gegenüber (17. Pericxie, As-dur): „Der Glaube lebt; die Taube schwebt, des Heilands holder Bote: der für euch fließt, des Weines genießt, und nehmt vom Lebensbrote." Keine Stelle des Werkes kommt der liturgischen Musik im eigentlichen Sinne des Wortes so nahe: Sequenzen und Imitationen, Umkahrung des Themas in den mittleren Takten, vor allem aber die abschließenden Melismen der letzten vier Takte sprecJien die musikalische Sprache der Glaubensandadit und vereinen die Ritter, Jünglinge und Knaben zur frommen Gemeinde. Aus dem fernsten Hintergrunde der Bühne erklingt Titurels Stimme. Der unbegleitete, nur durch wenige Paukenschläge unterbrochene Gesang schafft eine Spannungspause von eindringlicher Wirkung. Erst zuletzt treten pianissimo die Posaunen mit dem Ansatz des Gralsmotivs hinzu: „Im Grabe leb' idi durch des Heilands Huld: zu schwach dodi bin ich, ihm zu dienen"; dann wieder unbegleitet: „Du büß' im Dienste deine Schuld!" Dem letzten Gebot
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aber („Enthüllet den Gral!") widersetzt Amfortas sich leidenschaftlich. Jäh stürzt in den Violinen das Motiv Kundrys abwärts (Nr. 81, S. 107). Rezitativische Deklamation in heftigen Ausbrüchen sdiließt sich an. Aber gleidi dem klassischen Rezitativ vor einer Arie ist sie nur Einleitung der geschlossenen Gesangsform. Sehr altertümelnd und bei Wagner fast befremdend wirkt die Vorausnahme der Gesangsmelodie („Wehvolles Erbe, dem ich verfallen") im Orchester durch Violinen, Oboen und Englisdihorn. Sie verstärkt den von Lorenz so entschieden abgelehnten Eindruck eines Rückfalls in alte Formen® mindestens insofern, als sie die Empfindung eines beginnenden Abgesangs nach zwei vorausgegangenen Stollen von neun und adit Takten fast unmöglich madit. Im übrigen aber ist an eine ernstliche Wiederkehr überholter Formen natürlidi nicht zu denken. Die Klage des Amfortas steht vielmehr ganz im Zeichen des musikdramatischen Ausdrucks. Sein eigenes Motiv (Nr. 40, S. 57), vor allem aber die Heilandsklage und das Thema Kundrys (Nr. 81, S. 107) schärfen die dramatischen Spannungen der dissonanzenreichen Tonsprache. Pausen und Synkopen tragen die bedrängende Unruhe auch in die Singstimme hinein. Selbst der Ansatz des Gralsmotivs, von Streidierakkorden in Tristanrhythmen begleitet, wird durch einen übermäßigen Dreiklang fremdartig abgewandelt^. Aber alle Qual des Leidenden findet nadi seinem Anruf des „All-Erbarmers" im a-cappella gesungenen Torensprudi der Knaben- und Jünglingschöre versöhnende Erlösung (Nr. 161, S. 302). Amfortas und die Ritterschaft sind bereit, den Gral zu enthüllen. Eine kurze Einleitung der Violoncelli mit Teilmotiven des Abendmahlspruths (Nr. 26, S. 50) begleitet die andachtsvolle Stille während der Vorbereitungen. Leiser Paukenwirbel, später in Tremolo der Kontrabässe übergehend, erhöht die Spannung. Dann setzt mit dem eigentlichen Abendmahlsspruch in Alt und Tenor (Knabenstimmen) die vollständige Wiederholung der Vorspielmusik ein (Hauptteil der 19. Periode, As-dur). Ihrem Verklingen folgen zwei Strophen der Knaben und Jünglinge: Musik von einfachstem Aufbau, die zu der leidit abgewandelten Melodie des Abendmahlsprudis in der ersten Strophe pochende Akkorde der Holzbläser und Hörner in Achteltriolen erklingen läßt, während die ganz gleichartige Begleitung der zweiten Strophe von Violinen und Bratschen übernommen wird. „Noch etwas bewegter" folgen zwei Strophen der Ritter mit einer neuerlichen Umwandlung des Abendmahl• „Es wäre greulich", sdireibt Lorenz (Parsifal, S. 81), „durdi Verlängerung der Pause nach .verdammt zu sein!' das Gefühl eines im Opernschlendrian befangenen Kapellmeisterroutiniers aufkommen zu lassen, als handle es sich um .Rezitativ und Arie'. Der ganze zweite Teil muß aus den beiden unbegleiteten Melodien (nicht ,Rezltativen'!) so eng herauswadisen, daß er als Großabgesang zu ihnen und nidit als gegensätzlicher Abschnitt empfunden wird." ' In ihrer vollständigen F o r m erscheint diese Variante im zweiten Aufzug vor Parsifals W o r t e n : „Es starrt der Blidt dumpf auf das Heilsgefäß."
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sprudis. Festschreitende Rhythmen — im Aufsdiwung der Melodie vielleicht um einen Grad zu unbekümmert — gemahnen an die kämpferische Seite des Gralsritterrums und entfernen die Musik jedenfalls merklich von dem „Glauben Roms ohne Worte", den Nietzsche allzu vorschnell getadelt hat®. Am Schluß wird das lange Unisono der Singstimmen sehr gegensätzlidi durch die Akkordik des Gralsmotivs abgelöst und zum tönenden Abbild des sakralen Raumes umgewandelt: vom Einsatz der Bässe über den Posaunen und Baßtuben des Orchesters steigt der Chor — nunmehr a cappella — stufenweise mit den Einsätzen der Tenöre zu den Altstimmen der Jünglinge in der mittlem H ö h e der Kuppel empor und verklingt endlich in den Sopranen, deren Stimmen aus der höchsten H ö h e ertönen. Ihrem F folgt der Aufstieg der Sextenparallelen in den Flöten: menschlichen Stimmen bleibt diese äußerste Steigerung versagt'. Den endgültigen Abschluß des Aufzugs bildet eine Wiederaufnahme der einleitenden Musik mit den Themen der Gralsglocken und des Marsches der Knappen^'. Ihr Ablauf wird durch die Worte, die Gurnemanz an Parsifal richtet, fühlbar unterbrochen. Der Torenspruch, zuerst schlicht in C-dur, wandelt sich zu einer Staccatovariante (die jpäter vielfach wiederkehrt), als Gurnemanz den Knaben ärgerlich hinausweist. Die schnellen Sechzehntel des Parsifalmotivs (Nr. 162, S. 302) und die Akkorde des Schwans stören den harmonischen Ausklang vollends und machen mit einem etwas unbehaglichen Naclidruck deutlich, d a ß dem dramatischen Geschehen der Vorrang zukommt. Gurnemanz, hier fast allzu menschlich gesehen, wird durch die Heiligkeit des Ortes nicht im mindesten daran gehindert, sich gegen Parsifal in groben Sdieltworten zu ergehen und die Tür hinter ihm ärgerlich zuzuschlagen. Das letzte Wort gehört freilich der mahnenden Altstimme, die aus der H ö h e der Kuppel auf den verheißenen Toren hinweist, und dem Ausklang des Gralsmotivs in den Chorstimmen. In den Sdilußakkord klingen die Quartensequenzen der Glodcen. — Mit dem A u f t r i t t Klingsors wird der Bereich des Weihespiels vollständig verlassen. Noch einmal gestaltet Wagner eine Welt nächtlichen Dunkels, in der ^ Lorenz rechnet die beiden Doppelstrophen noch der 19. Periode zu (als Nachstollen zum Aufgesang der Vorspielmusik), obgleich sie deutlich eine eigene zweistrophige Periode in Es-dur bilden. ° Im wesentlichen ist es diese Coda des Gralsmotivs, auf Grund deren Lorenz die 19. Periode (As-dur) erst hier enden läßt (vgl. Fußnote 8). Sie kann jedodi ebensogut als subdominantischer Abschluß der beiden vorangegangenen Es-dur-Strophen verstanden werden und wird damit einem Abgesang vergleichbar. Bei Lorenz folgen hier noch drei Perioden, davon Nr. 20 mit nur 15 Takten in F-dur, Nr. 21 in Es-dur mit 21 Takten, was ein bedenkliches Mißverhältnis in der Länge der tonalen Perioden ergibt. 20 von Stein, Wagner
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die Madit des Bösen sich schrankenlos zu entfalten sucht. Manches in Klingsor mag dabei an die Dämonie Alberichs erinnern — und doch sind es, angefangen von der tonalen Unbestimmtheit des Hauptthemas (Nr. 163, S. 303) mit seinem Nacheinander von h-, g-, es und ces-moll, bis zu den mannigfachen Umbildungen der Themen Kundrys durchaus neue Töne, die Wagner hier findet. Das unruhige Auf und Ab der Singstimme entspricht dem sprunghaften Wesen Klingsors. Aber audi im Orchestersatz macht sich eine Zerrissenheit geltend, die die Ausbildung symphonischer Formen zumeist nur in kleinstem Umfange gestattet (vgl. S. 103). Erst die sechste Periode (Es-dur) mit dem Anstürmen Parsifals gegen Klingsors Ritter kehrt zu geschlossener Formbildung zurück und gestaltet das musikalische Bild des eigentlichen Kampfes in einem Bar von einfachster Gliederung. Zwei Stollen in as-moll und a-moll, beide ihrerseits barförmig, geben das Kampfgetümmel hinter der Bühne mit den schlichtesten harmonischen und melodischen Mitteln wieder. Der bogenförmige Abgesang kehrt in seinen Außensätzen zu dem einleitenden Parsifalmotiv in der Haupttonart Es-dur zurück, während der Mittelsatz die Staccatoform des Torenspruchs durchführt. Ein Schlußwort Klingsors (7. Periode, h-moll) rundet als stark verkürzte Reprise der 1. Periode den Auftritt ab (vgl. S. 103, Fußnote 47). Mit wenigen Überleitungstakten verwandelt sich die Bühne zum Zaubergarten mit dem Auftritt der Blumenmädchen (8. Periode, g-moll). Formbildungen, in denen die klassische vier- und achttaktige Periode ein bei Wagner sonst unbekanntes Ausmaß erreicht, gewinnen damit die vollkommene Vorherrschaft. Die zugrunde liegende Vorstellung des Reigens prägt sich am stärksten in dem wiegenden Rhythmus des Locigesanges aus: „Komm, komm, holder Knabe, laß mich dir blühen!" (10. Periode, As-dur). Einen weitern Schritt in der Richtung auf das klassische Vorbild tut Wagner in dem Staccatomotiv der Mädchen: „Was zankest du?", dem Hauptthema der 11. Periode (164). „Leitmotivisch" läßt sich weder dieses Thema noch das vorangegangene des Reigens verwenden''. Einzig das einleitende Motiv der Klage über die verwundeten Gespielen, das Thema der 8. Periode, kehrt später als Erinnerung Parsifals im dritten Aufzug mehrmals wieder (165). Um alle diese thematischen Bildun-
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" In der Erzählung des Gurnemanz im ersten Aufzug (9. Periode) ist eine Andeutung des Reigenthemas vorausgenommen worden. Thema 164 erscheint noch einmal in der 12. Periode zum Abgang der Blumenmädchen.
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gen aber sdilingt das Es-dur-Hiema Parsifals als Kehrreim das einigende Band und formt damit den Auftritt der Blumenmäddien zu einem großen, einheitlichen Ensemblesatz, in dem sich die Melodik der Gesangsstimmen voll zu entfalten vermag. Auf die spielerische Anmut dieser Szene folgt mit der Begegnung Parsifals und Kundrys einer der größten dramatischen Auftritte in Wagners Werk. Die Musik schlägt nie zuvor gekannte Töne an: in all seiner Fülle und Buntheit wird der morgenländische Zauber Arabiens lebendig und läßt, als Kundry von Gamuret und Herzeleide erzählt, die Stimmführungen der Gesangslinie wie des Orchesters in der Zartheit ihrer Umbiegungen selbst zu Arabesken werden (166). (166)
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Ton Stein, Wagner
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die aus dem Wissen um geheimste Hintergründe lebt, die gleichzeitig anzudeuten, aber auch zu verschweigen weiß. Der zweite Aufzug des Parsifal berührt sich so mit seinem Gegenstück, dem zweiten Akt von Tristan und Isolde: dramatisches Widerspiel äußerster Gegensätze wie die vollkommenste Übereinstimmung zweier Mensdien lassen die Musik gleicherweise in die tiefsten Geheimnisse des Seelenlebens hinabtauchen. Thematische Zusammenhänge und formale Entsprechungen bleiben dennoch unverkennbar bestehen. Erwähnt sei etwa die deutliche Barform der 15. Periode, als Parsifal in Verzweiflung ausbricht und sein Aufschrei „Die Wunde!" einen ersten Stollen einleitet, seine Besinnung „Nein, nicht die Wunde ist es" einen entsprechenden zweiten, während das verzerrte Gralsmotiv am Beginn eines langen Abgesanges steht (vgl. S. 304, Fußnote 7). Bemerkenswert ist auch die Symmetrie der 16. Periode (g-moll). Kundrys Sehnsucht nach Erlösung steht in der Mitte einer siebenteiligen Bogenform. Die Erinnerung an den Gekreuzigten, bei dessen Anblids Kundry gelacht hat, kehrt in der Vision des Grals wieder — und abermals ist es das „verfluchte Lachen", dessen schriller Klang den Orchestersatz jäh zerreißt. Um den so entstehenden Mittelteil ordnen sidi symmetrisch Verbindungen des Kundrymotivs mit der Chromatik des Themas der Sünde, die der Hoffnung auf den Heiland und der Erinnerung an den tobenden Wahnsinn gelten, als statt des Erlösers „ein Sünder", Amfortas, in Kundrys Arme gesunken ist. Am Beginn und Ende der Periode aber stehen Sätze in g-moll, die ein neues Motiv Kundrys in Quartensequenzen durchführen. Die Symmetrie dieser Anordnung ist in der Diditung deutlich vorgezeichnet. Selbstverständlich dürfen dabei aber keine vollständigen Gleichheiten erwartet werden. Der Ausklang des Aufzugs bringt nach dem Fluch Kundrys über Parsifal (18. Periode, h-moll) das Wiedererscheinen Klingsors. Der dramatische Augenblick, da der Speer über dem Haupte Parsifals schweben bleibt — das „Ereignis" im Sinne Nietzsches —, liegt musikalisch wesentlich in der Singstimme: während im Orchester zum spannungserzeugenden Tremolo der Violinen der Ansatz des Gralsmotivs zweimal hintereinander piano und dolce ertönt, schwingt Parsifals Gesang sich im schlichten Ruf der Quart leicht empor: „Mit diesem Zeichen bann' ich deinen Zauber" — gleich darauf aber mit dem Wissen des Mitleidenden im Abstieg der Tonleiter: „Wie die Wunde er schließe, die mit ihm du schlugest"; und endlich, während das Gralsmotiv in Hörnern und Holzbläsern fortissimo ansteigt und in einen schrillen Aufschrei des vollen Orchesters einmündet: „In Trauer und Trümmer stürz' er die trügende Pracht!" Parsifal hat den Speer im Zeidien des Kreuzes geschwungen. Das Schloß Klingsors verschwindet schnell, der Garten aber verdorrt zur Einöde; verwelkte Blumen fallen z.u Boden. Ein letzter Ansturm des Klingsormotivs (Nr. 163, S. 303) löst sich in die Klage der Blumenmädchen auf (Nr. 165,
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S. 307). Todesmatt ertönt sie zuerst in den Hörnern, dann aber, als Parsifal sidi an Kundry wendet („Du weißt, wo du midi wiederfinden kannst"), in den Holzbläsern. Ein Fortissimosdirei der Bläser, Kontrabässe und Pauken verklingt sdinell in den Synkopen des absdiließenden h-moll-Akkordes. — Neben Tristan und Isolde ist der zweite Aufzug des Parsifal für die weitere Entwicklung der dramatischen Musik insofern richtungsweisend geworden, als sein ekstatischer Stil das Schaffen eines großen Teils von Wagners Nachfolgern entscheidend beeinflußt hat. Eben hierdurch wurde allerdings audi Wagners eigenes Werk in ein falsches Licht gerückt oind ihm als Wesenszug zugeschrieben, was doch nur sehr beschränkt galt und in jedem Fall einzig durch das Drama zu rechtfertigen war. Mit dem dritten Aufzug seines letzten Werkes aber kehrte Wagner endgültig in den apollinischen Bereich der Besonnenheit zurück, der sich durcJi sein gesamtes Schaffen hindurch immer wieder als seine wahre künstlerische Heimat erwiesen hat. Was in dieser Welt der Stille und Verhaltenheit erwuchs, konnte freilich nach außen hin bei weitem nicht in vergleichbarem Maße wirksam werden — vor allem nicht in einem Zeitalter der Superlative wie dem zwanzigsten Jahrhundert; so daß als das eigentlich „Aufsehenerregende" die von Leidenschaft erfüllte dramatiscJie Geste zurückblieb. Ein reiner Streichersatz in düsterem b-moll eröffnet als Ausdruck der Trauer um den Gral das Vorspiel. In den Synkopen eines neuen Themas ist es wie ein Ringen um unerreichbare Ziele (167). Ahnungen erweckend und doch außerstande, ihren Gegenstand genau zu bezeichnen (vgl. S. 65), scheint die Musik in dem unruhigen Auf und Ab ihrer Bewegung gleichsam nadi Worten zu suchen. Hie und da klingen die Sextenparallelen des Gralsmotives an — aber als sie deutlich erscheinen und nun endlich auch Bläser hinzutreten, bleibt ihnen die Auflösung im Tonikadreiklang versagt. Die schroffen Dissonanzen stark modulierender Septimenakkorde leiten die Bewegung weiter und lassen sie in den Zweiunddreißigsteln des Kundrymotivs in die Tiefe hinabstürzen. Staccatissimo sequenzieren die Achtel des variierten Torenspruchs (Nr. 161, S. 302) aufwärts und sprechen damit zum erstenmal von dem, der auf der Suche nach dem Gral vergebens durch die Welt irrt: wie der Romfahrt Tannhäusers so liegt auch diesem Vorspiel ein „Programm" zugrunde. Aber es ist von so allgemeiner Art, daß es keiner Ausdeutung von Einzelheiten bedarf, sondern vollständig im Bereiche der „Ahnung" bleibt, die nach Wagners Wort „Kundgebung einer unausgesprochenen, weil — im Sinne unserer Wortsprache — nodi unaussprechlichen Empfindung" ist und den Hörer zum „Mitschöpfer des Kunstwerkes" zu machen vermag'^. Wie ein Ringen um Worte ist es auch noch, als nach dem Aufgehen des Vorhangs (2. Periode, Es-dur) Gurnemanz aus seiner Hütte tritt und Zwi^^ Vgl. S. 65 und die dort gegebenen Hinweise. 20 E*
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DIE EINZELNEN WERKE
sdienspiele des Ordiesters sein Tun begleiten. Sehr freie Symmetrien geben melodisdien Bildungen von vorübergehender Bedeutung Raum, unter anderm audi einem rihythmisdien Motiv der Violoncelli (168), in dem sidi gleichsam nur nodi ein „Gesdiehen" -widerzuspiegeln scheint: ein Nebeneinander absolutmusikalischer und szenischer Vorgänge — hier Kundrys Bereitschaft zum Dienst an den Gralsrittern —, ohne daß man im einzelnen noch bestimmte Zuordnungen vornehmen könnte. Der Ausklang der Periode in einer dolcissimo erklingenden, ganz zart verhallenden Vorausnahme des Karfreitags-
(167)
(168)
leitet mit dem dumpfen G der Pauken in die nächste Periode über, einen kurzen Bar in f-moll zur Ankunft Parsifals. Wie in den Wandlungen von Siegfrieds Hornruf (vgl. Nr. 39, S. 56 und N r . 152, S. 287) so ist auch hier das Thema Parsifals (Nr. 162, S. 302) aus knabenhaftem Ungestüm zu männlichem Ernst umgestaltet, ja in der Stimmung des Augenblicks zu sdiwer lastendem Moll verdüstert (während es sich später im Gralskönigscum ähnlich dem Thema Siegfrieds kraftvoll entfaltet). Damit fügt es sich dem beherrschenden Adagiostil, der sich über die folgenden Perioden unverändert fortsetzt und sowohl der Anbetung des Speers wie der Erzählung von Gurnemanz zugrundeliegt. Einzig der Sdimerzensausbruch Parsifals nimmt ein lebhaftes Zeitmaß an: „Und idi — ich bin's, der all dies Elend sdiuf! Ha, welcher Sünden, welcher Frevel Schuld muß dieses Torenhaupt seit Ewigkeit belasten, da keine Buße, keine Sühne der Blindheit mich entwindet, zur Rettung selbst idi auserkoren, in Irrnis wild verloren, der Rettung letzter Pfad mir schwindet!" Intervallsprünge der Singstimme, denen hier fast schon ein expressionistischer Zug anhaftet, werden zum Ausdruck der Verzweiflung. Als Parsifal ohnmächtig oimzusinken droht, eilt Kundry, von heftigen Akzenten ihres Rittmotivs begleitet, um ein Becken mit Wasser zu holen. Aus dem Allagro des Streichorchesters löst sich, „allmählich zurückhaltend", eine Melodie der Klarinette los. Damit tritt die Beruhigung ein, die Zaubers
PARSIFAL
3U
von hier bis zum Ahsdiluß der Szene fortdauert. Während die Quartensequenzen Kunidrys in Oboe, Fagott, Englisdihom und Klarinette nodi einmal auf eine endgültig überwundene Vergangenheit hinweisen, ist dagegen das Thema des Segenssprudies ganz und gar von der maßvollen Ruhe und Würde erfüllt, die nun nach „langer Irrfahrt" des müden Wanderers am Ende seines Weges harrt. Zuerst nur dem Orchester anvertraut, wird der Spruch in der Reprise der bogenförmigen Periodei® audi von der Singstimme übernommen
Se-seg
nst s e i , d u Beiner,duroh d a a S e l - nel
(169)
Indem Gurnemanz den verheißenen Toren als Gralskönig grüßt, wird dessen Motiv (Nr. 161, S. 302) zum Mittelpunkt einer Bogenform (11. Periode, H-,dur), deren Außensätze das Thema Parsifals in eine maditvolle Gestalt umformen. Der Fortissimo-Abschluß des vollen Ordiesters auf lang ausgehaltenen Tonika- und Dominantakkorden kann die theatralische Geste freilich nicht ganz verleugnen. Um so inniger und ergreifender wirkt die Taufe Kundrys zum pianissimo erklingenden Glaubensmotiv (Nr. 160, S. 301) in den Holzbläsern (12. Periode, Ges-dur). Aus demselben Geiste gesdiaffen und in zarteste Farben getaucht ist die Hinwendung Parsifals zur Frühlingsaue mit der Melodie des Karfreitagszaubers — eine Musik innigster Hingabe an die Natur, die sich in immer neuen Gestalten bis zum Ende des Auftritts fortsetzt. Ihr Hauptthema, eine sanft verklärte Umformung des Parsifalmotivs, bildet den mahrfach wiederkehrenden Hauptsatz einer Rondoform, in der der Quintanstieg einer zuvor sdion aufgetretenen Holzbläsermelcndie neben dem Motiv der Blumenaiue als zweites Thema steht^^. Sehr allmählich und zuletzt doch etwas zu stark verspürbar leitet ein Übergang mit den Gralsglocten zur Verwandlungsmusik (16. Periode, e-moll). Zusammen mit den einstimmig gesetzen Trauerdiören der Gralsritter (17. Periode, b-moll) entsteht auf diese Art über dem ostinaten Baß des Glockenthemas ein geschlossener Tonsatz von erhabener Einförmigkeit und Düsternis. " Ihr Mittelsatz enthält die Trauermusik zum Tode Titurels. ** Bei Lorenz sind drei getrennte Perioden von sehr ungleicher Länge verzeidinet: Nr. 13 mit 35 Takten, Nr. 14 (e-moll) mit 11 Takten, Nr. 15 mit 114 Takten. Nadjträglidi werden die Perioden 9 bis 15 als Großperiode zusammengefaßt.
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DIE EINZELNEN WERKE
Sein Ablauf im Wechsel der beiden Chöre gehört nicht mehr dem Bereidi einer dramatischen Handlung an, sondern hat einen rein kultischen Charakter. Das Spiel von Frage und Antwort, als die beiden Züge der Gralsritter einander begegnen, vollzieht sidi zwischen Wissenden, die der Trauer über Titurels Tod wie der Anklage gegen Amfortas nur noch die äußere Form der Wechselrede geben. Zuletzt vereinigen sich beide Chöre, indem sie nachdrücklich — und nun auch in mehrstimmigem Satz — fordern, daß Amfortas seines Amtes walte. Damit kehrt die dramatisdie Handlung wieder: an die Stelle vorausbestimmter Fragen und Antworten tritt die Spannung eines noch durchaus ungewissen Ablaufs. Die Verzweiflung des Amfortas über den Tod seines Vaters steigert die Vorgänge der ersten Abendmahlszene. Aber dem heftig bewegten Einsatz folgt mit dem Anruf Titurels eine Stimmung mystischen Versenktseins in das Geheimnis des Todes wie des Fortlebens im Jenseits, von der die Musik selbst in den bedeutungsvollsten Augenblicken des ersten Aufzugs kaum eine entfernte Andeutung gegeben hat. Am Ende seines Lebenswerkes erblidst der Musiker in einer Vision, was Worte niemals zu sagen vermögen: Amfortas fühlt sich in seiner Sehnsudit nach dem Tode dem Vater nahe und fleht durdi ihn zu seinem Erlöser. Aber das Drängen der Ritterschaft nach Enthüllung des Grals ruft den Entrückten rauh in die Wirklichkeit zurück. Dem Thema Kundrys in seinem Absturz verwandt, steigert sidi sein Motiv zu heftiger Bewegung, und als er die Waffen der andern heraiusforidert, damit sie den Sünder in seiner Qual töten mögen, führt das Thema Klingsors für einen Augenblick in die Zauberwelt des beginnenden zweiten Aufzugs zurück. Da aber ersdieint, während das Thema des Grals in den Trompeten „sehr zurüdchaltend" und in höchster Feierlidikeit die neue Periode einleitet, Parsifal mit Gurnemanz und Kundry: „Nur eine Waffe taugt: die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug." Das Ersehnte ist Wirklichkeit geworden: der Tor, den sein Mitleid wissend gemacht hat, ist mit dem Speer zurückgekehrt. Alles Widerspiel dramatischer Gegensätze löst sich in der vollkommenen Harmonie auf, der das Glaubensmotiv, von Harfen umspielt, zusammen mit dem Abendmahlspruch und der Melodie des Toren den endgültigen Ausdruck gibt. Ursprünglich in schmerzlicher Umbiegung abwärts gerichtet, wendet sich das Thema der Einsetzungsworte des Abendmahls nun in rein diatonischem Zug aufwärts (vgl. Nr. 26 a, S. 50), steigt in wiederholten Einsätzen der Chorstimmen immer höher empor und führt nach einem letzten, rein instumentalen Zwischenspiel des Glaubensmotivs in Posaunen und Trompeten den Schluß herbei.
SCHLUSSWORT Jede Darstellung, die an die Stelle wissensdiaftlidier Vollständigkeit die Wiedergabe bloßer Einzelheiten setzt, unterliegt einer grundsätzlichen Beschränkung: sie kann das für wesentlidi Angesehene bis zu gewissem Grade wahrscheinlicli machen, nicht aber im eigentlichen Sinne beweisen. Nun mag man vielleicht, wo es um Fragen des künstleriscäien Gestaltens geht. Beweise für überflüssig erachten und sich mit voller Absicht auf die Wesenszüge einer Künstlerpersönlidikeit wie ihres Werkes beschränken. Ein solches Unterfangen hat indessen bei einem Künstler von der Vielseitigkeit und dem schöpferisdien Reichtum Wagners seine Schwierigkeiten, da es die Gefahr einseitiger Entstellung kaum vermeiden kann. Es ist bezeichnend genug, wenn man in einem der neuesten Büdier über Wagner von der „weitausladenden Geste, den von der Musik getragenen übernatürlichen Bewegungen, dem Fortissimo-Stil des Musikdramas" liest, denen in der Kunst der naturalistischen Theaterepoche „eine neue Kultur der Stille" entgegengetreten sei — und dies als Fazit einer eingehenden und liebevollen Gesamtdarstellung von Wagners Werk'. Eine solche Äußerung kann — abgesehen von der Fragwürdigkeit eines Vergleiches zwischen den Ideen Wagners und den Schöpfungen des naturalistischen Theaters — entweder nur als Zugeständnis an einen vermeintlichen Zeitgeist verstanden werden oder, mindestens hinsichtlich des „Fortissimo-Stils", als besonders krasses Erzeugnis der optischen Täusdiung, die in Erörterungen über Wagner offenbar unvermeidlich geworden ist, ja geradezu mit der Macht einer Naturgewalt zu wirken scheint (vgl. Seite 17). Aber auch gegenüber Naturgewalten vermag der kühle Verstand unter Umständen einiges auszurichten: dem Raiusdi und Überschwang von Urteilen, die allzusehr nur einem Gefühlserlebnis oder gar bloßen Erinnerungen entstammen, läßt sich die nüchterne Wirklidikeit der Tatsachen entgegenstellen. Von ihnen in allererster Linie mußte daher gesprochen werden, sollten dem überlieferten Bilde Wagners diejenigen Züge hinzugefügt werden, die für ein wirklich begründetes Urteil unerläßlich sind®. Irrtümliche Auffassungen haben indessen nicht nur entstellend gewirkt, sondern zu einer schon im Vorwort angedeuteten, weit verhängnisvollem Entwicklung beigetragen: dem Verluste des Zusammenhanges zwischen dem Werke Wagners und der Gegenwart. Ein musikgeschiditlich wesentlicher Ab1 P . W a l t e r Jacob: Taten der Musik, Regensburg 1952, S. 433. ' Der Vollständigkeit wegen sei hier auf die optische Täuschung des Wagnerschen »Riesenorchesters" hingewiesen: seine Zusammensetzung ist viel weniger dazu bestimmt, maditvolle Gesamtwirkungen hervorzubringen, als vor allem instrumentale Mittel bereit zu hahen, die jeweils einzeln und für sich eingesetzt werden können.
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SCHLUSSWORT
schnitt ist ,aus ,dem Bewußtsein weiter Kreise gleichsam ausgelösdit worden. Aber der Sprung von der Klassik und Romantik zur heutigen Musik, der dadurch notwendig geworden ist, gelingt auch auf dem oft begangenen Umweg über Brahms und Reger etwa zu Hindemith nur unvollkommen, weil die unerläßliche Grundlage des Zwischenstadiums der harmonischen Entwicklung über Tristan und Ridiard Strauß zur Atonalität Sdiönbergs und seiner Sdiule mindestens eine grundlegende Lücke aufweist. Wenn sich deshalb zwischen dem Schaffen der Gegenwart und großen Teilen der Hörerkreise eine kaum überbrückbare Kluft aufgetan hat und die Gefolgschaft weitgehend versagt wird, dann liegt dies zu einem erheblichen Teil daran, daß man eine Grundlage verleugnet, auf der man gleichwohl laufgebaut hat. Der unvermeidliche „Haß der Söhne gegen ihre Väter" mag dabei manches entschuldigen. Mit dem Fortschreiten der Zeit aber kann er nidit mehr unbeschränkt andauern, um so mehr als auch die „neue Musik" eines Tages alt sein wind. Man wird also zu der Einsicht gelangen müssen, daß man eigene Wege gehen kann, ohne darum alles besser wissen zu müssen als ehedem Wagner. Werden auf solche Art die verlorenen Zusammenhänge wiedergewonnen, dann kann eine natürliche Entwicklung auch auf der Seite der Aufnehmenden gar nicht ausbleiben. Damit ist für die Zukunft eine musikerzieherische Aufgabe gestellt, die zwar von den ganz andern Zukunftshoffnungen Ridiard Wagners weit entfernt bleibt, aber mindestens dem Verständnis seines eigenen Werkes — und nicht nur diesem — in jedem Falle förderlich sein kann.
ANHANG N r . 1 (zu Seite 171) Lorenz erklärt die Siegfriedhandlung f ü r einen potenzierten Bogen, „wiewohl man musikalisch sich dabei nur nodi auf die Tonarten stützen k a n n " : Hauptsatz Walküre, 3. Aufzug. Brünnhildes unbewußtes Sehnen nadi Siegfried (E-dur) Siegfried, 1. Aufzug. Siegfried, der unschuldige Held, beim SAmieden des Schwertes (D-dur) Siegfried, 2. Aufzug. Siegfrieds unbewußtes Sehnen nach dem Weib (E-dur) Mittelsatz Siegfried, 3. Aufzug. Liebeszene zwischen Siegfried und Brünnhilde
(C-dur)
Hauptsatz Götterdämmerung, Vorspiel. Brünnhilde dem Ring verfallen (Es-dur) Götterdämmerung, 1. Aufzug. Siegfried, der Verräter (Gegensatz!) beim Gebrauch des Tarnhelms (h-moll) Götterdämmerung, 2. Aufzug. Siegfried den Gibiciungen verfallen (Hodizeit mit Gutrune) (c-moll) „Der zweite Hauptsatz steht in Gegensatzsymmetrie zum ersten. Hier ist alles der Sdiuld verfallen." N r. 2 (zu Seite 221) Die 6. Periode des Rheingolds (e-moll) mit Freias A u f t r i t t bietet eines der frühesten Beispiele für die Form des vollkommenen Bogens. Ihr Hauptthema (11 Takte) ordnet Elemente des Fluditmotivs (Nr. 114, S. 221) und einen Acitelgang bogenförmig und spiegelnd um drei deklamatorische Takte Fridcas. Das Seitenthema (11 Takte) ist aus einem Schrittmotiv, fp-Akkorden und dem Rhythmus des Riesenmotivs aufgebaut. Das Spiegelbild des so entstehenden Hauptsatzes (aus je 11 Takten H a u p t - u n d Seitenthema) findet sich in der Reprise nach Wotans Worten „Auf ihn verlaß ich mich nun", in dem zunädist Riesenrhythmus, sfz.-Oktaven und Sdirittmotiv gleidizeitig auftreten (Seitenthema, durch einen Achtelgang eingeleitet) und dann das Hauptthema in wenig veränderter Gestalt folgt (11 Takte, Worte Freias). Ein kadenzierender Gang zu Worten Frickas leitet in die nächste Periode über. Der bogenförmige Mittelsatz (18 Takte) ist freier geformt. Wotans Worte „Wo freier Mut frommt, allein frag' ich nach keinem" bilden die Mitte. Eine Figur, die aus dem Logemotiv abgeleitet ist und den Mittelsatz einleitet, findet ihre Entsprechung in den „Trugquinten": „ . . . lehrt nur Schlauheit und List, wie Loge verschlagen sie ü b t " . N r. 3 (zu Seite 261) In Form eines potenzierten Bars mit zweithemigen Stollen eröffnet ein rein instrumentaler Teil den Aufzug. Das diatonisch abgewandelte Hauptthema (Nr. 18, S. 49) wird seinerseits barförmig entwickelt, wobei der Abgesang in die aufsteigenden Terzen des Notenbeispiels 30 (S. 52) ausläuft. Als zweites Thema folgt — gleichfalls barförmig — ein sequenzierendes Motiv in herber Chromatik. Der so entstehende zweithemige Großstollen wiederholt sidi, worauf ein barförmiger Großabgesang mit einer Durchführung des ersten Themas und einer Fortspinnung der aufsteigenden Terzen folgt.
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ANHANG
Die gesamte Anordnung wird nunmehr als vorderer Rahmensatz eines Bogens aufgefaßt, dessen Mittelsatz im Solo des Englisdihorns von der Bühne her die traurige Weise des Hirten erklingen läßt (Nr. 139, S. 262). Ein kurzer Nachsatz des Orchesters übernimmt in den Streithern ein Teilmotiv der traurigen Weise, während wenige Worte des Hirten das Gespräch mit Kurwenal einleiten. Zu dessen Antwort beginnt im Orchester die Reprise des vordem Rahmensatzes mit allen seinen wesentlichen Bestandteilen. Bei den Worten des Hirten: „Eine andere Weise hörtest du dann, so lustig, als ich sie nur kann" erscheint als Stellvertretung des sequenzierenden Motivs die traurige Weise. Auf die wörtlidie Wiederkehr des absdiließenden Terzenganges folgt schließlich die Coda des Englischhorns auf der Bühne. Seinem Umfange nach (158 Takte) kann dieser symphonische Satz ohne weiteres mit der Themenaufstellung des ersten Satzes von Beethovens Dritter Symphonie verglidien werden. Während aber bei Beethoven von insgesamt 153 Takten mindestens einige dreißig als Fülltakte anzusprechen sind, die nur sehr lose oder überhaupt nicht mit dem thematischen Bestände zusammenhängen, lassen sidi hier allenfalls sechs rezitativische Takte mit bloßen Akkordsthlägen auffinden. Die symphonische Durchdringung des Orchestersatzes, die bei Beethoven vor allem auf der stilistischen und geistigen Einheitlichkeit seiner Musik beruht, wird also mit den formalen Mitteln Wagners darüber hinaus zu einer audi motivisdi vollkommenen Einheit gesteigert. N r . 4 (zu Seite 269) Der überaus kunstvolle Aufbau der 10. Periode sei hier in der Form der Darstellung von Alfred Lorenz wiedergegeben. Als „Versammlungsmotiv" wird Thema 46, S. 70 bezeichnet. Hauptsatz in F-dur Stollen: Versammlungsmotiv allein 11 T. Aufgesang Stollen: Versammlungsmotiv mit Tonreihemotiv 13 T. Abgesang: Fortspinnung 7 T. 31 Takte 1 Nachstollen: Ganzes Versammlungsthema: (1 + 1 - f 2) 4 T. 1. Stollen (1 + 1 - f 2) 4 T. 2. Stollen (2 + 2 - 1 - 7 ) 11T. Abgesang 19 Takte 2. Nachstollen: Ganzes Versammlungsthema mit Kontrapunkt: 1. Stollen (1 + 1 - 1 - 2 ) 4 T. 2. Stollen (1 + 1 + 2) 4 T. Abgesang (1 + 1 + 2 ) 4 T. 12 Takte 62 Takte Mittelsatz in A-dur Erster Stollen: Versammlungsthema (umgestellt): 1. Stollen 2. Stollen Abgesang
(1 + 1 + 2 ) (1 + 1 + 2) (2 + 2 + 6)
4 T. 4 T. IGT.
Zweiter Stollen: Versammlungsthema mit Kontrapunkt: 1. Stollen (1 + 1 + 2 ) 2. Stollen (1 + 1 + 2 ) Abgesang (2 + 2 + 5)
4 T. 4 T. 9 T.
18 Takte
17 Takte
317
ANHANG
Abgesang: Wiederholung des letzten Abgesanges als Übergang zum Hauptsatz (2 + 2 + 4)
8 T.
8 Takte 43 Takte
Hauptsatz in F-dur Stollen: Versammlungsthema umgestellt Aufgesang Stollen: Versammlungsthema umgestellt Abgesang: 1 Takt Pause und Kothners Gesang (2 + 2 + 6)
11T.
1. Nachstollen: Ganzes Versammlungsthema: I.Stollen 2. Stollen Abgesang
(1 + 1 + 2) (1 + 1 + 2 ) (2 + 2 + 6)
4 T. 4 T. 11 T.
2. Nadistollen: Ganzes Versammlungsthema mit Kontrapunkt: I.Stollen (1 + 1 + 2 ) 2. Stollen (1 + 1 + 2 ) Abgesang (2 + 2 + 11)
4 T. 4 T. IST.
5T. 5T. 21 Takte
18 Takte
23 Takte
62 Takte N r. 5 (zu Seite 276) Audi die 2. Periode des dritten Aufzugs sei hier in der Form von Lorenz dargestellt; ihr erster Stollen beginnt mit dem 65., der zweite mit dem 140. Takt (Eintritt Davids in die Werkstatt bzw. Davids Wone: „Die Lene hat mir eben alles erklärt"), erklärt"). Zweiter Stollen Erster Stollen (mit Taktzahlen) (mit Taktzahlen) Davidmotiv, im DominantseptimenDavidmotiv, im Dominantseptimenakkord von D-dur nach zweimaligem akkord von C-dur plötzlidi abBeginn abreißend reißend Generalpausen Generalpausen Fortsetzung des Davidmotivs (abFortsetzung des Davidmotivs, wobei gekürzt), wobei David an Wurst und David Wurst und Kudien findet, schließend mit heftigem Lauf. DisKuchen denkt, schließend mit heftisonanz gem Lauf. Dissonanz 12 Sachs schlägt das Budi zu, Schreien Sadis blättert um, Schrecken Davids Davids Vordersatz des Wahnmotivs in asVordersatz des Wahnmotivs in moll, zu einem Orgelpunkt in Es a-moll, zu einem Orgelpunkt in E führend führend Durdi zagende Pausen unterbrocheDurch tönende Pausen unterbrochenes nes Davidmotiv, das sich zur BeDavidmotiv mit der Begleitungsfigur gleitungsfigur umwandelt (2. Takt (2. Takt) gleichzeitig allein) 11 Nachsatz des Wahnmotivs mit Be11 Entsprechung fehlt gleitungsfigur David lobt Lene (Bar) Sachs denkt an Evchen (Bar)
318
ANHANG
(Erster Stollen)
(Zweiter Stollen)
1. Stollen. Immerfort Begleitfigur, dazu im 4. Takt zartes Staccatosätzdien in der Klarinette
2. Stollen. Immerfort Begleitfigur, dazu im 4. Takt zartes Staccatosätzdien in der Oboe
Abgesang. Begleitfigur sidi verlierend unter zarten Holzbläsern, Sdilußbildung in D („ist gar liebelidi"), Hinzutritt der Septime im S.Takt Erinnerung an die Prügelei Schleifer aus dem Sdiustermotiv Arpeggio aus Beckmessers Ständdien Akkorde aus dem Schustermotiv und Sdileifer Prügelmotiv in G-dur, heftig beginnend Halbsdiluß in der Dominante von e-moll Fermate
5
1. Stollen. Immerfort Begleitfigur, dazu Evamotiv Weiterleitung: „festlicher Tag" Notmotiv (Oboe), „Hochzeitsfest?" Wiederholung (Fagott) 2. Stollen. Immerfort Begleitfigur, dazu Evamotiv Weiterleitung: „Johannisfest" Notmotiv: „Johannisfest?" Wiederholung (Violinen) Abgewng. Begleitfigur sich steigernd zu grober Fortführung in D („ist wohlgemut"), Hinzutritt der Septime im 6. T a k t
4 2 4 4 4 1 2 3
Erinnerung an die Prügelei Sdileifer (gleichzeitig) Melodie aus Beckmessers Ständchen Sdileifer aus dem Sdiustermotiv Vorspiel zum Lied: Prügelmotiv in G-dur, zart
21
Halbschluß in der Dominante von D-dur Generalpause
Abgesang 1. Durchführungsteil: Johannessprüchlein Stretta 2. Reprisenteil: Davidmotiv in C-dur wie am Anfang des ersten Stollens (barförmig 2 4 - 2 + 7) „Kudien und Wurst" Begleitungsfigur aus dem Davidmotiv mit Motiv der Bedrängnis
28 T. 5T.
11 T. 8 T.
David möchte eine Meisterin: 1. Stollen: „Langer Ton" barförmig (2 4- 2 -t- 4) 2. Stollen: Variation des Langen Tons barförmig {2 + 2 + 6) Abgesang: Bruchstüdi des Davidmotivs H S Teil aus dem Prügelmotiv MS Bruchstüdt des Davidmotivs H S Begleitfigur aus dem Davidmotiv (Stollen) Begleitfigur aus dem Davidmotiv (Stollen) Schustermotiv und Figur (Abgesang) („wie der Knieriemen tut") Davidmotiv barförmig (2 + 2 4 - 3 )
8 T. 10 T. 4 T. 2T. 4T. 4 T. 4 T. 5 T. 7 T.
14
PERSONENREGISTER Abendroth, Walter 81 Adorno 13, 15 Adler 109 Aristoteles 115, 116 Bach 5, 16, 17, 29, 37, 181, 200, 266, 299 Beethoven 5, 15, 16, 17, 30, 35, 36, 37, 45, 48, 54, 62, 68, 75, 76, 110, 119, 120, 185, 190, 194, 200, 204, 245, 251, 258, 261, 298, 316 Bekker, Paul 6, 16, 19, 64, 107, 125, 126, 127, 135, 160, 163, 229, 233, 235, 289 Berg, Alban 53, I I I , 129 Bie, Oskar 120, 129 Brahms 25, 36, 37, 314 Bruckner 5, 6, 25, 45, 46, 48, 62, 81 Chamberlain 124 Coeuroy 14 Dante 16 Daponte 135 Dilthey 129 Ehrenfels 109, 110 Fenz 178, 180, 181 Freson 109 Furtwängler 5, 23, 24, 28, 62, 145,159,168 Glasenapp 103 Gluck 17, 58, 116 Gjellerup 109 Goethe 12, 116, 117, 121, 123, 127, 131, 145, 151, 165, 168, 175, 176, 177 Görres 164 Gottfried von Straßburg 121 Grillparzer 118 Grunsky 109 Hagen, Edmund von 109 Halm 109 Händel 17 Handschin 39, 40, 41 Hanslick 11, 29, 30, 33, 34, 162
Hauptmann 118 Hebbel 118, 123, 142, 143, 144, 147, 148, 149, 150 Heine 133, 145, 165 Herzfeld 62 Hindemith 5, I I I , 112, 127, 129, 191, 314 Hoff mann, Rudolf 126, 130 Hofmannsthal 18, 126 Hostinsky 109 Hubert, Jean 109, 110, I I I Jacob, Walter 313 Kapp, Julius 48, 58, 62, 114, 142, 156, 167, 215 K l o p s t o i 145 Kummer, Bernhard 149 Kurth, Ernst 258 La Mara 109 Liszt 25, 157 Loos, Paul 5 Lorenz, Alfred 7, 17, 23, 48, 50, 54, 61, 66, 68, 71, 72, 79, 81, 84—87, 92, 94—96, 98, 99, 103, 104, 106—111, 127, 170, 171, 219, 258, 261, 262, 281, 284, 289, 295, 301, 304, 305, 311, 315, 316, 317 Mahler, Gustav 62 Makart 24 Malherbe 109 Mann, Thomas 6, 13, 23, 48, 240, 249, 250, 252, 253 Mendelssohn 59 Mies, Paul 36, 37, 38, 181 Monteverdi 58 Moos, Paul 35 Morgenstern, Christian 266 Moser, Hans Joachim 17 Mozart 5, 14, 16, 18, 30, 59, 60, 61, 68, 194, 202, 212 Naumann, Emil 17, 75, 76 Nicolai 276
320
PERSONENREGISTER
Nietzsche 5, 7, 11, 18, 19, 22, 23, 25, 27, 30, 34, 81, 114, 118, 130, 135, 136, 137, 138, 150, 158, 186, 210, 211, 240, 242, 295, 296, 299, 305, 308 Peri 58 Pfitzner 5, 28, 29, 31, 32, 33, 35, 49, 53, 129, 160, 194, 197, 198, 208, 250 Plato 29 Prüfer 109 Racine 115, 121, 143 Reger, 5, 314 Rembrandt 15, 16 Riemann 37, 38 Ritter, Karl 157 Rossini 186 Rubens 103 Sdiäfer, Wilhelm 175 Sdiiller 115, 116, 117, 118, 121, 124, 142, 148 Sdimitz 109 Sdimückle 161 Sdiönberg 252, 314 Schopenhauer 28, 34, 35, 50, 150, 153, 154, 157, 168 Schreker 53, 129 Schubart 38
Schubert 16, 119 Schumann 31, 189, 193, 212 Schwebsch 48 Schweitzer 6 Shakespeare 115, 116, 120, 121, 124, 132, 140, 262, 264 Soubis 109 Spengler 5, 15, 16, 23, 215 Spontini 12 Stephani 38 Stifter 20 Strauß, Richard 5, 19, 53, 127, 129, 252, 288, 314 Uhlig 137 Volkelt 35, 39, 42, 49 "Wagner, Wieland 6 Wagner, Wolfgang 6 Walther von der Vogelweide 83, 161 Walzel, Oskar 144, 145, 146, 167, 168 Weber, Karl Maria von 18, 62, 68, 144, 186, 210 Wellek 41 Wesendonk, Mathilde 157, 274 Wiora, Walter 5 Wolfram von Eschenbach 121 Wolzogen, Hans von 53
SACHREGISTER Abgesang (vgl. auch Bar) 93, 104, 106, 107, 207, 209, 227, 241, 258, 266, 267, 286, 292, 300, 304, 305, 318 absolute Musik 25, 27—29, 31, 34, 65, 79—81, 85, 100, 112, 201, 204, 205, 217, 244, 245, 249, 263, 282, 310 Ägyptische Helena (Strauß) 19 Antigone (Sophokles) 12, 153 Antonio (Tasso) 12 Arabella (Strauß) 19 Ariadne auf Naxos (Strauß) 18, 19, 127 Arie 18, 59, 63, 68, 69, 125, 129, 185, 189, 196, 197, 200, 220, 242, 268, 269, 304 Assoziation (in bezug auf Musik) 33, 35, 38, 256 ästhetisches Scheingefühl 134, 135 Bar, Barform 81—90, 94—99, 101, 108, 163, 170, 172, 216, 226, 235, 243, 247, 251, 253, 255, 269, 271, 278, 279, 283, 286, 291, 295, 306, 310 Barform, potenziert 84, 92, 231, 235, 254, 260, 266, 291, 315 Bayreuth, Bayreuther Festspiele 6, 216, 299 bestätigende Krafl der Musik 33, 38, Blankvers 173—176 Bogenform 81, 85—88, 92, 96, 98, 169—172, 193, 194, 216, 222, 224, 227, 239, 244, 246, 252, 253, 260, 282, 289, 295, 308, 311, 316 Bogenform, potenziert 171, 224, 283 Braut von Messina (Schiller) 117
102, 236, 276, 308, 246, 139, 181 99, 226, 272,
Cardillac (Hindemith) I I I , 127, 129, 191 Daphne (Strauß) 19 dichterisch-musikalische Periode 66, 71, 220 Don Juan (Mozart) 30, 59, 60, 62, 65, 194 Drama 11, 25, 59, 60, 65, 66, 71, 113 bis 124, 126, 128—130, 135, 136, 142—144, 147, 149, 158, 168, 173, 202, 204, 218, 220, 265, 309
Drama als „Ereignis" (Nietzsdie) 114, 118, 135, 158, 308 Drama als „verwirklichte Absicht des Dichters" (Wagner) 113, 123, 126, 137 Drama, griechisches 113, 115, 117 dramatischer Akkord 54, 192, 203, 236 Durchführung 77, 85, 101, 110, 215, 219, 222—224, 235, 243, 245, 264, 266, 268, 276, 282, 286 Edda 148, 154, 177 Elektra (Strauß) 19, 252 Endreim 66, 120, 173, 177, 179, 182 Engführung 45, 217, 233, 234, 245, 268, 280, 286, 293 Entführung aus dem Serail (Mozart) 18 episches Theater 122 Erinnerungsmotiv 62, 63, 264 Erlösung als dramatische Idee 160, 167 Faust (Goethe) 116, 117, 123, 165, 168 fehlende Leitmotive 72, 78, 80, 81, 277, 282 feminine Gefühlsnatur Wagners (Bekker) 16, 19 Fidelio (Beethoven) 31, 125, 190, 200 Figaros Hochzeit (Mozart) 194 Frau ohne Schatten (Strauß) 19 freie Symmetrie 103, 104, 106, 108, 235, 298 Freischütz (Weber) 18 Gegenbar 90, 97, 127, 231, 260, 271, 272 Gegensatzsymmetrie 103, 104, 172, 315 Gesamtkunstwerk 11, 22, 121, 122, 124, 140, 144, 181 Gesang, Gesangsmelodie, Gesangsstimme, Singstimme 7, 67, 69, 78, 107, 138, 189 bis 191, 199, 203, 205, 214, 216—219, 223, 224, 226, 230—233, 236, 238, 239, 244, 246, 252—254, 269, 277, 291, 295, 307 Götz von Berlichingen (Goethe) 116, 124, 125, 145
322
SACHREGISTER
Harmonie (als Element der Musik) 48 Hermann und Dorothea (Goethe) 176 Hexameter 175—177 Idee (im Sinne Piatos) 28, 29, 32, 130 Idee und Erscheinung 130 Impressionismus 46, 52, 250 Iphigenie (Goethe) 117, 174, 176, 177 Kammermusik (kammermusikalisdier Stil) 27, 110, 253 Kanon 43, 226, 234, 293, 296 Kirchenmusik (kirdienmusikalischer Stil, sakrale Musik) 27, 299, 301, 303 Kontrapunkt 75, 224, 260, 263, 266, 273, 274, 275, 279 Kontrapunkt, doppelter 267, 279 kontrapunktische Musik (bzw. Stimmführung, Themenverknüpfung usw.) 16, 66, 75, 184, 230, 233, 237, 244, 245, 248, 267, 269, 275, 287, 289 Kreon (Antigone) 12, 153 kultisdie Handlung 136, 163, 173, 312 Kunstwerk der Zukunft (Abhandlung von Wagner) 86 Läuterung als dramatische Idee 160 Lautgebärde (Fenz) 180 Leitmotiv 7, 27, 52, 53, 61—69, 72, 73, 75, 76, 79, 81, 85—87, 109—111, 173, 188, 191, 206, 211, 216, 219, 222, 251, 256, 274, 277, 280, 289, 292 Leonore (Beethoven) 30, 119 Lied 27, 119, 259 Lied im Werk Wagners 184—187, 191, 192, 194, 195, 200, 202, 232, 243—245, 248, 252, 259, 271, 273, 274, 276, 278, 279 lyrische Einlage 129, 162, 202, 245, 276 Mathis der Maler (Hindemith) 112 Moses und Aaron (Schönberg) 252 Motivtafeln 112 mystischer Akkord (Lorenz) 54, 108, 286, 292 Mythos und Gesdiichte 142 Naturalismus 118 naturalistische Theaterepoche 313 Nibelungen (Hebbel) 123, 144 Nibelungenlied 288
Objektive Kunst (Musik) 13, 16, 28, 32, 33, 157, 159, 246 Operette 138 Opernmelodie 68, 69, 186, 190, 193, 198, 210 Operntheater 250, 260, 270, 299 Oper und Drama (Abhandlung Wagners) 7, 12, 41, 48, 59, 62, 64, 65, 68, 69, 113, 114, 117, 120, 126, 128, 130, 136, 154, 174, 178, 179, 182, 201, 207, 216, 268, 294 optische Täuschung (in bezug auf die Kunst Wagners) 17, 240, 313 Othello (Shakespeare) 140 Palestrina (Pfitzner) 126 Polyphonie 75, 200, 237, 265—267, 273, 276, 281, 293 Polyphonie der Formen (Lorenz) 99 potenzierte Formen 81, 92, 94, 171, 224, 231, 235, 245—247, 254, 260, 266, 283, 291, 315 Potpourriform 62, 184 Programm-Musik 25, 64, 288 Refrainform 81, 85, 91, 203, 226, 239, 286, 293 Reineke Fuchs (Goethe) 175 Reprisenbar 85, 89, 92, 94, 99, 217, 269, 290 Reprisenbar, potenziert 92, 94 Rezitativ 60, 68, 69, 86, 87, 101, 173, 185, 192, 195, 199, 202, 205, 209, 214, 222, 225, 246, 252, 301, Rondoform 85, 86, 90, 91, 244, 247, 282, 290, 293, 302, 311 Rondoform, potenziert 245, 247 Rosenkavalier (Strauß) 126
231,
243,
129, 206, 304 273,
Salome (Strauß) 19, 126, 252 Satzbau 63, 66, 69, 73, 76, 79, 81, 85, 91, 101, I I I , 112 Schauspieler 130—132, 242 Sdieinpolyphonie 228, 265 Seccorezitativ 58, 68, 273 Sensualismus 35, 46 Sensualismus und Spiritualismus 145 Siegfriedidyll 284 Singstimme (vgl. Gesang) Sonatenform 85, 109
SACHREGISTER Spiel 130, 134 Spiel und H a n d l u n g (Bekker, H o f f m a n n ) 126—128, 135, 163 Sprachvermögen der Musik (Nietzsche) 7, 25, 27, 33, 34, 196, 277 Sprachvermögen des Orchesters (Wagner) 41, 42, 49, 64, 143, 180 Stabreim 66, 120, 143, 174, 177—182 Stollen (vgl. auch Bar) 93, 104, 106, 107, 207, 209, 213, 227, 241, 266—268, 286, 300, 317 Stollen, mehrthemig 83, 95, 96, 99, 236, 253, 272, 291, 315, 317 strenge F o r m 12, 16 Strophenform 100, 101 symphonisch (in Verbindung mit A . . f b a u , Form, Gestaltung, Musik, Musizieren usw.) 16, 23, 61, 69, 81, 191, 192, 206, 211, 214, 216, 217, 221, 224—227, 230, 235, 245, 251, 255, 261, 268, 280, 289, 293, 296, 298, 306 Szene als Schauplatz 121, 122, 124 T a s s o (Goethe) 12, 117, 174, 176 Terzengänge, Terzenparallelen 51—53, 73 Theater 130—132, 137, 138, 140, 186, 190, 193, 265 Themenaufstellung 87—91, 101 Themendurdiführung (vgl. auch D u r d i führung) 91 toleranter Theatergesdimadi (Nietzsche) 137, 138, 186, 190, 211, 242 Tonartencharakteristik 36—38 Tonhöhe 39—42
323
Tonmalerei, tonmalerische Musik 46, 188, 218, 227, 241, 247, 256, 286, 287, 293 T r i s t a n a k k o r d (vgl. mystischer A k k o r d ) 13, 54, 251, 255, 263, 278 Tristansteigerung (Lorenz) 258, 260 Übergeordnete Formen 85, 170, 173 übermäßiger Dreiklang 46, 54—57, 233, 247, 278, 304 unbewußt logische Empfindung (Volkelt) 35, 39, 42, 47, 49, 57 unendliche Melodie 15, 16, 71, I I I , 219, 258 Variation, Variationsform 78, 79, 95, 101, 217, 234, 239, 255, 259, 294 vollkommener Bogen 88, 97, 98, 169 bis 171, 192, 220, 242, 248, 253, 263, 285, 315 Vorstellung und Wirklichkeit (in bezug auf Wagners Werk) 14, 15, 193 Wagnerianer 16, 17, 24, 215 Weltanschauung Wagners 6, 8, 24, 28, 160, 168 Wilhelm Meisters Wanderjahre (Goethe) 131 Worttonsprache (Wagner) 180, 216, 217, 220, 230, 233, 249, 260, 277 Wozzeck (Berg) I I I , 129 Zauberflöte (Mozart) 202 Zwiespalt zwischen Verstand und Gefühl (im Urteil über Wagners Kunst) 13, 23
GIACOMO MEYERBEER
Briefwechsel
und
Tagebücher
4 Bände Mit Unterstützung der Akademie der Künste Berlin in Verbindung mit dem Institut für Musikforsdiung Berlin herausgegeben und kommentiert von Heinz Becker I: Bis 1824. Mit 9 Abbildungen auf Kunstdrucktafeln, davon 1 farbige. 736 Seiten. 1959. Ganzleinen DM 68,— „Dieser Briefwechsel ist ein sehr vielseitiges Kulturbild, wie wir es nur von wenigen Großen der Geschichte der Musik besitzen. In diesen Dokumenten spiegelt sidi nicht nur das Leben des Komponisten deutlich ab, sondern wir lernen viele der Komponisten-Kollegen, Musiker und großen Persönlidikeiten seiner Zeit aus diesem Sdiriflwechsel kennen. Es wundert daher nicht, daß das beigegebene Personenverzeichnis nicht weniger als 35 Seiten umfaßt. Ebenso überraschend groß ist die Zahl der angeführten Bühnenwerke, von denen Meyerbeer in seinem Schriftwechsel berichtet." Musikhandel, Bonn
H E I N Z BECKER
Der Fall Heine — Meyerbeer Neue Dokumente revidieren ein Gerichtsurteil Oktav. 149 Seiten. 1958. Ganzleinen DM 18,— „Diese neuen Dokumente sind zum großen Teil dem Nadilaß Meyerbeers entnommen. . . . Becker bietet u. a. sedis unbekannte Heinebriefe, viele interessante Tagebuchstellen Meyerbeers und andere, für die Aufhellung des bisher unvollständig und falsdi dargestellten Verhältnisses Heine-Meyerbeer wichtige Zeugnisse . . . Alles in allem: Ein hervorragend geschriebenes und gestaltetes, notwendiges und wahrhaft lesenswertes Buch." Die Mmik-Forschung
WALTER
DE
G R U Y T E R & C O
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B E R L I N W 3 0
vormals G. J. Gösdien'sdie Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit 8c Comp.